Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert: Konfessionsgeschichtliche Studien [1 ed.] 9783788733070, 9783788733056


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Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert: Konfessionsgeschichtliche Studien [1 ed.]
 9783788733070, 9783788733056

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Hans-Georg Ulrichs

Forschungen zur Reformierten Theologie

9 Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert Konfessionsgeschichtliche Studien

Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz / Georg Plasger / Michael Weinrich

Band 9 Hans-Georg Ulrichs Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert

Hans-Georg Ulrichs

Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert Konfessionsgeschichtliche Studien

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3307-0  2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau

Vorwort »Wir dürfen uns weder unterwerfen unter verabsolutierte Erscheinungen der Vergangenheit, noch uns unverbindlich distanzieren in betrachtendem Genuß des Gewesenen, aber vor allem dürfen wir uns nicht losreißen vom geschichtlichen Grunde.« Karl Jaspers1

Die hier versammelten Studien zu einer Konfessionsgeschichte des reformierten Protestantismus in Deutschland im 20. Jahrhundert sind zu einem Teil bereits veröffentlicht, zum anderen liegen sie erstmals in gedruckter Form vor. Die publizierten Beiträge sind fortlaufend auf dem neuesten Stand gehalten worden und wurden nun nochmals aktualisiert sowie formal vereinheitlicht. Wo es möglich und sinnvoll erschien, wurden Verweise platziert und Bezüge hergestellt. Die Aufsätze sind zwar in sich abgeschlossen, bilden aber auch gemeinsam ein Ganzes und weisen über sich selbst hinaus. Die einzelnen Beiträge sind Mosaiksteinchen, aus denen sich ein Gesamtbild einer kirchenhistorischen Konfessionstopographie der Reformierten im 20. Jahrhundert abzeichnet. Zu einem vollständigen Bild sind bei Nahbetrachtung noch Lücken wahrnehmbar, da noch weitere Personen, Regionen und Themen hätten berücksichtigt werden können. Diese Studien wurden am Ende des Sommersemesters 2017 als Habilitationsschrift bei der Universität Osnabrück eingereicht. Ich danke besonders Prof. Dr. Martin H. Jung für seine Anregungen und für sein kollegiales Engagement sowie den Gremien und den Mitarbeitenden der Universität Osnabrück für ihr freundliches Entgegenkommen. Mein verehrter Doktorvater Prof. Dr. Joachim Weinhardt (Karlsruhe) und der Doyen der niedersächsischen Kirchengeschichte Prof. Dr. Hans Otte (Hannover) haben Gutachten erstellt. Beiden danke ich herzlich. Um die Drucklegung hat sich Ekkehard Starke verdient gemacht. Ich danke den Herausgebern der Reihe »Forschungen zur Reformierten Theologie« ebenso wie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, mit dem mich schon eine längere gute Zusammenarbeit verbindet. Ohne Zuschüsse wäre eine Publikation in dieser Form nicht möglich gewesen. Für einen namhaften Betrag danke ich der Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung (Emden). Ebenso trugen meine Herkunftskirche, die Evangelisch-reformierte Kirche, und meine Heimatkirche, die Evangelische Landeskirche in Baden, erhebliche Teile der Kosten. 1 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube (1947), München 2012, S. 130. – Was Jaspers hier für das Philosophieren annimmt, mag auch gelten für diejenigen, die in einer konfessionellen Tradition leben und sie somit jeweils aktualisieren. Der Dienstsitz des Verfassers ist Jaspers’ Wohnhaus in der Heidelberger Altstadt, so dass er sich dessen Genius kaum entziehen kann.

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Vorwort

Erfreulicherweise bin ich weder familiär noch in Wissenschaft und Kirche allein unterwegs. Die erste Leserin meiner Arbeiten ist meine Frau, Pfarrerin Martina Reister-Ulrichs (Heidelberg), die neben der pfarramtlichen Arbeit die Korrekturarbeiten an diesem Werk bewältigt hat. Ich danke Dr. habil. Katharina Kunter (Frankfurt) für ihre wissenschaftliche und persönliche Freundschaft und Dr. Margit Ernst-Habib für unsere Verbundenheit im theologischen und konfessionellen Gespräch. Ich bin dankbar für den Austausch in den Kontexten des Reformierten Bundes in Deutschland e.V. sowie mit den Kolleginnen und Kollegen des Vorstandes der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. Die unmittelbar nach dem Ende des Studiums aufgenommene Forschungstätigkeit zur Geschichte des reformierten Protestantismus hat mich seit nun mehr einem Vierteljahrhundert kontinuierlich begleitet und ist so zu meinem Lebensthema geworden. In der theologischen Reflexion des reformierten Protestantismus wurden zuletzt systematisch-theologische Vermessungen (2012) und eine Einführung (2011) durch Matthias Freudenberg sowie ethische Tiefenbohrungen durch Marco Hofheinz (2017) und eine globale Bekenntnisbestimmung durch Margit Ernst-Habib (2017) vorgelegt. Drei große internationale Tagungen in Emden zu Leben und Werk Karl Barths mit ihren umfangreichen Publikationen (2005, 2010, 2016) waren wie auch die Jubiläen zu Johannes Calvin (2009) und dem Heidelberger Katechismus (2013) für die reformierte Selbstbestimmung von einiger Bedeutung. Meine kirchengeschichtlichen Studien stellen den theologischen Reflexionen und geistesgeschichtlichen Konstruktionen Verortungen gelebten Kircheseins zur Seite. In seiner »Einführung in die evangelische Theologie« (1962) beschreibt Karl Barth »Kirchengeschichte« gleichsam nüchtern und achtsam: Gewiss sei sie »auf der ganzen Linie auch Profangeschichte, Weltgeschichte und also in derselben Weise zu erforschen.« Sie sei »aber auch ein durch ein besonderes Thema, nämlich durch die biblische Botschaft, von der sie herkommt, geformtes Stück Weltgeschichte«, und zwar in der ganzen Spannung von Gelingen und Misslingen. Sie gehört damit zur Geschichtswissenschaft wie auch zur Theologie. Barth kann sich den Kirchenhistoriker, die Kirchenhistorikerin nur denken als jemand, dessen »Blick … in bewegter, liebender Aufgeschlossenheit gerade für die Einzelheiten jenes grossen Geschehens … keines von seinen Lichtern und keinen von ihren Schatten über[sieht]« und dabei auf das Theologie und Kirche verbindende Thema des Evangeliums gerichtet bleibt. Kirchenhistorische Wissenschaft »wird [ – sich freuend mit allen Fröhlichen und weinend mit allen Weinenden –] auf gänzliche Glorifizierung hier und auf gänzliche Disqualifizierung dort gelassen verzichten, um die, die vor uns waren, dachten, redeten und wirkten, gerade so zum Wort kom-

Vorwort

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men zu lassen.« Barth sieht darin einen Dienst der theologischen Wissenschaft an »der Sammlung, Auferbauung und Sendung der Gemeinde in der Gegenwart im Blick auf die Zukunft.«2 Das ist das Motiv meiner wissenschaftlichen Bemühungen. Heidelberg/Osnabrück, im Frühjahr 2018

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Hans-Georg Ulrichs

Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie (1961), Zürich 31985, S. 194–196.

Inhalt

Vorwort ................................................................................................ 5 Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert Einleitendes zum Inhalt, zu methodischen Fragen, zu »Konfessionsgeschichte« und zum Standort des Verfassers .............. 21 1. Ein historiographisches Desiderat und seine implizite Fragestellung ............................................................................. 21 2. Inhalte ....................................................................................... 22 2.1 Personen als repräsentative Figuren ..................................... 22 2.2 Regionen: Milieu und Mentalitäten..................................... 24 2.3 Themen: konfessionelle Orientierungsgrößen und Höhepunkte konfessioneller Selbstvergewisserung ............... 25 2.4 Kirchengeschichtliche Fokussierungen................................. 27 2.5 Karl Barth als reformierte Referenzgröße ............................. 29 2.6 Reformierte Repräsentanten ................................................ 31 2.7 Die Geschichte des 20. Jahrhunderts als fortschreitende (kirchliche) Zeitgeschichte ................................................... 32 3. Zwei methodische Hinweise ...................................................... 33 3.1 Quellen, oder: Von der unabdingbaren Archivarbeit ........... 34 3.2 Perspektiven einer reformierten Kirchengeschichtsschreibung ........................................................................... 35 4. Konfession und Konfessionsgeschichte ...................................... 37 4.1 »Konfession« als historiographischer Begriff und »Konfessionsgeschichte« ...................................................... 37 4.2 Konfessioneller Standort des Verfassers................................ 40 »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens« Das Calvinjubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland ........ 46 1. Einleitung.................................................................................. 46 2. »[Nicht] zu einer über die Leisten des Genfer Theologen geschlagenen Theologie verpflichtet« Die Reformierten in Deutschland um die Jahrhundertwende .... 48

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Inhalt

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen« Die Vorbereitung des Calvin-Jubiläums in Deutschland ab 1906 ..................................................................................... 51 4. »Calvin war … bisher … ein übel berüchtigter … Mann« Das Jubiläum 1909 in Deutschland .......................................... 60 5. »[E]in Übermaß schwungvoller Reden« Die Festwoche in Genf im Juli 1909 ......................................... 70 6. »Die Verbindung mit Genf aufrecht erhalten« Nach den Feierlichkeiten im Sommer 1909 .............................. 77 »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden« Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs ...... 83 1. Fragestellungen und Bedingungen: Zur Situation der Reformierten vor dem Krieg ...................................................... 83 2. Verlauf der Kriegsjahre 1914–1918 ........................................... 87 2.1 »Gerechtigkeit« und »Gericht«: Das Jahr 1914 .................... 87 2.1.1 Das erste Halbjahr und die Juli-Krise ......................... 87 2.1.2 »Kriegsausbruch« und erste Kriegsmonate .................. 89 2.1.3 Konsistorial-staatskirchliche Obrigkeitsnähe .............. 92 2.1.4 Kriegsbedingte Änderungen im Gemeindeleben ......... 94 2.1.5 Der Reformierte Bund und die Reformierte Kirchenzeitung .......................................................... 95 2.1.6 Resümee .................................................................. 101 2.2 »Durchhalten!« Die Jahre 1915/1916 ................................ 101 2.2.1 Die Feinde ............................................................... 102 2.2.2 Nationalisiertes Christentum? »Wir kennen keinen deutschen Gott«! ...................................................... 104 2.2.3 Gemeindeleben ........................................................ 107 2.2.4 »Durchhalten!«......................................................... 108 2.3 »Nicht nur Luther!« Das Reformationsjubiläum 1917 ....... 110 2.4 »Verzage nicht!« Vor und nach dem Kriegsende 1918/1919 ........................................................................ 113 2.4.1 Das erste Halbjahr 1918 .......................................... 113 2.4.2 Das Kriegsende: »Mag kommen, was will – Gott mit uns!«.......................................................... 114 2.4.3 Nach der Kapitulation: »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.«................ 117 2.5 »Im Weltkrieg calvinischen Mächten unterlegen«?............. 119 3. Resümee.................................................................................. 120

Inhalt

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland ........................ 124 1. Emden als repräsentativ reformierter Ort ................................. 124 2. Fragestellungen........................................................................ 125 3. Das Reformationsjubiläum 1917 im Schatten des Ersten Weltkriegs »Verkoppelt mit dem schweren Ernst der Zeit« ......................... 127 4. Die Reformierten im Ersten Weltkrieg: »Die schrecklichen Jahre« ........................................................ 131 5. Vorbereitungen der Feiern: top-down...................................... 133 5.1 Auf Reichsebene: »Beispielhafte Kraftentfaltung und sittliches Heldentum« ........................................................ 133 5.2 In der evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover: »Geistige Erstarkung zum sieghaften Durchhalten« .................................................................... 138 5.3 Im reformierten Emden: Andere Sorgen, veränderte Bedingungen ..................................................................... 146 6. Die Feiern in Emden 1917 Eine »Reformationsfeier muß mehr sein als Heldenverehrung« ... 149 7. Die deutschen Reformierten 1917 »Hüten vor dem Wahn, als sei die Reformation eine Tat des deutschen Geistes gewesen«, oder: »Eine entsetzlich beschränkte Verachtung alles Nichtdeutschen« ........................ 156 8. Resümee: »Im allgemeinen erhebend« ...................................... 168 Von Brandes bis Bukowski Die Moderatoren des Reformierten Bundes ...................................... 171 1. Friedrich Heinrich Brandes (1884–1911): konfessionell und kooperativ ................................................................................ 173 2. Heinrich Calaminus (1911–1919): unermüdlich und unbekannt ............................................................................... 178 3. August Lang (1919–1934): erwecklich und ökumenisch.......... 182 4. Hermann Albert Hesse (1934–1946): konfessionalistisch und kämpferisch ............................................................................. 188 5. Wilhelm Niesel (1946–1973): bekennend und beharrend ....... 194 6. Hans Helmut Eßer (1973–1982): sachlich und solide ............. 201 7. Hans-Joachim Kraus (1982–1990): prophetisch und politisch... 205 Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Fünf biographische Studien .............................................................. 212 1. Kirchenleitende Persönlichkeiten als Repräsentanten ............... 212

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Inhalt

2. »Deutsch reformiert«: Petrus Georg Bartels (1832–1907) ........ 212 3. »Reformiert weitherzig«: Hermann Wilhelm Müller (1837–1918) ........................................................................... 219 4. Ein Mann des Übergangs: Gerhard Cöper (1865–1927) ......... 224 5. Weltliche Macht im Dienst der Kirche: Lümko Iderhoff (1856–1931) ........................................................................... 229 6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)....... 233 7. Abschluss ................................................................................ 243 »In Einigkeit des wahren Glaubens« Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover ............................................................................ 245 1. Einleitung ............................................................................... 245 2. Konfessionelle Sammlung mit dem HEIDELBERGER nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ...................................................... 246 2.1 Kontexte: »Schutz und Hort unter dem milden Scepter des glorreichen evangelischen Guelphenhauses« ................ 246 2.2 Die Lingener Denkschrift 1857: »Das Band der Lehreinheit« ...................................................................... 248 2.3 Kirchenrechtlich-kirchenpolitische Resonanzen: »Vorbildlich wirken … auf das Verhalten der ganzen reformierten Kirche Deutschlands« ................................... 252 2.4 Der faktische Gebrauch des HEIDELBERGERs bis zur Landeskirchengründung: »Abänderungen nicht zu wünschen« .................................................................... 255 3. Gründung der Landeskirche 1882 und ihr Bekenntnisstand während des Kaiserreichs ......................................................... 257 3.1 Gründung 1881/82: »Der Bekenntnisstand … wird … nicht berührt.« .................................................................. 257 3.2 Konfessionalisierungen: »Allgemeine, wenn auch nicht durchweg rechtliche Anerkennung«................................... 260 3.3 Unterricht und Predigt mit dem HEIDELBERGER: »In der Regel« ................................................................... 264 4. Die reformierte Landeskirche in der ersten deutschen Demokratie und die faktische Vorherrschaft des HEIDELBERGERs ..................................................................... 266 5. Zwischen Bekenntnis und Bekennen Die Herausforderungen des totalitären Weltanschauungsstaates und der Landeskirchentag 1936 ................................... 268 5.1 Die »intakte« Landeskirche................................................ 268 5.2 Der Landeskirchentag 1936: »Die Berufung auf den Heidelberger ungeheuerlich«? ............................................ 270

Inhalt

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6. Landeskirchliche Bekenntnisprofilierungen von 1946 bis 1970/1988 .............................................................................. 276 7. Abschluss: »Die Aufgabe, eine dialogfähige reformierte Konfessionalität zu gestalten«................................................... 279 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert ................................................................................ 281 1. Einleitung................................................................................ 281 1.1 Erinnerungen .................................................................... 281 1.2 Vorüberlegungen ............................................................... 282 2. Konfessionelle Renaissancen: Das 19. Jahrhundert .................. 284 3. Pluralisierungen und Widerstände: Das 20. Jahrhundert ......... 289 3.1 Reformierte Flügel, Gruppen und Landeskirchen bis zum Kirchenkampf ............................................................ 289 3.2 Der HEIDELBERGER als Resilienzressource? ....................... 293 3.3 Karl Barth: Von »fragwürdig« bis »respektvoll« .................. 295 3.4 Von 1945 bis zum Jubiläum 1963 ..................................... 305 3.5 Neue Zeiten, neue Themen: Von den 60er Jahren bis ins 21. Jahrhundert ............................................................ 306 4. Bekennen in ökumenischer Dimension ................................... 310 Ein reformierter Charismatiker Der Weg Carl Octavius Vogets zwischen reformierter Tradition und pfingstlerischem Aufbruch ......................................................... 313 1. Herkunft und Studium............................................................ 313 2. Begegnung mit dem charismatischen Christentum in Nordamerika ........................................................................... 315 3. Erste Pfarrstelle und pfingstlerische Aufbrüche in Ostfriesland ............................................................................. 315 4. Im Dienst der Pfingstbewegung in Deutschland ...................... 318 5. Im reformierten Kirchenkampf ................................................ 320 Anhang Von Armut und Mystizismus der Landarbeiter und dem Egoismus der Bauern.Wie Carl Octavius Voget ein ostfriesisches Dorf um 1900 beschrieb ..................................... 324 »Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst« Karl Bauer – ein reformierter Kirchenhistoriker aus Baden ............... 326 1. Einleitung................................................................................ 326 2. Herkunft und Ausbildung ....................................................... 326

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Inhalt

3. Pfarramt und persönliche Bedrängnis in Donaueschingen 1905–1919 ............................................................................. 328 4. Lehrtätigkeit in Münster ab 1919 und wissenschaftliche Erfolge .................................................................................... 332 5. Lehre und Forschung, Kirchenkampf und staatliche Bedrängnis seit 1933 ............................................................... 336 6. Rascher Tod 1939 und ausbleibende Genugtuung nach 1945 ............................................................................... 339 7. Abschluss ................................................................................ 341 Heinz Otten Ein Barth-Schüler im reformierten Kirchenkampf ............................ 345 1. Vorbemerkungen .................................................................... 345 2. Herkunft aus Ostfriesland ....................................................... 347 3. Studienjahre in Tübingen, Bonn und Basel ............................. 349 4. Studieninspektor in Halle........................................................ 355 5. Hilfsprediger in Manslagt (Ostfriesland) ................................. 376 Exkurs: Das Uelsener Protokoll ................................................... 382 6. Pfarrer im südostfriesischen Großwolde .................................. 401 »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen« Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Karl Barth .............. 427 1. Niesel als reformierter Repräsentant schlechthin...................... 427 2. Niesels Lebenslauf im Überblick ............................................. 427 3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968 ............................. 435 3.1 Sommer 1933: Vom Informant zum Akteur ..................... 436 3.2 Sommer 1948: Niesel als Kirchenpolitiker im Sinne Barths...................................................................... 443 4. Abschluss ................................................................................ 450 »Die Synode erhob sich wie ein Mann« Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode................................. 452 1. Einleitung ............................................................................... 452 2. Dokumentation ...................................................................... 458 »Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«? Die Reformierten im Herbst 1945. Ein dokumentarischer Nachtrag 469 1. Einleitung ............................................................................... 469 2. Dokumentation ...................................................................... 475

Inhalt

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 .............................................................. 479 1. Vorerwägungen ....................................................................... 479 2. Nachkriegszeit: Organisatorischer und personeller Neuaufbau und konfessionspolitische Konflikte ...................... 482 3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre ...................................................................... 491 4. Erbe und Auftrag des Kirchenkampfes: Öffentliche Verantwortung...................................................... 502 5. Abschiede aus der reformierten Kirchenpolitik ........................ 516 6. Resümee .................................................................................. 524 »Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland« Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel................................................................................. 526 1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformiertentums in globalen Kontexten ................................ 526 2. Biographischer Überblick ........................................................ 527 2.1 Herkunft und theologische Ausbildung ............................. 527 2.2 Kirchenkampf ................................................................... 529 2.3 Die Zeit des »Kalten Krieges« ............................................ 531 3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmuster ..... 534 4. Orientierungspunkte: Glaubensgehorsam und Gemeinschaft mit Christus ............................................................................ 540 4.1 Glaubensgehorsam ............................................................ 540 4.1.1 Der Grund des reformierten Aktivismus’ .................. 540 4.1.2 Prophetische Gesellschaftskritik als Überforderung? 542 4.2 Communio cum Christo ................................................... 545 4.2.1 Das »durchtönende« Gesamtthema .......................... 545 4.2.2 Wichtiger als ein theologisches Prinzip: die Person Jesu Christi ............................................. 547 5. Niesels Name und der Name, der über alle Namen ist ............. 549 »Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen« Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski .... 550 1. Karl Halaskis Lebenslauf (bis 1951) .............................................. 551 1.1 Herkunft und Jugend ........................................................ 551 1.2 Studium (1928–1932)....................................................... 553 1.3 Vikariat und beginnender Kirchenkampf........................... 556 1.4 Pfarrstelle in Wittgenstein und Kriegs- und Nachkriegszeit ................................................................... 560

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Inhalt

1.5 Mitarbeit im Reformierten Bund nach 1945 und Wechsel nach Gruiten ....................................................... 563 2. Schriftleiter der Reformierten Kirchenzeitung (1951–1973) und reformierter Publizist ....................................................... 564 3. Generalsekretär des Reformierten Bundes (1960–1973) .......... 571 4. Reformierter Liturgiker ........................................................... 574 5. Ruhestand ............................................................................... 582 »Kirchenleitung im Anschluß an … Karl Barth« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik ................................................................................ 586 1. Einleitung ............................................................................... 586 2. Biographischer Überblick ........................................................ 587 2.1 Herkunft und frühe Prägungen ......................................... 587 2.2 Studium und kirchliche Ausbildung .................................. 588 2.3 Im kirchlichen Dienst 1937–1945 .................................... 596 2.4 Im kirchlichen Dienst 1945–1951 .................................... 598 2.5 Landessuperintendent 1951–1963 .................................... 600 2.6 Pfarramt und Ruhestand 1963–1978 ................................ 601 3. Barth und Barmen: Reformierte Kirchenleitung nach 1945..... 602 3.1 Herrenbrücks kirchenpolitisches Agieren 1945–1950........ 604 3.2 Die Wahl zum Landessuperintendenten 1951 ................... 609 3.3 Herrenbrück als reformierter Netzwerker .......................... 613 4. Die Bezirksbruderbriefe........................................................... 616 4.1 Form, Zweck und Inhalte der BBB ................................... 616 4.2 Überlegungen zu einer reformierten »Kirchenleitung« ....... 622 4.2.1 Was ist »Kirchenleitung«?......................................... 622 4.2.2 Was ist »reformiert«? ................................................ 624 4.2.3 Reformierte Kirchenleitung ...................................... 626 5. Das rasche Ende barthianischer Kirchenleitung. Ein Resümee ........................................................................... 629 Theologische Gewissheit und angefochtenes Leben Der »Radikalbarthianer« Hellmut Traub .......................................... 631 1. Einleitung ............................................................................... 631 2. Herkunft ................................................................................. 631 3. Studienwechsel ........................................................................ 632 4. Theologiestudium, kirchliche Ausbildung und Kirchenkampf .... 633 5. Pfarrämter und Theologie nach 1945 ...................................... 636 6. Ruhestand ............................................................................... 639 7. Ein auch historiographisch verschwiegenes tragisches Moment in Traubs Leben ....................................................... 640

Inhalt

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»In fröhlichem Dienst aufgeopfert« oder Opfer patriarchaler Strukturen? Der Lebensweg einer reformierten Gemeindeschwester im 20. Jahrhundert ................................................................................ 648 1. Das Missverhältnis zwischen der Wertschätzung von Gemeindeschwestern und ihrer historiographischen Beachtung – eine Problemanzeige .................................................................. 648 2. Das Berufsbild »Gemeindeschwester« im 19. und 20. Jahrhundert ....................................................................... 651 3. Gleichschaltungsversuche und Zurückdrängung durch den NS-Staat ........................................................................... 653 4. Schwester Antje ....................................................................... 656 4.1 Herkunft ........................................................................... 656 4.2 Ausbildung und erste Stationen ......................................... 657 4.3 Ein Vierteljahrhundert Dienst in der Gemeinde ................ 664 4.4 Das Ende: Auflösung der Zugehörigkeit zum Mutterhaus und Verrentung .............................................. 673 5. Schlussbemerkungen ............................................................... 678 Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum .............................................................................. 680 1. Einleitung................................................................................ 680 2. Vorgeschichten und Vorbereitungen ....................................... 681 2.1 Vorgeschichten in den reformierten Landeskirchen und im Reformierten Bund ............................................... 681 2.2 Vorbereitungen: Texteditionen und -revisionen von 1945 bis 1962 ................................................................... 684 2.3 Planungen in Baden und Heidelberg ................................. 688 3. Die Feiern ............................................................................... 691 3.1 In Heidelberg .................................................................... 691 3.1.1 Die akademische Feier im Januar ............................. 691 3.1.2 Die kirchliche Feier im Juni: Heidelberg und Neustadt ........................................ 693 3.2 Veranstaltungen in Gemeinden und Landeskirchen........... 696 4. Publikationen .......................................................................... 697 5. Die ausbleibende »Wirkungsgeschichte« .................................. 704 »... dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«? Die Reformierten und »1968« .......................................................... 706 1. Einleitung................................................................................ 706 2. Befindlichkeiten vor 1968 ....................................................... 709

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Inhalt

3. Reformierte Wahrnehmungen des Jahres 1968........................ 713 4. Wirkungen von »1968« bei den Reformierten in den 70ern und 80ern ..................................................................... 724 5. Resümee und Fragen: Schuld politischer Fehler? ..................... 728 Versöhnung und Widerstand Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 ........................................................ 736 1. Die Situation der Reformierten um 1980 und die weltpolitischen Spannungen .................................................... 738 2. Die Diskussionen um den Frieden bei den Reformierten bis zum Frühjahr 1982 ............................................................ 741 3. Entstehung und Text der Erklärung des Moderamens ............. 747 4. Veröffentlichung und erste Reaktionen ................................... 754 5. Auseinandersetzungen bis zur Hauptversammlung 1984 ......... 759 6. Resümee.................................................................................. 763 Anhang ....................................................................................... 771 »… in schwere Bedrängnis geraten«? Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert ...................... 773 1. Konfessionelle Erinnerungskulturen und Erinnerungsorte ....... 773 2. Reformierte Erinnerungsorte im 20. Jahrhundert .................... 776 2.1 Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: Wuppertal – »Die Stadt auf dem Berge«. Renaissance und Selbstbehauptung einer Konfession......... 776 2.2 Das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts: Karl Barth – »der von Gott gesandte Lehrer«. Bekenntnis und Dogma ..................................................... 780 2.3 Das dritte Drittel des 20. Jahrhunderts: status confessionis – Heiligung und Weltgestaltung .......... 785 3. Gegenwart: Noch nicht gefundene Erinnerungsorte? ............... 788 4. Resümee.................................................................................. 789 Anhang ............................................................................................ 791 Weltgestaltung Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009 ........................................ 793 1. Das Jubiläumsjahr 2009 .......................................................... 793 2. Johannes Calvin ...................................................................... 794 3. Calvinische Signaturen ............................................................ 796 4. Calvins Image ......................................................................... 799 5. Nach dem Jubiläumsjahr ......................................................... 800

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Kleines Buch mit großer Wirkung 450 Jahre Heidelberger Katechismus: das Jubiläumsjahr 2013 .......... 802 1. Das Jubiläumsjahr 2013 als kirchliches Ereignis....................... 803 1.1 Voraussetzungen und Vorbereitungen ............................... 803 Exkurs: HEIDELBERGER-Jubiläen 1863 bis 1963 ..................... 804 1.2 Kirchliche Öffentlichkeit ................................................... 807 1.3 Kirchliche Veranstaltungen ............................................... 810 2. Der HEIDELBERGER als wissenschaftliches Thema................... 814 2.1 Tagungen .......................................................................... 814 2.2 Dissertationen ................................................................... 819 3. Ein vorläufiges Resümee .......................................................... 821 Nachweis der Erstveröffentlichungen ................................................ 824 Namensregister ................................................................................. 827

Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert Einleitendes zum Inhalt, zu methodischen Fragen, zu »Konfessionsgeschichte« und zum Standort des Verfassers

1. Ein historiographisches Desiderat und seine implizite Fragestellung Eine Geschichte des reformierten Protestantismus in Deutschland im 20. Jahrhunderts ist bisher nicht erschienen. Eine solche Geschichte ist ein dringendes Desiderat, da die Reformierten in der Erforschung der neueren Kirchengeschichte wenig Beachtung finden, obwohl sie immer wieder auch besondere Facetten und Nuancen innerhalb der Geschichte des deutschen Protestantismus darstellten. Dass Reformierte sich als Minderheitenkonfession1 zumeist marginalisiert empfunden und ein entsprechendes Selbstverständnis geradezu habituell gepflegt haben, ist ein mitlaufender Untersuchungsgegenstand der Beiträge dieses Bandes. Reformierte waren nahezu durchgängig mit der Frage nach den eigenen Signaturen befasst, nach dem, was sie unterscheidet und daher auch ihre »Sonderexistenz« im deutschen Mehrheitsprotestantismus begründet: Was ist typisch reformiert? Was macht »uns« aus? Was sind »unsere« identity-marker?2 Warum muss es »uns« auf der konfessionellen Landkarte geben? Diese Fragen wurden inhaltlich unterschiedlich und mit verschiedenen Abzweckungen beantwortet. Die Frage nach dem jeweiligen Selbstverständnis der Reformierten im 20. Jahrhundert ist also quasi die Leit-Frage der hier versammelten Beiträge. Immer wieder kreisen die Ausführungen um diese Frage, selbst wenn sie nicht vordergründig im Blick zu sein scheint – und längst nicht immer werden explizite zeitgenössische Antworten auf diese Frage identifiziert, sondern ein anzunehmendes Selbstverständnis wird freigelegt, indem das Agieren der Refor1

Es gibt auch Regionen mit einer konfessionellen Dominanz des Reformiertentums. Allerdings sind gemischt-konfessionelle Territorien seit dem Wiener Kongress der Regelfall. Die starken Wanderbewegungen auf Grund der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die v.a. in Westdeutschland nach 1945 anzusiedelnden Vertriebenen und schließlich die seit den 60er Jahren stark zunehmende Säkularisierung der Bevölkerung mitsamt der Etablierung weiterer Religionen durch Einwanderer haben rein regional geprägte konfessionshomogene Milieus geradezu verunmöglicht, der »Verlust« der Ostgebiete bzw. die Auflösung Preußens 1947 hat eine protestantische Dominanz in Deutschland beendet. Auf die geographische Größe der »Nation« bezogen, fand sich der reformierte Protestantismus in Deutschland stets als Minderheit vor. 2 Hier trat und tritt oft der falsche Schluss auf, »typisch« reformiert müsse im Sinne von »exklusiv« reformiert verstanden werden. Tatsächlich ist das Gros reformierter Signaturen gemeinprotestantisch.

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mierten nachgezeichnet wird. Es stellt dabei eine wichtige Kontrollfrage dar, inwieweit Eigen- und Fremdwahrnehmung differieren. Dass eine solche reformierte Konfessionsgeschichte noch nicht geschrieben worden ist, ist – neben der geographischen Uneinheitlichkeit – auch der geringen Größe dieser »Konfessionsfamilie« geschuldet, die entsprechend wenige Kirchenhistoriker/innen hervorbrachte. Selbstverständlich können auch Außenstehende – sowohl anders oder gar nicht konfessionell Gebundene oder nicht-professionelle Theologen wie Historiker – eine solche Geschichte schreiben, aber es hat gute Gründe, dass zumeist »insider« solchen historiographischen Aufgaben nachkommen, zumal Geschichtsschreibung auch Teil der eigenen Erinnerungskultur ist. Ob eine solche gemeinsame Erinnerungskultur innerhalb des reformierten Protestantismus besteht und deshalb eine solche gemeinsame Geschichte erzählt werden soll und ob überhaupt unsere Zeit noch nach großen »Meistererzählungen« verlangt oder nicht eher kleinteilige Beiträge präferiert, die jeder Rezipient selbst auswählt und zusammenstellt,3 sei dahingestellt. 2. Inhalte 2.1 Personen als repräsentative Figuren Dieser Band behandelt nicht ausschließlich, aber doch überwiegend Personen des Reformiertentums des 20. Jahrhunderts, natürlich vorrangig solche, die für die konfessionelle Selbstbestimmung theoretischnormativ oder praktisch-deskriptiv eine besondere Rolle gespielt und so in ihrer Zeit als Multiplikatoren gewirkt haben und/oder heute als repräsentativ für diese Konfession gelten können. Sie waren vom damaligen Reformiertentum geprägt und haben dann ihrerseits diese Konfession und deren Tradition interpretiert, aktualisiert und definiert, was denn reformiert sei. Von solchen prominenten Personen sind dann auch – anders als von den meisten Gemeindegliedern – kirchenhistorisch relevante Dokumente erhalten. Gelegentlich ist es allerdings erhellend, wenn Außenseiter vorgestellt werden – auch solche finden sich in diesem Band, freilich entsprechend ihrer Bedeutung nur in geringer Zahl. Biographische Studien können repräsentative Wege darstellen. Eine Arbeit über die Reformierten kann nicht alle Reformierten umfassen, dennoch steht zu hoffen, dass sich die folgenden Studien als repräsentativ erweisen werden. Eine Geschichte der nicht leicht zu rekonstruierenden, weil kaum abgrenzbaren und zu definierenden Größe »reformierter 3

Das Konzept der »lieux de mémoire« ist einerseits eine Konsequenz aus der erodierenden geschichtlichen »Großerzählung« einer Gesellschaft und trägt andererseits den Bedürfnissen der Rezipienten Rechnung.

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Protestantismus« verlangt einen weiten Horizont und umfangreiche Quellenrecherchen. Neben den landes- und freikirchlichen Akteuren und Phänomenen und vereinsrechtlichen Organisationen wären auch diejenigen zu erfassen, die sich selbst zu dieser Konfessionsfamilie zählten oder die man auf Grund konfessionskundlicher Kategorien dazu zu zählen hätte. »Reformiert« erscheint oft als ein »umbrella term«, wenn man nicht von vorneherein den mainstream als normativ ansieht. Zudem wären die aus der konfessionellen Erinnerung Verdrängten und Vergessenen aufzusuchen. Auch eine Minderheitskonfession kann eigene Minderheiten marginalisieren und »Opfer« produzieren. Nicht nur der Quellenlage geschuldet, sondern auch auf Grund der geringen realen Prägekraft werden nur wenige Frauen berücksichtigt – erst im Laufe der 60er Jahre melden sich Frauen lauter zu Wort. Es fehlen wegen der Fülle der zu berücksichtigenden Personen auch eigene Untersuchungen zu wichtigen Akteuren der Konfessionsgeschichte, die ausführlich dargestellt zu werden verdienten, wie E.F. Karl Müller4, Wilhelm August Langenohl, Wilhelm Kolfhaus, Leopold Cordier, Johann Viktor Bredt, Harmannus Obendiek5, Heinrich Höhler oder auch Lothar Coenen – ein wichtiger Repräsentant war Otto Weber, der aber ausführlich von Vicco von Bülow dargestellt wurde.6 Auch historiographisch haben es pietistische, konservative oder evangelikale Reformierte seit nahezu zwei Generationen schwer, während die KohlbrüggeTradition immerhin noch lange einen eigenen story-Strang pflegte. Unter den kirchlichen Führungspersonen fehlen in diesem Band mit einer Ausnahme die Nicht-Theologen, was einen Mangel darstellt, und zwar nicht nur aus der Perspektive des konfessionellen Selbstverständnisses, das »Laien« in kirchlichen Funktionen besonders wertschätzt, sondern auch, weil Nicht-Theologen in zahlreichen reformierten Kontexten tatsächlich eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben – selbstbewusst als Kirchenälteste, als Kirchmeister, als Juristen –, bis sie spätestens im Laufe der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts immer weniger wahrnehmbar wurden.

4 Nicht nur als Calvin-Forscher und Editor der reformierten Bekenntnisse, sondern auch als Verfasser einer Konfessionskunde: E.F. Karl Müller, Symbolik. Vergleichende Darstellung der christlichen Hauptkirchen nach ihrem Grundzuge und ihren wesentlichen Lebensäusserungen, Leipzig 1896. – Zu E.F.K. Müller gibt es einige Arbeiten von Matthias Freudenberg. 5 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Obendiek, Harmannus Anton, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 276–278. 6 Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999.

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2.2 Regionen: Milieu und Mentalitäten Zahlreiche reformierte Regionen werden in diesem Band genannt und dargestellt, nicht jedoch – zufällig – Bayern, vor allem – absichtlich – die Gebiete der ehemaligen DDR. Für eine historiographische Rekonstruktion der Reformierten in Ostdeutschland bedarf es tieferer Einblicke, als der Verfasser sie hat, und für erste Annäherungen wäre es wohl förderlich, auf eigene Erfahrungen zurückgreifen zu können.7 Die – freilich zahlenmäßig wenigen – Reformierten in der DDR kommen hier also nur im Reflex der Westdeutschen vor. Immer wieder sind konfessionsgeschichtliche Beiträge nahezu »ethnologisch« unternommen worden. Und nicht umsonst sind solche Studien, die konfessionelle Milieus – zumal nahe an unserer Gegenwart – zu erfassen suchen, oft eher essayistisch angelegt; offenbar bleibt es ein eher gewagtes Unternehmen, regional Milieu, Mentalität und Konfession kausal in einen Zusammenhang zu bringen. Holzschnittartig lassen sich Unterschiede zwischen einem katholischen und einem evangelischen Milieu darstellen. Aber sind auch Unterschiede der Mentalitäten zwischen lutherischen und reformierten Gebieten wirklich einsichtig und kausal auf Grund der jeweiligen Konfession zu identifizieren?8 Können in erster Linie die Religion bzw. die Konfession als Ursache für Differenzen benannt werden? Der Unterschied des lutherischen Lebens in Sachsen und des calvinistischen Lebens in einem niederdeutschen Landstrich beruht wohl eher zu einem geringen Teil auf der jeweiligen Konfession. Und umgekehrt ist das Leben eines lutherischen Ostfriesen nicht sehr viel anders als das seines reformierten Landsmannes. Und ob die sprichwörtlichen Skrupel der Lipper, allzu generös mit Geld umzugehen, auf die reformierte Konfession oder eher auf langwirkende sozioökonomische Erfahrungen in dieser Region zurückzuführen sind, die dann »Mentalität« formatiert haben, möge dahingestellt bleiben. Was das realhistorische Leben anlangt, wird wohl gelten: Region ist – in der 7

Vgl. die kleinere, unterdes ältere Studie Heinz Langhoff, Der Weg der Reformierten in der DDR, in: RKZ 126 (1985), S. 321–323. 8 Ob die Feststellung, sowohl in München als auch in Frankreich würden »im Bankengewerbe die Reformierten dominieren«, mit validem Zahlenmaterial zu verifizieren ist? Vgl. Gregor Siefer, Der Einfluß konfessioneller Faktoren auf Entstehung und Veränderung sozialer Verhaltensmuster, in: Oswald Bayer u.a., Zwei Kirchen – eine Moral?, Regensburg 1986, S. 9–51, hier: S. 25. – Vgl. auch Wolfgang Brückner, Lebensstile calvinistisch-reformierten Kirchenvolks. Vorüberlegungen und Beispiele zur kulturprägenden Kraft von Konfessionen, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 54 (2009), S. 13–41: Die Kulturwissenschaftler »suchen das Welt- und Menschenbild der unterschiedlichen Theologien zu begreifen, um danach zu fragen, was sich davon niedergeschlagen hat in der Mentalität der jeweils gläubigen Gemeindeglieder und damit ganzer Bevölkerungskreise in Regionen einstigen Staatskirchentums.« A.a.O., S. 22 (derselbe Titel auch in: Ansgar Reiss / Sabine Witt [Hg.], Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, S. 357–363).

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Regel – wichtiger als Konfession.9 Dennoch finden sich natürlich übergreifende reformierte Signaturen, die beispielsweise von dem in der reformierten Tradition unauflösbaren Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung grundiert sind, in allen reformierten Regionen. Allerdings wird bei religionssoziologischen Untersuchungen zumeist nicht zwischen den evangelischen Konfessionen unterschieden, wohl deshalb, weil Protestantismus in Deutschland ganz überwiegend lutherischer (bzw. unierter) Protestantismus ist.10 Auch stellen die deutschen Reformierten aus der Fremdwahrnehmung eine derart geringe quantitative Größe dar, dass sie bei soziologischen Untersuchungen unter die Unierten subsummiert und diese den Lutheranern gegenübergestellt werden, insofern Reformierte überhaupt in den Erhebungen und Analysen identifiziert werden. Diese Taxierung passt durchaus zu gewissen Schwierigkeiten, die reformierte Identität zu bestimmen; der Minimalkonsens selbst bei Reformierten kann auch via negationis lauten, dass man jedenfalls nicht lutherisch sei. 2.3 Themen: konfessionelle Orientierungsgrößen und Höhepunkte konfessioneller Selbstvergewisserung Freilich konnten nicht alle Themen aufgegriffen werden, die die Reformierten bewegten, wie etwa die Diskussion um »Kirche und Israel« in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, wozu es sicher einer eigenen, umfangreichen Untersuchung bedürfte. Am Themenkomplex »kirchliche Beziehungen zum südlichen Afrika« wird aktuell gearbeitet. Für die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts zentrale Themen wie Staat und Kirche, Politik, Totalitarismus, Krieg, Theologie, Wesen und Aufbau der Kirche, Ökumene (globales Christentum), Medien und Diakonie werden behandelt. Die Untersuchungsgegenstände in diesen Studien reichen zeitlich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa zur deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Antagonismus, so dass für heutige Leser ein Abstand von knapp einer Generation gewahrt ist. Die angehängten Darstellungen der Jubiläumsjahre 2009 und 2013 erfüllen die Pflichten des Chronisten, greifen aber auf eigene Forschungen und – was den Heidelberger Katechismus betrifft – eigenes Mitgestalten von konfessioneller Erinnerungskultur zurück. Bleibende Bezugsgrößen sowohl für die jeweils aktuell agierenden Reformierten wie auch für den Historiographen sind neben dem Reformierten Bund, den reformierten Landeskirchen, den reformierten Re9

Diese Formulierung entstammt einem Gespräch mit Gerrit Herlyn (1909–1992), dem wichtigsten ostfriesischen Dialekt-Theologen reformierter Herkunft. 10 Vgl. bereits die ältere Arbeit Annemarie Bürger, Religionszugehörigkeit und soziales Verhalten. Untersuchungen und Statistiken der neueren Zeit in Deutschland (Kirche und Konfession 4), Göttingen 1964.

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gionen und einer derart herausragenden Gestalt wie Karl Barth (s.u.) auch konfessionell grundlegende Theologen wie Johannes Calvin und Dokumente wie der Heidelberger Katechismus und die Barmer Theologische Erklärung. Historisches Gedenken wird oft über Jubiläen verstärkt. Diese initialisieren zeitgenössische Forschungen und stellen ein Movens für die jeweilige kirchliche Propaganda dar. Jubiläen sind verdichtete Versuche der konfessionellen Selbstbestimmung und Selbstvergewisserung, auch des kirchenpolitischen11 und publizistischen Terraingewinns – und sind Geschehen, bei denen die jeweils anderen konfessionellen Kombattanten genau hinschauen und ein externer Reflex auszumachen ist. Ralph Hennings stellt zu Recht fest: »Jubiläumsfeiern sind nichts Harmloses. Weder im staatlichen noch im kirchlichen Bereich. Sie sind Kristallisationspunkte des Selbstverständnisses der Feiernden und dienen dazu, das zum Zeitpunkt des Jubiläums gültige Selbstbild dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft einzuprägen.«12 Die Differenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung ist hier besonders markant. In diesem Band sind wichtige Jubiläen im Blick (1909, 1917, 1963 sowie im Anhang 2009 und 2013). Dabei zeigt sich, dass reformierte Jubelfeiern weniger als Rituale auf Wiederholung angelegt sind (wie etwa bei Luther jährlich am 31. Oktober), sondern auf aktuelle bzw. aktualisierende Selbstbestimmung und Selbstdarstellung. Gerade auch bei diesen Anlässen wird die reale und gefühlte Minoritätensituation der Reformierten in Deutschland greifbar. Das gilt auch historiographisch: Studien zu Reformationsjubiläen berücksichtigen in der Regel nicht die Reformierten. Sowohl in der zu beschreibenden Geschichte als auch in der Historiographie kommen die 11 Der schillernde Begriff »Kirchenpolitik« wird auch oft in der kirchengeschichtlichen Forschung verwendet, aber selten reflektiert. Einer der wenigen Versuche ist Joachim Mehlhausen, Kirchenpolitik. Erwägungen zu einem undeutlichen Wort (1988), in: ders., Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie (AKG 72), Berlin u.a. 1999, S. 336–362. Mehlhausen identifiziert drei Bezüge: »Das Wort ›Kirchenpolitik‹ beschreibt … die Gesamtheit der Handlungsanweisungen und Maßnahmen, die ein Staat bzw. dessen Regierung (oder auch eine Partei) in bezug auf kirchliche und religiöse Gemeinschaften einleitet, festsetzt und durchzuführen versucht.« – »Das Wort ›Kirchenpolitik‹ beschreibt … die Gesamtheit der Ansprüche und Forderungen, die eine Kirche bzw. deren autorisierte Organe an einen Staat oder eine Gesellschaft richten und durchzusetzen versuchen.« – »Das Wort ›Kirchenpolitik‹ beschreibt … die Gesamtheit der Diskurse und Auseinandersetzungen, die innerhalb einer Kirche über deren Selbstverständnis, Standortbestimmung und Auftrag stattfinden. Handelnde Subjekte der Kirchenpolitik sind hier Einzelpersonen oder Gruppen innerhalb der Kirche.« Ganz überwiegend wird in diesem Band der Begriff »Kirchenpolitik« im dritten Sinne verwandt, da die Reformierten eben vorwiegend innerhalb des Gesamtprotestantismus agiert haben – das gilt möglicherweise sogar für die so eminent politisch aufgeladene Moderamenserklärung von 1982. 12 Ralph Hennings, Die Reformationsjubiläen 1817 und 1917 in Oldenburg (Oldb.), in: KZG 26 (2013), S. 217–237, hier: S. 217.

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Reformierten etwas abseitig zu stehen; sie gehören nicht zum mainstream des Gesamtprotestantismus – und positionieren sich deshalb auch außerhalb dieser Jubiläen anders,13 wie man es unschwer für 1914, 1917, 1933 oder auch 1982 aufweisen kann. Die Pflege des Anders-Seins war ein wichtiges Motiv für die Reformierten des 20. Jahrhunderts. Es bleiben bei dieser Zusammenstellung von Einzelstudien Lücken, aber viele der Beiträge über Personen, Regionen und Themen versuchen auch die jeweilige Vorgeschichte zu erhellen und eine Wirkungsgeschichte nachzuzeichnen, so dass – außer den 20er Jahren14 – keine größeren Lücken für die betrachtete Zeit des 20. Jahrhunderts bestehen bleiben. Über diese Einzelstudien hinaus entsteht dadurch hoffentlich auch ein Gesamtbild des reformierten Protestantismus im 20. Jahrhundert. 2.4 Kirchengeschichtliche Fokussierungen Selbstverständlich sind auch Themen und Strukturen, Traditionen und Mentalitäten von längerer Dauer zu identifizieren, die also einzelne Personen oder Gruppen überschreiten. Trotz der Notwendigkeit, Begriffe zu entwickeln und sie anschließend heuristisch als Katalysator für weitere und erneute Untersuchungen zu gebrauchen, gehe ich im Folgenden davon aus, dass »Geschichte« als das Erinnern des Vergangenen von den damaligen Personen und ihren zu erforschenden Selbstverständnissen auszugehen hat. Handelnde, agierende Personen – auch »Schwache«, auch Opfer sind Agierende; diese Würde sollte man gerade ihnen lassen! – stehen in den folgenden Untersuchungen im Vordergrund, nicht Strukturen, zumal Kirche Gemeinschaft der Glaubenden ist. Gewiss ist Kirche mehr als bloß die Summe der Glaubenden. Geht man jedoch von diesem »mehr« aus, bediente sich die Kirchengeschichtsschreibung dogmatischer Postulate oder liefe in die Falle schwärmerischer Ekklesiologie. Eine zu stark theologiegeschichtlich orientierte Perspektive, die geistesund ideengeschichtliche »Entwicklungen« und »Abhängigkeiten« u.a. meint aufweisen zu können, bekommt oft das Eigenständige, auch das Widerborstige der realen Geschichte und die Irrungen und Wirrungen der agierenden Personen gar nicht in den Blick – oder ignoriert das ge13

Dass sich Minoritäten in Krisen oder bei Zäsuren als besonders eifrig und loyal zeigen, um im gesellschaftlichen mainstream anzukommen, ist m.E. kein allgemeinhistorischer Grundsatz. 14 Das ist insofern ein schmerzhafter Mangel, da J.F. Gerhard Goeters wohl zu Recht urteilt: »Seine wohl lebendigste und verheißungsvollste Zeit hat das deutsche Reformiertentum … in den Zwanziger Jahren … gehabt.« Vgl. J.F. Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert des Reformierten Bundes, in: Joachim Guhrt (Hg.), 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Bad Bentheim 1984, S. 12–37, hier: S. 31 (auch in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von Heiner Faulenbach und Wilhelm H. Neuser [Unio und Confessio 25], Bielefeld 2006, S. 339–356).

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lebte Leben zu Gunsten bloßer geistiger Konstrukte, deren Wirkungen auf das real gelebte Leben erst noch bewiesen werden müsste. Die Valenz von »Theologie« als Leitkategorie einerseits für zeitgenössisches Handeln und andererseits für historiographisches Urteilen wird m.E. eher überschätzt. Entsprechend muss man nicht evangelischer Theologe oder Christ sein, um sich an die wissenschaftliche Geschichtsschreibung des Protestantismus zu wagen. »Der Religionsgeschichte treibende Historiker muss nicht Theologe werden. An dem Streit über wahre und falsche theologische Lehre und wahre reformatorische Kirche muss er sich nicht an vorderster Stelle beteiligen, zumindest ist dies nicht seine Zentralfrage. Vielmehr sollte es ihm um die geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion des empirischen Protestantismus als Ganzes im Untersuchungszeitraum gehen.«15 Etwas ausschließlicher klingt es, wenn Manfred Gailus u.a. Chancen für innovative historiographische Ansätze dann sehen, wenn es gelänge, als »conditio sine qua non« »eine von konfessionellen Rücksichten möglichst freie Religionsgeschichte zu etablieren.«16 Aber warum soll es ausschließlich so etwas wie Religionsgeschichte ohne konfessionelle Perspektiven und Interessen geben? Warum sollte eine Historiographie mit konfessioneller Ausrichtung und Verortung schon an sich weniger wissenschaftlich und nicht innovativ sein, wenn dieser konfessionelle »approach« und »touch« doch reflektiert werden kann (s.u. 4.2)? Besonders in der seit Mitte der 1980er Jahre betriebenen Kirchlichen Zeitgeschichte verändert sich selbst bei den kirchlich gebundenen Kirchenhistorikern der Fokus weg von der kirchlichen Lehre hin zur Kirche als Organisationsform und zu anderen Darstellungsformen christlichen Glaubens: »Kirchliche Zeitgeschichte betont die Bedeutung einer Sozialgeschichte der Kirche gegenüber der Dogmengeschichte. Die Auseinandersetzung mit den Dogmen der Kirche – man mag es bedauern oder nicht – spielt in der kirchlichen Wirklichkeit und Zeitgeschichtsforschung eine untergeordnete Rolle. Dafür gewinnt die Stellung der Kirche als soziale Einrichtung zunehmend an Bedeutung.«17 Nicht wegen 15 Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Ein Bericht über den Stand der Debatte, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008, S. 155–172, hier: S. 164. »Weiterführend sind Neuansätze, die Theologie- und Kirchenhistorisches mit sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Studien des Kirchenvolks, mit alltags- und kulturhistorischen Forschungen zu Gemeinden und Kirchenregionen verbinden.« 16 Manfred Gailus / Armin Nolzen, Einleitung. Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine »Volksgemeinschaft«?, in: dies. (Hg.), Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 14. 17 Udo Wennemuth, Kirchliche Zeitgeschichte in Baden, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 4 (2010), S. 57–75, hier: S. 59. – Umfassend WolfDieter Hauschild, Grundprobleme der Kirchlichen Zeitgeschichte, in: ders., Konfliktge-

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Methoden oder Prämissen, sondern schlicht wegen der Thematik ist die Kirchengeschichte eine theologische Disziplin, die sich nicht von anderen theologischen Disziplinen bestimmen lassen muss und die auch selbst kein eigenes theologisches Programm braucht, wie der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen ausführte.18 »Die Kirchengeschichte hat einen besonderen Standort und einen besonderen Gegenstand – Lehre, Organisation, Mentalität, Kultur des Christentums –, sie ist aber keiner anderen Methodik verpflichtet als die Allgemeine oder eben ›profane‹ Geschichte.«19 Wie sonst sollte sie auch im vernünftigen Diskurs mit der Geschichtswissenschaft bleiben können? Allerdings ist eine Kirchengeschichtsschreibung unter vollständiger Ausblendung von Theologie nicht gut denkbar – ohne Theologie als Gegenstand der Forschung, weil sie eine der je aktuell wirkenden Größen innerhalb der zu erforschenden kirchengeschichtlichen Kontexte ist, und ohne Theologie als Bestandteil der kirchenhistorischen Forschung, um adäquat urteilen zu können. Theologiegeschichte ist nicht die Krönung der Kirchengeschichte, sondern ein kleiner Ausschnitt. Kirchengeschichte sollte auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft als Teildisziplin mit bedacht werden; sie ist aber integraler und die anderen Fächer integrierender Bestandteil theologischer Fakultäten. 2.5 Karl Barth als reformierte Referenzgröße Das gilt es auch bei der unstrittigen Beobachtung zu beachten, dass es in der jüngeren reformierten Kirchengeschichte die Theologie Karl Barths war, die nicht nur wissenschaftlich – vielleicht dies sogar weniger –, sondern besonders praktisch-kirchlich eine enorme Wirkung gerade bei den deutschen Reformierten zeitigte. Für den Kirchenkampf ist dies schon lange evident gemacht worden; dies gilt aber auch für die Zeit nach 1945 in der Kirchenpolitik, bis sich Ende der 60er Jahre in vielen Wissenschaften und in fast allen Lebensbereichen neue Paradigmen durchzusetzen begannen. Gleichwohl wird man nicht den Fehler begehen dürfen, alle Reformierte vor, neben und nach Barth auf ihn zu bemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ B 40), Göttingen 2004, S. 15–72. 18 Vgl. Klaus Fitschen, Profane Kirchengeschichte? Ortsbestimmung einer theologischen Disziplin, in: MEKGR 60 (2011), S. 402–407, hier: S. 403. 19 Fitschen, Profane Kirchengeschichte, a.a.O., S. 404. – Deshalb vermag ich momentan nicht nachzuvollziehen, inwiefern Bernd Jaspert die historisch-kritische Methode ergänzt wissen möchte durch »die plurale Methode«, die zu definieren und erklären er schuldig bleibt: Bernd Jaspert, Von der historischen Kritik zur pluralen Methode. Plädoyer für eine erneuerte Kirchengeschichtswissenschaft, in: DtPfrBl 117 (2017), S. 229– 231. Die historische Kritik selbst stellt einen Methodenpluralismus dar, fördert diesen und hält ihn offen, um neue Methoden zu integrieren. Insofern ist die historisch-kritische Methode die »plurale Methode«.

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ziehen oder gar an ihm und seiner Theologie und (kirchen-)politischen Wirksamkeit zu messen. Dennoch können die deutschen Reformierten im 20. Jahrhundert nicht dargestellt werden, ohne immer wieder auf Karl Barth zu sprechen zu kommen20: Schüler von ihm sind im Folgenden dargestellt mit Wilhelm Niesel, Heinz Otten, Hellmut Traub, Walter Herrenbrück, Karl Halaski u.a. Es gab aber auch mit Karl Bauer, Carl Octavius Voget und Walter Hollweg Nicht-»Barthianer«, wobei Bauer und Hollweg zahlreiche Berührungspunkte mit Barth hatten. Die theologische Anhängerschaft unter den Reformierten ging so weit, dass man politisch und historisch kaum noch anders als Barth votieren konnte, wie etwa der »Fall« Wilhelm Boudriots zeigt. Ähnlich dominant wurde der mainstream in den 80er Jahren, in denen Vertreter von minoritären Meinungen nur noch den Weg der Distanzierung für sich wählen zu können meinten, sei es in der »Friedensfrage« zu Beginn oder in Fragen des jüdisch-christlichen Dialogs am Ende der 80er Jahre – in beiden Debatten berief man sich auch auf Karl Barth. Reformierte Theologen, die auch neue Wege beschritten, wurden vom deutschen mainstream-Reformiertentum eher gemieden, selbst dann, wenn sie wirklich Weltgeltung hatten und haben wie Jürgen Moltmann.21 – Mit Barth lässt sich im übrigen nicht nur eine vermeintliche Degradierung der Kirchengeschichte zu einer »Hilfswissenschaft«22 behaupten, auch wenn diese Charakterisierung mutmaßlich Reformierte nolens volens durchaus kirchengeschichtsvergessen gemacht hat, zumal man sich permanent aktuell durch »Bekennen« gefordert sah, so dass man »Bekenntnis« (confessio) und die eigene Herkunftsgeschichte darüber vergessen oder hintanstellen konnte. Mit Barth lässt sich auch eine einigermaßen hypertroph anmutende Sicht der Kirchengeschichte anführen: »Indem es in dieser Zeit zwischen Christi Auferstehung und Wiederkunft eine Kirchengeschichte gibt, wird offenbar, daß Christus die Welt nicht im Stich läßt. Man kann in diesem Sinne sagen: Die Kirche ist der Sinn und das Geheimnis der Weltgeschichte, die Weltgeschichte geschieht um der Kirchengeschichte willen. Hier ist der Sitz der eigentlichen Macht, ge-

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Michael Beintker formuliert in seinem Vorwort in: ders. (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, S. Vf., hier: S. V: »Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Theologie-, aber auch die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts – und damit in einem bestimmten Sinn immer noch die Theologie der Gegenwart – ohne eine eingehende Beschäftigung mit Barths Denken schwerlich angemessen zu verstehen ist.« Neben dem »Denken« wird der Kirchenhistoriker hier noch »Person und Wirkung Barths« hinzufügen. 21 Vgl. Marco Hofheinz, Reformierte als reformierende Theologie. Der Beitrag des reformierten Theologen Jürgen Moltmann (*1926) zum jüdisch-christlichen und interreligiösen Dialog, in: ders. / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 293–324. 22 Vgl. KD I/1, S. 3.

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gen die alle anderen Mächte nur ›Ohnmächte‹ sind.«23 Auch wenn Barth mit »Kirchengeschichte« hier nicht Kirchengeschichtsschreibung meint, ergäbe sich aus einer derartigen Charakterisierung von »Kirchengeschichte« doch ein hoher Anspruch an die Kirchengeschichtsschreibung: Sie hätte die Wirksamkeit Christi bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. 2.6 Reformierte Repräsentanten Der repräsentativste Vertreter des deutschen Reformiertentums im 20. Jahrhunderts war Wilhelm Niesel, an dem sich drei typische Merkmale des reformierten Protestantismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzeigen lassen: Niesel war Calvin-Forscher, enger Barth-Schüler und »Kirchenkämpfer« – und er war jahrzehntelang Hüter dieses dreifachen Erbes. Niesel wirkte mehr als Kirchenpolitiker denn als Theologe. Wie Niesel wird sich auch Walter Herrenbrück sen. als eindeutiger Parteimann (Konfessionalist und/oder »Barthianer«) verstanden haben. Aber es gab auch andere Reformierte neben Niesel. Hier ist nicht zuletzt an den weitherzigen und weltläufigen Karl Halaski zu denken, der in diesem Band zum ersten Mal eine umfassende historische Würdigung erfährt. Wenn der reformierte Protestantismus für die Pluralität des Gesamtprotestantismus steht und als historisches Phänomen von den ersten Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit ein pluriformes Erscheinungsbild abgibt, dann bleibt es wichtig und sachgemäß, vor, neben und nach derart dominierenden Gestalten wie den Theologen Barth und den Kirchenpolitiker Niesel auch andere Reformierte zu erinnern. Einige theologiegeschichtliche Arbeiten stellen zwar unterdes dar, wie sich Barth in den 20er Jahren – namentlich bei den Reformierten – theologisch immer stärker durchsetzen konnte. Es bleibt doch überraschend, dass es neben alten Positiven, Pietisten und Kohlbrüggianern sowie neokonservativen »Jungreformierten« im Reformiertentum keine liberaltheologischen Vertreter gab: »Bestimmend scheint gewesen zu sein, daß es unter den Reformierten keine nennenswerten liberalen Gruppen gab oder diese sich nicht zu Worte meldeten.«24 Das war freilich in anderen, allerdings mehrheitlich reformiert geprägten Ländern wie der Schweiz und den Niederlanden anders. Die Reformierten profitierten wie der gesamte westdeutsche Protestantismus von der engen Kooperation mit dem demokratischen Rechtsstaat, zwischen 1950 und Ende der 70er Jahre gab es einen finanziellen Höhenflug ohnegleichen. Man partizipierte an der boomenden Bundesrepublik, baute kirchliche Strukturen und kirchliche Immobilien weit 23 Karl Barth, Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, Vorlesung gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947, Zollikon-Zürich 1948, S. 75. 24 Wilhelm H. Neuser, Karl Barth in Münster 1925–1930 (ThSt 130), Zürich 1985, S. 59. – Man könnte hier immerhin an Dr. Erich Foerster (1865–1945) denken.

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aus. Das wurde erstaunlicherweise – nach den Erfahrungen der Unterdrückung und Gefährdung im nationalsozialistischen Unrechtsstaat – als selbstverständlich angesehen. Seit den 70er Jahren – manche sehen dies bereits 20 Jahre früher angelegt und eingeleitet – steuerten die Reformierten fast zielsicher in die innerprotestantische Marginalisierung. Die führenden Personen waren jetzt nicht mehr mit dem Nimbus etwa der »Kirchenkämpfer« ausgezeichnet, sondern auch deren Meinungen mussten im offenen Diskurs Akzeptanz erlangen – und das gelang aufs Ganze gesehen eher nicht. Reformierte nahmen im binnen-reformierten Diskurs oder Subsystem diese schleichende Marginalisierung nicht nur nicht wahr, sondern schätzten sich selbst eher als Avantgarde ein, deren Minderheiten-Meinung sich schon noch durchsetzen würde, weil sie doch an sich und als solche »wahr« und »richtig« wäre – dieses Selbstbewusstsein hatten auch die Vertreter der Generation zuvor bewiesen, die sich auf ihre Erfahrungen im Kirchenkampf stützen konnten. Manche eifrig »bekennenden« Reformierten, wie etwa Niesel, verweigerten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgerade der Einsicht, dass Situationen des früheren »Kirchenkampfes«, die »Eindeutigkeit des Bekennens« erforderten, nach 1945 und in der Bundesrepublik nicht mehr gegeben waren. Nicht nur aktiv am Kirchenkampf Beteiligte, sondern auch ihnen nachfolgende Reformierte sehnten sich offenbar nach einer Prolongierung von Bekenntnissituationen, um Konsequenzen aus dem Glauben ziehen zu können – und um Tapferkeit unter Beweis stellen zu können. 2.7 Die Geschichte des 20. Jahrhunderts als fortschreitende (kirchliche) Zeitgeschichte Mit dem 20. Jahrhundert umfasst dieser Band mehr als die Zeitspanne, für die die Wissenschaft die Bezeichnung »Kirchliche Zeitgeschichte« verwendet, die zumeist mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beginnt, so etwa bei Martin Greschat25, der auch die biblische Weisheit des Zusammenhangs dreier Generationen kennt.26 Es ist dies also auch mehr als die »Epoche der Mitlebenden«, wie Hans Rothfels in den 50er Jahren unter »Zeitgeschichte« gefasst hatte und dabei etwa 40 oder 50 Jahre, 25 Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (Forum Theologische Literaturzeitung 16), Leipzig 2005, S. 25: »Die Kirchliche Zeitgeschichte beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, weil durch ihn die alte Gesellschaftsordnung endgültig zerbrach und es dadurch zur Entgrenzung und Freisetzung von Gewalt bis hin zum Totalitarismus kam. Und alles das geschah in enger Verbindung mit oder jedenfalls kaum gebremst durch das Christentum. Der deutsche Protestantismus belegt diesen Zusammenhang in exemplarischer Weise.« – Zur Geschichte des Ersten Weltkrieges gehört natürlich auch dessen unmittelbare Vorgeschichte. 26 Wenn der Verfasser das Calvin-Jahr 2009 als reformierter Funktionär miterleben konnte, so denkt er doch auch an den Großvater, der von seiner Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg zu erzählen wusste.

3. Zwei methodische Hinweise

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nämlich von der Nachkriegszeit nach 1945 bis zu den letzten »Friedens«-Jahren des Kaiserreichs zurück blickte.27 Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist uns Heutigen in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts ein gutes halbes Jahrhundert später als Rothfels sehr fern, zumal wenn wir geschichtliche »Linien« noch bis ins 19. Jahrhundert ausziehen müssen. Nach der Rothfels’schen Definition begänne aktuell die Zeitgeschichte mit den »langen« 60er Jahren. Die historische Forschung beschäftigt sich aber schon längst auch mit den 70er und 80er Jahren28 – auch diese liegen unterdes eine Generation zurück. Welche Veränderungspotenziale dem 20. Jahrhundert innewohnten, erhellt aus den vielen Veränderungen, derer man beim Vergleich des Anfanges und des Endes des Jahrhundert ansichtig wird.29 Die jüngste zurückliegende Generation von etwa 1970 bis 2000 ist für die aktuelle Forschung besonders interessant, weil dort auch immer wieder historiographisches Neuland betreten werden muss und die aktuellen Interessenslagen oft unübersichtlich sind.30 Damit kommen wir dann auch an die Sperrfrist für Archivalien, die in der Regel 30 Jahre umgreift. Auch der zeitlich jüngste Aufsatz in diesem Band, der sich der Entstehung und den Wirkungen der Friedenserklärung des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 widmet, ließ sich bereits auf Grund von Archivbeständen darstellen, so dass wir nicht allein von den Erinnerungen der damals Handelnden abhängig sind. Wegen des großen kreativen Potentials des subjektiven Erinnerns sind autobiographische Quellen besonders achtsam auszuwerten. 3. Zwei methodische Hinweise

27 Vgl. Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 13–16. – Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1–8. 28 Vgl. etwa Gerhard Ringshausen, Religion in den siebziger Jahren: Sehnsüchte, Engagement und Desinteresse, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der siebziger Jahre (Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), München 2004, S. 19–36; ders., Zwischen Weltveränderung und Innerlichkeit. Denken, Glauben und Handeln in den achtziger Jahren, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der achtziger Jahre (Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), München 2005, S. 21–37. 29 Hartmut Lehmann, Das Christentum im 20. Jahrhundert: Fragen, Probleme, Perspektiven (KGiE IV/9), Leipzig 2012; vgl. auch ders., Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte des Christentums im 20. Jahrhundert. Ein Essay, in: Katharina Kunter / Jens Holger Schjörring (Hg.), Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert (AKiZ B 54), Göttingen 2011, S. 27–41. 30 Zur Erforschung der zurückliegenden Generation unter starker politisch-ökonomischer Perspektive vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, zur Rolle und zu den Veränderungen der Religion und anderer Sinnagenturen, a.a.O., S. 113–115.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

3.1 Quellen, oder: Von der unabdingbaren Archivarbeit Im Folgenden werden weniger akademische Theologen dargestellt als kirchliche Führungskräfte wie etwa leitende Geistliche oder publizistisch besonders rege Personen, die allerdings oft auch ein größeres akademisches Interesse hatten. Diese kirchlichen Führungskräfte definierten und interpretierten durch ihre Tätigkeit praktisch, was reformiert sei, und zwar einerseits nach innen in die eigenen Konfessionszusammenhänge hinein und anderseits nach außen, etwa auch in Abgrenzung zu anderen – vor allem: evangelischen – Konfessionen und zur gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit hin. Daher bilden öffentliche Bekanntmachungen und kirchliche Zeitschriften wichtige Quellen dieser Studien, ganz besonders natürlich die Reformierte Kirchenzeitung (RKZ)31 sowie Broschüren und andere Klein- und Gebrauchsliteratur aus dem Reformierten Bund und den reformierten Kirchtümern, etwa deren Sonntagsblätter, die zum größeren Teil ihr Erscheinen unterdes eingestellt haben. Allerdings wird man wie bei den archivalischen Quellen32 auch bei publizierten Dokumenten eine »Quellenkritik« zu betreiben haben, denn sie sind abgezweckt und in ihren jeweiligen Kontext eingebunden. Es wäre beispielsweise naiv zu glauben, dass das offiziöse »Kirchliche Jahrbuch« der EKD gleichsam objektiv jeweils die kirchliche Gegenwart dokumentiere, und natürlich diente die RKZ auch als apologetisches und polemi-

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Die RKZ erschien von 1851 bis 2000. Ihr müsste ein eigenes Forschungsprojekt gewidmet werden. Eine historische Analyse und eine Darstellung der wichtigsten Akteure (Herausgeber, Beiträger, Leserschaft) wäre ein dringendes Desiderat für die neuere reformierte Kirchengeschichtsschreibung. Ein zu erstellendes und zu edierendes Gesamtregister würde zahlreiche Schätze zu heben helfen. 32 Für diese Studien habe ich unter anderem die für den reformierten Protestantismus besonders relevanten Archive EZA Berlin, die landeskirchlichen Archive in Leer, in Detmold und in Düsseldorf sowie die Bestände der Johannes a Lasco Bibliothek, Große Kirchen Emden, benutzt. In Detmold befindet sich als Depositum das Archiv des Reformierten Bundes (bei den dortigen Aktennummern sind aktualisiert die Nummern eines Aktenverzeichnisses in eckigen Klammern hinzugefügt worden, das Jürgen Reuter in den Jahren 2011/2015 angelegt hat). Wilhelm Niesel zeigte sich 1964 dankbar, dass die Lippische Kirche »einen Raum für ein Archiv unseres Bundes zur Verfügung gestellt« habe. »Wir haben jetzt also ein Archiv! Nicht, dass wir an den alten Akten sonderlich interessiert wären; aber wir sind in den vergangenen Jahren von solchen, die für kirchengeschichtliche Arbeit Verantwortung tragen, immer wieder gedrängt worden, dafür zu sorgen, daß das vorhandene Material nicht in Kisten vermodert. Dem Moderamen ist es mehr darum zu tun, daß hilfreiche Akte in der Gegenwart geschehen. Wir wollen aber nicht vergessen, daß das in rechter Weise nur möglich ist, wenn wir die Taten unserer Väter nicht vergessen und also auch nicht die Dokumente, in denen darüber berichtet wird.« Wilhelm Niesel, Bericht des Moderators vor der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Göttingen, in: RKZ (105) 1964, S. 265–268, hier: S. 265. Vgl. auch Jörg Schmidt, »Enthält unter anderem …« Ein Besuch im Archiv des Reformierten Bundes, in: die reformierten upd@te 7 (2006), Nr. 3, S. 7f.

3. Zwei methodische Hinweise

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sches Blatt im konfessionellen Wettstreit, vor allem aber als binnenkonfessionell orientierender Kohäsionsfaktor. Bei den vorliegenden Quellen ist zu berücksichtigen, dass Material zufällig bewahrt oder eben nicht erhalten worden sein könnte. Insofern ist keine Quellenbasis »objektiv« und umfassend. Im Übrigen sind nicht mangelnde Quellen spätestens seit dem Kaiserreich das Problem, sondern in der Regel die große Menge an Archivalien, Dokumenten und Literatur. Sie sind verantwortlich auszuwählen, nachdem man sich einen Gesamtüberblick verschafft hat. Wiedergegeben sind in diesem Band zumeist historische Detailstudien, die mit Zitaten aus unveröffentlichten Dokumenten nicht eben zurückhaltend sind. Für nahezu jeden Beitrag sind eigenständige, zumeist umfangreiche Archivstudien betrieben worden. Neben der eigenen Studierstube und der Bibliothek ist das Archiv vornehmlicher Arbeitsort des Historikers. Diese banale Einsicht ist angesichts von historiographisch gemeinten Arbeiten, die sich unter Absehung eigener Quellenarbeit nur noch auf das »Rekonstruieren« beschränken, durchaus einmal in Erinnerung zu rufen. Besonders noch nicht oder nicht genügend gewürdigte Quellen sind ein mögliches Korrektiv dafür, dass Geschichtsschreibung nur noch Methoden-basierte Neu-Konstruktion des bekannten »Materials« ist oder den eigenen Vor-Urteilen folgt. 3.2 Perspektiven einer reformierten Kirchengeschichtsschreibung Aus dem expliziten und impliziten Sujet dieser Untersuchungen, den Reformierten und ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis, könnte die Präferenz einer dieser Konfession entsprechenden Perspektive abgeleitet werden: die Gemeinde und damit die Kirche, wie sie faktisch an der »Basis« ist. Ich hätte mir mehr Möglichkeiten zu sozialgeschichtlichen Ansätzen gewünscht, vor allem nachdem Lucian Hölscher eine sozialgeschichtlich anmutende Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus in Deutschland vorgelegt hat. Hölschers Werk33 reicht bis zum Ersten Weltkrieg, also bis zu der Grenze, mit der man früher die »Zeitgeschichte« hatte beginnen lassen. Möglicherweise hat es – paradoxerweise trotz der besseren Quellenlage – Sozialgeschichte eher schwerer, je näher sie der Gegenwart kommt; hier kommt es dann notwendigerweise zu Berührungen mit anderen Sozial- und Humanwissenschaften, etwa mit Soziologie und Kulturwissenschaften. Der Verfasser ist kein »number cruncher« von statistisch zu erhebendem Material, sondern Theologe und Kirchenhistoriker, der sich vor allem mit dem Lesen von Quellen, Dokumenten und Literatur befasst. Es wäre sicher sehr reizvoll, über 33

Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

inhaltliche und methodische Propria einer reformierten Kirchengeschichtsschreibung nachzudenken. Aus den historischen Gegebenheiten bzw. Rekonstruktionen, aus den Frömmigkeitsstilen und den Theologien könnten dafür Kategorien oder Parameter erhoben werden. Im 20. Jahrhundert gab es nicht eben viele reformierte Kirchenhistoriker/innen; so hat sich weder ein Gesamtbild des historischen Reformiertentums noch eine Gesamtanschauung von dem, was reformierte Kirchengeschichtsschreibung sein könnte, herausgebildet. Ein einziger methodischer Ansatz war demnach nicht anzuwenden, zudem die hier versammelten Aufsätze in verschiedenen wissenschaftlichen und kirchlichen Kontexten entstanden sind.34 Gewiss braucht es methodisches Handwerkszeug und aus Theorie und Quellenmaterial gewonnene Begriffe, um sowohl eine Analyse des Materials als auch eine Darstellung der Forschungsergebnisse bewältigen zu können. Angesichts der Vielfalt der Themen und vor allem angesichts der Disparatheit der Quellen scheint ein Methodenpluralismus angemessen zu sein.35 Eine latente Methodenskepsis des Verfassers hat auch etwas zu tun mit dem, was in der Psychologie unter dem Stichwort »inattentional blindness« benannt wird: Durch die Fokussierung der Beobachtung auf vermeintlich Erwartbares und bereits im vorneherein Bestimmtes besteht die Gefahr, durchaus auch ganz Offenkundiges und erst recht Überraschendes oder nicht für möglich Gehaltenes zu übersehen. Gleichwohl haben sich manche neuere Ansätze auch als besonders erhellend erwiesen, etwa die von Sigrid Lekebusch bei den Reformierten im »Kirchenkampf« angewandte Theorie der »Gruppendynamik«,36 die man ähnlich wohl für die Reformierten des gesamten 20. Jahrhunderts anwenden könnte. Dahingegen blieben manche Arbeiten mit einem postulierten sozialoder mentalitätsgeschichtlichen Ansatz im Bereich des reformierten Protestantismus doch eher im Herkömmlichen stecken.

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Trotz der Anordnung und der zahlreichen Verweise bleiben die Studien deshalb einzeln lesbar und sind – auch bibliographisch – in sich geschlossen. Auf eine Gesamtbibliographie wurde entsprechend verzichtet. 35 Es »bleibt der Grundgedanke, dass es der Kirchlichen Zeitgeschichte um die möglichst ganzheitliche Erfassung der historischen Phänomene geht. Dazu gehört prinzipiell auch die Vielfalt der Forschungsperspektiven und Methoden.« Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16), Leipzig 2005, S. 81. Gelegentlich unterstellt die Frage nach den Methoden besonders in der Kirchlichen Zeitgeschichte, dass die kirchengeschichtliche Disziplin nicht »ein theologisches Plus, sondern vielmehr irgendein Minus aufweist, was sie von einer ordentlichen universitären Wissenschaft trennt.« Klaus Fitschen, Profane Kirchengeschichte? Ortsbestimmung einer theologischen Disziplin, in: MEKGR 60 (2011), S. 402–407, hier: S. 402f. 36 Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994.

4. Konfession und Konfessionsgeschichte

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4. Konfession und Konfessionsgeschichte Begriff und Sache von »Konfession« erscheint gegenwärtig überwiegend als pejorativ konnotiert. Konfessionen können sowohl im Protestantismus als auch überhaupt in der christlichen Tradition als lediglich überkommen und damit auch als überholte Differenzkategorie anmuten. »Konfession« wird in gegenwartsbezogenen Diskursen rasch als vormodernes, unreflektiertes Lebensumfeld verstanden. Dabei kann aber übersehen werden, eine wie starke geschichtliche »Macht« Konfessionen waren und wie identitätsprägend auch gegenwärtig »Konfession« sein kann. »Konfession« wird in diesen Studien in zweifacher Hinsicht relevant: als Sujet der Untersuchungen und als Standort des Verfassers. 4.1 »Konfession« als historiographischer Begriff und »Konfessionsgeschichte« Der Begriff der »Konfession«37 entstand im 18. Jahrhundert und löste den der »Religionspartei« ab. Die konfessionellen Unterschiede hatten sich unterdes verstetigt und vertieft, so dass – trotz vereinzelter unionistischer Bemühungen – keine Hoffnung auf baldige Überwindungen der konfessionellen Pluralität bestand. Konfessionen prägten auch das Alltagsleben der Menschen, jedenfalls für zwei Jahrhunderte von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So konnte auch von einem »zweiten konfessionellen Zeitalter« gesprochen werden.38 Es kam in Deutschland zu prägenden konfessionellen Milieus, die dann sozial- und mentalitätsgeschichtlich gut zu erforschen sind, wenn auch nicht zu konfessionellen »Versäulungen« wie in den Niederlanden oder teils mit ähnlichen Phänomenen in der Schweiz. Allerdings sind zwei Limitierungen zu beachten: Auf der einen Seite ist die Kategorie »Konfession« unscharf, wenn man sie in die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts zurückprojiziert, weil weder das gegenwärtige Verständnis von »Konfession« noch die Wirksamkeit der genannten zwei Jahrhunderte nicht dem entspricht, was in den zwei Jahrhunderten nach der Reformation zu erfassen ist39 – auch wenn der Begriff des »Konfessionellen Zeitalters« den älteren der »Gegenreformation« zu Recht abgelöst hat und die Thesen einer vielschichtigen »Konfessionali37

Zum Begriff »Konfession« vgl. Lucian Hölscher, Religiöse Begriffsgeschichte: Zum Wandel der religiösen Semantik in Deutschland seit der Aufklärung, in: Hans G. Kippenberg u.a. (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Band 2, Göttingen 2009, S. 723–746, bes. S. 731–735; vgl. ders., Protestantische Frömmigkeit in Deutschland – zwischen Reformation und säkularer Gesellschaft (BlumenbergVorlesungen 1), Freiburg i.Br. 2017, S. 42–73: Das Problem mit den Konfessionen. 38 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert. Ein zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: GuG 26 (2000), S. 38–75; ders. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. 39 Vgl. Hölscher, Protestantische Frömmigkeit, a.a.O., S. 61–72.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

sierung« sich als historiographisch fruchtbar erwiesen haben. Zum anderen führt die offenkundig nicht aufzuhaltende Erosion konfessioneller Prägungen seit nunmehr zwei Generationen dazu, dass in gegenwärtigen Kontexten »Konfession« als (religions-) soziologische Kategorie mehr und mehr an Deutekraft einbüßt. Und doch ist eine 1988 begründete Reihe »Konfession und Gesellschaft« in der Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte erfolgreich und innovativ. Zumeist wird unter »konfessionsgeschichtlich« eine vergleichende Perspektive auf evangelische und katholische Kirchengeschichte verstanden, im Falle des »Dritten Reiches« gelegentlich auch unter Einschluss der Konfessionsbezeichnung »gottgläubig«.40 Allerdings verstanden sich Reformierte im 20. Jahrhundert in der Regel nicht einfach als »evangelisch«, sondern nahmen sich als eine eigenständige Konfession gegenüber dem Katholizismus und dem Mehrheitsprotestantismus wahr. Historisch ist »Kirche« ohne Bekenntnis (confessio) kaum zu denken, im mainstream-Protestantismus wohl mehr als in der Orthodoxie, im Katholizismus und im Pentekostalismus, wo es neben oder gar über dem Bekenntnis noch andere Konstitutionsfaktoren wie etwa Liturgie, Amt oder unmittelbare Geisterfahrung gibt. Insofern sind protestantische Kirchen Bekenntniskirchen, wenn auch im unterschiedlichen Verständnis. Vor allem bei den Reformierten spielte »Bekenntnis/Bekennen« im 20. Jahrhundert eine signifikante Rolle: sei es apologetisch, die eigene (Sonder-) Stellung begründend, sei es im Zusammenhang mit den Herausforderungen in der nationalsozialistischen Weltanschauungsdiktatur (Bekennende Kirche) oder sei es in späteren politisch-ethischen Debatten in der zweiten deutschen Demokratie. Mit dem Begriff der »Konfessionsgeschichte« ist im Folgenden kein Konzept verbunden, sondern mit ihm soll lediglich der Gegenstand der Untersuchungen markiert werden.41 Da es keine alle einschließenden normierenden Normen für »reformiert« gibt, werden die faktischen Gegebenheiten zu Grunde gelegt: »Reformiert« sind alle Wirkungen innerhalb und durch das mainstream-Reformiertentum, also in den konfessionellen Bünden wie den Landeskirchen, aber auch alle Personen, die sich selbst als »reformiert« verstanden. Gleichwohl gibt es entsprechend starke Kohäsionsfaktoren: institutionelle Zugehörigkeiten, theologische Traditionen wie den Heidelberger Katechismus oder theologische Zeitgenossenschaften wie die Karl Barths, aber auch das sekundäre gemeinsame Gefühl, einer Minorität anzugehören, entsprechend majorisiert zu werden und sich seinerseits »verteidigen« und seine Existenz permanent begründen zu müssen. Mit all dem ist freilich vorausgesetzt, dass es so 40 41

So etwa in einigen Studien in Gailus/Nolzen, Zerstrittene »Volksgemeinschaft«, a.a.O. Von »Konfessionsgeschichte« oder »Konfessionshistorie« wird auch gesprochen, wenn mit Bedauern festgestellt wird, dass Kirchengeschichte »immer noch« in Katholizismus- und Protestantismusforschung zerfällt.

4. Konfession und Konfessionsgeschichte

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etwas wie »Konfession« als ein historisches und als ein historisch wirksames Phänomen sogar über die normative Geltung von Bekenntnissen und die Zugehörigkeiten zu entsprechenden Organisationen und Institutionen gibt. Der weit reichende Schluss Martin Greschats, dass Kirchengeschichte42 nur noch in möglichster Breite der Konfessionen betrieben werden sollte,43 ist nicht zwingend. Wissenschaft wendet sich hochspezialisiert zumeist Teilbereichen zu. Forschungsbeiträge sind in nahezu allen Fächern extreme Teiluntersuchungen. Dass ist auch in der (Kirchen-) Geschichtsforschung mit zahllosen kleinteiligen Untersuchungen über Personen (-gruppen), Regionen und Themen der Fall. Aber auch bei synthetischen Gesamtschauen von Kirchengeschichte wird man ohne Begrenzungen, die nicht zuletzt durch leitende Ideen gezogen sind, kaum zum Ziel kommen. Begrenzungen und Spezialisierungen sind üblich: räumlich – etwa eine Kirchengeschichte Deutschlands oder eines Territoriums –, zeitlich – nicht nur bei größeren Epochen, sondern auch bei anderen sinnvoll zu rekonstruierenden Zäsuren wie bei einer Protestantismusgeschichte der Weimarer Republik – oder auch auf Grund anderer Kategorien wie Gruppen und Konfessionen. Eine reflektierte Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes in Form einer Konfessionsgeschichte ist genauso legitim wie eine Territorial- oder Regionalkirchengeschichte.44 Bei der Analyse und Darstellung allerdings wird man »die anderen« und »das andere« immer im Blick halten müssen, gerade um das Allge42 Ich verwende den Begriff »Kirchengeschichte«, ohne ihn näher und neu zu definieren. Der Begriff »Historische Theologie« klärt gut die Zugehörigkeit des Faches zum theologischen Fächerkanon, verunklart aber, wenn er derart verstanden würde, als ob historische Sachverhalte der kirchlichen Institutionen und der gelebten Frömmigkeit allein unter normativ-theologischer Perspektive oder auf Grund (systematisch-) theologischer Prämissen geschehen. Vgl. auch Jung, Kirchengeschichte, a.a.O., S. 232–239. Die in pluralen Kontexten geforderte »Christentumsgeschichte« unterschätzt den historischen Befund, dass es Glauben/Religion langandauernd nicht ohne Gesellungsformen und Institutionen gibt. 43 Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 83–86. – Genauso überzogen wäre es zu behaupten, man könne (Kirchen-) Geschichte nur (!) noch in europäischen oder gar globalen Zusammenhängen darstellen. Freilich legt sich bei den international vernetzten Reformierten ein weiter Horizont nahe – das demonstriert eindrucksvoll Margit ErnstHabib, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition (FSÖT 158), Göttingen 2017. 44 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Territorialkirchengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen zu einem Forschungskonzept am Beispiel Deutschlands und Österreichs für das 19. und frühe 20. Jahrhundert, in: ZKG 117 (2006), S. 211–230; Hans Otte u.a. (Hg.), Landeskirchengeschichte. Konzepte und Konkretionen. Tagung des Arbeitskreises Deutsche Landeskirchengeschichte im Kloster Amelungsborn vom 29. bis 31. März 2006 (Herbergen der Christenheit Sonderband 14 / Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 7), Leipzig 2008.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

meine und Verbindende, nicht zuletzt aber auch um das Besondere erfassen zu können.45 Greschat warnt: »Die Beschränkung auf eine einzige Kirche ist methodisch jedenfalls nicht vertretbar. Mehr noch: Dadurch wird die Realität des Christentums verzerrt.«46 Und: »Wo sich das kollektive Gedächtnis einer Gruppe oder Organisation lediglich auf das eigene Erbe konzentriert, droht die sektiererische Verengung. An die Stelle des Dialogs treten der Monolog oder eine falsche Apologetik.«47 Diese Bestimmung erscheint als gewollt holzschnittartig, denn auf die Engführung durch das Wort »lediglich« wird wohl niemand ernsthaft bestehen. Das Inbeziehungsetzen und Vergleichen, also das kritische Relativieren, gehört zu den Voraussetzungen für historisches Bewerten; dazu allerdings müssen zunächst auch die einzelnen, zu unterscheidenden Phänomene betrachtet und im wissenschaftlichen Diskurs plausibel dargestellt werden. Eine Konfessionsgeschichte der Reformierten in Deutschland kann nicht geschrieben werden, ohne die anderen Konfessionen mit im Blick zu haben und ohne internationale Kontexte zu berücksichtigen. 4.2 Konfessioneller Standort des Verfassers Neben der Einordnung der Quellen und der Literatur sowie den methodischen Reflexionen soll auch der Standort und die Intentionen des Forschenden reflektiert werden. Möglicherweise ist dies ein besonderes Bedürfnis der theologischen Wissenschaften, da »Theologie … immer konfessionell geprägt [ist].« Die Theologien »stehen im Dienste« der jeweiligen Konfessionskirche. »Deshalb ist auch die Kirchengeschichtsschreibung konfessionell geprägt.«48 Insofern muss m.E. auch offen gelegt werden, in welchem Verhältnis der Wissenschaftler zu der »Konfession« der von ihm erforschten historischen Phänomene steht. Entsprechend gehört es zu den Vorüberlegungen in dieser Einleitung, auch über das »ich« Rechenschaft abzulegen.49 Dass die leitenden Interessen und 45 46 47

Vgl. auch Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 92f. Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 93. Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 94. – Eine direkte Auseinandersetzung mit den Analysen und Thesen Greschats liefert Ute Gause, Kirchliche Zeitgeschichte – Periodisierung, Signaturen und theologische Relevanz. Eine Problemanzeige, in: Tobias Sarx u.a. (Hg.), Protestantismus und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte von Kirche und Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert. Jochen-Christoph Kaiser zum 65. Geburtstag (KuG 47), Stuttgart 2013, 17–30. Vgl. danach Martin Greschat, »Kirchliche Zeitgeschichte«. Überlegungen zu ihrer Verortung, in: ThLZ 139 (2914), S. 291–310. 48 Martin H. Jung, Kirchengeschichte (utb basics), Tübingen 22017, S. 243. 49 In früheren Generationen wurden solche Erörterungen als »unwissenschaftlich« und nicht zur Sache gehörend abgetan. Jürgen Moltmann hat dagegen in seiner systematischtheologischen Methodologie seinen biographischen Standort vorangestellt: ders., Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, § 1 Wo ist Theologie? Orte eigener theologischer Existenz (S. 19–23, vgl. S. 14f.).

4. Konfession und Konfessionsgeschichte

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dass das Motiv meiner Arbeit von einer grundlegenden Sympathie für den Protestantismus im allgemeinen und einer aktiven Zugehörigkeit zum reformierten Protestantismus50 im besonderen mitgeprägt sind, ist offenkundig. Der Verfasser partizipiert an der Tradition, die er im Folgenden beschreibt. Wenn sich ein Verfasser seiner eigenen Standortgebundenheit bewusst wird und diese offen legt, kann er der Gefahr einer positionellen, apologetisch-polemischen Kirchengeschichtsschreibung entgehen. So entstand dieser Band mit historischen Beiträgen, die nahezu bis in die Gegenwart und damit in das eigene Miterleben reichen, tatsächlich mit einer reformierten Perspektive und in gegenwärtiger Teilnahme – und gerade deshalb auch mit der mitlaufenden Reflexion, so etwas wie einen kritischen Abstand zu wahren. Doch kann persönliche Distanz zum Forschungsgegenstand nicht das wichtigste Kriterium für »Wissenschaftlichkeit« sein. Kein Historiker entgeht seinem Forschungsgegenstand und muss es auch gar nicht – wie sollte sonst eine deutsche Forscherin deutsche Geschichte treiben? Die teilnehmende Beobachtung, die für »Feldforschung« als zulässig und notwendig angesehen wird, ermöglicht auf Grund der intimeren Vor-Kenntnisse einen Erkenntniszugewinn der Forschung. Meines Erachtens ist nicht die »Verkafferung«51 das Problem, sondern die geringe Kenntnis der Eigenlogik von gesellschaftlichen Systemen und Phänomenen. Gerade die Historiographie zeigt, dass es nicht notwendig zu Parteilichkeit und Apologie führen muss, wenn der Historiograph oder die Historiographin selbst an der Gegenwart des historischen Untersuchungsgegenstandes partizipiert, vielmehr wird der Blick geschärft. Bereits vor mehr als drei Jahrzehnten hat Dietrich Ritschl systematisch-theologisch in diese Richtung argumentiert. Auch wenn »[e]s gilt, Einzel-Stories und Gesamt-Stories zu unterscheiden«,52 gibt es einen notwendigen Zusammenhang. Israel und sein Gott sind das Urbild davon, und diesen Zusammenhang finden wir auch im Hinblick von Christen und Kirche: »[W]ir lieben nur die, mit denen wir unsere Story zu teilen bereit sind

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Der Vf. gehört seit 2007 als gewähltes Mitglied dem Moderamen des Reformierten Bundes e.V. an. Er agiert mithin auch als konfessioneller Kirchenfunktionär. Seit 1999 gehört er zum Vorstand der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V., seit März 2017 fungiert er als Vorsitzender. 51 »Wer eine wissenschaftliche Beobachtung durchführt, sollte sich vor dauerhafter Verkafferung hüten.« Hubert Knoblauch, Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft (utb 2409), Paderborn 2003, S. 97. – Dieser Begriff aus der Kolonialgeschichte, der eine zu große Nähe zur autochthonen Bevölkerung stigmatisieren wollte, wird in sozialwissenschaftlichen und ethnologischen Feldforschungen im übertragenen Sinn verwendet (going native als Problemanzeige). 52 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 21988, S. 45.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

und an deren Story wir unsererseits Anteil haben wollen.«53 Ritschl folgert für die Kirchengeschichtsschreibung: »Die Tragik und Tiefe der Ambivalenz der Kirchengeschichte kann mit den Mitteln säkularwissenschaftlicher Geschichtsschreibung nicht ausgelotet werden. Der Kontrast zwischen den Folgen der … entscheidenden Fehltritte … und den ungezählten Taten der Barmherzigkeit, Vergebung und therapeutischen Hilfe kann nur von denen, die in der Story Israels und Kirche ›drinstehen‹, als das Doppelantlitz einer einzigen Geschichte gesehen und in seinen Konsequenzen übernommen werden.«54 Ausdrücklich bejaht Ritschl die säkularen wissenschaftlichen Methoden und Maßstäbe kirchengeschichtlicher Forschung, deren Ergebnisse emotionsfrei erzielt und dargestellt werden können. Aber durch die Teilnahme an einer gemeinsamen Story ergeben sich für den Forscher hinsichtlich seines Forschungsgegenstandes sachgemäße Gewichtungen und Einschätzungen, die Außenstehenden nicht – oder nicht so leicht – zugängig sind. Kurzum: Ich habe zwar nicht »recht«, wenn ich als Reformierter die Geschichte des reformierten Protestantismus erforsche und darstelle, denn es gelten die allgemeinen wissenschaftlichen Standards, und die Ergebnisse müssen sich im wissenschaftlichen Diskurs plausibilisieren lassen. Gleichwohl erreiche ich als Reformierter mit meiner »Binnenperspektive« – wenn ich vernünftig, solide und nachvollziehbar arbeite – gerade durch besonders sachgemäße Fragestellungen und auch durch eigene Interessen, Fragestellungen und Schwerpunkte (so Martin Jung über Kirchenhistoriker als Theologen) eine Authentizität der Darstellung, wie sie ein Nicht-Beteiligter schwerlich erreichen dürfte. Selbstkritisch wird man sich vor »Wahrnehmungsblockaden« und vor falschen kritischen Einstellungen zu hüten haben.55 Dies gilt gerade auch angesichts des zutreffenden Befundes von Martin Greschat, dass Kirchliche Zeitgeschichte nicht zuletzt »Streitgeschichte« ist, da es in ihr »um die Verteidigung des eigenen Lagers [ging und geht]«. Hier geht es »nicht nur um das Selbstbewusstsein, sondern um die Identität lebender Menschen, einzelner oder ganzer Gruppen«.56 Selbst wenn man diesen Sachverhalt methodisch zu berücksichtigen versucht, um so eine »wissenschaftliche« Distanz schaffen und wahren zu können, sollte man sich 53

Ritschl, Logik, a.a.O., S. 46. – Poetischer hat Fulbert Steffensky einmal gesagt: »Lehren heißt zeigen, was man liebt.« Das mag auch für das Erforschen und Darstellen und im Umkehrschluss anwendbar sein: Gerade was man liebt, sollte man auch historisch erforschen und darstellen und sich vor Kritik nicht scheuen, denn man wird in der Geschichte unweigerlich auch Dinge auffinden, die in der Nachbetrachtung schmerzen und für die man sich in einer Gruppenidentität schämt oder die man betrauert. 54 Ritschl, Logik, a.a.O., S. 93, vgl. auch S. 96. 55 Vgl. Martin Jung, Kirchengeschichte im interreligiösen Dialog, in: Bernd Jaspert (Hg.), Kirchengeschichte als Wissenschaft, Münster 2013, S. 94–104, hier: S. 102. 56 Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 8.

4. Konfession und Konfessionsgeschichte

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bewusst bleiben, dass auch wissenschaftliche Bestrebungen Interesse geleitet sind. Vorentscheidungen fallen bereits weit vor der Analyse: durch den eigenen Standpunkt, durch die Auswahl und nicht zuletzt durch viele Kontingenzen – auch bei denen, die diesen Aspekt ignorieren. Ich halte konfessionelle Kirchengeschichtsschreibung durchaus für eine Chance, wobei sich das »konfessionell« sowohl auf den Forschungsgegenstand als auch auf den Forschenden beziehen kann. Eine unmittelbare praxis pietatis ist sie mir eher nicht,57 auch wenn meine historiographischen Beiträge natürlich auch Teil einer konfessionellen Erinnerungskultur sind und der gegenwärtige reformierte Protestantismus ein besonderer Raum meiner Spiritualität ist, so wie die Kirchengeschichte einen »Erfahrungsraum« der Konfession darstellt (Michael Beintker). Eine auch emotionale Verflechtung in den Untersuchungsgegenstand kann – über die erhöhte Motivation zur Erforschung hinaus – durchaus Erkenntnisgewinne bringen, indem das Fühlen, Entscheiden und Wirken der handelnden Personen auch vom inneren Verständnis nachvollzogen werden kann. Das »Engagierte« stelle, so Martin Wallraff, keinen »Kontrast … zur intellektuellen Redlichkeit und zur wissenschaftlichen Präzision« dar; eher sei damit zu rechnen, »dass der Kirchengeschichte dort die Puste ausging, wo das apologetisch-kirchliche Grundanliegen verblasste.«58 Unangemessen ist in jedem Fall ein Plädoyer für eine vermeintlich »objektive« Geschichtsschreibung über das Christentum und die Kirchen, wenn jemand selbst einen eindeutigen konfessionellen Standort einnimmt, der andere Konfessionen weder kenntnisreich noch gerecht beurteilen lässt: Der »Allgemeinhistoriker« Thomas Großbölting spricht von »den bekannten kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Einbahnstraßen«, wohingegen er selbst »einen versachlichenden Beitrag leisten« möchte.59 Es zeigt sich jedoch durchgehend, dass er »Kirche« gar nicht anders als unter römisch-katholischen Prämissen imaginieren kann – leider verschweigt er seine eigene konfessionelle Bindung. Insofern muten seine Darstellungen über die Geschichte des Protestantismus gele57

»Die Kirchengeschichte hat es zu tun mit dem Lauf der Wolke der Zeugen durch die Geschichte. Die Kirchengeschichtsschreibung hat darum den dritten Artikel, die Rede von der communio sanctorum, die creatura verbi divini ist, mit zu reflektieren. Denn in dieser communio sind alle Glieder gleichzeitig miteinander: die Gestorbenen, die Zeitgenossen und die erst noch Kommenden, die in der Vorsehung Gottes bereits einen Platz haben. Ein vergessenes Glied der communio sanctorum in Erinnerung zu bringen, ist daher auch und zuvörderst Glaubensakt, nämlich Sichtbarwerdung der geglaubten Kirche, der una sancta ecclesia.« Johann Anselm Steiger, Johann Ludwig Ewald (1748– 1822). Rettung eines theologischen Zeitgenossen (VVKGB 52), Karlsruhe 1996, S. 20. 58 Martin Wallraff, Wie kirchlich ist die Kirchengeschichte, in: ThZ 72 (2016), S. 259–267, hier: S. 261. 59 Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 14.

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Konfessionelles Selbstbewusstsein: Der reformierte Protestantismus im 20. Jahrhundert

gentlich unpassend an, da ihm ein wesensmäßiges Verständnis für dieses historische Phänomen nicht zugänglich zu sein scheint. Durch die Erörterung meines konfessionellen Standorts übe ich dagegen Transparenz.60 Meine Texte können so immer auch kritisch gelesen werden, ob nicht doch sachfremde Apologetik enthalten sei. Eher steht wohl zu befürchten, dass eigene Konfessionsfreunde – von außen gerne als nüchtern-distanziert und selbst-kritisch beschrieben61 – irritiert fragen werden, wie ich derart kritisch über »uns« schreiben könne.62 Die Antwort ist leicht zu geben: Auf Grund der Sach- und Quellenlage meine ich, dass man kritisch schreiben muss. Die Ausführungen selbst müssen diese Behauptung erhellen. Geschichtswissenschaft hat auch »entmythologisierende«, desillusionierende, dekonstruierende Funktion, in diesem Fall etwa mit dem Aufweis, dass die Reformierten im 20. Jahrhundert vielfältiger, gar anders waren, als es der spätere mainstream des reformierten Protestantismus in der gemeinsamen Erinnerung etablierte. Sowohl aktuelle wie auch historische konfessionelle Selbstverständnisse gehören von Historikern auf den Prüfstand gestellt. Zeitgenössische Rückprojektionen, um sich in einer vom eigenen Standpunkt erhoffte Geschichte verorten zu können, müssen als solche identifiziert und zurückgewiesen werden. Und vielleicht kann dieses Bemühen sogar ins Positive gekehrt werden: Liegen gebliebene Möglichkeiten und Formate dieser Konfession könnten benannt werden. Vielleicht haben sie sogar Zukunft. 60

»Selbstverständlich ist auch wissenschaftliche Geschichtsschreibung immer standortgebunden. Es ist Aufgabe des Forschenden, diesen Sachverhalt in die eigene Reflexion einzubeziehen und, wo immer nötig und sachlich angemessen, darüber Rechenschaft abzulegen.« Wallraff, Wie kirchlich ist die Kirchengeschichte?, a.a.O., S. 264. Die Berücksichtigung und Offenlegung von »konfessionellen Prägungen« können eben nicht »als eine konfessionalistische Engführung« verstanden werden, a.a.O., S. 265. 61 So schätzt Walter Schöpsdau, Reformiertes Profil in der Gesellschaft, in: ders., Angenommenes Leben. Beiträge zu Ethik, Philosophie und Ökumene, hg. von Martin Schuck (Bensheimer Hefte 104), Göttingen 2005, S. 80–98 (zuerst erschienen in Pfälzisches Pfarrerblatt 93 [2003], S. 71–80), hier: S. 81, ein, »dass die Reformierten jeglicher Form hagiographischer Selbstdarstellung misstrauen«. Das ist nicht ganz zutreffend: Reformierte haben sehr wohl »hagiographische« Züge in ihren Geschichtswerken gehabt: etwa August Lang über reformierte Reformatoren, Wilhelm Niesel über den Kirchenkampf und Barmen oder auch Zeitgenossen über die Moderamenserklärung von 1982. – Reformiertes Christentum habe »etwas Pietätloses« – so Karl Barth, wie Schöpsdau (a.a.O., S. 86) zitiert. »Reformiertes Profil – das heißt Nähe zu Aufklärung und radikaler Kritik. Alles steht zur Debatte, auch die Bibel, auch die Theologie, auch der Glaube, sogar das Denken dessen, der so radikal denkt.« A.a.O., S. 90. 62 Kirchliche Zeitgeschichte »übt … immer eine eminent kritische Funktion gegenüber sämtlichen Kirchtümern und ihren Theologien aus.« Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 98; vgl. auch Jung, Kirchengeschichte, a.a.O., S. 236. – Um nur zwei Beispiele meiner Studien zu nennen: Ich bewerte Walter Hollweg positiver als es die reformierte community tut, die Friedenserklärung des Moderamens 1982 sehe ich hingegen skeptischer.

4. Konfession und Konfessionsgeschichte

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Meine Beiträge zur Kirchlichen Zeitgeschichte sind also keine Beiträge zu konfessionellen Auseinandersetzungen, sondern wollen erstens ergänzende Beiträge für die gesamte Kirchengeschichtsschreibung sein, die so oft die Reformierten übergeht, dann aber auch zweitens innerhalb des reformierten Lagers zum selbstkritischen Rückblick verhelfen. Die hier vorgelegten Beiträge sind also der Versuch einer Konfessionsgeschichte, die nicht einengt, sondern ergänzt und vertieft. Sie sind aus einer affirmativen Perspektive verfasst, sind aber weder apologetisch noch polemisch, sondern kritisch intendiert, sie sind wissenschaftlich zu verantworten und stellen gleichzeitig einen Beitrag zur konfessionellen Erinnerungskultur dar.

»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«1 Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland

1. Einleitung Das Bemerkenswerteste des Calvin-Jubiläumsjahres 2009 war möglicherweise, dass der Genfer Reformator mit weltweiter Wirkung von der Evangelischen Kirche in Deutschland als gesamtprotestantischer Institution zu ihrer »Sache« gemacht wurde, so dass die Beschäftigung mit ihm nicht mehr als das konfessionalistische Unternehmen einer evangelischen Konfession missverstanden werden konnte. Ein Blick zurück auf frühere Jubiläen und auf das Jubiläumsjahr 1909 lohnt sich gleichwohl oder gerade deshalb, sind doch viele Motive und Bemühungen ein Jahrhundert vorher bereits sehr ähnlich – beziehungsweise auch im Jahrhundert nach 1909 stand der Protestantismus noch vor vergleichbaren Aufgaben. Es soll im Folgenden nachgezeichnet werden, wie das Calvin-Jubiläum 1909 geplant und durchgeführt worden ist und wie wichtig es für die Konfessionskultur der Reformierten in Deutschland geworden ist.2 Gelegentlich trifft man bei der Lektüre reformierter Klassiker auf Formulierungen wie die Wilhelm Kolfhaus’, dass es ein »neue[s] Achten auf das 1

So August Lang in seiner Autobiographie: Herr, weise mir Deinen Weg, S. 97. Zu Lang und seinen Erinnerungen s.u. Anmerkungen 22–24. 2 Zu Calvin in früheren Reformationsfeiern vgl. Stefan Laube, Calvinistische Splitter in der deutschen Reformationserinnerung zwischen Union (1817) und Calvin-Jubiläum (1909), in: Archiv für Kulturgeschichte 91 (2009), S. 161–191; im Abschnitt über das Jubiläum 1909 (a.a.O., S. 181–184) bezieht sich Laube stark auf den hier wieder abgedruckten Aufsatz von mir. Ebenso rezipiert Thomas K. Kuhn meine Ergebnisse, vgl. ders., »… von vielen verhaßt, von vielen verehrt …« Johannes Calvin im frühen 20. Jahrhundert, in: Traugott Jähnichen u.a. (Hg.), Calvin entdecken. Wirkungsgeschichte, Theologie, Sozialethik (Zeitansage. Schriftenreihe des Evangelischen Forums Westfalen und der Evangelischen Stadtakademie Bochum 6), Berlin 2010, S. 15–27. Freundliche Bestätigung fanden diese Ausführungen durch Georg Plasger, Safekeeping and Sifting: Observations on the German Reformed Tradition, 1900–1930, in: Journal of Reformed Theology 6 (2012), S. 143–164. – Eine schöne, allerdings sich stark auf die publizierten Festreden beschränkende Darstellung hat jüngst Christian Muth vorgelegt, vgl. ders., Schüler und Dolmetscher des Propheten? Grundlinien protestantischer Erinnerung an Melanchthon und Calvin bei ihren Jubiläen 1897 und 1909, in: Klaus Tanner (Hg.), Konstruktion von Geschichte. Jubelrede – Predigt – Protestantische Historiographie (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 18), Leipzig 2012, S. 321–345, v.a. S. 333–342 (meine Untersuchung wird zu Grunde gelegt, a.a.O., S. 322, Anm. 5).

1. Einleitung

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Zeugnis der Reformation und namentlich des Genfer Reformators« gegeben habe.3 Einiges spricht dafür, dass dieses »neue Achten« nicht etwa mit der eher eigentümlichen Calvin-Rezeption Karl Barths begann, sondern mit dem Jubiläum 1909, dem 400. Geburtstag Johannes Calvins. Es geht im Folgenden nicht um einen Beitrag zur Theologiegeschichtsschreibung, nämlich der Calvin-Rezeption,4 sondern um einen Beitrag zur Geschichte der Selbstdefinition der Reformierten im 20. Jahrhundert. Anders als bei Lutheranern ist es bei Reformierten nicht so leicht zu bestimmen, wer nun »reformiert« sei. Wer sich »unter« das Konkordienbuch stellt, ist eben lutherisch. Aber wer ist reformiert? Eine allseits anerkannte Bekenntnisschrift gibt es nicht, auch wenn der Heidelberger Katechismus besonders nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Katalysator für das Selbstverständnis der Reformierten fungierte. So kann man wohl kaum umhin, eine Maximal- – oder sollte man sagen: Minimal-? – definition für die Reformierten anzunehmen: Reformiert ist, wer sich selbst so bezeichnet. Daher kommen im Folgenden Stimmen aus einem breiten Spektrum zu Wort. Damit kann auch illustriert werden, wie die reformierten Gruppierungen am Ende des Kaiserreiches zueinander standen: Waren sie eher auf Kooperation oder auf Konfrontation aus, wer führte zusammen und wer spaltete?5 Die zu verifizierende These lautet: Die Reformierten haben sich mit und ab dem Calvin-Jubiläum 1909 wieder verstärkt über Johannes Calvin definiert. Reformiert ist mithin, wer sich im besonderen Calvin verpflichtet fühlt, dessen Theologie rezipiert und den Aufbau seines Kirchenwesens nach Genfer Anstössen gestaltet oder gestalten will. Deshalb wollen wir zunächst einen Blick auf die Reformierten (und ggfs. auf ihr CalvinBild) um die Jahrhundertwende werfen (Kap. 2), dann die Vorbereitungen zum Calvin-Jubiläum ab etwa 1905 (Kap. 3) und das Jubiläum rund um den 10. Juli 1909 in Deutschland (Kap. 4) und in Genf (Kap. 5) schildern sowie die Zeit unmittelbar danach (Kap. 6) und schließlich resümieren, ob und wie sich die Selbstdefinition und das Calvin-Bild der Reformierten verändert hat (Kap. 7). Dabei spielen weniger die rein 3

Wilhelm Kolfhaus, Christusgemeinschaft bei Johannes Calvin (BGLRK III), Neukirchen 1939, S. 12. 4 Vgl. zum Thema Matthias Freudenberg, Calvinrezeption im 20. Jahrhundert, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 490–498. 5 Das Verhältnis der reformierten Gruppierungen zueinander während der Weimarer Republik, gleichsam als Vorspiel zum reformierten Kirchenkampf, schildert Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf (BGLRK XXXVII), Neukirchen 1974, Kap. 1: Das Erwachen des reformierten Bewußtseins, S. 11–50. Für die Zeit des Kirchenkampfes vgl. Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994; vgl. auch G. Plasger, Safekeeping, a.a.O.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

fachwissenschaftlichen Publikationen eine Rolle, sondern vielmehr die die kirchliche Öffentlichkeit bestimmenden kirchlichen Presseorgane und die hinter ihnen stehenden kirchlichen Persönlichkeiten. 2. »[Nicht] zu einer über die Leisten des Genfer Theologen geschlagenen Theologie verpflichtet« Die Reformierten in Deutschland um die Jahrhundertwende Die meisten Reformierten des 19. Jahrhunderts lebten in Unionskirchen, vor allem im Rheinland und in Westfalen. Freilich gab es dort durchaus geschlossen reformierte Gebiete. Es ist aber kaum zu übersehen, dass die Unionsbildungen im ersten Jahrhundertviertel letztlich auch bewirkt hatten, das reformierte Bekenntnis weithin vergessen zu machen. So blieben von den zu Beginn des Jahrhunderts existierenden acht akademischen Lehranstalten für die Ausbildung der reformierten Pastoren keine einzige mehr übrig.6 Einen reformierten Lehrstuhl gab es seinerzeit nur in Erlangen. Die Reformierten in der neuen preußischen Provinz Hannover konnten sich erst 1882 neben Lippe-Detmold7 als eigenständige Landeskirche im deutschen Protestantismus konstituieren.8 Neben dieser geographischen Differenzierung gab es unterschiedliche reformierte Traditionen und ihre meist vereinsrechtlichen Manifestationen: so den 1890 gegründeten Hugenottenverein9 und die niedersächsische Konföderation. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich der Wunsch nach einem gesamtdeutschen Repräsentanten: 1884 wurde dann der »Reformierte Bund für Deutschland« – anlässlich eines Zwingli-Gedenkens! – gegründet.10 Die reformierten Gruppierungen 6

Vgl. Friedrich Heinrich Brandes, Art. Reformierter Bund, in: RE3 XVI (1905), S. 521f, hier: S. 522. 7 Vgl. Volker Wehrmann (Hg.), Die Lippische Landeskirche 1684-1984. Ihre Geschichte in Darstellungen, Bildern und Dokumenten, Detmold 1984. 8 Vgl. Elwin Lomberg / Gerhard Nordholt / Alfred Rauhaus (Bearb.), Die Evangelischreformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982. Vgl. auch J.F. Gerhard Goeters, Die Situation der Reformierten im 19. Jahrhundert und die Entstehung der Reformierten Landeskirche Hannover und des Reformierten Bundes. Vielfalt und Einheitsbestrebungen unter den deutschen Reformierten (1983), jetzt in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von Heiner Faulenbach / Wilhelm H. Neuser (Unio und Confessio 25), Bielefeld 2006, S. 357–374. 9 Vgl. Jochen Desel / Walter Mogk (Hg.), 100 Jahre Deutscher Hugenotten-Verein 1890–1990. Geschichte, Personen, Dokumente, Bilder (Tagungsschriften des DHV 10), Bad Karlshafen 1990. 10 Vgl. J.F. Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert des Reformierten Bundes, in: Joachim Guhrt (Hg.), 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Bad Bentheim 1984, S. 12–37; auch in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, a.a.O., S. 339–356.

2. »[Nicht] zu einer über die Leisten des Genfer Theologen geschlagenen Theologie verpflichtet«

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waren demnach sehr jung, zur Jahrhundertwende größtenteils erst 15 bis 20 Jahre alt. Nach eigener Wahrnehmung rang die reformierte Konfession um ihre Existenz; in den öffentlichen, anlässlich der Moderamenssitzungen in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gehaltenen Vorträgen wurde stets betont, dass das Reformierte weder ausgestorben noch zum Aussterben verurteilt sei.11 Die entscheidende Rolle, die Existenz reformierter Gemeinden ins kirchliche Bewusstsein und in die kirchliche Öffentlichkeit zu bringen, kam dem Reformierten Bund zu. Als inhaltliches Band wurde vor allem seit dem Jubiläum 1863 der Heidelberger Katechismus behauptet. Die von 1851 bis 2000 publizierte Reformierte Kirchenzeitung (RKZ) spielte dabei eine kaum zu überschätzende Rolle. Obwohl theologisch durchaus unterschiedlich geprägt, waren die meisten reformierten Gebiete erstaunlich fromm (»positiv«): das Siegerland, das Bergische Land, die Grafschaft Bentheim, Emden. Anders als etwa in den Niederlanden und in der Schweiz gab es kaum liberale und kritische Theologie. Der historisch-kritischen Theologie dagegen erstanden mit Hermann Friedrich Kohlbrügge, Johannes Wichelhaus, Eduard Böhl und Adolph Zahn erbitterte Feinde im reformierten Lager. Vermutlich ist der Auricher Generalsuperintendent Petrus Georg Bartels, ein Schüler Johann Tobias Becks, durchaus repräsentativ für die deutschen Reformierten: Er kann als Vertreter eines vor allem ethisch (und nicht dogmatisch!) orientierten milden Biblizismus angesehen werden.12 Ein Calvinist indes ist er nicht gewesen; vielmehr wird er versucht haben, das »Deutsch-Reformierte« zu betonen. Von ihm wird der Ausspruch überliefert, dass die Reformierten »weder vor Gott noch vor den Menschen zu einer über die Leisten des Genfer Theologen geschlagenen Theologie verpflichtet« seien.13 So kommt es dann auch zu Abgrenzungen; in einem Rundschreiben an die Moderamensmitglieder des Reformierten Bundes urteilt der nachmalige Moderator Heinrich Calaminus angesichts der niederländischen Denomination der »Christlich-Reformierten«: »[W]ir haben eine kirchlichere und dogmatisch freiere Richtung.«14 Es gab jedoch auch einige bewusste Calvinisten, gleichsam 11

Vgl. die Protokolle der Tagungen des Moderamens 1894–1910 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 124 [22.3]). 12 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Bartels, Petrus Georg, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 30–33; ders., Art. Bartels, Petrus Georg, in: BBKL XV. Ergänzungen II (1999), S. 86–93. Vgl. in diesem Band den Aufsatz: Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf biographische Studien, Kap. 2. 13 Petrus [Georg] Bartels, Der Heidelberger Katechismus und die Prädestinationslehre. Ein Beitrag zur Geschichte des Eindringens des Kalvinismus in die deutschen reformierten Kirchen, Hameln 1931, Vorwort. 14 Brief Calaminus’ an Moderamensmitglieder 12. April 1902 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 101 [21.16]).

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

»bunte Hunde« unter den Reformierten: etwa Adolph Zahn15, der aus apologetischen und polemischen Gründen eine Sammlung von katholischen und protestantischen Urteilen aus dem 19. Jahrhundert über Calvin und »Studien über Johann Calvin« herausgab. Offensichtlich fühlte sich Zahn nicht sonderlich im mainstream des Reformierten Bundes aufgehoben, zog er sich doch von dort zurück. Immerhin erbten die Reformierten des fin de siècle zwei historiographische Großtaten aus dem 19. Jahrhundert: die Reihe »Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformirten Kirche« (Bde I–IX, 1857–1861) und die Herausgabe der Schriften Calvins und Zwinglis im Rahmen des Corpus Reformatorum. Die Publikation der Werke Calvins wurde 1900 vollendet: Im Abschlussband erschien die umfassende Bibliographie aus der Feder Alfred Erichsons.16 Zu erinnern ist freilich auch an Émile Doumergues Calvin-Biographie, deren Bände ab 1899 erschienen, und an Ernst Friedrich Karl Müllers Symbolik (1896), die von ihm verantwortete Edition der Bekenntnisschriften der reformierten Kirche (BSRK, 1903; ND 1999) und seine editorischen Arbeiten an Calvins Auslegungen der Hl. Schrift. Besonders interessant sind auf Deskription des common sense ausgerichtete, quasi-kanonisierende Lexikonartikel. Einen solchen aus dem Jahr 1905 finden wir in der RE3 vom Moderator Friedrich Heinrich Brandes. Er beschreibt die Reformierten in Deutschland als eine marginalisierte, in der kirchlichen Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Gruppe, die aber keineswegs gegen die Union oder die Lutheraner gerichtet sei. Was aber die spezifische »Pflege reformierten Bewußtseins« war, bleibt in diesem Artikel17 merkwürdig undefiniert. Offensichtlich waren die theologischen Differenzen innerhalb der Reformierten doch so groß, dass Brandes es vorzog, über die gedeihliche Entwicklung des Bundes zu berichten, statt Signaturen des reformierten Protestantismus zu benennen. In der Tat scheinen die Hauptversammlungen stets sehr gut besucht gewesen zu sein. Unter dem Dach des Reformierten Bundes fanden die heterogenen Gruppen und Traditionen der Reformierten zusammen, auch ohne einen inhaltlichen Konsens schaffen zu müssen: »der Reformierte Bund [hatte] in seiner Frühzeit … den Charakter einer Sammlungsbewegung«.18 Mit der Selbstdefinition »reformiert« gehörte man zu einer in der Selbstwahrnehmung als stigmatisiert verstandenen Konfession, die schon aus apologetischen Gründen und aus einem Selbst15

Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Zahn, Adolph Johannes Cleophas, in: RGG4 VIII (2005), S. 1778f. Zahns Erinnerungen sind erschienen u.d.T.: Aus dem Leben eines reformierten Pastors, Barmen 21885. 16 CO 59, S. 517–586. Auch als Einzelpublikation: Alfred Erichson, Bibliographia Calviniana, Berlin 1900 (ND Nieuwkoop/NL 1960). 17 Friedrich Heinrich Brandes, Art. Reformierter Bund, in: RE3 XVI (1905), S. 521f. 18 J.F.G. Goeters, Vorgeschichte, a.a.O., S. 25.

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen«

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erhaltungstrieb ihre Einheit beweisen musste. Noch auf der Hauptversammlung 1907 in Odenkirchen (Niederrhein, heute Stadtteil von Mönchengladbach) beschrieb Calaminus die zurückliegenden Jahre mit den Worten »in den Zeiten der Gründung [1884] Spott und bis heute Argwohn«.19 3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen« Die Vorbereitung des Calvin-Jubiläums in Deutschland ab 1906 Zweifelsohne war der von »nüchterne[r] pietistische[r] Frömmigkeit geprägte« Ernst Friedrich Karl Müller20 in Erlangen der seinerzeit führende theologische Kopf der deutschen Reformierten, er hat »den akademischen Part des deutschen Reformiertentums wahrgenommen und ihm gute Reputation verschafft.«21 Genauso unangefochten war der Moderator Friedrich Heinrich Brandes kirchenpolitisch bestimmend. Aber mehr und mehr trat der Elberfelder Superintendent Heinrich Calaminus, auch er ein Mann der ersten Stunde des Reformierten Bundes, an Brandes’ Stelle; er übernahm dann auch ab 1911 das Moderatorenamt. Von größerer Bedeutung war, dass sich ein anderer sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch im Reformierten Bund profilierte: August Lang. Seine Autobiographie »Herr, weise mir Deinen Weg! Erinnerungen eines 75jährigen«22 ist eine herausragende Quelle für die Geschichte der deutschen Reformierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, da sie nicht nur seinen eigenen Werdegang beschreibt, sondern auch die erste umfassende Darstellung der Geschichte der refor19 20

RKZ 30 (1907), S. 410. Vgl. Matthias Freudenberg, Art. Müller, Ernst Friedrich Karl, in: BBKL XIV. Ergänzungen I (1998), S. 1285–1298, hier: S. 1287; Karl E. Haas, Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Bayern. Ihr Wesen und ihre Geschichte. 2. erweitertes Tausend, Neustadt/Aisch 1982, S. 69: E.F.K. Müller sei »von unschätzbarer Bedeutung für die theologische Besinnung der Reformierten um die Jahrhundertwende auf ihren Lehrmeister Calvin und die reformierten Bekenntnisschriften [gewesen]. Erlangen war damals neben Halle (August Lang) Quellort reformierter Theologie bis zur Zeit Karl Barths.« Vgl. a.a.O., S. 246f. Vgl. ders., Reformierte Theologie in Erlangen, neu herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Matthias Freudenberg, Nürnberg 2000, S. 73–88.122–124; Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Band 2: 1918–1945, Göttingen 2004, S. 99–102. 21 J.F.G. Goeters, Vorgeschichte, a.a.O., S. 27f. 22 Das Manuskript in zahlreichen Kladden wurde transkribiert durch Langs Enkel Jürgen Reuter (früher Halle, jetzt Naumburg). Unterdes liegt diese Autobiographie gedruckt vor: August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010. Ein Teilabdruck erschien bereits 1957: ders., Der Reformierte Bund vor und nach 1900, in: RKZ 98 (1957), S. 5–8.38–41.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

mierten Kirche und Theologie von etwa 1880 bis 1933 darstellt. August Lang (1867–1945)23 war Domprediger und Privatdozent in Halle.24 In zweiter Ehe war er verheiratet mit einer Tochter Calaminus’, so dass auch engste Familienbande mithalfen, das Calvin-Gedenken auf den Weg zu bringen.25 Nach Langs Erinnerungen begannen in Deutschland die Vorbereitungen auf das Jubiläumsjahr mit einer Moderamenssitzung des Reformierten Bundes am 29. August 1906 in Freudenberg,26 bei der bereits für die Hauptversammlung als Veranstaltungsort Barmen, die Veranlassung gemeindlicher Calvinfeiern, die Notwendigkeit einer populären Calvinbiographie und ein noch einzurichtender Calvinfonds »für reformiertes Privatdozentenstipendium« zur Sprache kamen. Seit spätestens 1905 bereitete man sich in Genf auf das Jubiläum vor. Ebenfalls schon 1905 hatte der Stuttgarter Pastor E. Villaret anlässlich der Hauptversammlung in Herford vorgeschlagen, das Jubiläum auch in Deutschland zu begehen und eine Calvin-Stiftung zu gründen. »[D]ieser Vorschlag fand auch den Beifall des Moderamens, nur war man der Meinung, daß er bis zur nächsten, der 12. Hauptversammlung, die im Jahre 1907 stattzufinden habe, zurück zu stellen sei.«27 Villaret schrieb dann für die RKZ im Februar 1906 einen längeren Artikel.28 Aber erst danach, auf 23 Vgl. Klaus-Gunther Wesseling, Art. Lang, August, in: BBKL IV (1992), S. 1077f.; Thomas K. Kuhn, Art. August Lang, in: RGG4 V (2002), S. 68. Vgl. auch Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen V, Leipzig 2007, S. 259. 24 Über Langs Wirken als Moderator des Reformierten Bundes von 1919 bis 1934 vgl. Jürgen Reuter, August Lang. Moderator des Reformierten Bundes 1919 bis 1934, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 267–275; Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70 (wiederabgedruckt in diesem Band). 25 Der Schwiegervater rezensierte sogar das Buch des Schwiegersohnes über Calvin, in: RKZ 32 (1909), S. 189. 26 Vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 85f. 27 RKZ 28 (1905), S. 298. 28 E. Villaret, Calvindenkmal oder Calvinstiftung, in: RKZ 29 (1906), S. 41–43. Vgl. auch a.a.O., S. 382. – Lang hat offensichtlich das Vorpreschen Villarets verdrängt (auf dem Hintergrund seiner eigenen überragenden Rolle?). Villaret legte eine bemerkenswerte Beurteilung vor: Calvin »hat das Evangelium aus der nationalen Gebundenheit, in der es sowohl bei Zwingli als auch bei Luther auftrat, befreit, und zu einer universalistischen Religion ausgestaltet, die den romanischen wie den germanischen, den ungarischen wie den slawischen Völkern gleich annehmbar war.« A.a.O., S. 41. Villaret polemisiert gegen das »überflüssige[.] Denkmal« in Genf und plädiert für eine Calvinstiftung zur Unterstützung bedürftiger Reformierter in Deutschland und im Ausland. Im Jahrgang 30 (1907) der RKZ wurde ausführlich pro und contra Calvin-Denkmal argumentiert. – Ebenfalls früh, schon im September 1905, war der Hugenottenverein (dem Villaret angehörte?) auf seiner Generalversammlung in Bückeburg mit dem Jubiläum beschäftigt gewesen, wie man auch in Genf wusste, vgl. RKZ 30 (1907), S. 57.98f.

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen«

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einer Moderamenssitzung Ende August 1906 in Freudenberg – so wie von Lang erinnert – und dann mit einem Brief des Präsidenten der »Association du Monument de la Réformation« in Genf, Prof. Lucien Gautier, an den Moderator Brandes vom 2. Februar 190729 machte man sich im Reformierten Bund Gedanken, dass – da ein eigenes CalvinDenkmal nicht sinnvoll sei – in Deutschland das Jubiläum für die konfessionelle Profilierung genutzt werden müsse. So schlug man zusätzlich zur Unterstützung des Genfer Reformationsdenkmal-Projektes eine Calvin-Stiftung »zur Ausbildung von theologischen Dozenten« vor.30 Villaret und andere Reformierte fanden aber im Präses des HugenottenVereins Charles Correvon (Frankfurt), der sich für das Genfer Denkmalprojekt engagierte, einen energischen Widerpart.31 Am 19. April 1907 tagte man in Kassel und etablierte gemäß Correvons Wunsch einen Ausschuss,32 »bei dem ich« – so Lang – »die treibende Kraft war«.33 Dem Ausschuss gehörten nach dem dort beschlossenen Aufruf34 neben Brandes, E.F.K. Müller und Lang der Berliner Konsistorialrat D. Hermann Dalton, Correvon, der Elberfelder Pfarrer Wilhelm Kolfhaus und der Schatzmeister des Reformierten Bundes Walther A. Siebel (Freudenberg) an. »Dem gewaltigen Zeugen und Verteidiger des Evangeliums, dem vielgepriesenen Ausleger der heiligen Schrift, dem machtvollen Organisator der Theologie und der Kirche verdankt auch die gesamte deutsch-evangelische Christenheit so viel, dass der Gedenktag für sie ein allgemeiner Festtag zu werden verdient.« Es gelte, »das Andenken des jüngsten unter den vier Heroen der Reformation nach Kräften [zu erneuern].« Während andere evangelische Kirchen »bereits in lebhafte Vorbereitungen eingetreten« seien, und in Genf – als der »Grenzstadt an der Pforte der romanisch-katholischen Völker« – »zwar kein eigentliches Standbild Calvins, aber ein grosses Denkmal der Reformation«35 geplant sei, hielt man es für wünschenswert, einen Calvin-Fond einzurichten. 29

RKZ 30 (1907), S. 57: »Wir haben vor kurzem durch die Zeitungen [sic!] erfahren, daß der Reformierte Bund, indem er beschloß, bei Anlaß des 400. Geburtstags Calvins einen Fonds zu gründen, von der Errichtung eines Denkmals abgesehen hat. Um so mehr hoffen wir, daß der Bund und seine Anhänger unser Vorhaben willkommen heißen werden«. Vgl. auch Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 85. 30 Vgl. RKZ 30 (1907), S. 57. 31 RKZ 30 (1907), S. 98f. Correvon zeiht die Deutschen ihres »angeborenen Hang[s] zum Partikularismus«. Correvon unterhielt persönliche Beziehungen nach Genf. Ob er die Genfer gelegentlich mit Informationen aus der deutschen Diskussion versorgte? Zu Correvon vgl. Barbara Dölemeyer, in: 100 Jahre Deutscher Hugenotten-Verein, a.a.O., S. 195–199. 32 Vgl. RKZ 30 (1907), S. 142. 33 Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 85. 34 Als zeitgenössisches Flugblatt in den landeskirchlichen Archiven Leer und Detmold. Vgl. RKZ 30 (1907), S. 377f. 35 Im Original »Denkmal der Reformation« fett und zentriert gesetzt.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

Denkmal und/oder Stiftung zur Förderung von Studien – diese Frage wurde kontrovers diskutiert, auch mit den Genfern. Letztlich setzte sich Lang durch, der bereits auf der Hauptversammlung in Odenkirchen im September 1907 sagte, dass »der Calvinfonds … für uns die Hauptsache, weil ein dringendes Bedürfnis [ist].«36 Bereits zuvor am 3. August 1907 wird der Aufruf auszugsweise im Kirchlichen Gesetz- und Verordnungsblatt der reformierten Landeskirche Hannovers in einer konsistorialen Bekanntmachung wiedergegeben.37 Wie umstritten beide Unternehmen waren, zeigt, dass Lang noch im September 1908 seinem Schwiegervater Heinrich Calaminus nochmals brieflich die Hauptgründe für den Calvinfonds mitteilen musste, damit dieser gerüstet in eine Besprechung gehen konnte: Beim Calvinfonds handele es sich darum, »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins in Wissenschaft und Kirche bekannter zu machen. Wie wenig ist bisher theologisch für Calvin gethan worden! … Noch schlimmer aber steht es mit der populären Verbreitung der Kenntnis Calvins.«38 Tatsächlich betrieb August Lang dann bis zum offiziellen Aufruf in der RKZ vom 1. Dezember 1907 Diplomatie, um entscheidende Männer hinter sich zu sammeln. Davon berichtet er zwar nicht in seinen Erinnerungen, dies kann aber belegt werden mit seinem siebenseitigen Brief an den ostfriesischen Fürsten Edzard zu Innhausen und Knyphausen, der nicht nur Vorsitzender der »Gesammtsynode« der »Evangelischreformierten Kirche der Provinz Hannover« war, sondern auch dem preußischen Herrenhaus vorsaß.39 Nachdem die bereits erwähnte 12. Hauptversammlung des reformierten Bundes vom 3. bis 5. September 1907 in Odenkirchen40 getagt und die Überlegungen zum Calvin-Jubi-

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RKZ 30 (1907), S. 357. Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover, Nr. 69 vom 21. August 1907, S. 371. – Der Schreibfehler beim Namen des Moderators des Reformierten Bundes (Brandis) könnte darauf hinweisen, dass die Verbindung von Aurich nach Bückeburg bzw. Wuppertal noch nicht wirklich gut waren. 38 Brief Langs an Calaminus vom 16. September 1908 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 423 [51.3]). 39 Vgl. Walter Deeters, Art. Innhausen und Knyphausen, Edzard, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 202f. Leider wird hier Edzards kirchliche Rolle nicht gewürdigt, dabei stand er neben P.G. Bartels für die jahrzehntelange Kontinuität in der reformierten Landeskirche. Übrigens nutzte Lang den Brief abschließend, um einige Fragen seiner Berufungsaussichten bei Edzard zu erwägen; offensichtlich verfügte der ostfriesische Fürst durchaus über Einfluss in preußischen Ministerien. 40 Friedrich Heinrich Brandes, Die zwölfte Tagung des Reformierten Bundes für Deutschland in Odenkirchen, in: RKZ 30 (1907), S. 324ff. – Vgl. auch Calaminus’ in Odenkirchen gehaltenen »Bericht über die Angelegenheiten des Reformirten Bundes für die Zeit vom 30. August 1905 bis 5. September 1907«, in: RKZ 30 (1907), S. 410–412.

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen«

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läum gutgeheißen hatte,41 schrieb Lang am 18. September 1907 einen – selbstredend devoten – Brief an Fürst Edzard: Nachdem Seine Durchlaucht die große Güte gehabt habe, den bereits oben erwähnten Aufruf zu unterschreiben, sei »Anfangs des Monats, bei der Tagung des Reformierten Bundes in Odenkirchen, [der Gedanke] zum Beschluß erhoben [worden], Euer Durchlaucht noch um eine weitere wesentliche Förderung des Unternehmens anzugehen. In vollkommener Übereinstimmung mit den übrigen Herren, von denen der immer noch nicht der Öffentlichkeit vorgelegte Aufruf ausgegangen ist, möchte ich Euer Durchlaucht ebenso angelegentlich wie herzlich bitten, das EhrenPräsidium unseres Komitees anzunehmen … wir sind überzeugt, Ihr hochangesehener Name, der in den höchsten und allerhöchsten wie in den breitesten Kreisen einen gleich vortrefflichen Klang besitzt, wird das Unternehmen unvergleichlich fördern, und dem Andenken des teuren Reformators den bedeutsamsten Dienst leisten.« Mit seinem Namen an der Spitze würde Fürst Edzard »dem Komitee eine nachdrückliche Autorität verleihen, welche seine Aktionsfreiheit erhöhte und vor allem die noch nötigen Verhandlungen mit den Kirchen- und Staats-Behörden ganz wesentlich erleichterte.« Wie auch im Aufruf bezeichnet es Lang in diesem Brief als eine gesamt-evangelische Dankesschuld, den Genfer Reformator zu ehren, ja, es sei »wohl berechtigt, für 1909 eine der Lutherfeier 188342 wenigstens entfernt ähnliche Jubelfeier zu fordern.« Daher habe man den Aufruf bereits an den »deutsch-evangelischen Kirchenausschuß zur Mitteilung an sämtliche Kirchenregimenter [sic!] sowie dem Minister der geistlichen Angelegenheiten … unterbreitet.« 140 Unterstützerunterschriften seien bereits gesammelt worden, etwa die des Berliner Oberhofpredigers Ernst von Dryander, zahlreicher Ge-

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»… wie denn überhaupt die ganze Tagung in Odenkirchen schon im Zeichen der Calvinfeier stand, was auch in dem mit des Reformators Bild geschmückten Programm zutage trat.« RKZ 30 (1907), S. 324. 42 Der Vergleichspunkt ist also nicht die eher bescheidene Zwingli-Feier 1884, gelegentlich der der Reformierte Bund gegründet wurde. Auch in der Öffentlichkeit wird immer wieder vor 1909 auf das Lutherjahr 1883 hingewiesen. Vgl. auch Brief Langs an Calaminus 16. September 1908, a.a.O.: »Wie viel ist seit 1883 … für Luther geschehen! … Wir wären froh, wenn das Jubiläum Calvins nur etwas entfernt Ähnliches für Calvin zur Folge hätte.« Da bräuchte es aber eine gut funktionierende Organisation. Eine Relativierung des behaupteten gesamtkirchlichen Sinnes stellt dagegen Langs Forderung dar, dass auf keinen Fall der Berliner EOK beim Fonds mitreden dürfe. Von den Gedanken an eine »Gründung eines ref[ormierten] Konvikts in Erlangen u. dgl. muß natürlich geschwiegen werden«. – Zum Lutherjahr 1883 vgl. Hartmut Lehmann, Das Lutherjubiläum 1883, in: ders., Luthergedächtnis 1817 bis 2017 (Refo500 Academic Studies 8), Göttingen 2012, S. 59–77 (zuerst in: Jürgen Becker [Hg.], Luthers bleibende Bedeutung, Husum 1983, S. 93–116); H. Düfel, Das Lutherjubiläum 1883, in: ZKG 95 (1984), S. 1–94; Rudolf Mohr, Die Lutherfeiern des Jahres 1883, in: MEKGR 34 (1985), S. 57–111.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

neralsuperintendenten und Professoren der Theologie.43 Einerseits wird immer wieder betont, dass es sich dabei um eine allgemeine evangelische Angelegenheit handele, weshalb auch »die Beziehung zu dem Reformierten Bund … dadurch noch ein wenig abgeschwächt werden [soll], daß bei Fabrikant Siebel der Zusatz ›Schatzmeister des Reformierten Bundes‹ wegfällt« und Lang sich nicht als Mitglied des Moderamens des Reformierten Bundes outet, sondern sich nur als »Geschäftsführer« des Komitees bezeichnet. So verzichtete man aus kirchenpolitischen Erwägungen auf eine konfessionelle Profilierung in der Öffentlichkeit. Andererseits versucht Lang dem Fürsten die Übernahme dadurch schmackhaft zu machen, dass man nun einmal »Männer gut reformierter Gesinnung und Überzeugung« brauche. Nicht ungeschickt ist der Hinweis auf den Ehrenpräsidenten des Weltkomitees für das Genfer Denkmalprojekt: »höchsterfreulicherweise der Präsident der Vereinigten Staaten Roosevelt«. Wie im Aufruf erläutert, käme ein deutsches Denkmal nicht in Frage, wohl aber erstens die Unterstützung des Genfer Projektes und zweitens die Einrichtung des Calvin-Fonds etwa zur »1) Prämiierung trefflicher Studien und Arbeiten zur Erforschung wie zur Popularisierung der Gedanken Calvins, 2) Begründung eines Privatdozenten-Stipendiums zur Förderung reformierter Theologie, 3) Unterstützung reformierter Theologie-Studierender oder Kandidaten in unserm hiesigen Konvikt44 oder im reformierten Kandidaten-Konvikt in Elberfeld u.a.« Offenbar stimmte der ostfriesische Fürst der Bitte Langs zu, denn die Druckfahnen des Aufrufes wurden geändert: Edzard wurde als »EhrenVorsitzender«, Lang als »Geschäftsführer« bezeichnet.45 In der RKZ vom 1. Dezember 1907 wurde der Aufruf endlich veröffentlicht. Mit dem Aufruf wurden die Auseinandersetzungen um Denkmal und/oder Stiftung erledigt, Kritiker der projektierten Stiftung zeigten sich versöhnt, da im Aufruf die Beteiligung am Genfer Denkmal an erster Stelle stand. Auch der Präsident der Genfer Association, der bislang das deutsche Treiben eher nervös beobachtet haben mag, zeigte sich erleichtert.46 Dasselbe muss für den deutschen Hugenotten-Präses Correvon gelten. Tatsächlich ließ aber besonders Lang keinen Zweifel daran, dass trotz »Sympathie und Opferwilligkeit für den Genfer Plan … die Förderung einer Calvinstiftung [wichtiger erscheint]«.47 43

Wenige Monate später muss sich Lang entschuldigen, dass »der eine oder andere Name übersehen ist.« In: RKZ 31 (1908), S. 34. 44 Zur Geschichte des Reformierten Conviktes an der Kleinen Klausstraße vgl. die Festschrift von 1930 »Das reformierte Studien-Konvikt in Halle«. 45 Beide Druckfassungen finden sich im landeskirchlichen Archiv der ErK, Generalia 20.5.27: Die Feier des 400jährigen Geburtstages Calvins im Jahre 1909. Die Korrektur trägt einen Stempel vom 16. Oktober 1907. 46 Vgl. Brief L. Gautier an Lang vom 11. Dezember 1907, in: RKZ 31 (1908), S. 34. 47 RKZ 31 (1908), S. 203.

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen«

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Eine weitere beachtenswerte Debatte entstand durch den Mangel einer deutschen Übersetzung der Institutio Calvins. Diese Diskussion wurde von Pastor Wilhelm Rotscheidt (Lehe) mit einem Beitrag für die RKZ anfangs 1907 angestoßen.48 Er berichtet von seinen Versuchen, einen Verleger zu finden, da er »schon willens [sei], eine solche Übersetzung anzufertigen«. Anzustreben sei eine komplette Übersetzung, kein nochmaliger Auszug, wie es ihn im 19. Jahrhundert gegeben hätte. Um diese Anregung dringlich zu machen, formuliert er sie als einen Antrag an die 12. Hauptversammlung im September 1907 in Odenkirchen. E.F.K. Müller begründet kurz darauf seinen Plan, »die Institutio im Auszug neuübersetzt herauszugeben«.49 Wilhelm Gustav Goeters, Studieninspektor am Reformierten Konvikt in Halle, springt dem Erlanger Lehrer bei, indem er auf die größere Benutzerfreundlichkeit einer gekürzten Ausgabe verweist und darauf dringt, dass die Jubiläumsausgabe von demjenigen stammen müsse, der das Calvinsche Bibel-Kommentarwerk so außerordentlich zügig und solide herausgab, also E.F.K. Müller. »Hier ist die Bürgschaft für gute meisterhafte Arbeit«. Auch sei in jedem Fall der Verlag, also der Neukirchener, beizubehalten.50 Schließlich pflichtet auch Wilhelm Kolfhaus dem Müllerschen Plan einer gekürzten Ausgabe bei.51 Anlässlich der Odenkirchener Hauptversammlung gibt E.F.K. Müller einen Bericht über die Planungen zu einer gekürzten Neuübersetzung, »die von der Buchhandlung des Erziehungsvereins in Neukirchen werde herausgegeben werden. Schatzmeister Siebel beantragte, es möge der Bund eine Summe bis zu 700 Mark aus der Hauptkasse bewilligen … ein Antrag, der denn auch einstimmig angenommen wurde.«52 Müllers Institutio-Übersetzung wird für Mai 1909 angezeigt, kann aber erst nach den Jubel-Feiern in der zweiten Hälfte des November 1909 ausgeliefert werden.53 Die vielleicht nachhaltigste literarische Frucht des Calvin-Jubiläums 1909 stellt die ursprünglich zweibändige Edition von Briefen Calvins dar, die Rudolf Schwarz veranstaltete. Während des Jahres 1909 wurden zahlreiche Briefe in der RKZ abgedruckt. Schwarz’ Briefauswahl, »die

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Wilhelm Rotscheidt, Auch ein Calvin-Denkmal, in: RKZ 30 (1907), S. 84f. RKZ 30 (1907), S. 98. Wilhelm Gustav Goeters, Die deutsche Ausgabe von Calvin’s Institutio, in: RKZ 30 (1907), S. 131f. – Zu diesem heute wenig bekannten reformierten Kirchenhistoriker vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Goeters, 1. Wilhelm Gustav, in: RGG4 III (2001), S. 1062; ders., Art. Goeters, Wilhelm Gustav, in: BBKL XXIV (2005), S. 715–719. 51 Wilhelm Kolfhaus, Zur Übersetzung der Institutio, in: RKZ 30 (1907), S. 148f. 52 RKZ 30 (1907), S. 357. 53 RKZ 32 (1909), S. 375. – Vgl. die Einleitung von E.F.K. Müller, »der sich gern als dankbaren Schüler Calvins bekennt«, in der ersten Auflage 1909 und die Vorbemerkung zur zweiten Auflage 1928.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

längst ersehnte Korrektur zu Kampschultes Werk«,54 war »recht eigentlich die Festüberraschung«, mit der es möglich war, den »großen Unbekannten, der Calvin bislang doch war, ans helle Licht des Tages zu ziehen«.55 Der Berner Kirchenhistoriker Paul Wernle, der dem Schwarzschen Werk ein Geleitwort beigab, stellte fest: »[W]ir haben Calvin überhaupt bisher nicht gekannt«.56 Wenige Jahre vor dem Calvin-Jubiläum zum 400. Todesjahr wurde das Schwarzsche Werk 1961 in drei Bänden im Neukirchener Verlag neu herausgegeben. Otto Weber urteilte im Geleitwort, dass diese Briefauswahl »in jenem Gedenkjahr [1909] zum bei weitem Wertvollsten [gehörte], das überhaupt ans Licht trat.« Zurück zu den Vorbereitungen des Jubiläumsjahres 1909: Bei der Moderamenssitzung am 15./16. Juni 1908 in Frankfurt am Main – im christlichen Hospiz Baseler Hof, wo 26 Jahre später Karl Barth den Text der Barmer Theologischen Erklärung redigierte! – wurden die letzten Beschlüsse im Hinblick auf das Jubiläum gemeinsam mit dem deutschen Komitee für das Calvin-Jubiläum gefasst.57 Überall – so führte Lang gelegentlich der Sitzung aus – entstünden zwecks Unterstützung des Genfer Denkmalprojekts Komitees, außer in Holland, dort sei »wenig Neigung unter [Abraham] Kuyper«. Auch Lang war alles andere als ein begeisterter Anhänger des Denkmalbaus. »[W]ir Deutschen haben dabei das Gefühl, es müsse noch etwas anderes geschehen. Die Calvinstudien sind sehr zurückgeblieben … um dieser Aufgabe willen ist der Calvinfonds zu bilden.« Nun käme es darauf an, auch die Öffentlichkeit zu interessieren und zu mobilisieren: »Die Ministerien sind um die Anordnung der Schulfeiern zu bitten, auch die Universitäten (theol[ogische] Fakultäten) um Mitfeier anzugehen«; dabei werde eingewandt, dass man »lieber die Historiker als die Theologen in vielen Fällen hört.« »Die

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So Wilhelm Hadorn, in: RKZ 32 (1909), S. 219. – Franz Wilhelm Kampschulte hatte als katholischer Kirchenhistoriker das zweibändige Werk Johannes Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf (1869/1899) vorgelegt und damit lange das Image des Genfer Reformators mitgeprägt. »F.W. Kampschulte bietet eine ausgewogene Einschätzung Calvins«, urteilt dagegen Arnold Huijgen, Calvinrezeption im 19. Jahrhundert, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 480–490, hier: S. 483. 55 RKZ 32 (1909), S. 169. 56 Ebd. 57 Vgl. Protokollbuch des Moderamens (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 124 [22.3]; gedruckte Einladung vom 27. April 1908 und Tagesordnung, S. 109). Dort findet sich ein sehr instruktiver Brief des theologischen Nestors der Reformierten, E.F.K. Müller aus Erlangen vom 12. Juni 1908 an Brandes, in dem er sich besonders für die »rechtzeitig« zu erscheinende »Kleinlitteratur« einsetzt. Müller gibt eine Anregung weiter, »daß die Tagespresse aller Richtungen einige Wochen vor dem 10. Juli mit Stoff zu versorgen wäre … Ähnlich wären die Sonntagsblätter zu versorgen … und der Erfolg würde sein, daß unser gesamtes Volk wenigstens etwas von Calvin hörte.«

3. »Mittel zu schaffen, um Person und Sache Calvins … bekannter zu machen«

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Zeitungen sind zu versorgen«. Der Evangelische Bund wird ans Mitmachen erinnert; später veröffentlicht dieser »Flugschriften«.58 Leider verstarb Fürst Edzard am 16. Januar 1908. Brandes gewann ein halbes Jahr später für dessen Aufgabe Fürst Georg zu SchaumburgLippe; ihm gab man die Bezeichnung »Protektor«.59 Unzählige Aktivitäten belegen die generalstabsmäßige Vorbereitung des Calvin-Jahres 1909: regelmäßige Berichterstattung über das CalvinKomitee oder über die kommende Feier insgesamt in der RKZ des Jahrgangs 1908 und dann natürlich im Jahrgang 1909, Rundschreiben an Presbyterien, um Gedenkveranstaltungen in den Gemeinden anzuregen,60 Eingaben an Synoden61 und an staatliche Behörden, Schulfeiern zu veranstalten.62 Der Reformierte Bund trug nicht nur dafür Sorge, dass neben der RKZ auch zahlreiche Sonntagsblätter Serien über Calvin und den Calvinismus im Frühjahr und Sommer 1909 (s.u.) brachten, sondern durch sein Engagement wurde das Jubiläum zu einem »Multimedia«-Ereignis damaliger Zeit: Neben unzähligen Heftlein mit populären Darstellungen Calvins63 gab es eine Lichtbildreihe zum Ausleihen,64 eine Kantate,65 ein Kunstbild des Münchner Malers Karl Bauer66 (das 58

Karl Mirbt, Johannes Calvin, Halle 1909 (Flugschriften des Evangelischen Bundes 272); Carl Heinrich Cornhill, Zu Johannes Calvins Gedächtnis, Halle 1909 (Flugschriften des Evangelischen Bundes 273); August Lang, Die weltgeschichtliche Bedeutung Calvins, in: Kirchliche Korrespondenz des Evangelischen Bundes 23 (1909), Nr. 7. 59 RKZ 31 (1908), S. 245. 60 Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 423 [51.3]. Laut RKZ 31 (1908), S. 370, ging das Schreiben an 330 Presbyterien. 61 Z.B. von Pastor Winkelmann (Hohenlimburg) an die westfälische Provinzialsynode, in: RKZ 31 (1908), S. 316; von Calaminus und 25 Genossen an die rheinische Provinzialsynode, in: a.a.O., S. 333. Der Inhalt des Beschlusses (kirchliche Feier und fakultative Kollekte für den Fonds) der sächsischen Provinzialsynode in: a.a.O., S. 371. 62 Vgl. z.B. Antrag von Wilhelm Rotscheidt namens des »Predigervereins der reformierten Gemeinden im vormaligen Herzogtum Bremen« an das Moderamen vom 2. Juni 1908 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 124 [Nr. 22.3]). 63 Vgl. Wilhelm Niesel, Calvin-Bibliographie 1901–1959, München 1961 (im Folgenden: Niesel-Bibliographie), Nr. 325–432 und weitere. Ein zeitgenössisches Verzeichnis von Schriften von und über Calvin, in: RKZ 32 (1909), S. 129f. Die Calvin-Kleinliteratur, vom Reformierten Bund erwünscht und gefördert, wurde von der Gruppe um Fritz Horn in Bausch und Bogen verdammt, weil darin der Versuch gemacht werde, Calvin zu modernisieren; dagegen seien allein Calvins Schriftauslegungen empfehlenswert; vgl. Korrespondenzblatt der Freunde des Heidelberger Katechismus 7 (1909), S. 125f. 64 Vgl. Giesebert Stokmann, Auch ein Calvin-Denkmal, in: RKZ 32 (1909), S. 82. 65 RKZ 32 (1909), S. 26. Es handelt sich um eine Kantate über Psalm 100 (von Cornelius Becker) des Stettiner Schloßorganisten Ulrich Hildebrandt. Vgl. a.a.O., S. 239. 66 Das Bild kam auf Veranlassung von Pastor Rodenhauser (Norden), der dann auch im Juli Delegierter in Genf war, zustande, wie er selbst berichtet: Eine hochwillkommene Gabe zum Calvin-Jubiläum, in: RKZ 32 (1909), S. 202, vgl. auch Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), S. 212–214. – Der Maler Karl Bauer darf nicht mit dem reformierten Kirchenhistoriker gleichen Namens verwechselt werden, vgl. den

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der liberale Theologe Martin Rade besonders hervorhob67), Postkartensammlungen,68 Gedichtsammlungen,69 später im Jahr 1910 eine CalvinMünze, die das Consistorium der französischen Kirche in Berlin hat prägen lassen und die ein Bildnis auch von Wilhelm II, »der seinen Schild über die durch eine weibliche Figur mit Kind dargestellte französische Colonie hält«,70 zeigt. All das sollte bewirken, dass die »große[.] Schar derer« kleiner würde, »die auf Befragen nichts anderes über Calvin zu berichten wissen als daß er den lästernden ›Servet verbrannt‹ und die ›grausame Lehre von der Prädestination‹ aufgestellt habe«.71 Lang urteilte im Rückblick: »Wie viel Mühe, Briefe, Reisen und Verhandlungen hatte es gekostet, solch einen Aufruf [zum CalvinJubiläum 1909] zustande zu bringen! Wie viel Mühe weiter, ihn zu verbreiten, ihn an etwa 400 Zeitungen und Zeitschriften, an die Kirchenregierungen, Konsistorien und theologischen Fakultäten Deutschlands zu versenden!«72 August Lang wurde aber für all diese Mühen reichlich entlohnt. 4. »Calvin war … bisher … ein übel berüchtigter … Mann« Das Jubiläum 1909 in Deutschland August Lang, dem das Calvin-Gedenken zu einem Lebensanliegen geworden war, erzählt im Zusammenhang seiner quellenkritischen Arbeit zum Heidelberger Katechismus73 eine bezeichnende Anekdote über die Aufsatz zu Bauer in diesem Band. – Vgl. auch Emile Doumergue, Iconographie Calvinienne, Lausanne 1909 (276 S.). In Genf wurde eine kleine bebilderte Festschrift vertrieben: Jubilé de 1909 Jean Calvin 1509–1564. Douze Estampes de H. van Muyden, Texte de H. Denkinger, édité par la Compagnie des Pasteurs de l’Église de Genève, Genf 1909. 67 ChW 23 (1909), Nr. 28 vom 8. Juli 1909, S. 671. 68 Erschienen im Verlag des reformierten Schriftenvereins, G. Dieterich, Elberfeld. 69 Wilhelm Rothscheidt, Johann Calvin im Spiegel der Dichtung. Lehe 1909 (NieselBibliographie Nr. 303), vgl. RKZ 32 (1909), S. 137. 70 Zeitgenössisches Werbe-Faltblatt (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 124 [22.3]). Vgl. Die Calvin-Medaille der französischen Colonie in Berlin 1910, in: Alt-Berlin 27 (1910), S. 98. – Angeregt wurde dieses Projekt erst am 10. Mai 1909 im Consistorium, vgl. Protokollbuch der Generalversammlung des Consistoriums der Französischen Kirche zu Berlin (Archiv Rep 04 II 27), S. 212. – Der Berliner Hugenottenkirche bin ich für die die Calvinfeier betreffende Recherche in ihrem Archiv und die Überlassung von Kopien sehr dankbar. 71 Wilhelm Rothscheidt, Calvins Plan einer Ferienreise, in: RKZ 32 (1909), S. 82f., hier: S. 82. 72 Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 86. In RKZ 31 (1908), S. 34 beschreibt Lang genauer: Der Aufruf »ist … von mir an die Redaktionen von 390 Zeitungen und Zeitschriften … versandt worden.« 73 August Lang, Der Heidelberger Katechismus und vier verwandte Katechismen, Leipzig 1907 (ND Darmstadt 1967).

4. »Calvin war … bisher … ein übel berüchtigter … Mann«

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seinerzeitige Bedeutung des reformierten Bekenntnisses in Deutschland: Gleich nach Abschluss der Arbeiten weilte er zufällig in Heidelberg in der neuen Universitätsbibliothek, suchte im Katalog nach KatechismusAusgaben – und fand keine. »Welch eine Aufgabe lag immer noch vor mir und meinen Freunden, das reformierte Wesen und das reformierte Bekenntnis in unserm Vaterlande wieder mehr zur Anerkennung zu bringen! Diesem Ziele führte uns das Jahr 1909 wesentlich näher.«74 Eingeläutet wurde dieses Jubiläumsjahr vom Schriftleiter Theodor Lang in der RKZ: »Das Jahr 1909 steht für die ganze evangelische Christenheit und für unsere reformirte Kirche vorab unter dem Zeichen des Calvinjubiläums.«75 Mit der ersten Nummer des neuen Jahrganges begann die RKZ mit einer umfangreichen Berichterstattung und zahlreichen Artikeln über Calvin, sein Umfeld und seine Wirkung. August Langs eigener Beitrag ist nicht zuletzt in der Auftragsarbeit des Vereins für Reformationsgeschichte zu sehen, eine gut lesbare Calvinbiographie vorzulegen, in der er »die religiöse Eigentümlichkeit« und »Calvin als religiöse[n] Charakter« nachzeichnen will.76 Für internationale Verstimmung sorgte allerdings immer wieder Langs Vorliebe für den Fonds statt des Denkmals – später sollten mehr als 30.000 Mark Spendenmittel zusammenkommen, davon weniger als ein Sechstel für das Genfer Denkmal, obwohl im ersten Aufruf des Vorbereitungskomitees noch an erster Stelle das Denkmal und erst an zweiter der Fonds genannt worden war. Der Hugenottenvorsitzende Charles Correvon teilte nach einer Genf-Reise im Frühjahr 1909 dem Moderamen mit, »daß die allgemeine Gleichgültigkeit des reformierten Deutschlands dem Genfer Unternehmen gegenüber in Genf und Frankreich stark verstimmt hat.« Man sei der Meinung, dass »die Deutschen in ihrem Partikularismus einen Seitenweg eingeschlagen hätten!«77 – wie Correvon selbst bereits 1907 moniert hatte. Als August Lang die Calvin-Arbeit in den Druck gebracht hatte, begann für ihn die vielleicht bewegendste Zeit seines Lebens. Mehrere Monate war er auf Reisen, hielt in Deutschland und in benachbarten europäischen Ländern Vorträge und besuchte Konferenzen. Die Nächte 74 75 76

Vgl. Lang, Lebenserinnerungen, S. 91f. RKZ 32 (1909), S. 1. August Lang, Johannes Calvin. Ein Lebensbild zu seinem 400. Geburtstag (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 99), Leipzig 1909, S. 1. – Lang verfasste später noch andere Schriften anlässlich von Jubiläen: zum Heidelberger Katechismus 1913 und zur Reformation 1917. 77 Brief Correvon an die Mitglieder des Moderamens, Frankfurt, 18. April 1909 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Ref. Bund, Nr. 101 [21.16]). Vgl. auch Correvons Leserbrief in: RKZ 32 (1909), S. 162f. Auf der Moderamenssitzung am 16. Juni 1908 wurde ausdrücklich von »eine[m] kleinen Beitrag zum Reformationsdenkmal aus Deutschland« geredet, vgl. Protokollbuch des Moderamens, Nr. 124 [22.3]. Vgl. auch den RKZ-Bericht über die Frankfurter Moderamenstagung, in: RKZ 31 (1908), S. 203f.

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verbrachte er nicht selten im Zug. Der erste Höhepunkt war die 13. Hauptversammlung des Reformierten Bundes, die kurz nach Ostern 1909, von Dienstag, den 20., bis Donnerstag, den 22. April, in Barmen stattfand. Sie war »ganz dem Gedächtnis des Reformators gewidmet«.78 In einem Einladungsschreiben des Presbyteriums Barmen-Gemarke als der gastgebenden Gemeinde wird für diese Hauptversammlung die Gnade Gottes herbeigewünscht, »der zu seiner Zeit neben Martin Luther einen Joh[annes] Calvin als auserwähltes Rüstzeug seiner Kirche geschenkt hat«.79 Dabei ging ein anderes Jubiläum fast ganz verloren: 25 Jahre Reformierter Bund. Unmittelbar vor der Hauptversammlung tagte der »Calvinfonds«, wie der Vorbereitungsausschuss mittlerweile auch schon genannt wurde,80 gemeinsam mit dem Moderamen. Die Hauptversammlung wurde nach dem Eröffnungsgottesdienst81 durch den Moderator Brandes eröffnet, der an die Jubiläen 1863 für den Heidelberger Katechismus, 1883 für Luther und 1884 für Zwingli (einschließlich der Bundesgründung) erinnerte. Der Pastor der gastgebenden Gemeinde, Emil Schneider, freute sich, dass mit der Bundesversammlung für die Gemeinde die Chance bestehe, »Calvin kennen zu lernen«.82 In Barmen wurden fünf Vorträge über Calvin gehalten – einer davon sogar von einem lutherischen Superintendenten, nämlich der über »Calvin und Luther«.83 Unter den zahlreichen Grußworten84 befinden sich das des 78

Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 92. Zur Hauptversammlung vgl. auch das Protokollbuch des Moderamens mit vollständigem Protokoll (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 126 [22.5]; Akte über die Hauptversammlung Barmen 1909 mit Einladungen, Programm, Zeitungsartikeln, Berichten und Bitten bedürftiger Gemeinden, a.a.O., Nr. 101 [21.16]); RKZ 32 (1909), S. 121f.; S. 145–149. – Auch das im Juni in New York stattfindende Konzil des Reformierten Weltbundes beschäftigte sich mit dem Calvin-Jubiläum (vgl. RKZ 32 [1909], S. 276f.286f.; Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975, S. 85–88), ebenso wurde das Jubiläum in vielen anderen Ländern begangen, worauf hier nur hingewiesen werden kann (z.B. Böhmen, Schottland, Ungarn, vgl. RKZ 32 [1909], S. 206). 79 Zeitgenössischer Druck; auch in: RKZ 32 (1909), S. 122. 80 Vgl. das Protokoll der vorbereitenden Moderamenssitzung am 20. April 1909 (Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 126 [22.5], S. 13). 81 Die Predigt über Eph. 2, 19-22 hielt Generalsuperintendent Weßel aus Detmold, abgedruckt in: RKZ 32 (1909), S. 153–156. 82 Vgl. Protokoll, 20. April 1909, a.a.O., S. 14. 83 Alle Vorträge sind mitgeschrieben im Protokollbuch (wie Anm. 80), a.a.O., S. 15ff. und zusammengefasst in RKZ 32 (1909), S. 147f. – Adolf Werth (Barmen), Der Einfluß Calvins auf das Wuppertal und das Bergische Land, in: RKZ 32 (1909), S. 250f.258f. 266f; separat: Barmen 1909; Wilhelm Hadorn (Bern), Calvins Bedeutung für die Geschichte und das Leben der protestantischen Kirche, in: RKZ 32 (1909), S. 218–222. 226–229; separat: Neukirchen 1909; Pastor Simsa (Barmen), Calvins Persönlichkeit, nicht gedruckt; von Klingender (Kassel), Calvin und Luther, in: RKZ 32 (1909), S. 306–308; August Lang, Calvin und der Pietismus. 84 Protokollbuch, a.a.O., S. 19ff. und RKZ 32 (1909), S. 146.

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Göttinger Pastors Johann Adam Heilmann für die Conföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen, das des Auricher Generalsuperintendenten Hermann Müller (wegen Verhinderung nur schriftlich) und seines Landesherrn Dodo zu Innhausen und Knyphausen, das von hugenottischen Gemeinden und von vielen andere reformierten Gruppen, ebenso aus dem Ausland, wie etwa dem bekannten reformierten Kirchenhistoriker James Good aus Philadelphia, und von Fakultäten mit reformierter Färbung wie Halle und Bonn. So entsteht das Bild des Reformierten Bundes als Plattform, Schaltstelle und Interessengemeinschaft, oder wie es das Moderamensmitglied Pastor Sauerländer (Schöttmar) bezeichnete: der Bund »gleicht dem Vater« mit »zerstreuten Kinder[n]«.85 In diesen Grußworten und spontanen Redebeiträgen wird Calvin neben seiner Bibeltreue und seiner Demut vor dem großen Gott vor allem als Mann der Kirchenorganisation gerühmt. Mit der Einführung der Presbyterien habe er die Kirche vor dem Klerikalismus bewahrt. Deshalb legten reformierte Gemeinden als bleibende Verpflichtung so viel Wert auf das Ältestenamt, das sich besonders in den Zeiten der Verfolgung bewährt habe. Daher wird die Empfehlung laut: »Laien müssen Kirchengeschichte lesen, das macht uns die reformierte Kirche lieb. Man lernt die Knechte Gottes kennen [und] hofft sie droben zu treffen.«86 Es geschehen aber noch ungewöhnlichere, spontane Dinge: »Prof. Rotscheid [es muß heißen: Rothstein]-Halle hat das Bedürfnis, Zeugnis zu geben für das, was wir an Calvin und an der reform[ierten] Kirche haben. Als Alttestamentler, auf dem Boden der modernen Kritik, gibt er die Frucht reformierter Erziehung und Studiums. Heute würde Calvin kraft seiner persönlichen Lauterkeit Stellung nehmen zur wissenschaftlichen Arbeit auf dem exegetischen Gebiet. Wir glauben nicht an alle bösen Geister, sondern an die sieghafte Wahrheit. Die Lebenskraft aus der Kindheit: alles in, für und zu Gott, des reformierten Glaubens hat ihn gestärkt u[nd] getröstet in den Kämpfen.«87 Was wunder, dass der Tagungsleiter den Nachmittag mit den Worten schließt: »Calvin würde heute die Theologie bekämpfen, die die Grundlagen des Glaubens zerstört.«88 Reformierte Normal-Theologie war seinerzeit weder modern noch vorwärtsweisend, sondern weitgehend anti-liberal und wohl vor allem im positiven Lager anzutreffen. Natürlich kamen die Reformierten ihren staatsbürgerlichen »Pflichten« nach: »Das Hoch auf den Kaiser brachte in bewunderungswürdiger

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Vgl. RKZ 32 (1909), S. 145. Protokollbuch, a.a.O., S. 20. A.a.O., S. 22, vgl. RKZ 32 (1909), S. 147. Protokollbuch, a.a.O., S. 23.

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Frische der greise Moderator [sc. Friedrich Heinrich Brandes] aus.«89 Am Schlusstag wird der Versammlung das Danktelegramm Wilhelms II. vorgelesen: »Seine Majestät der Kaiser und König haben den freundlichen Huldigungsgruß des Reformierten Bunds für Deutschland anläßlich der Calvinfeier in Barmen gern entgegengenommen und lassen bestens danken.«90 Das Echo auf diese sehr gut besuchte Hauptversammlung war wohl einzigartig, minutiös berichtete im Vorfeld und danach die RKZ, aus ihr bedienten sich dann zahlreiche kirchliche Zeitungen, andere hatten eigene Berichterstatter.91 »Die ganze Tagung war ein würdiger Vorklang zum Calvingedenktag«92 im dann folgenden Juli, urteilten die einen; die anderen merkten an, der reformierte Kirchenvater sei »so ausgiebig behandelt [worden], daß man gelegentlich aussprechen hörte, es sei des Guten fast zuviel gewesen.«93 Auf gänzliche Ablehnung stieß die Hauptversammlung (und andere Calvin-Aktivitäten) im Kreis um Fritz Horn (damals: Duisburg-Laar): Die in Barmen gehaltenen Bibelarbeiten hätten den Bibeltext nicht be-, sondern misshandelt; Johannes Calvin sei im Lichte des Pietismus gedeutet worden; tatsächlich hatte August Lang versucht, Calvin(ismus) und Pietismus einander näher zu bringen. Horn spottet: »Der Pietismus will den Kampf Calvins in unseren Tagen aufnehmen, aber wie schwächlich, wie weichlich ist seine Art!« Reformierte, die solches forderten (wie also der positiv-pietistische August Lang), seien – so Horn – »ein Hohn des Fürsten dieser Welt geworden«.94 Solch krasse Ablehnungen blieben freilich im Sommer 1909 die Ausnahme.95 89 90

RKZ 32 (1909), S. 147. Landeskirchliches Archiv Detmold, Dep. Archiv Reformierter Bund, Nr. 101 [21.16]. – Im Protokollbuch wird allerdings die Verlesung nicht berichtet, wohl aber in der RKZ 32 (1909), S. 147. 91 U.a. Kirchliche Rundschau für die evangelischen Gemeinden Rheinlands und Westfalens 24 (1909), S. 168–171 (P. Lic. Dick / Barmen); Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 658 vom 30. Mai 1909, S. 4: die Altreformierten fühlten sich v.a. von Langs Ausführungen über Calvin und Pietismus/Erweckungsbewegung bestärkt. 92 So urteilt Lic. Dick, a.a.O., S. 171. 93 Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), Nr. 18 vom 30. April 1909, S. 139–141. 94 Korrespondenzblatt der Freunde des Heidelberger Katechismus 7 (1909), S. 74f. – Im Bericht, den Calaminus 1907 vor der Hauptversammlung gab, zählt er 11 Zeitschriften auf, aus denen »[u]nsere Presse besteht«. Das Hornsche Blatt ist nicht darunter, vgl. RKZ 30 (1907), S. 412. Calaminus’ Bericht aus dem Jahr 1909 listet 13 Zeitschriften auf, vgl. RKZ 32 (1909), S. 186f. Bei der Gründung des Bundes 1884 erschienen nur zwei reformiert orientierte Periodika. 95 Ähnlich tönt es aus der anonymen Polemik eines »kleine[n] Kreis[es] von Calvinisten in Deutschland, der in einem niederrheinischen, gut reformierten Dorfe … zusammengekommen« war, und der deshalb wohl aus dem Umfeld Horns stammt: Empfindungen eines kleinen Kreises von Calvinisten in Deutschland am Ende des 19. Jahrhun-

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Die 8. Generalversammlung des Deutschen Hugenotten-Vereins 1909 in Friedrichsdorf mit einem Calvin-Vortrag des Vorsitzenden Correvon war wie manch andere Hugenottenveranstaltungen schlecht besucht; gerade einmal »17 Freunde unserer Sache« verzeichnet das Protokoll.96 Der DHV war mithin die kleinste der reformierten Gruppen. Hinzu kommt, dass es unterschiedliche Positionen gab: Offenbar hatte Correvon die große Berliner Hugenotten-Gemeinde gebeten, sich seiner Präferenz für das Denkmal anzuschließen. Daraufhin beschließt das »Consistorium«, Correvon mitzuteilen, »daß wir im Rahmen des Beschlusses des ref[ormierten] Bundes uns halten werden.«97 Die Altreformierten in der Grafschaft Bentheim und Ostfriesland,98 die sich zur Gereformeerde Kerk in den Niederlanden hielten und sich als Anhänger Abraham Kuypers als die eigentlichen Reformierten wähnten, reagierten erst im Mai 1909 auf die bevorstehenden Feierlichkeiten, von Anfang an mit Unbehagen im Hinblick auf die offiziellen und staatskirchlichen Feiern. »Wenn nur alle, die sich zur Feier anschicken, auch die von Calvin nach Gottes Wort verkündigte Wahrheit noch im Herzen trügen!« Diese Wahrheit sei »die Gottverherrlichende Lehre von der freien, souveränen Gnade«. Da im Festchor »die Stimme derer, die Calvin eben um seines Glaubens willen lieben« nicht fehlen dürfe, »wäre [es] schön, wenn etwas ähnliches auch unter uns zustande käme!«99 Immerhin veranstaltete man eine zentrale Calvin-Gedächtnisfeier am 10. Juni in Emlichheim (Grafschaft Bentheim). Redner war Prof. Herman Bavinck von der Vrije Universitet Amsterdam, seinerzeit neben Kuyper führender Theologe der Gereformeerden.100 Bavinck betonte, dass Calderts, Stuttgart 1900. Oder hatte wg. des Erscheinungsortes Adolph Zahn seine Finger mit ihm Spiel? Die Kenntnis dieser Schrift verdanke ich Dr. Gerrit Jan Beuker. 96 Walter Mogk, Entwicklung des Vereins unter Tollin und Correvon von 1890 bis 1918, in: 100 Jahre Deutscher Hugenotten-Verein, a.a.O., S. 42–84, hier: S. 58; vgl. auch a.a.O., S. 310. 97 Protokollbuch der Generalversammlung des Consistoriums der Französischen Kirche zu Berlin (Archiv Rep 04 II 27), S. 180 (23. November 1908). Auch im Folgenden hielt sich das Consistorium daran, v.a. den Fonds für die Calvin-Studien zu unterstützen. Nach freundlicher Auskunft von Erich Wenneker enthält die Zeitschrift »Französische Kolonie« lediglich das Material, »was auch in den entsprechenden RKZ-Jahrgängen zu finden ist.« 98 Vgl. Gerrit Jan Beuker, Umkehr und Erneuerung. Aus der Geschichte der Evangelisch-altreformierten Kirche in Niedersachsen 1838–1988, Bad Bentheim 1988. 99 Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 656 vom 2. Mai 1909, S. 4. 100 Einladungen zu dieser Veranstaltung in: Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 657.658. – Bavincks Rede wurde vorher in Kampen gehalten und ist im Nachhinein auf Niederländisch erschienen: Johann Calvijn. Ene lezing. Kampen/NL 1909. Vgl. auch die Kurzrezension in: Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 671 vom 11. September 1909, S. 4. – »Unser Bavinck« – wie es bei den Altreformierten hieß – trug auch in London vor, vgl. Graaf-

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vin die reformatorischen Anfänge »voor alle terreinen des levens had vruchtbaar gemaakt« und »de vrije genade Gods in Christus« und »de eeuwige verkiezing« als »de eerste bron der genade« bekannt habe; Calvin selber habe »ruste [ge]vond[en] in den souvereinen will van God« als dem Grund der Erwählung, »gerust in de belijdenis van het eeuwige, ondoorgrondelijke welbehagen Gods. ›En ik verzeker u‹, zeide Prof. Bavinck, ›dat hoeveel er over dit levensprobleem ook worde nagedacht, wij verder niet zullen komen.‹« Am Ende führt Bavinck aus, dass Calvin ein Kuyper-Typos gewesen sei: Calvijn »heeft … het zelfbewustzijn van den christen verhoogd. Ook van den geringen man, die soms door de vraag wordt gekweld: waarom ben ik, wat beteeken ik toch eigenlijk in de wereld, heeft Calvijn toegeroepen: Uw leven heeft beteekenis, want gij zijt door God verkoren en door Christus verlost. Uit kracht van dit besef hebben de Gereformeerden pal gestaan voor de vrijheid in kerk en staat, en zich niet onder een knechtelijk juk laten brengen.«101 Eine wunderbare Charakterisierung – nicht Calvins allein, sondern auch Kuypers!102 Eher selten – und im Rückblick eher erheiternd – ist die Polemik seitens lutherischer Fundamentalisten, die Calvin als unoriginell, unbedeutend, ja als ein Unglück beschreiben.103 Auch die lutherische Landeskirche Hannovers erwähnt Calvin mit keinem Wort,104 vielmehr kommt es auch in ihrem Bereich und anderen norddeutschen Ländern zu publizistischen Entgleisungen.105 In Deutschland begingen zahlreiche theologische Fakultäten CalvinGedenktage,106 Landeskirchen veranstalteten Sammlungen und ordneschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 673 vom 25. September 1909, S. 3; Niesel-Bibliographie Nr. 1001. 101 Egbert Kolthoff, De Calvijn- en zendingsdag te Emlichheim, in: Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 661 vom 4. Juli 1909, S. 3f. 102 Kuypers bekannte stone-lectures Calvinism / Het Calvinisme (in deutscher Übersetzung mit dem irreführenden Titel »Reformation wider Revolution«) wurden im CalvinJahr 1909 zu einem Sonderpreis angeboten, vgl. Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 666 vom 7. August 1909, S. 3f. Wenige Wochen nach der Emlichheimer Versammlung begeht auch die altreformierte Klassis Ostfriesland am 8. Juli 1909 in Emden eine Calvin-Gedächtnisfeier, vgl. a.a.O., S. 1f. 103 Vgl. RKZ 32 (1909), S. 253. 104 A.a.O., S. 286. 105 A.a.O., S. 300f. (die Polemik wird wieder relativiert, a.a.O., S. 336), S. 317. 106 Die Gedenkvorträge sind natürlich zumeist publiziert worden. Am bedeutsamsten ist vielleicht der Vortrag von Karl Holl in Berlin gewesen: Johannes Calvin. Rede. Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Ausgabe, Tübingen 1909; auch abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band III: Der Westen, Tübingen 1928, S. 254–284, und in: Calvinreden aus dem Jubiläumsjahr, Tübingen 1909, S. 1– 63 (vgl. Bericht in RKZ 32 [1909], S. 244f.). Gedenkfeiern anderer Fakultäten mit ihren Rednern (die Nr. beziehen sich auf die Niesel-Bibliographie): Basel (Paul Wernle; Nr. 424; Calvinreden [Nr. 346], S. 171–209), Bern (Fritz Barth; Nr. 331), Bonn (Friedrich Sieffert; Nr. 410), Breslau (Carl Franklin Arnold; Nr. 329), Gießen (Samuel Eck;

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ten Gedenkgottesdienste an,107 einzelne Gemeinden organisierten Feiern,108 kirchliche109 und politische Zeitschriften und Zeitungen würdigNr. 356; Calvinreden [Nr. 346], S. 211–248), Göttingen (August Lang; vgl. Lang, Erinnerungen, S. 92), Halle (Friedrich Loofs; Nr. 382; Lang, Erinnerungen, S. 96), Heidelberg (Hans von Schubert; Nr. 405; Calvinreden [Nr. 346, S. 107–144]), Königsberg (August Dorner; Nr. 355), Straßburg (Paul Lobstein; Nr. 859), Gerhard Reichel, Calvin als Unionsmann. Vortrag, gehalten am Theologischen Seminar der Brüdergemeinde zu Gnadenfeld (10. Juli 1909), Tübingen 1909. – Vgl. Heinrich Hoffmann, Johannes Calvin (Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 65), Frauenfeld/Leipzig 1929, S. 105f: »[D]ie Vertiefung der kirchenhistorischen Forschung hat zu einer immer stärkeren Würdigung Calvins auch in Deutschland geführt. Das Calvinjubiläum von 1909 wurde von fast allen deutschen theologischen Fakultäten gefeiert, auch von einer Fakultät wie Gießen, die einst als lutherische Konkurrenzfakultät gegen das reformierte Marburg gegründet worden war … Holl empfand tief die Werte, die im herben Ernst seines Gottesbegriffes, in seiner ganzen auf Gott und nicht auf das eigene Wohl gerichteten Religionsauffassung und in der aktiven Kraft seines Kirchengedankens liegen.« 107 Vgl. z.B. Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover, Nr. 86 vom 24. Mai 1909, S. 437: »… ordnen wir nunmehr angesichts des nahenden Gedenktages an, daß in allen reformierten Kirchen unseres Bezirks in den Gottesdiensten am 11. Juli d. Js. des Reformators, der unter den Vätern der reformierten Kirche die erste Stelle einnimmt, eingehend gedacht werde. Es gilt, den Gemeinden diesen Großen im Reiche Gottes, sein Lebenswerk und seine Bedeutung für die Kirche anschaulich und herzanfassend vorzuführen … Wir überlassen den Geistlichen, ob sie außerdem durch geeignete besondere Vorträge mit ausführlicheren Mitteilungen aus Calvins Leben und Wirken die Feier in ihren Gemeinden vorbereiten wollen, hegen aber auf alle Fälle zu ihnen das Vertrauen, daß sie Fleiß und Eifer anwenden werden, den zu erhoffenden Segen aus einer würdigen Feier ihren Gemeinden zu vermitteln.« Leider sind diese Predigten und Vorträge »einfacher« Pastoren nicht erhalten; sie auszuwerten, wäre sicherlich lohnend. – Weitere landeskirchlich angeordnete Gedenkgottesdienste sind zu entnehmen aus den Grußadressen, die deutsche Landeskirchen zur Calvin-Feier nach Genf sandten, abgedruckt in: Jubilé de Calvin à Genève, Juillet 1909. Allocutions, Adresses, Lettres et Documents, publié par la Compagnie des Pasteurs de Genève, Genf 1909: Bremen (a.a.O., S. 216f.); Hessen (a.a.O., S. 218); Pfalz (a.a.O., S. 143–145); Sachsen (a.a.O., S. 219); Württemberg (a.a.O., S. 219f.). Erlass des Berliner EOK für die ApU, in: RKZ 32 (1909), S. 34; Reformiertes Sonntags-Blatt [Lippe] 19 (1909), S. 58; Erlass für Lippe, in: RKZ 32 (1909), S. 127. 108 Dazu gab es einen Vorschlag zur »Liturgie«: Die Calvin-Jubelfeier, in: RKZ 32 (1909), S. 137f. Gemeindefeiern fanden vielerorts statt. Bemerkenswert ist die von Josef Bohatec organisierte und dann auch publizierte Vorlesungsreihe in Elberfeld: Calvinstudien. Festschrift zum 400. Geburtstage Johann Calvins. Unter Redaction von Lic. Dr. Bohatec herausgegeben von der Reformierten Gemeinde Elberfeld, Leipzig 1909. Im Vorwort heißt es: »Zur Herausgabe der vorliegenden Sammlung hat sich unsere Gemeinde, die größte reformierte Deutschlands, entschlossen, nachdem ihr bekannt geworden war, daß keine ähnliche Festschrift geplant wird. Die Abhandlungen … sollen eine Apologie [sic!] des großen Organisators und Vollenders des Protestantismus sein.« (Rezension in RKZ 32 [1909], S. 409) Tatsächlich waren bereits zahlreiche Publikationen über Calvin erschienen: Schon im Mai beobachtete die RKZ »[e]ine wahre Flut von Schriften über Calvins Leben (mehr als 50)«, in: RKZ 32 (1909), S. 163. 109 Zum Beispiel das (nicht-reformierte) Barmer Sonntagsblatt 52 (1909), ab Beilage zu Nr. 9/1909. Dort wird vom Calvin-Jubiläum Ähnliches wie vom Lutherjahr 1883 erwartet, nämlich die »Neubelebung evangelischen Interesses«. Calvin stehe den Lesern des

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ten Calvin und seinen Beitrag zu allen möglichen Themen, die zumeist unter einem Titel »Calvin und ...« standen. Neben den reformierten Sonntagsblättern der verschiedenen Regionen110 ist sicherlich die »Calvin-Nummer« der Christlichen Welt111 (ChW) stark beachtet worden. Vor einigen kleineren Artikeln über inhaltliche und biographische Fragen gibt Theodor Brieger in seinem Aufsatz »Calvins Bedeutung für den Protestantismus des sechzehnten Jahrhunderts«112 die Richtung vor, bestätigt die in Deutschland gepflegten Klischees und kontrastiert Calvin mit einem nationalprotestantischen deutschen Helden Luther: »Bei Calvin darf der Historiker, … niemals verschweigen, daß, wie der Reformator in so mancher Beziehung tief, tief ins Mittelalter zurücksinkt, so sein Charakter grob entstellt wird durch Züge, die uns mit Schrecken und Grauen erfüllen: eine grausame, ja unmenschliche Härte und Unbarmherzigkeit … keine Spur von Liebe keimt in dem Betrachter auf, keine Beziehung kann aufkommen.«113 Bei diesem Vertreter der zweiten Reformatoren-Generation »sucht man [vergebens] nach neuen, großen, schöpferischen Gedanken«.114 Durch eine »strenge, rigoristische Zucht« lebten die Genfer in »einer unevangelischen Knechtschaft«. »In Allem bemerken wir eine Abwandlung der Anschauungen Luthers, die nicht zufällig von einem Franzosen ausgegangen ist. Es ist die Uebertragung des lutherischen Evangeliums in das Romanische.« »[M]it seinem an Fatalismus grenzenden Bewußtsein ewiger Gnadenwahl« schuf der Calvinismus immerhin tapfere Männer, die sich in den Glaubenskriegen bewährten. Darin könne man, so Brieger, die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für Blattes aber »nicht so nahe wie Luther, der Deutscheste aller Deutschen.« Aber er sei doch »ein Mann voller Gemüt, voller zarter und doch zeugniskräftiger Frömmigkeit … Er ist ein Patriot von edelstem Korn, ein Demokrat natürlich, aber ein christlicher.« Es folgt in den Beilagen Nr. 12–16 der Aufsatz »Die Bedeutung Calvins für den gesamten Protestantismus« des Gemarker Pfarrers Hermann Krafft, in Nr. 24–28, ders., Johannes Calvin. Ein Lebensbild. – Kirchliche Rundschau für die evangelischen Gemeinden Rheinlands und Westfalens 24 (1909), ab Heft 11 (Wilhelm Graeber). 110 Zum Beispiel Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), mit zahlreichen, oft aus anderen Blättern übernommenen Beiträgen, Nr. 31–34 beinhaltet Calaminus’ Vortrag »Calvin als Reformator«; Reformiertes Sonntags-Blatt [Lippe] 19 (1909), Nr. 8 vom 21. Februar 1909 bis Nr. 35 vom 29. August 1909 (F.H. Brandes); Der altreformierte Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909) beinhaltet eine Artikelserie »Calvin« von Johannes Jäger in den Nr. 657–664. – Die betreffenden Jahrgänge des Sonntagsblattes für die Gemeinden von reformiert Hannover, das vom ostfriesischen Coetus herausgegeben wurde, konnten nicht nachgewiesen werden. 111 Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände 23 (1909), Nr. 28 vom 8. Juli 1909, S. 649–672. »Diese Calvin-Nummer ist das Pendant zu unserer Melanchthon-Nummer von 1897, Nr. 6 des elften Jahrgangs.« A.a.O., S. 671. 112 A.a.O., S. 649–653. 113 A.a.O., S. 650. 114 A.a.O., S. 651.

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den Protestantismus des 16. Jahrhunderts sehen.115 In einem weiteren Artikel der Christlichen Welt bezeichnet Ferdinand Kattenbusch Calvins Lehre als überholt,116 während Ernst Troeltsch darzulegen versucht, warum der Calvinismus im Gegensatz zum Luthertum eine solch außerordentlich große globale Ausstrahlungskraft besitzt.117 Diese CalvinNummer erhält dadurch noch eine interessante wirkungsgeschichtliche Note, weilte doch bis zum Sommer 1909 der junge Theologe Karl Barth als Redaktionsgehilfe für die ChW bei Martin Rade in Marburg. Er wird also mit einiger Wahrscheinlichkeit dieses Heft redigiert haben. Trotz der Bemühungen des Reformierten Bundes ließen sich auch nicht alle Tageszeitungen von den Calvin-freundlichen reformierten Ghostwritern bedienen; so meldet etwa die Kölnische Zeitung: Johannes Calvin bleibe als »der Mann der beinharten, unerbittlichen Sittenstrenge, der unfrohe, kunstfeindliche Reformator als ein puritanischer Agitator von lebensverfinsternder Wirkung immer verhaßt«.118 Trotz diesen und ähnlichen Kritiken und seltenen lutherischen Polemiken stellt das Elberfelder Reformierte Wochenblatt schon vor den Genfer Festtagen im Hinblick auf die deutschen Verhältnisse selbstkritisch und erleichtert zugleich fest, dass »man von einer Neuentdeckung Calvins im Jahre 1909 sprechen [kann]; ein Kapitel der Kirchengeschichte der Gegenwart wird diese Überschrift tragen müssen … Man kann insonderheit der reformierten Kirche den Vorwurf nicht ersparen, daß sie es versäumt hat, das Gedächtnis Calvins lebendig zu erhalten … wir wollen uns von Herzen darüber freuen, daß nunmehr eine Calvinbewegung eingesetzt hat, von welcher tiefe, bleibende Segenswirkungen ausgehen werden.«119

115 116

A.a.O., S. 652. Ferdinand Kattenbusch, Das bedeutendste Moment in Calvins Lehre, a.a.O., S. 653– 655, hier: S. 653. 117 Ernst Troeltsch, Calvinismus und Luthertum, a.a.O., S. 669f. und im folgenden Heft S. 678–682; vgl. auch: ders., Gesammelte Schriften IV, Tübingen 1925, S. 254–261 (Niesel-Bibliographie Nr. 819f.), jetzt in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt, hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (KGA 8), Berlin / New York 2001, S. 99–107. Insgesamt zeichnete Troeltsch in diesen Jahren v.a. im Hinblick auf die kulturprägende Kraft ein positives Bild Calvins und des Calvinismus. Vgl. auch Roderich Barth, »Retter des Protestantismus«. Der Calvinismus in der Sicht Ernst Troeltschs, in: JHMTh/ZNThG 17 (2009), S. 162–181. – Dass Calvin sich gelegentlich außerhalb der Kirchenmauern einer größeren Wertschätzung als innerhalb derselben erfreute, zeigt z.B. der Troeltsch folgende Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart, Berlin/Leipzig 17/181922, S. 286–288. 118 Zitiert nach: Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), Nr. 29 vom 16. Juli 1909, S. 235. 119 Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), Nr. 28 vom 10. Juli 1909, S. 222.

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5. »[E]in Übermaß schwungvoller Reden« Die Festwoche in Genf im Juli 1909 An der zentralen Feier in Genf vom Freitag, den 2., bis Sonnabend, den 10. Juli, nahmen laut offizieller Dokumentation 21 Teilnehmer aus dem Deutschen Reich teil.120 Vom Vorsitzenden des deutschen evangelischen Kirchenausschusses und Präsidenten des altpreußischen Oberkirchenrats Bodo Voigts, dem Oberhofprediger und EOK-Vizepräsidenten Ernst von Dryander121 über einige Vertreter deutscher Landeskirchen bis hin zu den reformierten Repräsentanten: als Vertreter der Hugenotten in Berlin Amtsgerichtsrat Dr. Richard le Béringuier122, Pastor Eugène Devaranne und der Ältestendiakon Prof. Siegfried le Maire, von anderen Hugenottengemeinden Pastor Théodore Barrelet-Dardel (Hamburg)123, Charles Correvon124, Pastor Fréderic Hahn (Friedrichsdorf/Taunus)125 und von der reformierten Gemeinde Breslau Prof. Carl Heinrich Cornill126, vom Reformierten Bund der Moderator F.H. Brandes, Schatzmeister W.-A. Siebel, A. Lang und der RKZ-Schriftleiter Theodor Lang127, von den reformierten Landeskirchen der Präsident der reformierten Kirche in Elsaß-Lothringen C. Piepenbring128, der Auricher Generalsuperintendent Hermann Müller129 und schließlich vom Coetus reformierter Prediger Ostfrieslands die Pastoren Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor (Hinte) und Ernst Kochs (Emden)130 sowie ein weiterer 120

Vgl. Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 10f. – Ausweislich der virtuellen Kataloge ist dieser Dokumentationsband in Deutschland recht selten vorhanden; er ist von der Genfer Kirche großzügig an die Delegierten und teilnehmenden Institutionen und Kirchen verschenkt worden – und dann wohl v.a. in private Hand geraten. – Das Begleitschreiben zu diesem Buchgeschenk der Genfer Kirche in deutscher Übersetzung in RKZ 33 (1910), Nr. 41 vom 9. Oktober 1910. 121 Vgl. Bernd Andresen, Ernst von Dryander. Eine biographische Studie (AKG 63), Berlin u.a. 1995. 122 Zu Béringuier vgl. Ursula Fuhrich-Grubert in: 100 Jahre Deutscher HugenottenVerein, a.a.O., S. 169–176. 123 Grußadresse (in französisch) in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 140f. 124 Grußadresse (in französisch) in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 134–137. 125 Grußadresse (in französisch) in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 138. 126 Grußadresse in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 133f. 127 Vgl. Einladung vom 12. Februar 1909 an den Reformierten Bund, Delegierte zu entsenden, in: RKZ 32 (1909), S. 81. 128 Grußadresse (in französisch) in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 146. 129 Grußadresse in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 141–143. – Zu Müller vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Müller, Hermann Wilhelm, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 3, Aurich 2001, S. 304–307; vgl. in diesem Band den Aufsatz: Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf biographische Studien, cap. 3. 130 Vgl. das Protokollbuch des Coetus, aus dem mir dankenswerterweise der frühere Präses des Coetus P.i.R. Diddo Wiarda folgendes mitteilte: Bereits am 1. Juli 1908 beschloss man, die Brüder um eine Spende von RM 5,- für das Genfer Denkmal zu

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ostfriesischer Pastor, der Patronatsgeistliche von Lütetsburg, dem Sitz der Grafen von Innhausen und Knyphausen, Rodenhauser (Norden).131 Die Teilnehmer fühlten sich wohl: Einige hatten ihre – freilich in den Teilnehmerlisten nicht aufgeführten – Ehefrauen mitgebracht, man logiert unentgeltlich in vornehmen Privathäusern, unter den deutschen Reformierten herrscht Eintracht – Brandes bezeichnet die Vertreter der Berliner Hugenotten als »alte, liebe Bekannte«132 –, die Genfer Oberschicht lud großzügig zu opulenten Mittagsessen und Abendgesellschaften mit bis zu 200 Personen ein. Es war eine »erhebende« Woche, während der sich Vertreter des konservativen Reformiertentums Deutschlands und die des liberalen bürgerlichen Genf begegneten. Das Programm sah im Überblick so aus: Freitag (2.7.) Samstag (3.7) Sonntag (4.7.) Montag (5.7.) Dienstag (6.7.)

Empfang, Vortrag von Doumergue Festsitzung; Reden von Voigts, Dryander, Brandes und Devaranne, Jubiläumskantate Abendmahlsfeier, Predigten in den Kirchen, u.a. von Dryander (Lang in Göttingen) private Ausflüge (Langs Ankunft in Genf), Promotionen des Collège Festversammlung in der Kirche St. Gervais (Telegramm Wilhelms II.), Grundsteinlegung des Reformationsdenkmals mit »Weiherede« Gautiers, abends »Illumination« und Konzert, größtenteils durch Regen verhindert

bitten. Kurz vor den Feierlichkeiten in Genf war am 5. Mai 1909 noch gar nicht klar, ob der Coetus eingeladen war. Dennoch beschließt man, den Präses Justus Heinrich Middendorff (1846–1913; Vater des bekannten BK-Theologen Friedrich Middendorff) zu entsenden. Da dieser verhindert war (er trat 1909 in den Ruhestand), reisten sein Vertreter E. Kochs und der Scriba F.W. Bleske-Viëtor nach Genf. Im Protokoll vom 29. September 1909 wird unter Punkt 7 lediglich mitgeteilt: »Der Schriftführer … giebt einen Bericht über dasselbe [sc. das Calvinjubiläum in Genf] in Ausschnitten aus der Feier und Mitteilungen seiner Beobachtungen.« – Die Coetus-Grußadresse in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 139f. 131 Waldenser waren bis zur Gründung der Deutschen Waldenservereinigung (1936) zumeist im Hugenottenverein organisiert. Der Waldenserhistoriker Daniel Bonin (1861–1933) wurde beauftragt, die Grußadresse der Luther-Stadt Worms (in: Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 147, eine besondere Würdigung dieser Adresse, a.a.O., S. 2) zu überreichen. Vgl. Brigitte Köhler, Daniel Bonin (1861–1933). Ein Waldenserforscher mit waldensischen Vorfahren, in: Albert de Lange / Gerhard Schwinge (Hg.), Beiträge zur Waldensergeschichtsschreibung insbesondere zu deutschsprachigen Waldenserhistorikern des 18. bis 20. Jahrhunderts (Waldenserstudien 1), Heidelberg u.a. 2003, S. 127–140. 132 Reformiertes Sonntags-Blatt [Lippe] 19 (1909), S. 244. Mit dieser Charakterisierung wird vor allem Béringuier gemeint sein, der seit 1899 dem Moderamen angehörte und die Berliner Gemeinde in Sachen Calvinfonds auf Bundes-Kurs auch gegen Correvon hielt.

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Mittwoch (7.7.)

Dampferfahrt ganztägig und abends »Venezianische Nacht« Donnerstag (8.7.) vormittags Volksschulfest mit kirchlicher Feier in St. Peter und Umzug und Speisung, nachmittags und Freitag und Samstag Veranstaltungen der höheren Schulen (Gymnasium, Universität, Akademie der Wissenschaften) mit zahlreichen Abgeordneten europäischer Hochschulen Sonnabend (10.7.) nachmittags geschichtlicher Festumzug (Langs Abreise in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag nach Halle). Zunächst kommt von den deutschen Teilnehmern die kirchliche Obrigkeit zu Wort. Am Samstag, dem 3. Juli, sprechen auf der »Séance Solennelle« der Kirchenausschuss-Vorsitzende Bodo Voigts und Deutschlands »erster Pfarrer« Ernst von Dryander – übrigens beide mit dem Titel S.E. für »Seine Exzellenz« –, erst danach dürfen die Reformierten Brandes und Devaranne sprechen. Voigts133 spricht im Pathos jener Zeit von den »Reformationsheroen« – so hatte es bereits im ersten Aufruf des Komitees 1907 gestanden –, unter deren vier Calvin der jüngste sei, und dem gemeinsamen Erbe der Reformation. Das von Calvin organisierte kirchliche Gemeinwesen »[wurde] nicht nur für den romanischen Westen, sondern in weiter Ferne und namentlich für einen grossen Teil Deutschlands bestimmend«. Durch seinen Straßburger Aufenthalt und den Kontakten zu Melanchthon sei Calvin der lutherischen Reformation sehr nahe gewesen. »Gewiss hat es bei uns in Deutschland nicht an scharfen Gegensätzen und auch Kämpfen unter den Confessionen gefehlt.« Aber der konfessionelle Austausch sei letztlich »fruchtbar[.] und segensreich[.]« gewesen und so könne man sich »im Gefühl der Zusammengehörigkeit die Bruderhand reichen«. Es dürfe »zurücktreten …, was uns noch trennt, gegenüber dem, was uns eint«. Die Rede schließt mit dem Ausruf: »Das Reich muss uns doch bleiben!« Der Oberhofprediger134 bramabasiert »in vorgerückter Stunde … im Namen aller deutschen evangelischen Kirchen« wenig originell über den, »den wir feiern«. Immerhin war es Dryander nicht entgangen, dass in jenen Jahren die BibelKommentare Calvins auf deutsch erschienen. Calvin »gehört nicht einer Partei, einer Kirche, einer Zeit an, er gehört dem Protestantismus, der Welt, … der Ewigkeit an … keine unserer deutschen Kirchen, sie sei reformirter oder lutherischer Provenienz, [möchte] von der Huldigung [Calvins] ausgeschlossen sein«. Erstaunlicherweise findet Dryander posi133 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 41–44. Vgl. auch den von ihm unterzeichneten Erlass des Berliner EOK zum Calvin-Gedenken, in: RKZ 32 (1909), S. 34. 134 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 81–83.

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tive Worte für andere Völker, nämlich für die früher vom Martyrium erfasste reformierte Kirche der tapferen Niederländer, »der edlen Franzosen«, »jene standhaften Schotten«, »jene Blutzeugen von Böhmen, Polen, Ungarn«. Nur fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit seinem aufwallenden Nationalismus findet 1909 in Genf noch einmal konfessionelle Völkerverständigung statt.135 Die Vertreter der deutschen Kirchenobrigkeit führen ein gemeinsames evangelisches Erbe an, wohl auch, um ihre eigene Anwesenheit bei der Genfer Calvin-Feier zu begründen.136 Wie schlecht es nämlich tatsächlich um dieses angeblich gelebte gemeinsame Erbe bestellt war, spricht kurz darauf der Moderator F.H. Brandes aus.137 Zwar überbringt auch er zunächst die Grüße seines Herrscherhauses; Fürst Georg zu Schaumburg-Lippe war ja nach Fürst Edzards Tod »Protector« des Vorbereitungskomitees und dann auch der Calvinstiftung geworden. Was Brandes dann über die konfessionelle Situation zu sagen hat, widerspricht den kirchenobrigkeitlichen Auslassungen. Mit der Calvinstiftung wolle man zur Förderung der Calvinstudien beitragen, »die uns vor allem so überaus notwendig scheint, um das Werk unseres Reformators überhaupt bei uns zu fördern. Calvin war in Deutschland bisher nicht blos ein unbekannter, sondern in vielen Kreisen sogar ein übel berüchtigter, weil viel verläumdeter Mann, vor dem man sich zu hüten habe; selbst auf deutschen Universitäten erfuhr man oft weniges von ihm und dies wenige sogar nicht selten in böser Entstellung.«138 Sodann grüßt er im Auftrage der »Confederation reformirter Kirchen in Nieder-Sachsen«, die aus der hugenottischen Tradition stamme. Und erst dann bestellt Brandes die Grüße des Reformierten Bundes. Er führt aus: »Dieser ist zwar noch jung und besteht erst seit 25 135

Das sei im Umfeld des Calvinismus sogar sachgemäß, befindet Ernst Troeltsch nach dem Referat seiner Gedanken bei Walther Köhler: Bei Calvin ergäbe sich »ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, nicht nur der Einzelgemeinden, sondern auch der Völker: Gott schließt seinen Bund mit jedem Volke. Die einzelnen Völker stehen dann wieder in Verbindung und Wechselwirkung: die Idee [eines] internationalen religiösen Völkerbundes entsteht. Wohlgemerkt: des religiösen, nicht des politischen, der Calvinismus hat den religiösen Völkerbund gehabt, ehe der politische kam; 1909 bei der Genfer Calvinfeier kam diese religiöse Einheit ergreifend zum Ausdruck.« Walther Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, S. 281. 136 Angeblich wurden diese Reden »mit besonderem Beifall gehört« (RKZ 32 [1909], S. 234). Dryander durfte – anstelle des noch abwesenden August Lang – am Sonntag, dem 4. Juli, in der lutherischen Kirche Gottesdienst halten, vgl. Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 33. – Dryander genoß sowohl zeitgenössisch als auch später nach seinem Tod in der Weimarer Republik durchaus Ansehen bei Reformierten, vgl. etwa Siegfried Goebel, Erinnerungen eines alten Professors an namhafte Zeit- und Lebensgenossen, Berlin 1926, S. 182–195: Oberhofprediger Dryander. 137 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 96–99. Die ursprüngliche Fassung findet sich in RKZ 32 (1909), S. 241f. 138 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 96.

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Jahren, hat aber, wo es möglich war, für die Sache reformirten Wesens, Lehrens und Lebens in Deutschland nicht ohne gute Früchte gewirkt.« Es sei nötig, »für das reformirte Wesen tätig zu sein, sonst würde alles von einem einseitigen Luthertum absorbirt.« Und wenn Brandes am Schluss ausruft: »Calvin hat heute noch etwas zu sagen für Deutschland«, dann ist das die Bündelung seiner Kritik, die dahingeht, dass im evangelischen Deutschland entgegen der Reden von Voigts und Dryander eben dieser Reformator und die ihm folgende Tradition, die reformierte Konfession, ihre Versuche der Selbstbestimmung und ihre institutionelle Selbstorganisation bedrängt wurden und werden. Der reformierte Protestantismus findet nur in wenigen Territorien wie dem von Georg von Schaumburg-Lippe und wenigen anderen Protektion. Der Berliner Hugenotte Eugène Devaranne nutzte seine Rede139 dazu, der internationalen Festversammlung gegenüber zu betonen, wie treu die deutschen Hugenotten zur »neue[n] Heimat« und dem »erlauchten Herrscherhaus[.]«, den Hohenzollern, stünden. Vom Großen Kurfürst über den Soldatenkönig und Friedrich II. bis hin zu »unserem jetzigen Kaiser und König« – der ja aufgrund seiner unsensiblen Außenpolitik nun wahrlich keinen allzu guten Ruf unter den Völkern Europas genoss (»Hunnenrede« 1900, »Daily-Telegraph-Affäre« 1908) – hätten die Hugenotten »das Wohlwollen und die Liebe« genossen. So sei man gerne »rechte Kinder des140 Vaterlandes, Deutsche von echtem Schrot und Korn«. Kein Wunder, dass die deutschen Teilnehmer jubelten und es hernach in ihren Berichten als Höhepunkt hervorhoben, dass Kaiser Wilhelm II. ein Grußtelegramm an die Genfer Versammlung schickte, in dem er auf die Verbindung der Hohenzollern zum Calvinismus hinwies.141 Einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den am Dienstag überbrachten Grußworten des Coetus der ostfriesischen Prediger und des Konsistoriums in Aurich gilt es noch festzuhalten: Während der Coetus davon spricht, dass sein Gründer Johannes a Lasco ein »Freund[.] des großen Calvin« gewesen sei und »[i]n Genf gebildete Prediger … auch in unserer Heimat für die Festigung reformierten Glaubens und die Verbreitung calvinischer Gedanken und Schriften [wirkten]«,142 erklärte die reformierte Kirchenregierung – wohl noch geprägt von ihrem langjährigen Generalsuperintendenten Petrus Georg Bartels und der Sichtweise des 18. und 19. Jahrhunderts –, dass a Lasco »ein[.] geistige[r] Sohn

139 140 141

A.a.O., S. 112–115. Im Original ein Druckfehler: der. Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 238f. – Natürlich druckten die meisten reformierten Blätter dieses Telegramm ab, etwa RKZ 32 (1909), S. 234; Antworttelegramm, a.a.O., S. 235. 142 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 139.

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Ulrich Zwinglis« gewesen sei und der reformierte Nordwesten Deutschlands »nicht in direkter Verbindung mit Calvin gestanden« habe.143 Unter den deutschen Teilnehmern war niemand, für den die Jubiläumswoche erfolgreicher und ertragreicher war als für August Lang. Nach seinen Erinnerungen144 reiste er erst am Montag an, so dass er zunächst der Grundsteinlegung für das Reformationsdenkmal am Dienstag beiwohnen konnte. Während die kirchlichen Feiern damit beendet waren, folgten die akademischen. Lang wurde damals als einziger Deutscher in Genf honoris causa promoviert. Dieselbe Ehre erreichte ihn bei seiner Rückkehr am darauffolgenden Sonntag in Halle.145 Freilich befremdete ihn die Pracht der Genfer Feierlichkeiten. »Neben den offiziellen Festlichkeiten, bei denen ein Übermaß schwungvoller Reden sich über uns ergoß, nahmen die Erholungen (recréations), vorzüglich Festessen mit üppigen Speisen und viel zu viel Weinsorten, einen verhältnismäßig zu breiten Raum [ein] … Doch alle guten Dinge nahmen – man darf fast sagen: glücklicherweise – ein rasches Ende.«146 Langs Kritik wurde auch andernorts geteilt: »Das Festprogramm war derart reichhaltig, daß man es als eine Erleichterung empfand, daß infolge der ungünstigen Witterung nicht alle Teile zur Ausführung gelangen konnten.«147 Was Feiern und Gedenken anlangt, gab es offensichtlich zwischen Genfer Großbürgern und deutschen Provinzstädtlern divergente Anschauungen. Dennoch resümierte Lang: »In der Tat, was mir das Calvin-Jubiläum persönlich einbrachte, war nicht eine leere Ehrung wie etwa die Lippische Ordensauszeichnung, sondern die berechtigte und erwünschte Hebung meiner Stellung und meines Ansehens in Halle. Ich war und blieb nun einmal ein Mann der Ausnahme.«148 Das Jahr 1909 war auch für einen anderen Reformierten der Beginn eines neuen Lebensabschnitts: Der 25jährige Karl Barth trat im September sein Amt als Hilfsprediger an. Barth habe sich von den Feierlichkeiten in Genf nicht beeindrucken lassen, meinte Eberhard Busch vor über 40 Jahren.149 Dagegen verweist Hans Scholl auf die Möglichkeit, dass der Sohn dem Vater gar bei seinem Festvortrag an der Berner Universität gelauscht haben könnte.150 Jedenfalls scheint es möglich zu sein, dass 143 144 145 146 147 148 149

A.a.O., S. 142. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 94–96. Vgl. RKZ 32 (1909), S. 238f. Vgl. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 96. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 95. Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), Nr. 29 vom 16. Juli 1909, S. 236. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 97. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, S. 68. 150 Hans Scholl, Themen und Tendenzen der Barth-Calvinvorlesung 1922 im Kontext der neueren Calvinforschung, in: ders. (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 1–21, hier: S. 1.

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der Sohn wenigstens die Druckfassungen der Reden des Vaters gelesen hat, ebenso das Manuskript der Calvin-Vorlesung Fritz Barths aus dem WS 1908/1909.151 Außerdem wird Vater Barth seinem Sohn von der Genfer Jubiläumswoche berichtet haben, war er doch einer der Schweizer Delegierten.152 Unterdes liegt ein kleiner zeitgenössischer Beitrag Karl Barths zum Reformationssonntag des Jubiläumsjahres vor. Darin führt er aus: »In Genf mag der Eine oder Andere denken, es sei nun des Guten genug: Noch stehen ja in aller Erinnerung die festlichen Tage, da die Geister der merkwürdigen, aber wunderlichen Zeit heraufbeschworen wurden in Wort und Bild, in Gesang und Darstellung.« Kritisch fügt Barth hinzu: »Man kann sich für den Ruhm und die Größe des alten calvinistischen Genf begeistern, ohne von Calvins Geist einen Hauch verspürt zu haben, vielleicht mit dem stillen Hintergedanken: Gut, daß ich wenigstens damals nicht dabei war unter Calvins strengem Regiment!«153 In seiner Calvin-Vorlesung 1922 nennt Barth gelegentlich Literatur aus dem Jubiläumsjahr 1909.154 Aber an das Calvin-Fest 1909 erinnert er sich eher skeptisch: »das Jubiläum, das ihm [sc. Calvin] 1909 in Genf gefeiert wurde, war darum [sc. weil Calvin sich nicht zum Mythos eigne] ein Pfarrer- und Professorenfest, kein Volksfest.«155 Diese Bemerkung ist insofern nachgerade selbstironisch, da Barths Vater Professor und er selbst Pfarrer war. Man kann wohl nur spekulieren, inwie151

Vgl. Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit (NthDH 8), Neukirchen-Vluyn 1997, S. 91. Fritz Barth, Calvins Persönlichkeit und ihre Wirkungen auf das geistige Leben der Neuzeit. Festrede, Bern 1909; ders., Calvin und Servet, Bern 1909 (beides auch in: ders., Christus unsere Hoffnung. Sammlung von religiösen Reden und Vorträgen von F. Barth. Mit einem biographischen Vorwort von M. Lauterberg, Bern 1913, S. 233–264.265–291). 152 Vgl. Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 9. 153 Karl Barth, Reformation, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, hg. von Hans-Anton Drewes / Hinrich Stoevesandt (GA III, Band 22), Zürich 1993, S. 1–5, hier: S. 2. Vgl. auch Matthias Freudenberg, Das reformierte Erbe erwerben. Karl Barths Wahrnehmungen der reformierten Theologie vor 1921, in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie (Theologie. Forschung und Wissenschaft 36), Berlin 2012, S. 296–313; zu Barths Zeit in Genf 1909–1911: a.a.O., S. 299–305. – Ein das zwanzigste Jahrhundert in Genf mitprägende Ereignis waren die Feierlichkeiten offenbar nicht, bleibt 1909 doch unerwähnt von Robert M. Kingdon, Art. Genf, in: TRE XII (1984), S. 368–375. Zu Genf als einem »Erinnerungsort« vgl. Jan Rohls, Genf, in: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 44–63. 154 Vgl. M. Freudenberg, Barth und die reformierte Theologie, a.a.O., S. 90. Freudenberg folgt der Einschätzung Peter Barths (s.u. Resümee), dass nach einem Neuaufbruch in der Calvin-Forschung 1909 eine wirkliche Calvin-Wiederentdeckung erst mit der Dialektischen Theologie stattgefunden habe; vgl. auch ders., Calvinrezeption im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 492–496. 155 Karl Barth, Die Theologie Calvins (1922), in Verbindung mit Achim Reinstädtler hg. von Hans Scholl (GA II, Band 23), Zürich 1993, S. 251.

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weit das Jubiläum 1909 Barths spätere Calvin-Rezeption beeinflusst hat. Ohne die zahlreiche Calvin-Literatur des Jahres 1909 und die mit dem Namen E.F.K. Müllers verbundenen Übersetzungen von Werken Calvins wäre sie und auch die zahlreichen Calvin-Arbeiten aus dem BarthSchülerkreis der 20er und 30er Jahre weniger gut möglich gewesen. 6. »Die Verbindung mit Genf aufrecht erhalten« Nach den Feierlichkeiten im Sommer 1909 Die Berichterstattung der RKZ durch den Schriftleiter Theodor Lang beschränkt sich mit Blick auf die Tagespresse auf ein »Stimmungsbild«.156 Ähnlich ist auch Brandes’ theologischer Reise-Bericht,157 der voller Dankbarkeit vermerkt, »daß ihm [sc. Brandes] das in seinem hohen Alter noch vergönnt sein sollte!« In seinem »Epilog zur Calvinfeier in Genf« in der ChW betont Adolf Keller158 die völkerbildende und völkerverbindende Kraft des Calvinismus; die literarische Hauptarbeit hätten die Deutschen geleistet. Und Ernst Troeltsch beschrieb dem theologischen Publikum in seinen Ausführungen über das Jubiläum nochmals, dass und wie vom Calvinismus zu lernen sei.159 Aber im Vergleich zu den überaus zahlreichen Artikeln im Vorfeld nehmen die Berichte über die Calvin-Tage in Genf oder auch Calvin-Artikel nach dem Sommer 1909 einen verhältnismäßig geringen Raum auch in der reformierten Presse ein. So stellt das Reformierte Wochenblatt in Elberfeld wohl zu recht fest: »Die Berichte über die Genfer Calvintage sind im allgemeinen spärlich geflossen.«160 Der Auricher Generalsuperintendent Hermann Müller verliest auf der Gesamtsynode seiner Landeskirche im Oktober 1910 das Begleitschreiben zum Genfer Dokumentationsband161 und stellt den Antrag, dass die reformierte Landeskirche »die Verbindung mit Genf aufrecht erhalten« möge.162 Es herrschte auf der Synode Zufriedenheit darüber, dass »namentlich das Calvin-Jubiläum zur Belebung reformierten Bewußtseins, aber auch zur besseren Würdigung reformierter Eigenart bei 156 157

Theodor Lang, Calvintage in Genf, in: RKZ 32 (1909), S. 233–235. Vom Calvinfeste in Genf, in: Reformiertes Sonntags-Blatt [Lippe] 19 (1909), S. 243f.259f. 158 In: ChW 23 (1909), Nr. 46, S. 1096–1098. 159 Ernst Troeltsch, Die Genfer Kalvinfeier, in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus (KGA 8), a.a.O., S. 109–117 (zuerst in: Die Hilfe 15 [1909], S. 441–443). 160 Reformiertes Wochenblatt [Elberfeld] 54 (1909), Nr. 29 vom 16. Juli 1909, S. 235. 161 Abgedruckt in deutscher Übersetzung in: RKZ 33 (1910), Nr. 41 vom 9. Oktober 1910. 162 Verhandlungen der fünften ordentlichen Synode der evangelisch-reformierten Gemeinden der Provinz Hannover zu Aurich vom 18. bis 21. Oktober 1910, Aurich 1910, S. 20.

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den anderen Evangelischen beigetragen [hat].«163 Die Reformierten wollten nicht länger ohne Calvin verstanden werden. Sie hatten begriffen, dass dessen Person, aber noch mehr dessen Werk und Wirkung dem reformierten Kirchentum Profil verleihen konnten. Aber das Echo war nicht nur positiv. Grundsätzlich gegen die Genfer Versammlung votiert in den altreformierten Kontexten Deutschlands Prof. J. Bouwman aus dem niederländischen Kampen, der jedenfalls kein offizieller Delegierter in Genf gewesen war: Bei den »Calvijnfeesten te Genève … is saamgestroomd … een groot aantal geleerden en vereerders van den grooten hervormer, van wie echter de groote meerderheid niet ééns geestes is met Calvijn, een deel zelfs dichter stat bij Servet dan bij Calvijn. Aan het jubeleum van Calvijn is het karakter gegeven van een verbroederingsfeest van alle protestanten in hunne verschillende richtingen, van geloovigen en ongeloovigen.«164 Dieser Sichtweise wurde bei den Altreformierten nicht widersprochen; sie zeigt, da von der Hauptversammlung im April in eigener Regie noch positiv berichtet worden war, wie abhängig die deutschen Altreformierten in theologischen Fragen von ihren niederländischen Geschwistern gewesen sind. Ob das reformierte Familientreffen in Genf gezeigt habe, »daß, ungeachtet nebensächlicher Verschiedenheiten, eine lebendige Einmütigkeit besteht«, wie das »Circulaire finale« behauptet,165 steht dahin. In Deutschland waren sich die Reformierten vor allem einig innerhalb des Reformierten Bundes, die Altreformierten wahrten ihre Selbständigkeit und die Horn’sche Gruppe schuf Distanz. Und wie problematisch sogar die mainstream-Reformierten die konfessionelle Situation in Deutschland beurteilten, wurde im Grußwort des Moderators Brandes in Genf deutlich. Am 22./23. November 1909 rechnet das Calvinkomitee ab.166 Insgesamt seien 28.998,58 Mark gesammelt worden, davon nicht einmal 163 164

So im Bericht über die Synode in RKZ 33 (1910), S. 370. Graafschap-Bentheimsche en Oostfriesche Grensbode 27 (1909), Nr. 664 vom 24. Juli 1909, S. 3. 165 Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 249f.; RKZ 32 (1909), S. 297; in deutscher Übersetzung in: Reformiertes Sonntags-Blatt [Lippe] 19 (1909), S. 29. Vgl. Jubilé de Calvin, a.a.O., S. 250: »… sous les divergences secondaires, cette unité vivante …« Eine ähnlich optimistische schweizerische Sichtweise eines Beteiligten ist die des späteren Berner Professors Wilhelm Hadorn: »Wie stark trotz des Fehlens eines äußeren Bindegliedes die innere Verwandtschaft des reformierten Protestantismus noch heute ist, hat sich im Jahre 1909 bei Anlaß des Calvinjubiläums gezeigt.« Ders., Art. Reformierte Kirche, in: RGG III (1913), S. 2109–2115, hier: S. 2114f. Vgl. auch dass. in der zweiten Auflage der RGG, Bd. IV (1930), S. 1787–1793, hier: S. 1792: »Die glänzende Feier des Calvinjubiläums in Genf im Jahre 1909 brachte die R[eformierte]n K[irche]n wieder in Fühlung miteinander und belebte das Interesse für die Calvinforschung. Aber erst der Weltkrieg brachte dem reformierten Protestantismus die Neubelebung«. 166 RKZ 32 (1909), Nr. 50 vom 12. Dezember 1909 (Korrektur der Zahl, a.a.O., S. 401).

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4.000 Mark für das Genfer Denkmal. Angeblich nahm man das mit Bedauern zur Kenntnis, tatsächlich hatte aber gerade August Lang ja genau daraufhin gearbeitet. Während der Moderamenssitzung am 24./25. Mai 1910 in Altena wurde die Summe nach oben korrigiert: 30.324,62 Mark,167 neben der Prämierung von Calvinstudien – einer der beiden ersten Preisträger war Wilhelm Goeters – war v.a. die Förderung von reformierten Konvikten angestrebt. Das Calvinhaus in Erlangen konnte dann erst 1919 eröffnet werden. Das Genfer Reformationsdenkmal, obwohl in Deutschland eher stiefmütterlich behandelt, wurde im Jahr 1910 ausführlich in der RKZ beschrieben.168 Die CalvinfondsStatuten haben durch Allerhöchsten Erlass vom 18. April 1911169 ihre Landesherrliche Genehmigung gefunden. Nach 1909 kam es 1914, 1936, 1959 und 1964 zu Calvin-Gedenken im 20. Jahrhundert. Wie gestaltete sich das Gedenken zu Calvins 350. Todesjahr 1914?170 Das Calvingedenken 1909/1914 hatte wohl keine durchschlagende gesamt-gesellschaftliche oder kirchen-öffentliche Wirkung, mitbedingt natürlich durch die Zäsur des Ersten Weltkrieges von 1914 bis 1918 und dem dann folgenden gesellschaftlichen und sozialen Umbruch. So heißt es in einer Denkschrift über die Einrichtung einer reformierten Dozentur in Göttingen aus dem Jahr 1914: »Selbst das Calvinjahr, das zuerst einige beachtenswerte Publikationen hervorbrachte, hat nicht die erwarteten wissenschaftlichen Erfolge gezeitigt.«171 Für die frühen 20er Jahren liegt mit der Dissertation von Matthias Freudenberg eine größere Arbeit vor, die minutiös nachzeichnet, wie Karl Barth sich der reformierten Tradition bediente und das Reformiertentum zu prägen begann. Die Edition der Barth-Gesamtausgabe er167 168

RKZ 33 (1910), S. 178; Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 98. Calaminus (Burgprediger in Wettin), Das Reformationsdenkmal in Genf, in: RKZ 33 (1910), S. 105–107. 113f. Vgl. auch den Leserbrief dazu von Lucien Gautier, a.a.O., S. 180f. – Die Fertigstellung erfolgte 1917, vgl. Theodor Lang, Die Übergabe des internationalen Reformationsdenkmals an die Stadt Genf, in: RKZ 67 (1917), S. 259f. Zu diesem Projekt vgl. Christoph Strohm, Calvinerinnerung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Beobachtungen am Beispiel des Genfer Reformationsdenkmals, in: Stephan Laube / Karl-Heinz Fix (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 2), Leipzig 2002, S. 211–225. 169 Dem Vf. ist nicht bekannt, wann der Fonds aufgelöst worden ist. – Im Jahre 2008 wurde erneut eine Calvin-Stiftung im Umfeld des Reformierten Bundes gegründet. Die Ziele sind ähnlich. 170 Vgl. August Lang, Zu Calvins 350. Todestage, in: RKZ 37 (1914), S. 289–290. Darin verwahrt sich Lang durchaus resigniert gegen die Klischees über Calvin, die 1914 besonders von der katholischen Presse verbreitet worden sein sollen. 171 Denkschrift von Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor und Johann Adam Heilmann vom 22. Juni 1914: Gründe und Wünsche betr. Errichtung von theologischen Dozentenstellen für die ev.-reformierte Kirche an der Universität Göttingen, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Chronik des Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938–1947 (EBzrP 2), Wuppertal 1999, S. 91–94, hier: S. 91.

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

möglicht einen Einblick in Barths Vorlesungen zu Calvin (1922) und zur Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923). Interessant wäre zudem ein Blick auf das Jahr 1933 mit seinem Lutherfest im November, da wieder vermehrt Diffamierungen Calvins als eines typisch romanischen Menschen auftraten. Pessimistisch klang das Resümee Peter Barths, das er 25 Jahre nach 1909 im Jahre 1934 zog: »Das Jahr 1909 hatte für einmal die Aufmerksamkeit auf Calvin gelenkt: Kirchenhistoriker und Systematiker wetteiferten, den vom neuen Protestantismus immer etwas stiefmütterlich behandelten Genfer Reformator zu ›würdigen‹. Und zweifellos gab jenes Jubiläum für die Folgezeit mancherlei Anregung zu vermehrter, sei es mehr historischer oder mehr für den kirchlichen Tagesstreit erforderlicher Beschäftigung mit dem noch eben in der ausgehenden Vorkriegszeit Gefeierten.« Aber da »der moderne Protestantismus naturgemäß … nur ein romantisch-antiquarisches und kein vitales Interesse an der Reformation haben konnte«, blieb Calvin theologisch ein Unbekannter.172 Das war jedenfalls die Sichtweise Peter Barths, des Bruders Karl Barths. Es scheint aber doch ein Zerrbild zu sein, die Protagonisten des Jubiläums von 1909 wie Brandes, Lang und E.F.K. Müller dem »modernen Protestantismus« oder dem »Kulturprotestantismus« subsumieren zu wollen, denn während jene sich mit der Calvin-Ausgabe der Christlichen Welt kein Ruhmesblatt erworben hatten, bewirkten diese eine erneuerte reformierte Tradition, bei der Calvin mehr und mehr im Zentrum zu stehen kam.173 Neun Jahre vor dem Ende seines langen, in besonderer Weise Calvin gewidmeten Lebens weilte August Lang während einer seiner letzten großen Reisen nochmals in Genf – zum Jubiläum 1936. Dieses Fest wurde in bescheidenem Rahmen begangen. Die Beschäftigung mit Calvin war jedenfalls unter den Reformierten seit 1909 selbstverständlich geworden, »[e]s war zu merken, daß … sich eine Art ›Calvin-Renaissance‹ vollzogen hatte.«174 Die Frage wird sein, wohin die Calvin-Renaissance 172

Peter Barth, Fünfundzwanzig Jahre Calvinforschung 1909–1934, in: ThR NF 6 (1934), S. 161–175.246–267, hier: S. 163. – In dieselbe Kerbe schlägt Wilhelm Niesel, Die wichtigste Calvin-Literatur der letzten 50 Jahre, in: RKZ 100 (1959), S. 293–298. 173 Vgl. auch Wilhelm Kolfhaus, Wie wurde das Erwachen der Reformierten in Deutschland möglich?, in: RKZ 83 (1933), S. 221f. Darin würdigt Kolfhaus E.F.K. Müller als den Theologen, mit dessen Lebenswerk die Calvin-Renaissance verknüpft sei. »Wo in den Gemeinden dieses Erbe Calvins [sc. die von Müller besorgten oder verantworteten Übersetzungen der Bibelkommentare und der Institutio] gebraucht wird, erwacht wieder reformiertes Leben und Denken.« (A.a.O., S. 222) Karl Barth bleibt in diesem Artikel von 1933 namentlich unerwähnt; man mag ihn finden unter den »[j]üngere[n] Kräfte[n]«, die »das von Professor Müller begonnene Werk mit auf ihre Verantwortung nehmen« (ebd.). 174 Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 232–234, hier: S. 233. Vgl. zum Jubiläumsjahr 1936 auch Vicco von Bülow, Orthodoxie im Kolleg. Otto Webers Calvin-Vorlesung 1936, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Calvin und

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vornehmlich gehört, zu 1909 und seinen Protagonisten (wie Müller und Lang) oder zur Calvin-Rezeption Barths und seiner Schüler. Ein Beispiel mag die veränderte Situation nach der »Calvinisierung« der deutschen Reformierten illustrieren: Der Barth-Schüler Wilhelm Niesel, als Mitarbeiter Hermann Albert Hesses gleichsam in der Zentrale für die konfessionelle Selbstbestimmung der deutschen Reformierten, betont in seiner wichtigen Schrift »Was ist reformiert?« (München 1934) zwar, dass »reformiert« in erster Linie »schriftgebunden« bedeutet, aber er zitiert Calvin nach der Weise der dicta probantia. Diese theologische Präferenz für Calvin war aber bei den deutschen Reformierten relativ neu. So stellt Helmut Gollwitzer, seinerzeit mit seinem Werk über die orthodoxe Abendsmahlslehre befasst, fest: »Calvin ist besonders für die deutschen Reformierten nie so Autorität gewesen wie Luther für die Lutheraner. Niesel … [sc. in seiner Schrift ›Was ist reformiert?‹] zitiert Calvin, als sei er der selbstverständliche Mund reformierter Lehre, und drückt damit wohl ein spezifisch heutiges reformiertes Bewußtsein aus«.175 Eine dauernde Auseinandersetzung um Calvin entstand am von Stefan Zweig gemalten Bild.176 Sein Buch »Castellio gegen Calvin, oder: Ein Gewissen gegen die Gewalt« (1936) war freilich mehr eine Parabel auf das »Dritte Reich« als ein historischer Bericht über Calvin. Die folgenden Jubiläen zum 450. Geburtstag 1959 und zum 400. Todesjahr 1964 standen überwiegend im Zeichen der seinerzeit hegemonialen Barth-Schule in Deutschland. Was aber nicht durchgehend gelang, ist die Vermittlung der Forschungsergebnisse; das gilt für 1909,177 das gilt für 1959178 und das gilt auch noch zur Jahrtausendwende, was schon ein Blick in Schul- und Sachbücher zeigt. In einem in Schulen und Hochschulen benutzten Nachschlagewerk umfasst der Artikel über Calvin vornehmlich Anklagen: Der Katholizismus sei in Genf »ausgerottet« worden; das Konsistorium »war eine regelrechte Inquisitionsbehörde«. »Gegenüber Personen, die anderer Meinung als er selbst waren, gab Calvin kein Pardon«, als Beispiel wird Servet genannt. »Das kirchliche Überwachungssystem reichte bis in die Intimsphäre des einzelnen.« Der calvinische Protestantismus sei durch seine »Intoleranz« schließlich zu einer weltprägenden seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 13), Neukirchen-Vluyn 2009, S. 204–214. 175 Helmut Gollwitzer, Lutherisch, reformiert, evangelisch, in: EvTh 1 (1934/35), S. 307–326, hier: S. 310. 176 Vgl. M. Freudenberg, Calvinrezeption im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 496. 177 Vgl. RKZ 32 (1909), S. 302f. 178 Vgl. etwa Willem Nijenhuis, Die Aufgabe der reformierten Kirchen in der ökumenischen Bewegung, in: Calvin-Studien, hg. von Jürgen Moltmann, Neukirchen 1960, S. 62–83, hier: S. 63: »Noch immer wissen viele über Calvin nicht mehr, als daß er die Prädestination gelehrt und Servet zum Tode verurteilen ließ.«

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»Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«

Kraft geworden.179 Um Kenntnis von Calvin-Forschung scheint dieser Hochschullehrer nicht bemüht gewesen zu sein. Zu dem, »was man wissen muß«, zählt nach Dietrich Schwanitz die historische Erkenntnis, dass Calvin wie ein Ajatollah in einem totalitären Genf gewirkt habe.180 Wissenschaftliche Ergebnisse verändern offenbar wenig oder nur sehr langsam das Image. Ob es gelungen ist, das Jubiläumsjahr 2009 als Chance zu nutzen, um das Calvin-Bild der Öffentlichkeit dem historischen Original anzunähern?181 Die Reformierten waren selten exklusive Konfessionalisten. Schon 1909 erklärte der nachmalige Moderator Heinrich Calaminus über das Nebeneinander der Konfessionen in der evangelischen Kirche: »In der Mannigfaltigkeit Einheit, in der Einheit Mannigfaltigkeit. Wenn es aber, vielleicht in 100 Jahren, dahin gekommen sein wird, daß man nicht mehr sagen wird: ›Calvins Jubiläum ist ein reformirter Festtag‹, sondern: ›die Jubiläen der Reformatoren sind Festtage der Kirche‹, dann wird sich der Reformirte Bund, wenn er noch besteht, fragen dürfen, ob es noch nötig sei, daß er bestehe.« Trotz der beiden kleinen reformierten Landeskirchen, trotz des erodierenden bzw. erodierten reformierten Erbes in den Unionskirchen und trotz der konfessionellen Übereinkünfte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war aus konfessioneller Perspektive die Existenz einer reformierten Agentur im 20. Jahrhundert nötig. Daran hat auch das von vielen Seiten als erfolgreich wahrgenommene Calvin-Jahr 2009 nichts geändert, zumal die breitenwirksamen Diffamierungen des Genfer Reformators nahezu ungebrochen weiter zu gehen scheinen.182

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Hartwig Weber, Religion. Lexikon der Grundbegriffe in Christentum und anderen Religionen (ursprünglich 1986 unter dem Titel »Jugendlexikon Religion«), Reinbek bei Hamburg 1992, S. 110–112. 180 Dietrich Schwanitz, Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt a.M. 1999, S. 114–116. 181 Vgl. Achim Detmers, Das Calvin-Jahr 2009 – Vorgeschichte, Ereignisse, Erfolge, Überraschungen, in: KJ 136 (2009), S. 141–174; Luther 2017 500 Jahre Reformation, Jahrbuch 2009: »Reformation und Bekenntnis«; Christoph Strohm, Medien, Themen und Ertrag des Calvin-Jubiläums 2009, in: ARG 102 (2011), S. 296–327; Johannes Hund, Erinnern und feiern. Das Calvin-Jubiläum im Kontext moderner Erinnerungskultur, in: VuF 57 (2012), S. 4–17; Hans-Georg Ulrichs, Weltgestaltung. Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009, in: evangelische aspekte 20 (2010), Heft 4: August 2010, S. 24–29 (Wiederabdruck im Anhang dieses Bandes). 182 Vgl. Spitze der Bewegung. Calvin, Zwingli und andere wichtige Reformatoren, in: Dietmar Pieper / Eva-Maria Schnurr (Hg.), Die Reformation. Aufstand gegen Kaiser und Papst (SPIEGEL-Buch), München 2016 (zuerst erschienen als SPIEGEL Geschichte Heft 6/2015), S. 198–212: Der Hardliner (von Marc von Lüpke), a.a.O., S. 199–201.

»Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden«1 Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs

1. Fragestellungen und Bedingungen: Zur Situation der Reformierten vor dem Krieg Der Kriegsausbruch 1914 sei, so eine bekannte Formulierung Martin Rades in der »Christlichen Welt«, der »Bankrott der Christenheit«2 gewesen. Trotz des »christlichen Universalismus« unterstützten in allen Ländern nahezu alle Konfessionen die Politik der jeweiligen nationalen Regierung.3 In Deutschland gehörte nicht zuletzt der Protestantismus zu den Unterstützern eines unnachgiebigen Kriegskurses. Es ist kaum verwunderlich, dass eine nicht-kirchliche Geschichtswissenschaft überwiegend ungünstig über die Kirchen allgemein und insbesondere über den Protestantismus während des Ersten Weltkrieges schreibt.4 Die Prägung des Protestantismus wird in der (Kirchen-) Geschichtswissenschaft als »nationalprotestantisch« bezeichnet.5 Dabei ist in den »Stammlanden 1

So der Herausgeber der Reformierten Kirchenzeitung Hermann Albert Hesse in einer Andacht zum Jahresende 1918: Gewogen und zu leicht gefunden. Daniel 5,27, in: RKZ 68 (1918), Nr. 52, 29. Dezember 1918, S. 229. 2 ChW 28 (1914), S. 849f. 3 Vgl. Jean Baubérot, Die Kirchen und die internationalen Beziehungen: I. Die protestantischen Kirchen, 1. Der Erste Weltkrieg, in: Jean-Marie Mayeur (Hg.) / Kurt Meier (Bearb.), Erster und Zweiter Weltkrieg. Demokratien und totalitäre Systeme (1914– 1958) (Die Geschichte des Christentums 12), Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 328–337. 4 Etwa Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 23: »[D]ie christlichen Kirchen [übernahmen] legitimationsspendende Funktionen. Sie agierten dabei mit einer derart servilen Hingabe und agilen Beflissenheit, daß der Kern der christlichen Lehre unentwegt an die Kriegsbedürfnisse verraten wurde.« – Eine bibliographische Übersicht über »Erster Weltkrieg und deutscher Protestantismus« kann hier nicht gegeben werden; die Literatur ist ohnehin rasch elektronisch ermittelbar. Im Folgenden wird lediglich die zitierte Literatur genannt. Einen Einblick in den Archivbestand bietet Inga Bing-von Häfen u.a., Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs in kirchlichen Archiven, in: Aus evangelischen Archiven 53 (2013), S. 201–270. 5 Roland Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 24), Gütersloh 2007; für die Zeit seit der Aufklärung und Kaiserreich: S. 21–102; Erster Weltkrieg: S. 103–118. Vor allem Manfred Gailus arbeitet mit dem Terminus »nationalprotestantisch«, vgl. etwa: Manfred Gailus / Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes

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»Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden«

der Reformation« der Protestantismus überwiegend lutherisch oder – vom Luthertum beeinflusst – uniert ausgeformt. Diese Untersuchung geht der Frage nach, ob Reformierte in Deutschland anders als die Lutheraner, anders als die volkskirchliche Mitte, die bekannten Theologen und kirchenleitenden Personen auf den und im Krieg (re-)agiert haben. Selbst wenn Reformierte nicht benannt werden können, wird nicht selten behauptet, »alle [.] Richtungen im deutschen Protestantismus« seien unter die Kriegstreiber zu subsumieren.6 Können aber wirklich auch die Reformierten unter diese Beschreibung subsumiert werden? Oder gab es reformierte Spezifika? Wirkten sich die pluralen Formen der kirchlichen Organisation bei den Reformierten anders aus, konnte man auf andere theologischen Traditionen verweisen? Und waren die internationale Ausrichtung und damit die Wertschätzung anderer Nationen (oder wenigstens doch der – reformierten – Christen in ihnen) stärker oder anders als im deutschen Luthertum ausgeprägt? Reformierte waren in Deutschland vor allem in zwei (überwiegend) reformierten Landeskirchen, in den Kirchen der altpreußischen Union und vereinsmäßig im Reformierten Bund organisiert. »Hochburgen« waren Ostfriesland und Bentheim, Lippe, das Wuppertal, der Niederrhein sowie das Siegerland. Akademische Lehrer gab es nur vereinzelt. Die weitaus meisten reformierten Theologen zu Beginn des 20. Jahr(VMPIG 214), Göttingen 2005; darin auch Günter Brakelmann, Kriegsprotestantismus 1870/71 und 1914–1918. Einige Anmerkungen, a.a.O., S. 103–114; Doris L. Bergen, »War Protestantism« in Germany, 1914–1945, a.a.O., S. 115–132. 6 Etwa Clemens Vollnhals, »Mit Gott für Kaiser und Reich«. Kulturhegemonie und Kriegstheologie im Protestantismus 1870–1918, in: Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn 2009, S. 656–679, hier: S. 665. Es werden dort zwar neben zahlreichen nationalprotestantischen Lutheranern auch modern-positive, konservative und liberale Theologen genannt, nicht jedoch reformierte. Ebenso pauschal von der »übergroße[n] Mehrheit« der Pfarrer spricht mehrfach ohne offenkundig auch nur einen einzigen Reformierten überhaupt wahrgenommen zu haben Wolfgang J. Mommsen, Die nationalgeschichtliche Umdeutung der christlichen Botschaft im Ersten Weltkrieg, in: Gerd Krumeich / Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns.« Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 249–261. Vgl. auch Jan Rohls, Die deutsche protestantische Theologie und der Erste Weltkrieg, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 8 (2014), S. 11–58; Traugott Jähnichen, Zwischen nationaler Euphorie und theologischer Kritik. Neuorientierungen des Protestantismus in Deutschland nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Thomas K. Kuhn / Katharina Kunter (Hg.), Reform, Aufklärung, Erneuerung. Transformationsprozesse im neuzeitlichen und modernen Christentum, Festschrift zum 80. Geburtstag von Martin Greschat, Leipzig 2014, S. 130–146; Wolf-Friedrich Schäufele, Der »Deutsche Gott«. Kriegstheologie und deutscher Nationalismus im Ersten Weltkrieg, in: Joachim Negel / Karl Pinggéra (Hg.), Urkatastrophe. Die Erfahrungen des Krieges 1914–1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg 2016, S. 35–76. Vgl. umfassend Günter Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie 1914–1918. Ein Handbuch mit Daten, Fakten und Literatur zum Ersten Weltkrieg (Schriften der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft 23), Kamen 2015.

1. Fragestellungen und Bedingungen: Zur Situation der Reformierten vor dem Krieg

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hunderts wird man als konservative Positive charakterisieren können. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg verortete der nachmalige Moderator des Reformierten Bundes, der Hallenser Pfarrer und Professor August Lang (1867–1945) die Reformierten in der deutschen Gegenwartstheologie. Er verweist »auf eine kleine, aber hoffnungsvolle Gruppe meist jüngerer Theologen …, welche man als positiv-reformierte Theologen bezeichnen kann.« Diese nähmen teil an den Aufgaben »der positiven Theologie … Wenn sie in vieler Hinsicht sich dem Biblizismus verwandt fühlen, so hoffen sie zugleich durch den Rückgang auf die reformierten Grundprinzipien ihn zu ergänzen und zu seiner Fortbildung beizutragen. In diese Gruppe dürften Rothstein7 als Alttestamentler, der kürzlich verstorbene Barth8 und der Basler Riggenbach9 für das Neue Testament, Hadorn10 in Bern, Goeters11 in Bonn und ich [sc. August Lang] als Historiker, Karl Müller12 in Erlangen als Dogmatiker zu rechnen sein.«13 Bemerkenswert ist, dass bereits bei der Benennung eines engeren Kreises von reformierten Theologen ausländische, freilich deutschsprachige genannt werden müssen – und können. Es gab unterschiedliche Rahmenbedingungen für die reformierten Akteure und sie hatten notwendigerweise auch unterschiedliche Interessen – sie waren regional, kirchlich-organisatorisch und theologisch unterschiedlich geprägt. Es gab staatskirchliche Gebilde, den Verein Reformierter Bund mit eher losen Regionalgruppen, es gab einzelne Gemeinden und einige prägende Gestalten. Ein ganz einheitliches Reformiertentum existierte also nicht und es lässt sich auch nicht der eine typische 7

Wilhelm Rothstein (1853–1925), war nach Professuren in Halle und Breslau ab 1914 an der Universität Münster. 8 Friedrich (Fritz) Barth (1856–1912; Vater von Karl Barth) war Professor für Neues Testament und Kirchengeschichte an der Universität Basel. 9 Eduard Riggenbach (1861–1927), lehrte als Neutestamentler und Patristiker in Basel. Er war erblindet. 10 Wilhelm Hadorn (1869–1929) war seit 1903 am Berner Münster und wurde 1922 Professor für Neues Testament. 11 Wilhelm Goeters (1878–1953) war seit 1913 Professor für Kirchengeschichte in Bonn. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Goeters, 1. Wilhelm Gustav, in: RGG4 III (2001), S. 1062; ders., Art. Goeters, Wilhelm Gustav, in: BBKL XXIV (2005), S. 715–719. 12 Ernst Friedrich Karl Müller (1863–1935) war wohl der bedeutendste und weithin in allen Lagern anerkannte reformierte Theologe im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Neben seinen wichtigen Arbeiten und Editionen zu Calvin sei auf seine 1896 erschienene Symbolik hingewiesen. Ende des 19. Jahrhunderts war er Herausgeber der RKZ. 13 August Lang, Zur gegenwärtigen theologischen Lage in Deutschland (1914), in: ders., Reformation und Gegenwart. Gesammelte Aufsätze vornehmlich zur Geschichte und zum Verständnis Calvins und der reformierten Kirche, Detmold 1918, S. 318–334, hier: S. 334. – Zur Situation der reformierten Theologie vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Martin Laube, Die deutsche (reformierte) Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (Forschungen zur Reformierten Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 2015, S. 33–48.

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Repräsentant identifizieren. So muss man einerseits diese Differenzen bedenken und gleichzeitig andererseits versuchen, doch so etwas wie ein Gesamtbild der Reformierten in Deutschland zu zeichnen.14 Neben dem in sich differenten mainstream sind die reformierten Separatisten wie die Altreformierten15 und die Niederländisch-Reformierte Gemeinde Elberfeld wahrzunehmen. »Kohlbrüggianer« ließen sich überall im Reformiertentum finden; sie verstanden sich als besonders verlässliche Tradenten des reformierten Erbes. Eine – allerdings überproportional stark beachtete – Sonderrolle führten die Hugenotten im deutschen Reformiertentum; sie hatten sich 1890 im Deutschen Hugenotten-Verein zusammengeschlossen, der zur Jahrhundertwende etwa 500 Mitglieder zählte.16 So müssen die deutschen Reformierten, die in den bisherigen Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg kaum vorkommen, einerseits als Teil, allerdings auch als »Spezialfall« des deutschen Protestantismus, andererseits aber als Teil einer europaweiten, ja globalen Konfessionsfamilie in den Blick genommen werden. Bei den deutschen Reformierten ist nicht alles grundsätzlich anders (und kann es auch gar nicht sein), sondern es gibt einige relative, darin dann auch typische, konfessionsspezifische Unterschiede zum deutschen Gesamtprotestantismus. Mental grundlegend war sicherlich das permanente Gefühl der Majorisierung durch andere: Man reagierte empfindlich auf ein selbstbewusstes Luthertum und geradezu reflexhaft auf den Katholizismus. Selbst theologisch und gesellschaftlich konservative Vertreter wie Adolph Zahn (1834–1900) waren aber auf Grund ihrer konfessionellen Prägung wenig empfänglich für nationalistisches Gedankengut: Die reformatorischen Väter der Reformierten waren nun einmal überwiegend nicht deutsch und große Teile des globalen Reformiertentums hatten außerhalb des Deutschen Reiches ihre Heimat. 14

Als Quellen dienen hier überwiegend die Archive der Evangelisch-reformierten Kirche (Leer), der Lippischen Landeskirche (Detmold), des Reformierten Bundes (als Depositum in Detmold) und das Archiv der Gemeinde Emden (Johannes Lasco Bibliothek) sowie durchgängig die Reformierte Kirchenzeitung (RKZ), zahlreiche gedruckte Broschüren und einige zeitgenössische Bücher reformierter Akteure. 15 Zu den Altreformierten im Ersten Weltkrieg vgl. Gerrit Jan Beuker, Die Altreformierten im Ersten Weltkrieg – eine deutsch-niederländische Kirche, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 413–424. 16 Über die deutschen Hugenotten im Ersten Weltkrieg fehlt bislang eine Studie; das Thema und diese Jahre werden nur en passant erwähnt in den Aufsätzen in: Jochen Desel / Walter Mogk (Hg.), 100 Jahre Deutscher Hugenotten-Verein 1890–1990. Geschichte, Personen, Dokumente, Bilder (Tagungsschriften des DHV 10), Bad Karlshafen 1990. Als Teilaspekt vgl. von Bendix Balke, Eduard de Neufville und Charles Correvon. Zwei Pioniere der ökumenischen Friedensarbeit aus der Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt a.M. vor und im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 454–477. – Positiv hingewiesen wurde in der RKZ auch auf den von Charles Correvon (1856–1928) herausgegebenen »Le Ralliement«, die einzige in Deutschland in französischer Sprache erscheinende religiöse Zeitschrift.

2. Verlauf der Kriegsjahre 1914–1918

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2. Verlauf der Kriegsjahre 1914–1918 Die Reformierten scheinen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar nicht überbordend nationalistisch gewesen zu sein, waren aber doch wie die übergroße Mehrheit der Protestanten kaisertreu und borrussisch gesinnt. Man war eher nicht explizit politisch, sondern agierte ganz überwiegend im binnenkirchlichen Bereich. Im Jahr 1913 wurde in der RKZ durch den Herausgeber Theodor Lang (1870–1931),17 seit 1911 Pfarrer in Unterbarmen, die Kriegsgefahr immer wieder einmal benannt und die Rüstungsanstrengungen in Europa kommentiert: Die deutsche Aufrüstung wurde bejubelt und darin ein wichtiges Stück vaterländischer Gesinnung gesehen, die ausländische, namentlich die französische Rüstung mit ätzender Kritik kommentiert. England dagegen war da auch in der RKZ noch nicht Zielscheibe nationalistischer Polemik. Reformierte haben 1913 zur konfessionellen Selbstvergewisserung den Heidelberger Katechismus von 1563 gefeiert und einige Male auch an 1613 erinnert, als Johann Sigismund von Brandenburg die reformierte Form des Abendmahls einführte. Man gedachte mit – im Nachhinein auch gedruckten – Gedenkgottesdiensten und der Einweihung von Gedächtnistafeln in Kirchen des Jubeljahres der »Völkerschlacht« bei Leipzig im Oktober 1813,18 so dass man in der ohnehin vorhandenen antifranzösischen Stimmung gestärkt wurde. Das 25jährige Thronjubiläum Wilhelms II. wirkte wahrscheinlich affirmativ im Hinblick auf Thron und Nation. 2.1 »Gerechtigkeit« und »Gericht«: Das Jahr 1914 2.1.1 Das erste Halbjahr und die Juli-Krise Der Erste Weltkrieg scheint für die Reformierten eher überraschend gekommen zu sein.19 Die RKZ spiegelte im ersten Halbjahr 1914 vor allem wider, in welcher kirchlichen und gesellschaftlichen Defensive sich 17

Vgl. Erich Wennecker, Art. Lang, Theodor, in: BBKL XIX (2001), S. 869–870. Obwohl er die meinungsmachende RKZ herausgab (und vor allem den Nachrichtenteil verantwortete), war der Herausgeber Theodor Lang nicht repräsentativ für die Reformierten, sondern vertrat nationalprotestantische und auch deutschnationale Positionen. Er gehörte zum Umfeld des Evangelischen Bundes. Mit dem April 1918 wechselte er als Konsistorialrat nach Berlin. Bereits vorher, spätestens ab 1915 gab er zunehmend Nachrichten aus dem Evangelischen Bund und aus der Stadtsynode Berlin in der RKZ wieder. 18 Vgl. Wolfram Siemann, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: Dieter Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Hamburg 1988, S. 298–320. 19 Später verfasste Erinnerungen an den überraschenden Kriegsausbruch können allerdings auch auf die Propaganda zurückgehen, um die eigene Unschuld am Krieg zu umschreiben.

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Reformierte wähnten. Zahlreiche antikatholische Kommentare und Polemiken durchzogen das Blatt, die auf Europa zielende Kritik (an Italien, Belgien, Frankreich etc.) hatte vor allem den jeweiligen Klerikalismus und den Ultramontanismus im Visier. Man sah die evangelische Kirche in vielen Bereichen und in vielen Ländern angegriffen; aufmerksam wurden die Entwicklungen in Spanien und in Südamerika verfolgt. Gemeinsam mit anderen kirchlichen Blättern und Konfessionen bemühte man sich um eine Abwehr der Bewegung »Komitee Konfessionslos!«, die v.a. in Berlin tätig war; man plädierte auch in diesem Zusammenhang gegen die Sozialdemokratie20 und konkret gegen die von Freidenkern propagierten Feuerbestattungen. Wohl auch um dieser gefühlten Defensive und eigenen institutionellen Labilität zu begegnen – es gab etwa enorme Probleme bei Pfarrstellenbesetzungen –, veröffentlichte die RKZ zahlreiche Beiträge zur reformierten Konfessionsgeschichte: über einzelne Gemeinden, Regionen und Personen. »Krieg und Frieden«, durchaus Thema in Friedensappellen deutscher Theologen 1907/1908 und 1913 mit Hunderten von Unterschriften,21 wurde im ersten Halbjahr 1914 in der RKZ kaum thematisiert,22 dagegen kirchliche23 und konfessionelle Anliegen vorangetrieben. Da der Erste Weltkrieg ohne den vor allem ab August 1914 propagierten Nationalismus kaum denkbar war, muss hier darauf verwiesen werden, dass der Hallenser Professor August Lang, immerhin auch Schwiegersohn des Moderators des Reformierten Bundes, Heinrich Calaminus (1842–1922), nicht nur zahlreiche Forschungsarbeiten zum englischen Protestantismus vorgelegt hatte, sondern sich als erwecklicher Christ früh in der ökumenischen Bewegung engagierte und enge Verbindungen zu den Reformierten nach Nordamerika unterhielt. Dabei war James Isaac Good (1850–1924) ein wichtiger Mittelsmann. Noch im Frühjahr 1914 unternahm August Lang eine Vortragsreise durch die Staaten und kam beeindruckt zurück.24 20 Der Sozialdemokrat Adolf Hoffmann stellte einen Begründungszusammenhang auf: »Wir sind gottlos, da wir sehen, wie die Prediger täglich für den Krieg beten.« RKZ 64 (1914), Nr. 25, 21. Juni 1914, S. 198. 21 Vgl. Walter Bredendiek, Die Friedensappelle deutscher Theologen von 1907/1908 und 1913 (Hefte aus Burgscheidungen 97), 1963. 22 Einzige Ausnahme scheint gewesen zu sein eine positive Kurzrezension von Karl Alphons Witz-Oberlin, Gott und der Krieg nach der Hl. Schrift, in: RKZ 64 (1914), S. 141: »Die Friedensfrage bewegt heute die Geister.« Zu Witz-Oberlin vgl. Karl-Reinhart Trauner, Die Reformierten Österreichs und der Erste Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 136–153. 23 So wurde für das für 1917 geplante Reformationsjubiläum der Aufruf des Evangelischen Bundes zur Reformationsjubelspende 1917 verbreitet: RKZ 64 (1914), S. 142. 24 RKZ 64 (1914), Nr. 3, 18. Januar 1914, S. 23: »Die Beziehungen zwischen dem Reformirten Bunde und der Reformirten Kirche in den Vereinigten Staaten von Nordamerika werden, wie zu erwarten steht, durch eine Vortragsreise von Herrn D. Lang wesentlich gefördert werden.« Lang berichtete über seine Fahrt: August Lang, Von jen-

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Eine lange Zeit aufgestaute schwelende Kriegsatmosphäre, die sich dann nachgerade notwendigerweise hätte »entladen« müssen, wurde also nicht registriert.25 Das änderte sich mit dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni. Mitte Juli26 sprach die RKZ von der bedrohlich angewachsenen »Spannung zwischen den europäischen Völkern«, die »die mitteleuropäischen Mittelmächte … zu äußerster Wachsamkeit und engstem Anschluß aneinander« führen müsste. Denn: »Den südslawischen Vabanque-Politikern sind alle Mittel recht, um die europäische Katastrophe herbeizuführen.«27 Auch in Predigten wird die angespannte Situation aufgegriffen worden sein, wie es etwa die beiden Pfarrer der niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld taten. Am Sonntag nach dem Attentat hörte die Kohlbrügge-Gemeinde von Pastor Benjamin Lütge28, dass es bei allem Entsetzen »kein Böses« gäbe, »das der Herr nicht tue, – auch der Teufel vermag nichts ohne den Willen Dessen, der alles regiert, der sich auch der Gottlosigkeit der Menschen bedient zur Ausführung Seines Rates … Der Herr allein erhöhet und erniedriget, Er setzt auf den Thron und stößt hinunter, Er tut alles, was Ihm gefällt.« Gerade in den Unwägbarkeiten – »Was die Folgen der verübten Greueltat sein werden, ob die Gärung der Völkerstämme im Osten nicht die Ursache eines entsetzlichen Krieges wird, – wer kann es sagen?« – könne man eben nur Ruhe finden bei Gott, dem wahren König, der »Gerechtigkeit und Gericht« übt, während alle Menschen und die ganze Welt unter der Macht der Sünde und des Satans stünden.29 2.1.2 »Kriegsausbruch« und erste Kriegsmonate In diesem Traditionsraum überwog unmittelbar vor Kriegsbeginn die Ansicht vom Krieg als eines Gerichtes Gottes über die sündige Welt. seits der großen Wasser, in: RKZ 64 (1914), S. 187f., S. 195f.203f.211f.219f. Zu Lang vgl. seine Autobiographie, die er am Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb: August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg«. Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010, v.a. S. 122–139. 25 So wurde es nach Kriegsbeginn zur Rechtfertigung wohl eher bloß behauptet, etwa auch von August Lang. 26 Es gab einen redaktionellen Vorlauf von etwa 14 Tagen, so dass Aktuelles erst im übernächsten Heft traktiert werden konnte. 27 In RKZ 64 (1914), Nr. 29, 19. Juli 1914, S. 231f. wurde Partei für die HabsburgerMonarchie und gegen serbische Separatisten ergriffen. Zwei Wochen später wurde in wenigen Zeilen von antideutschen Krawallen in Galizien berichtet. 28 Vgl. Maarten den Admirant, Benjamin Lütge (1858–1927), in: Klaus van Bürck / Heinrich Lüchtenborg (Hg.), 150 Jahre Niederländisch-reformierte Gemeinde zu Elberfeld, Wuppertal 2000, S. 149–157, hier: S. 155f. 29 Benjamin Lütge, Predigt über Psalm 93 am 5. Juli 1914, in: ders. / Gottfried Locher, ohne Titel [verschiedene Predigten/Kriegspredigten], fortlaufend paginiert (bis S. 566; o.O., o.J., vermutlich: Elberfeld 1915), S. 205–219, Zitate: S. 206 und S. 210. Zahlreiche weitere Predigten gingen in dieselbe Richtung.

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Das war in der Geschichte des Protestantismus nicht neu, mag allerdings angesichts der mit dem Kriegsbeginn vermeintlichen eruptiven Euphorie in der Öffentlichkeit doch überraschen. Auch nach dem 1. August wandelte sich diese religiöse Demut nicht in chauvinistischen Hochmut. In seiner Predigt nur wenige Stunden nach der Mobilmachung am Abend zuvor bezeichnete Pastor Lütge30 den Gottesdienst als »eine Stunde voll banger Erwartung der Dinge, die da kommen werden«. Trost fände man beim großen Gott. »[W]ir wissen, in wessen Hand wir sind, und nicht nur wir, sondern unser ganzes Volk, unser Kaiser und sein Heer und seine Verbündeten, ja alle Völker und alle Heerscharen im Himmel und auf Erden und alles, was in den Tiefen ist.« (S. 327) Eng fühlte man sich dem Kaiser verbunden, man habe »unserem hochverehrten und geliebten Kaiser zugejauchzt …, da er für eine gerechte Sache das Schwert aus der Scheide zog«. Der Kaiser, »der den Frieden gewollt hat«, stand »aber zur rechten Stunde fest und treu seinem Bundesgenossen zur Seite …, und [rief] in dem vollen Gefühl seiner Verantwortlichkeit sein Volk zum Kampf«. Und doch existierte ein Vorbehalt, galt auch hier ein »Aber«: Aber Gott ist’s, der »alles, alles regiert und lenkt, das Größte sowohl wie das Kleinste … nach Seinem ewigen Rat und Wohlgefallen … Wenn also unser Volk seinem Kaiser zujauchzt, o dann jauchzen wir mit. Aber geben wir dem Kaiser, was des Kaisers ist, sollten wir dann nicht auch Gott geben, was Gottes ist?« (S. 328) Der Kaiser sei groß. »Aber, – wir armen, törichten Menschen! Was wir sehen, was groß und mächtig und prächtig ist in der Welt, das halten wir für groß, davor zittern und zagen wir, oder das beten wir an, aber, – der unsichtbare Gott, was gilt Er, was gilt Sein Wort in der Welt, in unsern Augen? Und doch sind alle Völker vor Ihm geachtet wie ein Tropfen, so am Eimer bleibt, und wie ein Scherflein in der Wage [sic!].« (S. 333) Selbst nach der ersten Kriegswoche, deren Siegespropaganda auch die Pfarrer im ganzen Reich erreichte, blieb dieses »Aber« gültig: Auch wenn der Krieg »Notwehr« und damit gerechtfertigt war, die ersten Erfolgsmeldungen (Lüttich) für Zuversicht sorgten und es vielleicht »von Sieg zu Sieg gehen sollte, – der Krieg ist ein Gericht Gottes, eine Züchtigung Gottes, die über unser Volk gekommen ist.«31 Neben den ökonomischen Schäden wären vor allem die zahlreichen Toten zu beklagen: »[W]ie viele teure Söhne und Männer unseres Volkes werden ihr Blut dahingeben müssen! … Wie viele werden verwundet, verstümmelt, arbeitsunfähig und siech wiederkehren.« (ebd.) Der – wie es oft heißt: »furchtbare« – Krieg mache »offenbar, daß wir Menschen von Natur Otterngezücht und Schlangensamen sind, – 30

Benjamin Lütge, Predigt über Psalm 95 am 2. August 1914 (fälschlich gedruckt: 1915), am 1. Tage der Mobilmachung, a.a.O., S. 325–342. 31 Benjamin Lütge, Predigt über Matthäus 6, Vers 9, am 9. August 1914 (fälschlicherweise gedruckt: 1915), in: a.a.O., S. 343–358, hier: S. 345.

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Menschen, die in Bosheit und Neid einander hassen und erwürgen«. Diese grundsätzliche Sündhaftigkeit korrumpiere alle Menschen, so dass auch Deutsche sich nicht grundsätzlich unterschieden von den Kriegsfeinden, denen die chauvinistische Propaganda galt: »[S]ind wir Deutsche, wenn auch zivilisierte, an und für sich oder von Natur besser als die Serben, Slaven und Russen, – und besser als der französische und belgische Pöbel, der in der unmenschlichsten Weise die Deutschen, ja wehrlose Frauen und Kinder, quälte und ausplünderte und mordete«?32 Alle Menschen seien vor der Heiligkeit Gottes verworfen. Wer das anerkannt hat, der »mach[.]t … keinen Unterschied mehr in [s]einem Gebet zwischen Freund und Feind, dann fleh[.]t [er] nicht nur für die Deutschen, die auf den Schlachtfeldern verwundet und getötet werden …, sondern auch für die Feinde, daß Gott sich auch über sie erbarme, auch über sie kommen lasse, wenn auch unter Gericht und Niederlage, den Reichtum Seiner Barmherzigkeit, die Macht Seiner Gnade.«33 Nicht (nur) die eigenen Feinde müssten geschlagen werden, sondern die ganze Erde: »Dann geht es zwar nicht nur mit denen, die wir nun als unsere Feinde sehen, sondern auch mit uns in den Tod, mit unserm stolzen Patriotismus, mit unsern goldnen Kälbern, unserem Gottesdienst, unserer Macht, unserer Tugend, mit unserer Gerechtigkeit, unserm Ruhm, mit allem, was wir sind und haben«.34 Noch pointierter brachte es der weithin bekannte Herausgeber der kohlbrüggianischen »Biblischen Zeugnisse«, der Uelsener Pastor Peter Schumacher (1878–1950), auf den Punkt: »[D]ie heilige Schrift redet nicht von Deutschland, dem ›heil’gen Land der Treu’‹, sondern von dem Reich der Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi.« Die »Biblischen Zeugnisse« verweigerten sich auch sonst einer Kriegseuphorie und einem Hass auf die Kriegsfeinde, warnten vielmehr vor einem »Baal mit patriotischem Mäntelchen«.35

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A.a.O., S. 350. – Hier wurde Lütge Opfer der deutschen Kriegsgräuelpropaganda. A.a.O., S. 353. Benjamin Lütge, Predigt über 2. Könige 13, Vs. 14–25 am 29. November 1914, in: a.a.O., S. 441–456, hier: S. 451. – Ähnliche Gedanken finden sich in Paul Humburg, Drei Kriegsandachten, gehalten in der Neuen reformierten Kirche zu Elberfeld im September 1914, Kassel 1914 (Sigrid Lekebusch wertet diese Andachten nicht aus und kommt zu einem ungünstigeren Bild, vgl. Sigrid Lekebusch, Paul Humburg [1878–1945] – ein frommer Patriot, in: Geschichte in Wuppertal 24 [2015], S. 66–80, hier: S. 68–70). – Vgl. Hans Helmich, Die Wuppertaler Gemeinden von 1918–1933 (SVRKG 106), Köln 1992, S. 14–62; Martin Szameitat, »Heimatfront« Wuppertal? Barmen und Elberfeld im Ersten Weltkrieg, in: Geschichte in Wuppertal 24 (2015), S. 46–65. 35 Zitiert nach Karl Koch, Kohlbrüggianer in der Grafschaft Bentheim. Eine Studie zur reformierten Kirchengeschichte der Grafschaft Bentheim zwischen 1880 und 1950. Gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, in: Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte 12 (1996), S. 355–423, hier: S. 380.

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2.1.3 Konsistorial-staatskirchliche Obrigkeitsnähe Dieses hier in zugespitzter Rechtfertigungstheologie formulierte »Aber«, das nationale Euphorie stark relativierte und auch ermöglichte, die realen drastischen Seiten des Krieges zu benennen,36 scheint nicht untypisch für reformierte Theologen gewesen zu sein, auch wenn sie weniger radikal als die Kohlbrügge-Tradenten waren.37 Es ist anzunehmen, dass am 2. August 1914 überall sehr ernsthaft gepredigt wurde und danach nahezu alle Gemeinden – ob Staatskirche oder freie Gemeinde – dem kaiserlichen Aufruf zum Gottesdienst am angeordneten Bettag, dem 5. August, nachkamen.38 Dieses »Aber« galt sogar für den Generalsuperintendenten von Lippe, August Weßel (1861–1941),39 einen Repräsentanten der Staatskirche. Auch wenn bei ihm nationalistische und chauvinistische Töne deutlicher vernehmbar waren und er die Kriegsschuld bei den anderen Nationen sah, rief auch er doch überwiegend zur Demut und Buße auf, weil auch das eigene Volk das »Gericht Gottes« verdient habe.40 Gleich drei lippische Prinzen fielen im Ersten Weltkrieg; Prinz 36 Die Geschicke der Gefallen der Gemeinde und die große Not der Soldaten und der Menschen in der Heimat werden immer wieder in den Predigten erwähnt. 37 Zu weiteren, eher auch nationalprotestantischen Beispielen aus dem Wuppertal vgl. Gottfried Abrath, »Lieber Gott, schieß du man all die Engländer tot«. Zwischen Friedenssehnsucht und Kriegsgeschrei – Analyse eines reformierten Milieus, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 425–453. 38 Als Beispiel für ein reformiertes Archiv: Am 5. August angeordneter Bettag und Gottesdienste, Allerhöchster Erlaß des Kaisers vom 2. August 1914 in: LKA Leer, Generalia 20.5.29: »An allen gottesdienstlichen Stätten im Lande versammle sich an diesem Tage Mein Volk in ernster Feier zur Anrufung Gottes, daß Er mit uns sei und unsre Waffen segne.« (reichsweiter Bettag am 5. August) Gottesdienst … außerordentlicher Bettag Nr. 29 (vgl. auch Landessachen Nr. 22). Dass., in: KGVBl. für die evangelischreformierte Kirche der Provinz Hannover, 4. Band, Nr. 46, 3. August 1914, S. 183. 39 Vgl. auch Hans-Peter Wehlt, Generalsuperintendent D. August Weßel (1861–1941). Zwischen Summepiskopat und verfasster Landeskirche, in: Hermann Niebuhr / Andreas Ruppert (Bearb.), Krieg – Revolution – Republik. Detmold 1914–1933. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts, S. 375–414. In der Weimarer Republik war Weßel auch DNVP-Mandatsträger. – Weßels Auricher Kollege Generalsuperintendent Hermann Müller (1837–1918) war zwar auch staatskirchlicher Funktionär, aber die Provinzialbehörden in Hannover, erst recht die königlichen Behörden in Berlin waren doch weit entfernt. Offenbar waren die Auricher allerdings besonders »kaisertreu«: Als letztes preußisches Konsistorium wurde in Aurich erst 1922 die Kaiserbüste entfernt (freundliche Auskunft von Steffen Tuschling). 40 August Weßel, Gott mit uns, und wir mit Gott. Predigtworte aus der Kriegszeit 1914/15, Detmold 31915, beispielsweise: Was predigt der Krieg? Predigt, gehalten am 13. September 1914, in der reformierten Stadtkirche in Detmold, a.a.O., S. 38–53, hier: S. 44. – Diese Predigten (jeweils vermehrte Auflagen) wurden in RKZ 66 (1916), Nr. 11, 12. März 1916, S. 86, als »mustergültig« bezeichnet. Den Titel kann man geradezu als »Motto der Deutschen« ansehen, vgl. Arlie J. Hoover, The Gospel of Nationalism. German patriotic preaching from Napoleon to Versailles, Stuttgart 1986, bes. S. 45–56, hier: S. 46.

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Friedrich Wilhelm starb bereits im August 1914 im Kampf.41 Der Schrecken des Kriegs war auch in Lippe gegenwärtig, dabei war Weßel wie viele andere offenkundig von einem nur kurz andauernden Krieg ausgegangen.42 Noch näher am Regentenhaus war der Bückeburger Hofprediger Konrad Müller (1872–1927), der nicht nur stark nationalistisch, sondern auch chauvinistisch predigte. In der Bußtagspredigt am 5. August nannte er die »slavische Unkultur«, »des Erbfeindes Revanchegelüste« und die »englische Habgier« und endete mit dem bekannten GeibelZitat.43 Im Krieg sah er eine Zwei-Fronten-Entscheidungsschlacht: Im Osten war es der Kampf um das Wesen zwischen Slaventum und Germanentum, im Westen stritten sich quasi die Weltanschauungen oder Mentalitäten: »deutsche religiöse Tiefe und Innerlichkeit streitet wider gegnerischen Atheismus [sc. Frankreich] und Pharisäismus [sc. England].«44 Der Hofprediger konnte von der »erhebende[n] Kriegszeit«45 sprechen, sah jedoch in der Weltgeschichte das Weltgericht Gottes;46 »Gottes Ruten züchtigen uns«47 im Krieg. Ermutigung fand er immer wieder im Blick auf die erfolgreichen Kriegszeiten 1866 und 1870/71

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August Weßel, Treu bis in den Tod. Rede, gehalten am 31. August 1914 bei der Beisetzung S.E. des Prinzen Friedrich Wilhelm zur Lippe in der reform[ierten] Stadtkirche in Detmold, in: a.a.O., S. 31–37. 42 »Der Krieg hat sich anders gestaltet, als manche in den Tagen des fröhlichen Anfangs, da die Jubelrufe nicht verstummten, es sich gedacht haben.« Vorwort zur zweiten Auflage, Januar 1915, a.a.O., S. 4. Weßel schränkte die Bezeichnung des Krieges als »heilig« ein, die nur gelte, »wenn wir in ihm Gottes Sache vertreten« (a.a.O., S. 50) – wovon er freilich überzeugt war. Ähnlich relativierte er auch Rades Interpretation (s.o. Anm. 2): »Wenn auch nicht das Christentum selbst Bankerott gemacht hat – um die Christen ist’s jedenfalls schlimm bestellt.« Ders., Daß das Herz fest werde. Predigt, gehalten am 11. Oktober 1914 in der reformierten Stadtkirche in Detmold, a.a.O., S. 54–66, hier: S. 55. – Zu Lippe vgl. Paul Ruperti, Von Höhen zu Tiefen. Bilder aus der Arbeit der lippischen Landeskirche in Heimat und Feld 1914–1918, Bielefeld 1920; Die Lippische Landeskirche 1684–1984. Ihre Geschichte in Darstellungen, Bildern und Dokumenten, herausgegeben im Auftrag der Lippischen Landeskirche in Zusammenarbeit mit dem Lippischen Heimatbund von Volker Wehrmann, Detmold 1984, hier besonders S. 222–226: Die Kirche und der Erste Weltkrieg; Lena Krull u.a., Lippe und der Erste Weltkrieg. Aspekte einer regionalen Erinnerungskultur, in: Lippische Mitteilungen 82 (2013), S. 13–51. 43 Konrad Müller, Wenn sich Weltgeschicke vollenden … Kriegs-Buß- und Bettagspredigt am 5. August 1914, in: ders., Wenn sich Weltgeschicke vollenden … Predigten aus ernster Zeit, Bückeburg 1914. S. 1–4, hier: S. 2 bzw. S. 4. – Müller war 1910 aus Bremen berufen worden und wirkte als letzter »Hofprediger« in Bückeburg bis zu seinem Tod 1927. 44 Ders., Kämpfende Heere, in: a.a.O., S. 5–10, hier: S. 6. 45 Ders., Siegesfreude, in: a.a.O., S. 16–21, hier: S. 17. 46 Vgl. a.a.O., S. 16. 47 Ders., Gottes Adventsglocken in schwerer Zeit. Zum 1. Advent 1914, in: a.a.O., S. 27–32, hier: S. 29.

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sowie im während des August 1914 erfahrenen Nationalismus: »Deutschland, Deutschland über alles«.48 In den landeskirchlichen Behörden und Gemeinden verfuhr man so, wie es von den jeweils übergeordneten Behörden vorgegeben wurde. Anweisungen kamen aus Berlin vom Evangelischen Oberkirchenrat oder vom Ministerium, und diese Erlasse wurden übernommen, angewendet und »nach unten« weitergeleitet.49 Dabei ist nicht ersichtlich, dass reformierte Konsistorien irgendwie anders agiert hätten als andere Kirchenbehörden, auch sind keine devianten Haltungen und Handlungen von Pastoren der reformierten Landeskirchen dokumentiert. Reformierte waren gehorsam. 2.1.4 Kriegsbedingte Änderungen im Gemeindeleben Rasch musste in den Gemeinden vor Ort auf die Kriegsbedingungen reagiert werden, wie das Beispiel Emden zeigt: Alles nicht Dringliche wurde abgesagt,50 in der entstandenen Situation musste gottesdienstlich, seelsorgerlich und diakonisch gehandelt werden. Kriegsgebetsstunden wurden eingeführt, Abendmahlsgottesdienste für die ausrückenden Soldaten und deren Angehörige abgehalten, wohl auch noch verstärkt Trauungen vorgenommen und besondere Kollekten eingesammelt.51 48 49

Ders., Siegesfreude, a.a.O., S. 21. So begann man sogleich, Kriegschroniken anzufertigen, um die Bedeutung der Kirche am Kriegsgeschehen dokumentieren zu können, vgl. Akte Kriegschroniken Nr. 5, in: LKA Leer 51.1 Pfarrregistraturen, Generalia. 50 »Die auf dem 3. Aug[ust] einberufene Sitzung der Gemeindevertretung […] wurde wegen der drohenden Kriegsgefahr wieder abgesagt. Am 1. August Abends 6 Uhr erfolgte die Bekanntgabe der Mobilmachung. Am Sonntag den 2. August trat der Kirchenrat nach der Abendpredigt zu einer kurzen Beratung zusammen. Es wurde beschlossen, vorläufig in der angefangenen Woche jeden Tag ausser Sonnabends Abends 6 Uhr in der Grossen Kirche einen kurzen Gebetsgottesdienst abzuhalten. Am Montag den 3. August fand der erste Gottesdienst statt bei starker Beteiligung. [am Rande eingefügt: Im Anschluss an die Gottesdienste fanden Abendsmahlsfeiern statt für Einberufene und deren Angehörigen.] Am Dienstag den 4. Aug[ust] trat der Kirchenrat nach d[em] Gottesdienst zusammen und beschloss, auch in der nächsten Woche Gottesdienste abhalten zu lassen.« Protokollbuch des Kirchenrats der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Emden vom 2. Januar 1911 bis 23. Mai 1921 (JaLB Archiv Nr. 334 / Nr. 15), S. 296. 51 A.a.O., S. 297: »In der 3. Woche nach der Mobilmachung fanden die aus Anlass des Krieges eingerichteten Gottesdienste in der Gasthauskirche am Dienstag und Donnerstag Abd. 6 Uhr statt. Die Beteiligung war stets sehr gut. Am 5. August fand als [sc. eine] vom Kaiser angeordnete Sammlung für die Angehörigen der ins Feld gerufenen Krieger statt, die einen guten Erfolg ergab. In der 3. Woche wurden in der Gasthauskirche Büchsen aufgestellt zu demselben Zweck.« Zum ostfriesischen Kontext der Emder Gemeinde vgl. Michael Hermann / Paul Weßels (Hg.), Ostfriesland im Ersten Weltkrieg (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 84), Aurich 2014, dort neben vielen Aufsätzen zu unterschiedlichen Aspekten Henning Priet, »Tagebuch des Niederganges des deutschen Volkes«. Die Kriegschronik der ev.-ref. Kirchengemeinde Leer von Pastor Petrus Westermann, a.a.O., S. 197–209.

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Der Kirchenrat beschloss, »dass bei Eintreffen von Nachricht über einen grossen Sieg die Glocken der Grossen Kirche geläutet werden sollen«. Allerdings gab es auch rasch kriegsspezifische Probleme: Der Emder Kirchenrat appellierte, ein von Marinesoldaten besuchtes Bordell zu schließen.52 Wie auch immer wurden diese ersten Kriegswochen als eine besondere Zeit erlebt, in der auch die Pfarrer sich besonders herausgefordert fühlten. Nicht nur Kirchenfunktionäre, akademische oder bekannte Theologen, sondern auch zahlreiche Pfarrer ließen ihre Predigten drucken: für ihre Gemeinden, für die Öffentlichkeit, für die »im Felde stehenden« Gemeindeglieder.53 Man war offenkundig überzeugt, etwas zu sagen zu haben. 2.1.5 Der Reformierte Bund und die Reformierte Kirchenzeitung Während die Konsistorien und die Gemeinden weiter funktionierten, auch wenn sie sich auf Kriegsverhältnisse einstellen mussten, konnte der Dachverband der Reformierten kaum noch weiter arbeiten. Die noch Anfang August beworbene Moderamenstagung musste ausfallen, eine Hauptversammlung kam in den Kriegsjahren kein einziges Mal zu Stande,54 jedoch eine größere Moderamenssitzung im September 1916 in Halle.55 Ohne die Reformierte Kirchenzeitung hätte der Reformierte Bund keine Rolle mehr in der Öffentlichkeit des evangelischen Deutschland gespielt. Während die thematischen Aufsätze, die in der Regel in 52

Sitzung des Kirchenrats am 24. August 1914, a.a.O., S. 300. – Unterdes liegt ein Beitrag über eine andere bedeutende reformierte Gemeinde vor: Martina WasserloosStrunk, »Heil Kaiser Dir!« Evangelisch im 1. Weltkrieg, in: Karl Boland / Hans Schürings (Hg.), Der Erste Weltkrieg und Mönchengladbach. Kriegserfahrung und Alltagsbewältigung, Essen 2014, S. 171–192. 53 Hier nur einige Beispiele aus dem reformierten Spektrum neben den bereits genannten Locher/Lütge: Wilhelm Eisenberg (Braunschweig); Eberhard Baumann (Halle) ließ gleich mehrfach Kriegspredigten drucken wie auch sein Hallenser Kollege Hermann Josephson (der es mit »Unser Gott, willst du sie nicht richten [2. Chronik 20,12]? Ansprache in einer Kriegsbetstunde [am 28. August 1914]« sogar als einziger Reformierter in eine reichsweite Postille brachte: Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit, hg. von Bruno Doehring, 1. Band, Berlin 1914, S. 141–143). Josephson erteilte auch die »Weihe« beim Fahneneid im Dom zu Halle Ende August 1914 (vgl. a.a.O., S. 142). Vgl. weiter: Kraft aus der Höhe. Kriegspredigten aus den Jahren 1914/17, hg. vom Lippischen Pfarrerverein, Detmold o.J. [1917], in: LLK Konsistorial-Akten, Rep. II, 58, Nr. 8, Vol. II: Erbauungsschriften für Kriegszeiten 1916ff. Auch »Laien« meldeten sich zu Wort, etwa der Schatzmeister des Reformierten Bundes Walther Alfred Siebel (1867–1941): Die Herzen empor! Ein Wort zum Weltkrieg, Stuttgart 1915. Von W.A. Siebel, der als Gemeinschaftschrist zum Gnadauer Verband gehörte, liegen mehrere Broschüren vor. 54 LLK Dep. RB 126 [22.5] Protokolle über Moderamenstagungen 1908–1933. 55 Sie wurde »Kriegstagung« genannt, vgl. [Heinrich] C[alaminus], Die Kriegstagung des Reformirten Bundes, in: RKZ 66 (1916), Nr. 46, 12. November 1916, S. 361–363 (vgl. auch a.a.O., S. 385–388).

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mehreren Teilen erschienen, vom »Kriegsausbruch« ungestört weiterliefen,56 veränderte sich der Ton der Andachten und Nachrichten vernehmbar. Der deutschnationale Herausgeber Theodor Lang (nicht verwandt mit August Lang!), der seit 1907 die Redaktion innehatte, verantwortete beide Rubriken. Auch bei Th. Lang gab es ein »Aber«, das freilich erheblich anders als bei seinem Wuppertaler Kollegen Lütge gewichtet war. Natürlich lenke Gott die Geschicke, der den Deutschen nicht etwa besonders verpflichtet sei, aber jetzt führten der »Friedenskaiser« und sein Volk »ein[en] gerechte[n], ein[en] heilige[n] Krieg.«57 Hier waren sofort chauvinistische Töne zu vernehmen: »Niemand unter uns denkt an Eroberungsgelüste. Keinem der bösen Nachbarn haben wir weh getan. Wir taten nur unsere Pflicht. Deutsche Treue hielt versprochene Waffenbrüderschaft. Slavische Doppelzüngigkeit und französische Spionage scheinen einen Geheimbund geschlossen zu haben. Verrat, schnödester Vertrauensmißbrauch ist es, was Deutschlands Kaiser von seinen sogenannten Freunden erfahren mußte. Wir sind herausgefordert in der brutalsten Weise. Nun wohl: sie werden erfahren, was furor teutonicus ist! Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Wir haben ein gutes Gewissen in diesem Krieg … Gott wird mit uns sein!«58 Die Andachten in der RKZ waren oft versehen mit markigen Worten zum Krieg, Parolen etwa eines Ernst Moritz Arndt verdrängten fromme Phrasen von Kohlbrügge, Geyser oder Schleiermacher. Theodor Lang hat immer vorausgesetzt, dass der Krieg mit einem Sieg enden würde. Auch liest man chauvinistische Attacken gegen die Westmächte – Frankreich wird als »gottlos« bezeichnet, England als »selbstgerecht« und »hochmütig«59 –, und rassistische Töne schwingen beim Unverständnis darüber mit, dass die Russen mit Mongolen und anderen asiatischen Völkern Deutschland 56

Die wöchentlich erscheinende RKZ reduzierte ab Nr. 37, 13. September 1914, den Umfang von acht auf vier Seiten und brachte kaum noch große Aufsätze, sondern überwiegend Berichterstattung. Ab dem Jahrgang 1915 kehrte man bis Ende 1917 wieder zum früheren Umfang zurück. In der Berichterstattung war man auch abhängig vom Evangelischen Pressedienst. Zum »epd als Sprachrohr des Nationalprotestantismus« vgl. Hans Hafenbrack, Geschichte des Evangelischen Pressedienstes. Evangelische Pressearbeit von 1848 bis 1981 (Evangelische Presseforschung 5), Bielefeld 2004, S. 101–125. 57 Der Begriff »heiliger Krieg« kehrt mehrfach wieder und wird begründet damit, dass dieser Krieg »Sein und Nichtsein unseres Volkes … in Frage [stellt].« Zur Lage, in: RKZ 64 (1914), Nr. 37, 13. September 1914, S. 291. Diesen Begriff verwandte auch Paul Althaus extensiv, vgl. Kurz, Nationalprotestantisches Denken, a.a.O., S. 426–428. 58 [Theodor Lang], Kriegsbereitschaft. Sprüche 21,31, in: RKZ 64 (1914), Nr. 33, 16. August 1914, S. 257. 59 »[U]ns [schaudert] vor dem frommen, betenden England …, weil wir wissen, daß ein Gebet, das mit Krämergeist sich bewußt oder unbewußt verbindet, vor Gott lauter Greuel ist.« [Theodor Lang], Rechtes Opfer und rechtes Vertrauen. Psalm 4,6, in: RKZ 64 (1914), Nr. 45, 8. November 1914, S. 321. Weitere nationalprotestantische Stimmen aus dem reformierten Wuppertal führt auf G. Abrath, Zwischen Friedenssehnsucht und Kriegsgeschrei, a.a.O.

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angriffen.60 In der Schweiz, ein für die deutschen Reformierten besonders wichtiger Bezugspunkt, würde wahrgenommen, dass im romanischen Teil ein »Deutschen-Hass« herrsche, während in der DeutschSchweiz Deutschland die Sympathien genieße.61 Bemerkenswert ist, dass die Polemiken gegen die Kriegsfeinde in der RKZ nicht unkommentiert blieben, ja sogar relativiert wurden. Der ökumenisch gesinnte August Lang, sicher auch geprägt von einer Haltung, die in den Kontexten des Reformierten Weltbundes (RWB) vorherrschte,62 schrieb Mitte August 1914 einerseits Artikel für seine amerikanischen Freunde, um die deutsche Kriegsunschuld und den »unver-

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Vgl. im Nachrichtenteil, RKZ 64 (1914), Nr. 40, 4. Oktober 1914, S. 304. Solche Vorwürfe finden sich auch im bekannten »Aufruf der 93 an die Kulturwelt«. 61 RKZ 64 (1914), Nr. 41, 11. Oktober 1914, S. 307; RKZ 65 (1915), Nr. 24, 13. Juni 1915, S. 192 und weitere Meldungen. – Vgl. Thomas K. Kuhn, »Die empfindlichsten und stacheligsten Patrioten«? Die reformierte Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 299–326. 62 Marcel Pradervand, Der Reformierte Weltbund (RWB), in: Karl Halaski (Hg.), Die Reformierten Kirchen (Die Kirchen der Welt XVII), Stuttgart 1977, S. 15–36. A.a.O., S. 19: »Der Erste Weltkrieg konnte für den RWB nicht ohne ernste Folgen bleiben, hatte er doch in beiden feindlichen Lagern Mitgliedskirchen. Obwohl sein Sitz jetzt Edinburgh war, legte sein neuer Generalsekretär, Dr. R. Dykes Shaw, eine bemerkenswerte Einstellung an den Tag. In der Novemberausgabe der Vierteljahrsschrift des RWB, The Quar- [S. 20] terly Register, führte er aus: ›Ein großer Krieg wütet unter den Nationen Europas … Das Traurigste ist, daß er von christlichen Nationen geführt wird. Angehörige vieler Mitgliedskirchen des Bundes kämpfen in den feindlichen Heeren gegeneinander. Und jede Seite beschuldigt die andere … Auf beiden Seiten geben sich redliche Männer die größte Mühe, darzutun, daß sie das Recht allein auf ihrer Seite haben … Eins ist sicher … in der ganzen Welt sind alle Christen wie niemals zuvor zur Herzenserforschung und zum Gebet aufgerufen … Wir müssen uns beugen unter Gottes mächtige Hand. Wir müssen inbrünstiger um den Geist Christi bitten …‹ (CS, S. 98). Und der Präsident des RWB, der irische Pfarrer Dr. William Park, schrieb in derselben Nummer: ›Sicher ist, daß zuallererst ein Gefühl der Scham in uns als Kirchenmännern und Christen aufsteigen muß. Wenn wir als Kirchen unserem Heiland und unseren Nächsten gegenüber unsere Pflicht erfüllt hätten, hätte man dann nicht einen besseren Weg zur Beilegung der Streitigkeiten der Völker gefunden?‹ (CS, S. 93). Es ist gut zu wissen, daß die Führer des RWB nicht dem wahnsinnigen Nationalismus verfielen, der während des Ersten Weltkrieges so viele Kirchen erfaßte.« Das erwähnte Buch CS ist: Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975, S. 96–110: The Alliance and World War I: Der Generalsekretär und der Präsident, Dykes Shaw (Büro in Edinburgh) und Dr. William Park (Belfast) äußerten sich ab Kriegsbeginn sehr moderat, vermittelnd, zum Frieden aufrufend, die Kirchen aller Länder zur Buße aufrufend; eine Verherrlichung des Krieges und eine Verteufelung eines Gegners sind nicht zu belegen. Pradervand resümiert, »that the Alliance leaders were not victims of the mad nationalism which invaded even the Churches at that time … they realized the madness of war and saw in it the real enemy.« (S. 100) Vgl. die Übersetzung dieses Kapitels durch Sabine Dressler in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 48–60.

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söhnliche[n] Haß Frankreichs« aufzuzeigen.63 Lang war geradezu verzweifelt über den »Bruderzwist« der beiden evangelischen Kulturnationen England und Deutschland und bat deshalb die Amerikaner, sie möchten auf England einwirken. Auch in Amerika gab es wie in der Schweiz Anhänger der Mittelmächte – etwa die deutschstämmigen Reformierten – und Anhänger der Entente und damit Unterstützer der amerikanischen Waffenlieferungen an die Entente – etwa in den Reihen der niederländisch- und englischstämmigen Amerikaner. Andererseits schrieb August Lang für die Leser der RKZ Artikel über Amerika, da er von dort Zeitschriften und Nachrichten übersandt bekam. Die »neutrale« Haltung Amerikas führte A. Lang auf die »Lügen« der englischen Presse zurück, die aber nicht hätten verhindern können, dass sich in der amerikanischen Bevölkerung mehr und mehr Sympathien für Deutschland durchsetzten.64 Vor allem die Kriegserklärung der Engländer am 4. August schien geradezu traumatisierend auch auf August Lang gewirkt zu haben. Nachdem mit Paul Fleisch (1878–1962) ein lutherischer Theologe behauptet hatte, Englands Kriegseinstellung sei vom dort vorherrschenden Calvinismus beeinflusst und im Weltkrieg stünden sich »hie Luthertum – dort Calvinismus«65 gegenüber, antwortete neben Wilhelm Kolfhaus66 auch August Lang umgehend in der RKZ. »Wir Deutsch-Reformierten verbitten es uns, daß man auf England haut, und unser Bekenntnis meint.« A. Lang warnte davor, die Engländer einfach zu verurteilen. Auch die englischen Christen wären subjektiv von der Richtigkeit der eigenen Kriegsführung überzeugt. Obwohl diese verblendet wären und an einer »Politik schnöder Ungerechtigkeit … mitschuldig« würden, gäbe es »keinen Grund, das englische Christentum deshalb in Bausch und Bogen zu verwerfen. Was an ihm groß und vorbildlich ist, seine gesegnete Vergangenheit, seine Missionstätigkeit und vieles andere, das kann und soll es auch fernerhin bleiben.« In dieser Einschätzung ging der erweckliche reformierte A. Lang übrigens ganz einig mit dem liberalen lutherischen Otto Baumgarten und dem frühen Ökumeniker Friedrich Siegmund-Schultze. Man dürfe nicht kleinste Sekten, die England mit Israel oder dem verlorenen Stamm Israels identifizierten (»Angloisraeliten«), für Repräsentanten des englischen Christentums halten, führte A. Lang weiter aus. Nicht zu viel, sondern zu 63

Im deutschen Original wiedergegeben in August Lang, Amerikanische Christen und der Krieg [erster Teil], in: RKZ 64 (1914), Nr. 48, 29. November 1914, S. 333–335, hier: S. 334; vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 123f. 64 Eine Zusammenfassung stellt dar August Lang, Amerikanische Christen und der Krieg [zweiter Teil], in: RKZ 64 (1914), Nr. 49, 6. Dezember 1914, S. 337–339. 65 Nachrichten, in: RKZ 64 (1914), Nr. 49, 6. Dezember 1914, S. 339f. 66 Wilhelm Kolfhaus, Wir und das englische Christentum, in: RKZ 64 (1914), Nr. 50, 13. Dezember 1914, S. 341–343. – Auch zehn Jahre später wertschätzte Kolfhaus das englische Christentum, vgl. ders., Angelsächsische Frömmigkeit, in: RKZ 74 (1924), S. 190f.

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wenig – calvinistischer – Puritanismus herrsche in der englischen Gesellschaft. Zu beklagen sei neben einem Nachlassen der »sogenannten evangelikalen Bewegung« und »ein[em] Anwachsen der liberalen Theologie« besonders »ein noch fortwährendes Steigen des hochkirchlichritualistischen, halb katholischen Geistes«.67 Da der Anglikanismus aktuell gar nicht mehr protestantisch, sondern »anglokatholisch« sein wolle, könne England sich auch mit Frankreich sowie mit Serbien und gar Russland zusammenschließen.68 In der RKZ, die zunächst auch die bekannten Friedensinitiativen und Erklärungen mitteilte,69 wurde oft zur Demut70 und zum Sündenbekenntnis71 aufgerufen, so dass von einer Dominanz eines banalen Hurra-Patriotismus oder gar einer »Euphorie«72 nicht die Rede sein kann. Die Kriegszeit sei als Notzeit vor allem auch eine Zeit der Begegnung mit Gott, wie man in den Augusttagen in der Heimat erlebt habe. 67

August Lang, Deutsches und englisches Christentum im Kriege, in: RKZ 64 (1914), Nr. 51, 20. Dezember 1914, S. 345–347, hier: S. 346. Vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 124. 68 Lang, Deutsches und englisches Christentum, a.a.O., S. 347. 69 Die Antwort von Dryander/Lahusen auf die Bitte des französischen Geistlichen Charles Babut in RKZ 64 (1914), Nr. 44, 1. November 1914, S. 319f.; Söderbloms Friedensaktion 1914 in RKZ 64 (1914), Nr. 46, 15. November 1914, S. 328; RKZ 65 (1915), Nr. 2, 10. Januar 1915, S. 14: Bericht über »An die evangelischen Christen im Auslande« und die Antwort der 42 englischen Theologen. Diese und andere Erklärungen in: Gerhard Besier, Die protestantischen Kirchen Europas im Ersten Weltkrieg. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Göttingen 1984. – Bezeichnenderweise finden sich unter den Unterzeichnern solcher öffentlichen Äußerungen des deutschen Protestantismus keine Reformierten – mit der Ausnahme von Eduard de Neufville (1857–1942) aus der Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt, der sich zuvor in der internationalen Friedensbewegung engagierte hatte; vgl. Balke, Eduard de Neufville und Charles Correvon, a.a.O. 70 Vgl. etwa [Theodor Lang], Heil! Hiob 22,29, in: RKZ 64 (1914), Nr. 36, 6. September 1914, S. 281. 71 Vgl. [Theodor Lang], Sieg! Psalm 98,1–3, in: RKZ 64 (1914), Nr. 37, 13. September 1914, S. 289. 72 Nicht kritisch genug gegenüber der zeitgenössischen Propaganda und ohne Rekurs auf die auch 2002 bereits vorliegende sozialgeschichtliche Forschung zum Ersten Weltkrieg ist wenig gelungen Rudolf Mohr, 1914: Warum Euphorie beim Ausbruch des Krieges?, in: MEKGR 51 (2002), S. 109–121. – Vgl. Frank Becker, Protestantische Euphorien. 1870/71, 1914 und 1933, in: Gailus/Lehmann, Nationalprotestantische Mentalitäten, a.a.O., S. 19–44, bes. S. 30–36. »Begeisterung« war von Presse, Politik und Theologen kommuniziert, aber erstens gibt es auch Belege für eine gedrückte Stimmung, und zweitens könnte die »Begeisterung« auch eine Kompensation von Angst gewesen sein, worauf schon zeitgenössische Volkskundler hinwiesen, vgl. Ralph Winkle, Kriegsvolkskunde. Zur Empirie religiöser und religioider Phänomene 1914 bis 1918, in: Birgit Weyel u.a. (Hg.), Praktische Theologie und empirische Religionsforschung (VWGTh 39), Leipzig 2013, S. 65–99, hier: S. 71f. Insofern muss man kritisch lesen, wenn August Lang sich nach drei Dekaden erinnerte: »Selbstverständlich wurde auch ich mit den Meinigen von den hohen Wogen der Begeisterung ergriffen, die seit dem 1. August 1914 unser ganzes Volk durchwogten.« A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 123.

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Diesen religiösen Aufbruch gelte es in der Heimat zu bewahren, während auf den Schlachtfeldern die Soldaten sich in der Gefahr Gott anvertrauen sollten.73 Früh schon wurde in der RKZ darauf hingewiesen, dass »[d]er männermordende Krieg« nicht rasch zu Ende sein würde74 und dass er selbst bei eigenen Siegen große Zerstörungen herbeiführe. Der – wie es oft hieß: »schreckliche« – Krieg wurde weder verharmlost noch idealisiert: Der »Kriegsschauplatz« wurde wahrgenommen »mit seinem Kanonengebrüll, mit seinem Schlachten und Morden, seinem Siegen und Unterliegen, seinem Ächzen und Stöhnen«. Das alles sei nur zu ertragen im Vertrauen auf Gott – der auch nach Meinung des RKZHerausgebers freilich letztlich Deutschland den Sieg gäbe.75 »Furchtbare Wunden schlägt der von [Gott] zugelassene Krieg. Aus tausend und abertausend blutet nicht nur der Feind, nein auch Deutschland. Es wird lange, lange dauern, bis sie geheilt sind und die Narben werden bleiben bis ans Ende.« Vorwärts könne es nur gehen, wenn man gleichzeitig den Ruf wie in den ersten Kriegstagen vernähme: »Zurück zu unserem Gott!«76 Schon bald wurde auch auf »Trost«-Literatur hingewiesen.77 Explizit wurde die »Theodicee«-Frage von E.F. Karl Müller aufgegriffen. Wenn auch selbst Opfer der deutschen Kriegspropaganda, sah Müller doch ernsthaft die Gottesfrage gestellt, denn »[i]n irgend einem Sinne ist Leiden und Krieg gegen Gottes Willen«.78 Aber solange es Sünde gäbe, gäbe es auch Kriege, und so müssten Kriege verstanden werden »als ein Gericht des gerechten Gottes.« Mit reformatorischen Belegen führte Müller aus, dass Kriege nutzen, indem die Vorkriegszeiten »zu frommer Sammlung und innerem Fortschritt« antrieben, und dass Christen bei »gut Gewissen« Kriege gerecht führen dürften79 – beides traf nach Müllers Ansicht auf Deutschland zu. Da der Krieg noch größeres Unrecht wehren könne, könne »der Gott der Liebe seine Kinder durch den Krieg segnen«,80 wie deutsche Reformierte in ihrer Zeitschrift lesen konnten. 73

Vgl. etwa [Theodor Lang], Gott begegnen! Amos 4,12b, in: RKZ 64 (1914), Nr. 34, 23. August 1914, S. 265. 74 Zur Lage, in: RKZ 64 (1914), Nr. 36, 6. September 1914, S. 285. Es brauche »Geduld«, so schon gleich nach Beginn des Stellungskrieges ab Oktober 1914: [Theodor Lang], Geduld! Ebr. [Hebräer] 10,36, in: RKZ 64 (1914), Nr. 43, 25. Oktober 1914, S. 313. 75 [Theodor Lang], Des zitternden Landes Zuversicht! Psalm 75,4, in: RKZ 64 (1914), Nr. 39, 27. September 1914, S. 297. 76 [Theodor Lang], Zurück zu unserem Gott! Jerem[ia] 3,22 und 23, in: RKZ 64 (1914), Nr. 46, 15. November 1914, S. 325. 77 Ab RKZ 64 (1914), Nr. 38, 20. September 1914: Hinweise auf Kriegsandachten und »Trostschriften«. 78 E.F. Karl Müller, Kann der Gott der Liebe ein Gott des Krieges sein?, in: RKZ 64 (1914), Nr. 46, 15. November 1914, S. 325–327; Nr. 47, 22. November 1914, S. 329f., hier: S. 326. 79 A.a.O., S. 329. 80 A.a.O., S. 330. – Die Theodizee-Frage blieb aktuell: Den Krieg stärker als göttlichen Bußruf verstanden [Friedrich Wilhelm] Hützen, Ist dieser Krieg von Gott?, in: RKZ 67

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So fand man in der RKZ, die in allen reformierten Lagern und Regionen gelesen wurde, zwar auch Nationalprotestantisches wie in anderen kirchlichen Zeitschriften, jedoch auch Kritisches zum Krieg und Nuancen, die anderswo kaum wahrnehmbar waren. 2.1.6 Resümee Man wird für den Kriegsausbruch, für die Zeit der ersten militärischen »Erfolge«, aber auch für den Beginn des Stellungskrieges resümieren können, dass bei den Reformierten in Deutschland selbst bei patriotischer Gesinnung nur wenig Platz für überbordenden Nationalismus war und der Krieg nicht heroisch gesehen wurde. Je höher jedoch in der staatskirchlichen Hierarchie, je näher der weltlichen Herrschaft, desto nationalprotestantischer waren auch reformierte Theologen. Der Krieg war zwar notwendig, gerecht, wenigen Vertretern sogar »heilig«, aber er war immer auch schrecklich und ein Gericht Gottes – über die ganze Welt, auch über das eigene Volk.81 Freilich findet sich die religiöse Deutung der Katastrophe des Kriegs auch mit apokalyptischen Vorstellungen als ein Gericht Gottes, das über alle Menschen, über Täter und Opfer, über die ganze sündige Welt ergeht, in praktisch allen Denominationen in allen Ländern. Die nationalprotestantische Umkehrung des Krieges in eine »heilige« Handlung und die Deutung des Kriegsdienstes als Vollstreckung des göttlichen Strafgerichts an andere Völker, lehnten »[n]ur wenige Außenseiter innerhalb des deutschen Protestantismus«82 ab; zu diesen Außenseitern gehörten nicht wenige Reformierte. 2.2 »Durchhalten!« Die Jahre 1915/1916 Mit Dauer des Krieges wurde die deutsche Gesellschaft zunehmend kriegsaffiziert. Kriegskritische Stimmen wurden marginalisiert. Der eben nicht rasch und siegreich beendete Krieg musste begründet werden, wobei Theologen nicht zuletzt auf überweltliche Gründe rekurrierten. So bezog man sich auf das »gemeinsame Erleben«, auf die wieder erstarkte Religion des mächtigen Gottes: »Nun kam mit dem Ausbruch dieses gewaltigen Krieges Gott auf dem allerkürzesten Wege zu uns …: hier bin ich, der lebendige Gott, erkennet, daß ich Gott bin! Es ist der Gott der alten, viel übersehenen Bibel. Es ist der Gott des Alten Testamentes voll Heiligkeit und Majestät. Es ist der grandiose Gottesglaube (1917), Nr. 13, 21. April 1917, S. 98f.; [Heinrich] C[alaminus], Warum?, in: Nr. 42, 21. Oktober 1917, S. 329f. 81 »[D]er Krieg war Gottes Fügung, sein Gericht über die Völker, die alle miteinander in den langen Friedensjahren zu üppig, zu weltselig geworden waren.« A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 122. 82 Becker, Protestantische Euphorien, a.a.O., S. 35f. – Zur Beschreibung der öffentlichen Mehrheitsmeinung vgl. Brakelmann, Kriegsprotestantismus, a.a.O.

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der Propheten, der sich wieder unter uns zum Worte meldet.«83 Ein zunächst oft verwendetes Adjektiv war »heilig«. In der RKZ waren auch Aufsätze und Beiträge nicht-reformierter Herkunft zu lesen.84 Man nahm also selbstverständlich teil an den gesamtgesellschaftlichen und gesamtprotestantischen Entwicklungen und Tendenzen. Auch wenn es innerhalb der Jahre 1915 und 1916 Veränderungen gab, sollen sie hier als ein Abschnitt dargestellt werden, da das Epochenjahr 1917 dann spezifische Kriegs- und Kirchenthemen hatte. 2.2.1 Die Feinde Die heftigen Polemiken gegen die Kriegsgegner verstetigten sich in den Jahren 1915 und 1916. In der RKZ waren sie vor allem im Nachrichtenteil »Zur Lage« von Theodor Lang zu finden. Russland wurde als dumpf und dumm dargestellt. Im Hinblick auf Belgien genügte der immer wieder einmal platzierte Hinweis auf den angeblichen Franktireurkrieg,85 Italien wurde wegen seiner »Treulosigkeit und Ehrlosigkeit«86 geziehen. Trotz der Radikalisierung gab es deutlich wahrnehmbare Unterschiede, was die Charaktersierung Englands anging. Natürlich war England das »perfide Albion«,87 das als »niederträchtig« und »scheinheilig« charakterisiert wurde. Es war gewiss nicht leicht, diese massive Meinung öffentlich zu relativieren, wie es August Lang gegen Theodor Lang immer wieder versucht hat. Das versuchte er auch im Hinblick auf den »Erbfeind« Frankreich: »Zu den betrübendsten Erscheinungen des Weltkrieges gehört es, daß in der Erregung der völkischen Leidenschaften die Brüder aus demselben Hause der Reformation so weit auseinandergerissen sind. Wir deutschen Reformirten spüren das mit am härtesten, und besonders leid tut es uns, daß sich ein so starker Riß zwischen uns, die wir 1909 Calvin so begeistert gefeiert haben, und den heutigen Nach83

Theodor Lang, Die religiöse Kraft des Krieges, in: RKZ 65 (1915), Nr. 3, 17. Januar 1915, S. 18f.; Nr. 4, 24. Januar 1915, S. 26f., hier: S. 19. – Anders als im Gesamtprotestantismus kam es bei den Reformierten nicht zu einer signifikanten Verschiebung der Predigttexte zum Alten Testament, da in dieser Tradition das AT als Wort Gottes ohnehin wertgeschätzt und nicht funktional dem NT subordiniert wurde. 84 Etwa J[ohannes] Eger, Der Krieg eine Notwendigkeit der Menschheitsgeschichte, RKZ 65 (1915), Nr. 1, 3. Januar 1915, S. 2–4; Nr. 2, 10. Januar 1915, S. 9–12, oder auch [Renatus] Hupfeld, Das religiöse Problem des Krieges, in: RKZ 65 (1915), Nr. 5, 31. Januar 1915, S. 34–36; Nr. 6, 7. Februar 1915, S. 42–44. 85 Eine Andacht zu Epheser 6,11 war mit »Franktireurkrieg« überschrieben und stellte die deutsche Propagandaperspektive dar, in: RKZ 65 (1915), Nr. 33, 15. August 1915, S. 257. 86 RKZ 65 (1915), Nr. 28, 11. Juli 1915, S. 221. 87 »Wir tun recht daran, Albions heuchlerische Beschwerden über unsere Kriegsführung mit heiligem Zorn abzuweisen.« RKZ 65 (1915), Nr. 9, 28. Februar 1915, S. 70. Der Ausdruck »perfides Albion« war schon lange ein geprägter Begriff, nicht zuerst in Deutschland, sondern seit dem 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich.

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fahren der alten Hugenotten aufgetan hat.«88 Aber es gab auch andere Töne: »Da liegen Abgründe zwischen deutschem und französischem Wesen, die unüberbrückbar sind.« Man wolle deshalb zu recht »möglichst wenig von französischer Denk- und Empfindungsweise berührt … werden«, wie der Elberfelder Pfarrer Wilhelm Kolfhaus forderte.89 Bei August Lang spürte man zwar einen Riss, aber er verweigerte sich doch einem Hass. So spielte er sogar mit dem Gedanken, neben dem angloamerikanisch dominierten Reformierten Weltbund einen Reformierten Bund für den Kontinent zu initiieren und dachte dabei an die kriegsneutralen Schweizer und Niederländer sowie an die Reformierten, die in mit dem Deutschen Reich paktierenden Ländern lebten – England dagegen war ausgeschlossen. Nicht alle jedoch waren bereit, die reformierten Freundschaften in der Ökumene weiter zu pflegen. Während der Sitzung des Moderamens des Reformierten Bundes fragte der Göttinger Pfarrer Johann Adam Heilmann (1860–1930) nach der besonderen Leistung der reformierten Kirche in der Kriegszeit, warnte vor der Stärke der katholischen und lutherischen Kirche und meinte: »Die ref[ormierte] Kirche war stark international, aber die Verbindung mit Hugenotten u[nd] Schotten würde heute nur schaden«.90 Und doch war es auch möglich, für die Zeit nach dem Krieg auf eine Intensivierung des »brüderliche[n] Verkehr[s]« zu hoffen.91 Trotz der relativierenden Einsprüche August Langs folgte man in der reformierten Öffentlichkeit doch insgesamt der immer stärker vom Militär gelenkten Propaganda und berichtete in völliger Verkehrung historischer Sachverhalte, dass »die sogenannten ›armenischen Greuel‹« auch so zu Stande kommen wären, weil die Engländer den Armeniern Waffen für den Terror gegen die Türkei gegeben hätten, um schließlich in Amerika an die »Humanität« appellieren zu können. Das sei verlogen, zumal US-Präsident Woodrow Wilson als »Waffenschieber« hinterrücks gegen Deutschland agiere und eben nicht neutral wäre. Deutschland dagegen täte alles, die christlichen Untertanen der befreundeten Türkei zu schützen.92 Reale Begegnungen mit den Kriegsfeinden fanden im eigenen Land statt, wo Hunderttausende Kriegsgefangene in Lagern festgehalten wurden. Diese wurden auch wirtschaftlich ausgebeutet, etwa bei Ernteein88 August Lang, Deutschland und die französischen Protestanten, in: RKZ 66 (1916), Nr. 10, 5. März 1916, S. 77. 89 Wilhelm Kolfhaus, Über die Geistesverfassung des französischen Protestantismus, Nr. 25, 24. Juni 1916, S. 194f., hier: S. 195. 90 Moderamenssitzung, Kassel, 26. Mai 1915, in: LLK Dep. RB 126 [22.5] Protokolle über Moderamenstagungen 1908–1933, S. 87–90, hier: S. 87. 91 [Eduard] Theopold, Die Kriegsaufgaben des Reformirten Bundes, in: RKZ 66 (1916), Nr. 50, 10. Dezember 1916, S. 393–396. 92 RKZ 66 (1916), Nr. 2, 9. Januar 1916, S. 16.

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sätzen. Ganz offenkundig folgte man auch hier der Propaganda und sprach seit 1915 von »der mustergültigen Versorgung der Kriegsgefangenen«93 in Deutschland, während man dagegen die schlimmsten Verhältnisse für Deutsche in französischer Kriegsgefangenschaft beklagte.94 2.2.2 Nationalisiertes Christentum? »Wir kennen keinen deutschen Gott«! Im Zusammenhang mit den Aversionen gegen England wurden auch die englischen Einflüsse auf die praxis pietatis in Deutschland abgelehnt. So wurde Klage geführt, »wie tief das Fremde unser Christentum durchtränkt hat.« Auch wenn das Christentum allen Völkern gelte, so käme es doch eben nur jeweils im bestimmten Volk zu einem authentischen Ausdruck: »Gerade in seiner Eigenart soll jeder Mensch und jedes Volk Gott dienen. Darum: uns Deutschen – deutsches Christentum!«95 Neben diesen harten Tönen waren aber auch andere zu vernehmen. Eine direkte Auseinandersetzung mit der soeben skizzierten Position stellte ein Vortrag von Wilhelm Kolfhaus auf einer »reformierten Frühjahrskonferenz für Rheinland und Westfalen« dar. Er warnte einerseits vor einer Verschmelzung von Christentum und Volkstum, wie dies etwa in England geschehen wäre: »Nur kein nationalisiertes Christentum!« Diese Gefahr bestünde durchaus auch in Deutschland: »[S]ind wir ganz frei geblieben vom ›deutschen Christentum‹ im übeln Sinn des Wortes? Gerade jetzt im Krieg will doch vielfach eine deutsche Religion erwachsen.«96 Andererseits wäre aber auch eine Aufgabe des Volkstums, wie sie im 19. Jahrhundert in den Niederlanden gedroht hätte, verfehlt. »Wundervoll ist die Ausprägung des Christentums in den verschiedenen Eigenarten der Nationen.« Alles sei und bleibe Christentum, aber die »Internationale der Völker« stünde unter dem eschatologischen Vorbehalt: »Erst, wenn Gott es will, wird das Endziel erreicht: Aufhebung der nationalen Schranken, eine Herde unter einem Hirten!« Bis zu diesem Ziel möge »das Christentum sich damit begnügen, zerrissene Fäden anzuknüpfen, Brücken inneren Verstehens zu bauen, die Volkstümer bei aller zu wahrenden Selbständigkeit immer wieder untereinander zu ver-

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Z.B. in RKZ 66 (1916), Nr. 1, 2. Januar 1916, S. 7. – Vgl. auch Balke, Eduard de Neufville und Charles Correvon, a.a.O. – Im Archiv der Lippischen Landeskirche sind – in der Regel tragisch endende – Fälle überliefert, in denen sich junge deutsche Frauen in (westeuropäische) Kriegsgefangene verliebten und schwanger wurden. 94 Vgl. RKZ 66 (1916), Nr. 34, 20. August 1916, S. 271. 95 R. [wahrscheinlich: Wilhelm Rotscheidt, der nicht mit dem Alttestamentler Wilhelm Rothstein verwechselt werden darf, vgl. Anm. 7; vgl. Anm. 105], Deutsches Christentum, in: RKZ 65 (1915), Nr. 20, 16. Mai 1915, S. 153f. – Die RKZ-Texte von »R.« sind noch stärker nationalprotestantisch geprägt als die des Schriftleiters. 96 »›Deutsches Christentum‹, das ist das Schlagwort der gegenwärtigen Zeit.« So in einer Rezension von n.n., RKZ 66 (1916), Nr. 28, 9. Juli 1916, S. 221.

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binden.«97 Darum hatte sich August Lang unmittelbar vor dem großen Krieg bemüht und teilte wie zu Kriegsbeginn aus den USA nun deutschfreundliche Stimmen aus England mit.98 Eine grundsätzlich positive Würdigung unterschiedlicher Volkstümer, damit einhergehend eine Bejahung des »nationalen Gedankens« unter eindeutiger Verwerfung eines »Nationalismus oder nationalen Chauvinismus«, der auf andere Völker »in pharisäischer Art« herabblickt, fand sich im Mai 1916 breit in der RKZ ausgeführt: »Weg mit dem Nationalismus, der die Ausbreitung des Evangeliums hemmt! Weg mit der Überspannung des nationalen Gedankens! Wir kennen keinen deutschen Gott, keinen germanischen Christus und kein germanisches Christentum, das sich vom Boden der heiligen Schrift gelöst hat, weil sie angeblich dem deutschen Wesen Fremdartiges bringt. Gottes Wort ist allem natürlichen Wesen fremdartig und schlägt den Stolz, auch den nationalen Stolz, danieder.«99 Ähnlich wurde während der »Kriegstagung« im September 1916 in Halle ausgehend von einer »selbstverständlichen« Bejahung der »nationalen Einigkeit« die Gefahr formuliert, dass eine »deutsche Religion«100 das Land spalten müsse. Auch der nationalprotestantische Theodor Lang unterstützte die binnenkirchliche Abwehr dieser völkischen Religion.101 Eine neugermanische Religion und damit einhergehend eine Kritik an 97

So die Position von Wilhelm Kolfhaus wiedergegeben von n.n. [wahrscheinlich Theodor Lang], Die reformirte Frühjahrskonferenz für Rheinland und Westfalen, in: RKZ 65 (1915), Nr. 21, 23. Mai 1915, S. 161f. Vgl. auch Kolfhaus’ harsche Kritik an den nationalistischen »Kriegspredigten«, wiedergegeben in Stefan Flesch, Der Erste Weltkrieg, in: Thomas Martin Schneider (Hg.), Krise und Neuordnung im Zeitalter der Weltkriege: 1914–1948 (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 4), Bonn 2013, S. 1–31, hier: S. 17. – Allerdings äußerte sich auch Kolfhaus später sehr englandfeindlich in der Rezension, Zur Beurteilung englischer Frömmigkeit, in: RKZ 67 (1917), Nr. 45, 11. November 1917, S. 358. 98 August Lang, Ein Warner in England, in: RKZ 65 (1915), Nr. 36, 5. September 1915, S. 281–283. Neben Kritik fand sich einige Wertschätzung für das englische Christentum in E.F. Karl Müller, Predigt zur Kriegstagung des reformirten Bundes, in: RKZ 66 (1916), Nr. 48, 26. Januar 1916, S. 377–380. – August Lang publizierte noch 1917: Bekenntnis und Katechismus in der englischen Kirche unter Heinrich VIII., Gütersloh 1917. Ein anderer Kirchenhistoriker mühte sich ebenfalls: Albert Hauck, Deutschland und England in ihren kirchlichen Beziehungen. Acht Vorlesungen, im Oktober 1916 an der Universität Uppsala, Leipzig 1917. 99 [Emil] Schneider, Der nationale Gedanke und die Gemeinde Jesu Christi, in: RKZ 66 (1916), Nr. 19, 7. Mai 1916, S. 145–148, hier: S. 148. Hier wird übrigens neben Luther auch Calvin positiv gewürdigt, a.a.O., S. 147. 100 Deren »Dogma« würde wohl lauten: »Du gehörst dem deutschen Volke an und mußt es lieben über alles, und dem Gott glauben, der sich in deutschem Geiste und in deutscher Geschichte offenbart und dessen Nähe du im Dome der deutschen Wälder empfindest.« Theopold, Kriegsaufgaben, a.a.O., S. 394. – Unter unzähligen Beispielen könnte genannt werden das Gedicht »Der deutsche Gott« von Will Vesper, das zur Verehrung Wotans hinführte. 101 Vgl. etwa RKZ 67 (1917), Nr. 38, 23. September 1917, S. 303.

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der traditionellen Sündenlehre fanden keine Zustimmung unter Reformierten. Der allgemeinen Ablehnung der Kriegsgegner entsprach auch die eigene nationale Selbstvergewisserung. Immer mehr wurde das Adjektiv »deutsch« benutzt: die »deutsche Art« oder das »deutsche Wesen«. Hierfür stand neben anderen historischen Heroen nicht zuletzt Luther. Das geschah affirmativ in Deutschland selbst, auch außerhalb kirchlicher Bezüge, vor allem jedoch im lutherisch dominierten deutschen Protestantismus. Und es kam zu einer solchen Fremdzuschreibung, dann allerdings pejorativ: Franzosen wiesen polemisch nicht zuletzt auf Luther als typischen Deutschen hin und hoben dagegen Jean Calvin und die Hugenotten als religiöse Vorbilder hervor.102 Das war für die deutschen Reformierten außerordentlich heikel, die sich zwar auch zu Calvin bekannten, aber nicht als anti-deutsch gelten wollten, indem sie sich von Luther distanzierten oder vielmehr von ihm distanziert wurden. So rekurrierten Reformierte während des Ersten Weltkriegs nur wenig auf Calvin – oder man versuchte gar, Calvin den Franzosen zu enteignen.103 Man sah sich veranlasst, gerade angesichts der konfessionellen Polemik die eigene nationale Gesinnung zu demonstrieren: »Man hat in jüngster Zeit bei dem Reformationsfeste [sc. 1915] versucht, die Zerklüftung Deutschlands in früheren Zeiten dem Zwiespalte zwischen Zwingli und Luther und den ›französischen Einfluß‹ in den Niederlanden dem Calvinismus schuld zu geben.« Um diese Meinung ostentativ zu falsifizieren, zeichnete der Reformierte Bund Kriegsanleihen für 10.000 Mark.104 Der »Calvinismus« mache also nicht unpatriotisch, lautete die Botschaft. Besser war allerdings in diesen Jahren der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli zu gebrauchen, der als der – deutsche! – Kriegsmann unter den Reformatoren stark gemacht wurde.105 102

Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014, S. 26. 103 So in einem Gedicht: M., Noyon!, in: RKZ 65 (1915), Nr. 8, 21. Februar 1915, S. 57. Nun sei Noyon, das in Frankreich als Geburtsort des größten Sohnes verkannt wurde, in deutscher Hand. Calvin jedoch wurde aus Frankreich verdrängt und fand als Weltbürger dann Heimat in der Schweiz. Sein Einfluss habe Preußen geschaffen: »Das, Frankreich, war Johann Calvin, / Der Christ, dein größter Sohn. / Wir ehren, wir behalten ihn / Und halten Noyon!« Der vollständige Text als Anhang bei Jochen Desel, Krieg der Schilder. Das Geburtshaus Johannes Calvins in Noyon im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 478–484, hier: S. 484. 104 RKZ 65 (1915), Nr. 48. 28. November 1915, S. 383. – Diese Transaktion entsprach nicht dem in der Satzung statuierten Vereinszweck; der abgegebene Betrag war für den Verein nahezu existenzbedrohend, allerdings im Vergleich zu anderen kirchlichen Anleihe-Käufen gering – so zeichnete die preußische Landeskirche für 200 Millionen Mark Kriegsanleihen. 105 Vgl. [Christoph] Fikenscher, Zwingli, der Kriegsmann unter den Reformatoren, in: RKZ 65 (1915), Nr. 4, 24. Januar 1915, S. 28f.; ders., Zwingli und der Krieg, in: RKZ

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Im Laufe des Jahres 1916 scheinen die Adjektive »heilig« und »deutsch« eher wieder an Kraft zu verlieren. Möglicherweise war eben unterdes nicht zu übersehen, dass im Krieg doch nicht so viel Heiliges auszumachen war, weder im Kriegsgeschehen selbst noch bei den verheerenden Wirkungen zu Hause. Die RKZ druckte stetig weniger Kriegsgedichte ab; sie verschwanden schließlich nahezu ganz. 2.2.3 Gemeindeleben Die Pfarrer vor Ort, die nicht zum Deutschen Heer oder zur Kaiserlichen Marine eingezogen wurden, waren stark durch Vertretungsdienste und durch die spezifischen Kriegsaufgaben belastet: Gottesdienste thematisierten fast immer den Krieg;106 Kriegsbetstunden wurden abgehalten, auch wenn sie bald nur noch wenige Besucher anzogen; die Pfarrer gestalteten vaterländische Gemeindeabende und hielten die Gefallenenehrungen ab; man war für die Übermittlung der Trauernachricht und für die Fürsorge an den Witwen und Waisen, für die Diakonie und die Seelsorge an Verwundeten vor Ort und in den Lazaretten sowie für die Hilfen an Soldaten im Feld107 verantwortlich. Die Kirchen wirkten bei Staatsaufgaben mit. Die Konsistorialakten in Aurich und Detmold, in denen sich eine Flut von Drucksachen von staatlichen und quasistaatlichen Stellen findet, zeigen, in welch starkem Maße sich die Staats65 (1915), Nr. 46, 14. November 1915; Nr. 47, 21. November 1915, S. 370–372; Nr. 48. 28. November 1915, S. 377–379. 106 Ein von vielen reformierten Pfarrern benutztes Hilfsbuch wird gewesen sein: Wilhelm Rotscheidt, Der evangelische Pfarrer in Kriegszeiten als Liturg und Prediger. Eine Handreichung, Neukirchen 1914. Es wurde massiv in der RKZ von Winter 1914/1915 bis Ende 1915 beworben. W. Rotscheidt (1872–1945) war reformierter Pfarrer in Lehe (1906–1910), Moers (1910–1917) und Essen-Altendorf (1917–1937), vgl. Albert Rosenkranz, In memoriam, in: MEKGR 1 (1952), S. 1f. Das Büchlein von Rotscheidt ist in einigem signifikant: Nahezu 2/3 der vorgeschlagenen Bibeltexte sind alttestamentlich; diese Texte sind wie auch viele der »Eingangssprüche« aus dem biblischen Kontext gerissen und auf das eigene Volk bezogen. Es finden sich sogar explizit »Schriftlesungen« »gegen England« und »gegen Belgien«. Der größte Abschnitt bietet Gebete aus der Tradition oder solche, die von den zeitgenössischen Kirchenbehörden angeordnet worden waren. 107 Das geschah teils durch persönliche Briefe und nicht zuletzt durch Druckerzeugnisse: Das Presbyterium der Domgemeinde Halle gab eine Kurzfassung des Heidelberger Katechismus »Der einige Trost im Leben und im Sterben für unsere Krieger«, Halle 1914 (mehrere Auflagen gingen in die Tausende), heraus; es gab unzählige gedruckte Grußkarten, Gemeindebriefe und Predigten, die von Pfarrämtern ins »Feld« verschickt wurden, etwa auch die Predigten von Lütge/Locher (wie Anm. 29) oder auch drei »Grüße«-Broschüren an die Soldaten von Konsistorialrat Hermann Josephson (Halle, 1915). Im landeskirchlichen Archiv Detmold findet sich eine große Sammlung von Gemeindeblättern, die an die Soldaten versandt worden sind. Die Soldaten erfuhren – wie auch immer »geschönt« – Nachrichten von zu Hause, und umgekehrt wurden besonders bewegende Feldpostbriefe in kirchlichen Medien, auch in der RKZ (v.a. von ehemaligen Bewohnern des Reformierten Conviktes in Halle) veröffentlicht.

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kirche hat für Kriegszwecke vereinnahmen lassen. Es ging dabei um Ernteorganisation, um politische »Aufklärung«, um Werbung für Kriegsanleihen, um die Beschaffung von Rohstoffen von der Unterwäsche bis zum Goldring, es ging um die Abfederung sozialer Lasten, etwa bei der Betreuung von Blinden und Amputierten. All das hatten die Pfarrer in den Gemeinden zu kommunizieren. Unter den herrschenden Kriegsbedingungen ging das volkskirchliche Leben weiter. Durch ausführliche Jahresberichte aus den Gemeinden des Reformierten Bundes sind die Aktivitäten und Stimmungen in den Gemeinden in der RKZ dokumentiert – freilich in der Regel aus der Perspektive der Pfarrer, die für die Informationsweitergabe verantwortlich waren. Ungebrochen scheint nicht zuletzt in evangelischen Gemeinden (das heißt: bei ihren Meinungsmachern) das Zutrauen zur militärischen Führung (Hindenburg), die Verehrung nationaler Helden (Bismarck), vor allem aber die Anhänglichkeit an das preußische Königshaus in diesen Jahren gewesen zu sein.108 Mit zunehmender Kriegsdauer konnte man allerdings nicht mehr die Idealisierungen des Soldatenlebens aufrecht erhalten;109 die Stimmung wurde an der Basis im Laufe des Jahres 1916 immer gedrückter, auch weil es einen klimatisch sehr schlechten Sommer und deshalb auch nur eine geringe Ernte gegeben hatte. Der Winter 1916/1917 fiel hart aus, so dass die auftretenden Antikriegsproteste nicht verwundern können. Die Kirchen – auch die reformierten – hielten dagegen. 2.2.4 »Durchhalten!« Eine deutliche Änderung der Stimmung und Situation ist bereits ab Frühjahr 1915 zu spüren: »[O]b der Übergang aus der heftigen Erregung, der stürmischen Stimmung der ersten Wochen [sc. des Krieges] in die starke Beharrlichkeit, die für die Durchführung eines Weltkrieges notwendig ist, gelingen werde, so hat der gute Geist Deutschlands auch diese Probe bestanden.« So klang der Beitrag der RKZ zur Stabilisierung der öffentlichen Stimmung. »[A]lles in allem ist doch das deutsche Volk ein Heldenvolk«.110 Es ging jetzt nicht mehr um baldige Siege, sondern um die Grundlage späterer Siege, für die sowohl die Soldaten als auch 108

Es finden sich auch reformierte Kaiser-Geburtstags-Predigten (etwa von Paul Humburg und in Lütge/Locher, a.a.O.) und Bismarck-Gedenkpredigten (August Lang). Die RKZ veranstaltete eine Ausgabe zum »Hohenzollerntag« 21. Oktober 1415–1915 (RKZ 65 [1915], Nr. 43, 24. Oktober 1915); vgl. August Lang, Zum Hohenzollern-Jubiläum, in: RKZ 65 (1915), Nr. 47, 21. November 1915, S. 372f.; Nr. 48, 28. November 1915, S. 380f. Ein Bericht über den Festgottesdienst findet sich in Nr. 47, 21. November 1915, S. 374–376. 109 Einen realistischen Blick auf das Fronterleben forderte RKZ 66 (1916), Nr. 37, 10. September 1916, S. 295. 110 RKZ 65 (1915), Nr. 11, 14. März 1915, S. 87.

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die Bevölkerung in der Heimat verantwortlich wären. Es ging darum, »Geduld« zu üben, es ging – so wohl unverändert bis ins Frühjahr 1917 und zahlreich in den o.g. Gemeindeberichten dokumentiert – um das »Durchhalten«. »Kaum ein Wort hat solche Wichtigkeit in diesem Krieg erlangt, wie dieses: Durchhalten!«111 Nicht von ungefähr lautete der Titel einer Agende für Kriegsgottesdienste auch »Durchhalten!«112 Offenkundig wollten die Kirchen, seien sie evangelisch, seien sie katholisch, seien sie reformiert, hier staatlich-militärische Aufgaben unterstützen, nämlich einen Beitrag zur »Ausdauer«113 des Volkes erbringen. Die »eigentliche Aufgabe« der Kirche sei es, »ihren Gliedern und damit unserem Volke Kraft der Seelen im und zum Kampf zu geben, Freudigkeit und Trost, Stärke zum Durchhalten und zu allen Opfern«, wie man in einem sonst eher moderaten RKZ-Beitrag lesen konnte.114 Umso bemerkenswerter ist der Befund, dass sich in den Predigten in der Kohlbrügge-Gemeinde des Wuppertals keine Durchhalte-Parolen finden, sondern dort weiterhin und durchgängig von Gericht und sehr klar und nüchtern vom Elend des Kriegs gesprochen wurde.115 Als grundlegend für ein erfolgreiches »Durchhalten« wurde das Bewahren von »Sittlichkeit« an der Front,116 aber auch in der Heimat an111

RKZ 65 (1915), Nr. 35, 29. August 1915, S. 273 (Andacht zu Epheser 6,13). Auch im Jahrgang 66 (1916) wurde das Schlagwort »Durchhalten!« oft in den Andachten und im Nachrichtenteil genannt. Dieser Begriff wird auch als zentral angesehen in Arnd Bauerkämper / Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010. Es begegnete also wesentlich früher, als es H. Helmich suggeriert, der »die Durchhalteideologie« mit der Gründung der »Vaterlandspartei« (s.u.) verbindet, vgl. Helmich, Wuppertaler Gemeinden, a.a.O., S. 25. 112 Karl Arper / Alfred Zillessen, Durchhalten! Entwürfe, Gebete, Gedichte und Vaterländische Worte für Kriegsgottesdienste. Der Agende für Kriegszeiten 3. Teil, Göttingen 1915. Es lassen sich zahlreiche Broschüren u.a. mit diesem Stichwort im Titel belegen. – Vgl. Günter Brakelmann (Hg.), Protestantische Kriegsagenden und Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Eine Dokumentation und Interpretation (Schriften der Hans-EhrenbergGesellschaft 25), Kamen 2015. 113 So im Grußtelegramm der Landessynode der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover vom 7. November 1916 an den Kaiser und König, in: RKZ 66 (1916), Nr. 50, 10. Dezember 1916, S. 396. 114 [Gustav?] Schürmann, Weltkrieg und Evangelische Kirche, RKZ 66 (1916), Nr. 32, 6. August 1916, S. 250–252, hier: S. 251. »[D]as Durchhalten und Siegen« erwähnt auch E.F. Karl Müller, Predigt zur Kriegstagung, a.a.O., S. 380, sowie Theopold, Kriegsaufgaben, a.a.O., S. 394 (»daß wir durchhalten und siegen«). 115 Vgl. Lütge/Locher (wie Anm. 29). Zum Wuppertaler Kontext vgl. besonders Birgit Siekmann / Peter Schmidtsiefer (Hg.), Feldgraue Mentalitäten. Der Erste Weltkrieg in religiösen Perspektiven aus dem Wuppertal, Nordhausen 2011 (Rez. in MEKGR 61 [2012], S. 382–386). 116 Vgl. [Christoph] Fikenscher, Moratorium des Christentums?, in: RKZ 67 (1917), 22. April 1917, S. 121–125. Der reformierte Stadtpfarrer von Nürnberg, engagiert auch im Evangelischen Bund, verwahrte sich gegen die Meinung, dass das Christentum eigentlich nichts mit Krieg zu tun haben könne – und wenn das internationale Christentum den

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gesehen. Als Maßstab dafür wurden natürlich die christlichen Wertvorstellungen postuliert, die gelegentlich auch Kriegserfordernissen widersprechen konnten. Bereits ab dem Frühjahr 1915 wurde die Frage aufgeworfen und das Anliegen überwiegend zurückgewiesen, dass sonntags außerhalb der ortsüblichen Hauptgottesdienstzeit landwirtschaftlich gearbeitet werden durfte.117 Zunehmend wurde das ›unsittliche Leben‹ in der Großstadt beklagt (Genusssucht, Trunksucht), was angesichts der tapfer kämpfenden und angeblich häufig gläubig gewordenen Soldaten besonders unwürdig wäre. Nahezu stereotyp wurde kritisiert, wie das Verhalten Jugendlicher aus dem Ruder lief. So teilte man die Klage, dass Kinder vaterlos und also verwildert aufwuchsen.118 Auch sah man, dass junge Frauen aus sozialer Not in die Prostitution gezwungen wurden. Man beklagte die gesellschaftlichen Zustände, ohne die durch den Krieg entstandenen sozialen Probleme als politisches Problem zu benennen; man sah in ihnen individualethische Herausforderungen. Die Kirchen, auch die reformierte Szene, disziplinierten also das Volk zu Kriegszwecken. Der Glaube spielte gewiss eine unterstützende Funktion, leitend war sicher nicht minder eine staatstreue Gesinnung, wie August Lang noch nach Jahrzehnten erinnerte: »Die vaterländische Gesinnung, die uns nebst dem Vertrauen, daß der Allmächtige unserer gerechten Sache beistehen werde, die Kraft gab, allen so lange zu trotzen«, schlug sich eben auch in seinen RKZ-Beiträgen nieder.119 Als Paul von Hindenburg, der »Held von Tannenberg«, und sein Adlatus Erich Ludendorff mit der zweiten Obersten Heeresleitung (OHL) ab Sommer 1916 so etwas wie eine Militärdiktatur errichteten, gab es keine dokumentierbaren Proteste aus dem reformierten Lager. 2.3 »Nicht nur Luther!« Das Reformationsjubiläum 1917 Das Jahr 1917 gilt schon seit langem in der Geschichtswissenschaft als »Epochenjahr«. Neben dem Stimmungsumschwung in Teilen der Gesellschaft zu Gunsten eines Verständigungsfriedens und der weiteren Radikalisierung der Propagandisten des Siegfriedens, neben der so genannten »Juli-Krise 1917«, der Friedensresolution der Reichstagsmehrheit und der Entlassung des Reichskanzlers – neben diesen Themen für Weltkrieg nicht hätte verhindern können, dann möge man es doch vorübergehend suspendieren. Wenn auch nicht scharf im Ton, plädierte Fikenscher gegen einen s.E. noch nicht tief genug begründeten christlich-internationalen Pazifismus und sah den Beitrag der evangelischen Kirche zum Krieg, auch den Soldaten zu lehren: »Christ sein heißt jetzt vor allem für sein Volk leben, ihm kämpfen, durchhalten, siegen zu helfen«, a.a.O., S. 123. 117 Vgl. RKZ 65 (1915), Nr. 22, 30. Mai 1915, S. 174, wo auch ein entsprechender Erlass wiedergegeben wurde. 118 RKZ 65 (1915), Nr. 35, 29. August 1915, S. 278 et passim. 119 A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 127.

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die nationale Geschichtsschreibung traten internationale Ereignisse wie die Friedensnote des Papstes im Juni 1917, die russische Revolution einschließlich des Friedens von Brest-Litowsk und der Kriegseintritt der USA mitsamt den 14 Punkten von Woodrow Wilson zu Beginn des Jahres 1918. Dynastien endeten, Gesellschaftsformen wurden transformiert, kommende Diktaturen erlebten einen ideologischen Vorlauf, weltpolitische Verhältnisse wurden neu konfiguriert. Der Protestantismus im Jahr 1917120 versuchte trotz notwendiger Reduzierungen der ursprünglichen Pläne das Reformationsjubiläum flächendeckend zu begehen und sich damit öffentlich zu positionieren. Durch die Vorbereitungen auf dieses Jubiläum und die damit einhergehende Bindung auch der Pressearbeit schlugen sich die politisch-militärischen Ereignisse verhältnismäßig gering in der kirchlichen Öffentlichkeit nieder. Besonders die deutschen Reformierten hatten insofern viel Arbeit mit dem Jubiläum, als dass sie eine vollständige »Lutheranisierung« des deutschen Protestantismus abzuwehren bestrebt waren. Bemerkenswerterweise wiesen Reformierte mit einer Überhöhung Luthers und einer Verengung der Reformation auf Wittenberg auch die damit häufig zusammen gehende Rede vom »deutschen Luther« zurück und warnten vor nationalistischen Weltsichten, die der Krieg hervorgerufen habe. Die Reformierten versuchten vielmehr das Jubiläum für eine bessere konfessionelle Positionierung innerhalb des Gesamtprotestantismus zu nutzen. Dabei wertschätzte man die internationalen reformierten Reformatoren und deren Tradenten, die reformierten Christen weltweit – auch diejenigen in den verfeindeten Nationen.121 Innerhalb der staatskirchlichen Kontexte sollte das Reformationsjubiläum indes auch zum »Durchhalten« beitragen. So verlautbarte der reformierte Konsistorialpräsident aus Aurich: »Wenn es gelingt, in diesem Jubiläumsjahre das Evangelium mit neuer Lebenskraft in die Herzen zu bringen, so wird damit auch eine geistige Erstarkung zum sieghaften Durchhalten im Weltkriege gegeben sein.«122 120 Vgl. die nach wie vor eindrucksvolle Untersuchung Gottfried Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919. Die politische Situation im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 16), Düsseldorf 1959. Vgl. auch Günter Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917 (Politik und Kirche. Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte 1), Witten 1974. 121 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland, in: KZG 26 (2013), S. 238–261 (Wiederabdruck in diesem Band). 122 Bekanntmachung, betreffend Reformationsjubiläum, Aurich, 18. April 1917, Königliches Konsistorium, gez. Iderhoff (Original in: LKA Leer 20.5.19 [Vol I]: Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes [1877ff.], Reformationsfest 1917), in: KGVBl. Nr. 88, 18. April 1917, 328f. (Nr. 366), hier: S. 329.

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Große Teile des deutschen Protestantismus oder deren Funktionäre hätten die Ziele der so genannten »Vaterlandspartei« seit dem September 1917 unterstützt, ist immer wieder zu lesen; richtig ist, dass große Teile der DVLP-Mitglieder protestantisch waren. Die Reformierten hielten sich wohl auf Distanz. Bei ihnen herrschte politische Zurückhaltung vor; man deutete die Gegenwart eher theologisch-religiös. Immerhin veröffentlichte Peter Schumacher in den »Biblischen Zeugnissen« die »Kundgebung der protestantischen Kirchen in den Niederlanden an die Regierungen und Völker«, die im Herbst 1917 das Ende des Krieges forderte.123 Wie nicht anders zu erwarten kamen allerdings in den Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum von Theodor Lang ausgesprochen deutsch-national-protestantische Töne.124 Durchaus martialisch hat er etwa »bezeugt, daß wir in der U-Bootwaffe … ein von Gott uns geschenktes Mittel erkennen«, um England zu besiegen.125 Er votierte gegen einen Verständigungsfrieden,126 wobei er die Stimmungslage wohl verkannte: »Es ist einfach nicht wahr, daß [des Volkes] Mehrheit für irgend einen Erzberger- oder Scheidemann-Frieden ist.«127 Theodor Lang zeigte deutlich Sympathien für die Vaterlandspartei128 und bezeichnete andere Positionen als »politisiert« oder als eine unzulässige Vermischung von Glauben und Politik. Er schreckte auch vor der Denunziation der sich für einen Verständigungsfrieden engagierenden Philipp Scheidemann und Matthias Erzberger nicht zurück.129 Und doch sahen und benannten er wie auch sein Gesinnungsgenosse »R.« in der RKZ ebenso immer klarer die furchtbaren Kriegsfolgen; sie radikalisierten ihre Positionen nicht, sondern begannen, das »Weltliche« zugunsten des »Überweltlichen« abzuwerten und mit dem Gedanken Mut zu machen, dass Gott im Regimente säße.130 Wenn Gott aber im Regimente saß, musste angesichts des Kriegselends in den Kampfgebie-

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Vgl. Koch, Kohlbrüggianer, a.a.O., S. 381. Andere führende Reformierte versuchten diese Positionierung allerdings durch zahlreiche RKZ-Beiträge zu relativieren, vgl. Ulrichs, Gelegenheit, a.a.O. 125 RKZ 67 (1917), Nr. 10, 11. März 1917, S. 78. 126 Theodor Lang, »Deutschlands letzte und größte Not«, in: RKZ 67 (1917), Nr. 42, 21. Oktober 1917, S. 330f. 127 A.a.O., S. 333. 128 Etwa in RKZ 68 (1918), Nr. 1, 6. Januar 1918, S. 4. 129 Th. Lang, »Deutschlands letzte und größte Not«, a.a.O. (hier auch die realitätsferne Einschätzung: »Es gibt keinen Menschen, der nicht längst urteilt: die Gesamtlage militärisch angesehen und beurteilt, haben wir längst den Sieg in der Hand!« A.a.O., S. 331). 130 Vgl. [Wilhelm] R[otscheidt], Was uns fehlt, RKZ 67 (1917), Nr. 36, 9. September 1917, S. 281f.; ders., Mutlosigkeit, Nr. 37, 16. September 1917, S. 289. Vgl. bereits Theodor Lang, Das Elend des Krieges und Gottes Güte, in: RKZ 66 (1916), Nr. 37, 10. September 1916, S. 290.

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ten und in der Heimat131 die Theodizeefrage aufbrechen. Sie wurde nun nach dem Herbst 1914 wieder verstärkt gestellt und mit der reformierten Ansicht von der Majestät Gottes zu beantworten gesucht.132 Nachdem die Jubiläumsfeiern »im allgemeinen erhebend verlaufen« waren, fand man sich unmittelbar wieder in den Kriegsrealitäten des Winters 1917/1918 vor. 2.4 »Verzage nicht!« Vor und nach dem Kriegsende 1918/1919 2.4.1 Das erste Halbjahr 1918 Einen grundlegenden Kurswechsel erlebte die RKZ mit dem Wechsel der Schriftleitung zum 1. April von Theodor Lang auf Hermann Albert Hesse (1877–1957) nicht. Der später so tapfere »Kirchenkämpfer« setzte dem nationalprotestantischen Kurs seines Vorgängers nichts entgegen, änderte allerdings ein wenig die theologische Anmutung des Blattes: Es erschienen vermehrt Beiträge zu Johannes Calvin. Mit dem Jahreswechsel 1917/1918, vollends dann ab dem Frühjahr 1918 wähnte man sich in kriegsentscheidenden Zeiten.133 Nun trat häufiger der Begriff »(nicht) verzagen« auf. Der Glaube wurde auch inmitten aller Welt- und Zeitläufte als Trostgrund herausgestellt, wie schon Gottfried Locher zum Reformationsfest 1917 ausführte: »Wer glaubt, der ist gerecht … Wer glaubt, der ist selig, so sündig und so elend er auch ist. Wer glaubt, der ist selig, auch wenn er in Flandern oder Frankreich oder am Isonzo oder an der Düna oder in Wolhynien mitten im höllischen Feuer, in Löchern oder Spelunken, in Gräben oder Sümpfen, in Nässe und Kälte liegt oder in fernem Lande in Knechtschaft seine Tage fristet, oder in der Heimat in Trübsal, Angst, Sorge und Kummer, in Schmerz und Not dahinlebt. Wer glaubt, der ist selig, auch wenn er seine Seele auf blutgetränkter Erde aushaucht und sein Leib auf fremdem Boden verwesen muß.«134 131

Die schwieriger werdende wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der Mangelgesellschaft wirkte sich auch auf die RKZ aus: Sie erschien ab Dezember 1917 nur im halben Umfang (4 statt 8 Seiten, oft allerdings petit gesetzt, um doch mehr Text platzieren zu können); seit dem Herbst 1917 tauchten auch immer wieder Passagen auf, in der »Vom Zensor gestrichen« zu lesen war. 132 [Heinrich] C[alaminus], Warum? [Andacht zu Hiob 24,1], in: RKZ 67 (1917), Nr. 42, 21. Oktober 1917, S. 329f.; ähnlich der Emder Pfarrer Johannes Conrad, Dient auch das Übel in der Welt zur Verherrlichung Gottes?, Chemnitz 1916. 133 Vgl. etwa Theodor Lang, Heil dem Kaiser! Psalm 21,8, in: Nr. 4, 27. Januar 1918, S. 13: »Jetzt, wo die Entscheidungen über des Vaterlandes Zukunft fallen draußen an der Front und bei den beginnenden Friedensverhandlungen und drinnen in der Heimat bei der einsetzenden Neuorientierung.« 134 Gottfried Locher, Predigt über Epheser 2,8–10 gehalten am 28. Oktober 1917, in: Lütge/Locher (wie Anm. 29), Einzelpaginierung, S. 9f.

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Nach einer kurzen militärischen Euphorie wegen der vorübergehenden Erfolge im Westen und des Waffenstillstandes von Brest-Litowsk im Frühjahr 1918135 verdunkelten sich rasch wieder die Aussichten. Bis zum Sommer war dies noch verbunden mit einer gewissen kirchlichen und politischen Zuspitzung, etwa der Reaktion Hesses auf einen Brief des Consistoire in Genf an den amerikanischen Präsidenten vom 3. Mai 1918: »Der scheinheilige bluttriefende Mammons- und Machtjäger Wilson ein geistiger Sohn Calvins! Das ist die Höhe! Wir haben für dies Genfer Gebahren nichts als Verachtung.«136 Englische »Mitchristen« werden in Anführungszeichen gesetzt und waren also uneigentlich gemeint.137 Eine gewisse Resignation schien sich nun auszuwirken, der Krieg wurde geradezu fatalistisch hingenommen und insofern auch den Friedens- und Verständigungsbemühungen sowie Plänen zu einer friedlichen Weltordnung grundsätzlich widersprochen.138 Ab dem Sommer und während des Herbstes 1918 fanden sich in der RKZ nahezu keine Kriegsmeldungen mehr. Offenbar erwartete man müde und resigniert ein ungünstiges Kriegsende. 2.4.2 Das Kriegsende: »Mag kommen, was will – Gott mit uns!« In den letzten drei Kriegswochen überschlug sich die Kriegskommentierung in der RKZ dann jedoch wieder: »Ereignisse von weltgeschichtlicher Größe, von niederschmetternder Wucht umgeben uns und lösen sich wieder in schier wahnsinniger Hast ab.« »[E]ine unsichtbare Macht« – und nicht etwa die Truppen der Entente! – hole zum »Schlage wider uns aus. Das Mißlingen der großen Offensive im Westen, der Rückzug, der bis zum Augenblick noch nicht stillsteht, der Zusammenbruch der mazedonischen Front, der Abfall der Bulgaren, die Niederlage der Türken, die innere Auflösung der Donaumonarchie, das parlamentarische Regiment in Deutschland, das Bittgesuch um einen Wilson-Frieden, der das Erbe von Jahrzehnten und Jahrhunderten zu vernichten droht, die demütigende Antwort des amerikanischen Präsidenten – wer weiß, was weiter geschehen ist, wenn diese Zeilen dem Leser vorliegen?«139 Zum Kriegsende scheint sich das Pathos des Kriegsbeginns zu wiederholen,140 wie es sich in einem Aufruf der Elberfelder lutherischen und 135

»Gottes Gnade hat uns im Osten einen herrlichen Frieden beschert.« RKZ 68 (1918), Nr. 14, 7. April 1918, S. 56. 136 RKZ 68 (1918), Nr. 23, 9. Juni 1918, S. 92. 137 RKZ 68 (1918), Nr. 27, 7. Juli 1918, S. 111. 138 Vgl. E.F. Karl Müller, Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Friedensreiches auf Erden?, in: RKZ 68 (1918), Nr. 43, 27. Oktober 1918, S. 182–185. 139 RKZ 68 (1918), Nr. 42, 20. Oktober 1918, S. 179: »Zur Lage« (red., Hesse). 140 Deshalb wird im Folgenden wie auch schon für die ersten Kriegswochen vermehrt aus den Quellen zitiert. Anders als bei den pathetischen Predigten zu Kriegsbeginn

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reformierten Presbyterien vom 18. Oktober 1918 widerspiegelte: »Wache auf, deutsches Volk! Die nächsten Tage werden über Sein oder Nichtsein141 des deutschen Reiches, über Ehre und Schmach des deutschen Volkes entscheiden. Was uns einzig retten kann, ist ein einmütiger Zusammenschluß des ganzen Volkes voll heiliger Begeisterung, unbegrenzter Opferfreudigkeit, sittlichen Ernstes … Verzage nicht an deinem Volk! Beuge dich vor Gott! Vertraue auf Gott! Jede Verzagtheit ist des in schwerer Zeit herrlich bewährten deutschen Volkes unwürdig und hilft mit zum Niedergange Deutschlands.« Es folgte »die unerbittliche Forderung« zur radikalen sittlichen Erneuerung, indem alles Verderbliche »hinweggefegt wird«: Lügen, Sonntagsentheiligung, Kino, Bordelle (»Schandhäuser«), Völlerei, Egoismus und Unsittlichkeit. Die reformierten Presbyter glaubten – wohl unter Federführung der Pfarrer, nicht zuletzt Hermann Albert Hesses – drei Wochen vor dem Kriegsende tatsächlich, dass durch sittliche Umkehr das eigene »Volk und Heer … unüberwindlich« würde. Der Aufruf schloss: »Mag kommen, was will – Gott mit uns!«142 Diese theologische und religiöse Pseudo-Entpolitisierung musste in eine verkehrte Politisierung führen.143 Bis unmittelbar vor Kriegsende meinte man mit Gottes Hilfe der politisch-militärischen »Katastrophe« entgehen zu können: »Nun stehen wir allein. Das alte ÖsterreichUngarn, dem wir Nibelungentreue hielten, sank dahin. Die Türkei mußte die Waffen strecken. Einer der beiden Großen an der Spitze unseres Heeres wurde uns genommen.144 Drinnen im Reich gehen die Neugestaltungen mit Riesenschritten vorwärts. Was wird jetzt? Gott sei Dank, daß die Westfront sich festigt. Gott sei Lob und Dank aber vor allem, daß sich die deutlichen Anzeichen mehren, wie im Stillen der heilige Geist in unserem Volk am Werk ist und dem Taumelgeist begegnet, der die Massen ergriff!« Man meinte, so »vor dem Gericht Sodoms …

wurden die Kriegspredigten des Herbstes 1918 in der Regel nicht gedruckt, hatten sie doch nach dem November 1918 keine Funktion mehr. 141 Die Formulierung »Sein oder Nichtsein«, die im Herbst 1918 oft begegnete, schuldete sich nicht nur der Radikalisierungen wegen des sich abzeichnenden Kriegsendes. Wilhelm II. benutzte sie bereits Anfang August 1914. 142 RKZ 68 (1918), Nr. 44, 3. November 1918, S. 191 (auch wiedergegeben in Helmich, Wuppertaler Gemeinden, a.a.O., S. 34). 143 So auch in einem Vortrag am Buß- und Bettag 1918 Hermann Albert Hesse, O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!, in: RKZ 68 (1918), Nr. 49, 8. Dezember 1918, S. 215–218: Die Pfarrer hätten sich »von jeder öffentlichen politischen Betätigung fernzuhalten«, a.a.O., S. 215. Vollnhals konstatierte einen »eklatante[n] Mangel an Wirklichkeitssinn … in vielen Erklärungen« des Herbstes 1918, »der noch in letzter Stunde vom Glauben das Wunder des Sieges erhoffte.« Vollnhals, »Mit Gott für Kaiser und Reich«, a.a.O., S. 673. 144 Erich Ludendorff wurde am 26. Oktober 1918 aus der Obersten Heeresleitung entlassen.

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bewahr[t]« zu werden.145 Auch als die weltliche Obrigkeit, mit der man sich so eng verbunden wusste, abtreten musste, hoffte man auf die himmlischen Mächte, offenbar ohne einen Grund zu sehen, politischgesellschaftlich Fehler einzugestehen oder gar Reue zu bekunden. »Erdenthronen fallen; auch unser geliebter Kaiser und König trat zurück. Aber der Thron Gottes steht ewig fest. Das macht uns innerlich ruhig, ob auch alles wankte und wich, ob auch die Welt in Trümmer ginge. Die Reiche dieser Welt werden einmal Gott und seinem Christus gehören.«146 Eine Woche später hieß es dann: »Die Waffen ruhen. Dem grausigen Blutvergießen ist ein Ende gesetzt. Wie oft haben wir darum gebetet! Wollen wir jetzt das Danken dafür vergessen, weil das Ende so ganz, ganz anders ist, als wie wir gedacht, gehofft, erfleht? Wir träumten von einem größeren Deutschland, das sieghaft aus dem gewaltigen Völkerringen hervorgehen werde, von einem Glanz der deutschen Kaiserkrone, herrlicher denn je. Stattdessen liegen wir im Staube, müssen unerhört grausame Waffenstillstandsbedingungen annehmen und sind wehrlos dem Willen der Feinde, die das deutsche Reiche klein machen und in Scherben zerschlagen möchten, auf Gnade und Ungnade preisgegeben.« Der Kaiser war unterdes landesflüchtig. »Uns blutet das Herz.« Es gehe jetzt darum, »als ein stolzes, hochmütiges, gottvergessenes und zuchtloses Volk« demütig »Gottes Gerichte« anzunehmen. Ungerechtigkeit, Ehebruch und Unzucht, »Sünden in Volk und Heer« seien Gründe für dieses Gericht, und auch die Kirche hatte versagt, vielerlei Versagen »ließen uns zu stummen Hunden werden«, die nicht die Sünden des Volkes klar benannt hatten (vgl. Jesaja 56,10).147 »Wir wissen in diesen Zeiten des Revolutionssturmes weniger denn je, was kommt, wissen nicht, wer morgen die Gewalt hat, wissen nicht, was unsere Gemeinden für Kämpfe zu bestehen haben. Wenn sie da nur als ›Gemeinden unter dem Kreuz‹148 erfunden werden. Der König am Kreuz bleibt unsere höchste 145

RKZ 68 (1918), Nr. 45, 10. November 1918, S. 195 (vgl. auch in Helmich, Wuppertaler Gemeinden, a.a.O., S. 39). 146 RKZ 68 (1918), Nr. 46, 17. November 1918, S. 201 (red., Hesse; mit falscher Quellenangabe auch in Helmich, Wuppertaler Gemeinden, a.a.O., S. 40). – Ein Wort des Detmolder Generalsuperintendenten August Weßels an die Gemeinden vom 14. November 1918 findet sich in RKZ 68 (1918), Nr. 48, 1. Dezember 1918, S. 211. Am 12. November hatte der Fürst zu Lippe auf den Thron verzichtet. 147 »Gott hat uns den Sieg wegen unserer Sünde versagt.« So auch in der letzten »Kriegspredigt« in der niederländisch-reformierten Gemeinde Elberfeld, Predigt über 1. Thessalonicher 4,13–18, gehalten am 16. Februar 1919 von Gottfried Locher, Elberfeld 1919, S. 2. 148 Dies ist ein Rückgriff auf tradiertes reformiertes Selbstverständnis, denn mit diesem Begriff bezeichneten sich reformierte Gemeinden des Niederrheins, die im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit den niederländischen Befreiungskriegen unter der spanischen – und also katholischen – Herrschaft litten. Der Begriff begegnet auch in den Texten der Emder Synode der niederländischen Kirchen 1571.

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Autorität.« Man betete für die frühere Obrigkeit, für den »greisen Feldmarschall« und »nicht zuletzt in der Stille des Kämmerleins für unseren ehemaligen Kaiser und König, daß der Herr ihn auf den Wegen der Demütigung zu sich zieht. Mögen denn unsere menschlichen Kriegsziele wegfallen, wenn nur die Kriegsziele Gottes mit uns und mit der Völkerwelt erreicht werden!«149 2.4.3 Nach der Kapitulation: »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.« Ab November 1918 gab es anders als im Sommer 1945 keine Zusammenbruchgesellschaft, wenn auch die Lage unübersichtlich und die Zukunft unsicher erschienen. Institutionen, Behörden, Fabriken und Presse funktionierten weiter, denn direkte Kriegshandlungen hatten nicht auf deutschem Boden stattgefunden, kriegsbedingte Zerstörungen waren die Ausnahme. Auch die RKZ erschien ununterbrochen, regionale Versammlungen des Reformierten Bundes fanden kontinuierlich statt, die konsistorialen Verwaltungen in Aurich und Detmold bestanden fort. Nach der Kapitulation setzten die Reformierten auf das göttliche Heil, das »unabhängig von allem äußeren Geschehen« möglich sei »auch im Revolutionswinter, auch in der unsagbar tiefen Not unseres Volkes«.150 Aber dieses Heil ginge eben nur durch das Gericht: »[Z]unächst ist es doch das göttliche Gericht selber, unter dem wir stehen. Da wollen wir uns am Ende des Jahres in Demut beugen«. Man hatte zuvor in den Siegen deutscher Truppen Gottes Wirken gesehen. »Und heute? Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.«151 Politisch 149

So Hesse in: RKZ 68 (1918), Nr. 47, 24. November 1918, S. 207. – Die Kirchenregierungen mussten später ausdrücklich feststellen, dass das allgemeine Kirchengebet für den König »in Wegfall gekommen« sei; auch Hesse hätte sonst wohl Silvester und am Kaisergeburtstag (27. Januar) noch für den König und Kaiser gebetet. Freilich hatte er schon am Buß- und Bettag 1918 erklärt: »[W]ir [stellen] uns auch unter unsere gegenwärtige Regierung in Gehorsam und treten fürbittend für sie ein«. Hesse, O Land, a.a.O., S. 215 (vgl. auch Helmich, Wuppertaler Gemeinden, a.a.O., S. 44). 150 So in der Weihnachtsandacht Hermann Albert Hesse, Himmlische und irdische Weihnacht. Lukas 2,13f., in: RKZ 68 (1918), Nr. 51, 22. Dezember 1918, S. 225f. Vgl. Vollnhals, »Mit Gott für Kaiser und Reich«, a.a.O., S. 674f.: Die unverstandene Kriegsniederlage. Eine interessante, weil liberal-reformierte Stimme war die des Frankfurter Pfarrers und Professors Erich Foerster (1865–1945): ders., Die Stellung der evangelischen Kirche, in: Otto Baumgarten u.a., Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland (Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges. Deutsche Serie), Leipzig 1927, S. 93–148. 151 So in der Andacht zum Jahresende Hermann Albert Hesse, Gewogen und zu leicht gefunden. Daniel 5,27, in: RKZ 68 (1918), Nr. 52, 29. Dezember 1918, S. 229. – Kurz nach der Jahreswende hieß es dann bei Hesse: »›Gott mit uns‹, das war bisher die Inschrift auf dem Koppelschloß von Millionen deutscher Soldaten. Gott mit uns, das war die Zuversicht, mit der sie in den grausigsten, blutigsten Krieg zogen … Gott mit uns, so hielten wir es daheim so gern fest im Gedanken an Sieg und Frieden, auch im Ge-

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und militärisch zeigte man sich dennoch geradezu unbeugsam, wenn es auch zu einzelnen Meinungsänderungen kam.152 Schon kam die Legende auf, dass das heimkehrende Heer »nicht besiegt« sei, man bloß die Nerven verloren und »die Waffen fünf Minuten zu früh an die Wand« gestellt habe.153 Eine Kritik an den Kaiser oder die OHL gab es nicht, wohl aber kritisierte man sofort die neuen und die sich abzeichnenden Regenten: Die Revolutionstruppen seien sehr klein gewesen, repräsentierten also gar nicht das Volk. Nun aber gehe man »der letzten großen Entscheidung entgegen, wo aus den jetzigen Vorprüfungen das Schlußexamen der Völkerwelt wird.«154 Wie in anderen kirchlichen Kreisen wurde gegen den kurzzeitigen preußischen Kultusminister Adolf Hoffmann protestiert und polemisiert, um bereits nach wenigen Wochen zufrieden vermelden zu können: »Der Rücktritt des Ministers Hoffmann freut uns.«155 Von einer Fundamentalopposition gegen eine sich demokratisierende Gesellschaft lässt sich aber trotz Anhänglichkeit an die abgetretenen Herrscher und die militärische Obrigkeit sowie der bleibenden Ablehnung weltanschaulicher Gegner nicht gut reden. Mit der Jahreswende 1918/1919156 beschäftigte man sich in der reformierten Öffentlichkeit mit anderen Modellen des Staat-Kirche-Verhältnisses,157 man stritt um die konfessionsgebundene Schule und um ein Frauenwahlrecht in der Kirche sowie um eine Verhältnis- oder Mehrheitswahl im Staat. Ununterbrochen waren freilich die Bemühungen um die eigene konfessionelle Bestimmung und Positionierung. So hat man trotz der politischen Um-

danken an den Kaiser und König, der sich so frank und frei zu Jesus, zum Immanuel bekannt hatte. – Und heute? Gott hat wider uns entschieden, Gottes Angesicht trat uns in dunkler Gerichtswolke entgegen, unserm Volk und – seinem Kaiser.« Hermann Albert Hesse, Immanuel, in: RKZ 69 (1919), Nr. 1, 5. Januar 1919, S. 1f. 152 So wurde etwa nach der türkischen Kapitulation davon gesprochen, dass die »blutige Armenierverfolgung grausigste Blätter der Weltgeschichte füllt«; vgl. Hesse, O Land, a.a.O., S. 216. 153 So auch schon bei Hesse, O Land, a.a.O., S. 216. 154 Hesse, Gewogen und zu leicht gefunden, a.a.O., S. 229. 155 RKZ 69 (1919), Nr. 3, 19. Januar 1919, S. 15 (Nachricht, Hesse). 156 Vgl. dazu auch weiterhin Martin Greschat, Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1918–19 (Politik und Kirche. Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte 2), Witten 1974. 157 Es finden sich Aufsätze zu den Kirche-Staat-Verhältnissen in der Schweiz und in Frankreich sowie historische Ausführungen zu »Kirche und Staat nach Calvin« von Wilhelm Kolfhaus, in: RKZ 69 (1919), Nr. 2, 12. Januar 1919, S. 10f.; Nr. 3, 19. Januar 1919, S. 14f.; Nr. 4, 26. Januar 1919, S. 18f. – Mit der Jahreswende 1918/1919 begann auch das Engagement von Johann Victor Bredt (1879–1940) als kirchenrechtlicher Ratgeber in den reformierten Kontexten. Während seine politikgeschichtliche Rolle historisch aufgearbeitet ist, ist die Erforschung und Darstellung seiner kirchengeschichtlichen Rolle ein dringendes Desiderat.

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bruchsituation versucht, dass Zwingli-Jubiläum 1. Januar 1919 öffentlichkeitswirksam zu nutzen. 2.5 »Im Weltkrieg calvinischen Mächten unterlegen«? Skeptischer dagegen wurde bei den Reformierten in Deutschland gesehen, ob man den Krieg insgesamt für die eigene konfessionelle Sache158 hat nutzen können. Vehement hatte man in den Kriegsjahren zurückgewiesen, dass sich deutsches Luthertum bzw. lutherisches Deutschtum gegen den internationalen Calvinismus zur Wehr zu setzen habe (vgl. 2.1.5, auch 2.2.2). Karl Holl profilierte dann nach Kriegsende gegen den in Deutschland herrschenden Idealismus, der nicht zuletzt in der Tradition Martin Luthers von einem religiösen Individualismus und von einer »Gedankenblässe« gezeichnet wäre, den Calvinismus, der den religiösen Gemeinschaftsgedanken auch gesellschaftlich realisiert habe. »Wir sind im Weltkrieg mit calvinischen Mächten zusammengestoßen und dabei unterlegen; wäre es nicht vielleicht richtiger, wenn wir einen Tropfen calvinisches Blut in uns aufnehmen? … Ich betrachte es darum als ein Glück, daß wir in Deutschland neben den lutherischen reformierte Gebiete besitzen.«159 Solche Stimmen gab es, freilich mit ganz anderem Hintergrund, in der Schweiz,160 wohl auch in den Niederlanden und in den USA. Dagegen wandte sich der neue Moderator des Reformierten Bundes August Lang, der dem englischen Puritanismus gewiss auch persönlich nahe stand. Als ein entsprechender popularisierender Aufsatz in der RKZ 1920 wieder abgedruckt wurde,161 der zwar überall nur protestantische Kräfte am Wirken sah, die Kraft der calvinistischen Staaten jedoch in der erfolgreicheren Volkserziehung, also in der Betonung des Ethischen bei Relativierung des Dogmatischen und des

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Es wurden während und nach dem Krieg auch Debatten geführt, ob der Erste Weltkrieg ein Kampf zwischen protestantischen und katholischen Nationen gewesen sei, vgl. Kurt Nowak, Evangelische Kirchengeschichte von der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, 9. Kapitel: Die protestantischen Kirchen im Ersten Weltkrieg, in: Hubert Wolf (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Band 3: Von der Französischen Revolution bis 1989, Darmstadt 2007, S. 82–90, hier: S. 89. 159 Karl Holl, Luther und Calvin (Staat, Recht und Volk 2), Berlin 1919, S. 19 (auch in: ders., Kleine Schriften, hg. von Robert Stupperich, Tübingen 1966, S. 67–81). – Als Vorbild für derart im calvinischen Sinne Welt gestaltende Persönlichkeiten nannte Holl ausgerechnet – Otto von Bismarck! 160 Vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 141: »Calvin habe zuletzt Luther besiegt.« 161 [Max Georg] Mörchen ([1878–1943] Pfarrer in Buer-Hassel [1910–1943], Westfalen), Der Weltkrieg: ein Entscheidungskampf zwischen Luthers und Calvins Christentum, in: RKZ 70 (1920), S. 150–153 (vorher erschienen in der Beilage »Kirche und Schule« des »Reichsboten«).

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bloß Religiösen sah,162 nahm Lang gern die positiven Charakteristika des Reformiertentums auf, verwahrte sich aber gegen die impliziten unionistischen Tendenzen und forderte, dass man im deutschen Protestantismus »bei den Reformirten in ihrer Mitte anknüpfen [sollte], … wie er geschichtlich bei uns angelegt ist«.163 Die deutschen Reformierten kämpften zuerst um ihren Rang im eigenen Land, nicht für eine reformierte Internationale. Doch dank der reformierten Kirchen auch in den Feindstaaten und dank der ökumenischen Gesinnung August Langs und seiner früheren Kontakte unterhielten die deutschen Reformierten schon ab 1919 wieder enge Kontakte zum internationalen Reformiertentum und zur ökumenischen Bewegung.164 3. Resümee Haben die Reformierten innerhalb des deutschen Protestantismus und als Teil des globalen reformierten Protestantismus spezifisch agiert? So lautete unsere Ausgangsfrage. Grundsätzlich waren die Reformierten selbstverständlich in den deutschen Gesamtprotestantismus eingebunden. Sie partizipierten am allgemein herrschenden Nationalismus, waren abhängig von der Kriegspropaganda und erlebten und durchlitten die langen Kriegsjahre ähnlich.165 Vieles in der reformierten Öffentlichkeit lief parallel zu anderen Erscheinungsformen des deutschen Protestantismus, auch was die Kirchenregierungen und das Gemeindeleben angeht. Der als Verein konstituierte Reformierte Bund war dagegen so etwas wie der Garant konfessioneller Unabhängigkeit und einer gewissen Pluralität. Neben der Parallelität des chronologischen Erlebens wäre etwa an die große und blei162

Mörchen, Weltkrieg, a.a.O., S. 142. – Bezeichnend ist übrigens, dass sich antijüdische Polemiken (a.a.O., S. 151) kaum im reformierten Bereich fanden, freilich von den Reformierten auch nur selten explizit kritisiert und zurückgewiesen wurden. 163 August Lang, Der Weltkrieg als Entscheidungskampf zwischen Luthers und Calvins Christentum, in: RKZ 70 (1920), S. 184f. – Dieser Aufsatz enthielt nicht wenige chauvinistische Vorwürfe zur Kriegsschuld und antikatholische Polemiken. 164 Vgl. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 141–148. 165 Für die »Frauenhülfe« konstatiert Ute Gause eine parallele Chronologie, wie es auch in der RKZ zu finden ist: 1916 mehrten sich die Aufrufe zum »Durchhalten« (S. 99). »Im Jahr 1917 wird der Krieg merkwürdig wenig thematisiert, stattdessen treten die Reformationsfeierlichkeiten in den Vordergrund.« (S. 101) Dann traten 1918 wieder verstärkt Durchhalteparolen auf und Warnungen, zu früh und überhaupt aufzugeben, wobei an »1914« erinnert wurde (S. 101f.). Das Kriegsende wurde dann als Katastrophe, die auf Grund eigener Schuld eingetreten sei, geschildert (S. 102f.; S. 105 [über die Evangelische Frauenzeitung]). Vgl. Ute Gause, »In Arbeit und Gebet hinter der Front!« Krieg, Kirche und protestantische Christinnen zwischen 1914 und 1918, in: Friedhelm Boll (Hg.), Volksreligiosität und Kriegserleben (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 6), Münster 1997, S. 90–115.

3. Resümee

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bende Anhänglichkeit an den preußischen und deutschen Thron und damit an Wilhelm II. zu denken, auch an das große Zutrauen, das man für die militärische Führung hegte. Theologische Positionierungen und Andachten sprachen auch bei den Reformierten viel von Buße und Gericht und bezeichneten den Krieg aus deutscher Perspektive und vor Gott als »gerecht«, wohingegen das emphatische Adjektiv »heilig« eher selten verwendet wurde. Reformierte Meinungsmacher identifizierten weder den Soldatentod mit dem Opfertod Christi noch Deutschland mit dem erwählten Volk, sondern hoben vielmehr die prophetische Gerichtspredigt hervor. Es herrschte nicht zuletzt in der KohlbrüggeTradition – wohl vergleichbar mit der Stimmung in der Gemeinschaftsbewegung – mehr oder minder durchgängig die Meinung, der Krieg sei wegen der grundsätzlichen Sündhaftigkeit der Menschen und der Welt ein Gericht Gottes; eine nationale Gesinnung und eine loyale Haltung zu Kaiser und Militär waren dadurch nicht ausgeschlossen, wohl aber eine Kriegseuphorie, eine extrem religiöse Deutung eines weltlichen Phänomens: Nicht eine enge Verbindung,166 sondern die Trennung von Gott wurde durch den Krieg erfahren. Eine »vorbehaltlose ideologische Überhöhung deutscher Machtpolitik« als Charakteristikum protestantischer Kriegspredigt und »der Glaube an die göttliche Mission des Deutschen Kaiserreichs«167 waren kein reformiertes Gemeingut. Reformierte verweigerten sich einem Nationalprotestantismus, vor allem dort, wo Luther als »deutscher Held« und Verkörperung des »deutschen Wesens« gesehen wurde; einige Reformierte zeigten sich reserviert gegenüber extremem Hass auf die Feinde. Auch das mit dem Nationalismus verquickte, stark verbreitete sozialdarwinistische Denken fand sich nicht bei den Reformierten. Der Nationalprotestant Theodor Lang spielte als Herausgeber der RKZ eine besondere Rolle, muss allerdings mit wenigen anderen sowie den reformierten Konsistorialbeamten als Ausnahme angesehen werden.168 Insofern waren die Reformierten Teil der deutschen Gesellschaft, Teil des deutschen Gesamtprotestantismus, aber anders als einige nichtreformierte Kirchenfunktionäre und anders als protestantische Konservative gehörten sie ganz überwiegend nicht zu den Kriegstreibern, die sich spätestens seit dem Spätsommer 1917 an der sinnlosen Fortsetzung 166

Vgl. Jürgen Kampmann, »Kann die Gottesoffenbarung klarer, gebietender, unumstösslicher ins Licht des menschlichen Bewusstseins treten als hier im Kriege?« Nationalistisch-bellizistische und pazifistische Theologie im deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1945, in: Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens (KRiG 50), Paderborn u.a. 2009, S. 752–776. 167 Vollnhals, »Mit Gott für Kaiser und Reich«, a.a.O., S. 667. 168 Der Genannte ist nicht von ungefähr noch im ancien régime während des Frühjahrs 1918 als Konsistorialrat nach Berlin gerufen worden, wo er in den 20er Jahren eine bedeutende Rolle im Evangelischen Bund spielen sollte.

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»Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden«

des Krieges und damit an hunderttausendfachem Tod mitschuldig gemacht haben. Auch wenn gerade zum Kriegsende hin verstärkt an den Kriegsbeginn erinnert wurde, propagierte man nach 1918 nicht die »Ideen von 1914« (Ernst Troeltsch169) oder den »Geist vom August 1914«. Freilich war man in der Frage der Kriegsschuld sicher ganz einig mit der deutschen Mehrheitsmeinung. Man war jedoch ab 1919 wieder viel zu stark mit der eigenen Minderheitenposition im deutschen Protestantismus beschäftigt und stritt beispielsweise gegen das evangelische Bischofsamt und über andere Kirchenverfassungsfragen. Auf Seiten der doch immerhin vielfach beachteten »Friedenspfarrer« tauchten Reformierte weder vor noch nach dem Krieg auf. »Das« Reformiertentum hat sich in den Folgejahren nicht eindeutig politisch positioniert und spielte etwa bei den chauvinistischen Revitalisierungen im Zusammenhang mit dem 10-Jahres-Gedenken des Kriegsausbruchs 1924 keine erkennbare Rolle. Im Gefolge des erwecklichen Ökumenikers August Lang wurde bedauert, dass der Krieg die kirchliche Gemeinschaft in Europa und weltweit behinderte und belastete; Polemiken und seltene chauvinistische Ausführungen waren dadurch nicht ausgeschlossen, wohl aber ein nationaler, weltanschaulicher oder gar rassistischer Hass. Nicht Hermann Albert Hesse mit seinen durchaus harten Tönen in der RKZ am Kriegsende, sondern der gewiss national eingestellte, aber doch vor allem ökumenisch-irenische August Lang wurde 1919 zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt.170 Mit ihm und durch ihn wurden die ökumenischen Kontakte der deutschen Reformierten sehr rasch wieder aufgebaut.171 In einer eher kriegstrunkenen Öffentlichkeit war eine derart reservierte Haltung in einer konfessionellen Minderheit durchaus ein Wagnis. Die Kraft wuchs den Reformierten wohl aus einem Charakteristi169 Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914. Rede, gehalten in der »Deutschen Gesellschaft 1914«, in: Die neue Rundschau, 27. Mai 1916, S. 605–624. Vgl. Friedemann Voigt, Deutsche Freiheit und das europäische Projekt der Moderne. Ernst Troeltsch und der Erste Weltkrieg, in: Negel/Pinggéra, Urkatastrophe, a.a.O., S. 281–303. 170 A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 140. Dass Hesse, in der zweiten Hälfte 1933 zu einem entschiedenen Anhänger Karl Barths geworden, anderthalb Jahrzehnte später zur Jahreswende 1933/1934 den von vielen als zu lau empfundenen A. Lang aus dem Moderatorenamt verdrängte, sei hier nur noch notiert. Vgl. Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 156–158. Vgl. zu Lang und Hesse Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: ders. (Hg.), Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, Hannover 2015, S. 23–70, hier: S. 37–43 und S. 44–50 (Wiederabdruck in diesem Band). 171 Zu neu aufzunehmenden ökumenischen Kontakten vgl. Hannelore Müller, Jenseits von Konfession und Nation. Protestantischer Internationalismus nach dem Ersten Weltkrieg, in: Negel/Pinggéra, Urkatastrophe, a.a.O., S. 449–483.

3. Resümee

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kum des reformierten Protestantismus zu: Er ist das in sich plurale und globale Format des Protestantismus, das sich bei den Feinden und Neutralen im Ersten Weltkrieg vorfand, sei es als Herkunfts- oder Wirkungsort reformierter Reformatoren, sei es als bedeutender Teil der konfessionellen Wirkungsgeschichte. Gewiss haben die deutschen Reformierten als Teil des europaweiten und globalen Reformiertentums nicht geglänzt, aber die zuvor gepflegten internationalen Kontakte konnten sich relativierend, deshalb positiv im Gesamtprotestantismus auswirken. Reformierte mit ihrer aus der Minderheitenposition abzuleitenden Abgrenzungsmentalität haben sich auch im Ersten Weltkrieg insofern abgegrenzt, als dass sie einige Merkmale des deutschen Protestantismus nicht oder weniger stark ausgeprägt haben. Aber es gelang den Reformierten nicht, neben diesen Abweichungen zum Gesamtprotestantismus etwas Positives während dieses »kirchengeschichtlichen Einschnitts«172 herauszubilden, etwa einerseits einen klaren eigenständigen Weg innerhalb des deutschen Protestantismus und andererseits eine eindeutige übernationale Selbstverortung. So waren die Reformierten nicht die spezifisch anderen, gar die »besseren« Protestanten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, sondern lediglich ein wenig anders – das freilich auf Grund ihres konfessionellen Selbstverständnisses.

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Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, 1914 bis 1918 – ein kirchengeschichtlicher Einschnitt?, in: Kuhn/Kunter, Reform, Aufklärung, Erneuerung, a.a.O., S. 147–163.

Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen« Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland

1. Emden als repräsentativ reformierter Ort Die »Emder reformierte Kirche [ist] … eine sorgsame Nährerin und Bewahrerin der gereinigten Lehre des Evangeliums [gewesen und geblieben]«, befand Helias Meder (1761–1825), der führende Kopf der reformierten Kirche Ostfrieslands während der Spätaufklärung, im Zusammenhang mit dem 300jährigen Jubiläum der Emder Reformation im Jahre 1820.1 Die Kirche in einer über Jahrhunderte so bewusst evangelischen Stadt hat sich immer wieder auch um reformatorische Selbstvergewisserung bemüht und deshalb die Reformationsjubiläen zu inszenieren verstanden. Emden – wie auch andere überwiegend reformiert geprägte Städte und Regionen – sieht sich dann aber auch mit dem Problem konfrontiert, dass man nicht zur Wittenberger Richtung, mithin zur protestantischen Majorität in Deutschland gehörte. Man war evangelisch anders. Emden, das sich früher nicht ohne Stolz auch »das Genf des Nordens« nennen ließ, kann für eine Untersuchung über das frühe 20. Jahrhundert als repräsentativ und exemplarisch für das Reformiertentum gelten.2 Es geht im Folgenden also nicht nur um ein wenig Lokalkolorit, sondern die lokale Perspektive macht über das im engeren Sinne zu Berichtende hinaus Sinn, weil es als repräsentativ angesehen werden kann. Deshalb setzen wir es in einen größeren historischen und konfessionellen Rahmen. Emden war nahezu über vier Jahrhunderte eine Stadt mit stolzen – und eben reformierten – Bürgern. 1917 und dann mit den Staatsumwälzungen 1918/1919 war Emden nach großen Veränderungen im 19. Jahrhundert und vor allem in der zurückliegenden Generation des Kaiserreiches ans Ende seiner konfessionellen Zeit gelangt. Jahrhunderte lang waren die besten oder jedenfalls viele gute Pfarrer nach Emden berufen worden;3 dieser Strom versiegte langsam. Es war auch das Ende 1 Helias Meder, Twee historisch-praktische Eeuw-Jubel-Predikatien op het derde Eeuw-Feest der Emder Reformatie, Emden 1821, S. 126 (Übersetzung vom Vf.). 2 Selbstverständlich wären auch andere reformierte Städte interessant gewesen, die Ähnliches und auch Spezifisches bieten: Wuppertal, Siegen, die reformierten Gemeinden in Frankfurt u.a. 3 Vgl. die Pfarrerliste in Christian Züchner (Hg.), Über Zeiten und Räume. Aus der Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde Emden, Emden 1997, S. 255–266. –

2. Fragestellungen

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des Antagonismus zwischen dem lutherischen Regierungssitz Aurich und dem reformierten »quasi-republikanischen« Emden gekommen. Emden, Heimat der größten Gemeinde der reformierten Landeskirche und Sitz des altehrwürdigen Coetus der reformierten Prediger, verlor zudem innerhalb der 1882 sanktionierten Landeskirche an Bedeutung. Emden war im 20. Jahrhundert schließlich insofern repräsentativ reformiert, als sich das reformierte Milieu zunehmend und nachhaltig verflüchtigte. Gäbe es gegenwärtig nicht die Johannes a Lasco Bibliothek in der wiedererrichteten Großen Kirche, würde Reformiertes in dieser Stadt kaum identifiziert werden können. Die stark abnehmende Bedeutung und den Profilverlust des reformierten Protestantismus erlebte Emden ab den 20er Jahren, während andere bekannte reformierte »Hochburgen« die Erosion später durchmachten: Wuppertal wohl ab den 1950ern und die Grafschaft Bentheim ab den 1970ern, um nur zwei Beispiele zu nennen. Im ersten Fall ist der Prozess abgeschlossen, im zweiten sind beharrende Kräfte noch vital. Aber 1917 war das reformierte Emden noch im Stande, den konsistorialen Vorgaben für ein Reformationsjubiläum nicht nur voll und ganz, sondern sogar noch etwas umfangreicher als gefordert nachzukommen. Deshalb lohnt sich der Blick auf Emden. Ein anderer Blick gilt den Reformierten in Deutschland insgesamt, vor allem ihrem Zentrum Wuppertal. Dort befand man sich zwar auch in einer – gefühlten – Mehrheitssituation, aber man war konkreter mit den konfessionellen Verhältnissen in Deutschland und besser mit den internationalen Beziehungen des Reformiertentums vertraut. 2. Fragestellungen Schon vor zwei Forschergenerationen war das Jahr 1917 als weltgeschichtliche Zäsur verstanden worden, mit der historiographisch die »Zeitgeschichte« begann (Hans Rothfels). Dafür ist nicht nur der Stimmungsumschwung in Teilen der Gesellschaft zu Gunsten eines Verständigungsfriedens und die weitere Radikalisierung der Propagandisten des Siegfriedens, nicht nur die so genannte Juli-Krise und die Entlassung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg für die nationale Geschichtsschreibung von Belang, sondern auch und gerade internationale Ereignisse wie die Friedensnote des Papstes im Juni 1917, die russische Die überdurchschnittlichen Pfarrer Ostfrieslands wurden dann in den 20er Jahren ins Rheinland, gerade auch ins Wuppertal berufen, was nicht zuletzt den dortigen lokalen, aber auch den regionalen sowie den reformierten »Kirchenkampf« prägte. Der rege Austausch Emdens mit den benachbarten niederländischen Provinzen Friesland und Groningen brach um die Mitte des 19. Jahrhunderts ab.

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern ...«

Revolution und der Kriegseintritt der USA. Dynastien enden, Gesellschaftsformen werden transformiert, kommende Diktaturen erleben einen ideologischen Vorlauf. Viele Phänomene müssten historiographisch berücksichtigt werden – und es muss reflektiert werden, dass wir hier einen Ausschnitt aus einer Kriegsgesellschaft betrachten: Nicht zuletzt die Zensurbehörden entschieden mit, was öffentliche Meinung hat werden können und was nicht. Die Quellen sind also kritisch-sensibel zur Kenntnis zu nehmen. Waren Feiern zum Reformationsjubiläum 1917 Teil der psychologisch-mentalen Kriegsführung an der Heimatfront? Man wird zeitgenössische Aussagen nicht hypersensibel auf diese Fragerichtung hin verstehen dürfen, denn nicht jede Nennung des Weltkrieges im religiösen Kontext ist ein Beleg für die nationalpolitische Instrumentalisierung der Kirche. Vielmehr ist die Berücksichtigung des Krieges auch ein Ausdruck für die selbstverständliche Kontextualität kirchlichen Handelns. Es ist doch undenkbar, dass ein Weltkrieg tobt und die Menschen leiden, aber man bei religiösen Versuchen von Kontingenzbewältigung diesen nicht benennt und die Lebenslagen der unter dem Krieg leidenden Menschen nicht mit berücksichtigt. Eine ausschließliche Fokussierung auf die Fragestellung einer staatlich-politischen Beeinflussung des kirchlichen Lebens wäre verkürzend, denn aus den genannten kontextuellen Gründen ließen sich natürlich problemlos zahlreiche Zitate aneinander reihen, die das kirchliche Leben geradezu Weltkriegs-trunken zeigen. Das aber wäre eine Verzerrung der Gesamtsituation. Hier soll vor allem untersucht werden, wie sich die Reformierten selbst in diesem kirchlich-staatlich-geschichtlichen Amalgam verstanden haben. Wir fragen also nicht nur ereignisgeschichtlich nach Vorbereitung und Verlauf der Emder Reformationsfeier 1917. Wir fragen auch: Was machte die Reformierten seinerzeit aus? Konnten diese Martin Luther feiern und seine reformatorische »Heldentat«? Und wenn ja, wie? Welches Interesse verfolgten sie mit den Reformationsfeiern? Haben sie sich politisch instrumentalisieren und dann vor welchen Karren spannen lassen? Waren sie mit ihrem Minderheitsstatus eventuell besonders obrigkeitshörig, wie es manchmal bei Minoritäten beobachtet werden kann? Wenn schon bekannt ist, dass die Reformierten sich nicht ohne weiteres über Luther und die Wittenberger Traditionslinie definiert sehen, müssten sie damit mutmaßlich auch Probleme mit einem »deutschen Luther« haben,4 zumal sie ihre historischen Wurzeln und durch4

Der »mit dem Luthertum verquickte[.] Nationalismus« (Gottfried Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919. Die politische Situation im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919 [Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 16], Düsseldorf 1959, S. 7) konnte NichtLutheraner ja auch von diesem Nationalismus auf Distanz gehalten haben.

3. Das Reformationsjubiläum 1917 im Schatten des Ersten Weltkriegs

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aus auch ihre aktuellen Kontakte nicht zuletzt bei den deutschen Erbund Erzfeinden und den konkreten Weltkriegsgegnern haben. Wie verhalten sich also quasi »dissenter« in einer reichsweiten Gesellschaft, in der mutmaßlich von oben herab die (kriegs-)notwendige deutschevangelische Einheit propagiert wird? In Emden freilich und später auch bei den im Vergleich herangezogenen Reformierten in Lippe und in Wuppertal handelt es sich um die lokale und regionale Mehrheitskonfession: eine minoritäre Vor-Ort-Majorität. Eine letzte Vorbemerkung soll die Fragestellung dieser Untersuchung und damit auch die alltagsgeschichtliche Bedeutung der Reformationsfeierlichkeiten 1917 relativieren. Es kann nicht übersehen werden, dass die Menschen 1916/1917 – wie jeder Blick in die damaligen Printmedien und in die Archivakten zeigt – ganz andere und gravierendere Sorgen als ihr protestantisches Selbstverständnis hatten: den vielfach erlebten Hunger und Tod, die äußerste Verrohung des traditionellen Ethos im Kriegsgeschehen, auch wenn Staat, Medien und Kirchen geradezu verharmlosend idealistisch zu sprechen pflegten. Große Probleme stellte auch für die Kirchen die Versorgung der Hinterbliebenen dar, die Mitteilung über die Kriegstoten, die Seelsorge. Abertausende kehrten als »Krüppel« aus dem Krieg zurück, längst nicht alle konnten in ihr früheres Lebensumfeld reintegriert werden. Die Kirche stand also vor immensen seelsorglich-diakonischen Aufgaben. Die Gesellschaft litt sozial und ökonomisch am Fehlen der Männer und Väter, die Frauen wurden für kriegswichtige Arbeiten dienstverpflichtet und fehlten so auch dem normalen Arbeitsmarkt, vor allem aber ihren Familien. Die Kirchen kämpften mit ethischen Fragen auf dem Gebiet der so genannten »Sittlichkeit« (Bordelle, Prostitution, Abtreibung).5 Das Reformationsjubiläum 1917 war lediglich ein gesellschaftlich-kulturelles Ereignis in einer Gesellschaft, die von ganz anderen Fragestellungen bewegt war. 3. Das Reformationsjubiläum 1917 im Schatten des Ersten Weltkriegs »Verkoppelt mit dem schweren Ernst der Zeit« »›Immer sind die Reformationsfeiern der Vergangenheit durch die politische Lage beeinträchtigt worden‹ – lasen wir kürzlich. Nein, nicht beeinträchtigt, oder vielleicht nur beeinträchtigt in ihrem geplanten Glanz und äußeren Festesschimmer. Aber verkoppelt waren sie freilich immer nach göttlicher Providenz mit dem schweren Ernst der Zeit, verkompliziert mit der harten Not, die Aberwitz und Eroberungssucht 5

Der später so oft dramatisierte Traditionsabbruch durch die »68er« ist gemessen an den zivilisatorischen Einbrüchen durch den Ersten Weltkrieg eine moderate – und zudem längst überfällige – Modifikation der Gesellschaft gewesen.

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern ...«

und Habgier über die Erde tragen.«6 Der politisch-zeitgenössische Kontext war den Akteuren und den Beobachtern der Reformationsfeiern 1917 völlig klar, selbst wenn man vorgab oder gar versuchte, ein rein religiöses Fest zu veranstalten. Auch die Kirche ist Teil der Umbrüche. »Die evangelische Kirche weiß, daß sie in kritischer Zeit steht und in schwere Tage hineingeht.«7 Diese Kontextualität in Anschlag bringend, kommt man unschwer zu der historiographischen Analyse: »Kennzeichnend für die Reformationsjubiläen ist von jeher das Bemühen, die Impulse der Reformation in aktualisierender Weise auf die gegenwärtige kirchliche und theologische, aber eben auch politische und kulturelle Lage zu beziehen.«8 Die um 1900 stark aufblühende kirchliche Statistik hatte bereits dafür Sorge getragen, dass kirchliches Leben während des Ersten Weltkrieges ausführlich dokumentiert wurde. Hier ist vor allem an Martin Schians zweibändiges Werk »Die deutsche evangelische Kirche im Weltkriege« (1921/1925)9 zu erinnern. Auf Grund des umfangreichen, von den Landeskirchen zur Verfügung gestellten Materials resümierte Schian: Die Feiern mussten kriegsbedingt zumeist auf Festgottesdienste beschränkt bleiben, wobei »nicht zu vermeiden [war], daß diese Gottesdienste trotz allem unter dem Druck der Kriegsstimmung standen … Für sie ist wesentlich …, daß die Kriegszeit ihnen eine besondere Färbung gab: die Färbung großen, gehaltenen Ernstes.«10 Bei Schian findet sich trotz seiner Datenberge noch keine wissenschaftliche Distanz, sondern nicht zuletzt nationalprotestantische Apologie, war er doch selbst Akteur.11 6 7 8

KJ 44 (1917), S. 508. KJ 44 (1917), S. 509. Christian Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie. Zur Lutherrezeption im Reformationsjubiläum 1917, in: Hans Medick / Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, S. 482– 499, hier: S. 484. 9 Martin Schian (Hg.), Die deutsche evangelische Kirche im Weltkriege, herausgegeben im Auftrage des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, 2 Bände, Berlin 1921 und 1925, Erster Band: Die Arbeit der evangelischen Kirche im Felde (1921); Zweiter Band: Die Arbeit der evangelischen Kirche in der Heimat (1925). – Auch die reformierten Landeskirchen haben das erbetene Material geliefert. Die Anfrage vom 21. März 1919 namens des DEKA sowie das zusammengetragene Material findet sich für die Lippische Landeskirche in LLK Kons.-Akten Nr. 44, besondere Betätigung der Lippischen Landeskirche aus Anlaß des Krieges, 1917, und ein zusammenfassender Bericht des Generalsuperintendenten Gerhard Cöper für die Evangelisch-reformierte Kirche liegt in LKA Leer, 38.1 Landessachen Generalia 24. 10 M. Schian, Die Arbeit der evangelischen Kirche in der Heimat, a.a.O., S. 106f. 11 Martin Schian war nicht nur der große Praktologe und Statistiker der evangelischen Kirche, sondern auch ein wirkmächtiger Kriegshetzer. Vgl. etwa Martin Schian, Die evangelische Kirche und der Krieg (Volksschriften zum großen Krieg 42), Berlin 1915, und viele gedruckte Kriegsandachten von ihm besonders für Multiplikatoren. Der Be-

3. Das Reformationsjubiläum 1917 im Schatten des Ersten Weltkriegs

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Bereits früh mit einer Generation Abstand wurden diese Jahre von Gottfried Mehnert untersucht,12 wohl nicht zufällig zeitlich nahe bei Hans Rothfels. Seine Arbeit hat bleibenden Wert durch die kritische Einschreibung dieses Abschnitts der protestantischen Kirchengeschichte in die allgemeine Geschichte. In den 60er Jahren und nun kurz nach der »Fischerkontroverse« legte Wilhelm Pressel eine Untersuchung über »Die Kriegspredigt 1914–1918« vor.13 Predigten zum Reformationsjubiläum 1917 kommen darin allerdings genauso wenig wie Reformierte vor. Pressel fokussierte eher traditionelle theologische Themen und suchte diese aus den Predigten zu extrahieren; insofern ist diese Arbeit historiographisch nur noch wenig relevant. Auch Günter Brakelmanns »Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917«14 von 1974 geht auf das Jubiläum 1917 nicht ein, markiert aber dieses Defizit: Manches Wichtige könne in seinem Buch nicht berücksichtigt werden, »so zum Beispiel die Reformationsfeiern, deren Analyse wichtige Einblicke in die geistige Grundstruktur des damaligen Protestantismus und seiner Theologie geben dürften.«15 Brakelmann hat insofern einen bemerkenswerten Beitrag geleistet, als dass er mit kritisch-unabhängigen Blick die evangelische Kirche im Ersten Weltkrieg beschreibt. Er sieht sie als zerrissen an in einem »Grunddualismus von konservativem und liberalem Protestantismus«. »Es dominierte das Nein und Ja, das Entweder-Oder. Im Reformationsjubiläumsjahr 1917 war der Protestantismus auf dem Wege einer radikalen Polarisierung. Auch die gemeinsame Berufung auf Luther und die Reformation konnte nicht verhindern, daß sich zwei Grundtypen politischen Verstehens und Handelns herausbildeten.«16 Möglicherweise müsste heute wieder mehr differenziert werden, aber die grundsätzliche Zerrissenheit des Protestantismus ist von Brakelmann wohl zutreffend beschrieben worden. Mit dem Jahr 1917 und dem Wechsel, dass sich Politik ganz in den Dienst des Krieges zu stellen hatte – also quasi mit dem umfassenden Herrschaftsantritt der Obersten Heeresleitung (OHL) –, mit der Brutalisierung der Kriegsmittel sowohl im »Felde« als auch an der »Heimatfront«, stellt fund besteht, auch wenn Schian in seinem Sammelwerk 1925 (selbst-) kritische Töne anschlägt. 12 G. Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919, a.a.O.; vgl. für die Fragestellung dieses Beitrags besonders a.a.O., S. 48–56: »Im Gedächtnismonat der Reformation«. 13 Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche in Deutschland (Arbeiten zur Pastoraltheologie 5), Göttingen 1967. – Als einen wissenschaftlichen Ertrag des Gedenkjahres 2014 vgl. Matthieu Arnold / Irene Dingel (Hg.), Predigt im Ersten Weltkrieg / La prédication durant la »Grande guerre« (VEIG Beiheft 109), Göttingen 2017. 14 Günter Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917 (Politik und Kirche. Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte 1), Witten 1974. 15 G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, a.a.O., S. 21. 16 G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, a.a.O., S. 13.

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern ...«

Brakelmann eine nationalpolitische Selbstinstrumentalisierung im Mehrheitsprotestantismus fest: »Die konfessionellen Blätter … und die Masse der kirchlichen Lokal- und Provinzblätter stehen fast ohne Ausnahme hinter den politischen Forderungen der deutschen Rechten.«17 Der publizistische Protestantismus, namentlich in Preußen, propagierte mehrheitlich einen Siegfrieden und einen unbeschränktem U-Boot-Krieg. Dagegen wollten liberale Geister ein positiv verstandenes Europa mit den anderen »Kulturvölkern« und dem Gedanken der Einheit der Menschheit nicht aufgeben.18 Die beiden im zeitlichen Zusammenhang mit der westeuropäischen Friedensbewegung um 1980 entstandenen Bücher Gerhard Besiers19 erweiterten zu Recht die Perspektive auf die europäischen und nordamerikanischen Verhältnisse, hatten allerdings ganz vorwiegend die internationalen kirchenpolitischen Aspekte im Blick. So konnte etwa der Pfingstappell von Nathan Söderblom aus dem Jahr 1917 durch Besier besser gewürdigt werden, als dass dies aus ausschließlich deutscher Perspektive bis dahin der Fall gewesen war. Danach geriet auch kirchenhistorisch der Erste Weltkrieg – und damit verbundene Themen – eher aus dem Blickfeld. Mit den 80er Jahren entdeckte man zunehmend die Zeit nach 1945 als Forschungsfeld der kirchlichen Zeitgeschichte. Der Erste Weltkrieg erschien weit entfernt und damit weniger relevant zu sein. Eine Generation nach der »Fischerkontroverse« um die Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkrieges folgte der »Historiker-Streit« um die Singularität deutscher Verbrechen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Das Gedenkjahr 2014 setzte die europäische »Urkatastrophe« schließlich wieder verstärkt auf die wissenschaftliche und publizistische Agenda, und darin das Jubiläum 1917, das dann auch von der allgemeinen Geschichtsschreibung wahrgenommen wurde. »Die Theologie des Krieges kulminierte in Deutschland 1917 anläßlich der Vierhundertjahrfeier der ›95 Thesen‹ Luthers. Diese ›Lutherfeier‹ stellte den deutschen Protestantismus in eine lange Tradition, die die Rechtfertigung des Krieges als Teil eines offensichtli-

17 18

G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, a.a.O., S. 18f. Dass vor allem liberale Theologen, auch jene, die noch 1914 die Kriegseuphorie teilten, im Laufe des Krieges wesentlich einen Wechsel zu einem »Vernunftrepublikanismus« mit vorbereiten halfen, hat Christian Albrecht gezeigt. Vgl. ders., Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, a.a.O. 19 Gerhard Besier, Krieg – Frieden – Abrüstung. Die Haltung der europäischen und amerikanischen Kirchen zur Frage der deutschen Kriegsschuld 1914–1933. Ein kirchenhistorischer Beitrag zur Friedensforschung und Friedenserziehung, Göttingen 1982; ders., Die protestantischen Kirchen Europas im Ersten Weltkrieg. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Göttingen 1984. Im ersten Buch wird das Jubiläum 1917 S. 79 mit Fußnote 51 nur kurz erwähnt.

4. Die Reformierten im Ersten Weltkrieg: »Die schrecklichen Jahre«

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chen ›deutschen Schicksals‹ belegen sollte.«20 Aus historischer Gesamtperspektive ist dieses Urteil kaum zu kritisieren; kirchengeschichtliche Forschung trägt hingegen zu Nuancierungen bei. Im Zusammenhang mit der »Lutherdekade«, wie die Vorbereitungen des Reformationsjubiläums 2017 heißen, wurde an frühere Reformations- und Reformatorenjubiläen erinnert,21 diese werden historiographisch untersucht und dargestellt, entsprechend auch das Reformationsjubiläum 1917 und andere Lutherjubiläen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts.22 Spektakulär neue Ergebnisse sind kaum zu verzeichnen. Manche moderate Revisionen, etwa eine weniger nationalprotestantische Positionierung liberaler Theologen, müssten sich durch gründliche Archivstudien noch erst weiter verifizieren. 4. Die Reformierten im Ersten Weltkrieg: »Die schrecklichen Jahre« Da sowohl bei den zeitgenössischen Vorbereitungen als auch bei den historiographischen Nachbetrachtungen der zeitliche Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg genannt wird, werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Situation der Reformierten zu Kriegsbeginn und während des Krieges.23 Auch wenn das Kriegsgeschehen nicht unmittelbar in das Gebiet der reformierten Landeskirchen oder reformierter Kerngebiete kam, so war man doch vielfältig betroffen, Emden etwa als Hafenstadt, alle – mithin auch reformierte – Regionen durch das Fehlen der Männer, die als Soldaten im Krieg standen, man war betroffen durch die Umstellung auf die Kriegswirtschaft und durch die immer bedrängendere Mangelgesellschaft. Und da die Reformierten in anderen Ländern andere Reformierte in den Krieg involviert sahen, fanden sie sich in einem gewissen Loyalitätskonflikt zwischen Nation und Konfession vor. 20

Annette Becker, Religion, in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22014, S. 192–197, hier: S. 194. 21 Zu nennen sind Johannes Calvin (2009), Philipp Melanchthon (2010), der Heidelberger Katechismus und das Trienter Konzil (2013) und Jan Hus und das Konzil in Konstanz (2014/2015). 22 Vgl. Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: ZThK 108 (2011), S. 270–335, zum Ersten Weltkrieg: S. 283.288.306–309.322– 325.330–335; dies., Vergangene Reformationsjubiläen. Ein Rückblick auf 400 Jahre im Vorfeld von 2017, in: Heinz Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Symposion des Historischen Kollegs im November 2013, München 2014, S. 261–281; dies., So viele Luthers … Die Reformationsjubiläen des 19. und 20. Jahrhunderts, Leipzig 2017. 23 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.« Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: ders. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt (Forschungen zur reformierten Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 99–135 (Wiederabdruck in diesem Band).

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern ...«

Das Calvin-Jubiläum 190924 hatte das konfessionelle Profil der deutschen Reformierten und deren binnenkirchliche Position gestärkt, freilich auch die Internationalität.25 Konservative Reformierte unterhielten Kontakte in die Niederlande – liberale reformierte Stimmen aus der Schweiz und den Niederlanden wurden dagegen praktisch gar nicht wahrgenommen –, aber es war vor allem der reformierte Kirchenhistoriker und spätere Moderator des Reformierten Bundes August Lang (1867–1945),26 der als früher Ökumeniker mit zahlreichen Kontakten nach und Aufenthalten in England und Amerika den Reformierten einen weiten transnationalen Horizont eröffnete.27 Tatsächlich findet sich die oft beschriebene Kriegseuphorie nur in geringen Spuren bei den Reformierten 1914. Lang klagte im dritten Kriegsjahr: »Zu den betrübendsten Erscheinungen des Weltkrieges gehört es, daß in der Erregung der völkischen Leidenschaften die Brüder aus demselben Hause der Reformation so weit auseinandergerissen sind. Wir deutschen Reformirten spüren das am härtesten, und besonders leid tut es uns, daß sich ein so scharfer Riß zwischen uns, die wir 1909 Calvin so begeistert gefeiert haben, und den heutigen Nachfahren der alten Hugenotten aufgetan hat.«28 Ähnlich empfand er es gegenüber den Engländern und Amerikanern. Den Krieg insgesamt bewertete er, jedenfalls mit zunehmender Kriegsdauer und im Nachhinein, als ein Gericht Gottes über diejenigen Völker, die sich von Gott entfernt hatten.29 Das mag erwecklich-konser24 Vgl. auch Hans-Georg Ulrichs, »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens.« Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 231–265 (Wiederabdruck in diesem Band). 25 Das sei sogar sachgemäß, befindet Ernst Troeltsch nach dem Referat seiner Gedanken bei Walther Köhler: Bei Calvin ergäbe sich »ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, nicht nur der Einzelgemeinden, sondern auch der Völker: Gott schließt seinen Bund mit jedem Volke. Die einzelnen Völker stehen dann wieder in Verbindung und Wechselwirkung: die Idee [eines] internationalen religiösen Völkerbundes entsteht. Wohlgemerkt: des religiösen, nicht des politischen, der Calvinismus hat den religiösen Völkerbund gehabt, ehe der politische kam; 1909 bei der Genfer Calvinfeier kam diese religiöse Einheit ergreifend zum Ausdruck.« Walther Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, S. 281. 26 August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010. 27 Noch 1917 versuchte er einer bloß deutsch-nationalistischen Sichtweise auf die englische Kirchengeschichte zu wehren: August Lang, Bekenntnis und Katechismus in der englischen Kirche unter Heinrich VIII., Gütersloh 1917. Vgl. dazu A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 130. 28 August Lang, Deutschland und die französischen Protestanten, in: RKZ 66 (1916), S. 77. 29 Vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 122. Vgl. auch schon zeitgenössisch [Friedrich Wilhelm] Hützen, Ist dieser Krieg von Gott?, in: RKZ 67 (1917), S. 98f., der den Krieg als ein Strafgericht Gottes auch über Deutschland bzw. ein »Gnadengericht« ansieht.

5. Vorbereitungen der Feiern: top-down

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vativ erscheinen, schützte aber trotz »vaterländischer Gesinnung«30 vor bleibender Kriegseuphorie31 und übersteigerten Kriegszielforderungen. Auch ein Nationalismus hatte bei einem international agierenden Reformierten keinen letzten Wert, selbst wenn dieser in der Kriegsgesellschaft propagiert wurde. Die Zeit des Ersten Weltkrieges blieb für Lang die »schrecklichen Jahre«.32 Während Landeskirchen mit ihren quasi-staatlichen Konsistorien weiter funktionierten, zunehmend dann aber auch staatlicherseits für Kriegszwecke in Anspruch genommen wurden, und die Mehrheit der deutschen Reformierten als Mitglieder unierter Landeskirchen an deren Geschick teilnahm, konnte der erst eine Generation zuvor gegründete Reformierte Bund (1884) in den Kriegsjahren kaum weiter agieren.33 Theologische Tagungen und mehrtägige Moderamenssitzungen mussten auf Grund der Zeitumstände immer wieder ausfallen. Als kirchenpolitischer Akteur wäre der Reformierte Bund ausgefallen, wenn er nicht die Reformierte Kirchenzeitung herausgegeben hätte. Auf sie werden wir später noch genauer einzugehen haben. 5. Vorbereitungen der Feiern: top-down 5.1 Auf Reichsebene: »Beispielhafte Kraftentfaltung und sittliches Heldentum« Das Reformationsjubiläum 1917 ist schon mehrfach dargestellt worden.34 Ein erneuter Blick in die Archive lohnt sich insofern zum einen, als dass 30 31

A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 127. Ein zeitweiliges Mitergriffensein von der Begeisterung des Volkes im Spätsommer 1914 ist davon unberührt, vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 123f. 32 A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 126. 33 Vgl. A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 126; KJ 44 (1917), S. 358f.: Nach der Hauptversammlung Wesel 1913 konnte weder die Moderamenssitzung 1914 noch die Hauptversammlung 1915 stattfinden, sondern nur eine Moderamenssitzung am 26. Mai 1915 in Kassel (Protokoll in LLKA Detmold, Dep. RB 126 Protokolle über Moderamenstagungen 1908–1933 [22.5], S. 87–90). Immerhin fand vom 24. bis zum 26. September 1916 eine mehrtägige Moderamenssitzung in Halle statt, die so genannte »Kriegstagung«, vgl. dazu A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 126.; vgl. RKZ 66 (1916), S. 361–363.385–388. Für 1918/1919 stellt das KJ 46 (1919), S. 267, fest: »Auch in dem abgelaufenen Geschäftsjahr hat infolge der Kriegserschwerung der Reformierte Bund eine nennenswerte Tätigkeit nicht entfalten können. Die Hauptversammlung, ebenso wie die Versammlungen des Moderamens, fiel aus und die nötigen Beratungen erfolgten auf schriftlichem Wege.« 34 Die beiden Klassiker sind: Martin Greschat, Reformationsjubiläumsjahr 1917. Exempel einer fragwürdigen Symbiose von Politik und Theologie, in: WPKG 61 (1972) S. 419–429; Gottfried Maron, Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, in: ZKG (93) 1982, S. 177–221. Vgl. die neuere Untersuchung C. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, a.a.O.; Peter Cornehl, Das Reformationsjubiläum im vierten Kriegsjahr 1917. Ein kritischer Rückblick angesichts

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nachgezeichnet werden kann, wie das Reformationsjubiläum unter Einfluss der Kriegssituation stand und wie die konkrete Ausgestaltung des Festes von oben nach unten vorgegeben wurde, und zum anderen, dass konfessionelle Nuancierungen wahrgenommen werden können. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss (DEKA) hatte sich jahrelang mit den Fragen der Ausgestaltung des Jubiläums 1917, spätestens seit dem Frühjahr 1914 und damit noch vor dem Krieg, beschäftigt. Ursprünglich waren international angelegte Feierlichkeiten geplant gewesen. Nach Kriegsbeginn waren diese nach Ansicht des DEKA nur noch als »eine deutsche Feier« denkbar,35 später waren nur skandinavische Vertreter für die Reformationsfeiern in Deutschland angekündigt.36 Als die aktuellen Lebensumstände auch innerhalb des Reiches beim weiteren Kriegsverlauf immer schlechter wurden, sistierten der DEKA und der altpreußische Evangelische Oberkirchenrat mit Blick auf die Transport- und Verpflegungsprobleme auch eine zunächst avisierte allgemeine, zentrale Feier in Wittenberg.37 Entsprechend musste nun dezentral und regional weitergeplant werden. Der DEKA nahm die Landeskirchen und die einzelnen Konsistorien besonders in die Pflicht und ordnete Ende 1916 an, dass am 31. Oktober 1917 morgens in allen evangelischen Kirchengemeinden Reformationsgottesdienste gehalten werden sollten.38 Der 31. Oktober war bis dahin kein staatlich geschützter Feiertag; diese Aufwertung wurde dann erst im Verfolg der Feiern 1917 eingefordert. Die konkreten Planungen begannen also mit weniger als einem Jahr Vorlauf, wobei die Vorbereitung in den Gemeinden ab dem Pfingstfest und in den Schulen ab dem Sommerhalbjahr 1917 erwünscht war. Das im Sommer erscheinende Kirchliche Jahrbuch dokumentierte die bis dahin geleisteten Vorbereitungen.39 Eine Ansprache des DEKA zu aktueller Herausforderungen, in: Pastoraltheologie 104 (2015), S. 141–158 (popularisiert: ders., Materialschlacht an der Heimatfront. Das Reformationsjubiläum 1917 stand im Schatten des Ersten Weltkriegs, in: zeitzeichen 18 [2017], Heft 2, Februar 2017, S. 40– 43). – In keiner dieser Arbeiten findet der reformierte Protestantismus Berücksichtigung. 35 Brief des DEKA an die Kirchenregierungen, Berlin 25. Mai 1915, in: LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 36 Vgl. KJ 44 (1917), S. 513. 37 Vgl. auch C. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, a.a.O., S. 487. Nur der Evangelische Bund veranstaltete eine Feier am Reformationstag in Wittenberg, allerdings in bescheidenem Rahmen, vgl. den Bericht in RKZ 67 (1917), S. 359. Zum ausgesprochen nationalprotestantischen Evangelischen Bund in dieser Zeit vgl. Heiner Grote, Der »Evangelische Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen« (1886–1918), in: Walter Fleischmann-Bisten / Heiner Grote, Protestanten auf dem Wege. Geschichte des Evangelischen Bundes (Bensheimer Hefte 65), Göttingen 1986, S. 9–84, darin: Reformationsjubiläum von 1917 (S. 60–62). 38 So laut eines Beschlusses des DEKA vom 7. Dezember 1916. 39 KJ 44 (1917), S. 508–514.

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Beginn des Jubiläumsjahres 191740 erinnerte an die reformatorischen Grunderkenntnisse und die Tat Luthers sowie an die Wirkungen des Protestantismus in der vaterländischen Geschichte, in Kultur, Politik und Gesellschaft. »Der weltliche Stand ward wieder in sein Recht eingesetzt, die Ehe und das Familienleben geheiligt, die Arbeit des Berufs geweiht, der Wissenschaft freie Bahn gegeben …, der Staat als gottgewollte Ordnung voll anerkannt.« (S. 512) Grundlegend wichtig, geradezu als essentieller Bestandteil der deutschen Geschichte erscheint die Reformation. »[D]ie Reckengestalt Martin Luthers« kann dann auch »als die Verkörperung deutschen Wesens« bezeichnet werden (S. 512).41 Wie zu früheren Jubiläen wird staatlicherseits auf konfessionellen Frieden wert gelegt. Das war im Jahr 1917 besonders virulent, weil man auch gegen katholische Länder im Krieg stand und die nationalstaatlich-konfessionelle Polemik und Propaganda blühte; die päpstliche Friedensnote und die Aufhebung des Jesuitengesetzes ließen antirömische Ressentiments im deutschen Protestantismus wieder fröhliche Urständ feiern. Deshalb wurden die Landeskonsistorien angewiesen: »Für das gesprochene wie für das gedruckte Wort muß aber daran mit Ernst und Sorgfalt festgehalten werden, daß die Polemik gegen die katholische Kirche, jedes gehässige und verletzende Wort gegen die Volksgenossen andern kirchlichen Bekenntnisses ausgeschlossen bleiben soll. Die schwere Zeit hat uns mit ihnen in der Liebe zu Kaiser und Reich und dem Einsatz von Gut und Blut für das Vaterland zusammengeführt«.42 Die Feier möge im Jahr 1917 kriegsbedingt schlicht sein; eine zunächst ins Auge gefasste nachzuholende Jubelfeier im Jahr 1921 wurde rasch wieder verworfen, als sich vermeintliche Fehldeutungen als Gerüchte verbreiteten, etwa dem, dass die evangelische Kirche noch von zahlreichen weiteren Kriegsjahren ausginge.43 Im Juni wird aus Berlin ein kompletter Gottesdienstablauf verschickt mit dem Ziel, eine – vorgeblich – rein religiöse Feier zu veranstalten: »Eine Bezugnahme auf den Krieg ist [zu] unterlassen, da sich nicht übersehen läßt, wie sich bis zum 31. Oktober die Lage des 40 41

Abgedruckt in: KJ 44 (1917), S. 512f. Vom Luther, dem »Urdeutschen«, sprach auch Paul Althaus, vgl. Roland Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 24), Gütersloh 2007, S. 423–425, vgl. auch S. 109–112. 42 Schreiben des Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten an die Landeskonsistorien, 16. Januar 1917. Vgl. KJ 44 (1917), S. 513. Selbst Matthias Erzberger MdR mahnte, dass antirömische Ausfälle von evangelischer Seite nicht zusätzlich katholischerseits aufgebauscht würden, vgl. auch RKZ 67 (1917), S. 161. 43 Vgl. KJ 44 (1917), S. 513. Anhalt für die Jahreszahl 1921 war die Erinnerung an den Wormser Reichstag von 1521. Die Feiern 1921 werden ausführlich beschrieben von Dorothea Wendebourg, Das Reformationsjubiläum von 1921, in: ZThK 110 (2013), S. 316–361; P. Cornehl, Das Reformationsjubiläum 1917, a.a.O., S. 153–155.

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Vaterlandes gestalten wird.« Der Minister ordnete den Gottesdienstbesuch der Schulen und Behörden an.44 Der DEKA beschloss eine Kirchenkollekte für die beschädigten deutsch-evangelischen Gemeinden und Kirchen im Ausland und in den »Schutzgebieten«.45 Implizit ging man also von einem Siegfrieden aus. Vom DEKA initiiert erschienen zwei »offizielle« Festschriften: Eine eher wissenschaftlich angelegte Publikation »Luthers deutsche Bibel« von Prof. Wilhelm Walther, mehr volkstümlich dann »Die Reformation und das deutsche Volk« vom Konsistorialrat Dr. Paul Conrad.46 Die beiden Schriften wurden kirchenamtlich außerordentlich beworben. Sie standen allerdings in einem wahren Meer von Klein- und Kleinstpublikationen in kaum überschaubarer Zahl mit teils spektakulärer Auflagen – das wird nicht alles gelesen, sondern als konfessionelles Propagandamaterial verteilt worden sein. Mangel an solcher religiöser, theologischer und konfessionalistischer Aufrüstung gab es nicht – trotz der Engpässe der Kriegswirtschaft. »An Vorschlägen und Vorträgen, Programmen und Leitsätzen, Mahnrufen und Gedächtnisschriften, das Erbe der Väter zu hüten, fehlt’s nicht.«47 Signifikant überwiegt das Thema »Luther und Deutschland«, näherhin die identifikatorische Zusammenstellung von lutherischer Reformation und deutscher Nation.48 Damit einher ging die Identifizierung Luthers als deutscher »Prototyp«.49

44 Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover [KGVBl.], Nr. 94, 28. August 1917, S. 353f. (Nr. 388), Bekanntmachung, betreffend der Reformationsfeier der Schule am 31. Oktober (Berlin, 28. Juli 1917) des Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten: Der 31. Oktober wird für evangelische Schüler schulfrei. 45 Für diesen Zweck sammelte man auch in den beiden reformierten Landeskirchen, also unabhängig davon, ob es sich um Gemeinden der reformierten oder der lutherischen Tradition handelte. 46 Da sich die Reformierten in dieser Schrift eines Mitglieds des altpreußischen Oberkirchenrats fair dargestellt fühlten, gab es eine positive Rezension (n.n.) in: RKZ 67 (1917), S. 243f. 47 KJ 44 (1917), S. 509. – »Die wissenschaftliche Forschung hat eine Überfülle von Lutherschriften auf den Markt geworfen. Alle Lutherkenner Deutschlands, und die es zu sein glaubten, haben ihr Scherflein beigetragen, so sehr, daß einer der besten unter ihnen, Prof. D. Böhmer-Leipzig, eine sarkastische Bemerkung nicht unterdrücken mochte, es werde zunächst einmal ein großes Schlachtefest unter den Lutherschriften herzurichten sein.« A.a.O., S. 513. – Gottfried Maron sprach von »eine[m] übergroßen Lärm[.]« durch diese Publikationen. Man habe die durch den Krieg bedingten Einschränkungen »durch eine gewaltige Materialschlacht kompensieren« wollen; vgl. G. Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 179; das »Lutherjahr« 1917 habe auch »so etwas wie Luthermüdigkeit, ja Lutherüberdruß hervorgerufen«, a.a.O., S. 218. 48 Vgl. C. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, a.a.O., S. 489–492. 49 Vgl. P. Cornehl, Das Reformationsjubiläum 1917, a.a.O., S. 148.

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Für den Evangelischen Bund hatte D. Hermann Scholz50 einerseits gegen eine Engführung auf Luther votiert, andererseits nationalistischkonservative Töne angeschlagen. Wenn es um »die Werke der Reformation« geht, spricht Scholz im Plural von den »Reformatoren«, wie auch der KJ-Herausgeber Johannes Schneider von den »reformatorischen Persönlichkeiten« (S. 511). Scholz erinnert an das Lutherjahr 1883 und hatte nun auch für 1917 wenigstens auf ein gemeinsames Jubelfest der »germanischen Länder« gehofft, aber: »Es ist anders gekommen. Die Palme des Friedens ist verdorrt. An ihrer Stelle haust das Schwert. Der bitterste Kampf ums Dasein drängt die festlichen Gedanken zurück. Von irgend einer Gemeinschaft der Völker im Sinne des Evangeliums kann nicht mehr die Rede sein. Das Evangelium bleibt, auch seine Bekenner mögen bleiben. Aber es bindet nicht mehr, es hält nicht mehr zusammen.«51 Besonders vom Angelsachsentum fühlt sich Scholz enttäuscht.52 Aber gerade durch diese Auseinandersetzung meint Scholz positive Wirkungen des Krieges53 entdecken zu müssen: »Ein einziges Volk, unangesehen, was seine Glieder sonst trennte, ohne Unterschied des Glaubens und des Bekenntnisses, steht Schulter an Schulter in Reih und Glied zu Schutz und Trutz des Vaterlandes. Wir ehren diese geschichtliche Wendung.« Auf knappem Raum wird hier also der Bankrott des Evangeliums und der Sieg des Nationalismus benannt: Das gemeinsame Evangelium erscheint als weit weniger wichtig und in der Not weit weniger tragfähig als die gemeinsame Volkszugehörigkeit. Lutherlieder konnten dann als »nationale Bitte« gesungen werden: »Erhalt uns Herr bei deinem Wort.«54 Schließlich geht nicht zuletzt die Reformationsansprache des DEKA in ebendiese Richtung.55 Sie schließt inhaltlich an das Grußwort zu 50

Zit. in KJ 44 (1917), S. 509–511. Vgl. auch Hermann Scholz, Was wir der Reformation zu verdanken haben, Berlin 1917, 31921; eine sehr positive Besprechung durch Theodor Lang in RKZ 67 (1917), S. 237f. – Th. Lang stand bereits damals dem Evangelischen Bund nahe; später als Berliner (Ober-) Konsistorialrat wurde er dessen stellvertretender Präsident (1927–1931). 51 KJ 44 (1917), S. 510. 52 Auch der Herausgeber des KJ entdeckt Distanzen und behauptet, dass die »›angelsächsische Religion‹ … von jeher mit dem Protestantismus Deutschlands viel weniger Geistesverwandtschaft gehabt [hat], als es in forzierter Weise in Weltkongressen und ähnlichen Veranstaltungen zur Darstellung kam.« KJ 44 (1917), S. 513f. 53 Ein solcher Gedanke von – trotz allem – positiven Kriegsauswirkungen auf das eigene Volk stand auch hinter der großen, weithin bekannt gewordenen Studie Karl Holl, Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus. Vorträge geh[alten] beim Kriegslehrgang des Zentralausschusses für Innere Mission in Warschau und Wilna am 8. und 12. Dezember 1916, Tübingen 1917; wiederabgedruckt in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band 3: Der Westen, Tübingen 1928, S. 302–384. 54 KJ 44 (1917), S. 511. 55 In: KGVBl., Nr. 96, 22. September 1917, S. 363–366 (Nr. 399).

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Jahresbeginn an und ist doch sehr kontextuell und von militärischen Bedürfnissen geprägt – weit mehr als später die landeskirchlichen Verlautbarungen. »Wir stehen im 4. Jahre des furchtbarsten Weltkrieges, den die Geschichte kennt, den unerhörter Überfall in unser friedliches Land hineingeworfen hat.« Nach Ausführungen über die Grundzüge der Reformation heißt es weiter: »So sind es auch Kräfte reformatorischen Glaubens gewesen, die an ihrem Teile die beispielhafte Kraftentfaltung und das sittliche Heldentum haben vorbereiten helfen, die unser Volk in dem blutigen Ringen des Krieges in unvergleichlicher Weise bewiesen hat.« Das Reformationsgedenken sei quasi ein Bußruf: »Hier liegen die verborgenen Kräfte für die Gesundung unseres Volkes.«56 Darin »soll unser Volk wiedergeboren und zu der großen Stellung ausgerüstet werden, die Gott ihm im Rat der Nationen zugedacht hat.« Die häufigen Stichworte »Glauben«, »Kraft«, »Liebe« führen zum trutzigen Schluss: »[D]as Reich muss uns doch bleiben!«57 Man wisse also: Mit Luther findet deutscher Protestantismus und evangelisches Deutschtum den treffendsten Ausdruck. 5.2 In der evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover: »Geistige Erstarkung zum sieghaften Durchhalten« Die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover ist im Jahr 1917 nicht nur als »reformiert« zu charakterisieren, sondern auch als eine staatskirchlich konstituierte Institution. Sie musste also zwischen einer Luther-Fokussierung und einem den Staat stützenden Nationalprotestantismus hin und her gerissen sein. Etwa zweieinhalb Jahre vor dem 31. Oktober 1917 wird das Jubiläum durch das bereits erwähnte Schreiben des DEKA im Mai 1915 zum Thema innerhalb der Kirchenregierung in Aurich. Zunächst wird noch nicht problematisiert, dass das anvisierte »Reformationsjubiläum« zu einem »Lutherjubiläum« mutieren könne. Vielmehr soll, so ist man sich in Aurich einig, die segensreiche Wirkung der Reformation auf das deutsche Volk herausgestellt werden. Es wird also eine gesamt-evangelische Apologetik angestrebt. Zu diesem Zweck wird auch die Einrichtung von »Kriegschroniken« in den Gemeinden vorgeschrieben, um nach Kriegsende zeigen zu können, wie viel die Kirche zum Sieg beigetragen und am Schicksal des deutschen Volkes mitgetragen habe. Die Institution der Landeskirche funktionierte auch in Kriegszeiten. Im Spätjahr 1916 konnte die Gesamt-Synode einberufen werden.58 Von 56 57 58

Alle bisherigen Zitate: KGVBl., a.a.O., S. 363. Die beiden letzten Zitate: KGVBl., a.a.O., S. 364. Vgl. Verhandlungen der sechsten ordentlichen Synode der evangelisch-reformierten Gemeinden der Provinz Hannover zu Aurich vom 7. bis 9. November 1916, Aurich

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einer einhelligen Haltung zum Krieg kann nicht gesprochen werden. Der Krieg wurde im Bericht des Gesamt-Synodal-Ausschusses an die Synode über die inneren und äußeren kirchlichen Zustände durchaus auch kritisch und wenig heroisch beschrieben.59 Ambivalent äußerte sich Superintendent Georg Ludwig Wiarda (1866–1930) aus Lingen in seiner Predigt zu Beginn der Synode.60 Es ginge im Krieg nicht um Deutschlands Machtstellung, sondern um seine Existenz, aber je länger der Krieg dauere, desto schlimmer seien die Leiden des Volkes. Gott habe den Krieg als Gericht unter die führenden und zukünftig führenden Nationen geschickt, man meinte Endzeitszenarien in diesen Entscheidungskämpfen vernehmen zu können. »Ob Gott in den Aufgaben und Kämpfen dieser neuen Zeit unserm deutschen Volke und ganz besonders unserer evangelischen Kirche, deren 400jährigen Geburtstag wir bald feiern werden, die Vormachts- und Führerstellung zugedacht hat? Fast möchten wir es glauben. Jedenfalls haben wir uns zu rüsten, damit wir in entscheidender Stunde nicht versagen.«61 Es fehlen in dieser Predigt auch antirömische Reflexe nicht: Rom wird als perfider Profiteur des Krieges angesehen.62 Wesentlich markiger äußert sich schließlich der Vorsitzende der Gesamtsynode Superintendent a.D. Hermann Tholens (1842–1929)63: Dieser Krieg sei in mehrfacher Hinsicht ein »großer« zu nennen. Tholens erwähnt »die Furchtbarkeit der Kampfmittel, die ersonnen und angewandt werden«, »die Ziele, die man hüben und drüben sich steckt«, und die vielen »Blutopfer … für unseres Volkes Bestand, Freiheit und Größe, für deutsches Recht, deutsche Sitte, deutschen Glauben, deutsche Liebe zum Frieden.« Zwei Aufgaben stellten sich nun der Kirche: Einerseits habe sie die Menschen zu trösten, die Gebeugten zu stützen, die Tränen zu trocken. Aber kann dies rein religiös geschehen oder muss nicht notwendigerweise dem Geschehen ein Sinn beigelegt werden? Andererseits habe die Kirche alles zu stärken, was schwach ist oder zu werden droht: Die Kirche solle die Menschen ermutigen, »durchzuhalten bis an’s Ende, zum Siegenwollen im heiligen Kampfe, der uns aufgezwungen wurde, fest und stark zu bleiben.«64 Das ist nun 1917. Die Originalunterlagen: LKA Leer, 68.1.10 VII (1916) Acta betr. Gesamtsynode der reformierten Kirche der Provinz Hannover, deren Berufung und Verhandlungen. 59 Im November 1916, gez. Tholens, in: Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 46–55, hier: S. 53f. 60 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 3–10. 61 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 4. 62 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 8. 63 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 11–13. 64 Alle Zitate in: Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 12. Zum Motiv »Durchhalten« vgl. H.-G. Ulrichs, »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden«, a.a.O., Abschnitt 2.2.4. – Chauvinistische Töne werden auf der Synode laut, als bekannt wurde, dass Pastor Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor (1845–1921) namens des Ausschusses für die Beziehungen zu auswärtigen Kirchen einen Gruß an die

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doch auch Beihilfe zur Propaganda für einen Siegfrieden. Aber diese staatskirchliche Propaganda war nicht von oben oder vom Staat oktroyiert worden, sondern wurde aus freien Stücken und mithin aus Überzeugung von Kirchenfunktionären betrieben. Auch das Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, das nicht von der Landeskirche, sondern vom Coetus reformierter Prediger in Ostfriesland herausgegeben wurde, ist in manchen Andachten, in zahlreichen, teils auch von anderen Zeitschriften übernommenen Artikeln und in den zumeist ganz militärisch ausgelegten »Wochenrückblicken« durchaus auf dieser Linie zu finden.65 Solche frei gewählte Instrumentalisierung durch überwiegend nationalprotestantische Pfarrer in der Staatskirche verwundert nicht. Eine nicht geringe Irritation stellte auf der Gesamt-Synode 1916 und in der Landeskirche allerdings die Anregung dar, im Zusammenhang von vermeintlichen Kriegsnotwendigkeiten und dem Reformationsjubiläum die Selbständigkeit der Landeskirche aufzugeben.66 Eine Auflösung der Landeskirche nur eine Generation nach ihrer Sanktionierung musste nachgerade absurd erscheinen; tatsächlich war man durchaus noch mit der inneren Vereinigung der fünf Gebiete (Ostfriesland, Bentheim, Lingen, Unterweser und um Göttingen) beschäftigt. Der Vorschlag – es handelte sich um keinen Antrag – zur Auflösung der reformierten Landeskirche war Teil des Berichts des Gesamtsynodalausschusses: »[W]ie feiern wir 1917 das 400. Gedächtnis der Reformation? [W]ill’s Gott nicht nur durch Worte, ob sie geredet, ob sie in Stein oder Erz gegraben werden, sondern durch Taten, wenn es sein könnte durch Anschluß an die evangelische Landeskirche Preußens, natürlich unter Wahrung unserer konfessionellen und geschichtlich gewordenen bodenständigen Eigenart. Die Not zwingt uns gebieterisch zum Zusammenschluß aller Kräfte; versäumen wir die Gelegenheit nicht, die reformierte Kirche in Genf – wohl zu Calvins Geburtstag – geschrieben hatte. Vgl. Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 43; vgl. auch RKZ 67 (1917), Nr. 3, 21. Januar 1917, S. 20. Im Jahr 1917 wurde das Genfer Reformationsdenkmal fertig gestellt, vgl. Theodor Lang, Die Übergabe des internationalen Reformationsdenkmals an die Stadt Genf, in: RKZ 67 (1917), S. 259f. Vgl. Christoph Strohm, Calvinerinnerung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Beobachtungen am Beispiel des Genfer Reformationsdenkmals, in: Stephan Laube / Karl-Heinz Fix (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 2), Leipzig 2002, S. 211–225. 65 Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden. Im Auftrage des Coetus der reformierten Prediger in Ostfriesland in Verbindung mit den Pastoren Cöper, Conrad und Kochs in Emden, Engels in Osnabrück herausgegeben von Pastor Rödenbeek in Westerhusen, erscheint wöchentlich bei A. Bretzler in Emden. Der wohl umfassendste Bestand befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. 66 Vgl. auch die Berichte in RKZ 66 (1916), Nr. 50, 10. Dezember 1916, S. 396; RKZ 67 (1917), Nr. 3, 21. Januar 1917, S. 19f.

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Gott uns gibt! Daß gerade diese Tat uns besonders persönliche Opfer bringen würde, ist klar, aber dafür leben wir in Tagen, wo der Gedanke des Opferns uns vertrauter geworden ist«.67 Die Synodalen fühlten sich von diesem Vorschlag vor den Kopf gestoßen. Auch die beiden Repräsentanten der Landeskirche, Generalsuperintendent Hermann Müller und Konsistorialpräsident Lümko Iderhoff68, sprachen sich deutlich gegen den Vorschlag aus. Müller warnte, dass wegen der geringen Größe der Landeskirche ihre Interessen von Berlin aus kaum berücksichtigt werden könnten und auch die konfessionelle und regionale Eigenart übersehen werden müsste; vielmehr würde man in eine Union hinein gedrängt werden und nähme schließlich teil an Auseinandersetzungen in der Großkirche, von denen man bislang verschont geblieben wäre.69 Der Bevollmächtigte des Königs, der Präsident des Königlichen Konsistoriums Dr. Lümko Iderhoff lehnte im Anschluss ebenfalls diese Idee strikt ab.70 Der durchaus streitbare Synodale Pfarrer Dr. Arnold Wilhelm Nordbeck (1860–1948) entwarf einen Antrag, der nach kurzer Debatte mit kleinen Änderungen angenommen wird. Darin wird festgehalten: Die »Synode erklärt, daß sie in einem Anschluß an die Union, den der Geschäftsbericht A als wünschenswert erklärt, nicht eine Förderung unserer hannoverschen reformierten Landeskirche erblickt.« Das Protokoll vermerkt: »Der Antrag des Herrn Synodalen Nordbeck wird … gegen eine Stimme angenommen.«71 Die 67

Bericht des Gesamt-Synodal-Ausschusses an die reformierte Gesamt-Synode der Provinz Hannover über die inneren und äußeren kirchlichen Zustände, im November 1916, gez. Tholens, in: Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 46–55, hier: S. 55. – Der Bericht wurde durch Superintendent Johann Nikolaus Ditzen (Blumenthal) vorgetragen, verfasst war er von Tholens. Eingebracht wurde die Idee von Geheimrat Georg Hoogklimmer (Lingen) an den Synodalausschuss im Vorfeld der Gesamt-Synode, vgl. Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 22–24. Es ginge auch darum, »sich zum preußischen Staat zu bekennen« (S. 23). 68 Zu H. Müller vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Müller, Hermann Wilhelm, in: BLO III, S. 304–307; zu L. Iderhoff vgl. ders., Art. Iderhoff, Lümko, in: BLO IV, S. 225–227. Vgl. den Aufsatz über die nordwestdeutsche reformierte Kirchenleitung in diesem Band. 69 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 20. Mit der letzten Warnung könnte der Generalsuperintendent auf die theologischen Auseinandersetzungen um die Geltung des Bekenntnisses in der Kirche anspielen, die mit den Namen Carl Jatho und Gottfried Traub verbunden sind. 70 Vgl. Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 20f. 71 Verhandlungen der sechsten Synode, a.a.O., S. 24. Vgl. auch RKZ 67 (1917), Nr. 5, 4. Februar 1917, S. 39. – Fusionsphantasien gehören offenbar zur Geschichte dieser Landeskirche hinzu: Bereits vor Gründung der Landeskirche erwog man einen Anschluss der reformierten Gemeinden an Westfalen; hier im Jahr 1916 gab es Stimmen, die Preußen präferierten; 1933 gab es einen Verbindungsvertrag mit Lippe, der dann folgenlos blieb; 1951 beantragte der 4. Bezirk der reformierten Landeskirche einen Anschluss an die Altpreußische Union »wegen der ernsten Bedrohung unserer Gemeinden durch den Ansturm der Lutheraner« und immerhin beschäftigte sich der Landesvorstand mit

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Verfasser des »Geschäftsberichts«, also der Gesamt-Synodalausschuss, hatten mithin völlig an der Synode vorbeiagiert, und sie stimmten dann letztlich bis auf eine Ausnahme – mit einiger Wahrscheinlichkeit Tholens – für den Antrag Nordbeck und damit gegen ihre eigene Vorlage. Man könnte in dieser Uneinigkeit zwischen Konsistorium, Synodalleitung und Synode ein Exempel für reformierte Probleme mit Kirchenleitung sehen. Positiv gewendet schlägt sich hier aber eine erstaunliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit nieder bereits zu Zeiten, wenn auch am Ende des landesherrlichen Summepiskopats: Das gewählte Leitungsgremium agiert unabhängig von staatlich eingesetzten Instanzen, wird aber dann von der Synode sehr energisch in die Schranken verwiesen. Und die Mandatare der staatlichen Macht über die Kirche, Konsistorialpräsident und Generalsuperintendent, agieren trotzdem vernünftig zum Wohle der eigenen Landeskirche und beweisen ihre Unabhängigkeit. Grundsätzliche Reformen von Kirchenbünden oder Neuorganisationen waren seinerzeit nicht singulär. In zeitlicher Nähe zu dem reformierten Selbstauflösungswunsch standen 1916 zwei ebenfalls strukturreformerische Projekte: Zum einen war dies der Vorschlag des westfälischem Generalsuperintendenten Wilhelm Zöllner, der in der preußischen Landeskirche quasi die Bekenntnisbindung aufgeben und sie als einen reinen Zweckverband bestehen lassen wollte – dies wurde jedoch in der kirchlichen Öffentlichkeit nahezu völlig ablehnt. Zum anderen entstand 1916 eine Vereinigung von Freikirchen, doch wohl mit dem Grund, in schwierigeren Zeiten gerade auch innerhalb der Gesellschaft kräftiger auftreten zu können.72 Krisenzeit ist eben auch immer Reformzeit – man wollte die als notwendig erscheinenden Konsequenzen aus der Situation mit ihren Rahmenbedingungen ziehen. Wenn im Folgenden die Vorbereitungen des Reformationsjubiläums auf landeskirchlicher Ebene nachgezeichnet werden, dann darf nicht aus dem Blick geraten, dass das Konsistorium sich nur zu einem geringen Teil mit dem Jubiläum der Reformation beschäftigt hat. Anderes ist viel dringender, und manches von diesen anderen Verhandlungsgegenständen ließen die Kirche viel stärker in das Kriegsgeschehen verstrickt sein als das Jubiläum. So findet sich etwa eine Mitteilung des Kriegsministeriums (»Geheim!«) an den Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten vom 19. April 1917, die dann an die Konsistorien in Abschrift weitergeleitet wurde: Die Kriegsgegner, so wurde ministeriell behauptet, versuchten, nachdem sie militärisch nicht zum Sieg kommen dieser Idee – und 2009 wurde das Angebot einer vollen synodalen Gemeinschaft von der Evangelisch-altreformierten Kirche abgelehnt. 72 »Ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen ›Freikirche‹ hat sich im Lauf des Jahres 1916 zu einem Verband zusammengeschlossen.« Im Dezember 1916 konstituierte sich in Berlin der »Hauptausschuß Evangelischer Freikirchen in Deutschland«, vgl. KJ 44 (1917), S. 517.

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würden, in Deutschland innenpolitisch Zwist zu säen und das »glückliche Verhältnis« »zwischen Herrscherhaus und Volk« zu stören. Die darin liegende Gefahr würde mit »eine(r) durchgreifende(n) Gegenpropaganda« bekämpft werden (müssen). »Für unbedingt notwendig halte ich es aber auch und glaube hierin der Zustimmung Euerer Exzellenz sicher zu sein, daß zur Stärkung des monarchischen Gedankens Schule und Kirche herangezogen werden.«73 Hier findet eine direkte Instrumentalisierung der (Staats-)Kirche für die nationale Kriegsführung statt. Für die Vorbereitungen des Reformationsjubiläums nimmt das Konsistorium die Anregungen der übergeordneten Behörden auf und leitet sie, teils mit weiteren Ausführungen, den Gemeinden zu. Man gibt die Ansprache des DEKA zu Jahresbeginn zur Verlesung in den Gemeindegottesdiensten weiter74, später auch die Reformationsansprache des DEKA75 sowie den Kollektenzweck.76 Das Konsistorium ist selbst kaum kreativ. Das Jahr 1917 wird im reformierten Sonntagsblatt mit einer Weiterdichtung von Luthers »Ein’ feste Burg« eröffnet, in der es u.a. heißt: »Mit unsrer Macht ist nichts getan!« Dem Herrn sei’s anheimgestellt! Er macht im Völkermeer uns Bahn, Mit ihm behalten wir das Feld. Hie Gott und Gottes starker Sohn; Drum schreckt uns nicht der Feinde Droh’n. »Und wenn die Welt voll Teufel wär’«, Wir kennen doch nicht Furcht und Grau’n. Mit uns kämpft Gott und Gottes Heer, 73 Gez. v. Stein. Am 27. Mai 1917 schickt das geistliche Ministerium in Berlin diese Mitteilung weiter, am 2. Juni wird sie dann vom Königlichen Landes-Konsistorium Hannover nach Aurich gesandt, in: LKA Leer, 38.1.22: Landessachen, Allgemeine Maßnahmen des Staates während des Krieges (1914ff.). 74 KGVBl., Nr. 84, Aurich, 27. Dezember 1916, S. 311f. (Nr. 346). 75 KGVBl. Nr. 96, 22. September 1917, S. 363–366 (Nr. 399), Reformationsansprache des DEKA (und einige Anmerkungen des Konsistoriums). Originaldurchschrift in: LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 76 »Was in Asien, in Tsingtau, dieser Perle unter unseren Kolonien, feindliche Tücke und Übermacht ausgerichtet, lebt in unser aller Gedächtnis.« (KGVBl. Nr. 96, 22. September 1917, S. 365) Konsistorialpräsident Iderhoff, der vor seiner Zeit als Konsistorialpräsident auch Parlamentsmitglied in Hannover und in Preußen war, spitzte nun nationalistisch zu: Nordamerika sei nun »in die Reihe unserer Feinde getreten«, Iderhoff spricht »von dem abtrünnig gewordenen Italien und unseren Erzfeinden Frankreich und England.« Und er identifiziert den Kollektenzweck letztlich als nationale Aufgabe: »Wo das Evangelium nicht wirkt, verlieren erfahrungsgemäß nur allzu leicht die Deutschen im Ausland ihre deutsche Art. Nationale und kirchliche Tat zugleich ist es«, wenn diese Kollekte erhoben werde.

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Und unsere Waffe heißt Vertrau’n. Im Kreuzeszeichen siegen wir: Das Kreuz ist unser Kriegspanier. »Das Reich sie sollen lassen stahn!« So rufen wir voll Zuversicht. »Gott ist bei uns wohl auf dem Plan,« Drum wankt die deutsche Mauer nicht. Wir streiten all’, ein einig Heer, Für Gottes und des Reiches Ehr’.77 Wie es auf Reichsebene keine Zentralfeier geben sollte, so auch nicht auf landeskirchlicher Ebene; vielmehr wird quasi nach unten zu den Gemeinden durchdelegiert. Vor allem lokale Festgottesdienste und kirchenmusikalische Veranstaltungen sowie Vorträge im Gemeindehaus (oft: »Vereinshaus«) wurden vom Konsistorium angeregt.78 Im April gibt eine konsistoriale Bekanntmachung79 die Begründung und die Planungsziele des Reformationsjubiläums im Kontext der reformierten Landeskirche wieder: Nach dem Resümee der bisherigen Planungen auf Reichsebene sei klar, dass »eine geräuschvolle Festlichkeit« durch die »Zeitumstände« ausgeschlossen sei. »Aber eine einfache und doch hoffentlich eindrucksvolle Feier, selbstverständlich unter Vermeidung alles dessen, was unsere katholischen Mitchristen kränken müsste, … geziemt sich«. »Die Reformierten in Deutschland haben denselben Grund, das Gedächtnis der Reformation festlich zu begehen, wie unsere lutherischen und unierten Brüder. Daß sie es zur gleichen Zeit tun, wird gefordert nicht nur durch das Band evangelischer Gemeinschaft, sondern auch, weil ja der Ausgangspunkt der Geistesbewegung, die zum reformierten Bekenntnis geführt hat, in der Tat Luthers am 31. Oktober 1517 liegt.«80 Man fürchtet sich also nicht, Luther einen Vorrang zuzubilligen. Man möge in den Gemeinden, vor allem in den Predigten, bereits jetzt auf die Reformation hinweisen und dann den Reformationstag gestalten, etwa bei Gemeindeabenden den »Charakter der Haupt-Refor77 J[ohann] Esk (Osnabrück), Jahreslosung für 1917, in: Sonntagsblatt für evangelischreformierte Gemeinden 26 (1917), S. 1. 78 Schreiben der Auricher Kirchenregierung, Aurich 14. Februar 1917, auf Anfrage des Königlichen Landes-Konsistoriums Hannover, 23. Dezember 1916, in: LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 79 KGVBl. Nr. 88, 18. April 1917, S. 328f. (Nr. 366), Bekanntmachung, betreffend Reformationsjubiläum, Aurich, 18. April 1917, Königliches Konsistorium, gez. Iderhoff. Original in: LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 80 KGVBl. Nr. 88, 18. April 1917, S. 328.

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matoren den Gemeinden anschaulich und erbaulich … vor Augen« stellen. Landeskirchlich findet man sich also mit einem Luther-Primat ab, aber durch die Verwendung des Plurals »Reformatoren« wird klar, dass Luther als »primus inter pares« verstanden wird. »Hier wäre Gelegenheit, sie [sc. die Gemeinden] mit den vielfach ziemlich unbekannten Vätern der reformierten Kirche besser bekannt zu machen. Zugleich würde eine Vorführung der Geschichte der Reformation am eigenen Ort oder in dem engeren Heimatlande ohne Frage besonderes Interesse finden.«81 Zunächst war noch eine Stärkung der Treue zum evangelischen Bekenntnis als Ziel genannt worden, aber diese landeskirchliche Bekanntmachung kennt noch eine andere Stärkung als Zweck der Reformationsfeiern: »Wenn es gelingt, in diesem Jubiläumsjahre das Evangelium mit neuer Lebenskraft in die Herzen zu bringen, so wird damit auch eine geistige Erstarkung zum sieghaften Durchhalten im Weltkriege gegeben sein.«82 Weitere Anweisungen werden vom Konsistorium angekündigt und sollten folgen. Ein halbes Jahr blieb den Gemeinden also Zeit für die Planungen. Anregungen gingen vom reformierten Sonntagsblatt nicht aus; erst ab Oktober finden sich dort Artikel, die sich mehr oder minder direkt auf die Reformation und das Jubiläum beziehen. Die konkreten konsistorialen Formatierungshinweise ließen der Basis dann nur noch zwei Monate Zeit.83 Man schlägt eine »dreifache Gliederung« der gemeindlichen Feiern vor: Eine Vorfeier am Abend des 30. Oktober solle mit »dankbarer Erinnerung« an die Reformation als Kraftquelle »für den uns verordneten Kampf, auch vornehmlich in dieser schweren Zeit« fungieren. Sodann solle der Gottesdienst am 31. Oktober die Hauptfeier darstellen, bei dem die Pfarrer gewiss nicht versäumen möchten, »ihren Predigten den festlichen Klang der heiligen Freude über die hohen durch die Reformation uns wieder gewonnenen Güter zu geben, ohne daß der Ton ernstlicher Mahnung fehlt.«84 Schließlich solle es am Nachmittag oder Abend in Gemeinde- oder in Vereinshäusern eine Nachversammlung angeboten werden, »in der Mitteilungen aus der Reformationszeit gemacht werden«. So sollte das Reformationsjubiläum in der reformierten Landeskirche also in einem Dreiklang von patriotischer Vergegenwärtigung, gottesdienstlicher Feier und einer Bildungsveranstaltung zur Stärkung der konfessionellen und regionalen Identität vor Ort gefeiert werden. Mindestens sei auf jeden Fall der Gottesdienst am 31. Oktober zu halten – Emden wird diese Vorgaben noch übertreffen, wie wir gleich sehen werden. 81 82 83

KGVBl. Nr. 88, 18. April 1917, S. 329. KGVBl. Nr. 88, 18. April 1917, S. 329. KGVBl. Nr. 94, 28. August 1917, S. 355f. (Nr. 391), Bekanntmachung, betreffend Feier des Reformations-Jubiläums und Kollekte …, Aurich 25. August 1917. 84 KGVBl. Nr. 94, 28. August 1917, S. 356.

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Ein kurzer Blick auf Lippe, der anderen – überwiegend – reformierten Landeskirche, ermöglicht eine Einschätzung der Auricher Aktivitäten. In Lippe ging man insgesamt bescheidener vor: Nach einem landeskirchlichen Gruß zu Beginn des Jubeljahres85 regte erst Anfang Oktober 1917 ein Rundschreiben an, am 31. Oktober über Römer 1,16 zu predigen und den vom DEKA festgelegten Sammlungszweck zu berücksichtigen.86 Am 13. Oktober revidiert intern der Vermerk, dass seit 1906 der Reformationstag in Lippe am ersten Sonntag nach dem 30. Oktober gefeiert wird,87 diese Pläne. Möglicherweise sind deshalb die gemeindlichen Reformationsfeiern in Lippe eher bescheiden, nämlich kriegsbedingt ausgefallen, auch wenn in Stadtgemeinden wie Lemgo und Detmold größere Festgottesdienste am Reformationstag stattgefunden haben werden. Ansonsten waren die Lipper im Vorfeld und auf der außerordentlichen Landessynode 1917 mit der Einführung des neuen Landesgesangbuches befasst.88 5.3 Im reformierten Emden: Andere Sorgen, veränderte Bedingungen Emden, die Hochburg des reformierten Protestantismus in Nordwestdeutschland, war geübt im Feiern von Reformationsjubiläen: Neben Luther kamen hier noch Zwingli und Calvin, vor allem aber die Emder Reformation als Gedenkanlässe hinzu. In der Generation vor dem Ersten Weltkrieg erlebte man zu Martin Luthers 400. Geburtstag eine große städtische Feier mit allen Kirchen und Institutionen am 10. November 1883. Bürgermeister Leo Fürbringer (1843–1923)89 war Vorsitzen85

Ansprache des Fürstlichen Konsistoriums an die reformirten und die lutherischen Kirchengemeinden des Landes zu Neujahr 1917, in: RKZ 67 (1917), S. 22. 86 Rundschreiben des Lippischen Konsistoriums (gez. Pustkuchen) an reformierte und lutherische Pfarrer, 4. Oktober 1917, in: LLKA Detmold, Konsistorialregistratur II / 44 / 6 (Nr. 1359). 87 In: LLKA Detmold, Konsistorialregistratur II / 60 / 6 (Nr. 1592). 88 Bei seiner Eröffnungsrede erwähnte der Landesherrliche Kommissar Generalsuperintendent August Weßel (1861–1941) lediglich, dass diese Synode in das Gedenkjahr 1917 der Reformation falle, »zu deren Segnungen auch das evangelische Kirchenlied gehöre«. Protokoll, Detmold 12. September 1917, LLK Kons.-Akten 283 Die ausserordentliche Landessynode vom Jahre 1917. Vgl. auch die Berichte über die Lippische Landessynode in RKZ 67 (1917), S. 311.343. Zur allgemeinen Situation in Lippe erscheinen Auszüge eines Bescheides des Fürstlich-Lippischen Konsistoriums, in: RKZ 67 (1917), S. 387. Vgl. insgesamt: Die Lippische Landeskirche 1684–1984. Ihre Geschichte in Darstellungen, Bildern und Dokumenten, herausgegeben im Auftrag der Lippischen Landeskirche in Zusammenarbeit mit dem Lippischen Heimatbund von Volker Wehrmann, Detmold 1984, hier besonders S. 222–226: Die Kirche und der Erste Weltkrieg. Aktuell erschien Lena Krull, »Wollen wir uns aufs neue unseres Luther […] freuen«. Kriegsdeutung und Reformationsjubiläum in Lippe im Ersten Weltkrieg, in: Rheinischwestfälische Zeitschrift für Volkskunde LIX (2014), S. 29–48. 89 Vgl. Reinhard Claudi, Die Ära Fürbringer, in: ders. (Hg.), Stadtgeschichten. Ein Emder Lesebuch 1495 – 1595 – 1995, Emden o.J. (1995), S. 187–208. Die »Ära« des

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der des Festkomitees. Die Kommune hatte mit Freudenfeiern auf den Deichen imponiert und mit bengalischer Beleuchtung das Rathaus illuminiert; am 11. November 1883 wurden in allen reformierten Kirchen Festgottesdienste abgehalten. Acht Wochen nach der Luther-Feier 1883 beging man Zwingli-Feiern in Emden und Ostfriesland zu dessen 400. Geburtstag am 1. Januar 1884. Auch das Calvin-Jahr 1909 wurde von den Reformierten und ebenso von den Altreformierten in Emden gefeiert; Emder Theologen und Institutionen, wie etwa der Coetus, waren sogar in die internationalen Feierlichkeiten involviert. Allerdings hatte Emden gerade in der zurückliegenden Generation einen erheblichen Veränderungsprozess durchlebt.90 Die Einwohnerzahl war im 19. Jahrhundert stagniert und verdoppelte sich dann rasend von 1890 bis 1914 von 13.000 auf 26.000. Emden hatte also eine sozial und gesellschaftlich sicherlich nicht ganz einfache Zeit hinter sich, die Homogenität der Bewohnerschaft war geringer, das reformierte Milieu relativiert durch andere Bekenntnisse und Weltanschauungen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Proletariats hatte zugenommen, die Sozialdemokratie konnte bis kurz vor dem Weltkrieg nahezu ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinen. Das Reformationsjubiläum 1917 ist mithin nicht einfach an früheren Feiern zu messen, da die Rahmenbedingungen im Fluss waren – freilich konnten sich viele der Handelnden von 1917 noch an die früheren Jubiläen erinnern. Immerhin hat Emden, trotz zeitweiliger Sperrung des Hafens, wie auch das ostfriesische Umland im Ersten Weltkrieg nicht so gelitten wie die Bevölkerung in Großstädten; wahrscheinlich haben die Bewohner das Jahr 1917 nicht als derart desperate Zeit mit Nahrungsmangel und sozialen Problemen erlebt wie dies an vielen anderen Orten der Fall war. Der Krieg war natürlich in den Medien, in den Familien, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft präsent und fand auch in der Kirche Resonanz: Jeden Donnerstagabend wurden Kriegsbetstunden angeboten. Für die kirchlichen Gremien, aber auch für den Glauben der normalen Menschen war es schmerzhaft, dass Kirchenglocken für die Kriegswirtschaft abgeliefert werden mussten.91 Man musste mit kriegsbedingten Einschränkungen Oberbürgermeisters Leo Fürbringer (1843–1923) umfasste die Jahre 1875 bis 1913, also nahezu alle Friedensjahre des Kaiserreiches. 90 Vgl. Axel von Schack / Albert Gronewold, Arbeit alleine, da wirst nicht von statt! Zur Sozialgeschichte der Stadt Emden 1848 bis 1914, Bremen 1994. – Allgemein: Walter Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1890 bis 1945, in: Ernst Siebert / Walter Deeters / Bernhard Schröer, Geschichte der Stadt Emden (Ostfriesland im Schutze des Deiches 7), Leer 1980, S. 198–256. 91 In der Neuen Kirche und in der Großen Kirche hingen derart alte Glocken, dass diese nicht geholt wurden; nur eine Glocke aus Gasthauskirche musste abgegeben werden, während auch dort eine andere, alte Glocke von 1726 hängen blieb; vgl. LKA Leer, Landessachen 22a Anlage. – Wie die Menschen vor Ort am Verlust der Glocken litten, geht etwa aus dem Gedicht »Das letzte Mal!« von »Frau Sch., Neermoor« hervor, in:

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leben: »Der Magistrat teilt mit, dass im kommenden Winter nur eine Kirche benutzt werden könne wegen der Kohlenknappheit. Es seien für unsere Gemeinde 500 Z[entner] Brennstoff bewilligt worden. Der Magistrat bittet um Mitteilung, welche Kirche benutzt werden soll, um alsdann den Bezugsschein ausstellen zu können.«92 Wie es aussieht, konnten alte Netzwerke dann doch verhindern, dass reformierte Kirchen im Winter geschlossen werden mussten. Dennoch, derart lebenspraktische Probleme standen weit häufiger im Fokus der Gemeindeleitung als ideologische Zurüstungen. Erst spät nahm der Emder Kirchenrat die Vorgaben aus Aurich und damit die Planungen für das Reformationsjubiläum 1917 auf. Anfang September wird, doch wohl nach längeren Vorabsprachen mit anderen Beteiligten, das Programm festgelegt: »Das Konsistorium wünscht eine besonders nachdrückliche Feier des Reformationsjubiläums mit Vorfeier am 30. Oktober, Hauptfestgottesdienst am Vormittag des 31. Oktober und Nachfeier am Abend. Kirchenrat sieht von einer Vorfeier ab in Rücksicht auf die allgemeine Feier, die der Evangelische Bund, Ortsgruppe Emden am Sonntag, 28. Oktober abends ½6 Uhr im Saal des Blaukreuzhauses in Gemeinschaft mit den übrigen evangelischen Vereinen der Stadt veranstalten wird. Prof. Dr. Titius aus Göttingen wird einen Vortrag halten über die Bedeutung der Reformation für die Gegenwart. Der Vortrag ist umrahmt von Gesangsvorträgen eines großen Chors unter Leitung von Dr. Müller. Der Abendgottesdienst um 5 Uhr in der Gasthauskirche soll an diesem Sonntag ausfallen. Der Festgottesdienst am 31. Oktober soll vormittags 10½ Uhr in der Großen Kirche stattfinden. Wenn möglich soll auch dort ein Chor singen. Die älteren Jahrgänge der Schulkinder sollen zum Besuch dieses Gottesdienstes angehalten werden. Die verschiedenen Korporationen der städtischen und königlichen Beamten sollen im Besonderen und durch die Zeitung eingeladen werden. Das Predigerkollegium soll eine besondere Jugendfeier noch erwägen. Die Nachfeier soll am 31. Oktober abends 8 Uhr im Blaukreuzhause stattfinden. Vor allem wird dann Pastor Kochs einen Vortrag über die Reformation in Ostfriesland bzw. Emden halten.«93 Diese Vorgaben wurden im Folgenden in der Kirchengemeinde Emden realisiert. Im Coetus war das Reformationsjubiläum dagegen kein Thema. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 190; Glockenabschied. Ansprache, gehalten bei der Glockenabschiedsfeier in Neuenhaus, über 1. Kor[inther] 16,13 von Pastor Rosenboom, in: a.a.O., S. 217–219. – Über die Abführung und das Umwechseln von Goldbeständen, die Beschlagnahmung von Orgelzinn, Dachkupfer und Bronzeglocken liegen umfangreiche Akten und Anweisungen im LKA Leer und im LLKA Detmold vor. 92 Sitzung des Emder Kirchenrates, 17. September 1917, in: Protokollbuch des Kirchenrats der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Emden vom 2. Januar 1911 bis 23. Mai 1921 (JaLB Archiv Nr. 334/Nr. 15), S. 426f. 93 Sitzung des Kirchenrats am 3. September 1917, S. 423f.

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Die »Rücksicht« auf die geplante Vorfeier des Evangelischen Bundes wird man nicht als Ausdruck besonderer konfessioneller Offenheit werten dürfen, ist sie doch nicht gemeinsam von verschiedenen Konfessionen veranstaltet worden. Mit dem Titius-Vortrag waren die Emder Reformierten allerdings die Sorge los, sich um den »vaterländischen« Aspekt des Reformationsgedenkens kümmern zu müssen. Vielmehr ergaben die weiteren Planungen, dass man sich die lokale Deutehoheit über die Reformation nicht nehmen lassen wollte – nicht Luther-Schriften sollten verteilt werden, sondern solche über Zwingli und Calvin aus der Feder von Ernst Kochs94, die auch landeskirchenweit bereits vor Drucklegung angeboten wurden.95 Man wollte also lokal und mit eigenen Mitteln das Reformationsgedenken dazu nutzen, mit den insgesamt wohl weniger bekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen – so wie das Auricher Konsistorium es auch im Frühjahr 1917 angeregt hatte.96

6. Die Feiern in Emden 1917 Eine »Reformationsfeier muß mehr sein als Heldenverehrung« Über den Ablauf des Reformationsfestes 1917 in Emden sind wir durch die gedruckte »Fest-Ordnung für die 400jährige Gedenkfeier der Reformation in der evang[elisch-] Reform[ierten] Gemeinde Emden«97 94

Sitzung des Kirchenrates am 24. September 1917, S. 429: »Bei der Feier am 31. Okt[ober] soll ein Kinderchor gebildet werden. Den Kindern soll eines der beiden von Pastor Kochs verfassten Calvin- und Zwingli-Schriften geschenkt werden. Es sollen von jeder Schrift 300 bestellt werden. Den festlichen Abschluss soll eine Abendmahlsfeier in der Grossen Kirche, unter Ausfall der übrigen Vormittagsgottesdienste, am 4. Nov[ember] bilden.« Sitzung des Kirchenrates am 22. Oktober 1917, S. 431: »Es wird beschlossen, ein Programm für die Feier drucken zu lassen. Dasselbe soll am 28.10. an den Kirchtüren verteilt werden. Der Kinderchor wird im Abendmahlsgottesdienst singen.« 95 So durch eine »Mitteilung« des Generalsuperintendenten Hermann Müller, vom 29. Mai 1917, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 176. – In Neermoor wurde neben den Zwingli- und Calvin-Büchlein auch ein Luther-Heft an die Schulkinder verteilt, vgl. a.a.O., S. 352. 96 Dazu dienten dann auch ab Ende Oktober 1917 einige kleinere Artikel im reformierten Sonntagsblatt: P.H.K.i.L., Die beiden Väter unseres Glaubens [Luther und Calvin]. Einiges zum Reformationsjubiläum, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 322–325; ders., Wanderungen mit Calvin, in: a.a.O., S. 331–333; ders., Die Märtyrer von Lyon, in: a.a.O., S. 342–344; Pastor B., Huldreich Zwingli, in: a.a.O., S. 350f.354–356; J[ohannes?] Conrad, Das grundlegende Gotteserlebnis der Reformatoren – ein göttlicher Weckruf für unsere heutigen Gemeinden [Vortrag vor der ReformationsGedächtnisfeier der Niedergrafschaft Bentheim in Neuenhaus am 31. Oktober 1917], in: a.a.O., S. 356f.365f.370f.375 [et vacat] [danach als Broschüre gedruckt: NeukirchenVluyn 1918]; Pastor B., Luther als Sänger des Evangeliums, in: a.a.O., S. 362–364. 97 Original in: JaLB Archiv, Acta des Kirchenraths Emden, die 400jährige Gedächtnisfeier der Reformatoren Luther und Zwingli betreffend, Nr. 245; LKA Leer 20.5.19

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genau im Bilde. Führender Mann bei den Emder Reformierten war 1917 Gerhard Cöper (1865–1927),98 Pastor, Coetuspräses, Konsistorialrat im Nebenamt und nachmaliger Generalsuperintendent der reformierten Landeskirche. Er hielt deshalb die Festpredigt am 31. Oktober. Sie ist jedoch genauso wenig zu fassen wie die Predigten der anderen Gottesdienste. Die »Nachfeier« am Sonntag (4. November) mit Pastor Carl Kind (1867–1938) und deren »Danksagung« mit Pastor Erich Riedlin (1867–1945) werden für unsere Fragestellung nicht so wichtig gewesen sein; es ging darin vor allem um die feierliche Begehung des Abendmahls, das in Emden reformierterseits selten gefeiert wurde. Begonnen hatten die Emder Feiern mit dem von zahlreichen Vereinen getragenen Vortragsabend, an dem der Göttinger Professor Arthur Titius (1864–1936) sprach. Titius ist wohl nicht ganz eindeutig zu positionieren: Er war theologisch protestantisch-konservativ, kann aber mit guten Gründen auch zum liberaldemokratischen Bürgertum gerechnet werden, gerade in den Jahren 1917/1918.99 Titius wurde dem Krieg gegenüber zunehmend kritisch und präferierte einen Verständigungsfrieden. Die konfessionell-reformierte Positionierung nahm dann Ernst Kochs (1868–1954)100 in der Festrede am Abend des Reformationstages vor. Der Nicht-Emder Kochs galt in Emden als theologisch und vor allem – auch lokal und regional – kirchenhistorisch versierter Vertreter der Reformierten. Längst vor Karl Barth hatte er mit konservativem Impetus in seinen historischen Arbeiten vor allem Aufklärung und Liberalismus bekämpft.101 Im Jahr 1909 hatte er den Coetus 1909 bei den (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 98 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Cöper, Gerhard, in: BLO III, Aurich 2001, S. 93–95; vgl. den Aufsatz über die nordwestdeutsche reformierte Kirchenleitung in diesem Band. 99 Heinz-Georg Henning, Arthur Titius. Theologische Wissenschaft und Kirchenpolitik, soziales und ökumenisches Engagement zwischen 1890 und 1936, diss. phil. Universität Kassel 2008, S. 98. Bedeutend und Position bestimmend war Titius’ Vortrag »Die gegenwärtige Krise von Kultur und Christentum« vor dem Evangelisch-Sozialen Kongress im April des Jahres (gedruckt: Göttingen 1917). – Leider verzeichnet auch H.-G. Henning keinen Vortrag, den Titius in Emden gehalten haben könnte. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung von Titius in die Ritschl-Schule vgl. Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 339f. 100 E. Kochs war von 1907 bis 1934 Pfarrer in Emden. Vgl. insgesamt Walter Hollweg, Nachruf auf Pastor Lic. Ernst Kochs, in: Emder Jahrbuch (42) 1962, S. 165–169; Theodor Kochs, Ernst Kochs, Pastor Lic. 1868–1954 Göttingen [1968] (JaLB 11.55.43.468). – Erfreulicherweise befindet sich der Nachlass Ernst Kochs’ seit einigen Jahren in der JaLB. 101 Ernst Kochs hat auch den Protagonisten meiner Dissertation, den ganz zu Beginn genannten Helias Meder, im ganzen äußerst negativ beurteilt, vgl. Hans-Georg Ulrichs, Volkstheologie oder: Von der Freiheit anders zu denken. Der Unterricht in der christlichen Religion bei Helias Meder (1761–1825) (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 42), Göttingen 2009, S. 38. Anfangs des »Dritten Reiches« war Kochs nicht eben sonderlich tapfer. Hingewiesen sei aber respektvoll auf eine kleine Subversivität in

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offiziellen Calvin-Feiern in Genf vertreten. Sein Vortrag vom Reformationsfest 1917 ist zwar nicht erhalten – oder bislang nicht gefunden –, aber durch eine umfangreiche und teils noch im Erscheinen begriffene Publikation102 sowie durch seine Jubiläumsbroschüren zu Calvin und Zwingli ist seine Positionierung im Jubiläumsjahr 1917 gut zu identifizieren. Kochs’ Sichtweise der ostfriesischen Reformation lässt sich so zusammenfassen: In Ostfriesland gab es eine sehr frühe Aufmerksamkeit – mehr oder minder unmittelbar nach dem Thesenanschlag Luthers – für die Reformation. Durch den Abendmahlsstreit mit einem »sich versteifenden Luthertum«103 bekam die Abendmahlsauffassung von Wessel Gansfoort und Cornelius Hoen aus den Niederlanden, die auch Zwingli geprägt hatten, Einfluss in Ostfriesland, das also nicht zwinglianisch sei, aber »aus derselben Quelle« schöpfte. In Ostfriesland trafen hinfort zwei Prägungen aufeinander: eine lutherische Tendenz aus dem Osten, während aus dem Westen der Einfluss der Niederlande so vernehmbar war, dass man später für einen Übergang zum Calvinismus offen war,104 der »reinste[n] Erscheinungsform evangelischen Christentums und Kirchentums.«105 Die Lutheraner hätten versucht, ein Staatskirchentum durchzusetzen und damit die Reformierten zu verdrängen, die ihrerseits auf eine kirchliche Selbstständigkeit beharrten.106 Bald habe es auch den Antagonismus Emden vs. Aurich gegeben. Und so schildert Kochs die »Abwehr der Lutheranisierung«107 quasi als bleibende Aufgabe. seinen 1938 erschienenen Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte seit der Reformation, Aurich/Quakenbrück 1938, wo es im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Emder Revolution 1595 heißt: »Die Prediger sind sich durchaus dessen bewußt, daß sie ein gefährliches Spiel spielen, indem sie das Gebiet der Politik betreten, aber sie sind sich ebenso deutlich dessen bewußt, daß der Kirchenkampf, wenn er von der Gegenseite auf das Gebiet der Politik gezerrt wird, auch von ihnen nur auf diesem Boden ausgetragen werden kann. Für sie steht nur das eine in Frage, ob in allen Dingen des Lebens Christus oder der Totalitätsanspruch des absolutistischen Landesherrn die Herrschaft haben soll.« (S. 24) Diese Passage wird 1938 niemand gelesen haben können, ohne sie auf die Gegenwart zu beziehen. 102 Ernst Kochs, Die Anfänge der ostfriesischen Reformation (Die Quellen und ihre Bearbeitung; I. Teil: Ostfriesland am Vorabend der Reformation), in: Jahrbuch der Gesellschaft für Bildende Kunst und Vaterländische Altertümer zu Emden 19 (1916), Heft 1, S. 109–172; ders., Die Anfänge der ostfriesischen Reformation: II. Teil: Grundlegung und Aufbau der Reformationskirche (1510–1527), in: dass. (19) 1916, Heft 2, S. 173–273; ders., Die Anfänge der ostfriesischen Reformation: III. Teil: Der Ausbau der neuen Kirche seit 1528, in: dass. 20 (1920), S. 1–125. 103 E. Kochs, Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte, a.a.O., S. 7. 104 Vgl. E. Kochs, Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte, a.a.O., S. 12. 105 E. Kochs, Die Anfänge der ostfriesischen Reformation III, a.a.O., S. 125. 106 Den 1543 eingerichteten Emder Kirchenrat bezeichnet Kochs als »das wundervolle Organ der Selbstregierung«; E. Kochs, Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte, a.a.O., S. 14. 107 E. Kochs, Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte, a.a.O., S. 10.

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Kochs schreibt als Zugereister zwar etwas heimattümelnd, betont aber häufig die positive Bedeutung der Immigranten, selbst bei »fremdartigen und bedenklichen Elementen von Humanismus bis zum Schwärmertum«.108 Die beiden ersten Teile von Kochs’ umfangreicher Arbeit wurden 1916 veröffentlicht. Eine im Jahr darauf erschienene lutherische Publikation muss als Zurückweisung dieses Interpretationsanspruchs der Reformierten verstanden werden.109 Die Sicht auf die Reformation war also in Emden und Ostfriesland durchaus umstritten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es 1917 kein gemeinsames Reformationsfest gab. Die Lutheraner, die sich von ihren Konfessionsgenossen landauflandab kaum unterschieden haben dürften, waren als Mitglieder der tragenden Gruppen zwar an der Vorfeier mit Arthur Titius beteiligt. Eine eigenständige Reformationsfeier der lutherischen Gemeinde hat es in Emden nicht gegeben;110 wahrscheinlich ist jedoch ein lutherischer Gottesdienst wenigstens am Sonntag nach dem Reformationsfest, der dann aber in der lokalen reformierten Dominanz nicht aktenkundig wurde.111 Kochs’ in Emden gehaltene Rede wird gewiss auch nicht im Widerspruch gestanden haben zu seinen aktualisierenden Ausführungen, die er in der Ausgabe des reformierten Sonntagsblattes zum Reformationstag 1917 veröffentlichte112: Gerade in der »trüben Zeit« des Krieges strahle nun der »Sonnenglanz Gottes«, der größer sei als eine Person. »Nicht Luther, nicht Zwingli, nicht Calvin – gelobt sei Gott!« Dennoch müsse man sich der Botschaft der Reformation durch die »großen Reformatoren« nähern. »Wir sind stolz darauf, daß wir neben die Helden dieses Weltkrieges auch die Glaubenshelden der Reformationszeit stellen können.« (S. 330) Aber: Eine »Reformationsfeier muß mehr sein als Heldenverehrung.« Die Reformatoren waren nicht selbst »Lichtquelle«, sondern nur »Lichtträger«, neben den bekannten auch die regionalen 108 109

E. Kochs, Grundlinien der Ostfriesischen Kirchengeschichte, a.a.O., S. 17. Hermann Reimers, Die Gestaltung der Reformation in Ostfriesland, Aurich 1917. Zwei Jahre zuvor hatte es lutherischerseits einen Restituierungsversuch der Geschichtsschreibung des Konfessionalismus’ gegeben: Heinrich Garrelts, Johannes Ligarius. Sein Leben und seine Bedeutung für das Luthertum Ostfrieslands und der Niederlande, Emden 1915. 110 So laut einer mail des lutherischen Kirchenkreises Emden an den Vf., 1. Oktober 2012. 111 »Eine gemeinsame Feier der beiden evangelischen Konfessionen fand leider nicht statt!« So wird über Göttingen geklagt, wo es eine starke reformierte Minorität gab, vgl. RKZ 67 (1917), S. 364; das Programm mit fünf Vortragsabende in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 336. Umgekehrt ist in Emden bei einer starken reformierten Majorität reformierterseits wohl nicht geklagt worden. Aus Aurich liegen die Abläufe der Feiern gedruckt vor; dort gab es immerhin eine ökumenische Übersicht der lutherischen und reformierten Feiern. 112 Ernst Kochs, [Andacht zu Lukas 1,68], in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 329–331.

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Reformatoren wie Georg Aportanus und Johannes a Lasco. Reformation zu feiern bedeute, »durch[zu]dringen zum Erleben Gottes selbst und stille stehen vor der Majestät des Herrn« (S. 330). In Emden waren im Zusammenhang mit dem Reformationsfest 1917 in den Kirchen wahrscheinlich keine oder jedenfalls kaum überbordende nationalistische Töne vernehmbar. Dies ist nicht eindeutig, nämlich nur mit einem argumentum e silentio darzulegen, weil hier schlicht Fehlanzeige zu melden ist. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass manche Texte nicht greifbar sind. Wir nehmen jedoch an, dass nicht nationalistische, sondern vielmehr konfessionelle Anliegen im Mittelpunkt standen. Das erklärt auch gut, warum die Reformierten, statt Luther-»Bilder« zu verteilen – die es in Fülle gab – lieber eine Neuauflage 1917 des Calvin-Büchleins 1909 von Kochs und dessen neu geschriebenes Zwingli-Heftchen in jeweils dreihundert Exemplaren für die Kinder des Festtagschor und für die Konfirmanden bestellten.113 Nicht nur die Tatsache, dass man in Emden Publikationen über Calvin und Zwingli verteilte, sondern besonders deren Inhalte zeigen, wie man im Rahmen der Reformationsfeiern versuchte, die Selbständigkeit und Gleichrangigkeit des reformierten Protestantismus gegenüber dem deutschen Luthertum zu behaupten. Bereits in der Zwingli-Schrift,114 in der identifikatorisch von »unserem« Zwingli geredet wird, wird bereits im ersten Satz ausgeführt, dass Zwingli schon vor dem Thesenanschlag Luthers evangelisch gepredigt habe. Der Zürcher Reformator wird als in der Sache energisch, klug und gütig beschrieben, der mit »nüchterner Klarheit«115 überzeugen will. Ihm gelten allein die Ehre und Majestät Gottes als zentral, allein in Christus liege das Heil beschlossen, allein auf die Bibel habe er vertraut, sowohl zu Beginn seiner reformatorischen Predigt als auch später: bei den Zürcher Disputationen und beim Marburger Abendmahlsgespräch. Zwingli sei vom Typ anders als Luther gewesen, der zwar zupackender, aber eben auch aufbrausend unkontrolliert gewesen sei. Luther habe später in Marburg von Anfang an auf kein biblisches Argument mehr hören wollen, sondern habe sich mental und 113

Die im Vorfeld angedachte Idee wird jetzt realisiert laut Sitzung des Emder Kirchenrates, 5. November 1917, a.a.O., S. 434: »Es wird beschlossen, den Konfirmanden die von Pastor Kochs verfassten Lebensbeschreibungen Zwinglis und Calvins zum Andenken an das Reformationsjubiläum zu schenken.« 114 Ernst Kochs, Ulrich Zwingli, der Reformator der deutschen Schweiz. Eine Gabe zum Jubiläum der Reformation, mit 6 Abbildungen, Kaiserswerth 1917, 23 Seiten. – Dieses Büchlein war sicherlich nicht nur für das Jubiläum 1917, sondern auch für das nach etwas mehr als einem Jahr folgende Zwingli-Gedenken am 1. Januar 1919 geschrieben worden. Eine Feier zu Ehren Zwinglis fand wenige Wochen nach der Staatsumwälzung 1918 tatsächlich statt: KGVBl. Nr. 112, 6. Dezember 1918, a.a.O., Nr. 473: Bekanntmachung, betr. Gedenkfeier der Tätigkeit Zwingli’s, 5. Dezember 1918. Die Feiern seien zu gestalten, wie sie »nach den örtlichen Verhältnissen als die geeignetsten erscheinen«. 115 Kochs, Zwingli, a.a.O., S. 5.14 et passim.

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intellektuell verweigert.116 Zwingli sei auch aktuell nicht fremd, da Zürich zur »deutschen Schweiz« gehöre. Kochs’ Held hat aber auch Schattenseiten: Neben Kirche sei es ihm um einen gesunden Staat gegangen. Grundsätzlich sei so etwas zwar recht, aber hier seien Fehler von Zwingli gemacht worden; so habe »der Schutz der kirchlichen Ordnung und des Bekenntnisses in den Händen der weltlichen Obrigkeit« (S. 14) gelegen – eine solche Zuordnung in Form einer Staatskirche war für einen reformierten Emder im Blick auf das Auricher landesherrliche Konsistorium natürlich ein Unding. Auch sei es Zwingli in Streitsituationen »nicht immer gelungen, die rechte Sanftmut und Sachlichkeit zu bewahren.« (S. 16) Er habe »sich in der Wahl der Mittel« immer wieder vergriffen und für Krieg optiert (vgl. S. 19). Dennoch sei Zwingli, so Kochs, ein »aufrechter«, »aufrichtiger Mann[.]« mit »geraden Sinne« gewesen (S. 21), der dann auch für Gottes Sache »hochaufgerichtet« im Kampf gestanden habe, ohne von der Waffe Gebrauch zu machen (vgl. S. 22) und so sich als »der treue Mann mit lauterem Gewissen« erwiesen habe (S. 23). Kochs’ Zwingli ist ein den Emder Reformierten sympathisch erscheinender Mann, der zweifelsohne auch Vorzüge gegenüber Luther hatte, den er durch seine frühe Entdeckung des reformatorischen Evangeliums, seine Bibeltreue und den klareren Verstand sogar übertraf. Kochs’ Calvin-Schrift117 zeichnet den Genfer Reformator in zwei Farben. Einerseits finden sich nahezu biblisch-hagiographische Zuschreibungen Calvins118, andererseits jedoch beschreibt Kochs einen Calvin, mit dem man sich nicht identifizieren könne, da »er von Geburt und Art ein Franzose war, und das französische Wesen bleibt uns nun einmal fremd.« (S. 4) Ein wenig wird dieser xenophobe Ausfall mit der Behauptung abgefedert, dass Calvin an der deutschen (!) Reformation beteiligt gewesen sei, etwa in Straßburg, das 1909 ja deutsch war, und im deutschsprachigen Basel. Auch theologisch und schließlich menschlich hatte Kochs Einiges an Calvin zu kritisieren: Calvin sei gesetzlich 116

Vgl. Kochs, Zwingli, a.a.O., S. 16–18. Die weiteren Belege als Seitenangaben innerhalb des Textes. 117 Ernst Kochs, Johann Calvin, ein auserwähltes Rüstzeug Gottes, Kaiserswerth 1909, 80 Seiten; 2. Auflage, paginierungsgleich 1917; es folgte mindestens noch eine dritte Auflage. – Die weiteren Belege als Seitenangaben innerhalb des obigen Textes. 118 Calvin gehöre zu denen, deren Namen im Himmel aufgeschrieben seien (S. 3 [Lukas 10,20]), und zu den Gerechten nach Psalm 1, er also zu vergleichen wäre mit einem Baum, der an den Wasserbächen gepflanzt ist. Ströme lebendigen Wassers gingen bis heute von ihm aus (S. 4.8 [vgl. Johannes 7,38]), selbst die Pforten der Hölle hätten sein Werk nicht überwinden können (S. 80 [Matthäus 16,18]), womit Calvin in die Nähe der Petrus-Verheißung Jesu gerückt wird. Calvins Leben selbst trägt nach Kochs Züge Jesu Leben (S. 4). Kochs kann ihn mit Mose (S. 12 et passim), mit Paulus (S. 16f.26) und mit Elias (S. 58) vergleichen – und natürlich mit Luther (S. 17). Die Genfer Gemeinde Calvins sei wie die Urgemeinde und wie die Gemeinde zur apostolischen Zeit gewesen (S. 61).

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gewesen119 und alttestamentlich (was nicht positiv gemeint ist!), sowie freudlos und hart. Kochs kann gegenüber Calvin nun Luther durchaus würdigen. Dieser sei zeitlich an erster, Calvin an dagegen an zweiter Stelle gewesen, weshalb Luther von Calvin als »Meister« geehrt wurde (S. 39.72). Calvin habe Luther, der »weit seiner Zeit voraus« war (S. 60), »die Palme des Vorrangs« überreicht (S. 72). Luther wird hier 1909/1917 von Kochs also freundlicher gesehen als 1917 im Zwingli-Heft. Man wird aber bedenken müssen, dass es zwischen Calvin und Luther nicht eine derart direkte Auseinandersetzung wie mit Zwingli gegeben hatte. Nach dieser Würdigung Calvins einerseits und der klaren Nachordnung Calvins hinter Luther andererseits konturiert Kochs die spezifische Bedeutung Calvins für den Protestantismus. Calvins Rang sei, dass er als Reformator »für die evangelische Christenheit aller Länder« (S. 4) und in ganz Europa (S. 63.80), besonders im Süden und Westen (S. 66–69) und bis in die neue Welt hinein gewirkt habe, und selbstverständlich auch in Deutschland (S. 69), wo er vor allem um die Einigkeit im Protestantismus bemüht gewesen war und wo er als Bollwerk gegen Rom und Papst gewirkt und dem Ansturm der ›Gegenreformation‹ Stand zu halten gelehrt habe. Kochs kann Luther also würdigen, wie dieser auch zeitgenössisch von Zwingli und Calvin gewürdigt worden war, auch wenn er ihn nicht überbordend positiv beschreibt. Negativ sieht Kochs vor allem das – fanatische – Luthertum von den letzten Lebensjahren des Reformators bis in die eigene Gegenwart. Der im Luthertum zurückgedrängte Philipp Melanchthon wird dagegen als ein geradezu geistesverwandter Freund Zwinglis und Calvins charakterisiert.120 So werden also die Emder Kinder – und andere Öffentlichkeiten – mit den Schriften Kochs über die unbekannten Väter der reformierten Kirche belehrt: Bei allem dankbaren Gedenken Luthers gelte, dass er nicht der erste und treueste sei (anders eben Zwingli) und dass er nicht die theologische Kraft für die endgültige Abwehr der alten Kirche und die weltweite Ausstrahlung des Protestantismus gehabt habe (anders eben Calvin). Reformationsgedenken 1917 ist zwar von Luthers Aufbruch angestoßen, zu erinnern ist aber – gerade um der Gesamtgeschich119

Für einen reformierten Theologen eher ungewöhnliche Ausführungen über das Gesetz finden sich bei Kochs, Calvin, a.a.O., S. 51. 120 Vgl. dazu auch das Gedicht von Johann Esk, Vier Männer, die eine Straße ziehn: »Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin / Vier Männer, die eine Straße ziehn. / Verschieden nach Herkunft, nach Geist und Gemüt, / nach Gaben und Kräften, doch jeder durchglüht, / Für Gottes und Christi Ehre allein / Zu wirken, zu schaffen tagaus, tagein. … Ein jeder nach seiner Art ein Held. / Drum fraget nicht, wer der Größere sei: / Nehmt dankbar zu Luther die andern Drei!« In: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 342.

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te des Protestantismus willen – nicht zuletzt an die Väter der reformierten Kirche. Das Reformationsjubiläum 1917 wurde im reformierten Emden wohl so groß gefeiert wie sonst kaum. Die Nöte und Erfordernisse der Zeit hatten aber bereits im Vorfeld Dringlicheres auf die Tagesordnung gesetzt. Dazu passt, dass post festum kein Rückblick auf diese Feiern in den Protokollen enthalten ist. Im Winter 1917/1918 herrschten offensichtlich unmittelbar danach wieder andere, drängendere Sorgen im kirchlichen Leben einer Kriegsgesellschaft vor. 7. Die deutschen Reformierten 1917 »Hüten vor dem Wahn, als sei die Reformation eine Tat des deutschen Geistes gewesen«, oder: »Eine entsetzlich beschränkte Verachtung alles Nichtdeutschen« Blicken wir auf die deutschen Reformierten im Jahr 1917, dann sind weder Emden noch Detmold von zentraler Bedeutung, sondern Wuppertal.121 Seit Jahrzehnten stellten die Städte und Dörfer des Wuppertals das konfessionelle Zentrum dar, gerade auch für den Reformierten Bund und die nicht-landeskirchlichen Reformierten. Hier existierten weithin bekannte Gemeinde, hier agierten profilierte und populäre Pastoren, hier erschienen wichtige kirchliche Zeitschriften, neben »Licht und Leben« und den Sonntagsblättern die »Reformierte Kirchenzeitung« (RKZ), hier lebte der Moderator Heinrich Calaminus (1842–1922)122, der Schwiegervater von August Lang, der ihm unmittelbar im Moderatorenamt folgen sollte. Wuppertal blieb durchs ganze 20. Jahrhundert hindurch – freilich mit abnehmender Bedeutung – ein besonderer Erinnerungsort für das deutsche Reformiertentum. Erst im Herbst 1916 beschäftigte sich das Moderamen des Reformierten Bundes intensiver mit dem Reformationsjubiläum. Man fokussierte eine Jubiläumsfeier in Wuppertal.123 Im Moderamen wird zwar »1917« das »Reformationsjahr« genannt, es geht in diesen Vorüberlegungen der Reformierten jedoch nicht um gemein-protestantische Interessen, freilich auch nicht um »deutsche«, sondern um konfessionell121

Vgl. Uwe Eckardt, Reformationsjubiläen und Luther-Feiern von 1817 bis 1917 im Wuppertal und die Union – Ein Rekonstruktionsversuch, in: Jahrbuch für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 66 (2017), S. 119–156, hier: S. 146–153. In diesem Beitrag werden konfessionelle Spezifika nicht benannt. 122 Vgl. Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer im Rheinland von der Reformation bis zur Gegenwart, Band 1: A–D (SVRKG 175), Bonn 2011, S. 280, Nr. 1853. 123 Vgl. zum Folgenden LLK Dep. RB 126 [22.5]: Protokolle über Moderamenstagungen 1908–1933. Eine Einladung nach Wuppertal wurde genannt auf der Moderamenstagung in Halle am 26. September 1916, a.a.O., S. 91.

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konfessionalistische Anliegen. Wie bekommt man etwa durch die RKZ mehr Einfluss innerhalb des deutschen Protestantismus, wie arrondiert man seine Gebiete und Sphären, so wurde gefragt. Die RKZ kämpfte natürlich auch um das finanzielle Überleben, aber ebenso um Mitarbeiter, Verbreitung und Werbung. Deshalb entschied das Moderamen, dass die Themen im RKZ-Jahrgang 1917 strategisch gesetzt werden sollen.124 Dies ist dann sehr energisch betrieben worden; bereits im Frühjahr findet sich in nahezu jedem Heft ein Beitrag zum Jubiläum. Von längerer Hand muss also geplant worden sein, wer die Artikel beisteuern sollte. Zahllose Luther-Heftchen sind – vor allem vom Herausgeber Theodor Lang (1870–1931)125 – rezensiert worden. Da sich erhebliche Differenzen zwischen der Position des Herausgebers und der anderen Beiträger identifizieren lassen, hatte man möglicherweise im Moderamen so beschlossen, um ein Gegengewicht zu ihm herzustellen, dessen Position sicherlich bekannt war. Der bis Ende März 1918 als Schriftleiter wirkende Theodor Lang schrieb im ersten Heft 1917 »Zum neuen Jahr«126: Die Hoffnung auf ein Reformationsjubiläum im Frieden sei unrealistisch, der Verlauf des Krieges sei nach wie vor »ein Wunder vor unseren Augen … es ist vom Herrn geschehen!« Theodor Lang spricht von »unserem deutschevangelischen Volk« und mit Siegmetaphern, die zwischen Glauben und Kriegsende oszillieren. Theodor Lang lässt innerhalb der veröffentlichten reformierten Meinung am meisten deutsch-evangelisches,127 ja ›deutschchristliches‹ Gedankengut128 und deutschen Kriegsnationalismus anklingen. So votiert er vehement gegen eine Verständigung zwischen den Kriegsgegnern, sei dies doch ein Verzichtsfrieden.129 Bei anderen RKZBeiträgern finden sich solche Positionierungen nahezu nicht. 124 125 126 127

Protokolle über Moderamenstagungen 1908–1933, a.a.O., S. 93. Vgl. auch Erich Wennecker, Art. Lang, Theodor, in: BBKL XIX (2001), S. 869–870. RKZ 67 (1917), S. 1f. Etwa in seiner über Monate dauernde RKZ-Artikelreihe: Bedeutung und Aufgabe der Kirche für die innere Einigung unseres Volks. 128 Vgl. etwa Th. Langs Rezension von Friedrich Andersen u.a., Deutschchristentum auf rein-evangelischer Grundlage, Leipzig 1917: Theodor Lang, 95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917, in: RKZ 67 (1917), S. 340f. Lang stimmt dem Entwurf nicht zu (Entfernung des AT, Herauslösung Jesu aus jüdischen Kontexten und Interpretamenten; vgl. auch die ausführliche Darstellung dieser Schrift bei Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 194– 197), warnt am Beispiel Englands vor einer Identifikation von Volkstum und Christentum (mitsamt der alttestamentlichen Heilsgeschichte), hält jedoch eine Ausprägung des »Christentum[s] in dem durch die nationale Zugehörigkeit gegebenen Rahmen« für notwendig. Ebenfalls konträr gegen die Tendenz der anderen Beiträger: Theodor Lang, Zum Jahresschluss, in: RKZ 67 (1917), S. 393, wo über »den deutschen Mann Luther« zu lesen war und wo Th. Lang wie zu Jahresbeginn vom »Wunder« im Kriegsgeschehen spricht. 129 Theodor Lang, Deutschlands letzte und größte Not, in: RKZ 67 (1917), S. 330f. – Das ist der einzige Text aus dem reformierten Bereich, den G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus, a.a.O., S. 96, wenigstens in Form eines Lit.-Hinweises aufführt.

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In der RKZ wurden zunächst grundsätzliche Bestimmungen und Selbstverortungen im Hinblick auf die Vorbereitungen des Reformationsjubiläums – von der Reichsebene bis hin zu den Aktivitäten vor Ort – vorgenommen, später dann auch Kritik an lutherischer Dominanz geäußert. Dem Moderator des Reformierten Bundes Heinrich Calaminus gebührte dabei das erste Wort130: Ulrich Zwingli habe schon 1516 »die Allgenugsamkeit des Verdienstes Christ verkündigt«, aber »bei der sächsischen Reformation [läßt sich] ein bestimmter Zeitpunkt angeben« (S. 33). »Es gehört zu Gottes großen Gedanken, daß er … zu gleicher Zeit, an mehreren Orten, auf mehrfache Weise Männer erweckt hat, welche die Kirche zu ihrem einigen Meister Jesus Christus … zurückgerufen haben.« (S. 33) Es ginge aber nicht um deren Namen, auch nicht um die Vorrangstellung von Nationen oder Völkern, sondern um den Gottessohn. Die reformatorische Wahrheit sei »nicht eines Volkes Erzeugnis …, sondern [muß] alle Völker, Nationen, Geschlechter … und Zungen erleuchten und befriedigen … Eben darum ist die Reformation nicht eines Volkes Werk für alle Menschen auf der ganzen Erde. Mag auch in der gegenwärtigen Zeit der Hinweis auf die vermeintlich deutsche Eigenart der Reformation auf besondere Zugkraft zu rechnen haben, so wird doch eben damit dem Heilswerke Gottes ein Hemmnis bereitet.« (S. 33) Aus dem Reformationsfest lassen sich damit keine Unterstützung für nationale Ziele ableiten. Konkret auf den Kriegskontext geht der Barmer Pastor Adolf Lauffs ein131: »Gewiß nimmt der gewaltige, langanhaltende Völkerkrieg uns ganz in Anspruch, wir sehen alles, was uns widerfährt, vom nationalen Standpunkt aus an.« (S. 41) Die Reformation sei jedoch zuerst ein religiöses Geschehen. Lauffs benutzt zwar vielfältig militärische Bilder, verweigert sich jedoch einer politischen Instrumentalisierung der Reformation. Der Protestantismus ginge über »die engeren Landesgrenzen« hinaus (S. 50); so sei die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, von den klerikalen Kriegshetzern zunehmend diskreditiert, ein großer Schritt zu gemeinsamem Handeln gewesen. Trotz des Kriegs »muß es unsere Hoffnung, unser Ziel, unser Streben sein, daß die evangelischen Christen der großbrittanischen [Länder] und [des] deutschen Landes gemeinschaftlich die Fahne Christi vorwärts tragen in der Welt.« (S. 50) Der Feind, ja der »Erbfeind« sei der Teufel – und nicht Frankreich, müsste man lesen –, der in verschiedener Gestalt auftreten könne, zu Luthers Zeit eben in Rom und im Schwärmertum. Lauffs kultiviert ein calvinistisches Antikatholikentum: »Unser Weg führt nie über Rom!« (S. 51) Sein 130

[Heinrich] C[alaminus], Lasset uns halten an dem Bekenntnis!, in: RKZ 67 (1917), S. 33f. 131 Adolf Lauffs, Das Reformationsjubiläum und der Krieg, in: RKZ 67 (1917), S. 41– 44.49–51.58–60.

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generelles Misstrauen gegen katholische Länder gilt auch denen, die mit Deutschland verbündet waren. Lauffs nimmt zwar durchaus mit Bedenken wahr, wie sich Demokratie und Kapitalismus – quasi als Ideologien der westlichen Freiheit – in reformierten Ländern durchgesetzt hätten, sieht aber den eigentlichen Fortschritt in der Reformation, Geistliches und Weltliches miteinander versöhnt zu haben, indem sie die Vorherrschaft der römischen Religion brach.132 Die Dominanz Luthers im Reformationsgedenken wird zunehmend in der reformierten Öffentlichkeit kritisiert, etwa durch den Vorsitzenden der Gelnhausener Pfarrkonferenz, Pfarrer Meyenschein133: Calvin und die Oberdeutschen seien weiter gegangen, hätten Dinge gewusst, »was Luther nicht sagen konnte.« Darauf kommentiert sogar der RKZHerausgeber Theodor Lang: »Die evangelische Kirche Deutschlands muß sich sehr davor hüten, daß ihre Feier der großen Taten Gottes nicht einen Erdgeruch erhalte.« Alle Reformatoren »haben ihre Kraft nicht in ihrem Volkstum gesucht, sondern in der Herrschaft ihres Herrn, welcher ein Gott aller Völker ist und dessen Botschaft dahin gerichtet ist, daß sie einmütig und mit einem Munde ihn, den Vater Jesu Christi, loben sollen. Darum soll man bei der Feier der Reformation Gott dafür preisen, daß er eine Reihe von Männern auserwählt hat und mit verschiedenen Gaben und Kräften ausgerüstet habe, um die Kirche … zu erneuern« (S. 101). Auch der bekannte Elberfelder Pastor Wilhelm Kolfhaus (1870– 1954)134 wendet sich gegen eine Lutheranisierung der Feiern. Selbstverständlich werde Luther gefeiert, der jedoch selbst kein »Lutheraner« gewesen sei. Er würde auch von Reformierten zu den geistlichen Vätern gezählt. »Dennoch wünschen wir nicht, daß dieses Jahr zu einer Wiederholung des Lutherjahres 1883 werde und dadurch eine ungehörige Einschränkung erfahre.« Man befürchte, dass alles hinter der Person Luther verschwindet, und »daß konfessionelle und nationale Triebfedern sich vereinen, aus der Reichsgottessache der Reformation eine deutsch-lutherische Angelegenheit zu machen.« (S. 130)135 Auch Kolf132

Eher selten, aber doch präsent sind antikatholische Polemiken im RKZ-Jahrgang 1917. Die heftigste: Prof. Sieglerschmidt (Berlin), Durften wir am Tage des Reformationsfestes nur feiern?, in: RKZ 67 (1917), S. 361f., wo nicht zuletzt wegen der Friedensnote des Papstes 1917 eine katholische Dominanz ausgemacht und davor gewarnt wird, dass Deutschland nach Kriegsende von katholischen Mächten umgeben sein werde. 133 RKZ 67 (1917), S. 101. 134 Wilhelm Kolfhaus, Die Reformirten im Gedenkjahr der Reformation, in: RKZ 67 (1917), S. 130f. 135 Auf Luther-Polemiken von anderer Seite konnten deutsche Reformierte nervös reagieren; so schämte man sich für den Angriff, den Leonhard Ragaz von der Schweiz aus auf Luther unternommen hatte; vgl. Leonhard Ragaz, Von den letzten Voraussetzungen der schweizerischen Unabhängigkeit. Ein Votum, in: Wissen und Leben 8 (1916), S. 305–321, wo Ragaz das Luthertum für den deutschen Imperialismus mitverantwort-

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haus weist eine unmittelbare Bezogenheit von deutschem Wesen und reformatorischer Erkenntnis ab und sieht darin »eine entsetzlich beschränkte Verachtung alles Nichtdeutschen« (S. 130). »Wenn das Relich macht. Das »Protestantenblatt« (50 [1917], Nr. 50 vom 15. Dezember 1917, S. 714) denunzierte Ragaz als »Deutschenhasser«. Sehr kritisch reagierte auch Karl Holl in seinem Aufsatz: Luthers Anschauung über Evangelium, Krieg und Aufgabe der Kirche im Lichte des Weltkriegs (Darmstadt 1917), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band 3: Der Westen, Tübingen 1928, S. 147–170. Holl votierte gegen Ragaz und gegen ›deutsche Friedensfreunde‹, a.a.O., S. 157–160. – Es trafen aber gerade aus der kriegsneutralen Schweiz herzliche Grüße an den deutschen Protestantismus ein, etwa eine von zahlreichen Theologen aus der Deutschschweiz unterschriebene Grußadresse an die Protestanten in Deutschland, u.a. abgedruckt in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 26 (1917), S. 359f.; Antwort des DEKA-Präsident Bodo Voigts in: a.a.O., S. 372.– Auch in der Schweiz wurde das Reformationsjubiläum gefeiert: Der Berner Pfarrer und Professor Wilhelm Hadorn, der schon 1909 beim CalvinJubiläum eine Rolle gespielt hatte, verfasste im Auftrag der evangelischen Kirche eine Broschüre, die in hoher Auflage gedruckt wohl an alle Pfarrämter ging: Wilhelm Hadorn, Männer und Helden. Die Schweizerische Reformation und ihre Segnungen. Zum Reformationsjubiläum dem reformierten Schweizervolk dargeboten von der Schweizerischen reformierten Kirchenkonferenz und in ihrem Auftrag verfaßt von Prof. D. Wilh[elm] Hadorn, Pfarrer in Bern, Bern 1917. Das Büchlein ist moderat im Ton, jedenfalls kaum zu vergleichen mit dem Pathos der meisten der in Deutschland erschienenen Schriften; sie wäre freilich auch vor allem mit den beiden offiziellen Festschriften des DEKA zu vergleichen. Hadorn sieht einen Primat bei Luther, bietet dann jedoch eine umfangreiche und regional komplexe, in jedem Fall plurale Schweizer Reformationsgeschichte. Das recht negative Calvin-Bild überrascht. Immerhin hat aber Calvin bzw. der Calvinismus nach Hadorns Ansicht den Protestantismus im Verlauf der späteren Reformationsgeschichte vor dem jesuitischen Katholizismus gerettet und eine evangelische Internationale geschaffen. – Ein Schweizer Pfarrer reagierte dennoch durchaus unwillig, ja griesgrämig auf die Reformationsfeiern in der Schweiz, nämlich Karl Barth, seinerzeit Pfarrer in Safenwil und gerade in diesen Monaten vollauf vertieft in seine Arbeiten zum Römerbrief, der seinem Freund und Amtskollegen Eduard Thurneysen am 26. Oktober 1917 schrieb: »Wäre doch die fatale Reformationswoche schon vorüber … ich sehe mit Grauen, wie die Lokalanzeiger und Kirchenzeddel sich füllen mit Ankündigungen von herrlichen Vorträgen und anderen ›Türken‹.« Barth mokiert sich über manches popularisierte Gedenken und scheint fast zu resignieren: »Zwischen all dem drin nun wir hier mit unserm Wald von leeren Bänken mit kopfschüttelnden Frauen, konstant entrüsteten Kirchenpflegern – und nun also noch über die ganze Festwoche meine unheimliche Stille … was soll da werden? Ich weiß es jedenfalls nicht, lebe gänzlich prospektlos«. Solchen »närrischen Situationen« wie dem »Reformationsjubel« will Barth mit »Unbewegtheit« »vorbeigehen«. Thurneysen hofft im Antwortbrief vom 28. Oktober 1917 sogar darauf, dass unter bestimmten »Bedingung[en] Gott uns und unsrer Kirche diese Festwoche vergeben will.« Karl Barth-Eduard Thurneysen Briefwechsel, Band 1: 1913–1921, bearbeitet und herausgegeben von Eduard Thurneysen (KBGA 3), Zürich 1973, S. 237f.239. Allerdings hält Barth dann doch noch einen Vortrag über die 95 Thesen Luthers, vgl. Brief vom 1. November 1917, in: a.a.O., S. 241. Vgl. auch G. Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 220f. – Neben der neutralen reformierten Schweiz sei noch auf die ebenfalls neutralen reformierten Niederlande hingewiesen: Herman Paul / Bart Wallet / George Harinck (Hg.), De Reformatie-herdenking van 1917. Historische beeldvorming en religieuze identiteitspolitiek in Nederland, Zoetermeer 2004.

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formationsjahr dazu helfen soll, derartige gehässige und unwissenschaftliche Idiosynkrasien im Volke zu verbreiten, können wir Reformirten nicht ernsthaft genug Einspruch erheben« (S. 130). Als Deutsche und Christen müsse man sich hüten, »durch Übertreibungen den vorhandenen Riß zu verbreitern und alles Ausländische als minderwertig zu verlästern« (S. 130). Im Hinblick auf den internationalen Charakter des Reformiertentums wolle man nicht, »daß das Gedächtnisjahr der Reformation der nationalistischen und konfessionellen Selbstbeweihräucherung dienstbar gemacht wird.« (S. 130) Vielmehr hätte die evangelische Kirche in Deutschland »alle Ursache, nur im Gefühl größter Bescheidenheit ihr Gedächtnisjahr zu begehen«. Zu behaupten, man sei »kirchlich an der Spitze der Nationen und eine Gott vor anderen wohlgefällige Gemeinschaft« (S. 130f.), sei unzutreffend. Übers Kirche-Sein könne man etwa viel lernen bei »dem Ergänzer und Vollender des Werkes Luthers«, nämlich Johannes Calvin. Wer alles Gute lediglich im deutschen Luthertum verkörpert sähe, müsse »so ganz von Gott verlassen sein … [und] auch in kirchlichen Dingen alles nur in der Kriegsstimmung beurteilen.« (S. 131) »Wir Reformirten, durch Geschichte und Auffassung des Christentums den auswärtigen Kirchen verwandt«, hätten einerseits vielfältige Kontakte, bewahrten andererseits aber auch ihre Eigenart, so dass sie jetzt wie immer schon zwischen den Reformationsformaten vermitteln könnten (S. 131). Deshalb würde man das Reformationsfest 1917 feiern und auf Luther hinweisen, auf die besondere Verantwortung des deutschen Volkes, aber »wir werden uns sorgsam hüten vor dem Wahn, als sei die Reformation eine Tat des deutschen Geistes gewesen« (S. 131).136 Entsprechend fallen auch die konkreten Vorschläge zu einer reformierten Feier des Reformationsjubiläums aus.137 Die Reformation sei als umfassendes Geschehen, als »große Bewegung« zu würdigen, auch politisch und kulturell, es sei »vor allem religiös fruchtbar zu machen«. Offenkundig hatte man reformierterseits Sorge um eine politischenationalistische Instrumentalisierung, bei der man nur hätte abseits stehen können. Die direkte Auseinandersetzung mit lutherischen Bestrebungen suchte etwa der Auricher Generalsuperintendent Hermann Müller138, der ein Luther-Heftchen der Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz kritisiert, in dem Luther und deutsch wie auch evangelisch und deutsch übereinander geblendet werden. Andere Reformatoren würden jeweils 136

Leider leistet sich Wilhelm Kolfhaus einige Wochen später frankophobe Ausfälle, vgl. ders., Über die Geistesverfassung des französischen Protestantismus, in: RKZ 67 (1917), S. 194f. 137 [Johann Adam] Heilmann (Göttingen), Vorschlag von Richtlinien für die Feier des Reformationsjubiläums, in: RKZ 67 (1917), S. 137 (6. Mai 1917). 138 Hermann Müller, Zum Reformationsjubiläum, in: RKZ 67 (1917), S. 161f.

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»das Beiwort von ihrer Nationalität erhalten – offenbar um in dem im gegenwärtigen Kriege hochgespannten deutschen Nationalgefühl die Leser von vorneherein gegen [sc. den französischen] Calvin einzunehmen und allein für Luther als den Mann unseres Volkes zu gewinnen. Nun sind auch wir Reformirte wahrhaft treue Deutsche, auch wir freuen uns von Herzen an der echt deutschen, urkräftigen Art Luthers. Aber in Sachen des Reiches Gottes, das alle Völker umfassen will, entscheidet nicht die nationale Herkunft, sondern die Wahrheit. Petrus, Johannes, Paulus waren Juden, aber sie sind uns darum nicht weniger wert. Calvin war Franzose, aber das tritt für uns zurück gegen ihn den großen Reformator.« (S. 161) Deshalb solle kein »Luther-, sondern ein Reformationsjubiläum gefeiert werden.«139 Ein reformierter Sonderfall stellten wie so oft – und bei aller Verbundenheit mit dem mainstream – die französisch-reformierten Gemeinden dar. Typisch dürfte sein, was Traugott Doyé aus Großziethen/Berlin (†1935) ausführte.140 Er betont die Übereinstimmung innerhalb der evangelischen Lehre und unterstreicht die Bedeutung des reformierten Protestantismus, etwa Calvins und des Heidelberger Katechismus. Dann jedoch wendet er sich nationalistisch gefärbt gegen die aus seiner Sicht falsche, von England dominierte Ökumene, gegen »das großsprecherische englische Weltchristentum« (S. 221). Der Glaube müsste die Moralität des ganzen Volkes durchdringen, womit Doyé implizit auch sagte, dass das in Deutschland geschehen sei, in England dagegen nicht. »Deshalb ist es Aufgabe des deutschen Volkes, welches keine Mordschuld auf sich geladen, der christlichen Kulturwelt, der gesamten Welt das deutsche Christentum zu vermitteln.« (S. 221) Zu einer solchen Aussage hätten sich die Mehrheitsreformierten – mit Ausnahme des Schriftleiters Theodor Lang – wohl nicht hinreißen lassen, und ebenso wenig hätten sie »[d]ie Bankerotterklärung des englischen Protestantismus und des französischen Katholizismus« (S. 221) behauptet. Gegen konfessionelle Einseitigkeit anderer Nationen lobte Doyé die konfessionelle Vielfalt in Deutschland, wo nun »erschallt … der Ruf: die deutschen Christen an die Front! Und da werden alle Christen freudig antreten, und wir französischen Reformirten sind auch dabei.« (S. 221) Mit Blick auf die Geschichte behauptet der Hugenottensprössling, dass 139

Ähnlich auch Wilhelm Neuser, Reformations-, nicht Lutherjubiläum, in: RKZ 67 (1917), S. 315–317.323f. So findet Neuser im Schreiben des Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten an die Landeskonsistorien, 16. Januar 1917 (vgl. KJ 44 [1917], S. 513) eine Engführung auf eine Lutherfeier, a.a.O., S. 316. – Das Reformationsheft der RKZ vom 28. Oktober 1917 ist dann merkwürdig unbedeutend und ohne Profil. 140 [Traugott] Doyé, Was hat das 400jährige Jubiläum der Reformation unseren Gemeinden zu sagen?, in: RKZ 67 (1917), S. 218–221. – Weil dieser Text typisch sein wird, ist er auch veröffentlicht worden.

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man »das ungastliche Frankreich« verlassen habe. »Das deutsche Volk, das uns gastlich aufnahm, hat uns, unter Belassung unserer Eigenart, christliche Kultur genießen und mitschaffen lassen.« (S. 221) Man wollte sich in Sachen Patriotismus eben von niemand übertrumpfen lassen und vergaß darüber die reformierten Relativierungen von »Nation«.141 Eine weitere kleine Gruppe innerhalb des reformierten Spektrums, durchaus aber mit überproportionaler Wirkkraft, waren die »Freunde des Heidelberger Katechismus«, ein Kreis von Kohlbrüggianern, vor allem, aber nicht nur vom Niederrhein. In ihrem »Korrespondenzblatt«, das stark von biblischen Auslegungen geprägt war, findet das Reformationsjubiläum nur kurz, aber kritisch, ja ablehnend Erwähnung: Die »Einmütigkeit« des Protestantismus, die im kirchlich inszenierten Gedenken demonstriert werden solle, hat »der allmächtige Gott durch den tödlichen Streit zwischen den Angelsachsen und den Deutschen beantwortet, den großen Völkern einst evangelischen Bekenntnisses. Und der römische Papst nimmt das Richteramt über die Toten.« Hier bricht sich das kohlbrüggianische radikalrechtfertigungstheologische Verständnis von Welt, Kultur und Mensch Bahn, über das der strafende Gott sein Urteil gesprochen hat. »Feste feiern« sei geradezu eine Verführung, denn damit würde nur das Eigene, nicht jedoch Gott gerühmt. Kein Wunder also, dass »das Reformationsfest 1917 recht verschiedenartig gefeiert« werde – in jedem Fall geschehe dies jedoch unter Gottes Gericht.142 Eine nochmals anders formatierte reformierte Sicht auf die Reformation im Jahre 1917 findet sich in August Langs »Festschrift«,143 die in lippischen Kontexten angeregt,144 lange angekündigt dann erst im September des Jahres erscheint und als der reformierte Beitrag schlechthin verstanden wird.145 Der Hallenser Pfarrer und Professor sieht Luther zeittypisch positiv und ordnet ihn auch eindeutig national zu: »unser 141

Ein weiteres nationalprotestantisches Beispiel dieses Reformationsjubiläums aus dem hugenottischen Bereich bietet der Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt, Charles Correvon, in einer Predigt anlässlich einer Synodeneröffnung über 1. Korinther 16,3, in: Sechste ordentliche Tagung der Bezirkssynode des Konsistorialbezirks Frankfurt a.M. vom 22. bis 26. Januar 1917 (als Typoskript gedruckt: Frankfurt 1917), S. 1–8. 142 Zum Reformationstage 1917, in: Korrespondenz-Blatt der Freunde des Heidelberger Katechismus 15 (1917), Nr. 10 vom 15. Oktober 1917, Titelseite. – Es lässt einen heute erschaudern, wenn es dann weiter heißt: »Der 137. Psalm ist heute zum Festliede der evangelischen Gemeinde geworden.« Man vergleiche die vv. 7–9. 143 August Lang, Die Reformation. Festschrift zum 31. Oktober 1917, Detmold 1917. Vgl. dazu A. Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 130f. 144 Vgl. RKZ 67 (1917), S. 130. 145 Theodor Lang, Unsere Festschrift zur Reformationsfeier, in: RKZ 67 (1917), S. 313– 315. Die Schrift wird allen lippischen Synodalen auf der außerordentlichen Landessynode im September 1917 überreicht und in 900 Exemplaren an die Elberfelder Konfirmanden verteilt, vgl. RKZ 67 (1917), S. 380.

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deutscher Volksheld D. Martin Luther« (S. 3). Das deutsche Volk hege »Liebe zu seinem geistlichen Lehrer und nationalen Helden« (S. 22), in Luther sähe man »den echt deutschen Mann« (S. 22). Luthers »Persönlichkeit« sei entscheidend, aber die Reformation sei eben auch »über Luther hinausgewachsen«, so dass »der Gedenktag doch nicht einseitig zur Lutherfeier gestempelt werden [darf]« (S. 3). Entsprechend stellt Lang in vier Kapiteln die Reformatoren Luther, Zwingli, Melanchthon und Calvin146 dar und schließt den Beitrag mit einem Resümee ab. Ihm geht es zwar oft um die »Persönlichkeit« der Reformatoren,147 aber er zeichnet die Personen doch kontextuell in die Kirchengeschichte ein und erwähnt ebenso die vielen Unbenannten und Unbekannten neben den Gelehrten, Theologen und Fürsten; auch Laien und sogar Frauen hätten eine beachtenswerte Rolle gespielt (S. 71). Die Reformation sei, so Lang, nicht nur binnenkirchlich von Belang, nicht nur politisch-historisch wirksam, sondern auch kultur- und sozialgeschichtlich (S. 72–77). Doch Lang ist – wie viele aus dem Wuppertaler Kontext, seit Paul Geyser und anderen Neopietisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – pietistisch geprägt und durch eigene Forschungsarbeiten auch puritanisch beeinflusst. Nur selten äußert er sich nationalistisch,148 gelegentlich aber antijüdisch (wenngleich nicht antisemitisch),149 vor allem aber anti-römisch,150 und blendet Letzteres auch bei Luther, später aber vor allem bei Calvin hinein. Luther (S. 5–25) wird von Lang geradezu pietistisch portraitiert. »Das Heil … ist … die persönliche Gnadenannahme« (S. 10), Glaube sei nicht nur ein »Fürwahrhalten, blinder Gehorsam gegen die von der Kirche vorgeschriebenen Lehren, sondern das herzliche Vertrauen« (S. 10).151 Der Langsche Luther betont deshalb die individuelle Geltung des Heils, eine »Hingabe des Herzens« (S. 11). Die evangelische Konfession sei geprägt von »einer persönlich selbständigen und freien Frömmigkeit« (S. 11). Als Konsequenz seiner »persönliche[n] Erfahrung« (S. 11) »sah sich Luther genötigt, die Lehren und kirchlichen Zustände an der Hand der heiligen Schrift und seiner reli146

Zu Calvin vgl. seine Schriften aus dem Calvin-Jahr 1909 und seine Schrift Zwingli und Calvin (Monographien zur Weltgeschichte 31), Bielefeld 1913. 147 Eine zentrale Bedeutung der »Persönlichkeit« in vielen populären und theologischen Schriften des Jahres 1917 stellt auch fest G. Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 199f. 148 Etwa: in den reformatorischen Hauptschriften Luthers »vermählt sich … der deutsche Geist mit dem Evangelium«, Lang, Reformation, a.a.O., S. 15. 149 Lang beklagt Auswüchse der jüdischen Beimischungen des ursprünglichen Christentums (S. 5) und kann von »einer blinden, alttestamentlichen Gesetzlichkeit« (S. 33) sprechen. 150 »Antichrist in Rom« (S. 20); »dem antichristlichen Rom« (S. 37); »Antichristentum des Papstes« (S. 43). 151 Der Anklang an Heidelberger Katechismus 21 ist nicht zu überhören.

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giösen Erfahrung einer schärferen Prüfung zu unterwerfen.« (S. 13)152 Die Eigenart und damit auch die Grenzen der lutherischen Reformation sei die an sich richtige Position von CA VII (vgl. S. 24) und das ausschließliche Beharren auf der Rechtfertigung (vgl. S. 30), aber »Reformation« sei eben vielgestaltig. Deshalb portraitiert Lang in seiner Festschrift zum 31. Oktober 1917 auch drei weitere Reformatoren. Dabei rückt Lang Ulrich Zwingli (S. 27–40) sehr dicht an Deutschland heran. Er betont – gelegentlich auch kritisch (S. 40) – Zwinglis Nähe zum Humanismus. Zwingli sei ein gelehrter Schrifttheologe, der auch in »sozialen und politischen Dinge[n]« (S. 30) mit »seine[m] an sich bewunderswerten politischen Eifer« (S. 39) wirken wollte. Bei der kontroverstheologischen Debatte um das Abendmahl identifiziert sich Lang mit Zwingli (vgl. S. 35). Noch stärker als Zwingli war Philipp Melanchthon (S. 41–54) nach Lang ein überragender Gelehrter, der allerdings die Einseitigkeiten und Grenzen des Luthertums auch nicht überwinden konnte. Der feinnervige Gelehrte war gegenüber den Feinden der Reformation gegenüber zu lax und wurde vom Luthertum geradezu in den reformierten Protestantismus gedrängt – vor allem aber dessen Anhänger und Nachfolger (S. 67). Den größten Beitrag des reformierten Protestantismus zur Reformation erbrachte Johannes Calvin (S. 55–69). Der aktuelle Kriegsgegner Frankreich wird, als nichtgermanisches Land, positiv erwähnt, das seinerzeit mit Renaissance, Humanismus und einem gelehrten Biblizismus aufstrebend gewesen sei (S. 56f.). Lang nennt Calvin »hart« und »Feldherr« (S. 67) – Zuschreibungen, die in der Kriegsgesellschaft 1917 als positiv galten. Calvin habe vom Humanismus, von den Täufern und von Luther gelernt. Lang betont wie bei Luther auch bei Calvin die gemachten Erfahrungen (vgl. S. 61). Dieser sei der große Organisator gewesen, nicht nur des Kirchenwesens, sondern auch der reformatorischen Theologie: »Das Bezeichnende an der neuen Erscheinung reformatorischer Frömmigkeit ist ihr zusammenfassender, ihr Unionscharakter.« (S. 62)153 So findet die Reformation mit Calvin ihr Ziel und Ende. Noch stärker als bei Luther betont Lang hier das individuelle Moment des Glaubens, neben die »Glaubensgerechtigkeit« tritt die »Wiedergeburt aus dem Glauben« (S. 63). »Diese individualistische, persönliche Auffassung des Christentums … ist die Grundeigentümlichkeit des reformierten Christentums, von welcher es durch alle Wandlungen der Geschichte hindurch lebt und zehrt« (S. 63). Das ist gewiss eine eher eigenwillige Charakteristik des Calvinismus, die stark von Langs eigener Frömmigkeit geformt ist. Sie ist nicht 152

Es ist kein Wunder, dass dieser fromme Mann, der Schrift und religiöse Erfahrung – nicht nur hier, sondern auch in anderen Arbeiten – derart beiordnen kann, in den 20er Jahren den Radikalitäten des jungen Karl Barth eher hilflos begegnete. 153 Auch die Union 1817 wird später noch positiv erwähnt, a.a.O., S. 72.

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zuletzt anti-römisch orientiert, klingt neuzeitlich-modern, ist aber pietistisch grundiert. Lebhaft bedauert Lang den »Fall Servet« als Rückfall in eine eigentlich überwundene Geisteshaltung (S. 65f.) und wendet sich schließlich der Wirkungsgeschichte zu. Der Calvinismus sei »in allen Ländern Europas«, ja »auf [dem] weltweiten Felde« (S. 66) wirksam gewesen. Im Schoß der anglikanischen Kirche sei der Puritanismus entstanden (S. 69), den Lang dem reformierten Protestantismus subsumiert. Gute Beziehungen hätten das Verhältnis der englischen und deutschen Kirche durch Jahrhunderte hindurch geprägt (S. 73). Nordamerika sei durch die »Jünger Calvins« insgesamt evangelisch geworden (S. 69). »Am wenigsten Erfolg hatte [Calvin] … in unserm Vaterland« (S. 67), was vor allem den Streitereien des Luthertums geschuldet sei. Besonders habe der Calvinismus für die gesamte Reformation die Gegenreformation und den »Jesuitismus« überstehen helfen – die Anspielung auf die Revision des Jesuitengesetzes vom Frühjahr war aktuelle Polemik. Dagegen sei der Calvinismus ein entscheidender Schritt zur Moderne. »[W]as der moderne Mensch am nötigsten gebraucht und in seiner Art am höchsten schätzt, ist das Ideal des evangelischen Christentums: freie, nur an Gott und das Gewissen gebundene, an allen Aufgaben des Lebens freudig arbeitende Persönlichkeiten.« (S. 73f.) Das wirkte sich freiheitlich auf das gesamte »Kulturleben« aus: auf Beruf, auf Staat, selbst auf den »nationale[n] Gedanke[n], diese[n] umfassende[n] Mutterboden unseres heutigen Kulturlebens« (S. 74). Man spürt Langs Bemühen, den Calvinismus nicht als etwas Fremdes und Fremdartiges erscheinen zu lassen. »Der Calvinismus erkämpfte in seinem Drängen auf Befreiung der einzelnen Persönlichkeit und der individuellen Körperschaften im Staate zunächst in der englischen Revolution den Parlamentarismus und die Gewissensfreiheit. Alsdann gründeten die angelsächsischen Protestanten den völlig demokratischen amerikanischen Freistaat. Von hier sprang der liberal-demokratische Staatsgedanke nach Frankreich über … Bezeichnend für diese unter sich wieder sehr verschiedenartigen Demokratien des Westens ist ihr aus der calvinistischen Reformation stammender Individualismus. Er zeigt sich … auch in der Art, wie der Staat, sich mit seiner Zwangsgewalt selbst beschränkend, wichtigste Kulturaufgaben der freien Initiative des Einzelnen überläßt.« (S. 75) Alle Kriegsgegner Deutschlands werden von Lang in einem positiven Zusammenhang mit der notwendigen Modernisierung der Welt genannt! »Nicht umsonst sind die wesentlich von protestantischem Geist durchtränkten Länder wie Deutschland, England und die Vereinigten Staaten oder das indirekt von ihm berührte Frankreich die gegenwärtig führenden Nationen.« (S. 76)154 Hier verweigerte sich ein reformierter Theologe, im 154

Es gab natürlich im reformierten Lager auch kritische Sichten auf die Kriegsgegner, vgl. n.n., Die Ausschreitungen der englischen und französischen Truppen in Afrika, in:

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Weltkrieg auch – wie von vielen propagiert – einen Kampf der Kulturen zu sehen, den Kampf des deutschen gegen den westeuropäischen Geist.155 Lang, der bald in den 20er Jahren maßgeblich das Selbstverständnis der deutschen Reformierten prägen sollte, konnte gar kein Nationalist sein, sondern musste vielmehr den Krieg bedauern und darunter leiden, dass es dem – besonders reformierten – Protestantismus nicht gelungen war, diesen Krieg zu verhindern. Nicht zufällig war dies auch die im internationalen Reformiertentum geäußerte Meinung: Professor James Stalker (Aberdeen) schrieb in der Zeitschrift des Reformierten Weltbundes: »The situation reminds us painfully of the failure of Protestantism to be a uniting bond strong enough to curb the passions provoking war; and it illustrates the necessity for a far more world-wide organisation of the connection between Church and Church for the promotion of which the Alliance exists; for one foundly hopes that, if the Churches of the different countries had found their voices the War might not have happened«.156 Stärker als der Emder Ernst Kochs in dessen Calvin-Heft hebt Lang positiv die humanistischen Wurzeln Zwinglis und Calvins hervor, gemeinsam ist ihnen der Hinweis auf die europaweite Wirkung Calvins, wobei Lang neben Westeuropa und Nordamerika sehr positiv auch die westliche Demokratie bewertet. Hier schlagen die historischen Arbeiten Langs über den Puritanismus sowie seine Erfahrungen in der Ökumene durch. Aufs Ganze gesehen fallen die deutschen Reformierten, weniger die landeskirchlichen und konsistorialen als vielmehr die bewusst konfessioRKZ 67 (1917), S. 67f. In Afrika lebende Deutsche in den so genannten »Schutzgebieten« wurden interniert. Eine solche Berichterstattung stellt aber keinen übersteigerten Nationalismus dar, sondern ist lediglich Kriegspolemik. – Auf zwei Publikationen aus der reformierten Szene sei schließlich noch verwiesen: E.F. Karl Müller, Reformationsbüchlein für Leute, die von allen Reformatoren lernen wollen, Neukirchen 1917; dieses Heftlein des damals führenden, in Erlangen tätigen reformierten Theologiehistorikers kam viel zu spät im Jubiläumsjahr heraus, um noch eine Wirkung zeitigen zu können. Christoph Fikenscher, Luther als deutscher Mann und Christ. Der deutsch-evangelischen Jugend im Jubeljahr der Reformation in der Weltkriegszeit dargestellt, Nürnberg 1917 (mit einer Gesamtauflage von über 50.000 Exemplaren!); vgl. Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 191. Chr. Fikenscher war reformierter Pfarrer an St. Martha in Nürnberg und im Evangelischen Bund engagiert. – Ein völlig ungewöhnlicher Vertreter des Reformiertentums, da liberal, war Pfarrer Adam Rudolf Mühlhausen (1879–1958) aus Leipzig; vgl. Aus dem Lager der ›anderen Religion‹, in: Protestantenblatt Nr. 28/1917. Zu Mühlhausen vgl. Hans-Jürgen Sievers (Hg.), In der Mitte der Stadt. Die Evangelisch-reformierte Kirche zu Leipzig von der Einwanderung der Hugenotten bis zur Friedlichen Revolution, Leipzig 2000, S. 164f. 155 Vgl. P. Cornehl, Das Reformationsjubiläum 1917, a.a.O., S. 148f. 156 The Quarterly Register 10 (1917), S. 412, zit. nach Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975, S. 96–110: The Alliance and World War I, hier: S. 104 (deutsch in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, a.a.O., S. 48–60, hier: S. 55f.).

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nellen, für die mentale Kriegsführung eher aus. Trotz gewisser Sympathien fremdelte man mit Luther, betonte gerne Zwinglis Unabhängigkeit von der deutschen Reformation und sah Calvin und auch Westeuropa und Amerika nicht negativ, sondern vielmehr in einem großen positiven Zusammenhang. Neben dem kirchlichen Gegner »Rom« ist es vor allem das deutsche Luthertum, gegen das man sich abgrenzt, indem man dessen Grenzen aufzeigt. 8. Resümee: »Im allgemeinen erhebend« Wie insgesamt im deutschen Protestantismus wurde das Reformationsjubiläum 1917 – und damit die eigenen Leistungen – bei den Reformierten im Rückblick positiv beurteilt, auch wenn man sowohl an der Basis etwa der Emder Ortsgemeinde als auch in überkirchlichen Strukturen wie beim Reformierten Bund anders als die Landeskirchen und der DEKA kaum Interesse an einer Dokumentation der Feierlichkeiten zu haben schien. Die Abrechnung der Jubiläumskollekte wurde penibel vorgenommen.157 Bereits im Januar 1918 forderte man von Berlin aus Berichte über die Reformationsfeiern aus den Landeskirchen an; als diese unterblieben, wurde sie im Frühling/Sommer 1919 nochmals angemahnt und dann auch erstellt.158 Dem Auricher Konsistorium dienten als Basis die Bezirksberichte, die das Konsistorium eingefordert hatte.159 Es wird festgestellt, dass landeskirchenweit die Feiern »im allgemeinen erhebend verlaufen sind.« In beinahe jeder Gemeinde habe es am 31. Oktober 1917 einen Festgottesdienst gegeben, der durch Chorgesang festlich, sonst freilich nach örtlichen Gepflogenheiten und kriegsbedingt schlicht gestaltet war. Durch die Teilnahme der Schulkinder lag ein Fokus auch auf dem Bildungsaspekt bzw. auf der Tradierung kirchlicher Lehre. In Städten hatte es mehr Veranstaltungen als auf dem Land gegeben; diese seien »im engsten Einvernehmen und in Verbindung mit den lutherischen Gemeinden« vonstatten gegangen. Diese Feststellung war 157

In der reformierten Landeskirche betrug die Kollekte RM 5480,01, davon kamen 211,16 aus Emden – ein proportional zu den Mitgliedszahlen gerechnet bescheidenes Ergebnis. Diese und weitere Vorgänge in LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 158 Der handschriftliche Bericht, Aurich 14. August 1919 betr.: Feier des ReformationsJubelfestes im Jahre 1917 in der evang.-reformierten Landeskirche Hannovers an den DEKA, findet sich in LKA Leer 20.5.19 (Vol I): Gottesdienst, Kirchliche Feier der Sonn- und Festtage, Feier des Reformationsfestes (1877ff.), Reformationsfest 1917. 159 Angefordert am 17. März 1919 und angemahnt am 11. Juni 1919 von den Vorsitzenden der Bezirke.

8. Resümee: »Im allgemeinen erhebend«

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wohl eher Wunsch als Wirklichkeit. Auch landeskirchenweit stellten die Emder Feierlichkeiten eine Ausnahme dar. Nur in Emden habe es noch zusätzlich eine Nachfeier mit Abendmahl gegeben – »genau wie vor 100 Jahren«, wie der Bericht feststellt. Eine massive staatlich-militärische Instrumentalisierung des Reformationsjubiläums lässt sich weder für Emden noch für die reformierte Landeskirche und erst recht nicht für den Reformierten Bund belegen. Zwar bereisten auf Veranlassung der Obersten Heeresleitung Feldprediger 1917 die Heimat, um zum Durchhalten aufzurufen – das ist gewiss als politische Instrumentalisierung kirchlicher Arbeit zu werten. In den kirchlichen Archiven lagern viele umfangreiche Akten, in denen es um die Zeichnung von Kriegsanleihen und um die Gold-und Metallabgabe geht. Durchhalteparolen, die von oben verordnet wurden, finden sich aber wohl erst später, nämlich 1918, zahlreich in den landeskirchlichen Akten. Dort wird von den Kirchen »Kriegsarbeit auf dem Gebiet von Gottesdienst und Seelsorge, Hinwirkung auf die Stimmung der Bevölkerung und ihr gesetzestreues Verhalten, insbesondere bei der Land- und Arbeiterbevölkerung (Durchhaltungsbewegung)« verlangt.160 Solche massiven Interventionen seitens des Staates waren vielleicht erst 1918 beim »Erlahmen« der Kräfte notwendig. Eine nationale »Note« beim Reformationsjubiläum 1917 war also eher binnenkirchlich-freiwillig, eher auf DEKA- und Konsistorialebene angesiedelt. In den lokalen Gemeinden entschied sicher vor allem der Pfarrer, welche Prägung das Jubiläum annahm. In Emden war es eben der reformierte Kontext, der selbst bei konservativen Vertretern nationalistische Propaganda verhinderte. Dass Konsistorien staatstreuer waren, nimmt nicht Wunder, da sie Teil des landesherrlichen Kirchenregiments waren. In seiner klassisch gewordenen Untersuchung sieht Gottfried Mehnert bei Martin Rade, Otto Baumgarten, zunehmend bei Adolf von Harnack und anderen Liberalen ein Abweichen vom sonst beherrschenden Nationalprotestantismus, eine Absage an einen Chauvinismus und an eine religiös-nationale Mystik.161 Für dieses abweichende Verhalten 160 So und so ähnlich im Herbst 1918 in Papieren aus Berlin, in: LKA Leer, Landessachen 24: die kirchliche Kriegsarbeit und Beteiligung an der Kriegswirtschaft. Der »Wissenschaftliche Ausschuß zur Darstellung der deutschen Kriegswirtschaft« gab eine Denkschrift über die Darstellung der deutschen Kriegswirtschaft, Berlin, Juli 1918, weiter, wo es um die »Mitwirkung der Geistlichkeit bei den im Interesse des Durchhaltens getroffenen volkswirtschaftlichen Maßnahmen« geht. Die dort geforderte »Zurückstellung der Sonntagsheiligung« muss bei den Reformierten, vor allem bei den Altreformierten, als Zumutung verstanden worden sein, die mancherorts dann auch zurückgewiesen wurde. Der Coetus protestierte, vgl. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 27 (1918), S. 128. 161 G. Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919, a.a.O., S. 35. Von Martin Rades »bahnbrechender Bedeutung« für den liberalen »Protest gegen die Verkürzung

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Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern ...«

hätte Mehnert auch andere in den Blick nehmen können: die Reformierten, gewiss nicht alle, aber doch die große Mehrheit ihrer Meinungsmacher. Mehnerts Einschätzung, dass »diese betont nationalen Äußerungen zum Reformationsfest ohne Unterschied fast aus allen theologischen und kirchlichen Lagern kamen«,162 wird man also nicht bestätigen können, sondern ein differenziertes Bild zugunsten einiger Liberaler163 und dann auch der Reformierten zeichnen müssen. Sicher: Reformierte – nicht »die« Reformierten – in Emden und in Deutschland ließen sich für den Kriegskurs der staatlichen Obrigkeit instrumentalisieren, einerseits in den landeskirchlichen Strukturen (wie im Falle des Konsistorialpräsidenten Iderhoff), aber wohl auch aus eigenem Antrieb: Auch Reformierte partizipierten an nationalprotestantischen Mentalitäten (wie der RKZ-Herausgeber Theodor Lang). Reformierte benutzten aber das Reformationsjubiläum 1917 nicht oder kaum für nationalprotestantische Propaganda, weil sie eben die exklusive Identifikation von Reformation und Luther und dann auch das gedankliche Junktim zwischen Luthertum und »deutschem Wesen« nicht nachvollziehen konnten. Vielmehr wollten sie als konfessionelle Minorität das Jubiläum für die Stärkung ihrer Konfession nach innen und außen nutzen. Zu diesem konfessionellen Selbstverständnis gehörte die Bindung an ausländische Gründerväter und internationale Beziehungen zu anderen Kirchtümern – auch und gerade bei den Kriegsgegnern. Deshalb waren die Reformierten natürlich noch nicht vor blindem Nationalismus gänzlich gefeit, aber bei ihnen wurde das Wissen bewahrt, dass die Nation keinen Letztwert besitzt: Konfession ist wichtiger als Nation.

Luthers zum ›Deutschen‹ und das Bekenntnis zu Luther dem Theologen und dem Christen« spricht G. Maron, Luther 1917, a.a.O., S. 202f. Vgl. auch P. Cornehl, Das Reformationsjubiläum 1917, a.a.O., S. 151. 162 G. Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919, a.a.O., S. 51. Vgl. auch Günter Brakelmann, Protestantismus im Epochenjahr 1917 und im Revolutionsjahr 1918, in: Thomas K. Kuhn / Katharina Kunter (Hg.), Reform, Aufklärung, Erneuerung. Transformationsprozesse im neuzeitlichen und modernen Christentum, Festschrift zum 80. Geburtstag von Martin Greschat, Leipzig 2014, S. 164–181. 163 Vgl. C. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, a.a.O., v.a. S. 492–494.

Von Brandes bis Bukowski Die Moderatoren des Reformierten Bundes

Das Amt des Moderators oder der Moderatorin wird in der Grundordnung des Reformierten Bundes zwar erwähnt, aber weder funktional noch inhaltlich näher bestimmt. So hat denn auch jeder der bisherigen Moderatoren diese Funktion, die in den ersten Statuten von 1884 mit »Präses des Moderamens« bezeichnet wurde, in der ihm eigenen Weise, aber auch sehr zeittypisch ausgeführt. Die Moderatoren waren in ihren Amtsjahren und darüber hinaus tatsächlich Repräsentanten des reformierten Protestantismus in Deutschland, sie waren typisch-reformiert und insofern in ihrer konfessionell führenden Funktion am richtigen Platz. Umgekehrt formuliert: Die Reformierten hatten zu allen Zeiten Moderatoren, die exakt zu ihnen passten. Ein Überblick über diese konfessionellen Kirchenfunktionäre lohnt, um einen Einblick in die Geschichte des reformierten Protestantismus zu gewinnen. − − − − − − − −

1884–1911 Friedrich Heinrich Brandes 1911–1919 Heinrich Calaminus 1919–1934 August Lang 1934–1946 Hermann Albert Hesse 1946–1973 Wilhelm Niesel 1973–1982 Hans Helmut Eßer 1982–1990 Hans-Joachim Kraus 1990–2015 Peter Bukowski

Unschwer sind an den Amtszeiten auch Zäsuren der (Kirchen-) Geschichte wiederzufinden. Während des Kaiserreiches amtierten Brandes und Calaminus, während der Weimarer Republik Lang, während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem so genannten Kirchenkampf Hesse, während der Zeit der »alten« Bundesrepublik Niesel, Eßer und Kraus – übrigens auch jeweils in den typischen Phasen des »Aufbaus« und der Konsolidierung, der gemäßigten Reformen und der Schlussphase des Ost-West-Antagonismus mit ihren Zuspitzungen – und nach der friedlichen Revolution 1989 und der staatlichen Wiedervereinigung 1990 Peter Bukowski. In 131 Jahren amtierten lediglich acht Moderatoren; sie waren mithin im Durchschnitt mehr als 16 Jahre im Amt, von kurzen acht Jahren bis hin zu über einem Vierteljahrhundert. Man ist reformierterseits also durchaus sparsam mit dem Führungspersonal umgegangen. In der Regel

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Von Brandes bis Bukowski

wählte man Männer im Alter von über 50 Jahren, nur zwei waren mit Anfang 40 junge, aber mit Niesel und Bukowski bereits profilierte Vertreter. Bukowskis Nachfolger Martin Engels wurde 2015 sogar im Alter von erst 34 Jahren ins Amt gewählt. Die Moderatoren waren Pfarrer (Brandes, Calaminus, Hesse, Bukowski) und Professoren (Lang, Niesel, Eßer, Kraus), sie waren publizistisch tätig (Calaminus und Hesse) und lehrten in der kirchlichen Ausbildung (Calaminus, Hesse, Niesel, Bukowski). Waren die drei ersten Moderatoren durch erweckliche Theologie geprägt, so die letzten fünf besonders durch Karl Barth. Fast alle – mit Ausnahme von Calaminus – hinterließen ein beachtliches Œuvre, manche haben bleibende wissenschaftliche Beiträge vorgelegt, andere waren auch in überkonfessionellen und transnationalen Leitungsgremien als reformierte Repräsentanten wirksam. Einige frühere Moderatoren sind beinahe vergessen, andere schafften es hingegen in die konfessionelle Erinnerungskultur. Die zeitgenössische und historiographische Bedeutsamkeit der Moderatoren als Kirchenpolitiker und/oder wissenschaftliche Theologen ist unterschiedlich. Lang, Hesse und Niesel sind mit eigenen Personalartikeln in der aktuellen vierten Auflage der »Religion in Geschichte und Gegenwart« vertreten; auch in Wikipedia sucht man Brandes und Calaminus vergeblich, während Eßer und Kraus dort aktuell aufgeführt sind. Nennenswerte Schülerkreise hat niemand aufbauen können, am ehestens noch Hans-Joachim Kraus. Die Moderatoren waren zu ihrer Zeit typische, aber nicht die einzigen bekannten Vertreter des reformierten Protestantismus – andere Kirchenfunktionäre wie die Landessuperintendenten aus Aurich/Leer und Detmold und kirchenleitende Persönlichkeiten aus unierten Landeskirchen wären zu nennen wie auch reformierte Theologieprofessoren, wohingegen weithin bekannte Älteste und Synodale seit etwa einem halben Jahrhundert kaum noch zu benennen sind. Mit den Moderatoren des Reformierten Bundes lässt sich der reformierte Protestantismus exemplarisch erzählen. Aber eine umfassende Geschichte des reformierten Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts bleibt ein dringendes Desiderat.1 Die bis ins Jahr 2000 erschienene 1 Vgl. als grundlegende Literatur: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984; darin die beiden Beiträge J.F. Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert des Reformierten Bundes, S. 12– 37 (auch in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von Heiner Faulenbach / Wilhelm H. Neuser [Unio und Confessio 25], Bielefeld 2006, S. 339–356); Wilhelm Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, S. 38–57. Vgl. auch Wilhelm Kolfhaus, 50 Jahre Reformierter Bund, in: RKZ 84 (1934), S. 303– 305. – Zur Vorgeschichte und zur Sammlung der Reformierten im 19. Jahrhundert vgl. Gerhard Nordholt, Die Entstehung der »Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover«, in: Elwin Lomberg / Gerhard Nordholt / Alfred Rauhaus (Hg.), Die Evange-

1. Friedrich Heinrich Brandes (1884–1911): konfessionell und kooperativ

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»Reformierte Kirchenzeitung« ist eine vorzügliche Quelle, die leider bis heute weder durch ein Gesamtregister noch online erschlossen ist. Zu vielen reformierten Regionen, manchen Themen und wichtigen Personen gibt es historische Untersuchungen; die Geschichte der Reformierten in der DDR und damit die des »Generalkonvents« ist bislang ungeschrieben. 1. Friedrich Heinrich Brandes (1884–1911): konfessionell und kooperativ Ein besonderer Rang gebührt dem Moderator des Beginns, obwohl er nur wenige individuelle Spuren in der Geschichte des Reformierten Bundes hinterlassen hat. Über 27 Jahre lang leitete er den Reformierten Bund und führte ihn durch ruhige Jahre des kontinuierlichen Aufbaus. Friedrich Heinrich Brandes2 wurde am 25. April 1825 in Salzuflen geboren, das zum Fürstentum Lippe-Detmold gehörte. Nach dem Abitur in Detmold ging er zum Studium der Theologie nach Berlin und hörte bei August Neander u.a. Brandes besuchte auch Lehrveranstaltungen anderer Fächer und ging seiner literarischen Leidenschaft nach – so veröffentlichte er bereits als 20jähriger einen Band mit Gedichten (Lemgo 1845). Nach dem Examen in Detmold wurde er zum Frühprediger und Rektor der reformierten Schule seiner Vaterstadt berufen und trat diesen Dienst zu Ostern 1853 (27. März) an.3 Nur dreieinhalb Jahre später wechselte Brandes nach Göttingen zur reformierten Gemeinde, die zur Konföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen gehörte, und blieb dort 35 Jahre lang, nachdem er am 3. November 1856 eingeführt worden war.4 Auch hier engagierte er sich für die reformierte Gelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982, S. 91–157; auch J.F. Gerhard Goeters, Die Situation der Reformierten im 19. Jahrhundert und die Entstehung der Reformierten Landeskirche Hannover und des Reformierten Bundes. Vielfalt und Einheitsbestrebungen unter den deutschen Reformierten (1983), in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, a.a.O., S. 357–374. Im Nachlass J.F. Gerhard Goeters im LKA EKiR Düsseldorf befinden sich Materialsammlungen zum reformierten Protestantismus allgemein und im besonderen zur Geschichte des Reformierten Bundes und zu den frühen Moderatoren wie Friedrich H. Brandes und Heinrich Calaminus. 2 Zum Folgenden vgl. n.n. [vielleicht Theodor Lang als Herausgeber der RKZ], Zum Gedächtnis von Hofprediger a.D. D. Friedrich H. Brandes, in: RKZ 64 (1914), S. 306f.310f.314. Dieser Text folgt einem »Selbstbildnis, welches er bei seinem Amtsjubiläum im Jahre 1903 von sich entworfen hat.« (S. 306) Vgl. auch Hermann Mulert, Art. Friedrich Heinrich Brandes, in: RGG2 1 (1927), S. 1233. 3 So auch finanziell abgesichert konnte er eine Ehe eingehen: Am 15. Oktober 1854 heirateten er und die am 10. September 1826 in Biemsen (heute ein Stadtteil von Bad Salzuflen) geborene Berta Busse-Kronshage. 4 Vgl. Ulfert Herlyn u.a. (Hg.), 250 Jahre Evangelisch-reformierte Gemeinde Göttingen, Göttingen 2003; zu Brandes: a.a.O., S. 29.

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meindeschule, in der er bis zu 16 Stunden wöchentlich unterrichtete, bis diese Schule 1876 mit anderen evangelischen Schulen vereinigt wurde. Brandes wirkte in einer presbyterianischen Gemeinde und war beteiligt an den Jahrzehnte langen Diskursen und Verhandlungen, die später 1882 zur Gründung der reformierten Landeskirche der Provinz Hannover führten, so etwa an den »Lingener Konferenzen« (1855–1870). Auch diese Erfahrungen werden ihn, der in der niedersächsischen Universitätsstadt lebte, zu kirchenhistorisch-kirchenrechtlichen Studien motiviert haben. So widmete er einer Darstellung des schottischen Reformators John Knox viel Zeit5 und scheute auch vor heiklen Themen nicht zurück.6 Seine akademischen Bemühungen wurden nach der Veröffentlichung eines zweibändigen Werkes zur Kirchenverfassung7 mit dem theologischen Ehrendoktor aus Heidelberg im Jahre 1867 gewürdigt. Ein zweites umfangreiches Doppel-Werk befasste sich, nachdem Hannover 1866 von Preußen annektiert worden war, mit der preußischen Religionspolitik.8 Während seiner Göttinger Jahre hat Brandes mehrfach versucht, eine Lehrerlaubnis für reformierte Theologie an der Universität zu erhalten und hat nach der Abweisung solcher Gesuche einerseits in Privatstunden reformierte Studierende um sich gesammelt und gelehrt9 und andererseits in den reformierten Kontexten die Idee vorgebracht, einen reformierten Lehrstuhl in Göttingen zu fordern. Dieser sollte bekanntlich noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen, bis Karl Barth einen entsprechenden Lehrauftrag 1921 erhielt. Mehr Erfolg war seinen Bemühungen um die Sammlung der Reformierten beschieden. Publizistisch früh tätig10 betonte er zwar, dass Lutheraner und Reformierte fundamental einig seien und deshalb eine Kirchentrennung schriftwidrig sei,11 5

Friedrich Heinrich Brandes, John Knox. Der Reformator Schottlands (Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformirten Kirche, Band 10) Elberfeld 1862. 6 Friedrich Heinrich Brandes, In Sachen Lengerichs, 1863; ders., Servet, 1863. 7 Friedrich Heinrich Brandes, Die Verfassung der Kirche nach evangelischen Grundsätzen, Band 1: Allgemeine Grundsätze und Geschichte der kirchlichen Verfassung; Band 2: Systematische Darstellung der Verfassung der Kirche, beide Bände Elberfeld 1867. 8 Friedrich Heinrich Brandes, Geschichte der kirchlichen Politik des Hauses Brandenburg, Band 1: Die Zeit des confessionellen Gegensatzes, Gotha 1872; Band 2: Die Zeit der Unionsstiftungen, Gotha 1873. 9 J.F. Gerhard Goeters, Reformierter Lehrstuhl und Studienhaus in Göttingen, in: Lomberg u.a., Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland (wie Anm. 1), S. 268–278, hier: S. 269. 10 Als Rezensent und Berichterstatter kirchlicher Ereignisse in der Allgemeinen kirchlichen Chronik (erschienen Dresden 1 [1854/1855]–37 [1890/1891]) kritisierte Brandes liberale Theologen wie Wilhelm Herrmann und Albrecht Ritschl. 11 Friedrich Heinrich Brandes, Soll und darf sich die reformirte Kirche in den gegenwärtigen Zeitverhältnissen auf eine Union mit der lutherischen Kirche einlassen?, in: RKZ 10 (1860), S. 390ff.; ders., Zur Wiedervereinigung der beiden evangelischen Kirchen.

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allerdings polemisierte er doch gegen die sich mit dem Konkordienbuch abgrenzenden Lutheraner.12 Im Jahr 1878 wurde er zum Moderator der Konföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen gewählt, blieb dies bis 1899 und betrieb die weitere institutionelle Sammlung reformierter Gemeinden und Kirchtümer, konnte sich allerdings gegen die eher kongregationalistische Mentalität der konföderierten Gemeinden nicht durchsetzen, die einen Anschluss an die Kirche der altpreußischen Union und die staatskirchliche reformierte Landeskirche ablehnten – noch wenige Jahre vor seinem Tod warb Brandes 1907 erneut für eine weitergehende Kooperation zwischen Konföderation und Landeskirche.13 Nach dreieinhalb Dekaden verließ Brandes schweren Herzens Göttingen, widmete der Geschichte dieser Gemeinde jedoch noch Jahre nach seinem Abschied eine grundlegende Studie.14 Im Jahr 1891 nahm er den Ruf zum Hofprediger in Bückeburg an und wirkte dort in der lippischen Heimat bis 1910.15 Besonders in den 90er Jahren widmete sich Brandes wieder verstärkt seiner literarischen Arbeit und veröffentlichte eine Reihe von Erzählungen und Studien.16 In diesen Jahren publizierte er in den Zeitschriften des Reformierten Bundes und des 1890 gegründeten Deutschen Hugenotten-Vereins auch unzählige kirchengeschichtliche Betrachtungen. Nach seiner Pensionierung im Herbst 1910 verlebte er noch einige Jahre des Ruhestandes, die ihm nach dem Tod seiner Frau am 25. August 1911 schwer wurden. Kurz vor Beginn

Fünf Reden; ... nebst einer Zuschrift an die evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Provinz Hannover, Göttingen 1868. 12 Das brachte ihm sogar noch später Ärger ein, als er auf der Hauptversammlung 1889 in Bentheim vortrug: Friedrich Heinrich Brandes, Die reformirte Kirche und die Union, in: RKZ 39 (1889), S. 670ff. 13 Vgl. Walter Mogk, Französisch-reformierte und deutsch-reformierte Gemeinden. Aus der Tätigkeit der Niedersächsischen Konföderation – eines presbyterial-synodalen Kirchenverbandes – im 18./19. Jahrhundert, in: Lomberg u.a., Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland (wie Anm. 1), S. 229–253, hier: S. 251f. Vgl. auch Friedrich Heinrich Brandes, Die Konföderation reformirter Kirchen in Niedersachsen, in: Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins Zehnt 6, Heft 1 und 2, 1896; ders., Die Rechtsverhältnisse der Konföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen, in: Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins Band 13, Heft 5, 1906; ders., Aus dem synodalen Leben der Konföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen I–III, in: Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins Band 13, Heft 6, 1907. 14 Friedrich Heinrich Brandes, Die reformirte Kirche in Göttingen, in: Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins Zehnt 2, Heft 9, 1894. 15 Bernhart Jähnig, Überblick über die Geschichte der Evangelisch-Reformierten Kirche in Bückeburg, in: JbGnsKG 75 (1977), S. 127–143, hier: S. 140. 16 U.a. Friedrich Heinrich Brandes, Manfred, Hannover 1896; ders., Der Doge von Venedig, Hannover 1898; ders., Fredegundis, Hannover 1898; ders., Heinrich Kruse als Dramatiker, Hannover 1898.

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des Ersten Weltkrieges starb Friedrich Heinrich Brandes hochbetagt im Alter von 89 Jahren am 23. Juli 1914 in Bückeburg. Bereits während seiner Göttinger Zeit stand Brandes durch die Reformierte Kirchenzeitung im Kontakt mit anderen Reformierten. So nahm er auch Ideen aus Elberfeld auf und lud im April/Mai 1884 mit Heinrich Calaminus und weiteren Personen zu einer »brüderlichen Besprechung« für Mitte August nach Marburg ein.17 Nach dem im deutschen Protestantismus groß gefeierten Luther-Gedenken 1883 sollte das Zwingli-Gedenken 1884 insofern auch konfessionell nachhaltig genutzt werden, als dass eine die deutschen Reformierten umfassende Organisationsform angestrebt wurde. Einen starken Impuls erhielt Brandes unmittelbar vor der deutschen Gründungsversammlung, als er im Juli am Dritten Konzil der Weltallianz reformierter Kirchen in Belfast teilnahm.18 Er besuchte auch später die europäischen Tagungen der Weltallianz und unterstützte durch seine Übersetzungsarbeit den Austausch zwischen deutschen und weltweiten Reformierten. Obwohl der Elberfelder Heinrich Calaminus, der nachmalige Nachfolger Brandes’, bei der Organisation der Marburger Versammlung federführend gewesen zu sein scheint, wurde Brandes zum Moderator gewählt. Möglicherweise fiel die Wahl seinerzeit nahezu naturgemäß oder vielmehr aus konventionellen Gründen auf ihn, da er zum einen der ältere und zum anderen als Präses der Konföderationsgemeinden, vor allem aber als Hofprediger der »ranghöhere« Repräsentant war. Brandes hatte das Glück, in den insgesamt prosperierenden Jahren des deutschen Kaiserreiches am einigermaßen ungehinderten Aufbau des Reformierten Bundes beteiligt sein zu können.19 Vieles gelang: Die Zahl der Einzelmitglieder stieg von 234 im Jahre 1889 auf 1800 im Jahre 1900, die der Gemeinden von 18 (1889) über 40 (1900) auf 88 im Jahre 1913;20 es bildeten sich wichtige Regionalkonferenzen des Reformierten Bundes; die Reformierte Kirchenzeitung gewann an Bedeutung; durch Gerhard Goebel wurde 1889 ein »Reformiertes Kirchenbuch. Sammlung von in der reformierten Kirche eingeführten Kirchengebeten und Formularen« herausgebracht; E.F. Karl Müller schrieb eine reformierte Symbolik (1896) und gab die reformierten Bekenntnisschriften

17 »An unsere Brüder von der reformirten Kirche, die hin und her wohnen im deutschen Vaterlande!« Abgedruckt in: RKZ 34 (1884), Nr. 21 vom 24. Mai; 100 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 1), S. 9–11. 18 Vgl. Friedrich Heinrich Brandes, Das Concil zu Belfast, in: RKZ 7 (1884), S. 549– 553.568–572. Vgl. auch a.a.O., S. 626. 19 Friedrich Heinrich Brandes, Nach zehn Jahren! Geschichte, Zweck und Bedeutung des Reformirten Bundes für Deutschland, Berlin 1894; ders., Art. Reformierter Bund, in: RE3 XVI (1905), S. 521f. 20 Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 25.

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heraus (1903); es konnten ein Konvikt (Halle 1890) und ein Predigerseminar (Kandidatenstift Elberfeld 1904) eröffnet werden. Seit 1905 war man mit den ambitionierten Vorbereitungen des Calvin-Jahres 1909 beschäftigt.21 Gewiss war dies noch einmal ein Höhepunkt während der langen Moderatorentätigkeit von Friedrich Heinrich Brandes, besonders die Hauptversammlung im April 1909 in Barmen sowie seine Teilnahme an der Festwoche in Genf, wo er eine nicht unkritische Rede halten konnte: »Calvin war in Deutschland bisher nicht blos ein unbekannter, sondern in vielen Kreisen sogar ein übel berüchtigter, weil viel verläumdeter Mann, vor dem man sich zu hüten habe; selbst auf deutschen Universitäten erfuhr man oft weniges von ihm und dies wenige sogar nicht selten in böser Entstellung.«22 Es sei für den Reformierten Bund nötig, »für das reformirte Wesen tätig zu sein, sonst würde alles von einem einseitigen Luthertum absorbirt.« Vieles wurde in diesen Jahren ermöglicht durch das große ehrenamtliche Engagement, aber auch durch die Verrechtlichung des Bundes als eines eingetragenen Vereins mit Sitz in Elberfeld (1907). Vieles gelang also, manches allerdings auch nicht, etwa der doch wohl etwas zu hochfliegende Plan der Einrichtung eines Zentralbüros für die Reformierte Kirche und die Installation eines Generalsekretärs in Berlin23 oder der »Reformirte Kirchenkalender für Deutschland«, der wohl nur 1889 erschien. Mit 86 Jahren trat Brandes auf der Hauptversammlung 1911 im heimischen Detmold ab. Seine Verdienste waren groß, aber sein Amtsverzicht kam doch zu spät. Er hat den Reformierten Bund nach mehr als einem Vierteljahrhundert gut aufgestellt abgegeben. Darin liegt sein Verdienst. Eine theologische Prägung ist kaum erkennbar – für die haben andere, nicht zuletzt E.F. Karl Müller in den wissenschaftlichen Diskursen und die erwecklichen Wuppertaler in der kirchlichen Öffentlichkeit gesorgt. Brandes wird so eindeutig nicht der Erweckungsbewegung zuzurechnen sein, wie dies zuweilen geschieht, auch wenn er dieses lippische Erbe mitgenommen haben sollte und er sich für die Innere Mission (Diakonie) engagierte; sein Engagement für den 1865 gegründeten Protestantenverein dagegen blieb Episode. Dass er wie die übergroße Mehrheit der Kirchenvertreter seiner Zeit preußisch und national21

Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens.« Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 231–265 (Wiederabdruck in diesem Band). 22 In: Jubilé de Calvin à Genève, Juillet 1909. Allocutions, Adresses, Lettres et Documents, publié par la Compagnie des Pasteurs de Genève, Genf 1909, S. 96–99, hier: S. 96. Die ursprüngliche Fassung findet sich in RKZ 32 (1909), S. 241f. 23 Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 26.

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konservativ gedacht haben dürfte, lässt seine auf mehrere Teile angelegte Dichtung »Von Jena bis Sedan« vermuten.24 Der Reformierte Bund hat sich in der Ära Brandes nicht dezidiert politisch betätigt oder geäußert und dürfte selbstverständlich und unauffällig im mainstream des politischen Spektrums innerhalb des deutschen Protestantismus zu verorten sein. In Erinnerung war und blieb Brandes nur bei seinen Zeitgenossen, die dann aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr lebten. So verblasste sein Bild zunehmend. 2. Heinrich Calaminus (1911–1919): unermüdlich und unbekannt Der gegenwärtig am wenigsten bekannte Moderator aus der Geschichte des Reformierten Bundes ist Brandes’ Nachfolger Heinrich Calaminus. Dessen Unbekanntheit steht in einem eklatanten Missverhältnis zu seinen tatsächlichen Verdiensten. Nachdem er 1911 im Alter von 68 Jahren zum Moderator gewählt worden war, erlebte er nur noch die Hauptversammlung 1913 in Wesel, da weitere Hauptversammlungen auf Grund des Krieges nicht mehr einberufen werden konnten. Die Tätigkeit des Reformierten Bundes ruhte ohnehin nahezu während der mehr als vierjährigen Kriegszeit, lediglich 1916 kam es in Halle zu einer »Kriegstagung«, einer Art erweiterten Moderamenssitzung. Auf der nach dem Kriegsende frühzeitig ermöglichten Hauptversammlung Ende August 1919 in Elberfeld nahm Calaminus hochbetagt Abschied von seinem Amt. Mit ihm begann die lange, bis in die Gegenwart hineinwirkende Prägekraft des Wuppertals und besonders Elberfelds im deutschen Reformiertentum. Heinrich Calaminus wurde am 29. Oktober 1842 als Sohn des Pfarrers im hessischen Hanau geboren.25 Die Familie Calaminus war ein Jahrhunderte altes Pfarrergeschlecht, dessen berühmtester Vertreter Petrus Calaminus (1556–1598) als Theologieprofessor in Wittenberg wegen des Vorwurfs des Kryptocalvinismus vertrieben wurde und danach ab 1592 in Heidelberg weiterlehren konnte. Nach dem Besuch der Realschule und des Gymnasiums studierte Heinrich Calaminus an der hessischen Landesuniversität Marburg, legte 24 Friedrich Heinrich Brandes, Von Jena bis Sedan. Ein Sang, Lemgo 1913 (erschienen nur Teil 1). 25 Zum folgenden vgl. Hermann-Peter Eberlein (Hg.), Album ministrorum der Reformierten Gemeinde Elberfeld. Prediger und Pastoren seit 1552 (SVRKG 163), Köln 2003, S. 157–159 (dieser Text stammt vom Sohn Joachim Calaminus); Johannes Neuenhaus, Zum Gedächtnis meines Freundes Heinrich Calaminus (Traueransprache zu Psalm 31,25), in: RKZ 72 (1922), S. 179f.; Paul und Joachim Calaminus, Aus dem Leben des Pastors Heinrich Calaminus, in: a.a.O., S. 258f.; August Lang, H. Calaminus und das reformierte Bekenntnis, in: a.a.O., S. 259–261. Der Familienname – latinisiert von »Rohr«/Röhrig – wird auf der vorletzten Silbe betont: Calamínus.

2. Heinrich Calaminus (1911–1919): unermüdlich und unbekannt

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dort das Erste Examen ab und unterrichtete dann 1867/1868 an einer Privatschule in Meerholz (heute Gelnhausen), wurde nach seinem Zweiten Examen am 21. Februar 1868 ordiniert und Pfarrer und Rektor der Lateinschule in Wächtersbach bei Gelnhausen. Von 1871 an blieb er sechs Jahre lang ebenfalls in dieser Doppelfunktion im unweit gelegenen Birstein (Vogelsberg). In dieser Zeit veröffentlichte er einige Beiträge in der Reformierten Kirchenzeitung (RKZ), so dass er auch in Elberfeld bekannt wurde. Die dortige reformierte Gemeinde berief den 34jährigen 1877 auf eine ihrer sechs Pfarrstellen. Hier erlebte Calaminus ein durchaus selbstbewusstes, erweckliches Reformiertentum – Paul Geyser (1824– 1882) war noch einige Jahre mit ihm zusammen tätig, mit dem Sohn Nathanael Geyser verband ihn eine lange gemeinsame Amtszeit; dieser folgte ihm später in verschiedenen Ämtern. Mit Dienstantritt in Elberfeld konnte sich Calaminus verstärkt für »die reformierte Sache« engagieren. Dies war umso nötiger, weil die Sammlungsbewegung der Reformierten mit ihren in die Jahre kommenden »Vorkämpfern« in den 70er Jahren an Kraft verlor. So war auch das Schicksal der seit 1851 in Erlangen erscheinenden Reformierten Kirchenzeitung ungewiss. Bereits 1877 übernahm Calaminus die Herausgeberschaft und gab die RKZ dann von 1878 bis 1893 heraus. Auch unter den Herausgebern E.F. Karl Müller (1894–1896), Johannes Stursberg (1897–1906) und Theodor Lang (1907–1918) blieb Elberfeld Verlagsort, wohin Letztgenannter dann umzog. Bereits 1880 wurde in Barmen der Reformierte Schriftenverein gegründet, in dem Calaminus Predigten und Vorträge publizierte.26 Am 8. September 1877 wurde ein »Reformierter Bund« für das Wuppertal gegründet. »Calaminus war die treibende Kraft.«27 Von Anfang an war wohl auch an eine reichsweite Ausdehnung gedacht. Diese Idee sollte wenige Jahre später realisiert werden. Mögen andere Beteiligte älter und berufsbiographisch bedeutsamer als Calaminus gewesen sein wie Friedrich Heinrich Brandes in Göttingen oder der allseits geachtete August Ebrard in Erlangen, es waren doch die Elberfelder und damit vor allem Calaminus, die die Idee und den Namen des Bundes einbrachten und zu einem festeren konfessionellen Zusammenschluss rieten, der nicht nur institutionelle Größen wie Gemeinden und Kirchtümer, sondern auch Personen umfassen sollte. So war Calaminus Mitunterzeichner der Einladung zur Marburger Conferenz (19.–21. August 1884), die zur Gründung des Reformierten Bundes führte. Bereits im Vorfeld ver-

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Beispielsweise: Heinrich Calaminus, Die Geschichte des Heidelberger Katechismus in Deutschland. Vortrag gehalten am Montag, den 8. Dezember 1884 zu Elberfeld (Vorträge zur Förderung und Belebung des reformirten Bekenntnisses 1), Elberfeld 1885. 27 Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 16.

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öffentlichte er »Gedanken zu der Marburger Konferenz«,28 hielt während dieser Zusammenkunft den wichtigen Vortrag »Über die gegenwärtige Lage der reformirten Kirche in Deutschland und die Mittel zur Wahrung und Pflege der Güter derselben«29 und berichtete schließlich ausführlich in der RKZ über die Marburger Tage.30 In Marburg konnten sich die Elberfelder, die mit Abstand die größte Gruppe der Teilnehmer stellten, insofern durchsetzen, als dass der Reformierte Bund nicht eine Vereinigung von kirchlichen Institutionen, sondern auch eine Sammlung von Personen sein sollte – während der ersten Jahrzehnte lag hier auch der Schwerpunkt der Arbeit –, »welcher in einer periodisch wiederkehrenden Conferenz und deren ständigem, geschäftsführendem Moderamen seinen Mittelpunkt habe.«31 Calaminus’ Vortrag spiegelte konfessionelles Bemühen, aber keinen Konfessionalismus wider. Er benutzte reformiertes Vokabular und sprach etwa von der »freien Gnade« und vom »Fels Israels«, unstrittig war eine durchgehende christozentrische Theologie; bei allem Respekt vor anderen reformierten Bekenntnisschriften wird dem Heidelberger Katechismus insofern am meisten Gewicht beigelegt, als dass dieser die Reformierten vereine und weiter sammeln könne, gerade auch international. Lehrstreitigkeiten, soweit sie nicht kirchenrechtlich relevant seien, sollten hintangestellt werden. Dies betraf nicht zuletzt die Lehre von der Prädestination. Als es dann um die offizielle Führung ging, musste der Jüngere dem Älteren und Bekannteren den Vortritt lassen: Friedrich Heinrich Brandes (s.o.) wurde nach Vorbesprechungen und auf Vorschlag Calaminus’ der erste Moderator. Die erste Hauptversammlung des Reformierten Bundes, die bereits für das Folgejahr avisiert wurde, konnte dann nirgends anders als eben in Elberfeld geplant und durchgeführt werden (25.–27. August 1885). Während der kommenden Jahrzehnte stand Brandes an der Spitze, während Calaminus noch bis 1893 die RKZ herausgab, einige kleinere Schriften publizierte und sich dem Gedeihen der reformierten Gemeinde vor Ort widmete. Er gründete den »Psalmengesangverein« (später: Reformierter Gesangverein), sorgte für die Errichtung der Friedhofskirche, predigte zum 300jährigen Stadtjubiläum 1910. Seine vielleicht 28 Heinrich Calaminus, Gedanken zu der Marburger Konferenz, in: RKZ 7 (1884), S. 437–439. 29 Am 20. August 1884 im Saalbau neben der Universitätsbibliothek, vgl. Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 19. Vgl. auch RKZ 34 (1884), S. 595–599. 30 Heinrich Calaminus, Die sechste Konferenz reformirter Prediger, Ältester und Gemeindeglieder am 19., 20., 21. August zu Marburg, in: RKZ 34 (1884), S. 577–583. 593–599.609–617.625–629.641–648. Vgl. auch Verhandlungen der sechsten Conferenz reformirter Prediger, Ältesten und Gemeindeglieder am 19., 20., 21. August zu Marburg, Barmen (Verlag des Reformirten Schriftenvereins) 1884. 31 RKZ 34 (1884), S. 597.

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nachhaltigste Innovation war die mit Nathanael Geyser betriebene Gründung des reformierten Kandidatenstiftes in Elberfeld, das die reformierten Vikare in Sammelvikariate zusammenführte. Von 1904 bis 1910 leitete er diese noch kleine Einrichtung und übergab sie dann in die Hände Geysers.32 Seine 1906 aufgenommene Tätigkeit als Superintendent von Elberfeld beendete Calaminus im Jahr 1911, weil er nach seinem Jahrzehnte langen Engagement, u.a. als Schriftführer, doch noch an die Spitze der deutschen Reformierten gerufen wurde. Die Detmolder Hauptversammlung (20.–24. August 1911) wählte ihn zum neuen Moderator. Eine große Wirksamkeit war ihm wegen des Krieges nicht mehr möglich. Immerhin sorgte er maßgeblich mit dafür, dass die Reformierten während des Ersten Weltkrieges jedenfalls nicht überbordend nationalprotestantisch auftraten33 – gerade auch die konfessionell-geschwisterlichen Beziehungen ins Ausland, die er wie sein Vorgänger Brandes und vor allem auch wie sein Schwiegersohn August Lang (s.u.) schätzte, schützten davor. Besonders bei den Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum 191734 verstand es Calaminus mit einigen anderen Moderamensmitgliedern seit der »Kriegstagung« 1916 in Halle, die deutschnationalen Positionen des RKZ-Herausgebers Theodor Lang (1870–1931) zu relativieren. So betonte er, dass es beim Reformationsjubiläum nicht um die Namen der Reformatoren, auch nicht um die Vorrangstellung von Nationen oder Völkern ginge, sondern um den Gottessohn. Die reformatorische Wahrheit sei »nicht eines Volkes Erzeugnis …, sondern [muß] alle Völker, Nationen, Geschlechter … und Zungen erleuchten und befriedigen … Eben darum ist die Reformation nicht eines Volkes Werk für alle Menschen auf der ganzen Erde. Mag auch in der gegenwärtigen Zeit der Hinweis auf die vermeintlich deutsche Eigenart der Reformation auf besondere Zugkraft zu rechnen haben, so wird doch eben damit dem Heilswerke Gottes ein Hemmnis bereitet.« Aus dem Reformationsfest 1917 ließ sich damit aus seiner Perspektive keine Unterstützung für nationale Kriegsziele ableiten.35 32 33

Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 29. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.« Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, hg. von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (Forschungen zur Reformierten Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 99–135 (Wiederabdruck in diesem Band). Bereits in den ersten Kriegswochen fiel der 1881 geborene Sohn Matthias Calaminus. 34 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland, in: KZG 26 (2013), S. 238–261 (Wiederabdruck in diesem Band). 35 [Heinrich] C[alaminus], Lasset uns halten an dem Bekenntnis!, in: RKZ 67 (1917), S. 33f.

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Im Jahr 1918 konnte Calaminus als 75jähriger noch sein 50jähriges Amtsjubiläum begehen.36 Nach der Zäsur 1918/1919 und hochbetagt »von der Last der Jahre gebeugt«, lud er nochmals in schwieriger Zeit die Hauptversammlung nach Elberfeld ein (26.–28. August 1919),37 um dort die Leitung des Bundes in jüngere Hände zu legen – in die seines Schwiegersohnes August Lang, der 1904 die Tochter Elisabeth geheiratet hatte. Durch die Einrichtung eines Arbeitsausschusses in Elberfeld wurde aber gewährleistet, dass entscheidende Tätigkeiten dort verblieben. Lebenslang durch frühe Erkrankungen geschwächt, aber zäh und diszipliniert, mit einer großen Familie gesegnet, trat Heinrich Calaminus am 1. April 1922 erschöpft in den Ruhestand und verstarb wenige Monate später am 3. Juli 1922 im 80. Lebensjahr. Die Bedeutung Calaminus’ für den Reformierten Bund ist nicht nur an den Jahren 1911 bis 1919 festzumachen, in denen er als Moderator fungierte. Immerhin waren dies Jahre, als die Arbeit im Bund kriegsbedingt nahezu ruhte, er aber mit seinem politisch zurückhaltenden Kurs dazu beitrug, dass der Bund sich nicht nationalprotestantisch kompromittierte. In den Jahrzehnten zuvor wirkte er unermüdlich, bereits vor der Gründung des Reformierten Bundes, dann aber vor allem in seiner selbstlosen Arbeit als Herausgeber der RKZ, seinem engagierten Mittun im Gründungsjahr 1884, seiner Tätigkeit am Kandidatenstift sowie als Pfarrer und Superintendent in Elberfeld. Calaminus wird in der bisherigen Kirchengeschichtsschreibung der Reformierten praktisch nicht berücksichtigt. In dem Heft der RKZ, das dem Andenken des Ehrenmoderators gewidmet war, wünschte das Moderamen: »Möge sein Andenken unter uns lebendig bleiben und viele antreiben, seinen Fußtapfen nachzufolgen!«38 Dieser Wunsch blieb unerfüllt. 3. August Lang (1919–1934): erwecklich und ökumenisch »Seine wohl lebendigste und verheißungsvollste Zeit hat das deutsche Reformiertentum … in den Zwanziger Jahren [des 20.] Jahrhunderts gehabt.«39 In diesen Jahren wirkte August Lang als Moderator. Auch wenn er nicht allein oder prominent für diese reformierte Vitalität verantwortlich zeichnet, so wäre es doch unangemessen, sein Andenken auch weiterhin an einigen Spötteleien jüngerer Theologen (s.u.) und durch eine verkürzte Darstellung der Umstände seines Amtsendes bestimmt sein zu lassen. Lang war in mehrfacher Hinsicht ein bedeutender 36 37 38 39

Vgl. RKZ 68 (1918), S. 51f. Vgl. die Berichte in RKZ 69 (1919), S. 269f.288f.300–302. RKZ 72 (1922), Nr. 45 vom 5. November 1922, S. 257. Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 31.

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Repräsentant der deutschen Reformierten, lange schon bevor er Moderator des Reformierten Bundes wurde. Durch seine in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs geschriebene Autobiographie sind wir über seinen Lebenslauf ausführlich informiert.40 August Lang wurde am 26. Februar 1867 auf einem Bauerngehöft in Huppichteroth (heute Teil der Gemeinde Nümbrecht) im Oberbergischen Land geboren. Dort wuchs er im erwecklich-pietistischen Milieu der rheinischen Provinzialkirche auf, erlebte aber auch das Wirken separatistischer Gruppen. Durch Privatunterricht in Latein und Griechisch vorbereitet, besuchte er ab 1882 im nassauischen Dillenburg das Gymnasium und ging nach dem Abitur 1886 zum Studium der Theologie nach Bonn. Während des Drei-Kaiser-Jahres studierte er in Berlin und kehrte 1889 wieder nach Bonn zurück, um besonders bei Friedrich Sieffert (1843–1911) zu hören, der gerade von Erlangen an den Rhein zurück berufen worden war. Noch mehr prägten ihn aber seine Hilfstätigkeiten beim katholischen Rechtshistoriker Hermann Hüffer (1830– 1905). Lang bewegte sich auch in Gemeinschaftskreisen und erlebte etwa die Gründungsversammlung der Gnadauer Pfingstkonferenz im Mai 1888 in Magdeburg mit. Nach dem Ersten Examen vor dem Konsistorium in Koblenz und einer Lizentiatenarbeit 1890 in Bonn war Lang bis 1891 im Domkandidatenstift in Berlin. In diesem Jahr trat der 24jährige Lang erstmals bei den Reformierten in Erscheinung, als er auf der Hauptversammlung 1891 (25.–27. August) in Barmen über kirchengeschichtliche Forschungen referierte.41 Nach zwei auch wirtschaftlich unsicheren Jahren auf Grund des Mangels von kirchlichen Anstellungsmöglichkeiten, die er zwischen Bonn und Berlin verlebte und in denen einige kleinere Calvin-Studien entstanden, wurde Lang im Herbst 1893 aus etwa 40 Bewerbern auf die dritte Dompredigerstelle in Halle gewählt. Hier sollte er bis zu seinem Lebensende leben und wirken. In zweiter Ehe war er seit 1904 mit Elisabeth Calaminus verheiratet, der Tochter des Schriftführers und nachmaligen Moderators des Reformierten Bundes Heinrich Calaminus (s.o.). In Halle habilitierte sich Lang im Jahr 1900 und lehrte auch im 1890 gegründeten Reformierten Konvikt, für dessen Neubau 1912 er verantwortlich zeichnete. Vor allem aber intensivierte er seine Mitarbeit 40 August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010 (Lit.: S. 286–298). Ein Teilabdruck: ders., Der Reformierte Bund vor und nach 1900, in: RKZ 98 (1957), S. 5– 8.38–41. Vgl. die Würdigung Langs von Paul Gabriel, in: ThLZ 72 (1947), S. 107f.; Klaus-Gunther Wesseling, Art. Lang, August, in: BBKL IV (1992), S. 1077f.; Thomas K. Kuhn, Art. Lang, August, in: RGG4 V (2002), S. 68. Vgl. Jürgen Reuter, August Lang. Moderator des Reformierten Bundes 1919 bis 1934, in: Klueting/Rohls, Reformierte Retrospektiven (wie Anm. 21), S. 267–275. 41 Vgl. RKZ 14 (1891), 283–285.

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im Reformierten Bund, nahm seit 1891 an nahezu allen Hauptversammlungen teil, publizierte zahlreiche Beiträge in der RKZ und baute Kontakte innerhalb des Reformierten Weltbundes auf. Neben seinen Reisen nach Skandinavien und Holland waren England – wegen seiner Interessen an Martin Bucer und am Puritanismus – und Amerika ihm besonders wichtig. Nachdem er im Zusammenhang mit dem CalvinJubiläum 1909, das er in Deutschland maßgeblich mitgestaltete und das ihm einige akademische Ehrungen einbrachte,42 seine internationalen Kontakte pflegen und ausbauen konnte, unternahm Lang, unterdes 1911 ins Moderamen des Reformierten Bundes gewählt, im April und Mai 1914 eine ausführliche Amerika-Reise.43 Hier erlebte er noch die letzten Auswirkungen des Jubiläums des Heidelberger Katechismus vom Vorjahr und berichtete in Vorträgen über die Theologie in Deutschland. Dabei war James Isaac Good (1850–1924) ein wichtiger Mittelsmann für Lang; dieser hatte bereits an der Gründungsversammlung des Reformierten Bundes 1884 in Marburg teilgenommen. Auch nach Kriegsbeginn fungierte Lang als Berichterstatter nach beiden Seiten: Informierte er einerseits amerikanische Freunde über seine deutschen Perspektiven, so veröffentlichte er andererseits amerikanische Nachrichten in der RKZ. Lang litt unter dem Krieg und klagte im dritten Kriegsjahr: »Zu den betrübendsten Erscheinungen des Weltkrieges gehört es, daß in der Erregung der völkischen Leidenschaften die Brüder aus demselben Hause der Reformation so weit auseinandergerissen sind. Wir deutschen Reformirten spüren das am härtesten, und besonders leid tut es uns, daß sich ein so scharfer Riß zwischen uns, die wir 1909 Calvin so begeistert gefeiert haben, und den heutigen Nachfahren der alten Hugenotten aufgetan hat.«44 Ähnlich empfand er es gegenüber den Engländern und Amerikanern. Den Krieg insgesamt bewertete er, jedenfalls mit zunehmender Kriegsdauer und im Nachhinein, als ein Gericht Gottes über die Völker, die sich von Gott entfernt hatten.45 Das mag erwecklich-konservativ erscheinen, schützte aber trotz »vaterländischer Gesinnung«46 vor bleibender Kriegseuphorie47 und übersteigerten Kriegszielforderungen. Auch ein Nationalismus hatte bei einem international agierenden Reformierten keinen letzten Wert. Die Zeit des Ersten Welt42 Vgl. Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 85–99; Ulrichs, Calvin-Jubiläum 1909 (wie Anm. 21). 43 Vgl. August Lang, Von jenseits der großen Wasser, in: RKZ 64 (1914), S. 187f.195f. 203f.211f.219f. Vgl. Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), v.a. S. 122–139. 44 August Lang, Deutschland und die französischen Protestanten, in: RKZ 66 (1916), S. 77. 45 Vgl. Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 122. 46 Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 127. 47 Ein zeitweiliges Mitergriffensein von der angeblichen Begeisterung des Volkes im Spätsommer 1914 ist davon unberührt, vgl. Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 123f.

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krieges blieben für Lang die »schrecklichen Jahre«.48 Und doch war auch Lang nicht davor gefeit, problematische Töne anzuschlagen, etwa in seiner »Festschrift«49 zum Reformationsjubiläum 1917, in der er Luther national einordnet. Nur selten äußerte Lang sich nationalistisch,50 gelegentlich aber antijüdisch (wenngleich nicht antisemitisch),51 vor allem aber anti-römisch,52 wofür er sich auf Luther, später vor allem auf Calvin berief. Im Wirken des Genfer Reformators sah Lang den größten Beitrag zur protestantischen Weltgestaltung. Kriegsgegner Deutschlands werden von Lang in einem positiven Zusammenhang mit der notwendigen Modernisierung der Welt genannt. »Nicht umsonst sind die wesentlich von protestantischem Geist durchtränkten Länder wie Deutschland, England und die Vereinigten Staaten oder das indirekt von ihm berührte Frankreich die gegenwärtig führenden Nationen.«53 Sogar die westliche Demokratie konnte Lang wertschätzen. Es war gewiss ein großer Segen für den Reformierten Bund, dass nicht der seinerzeit nationalprotestantisch agitierende Herausgeber der RKZ Hermann Albert Hesse (s.u.), sondern der ökumenisch-weltoffene August Lang 1919 zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt wurde. Vielleicht wäre ohne die von ihm aufgebauten und gepflegten Kontakte die »Amerikaspende« nicht möglich gewesen.54 Mit diesen großzügigen Mitteln aus »Feindesland« konnte der Reformierte Bund nicht nur die RKZ stabilisieren, sondern zahlreiche diakonische Einrichtungen sowie die Konvikte und Studienhäuser unterstützen, vor allem aber auch zur Etablierung des reformierten Lehrstuhl in Göttingen beitragen. Während der ganzen 20er Jahre pflegte Lang sein ökumenisches Engagement und besuchte (Welt-) Versammlungen von Faith and Order, vom Weltbund für Freundschaftsarbeit und des Reformierten Weltbundes. Reisen führten ihn nach Genf, nach Amerika, nach England, Irland, Schottland und Wales, nach Schweden, nach Ungarn und Tschechien. Unermüdlich reiste er durch die reformierten Gebiete und Orte Deutschlands. 48 49

Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 126. August Lang, Die Reformation. Festschrift zum 31. Oktober 1917, Detmold 1917. Vgl. dazu Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 130f. 50 Etwa: in den reformatorischen Hauptschriften Luthers »vermählt sich … der deutsche Geist mit dem Evangelium«; Lang, Reformation (wie Anm. 49), S. 15. 51 Lang, Reformation (wie Anm. 49), beklagte »Auswüchse« der jüdischen Beimischungen des ursprünglichen Christentums (S. 5) und kann von »einer blinden, alttestamentlichen Gesetzlichkeit« (S. 33) sprechen. 52 »Antichrist in Rom« (S. 20); »dem antichristlichen Rom« (S. 37); »Antichristentum des Papstes« (S. 43). 53 A.a.O., S. 76. 54 Vgl. Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 142–144. Erste Mitteilung durch August Lang in RKZ 69 (1919), Nr. 44 vom 2. November 1922, S. 325, wo er auch auf seinen Amerikabesuch 1914 hinweist. Goeters, Vorgeschichte (wie Anm. 1), S. 33.

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Während reformierte Kirchenfunktionäre aus den Landeskirchen zu Beginn der ersten deutschen Demokratie und dem Ende des Staatskirchentums mit der Schaffung von Kirchenverfassungen und dem Aufbau bzw. der Weiterführung von Kirchenbehörden beschäftigt waren, versuchten gerade auch die Reformierten im Reformierten Bund, einen engeren konfessionellen Zusammenschluss wie etwa eine reformierte Reichskirche herbeizuführen; ein wichtiger Wortführer war Johann Viktor Bredt (1879–1940). Eine solche Kirchenorganisation erwies sich zwar nicht als realisierbar, aber der Reformierte Bund wurde als reichsweite konfessionelle Sammlungsbewegung gestärkt, mit der man kirchenpolitisch auch öffentlichkeitswirksam agieren konnte, so etwa gegen ein altpreußisches Bischofsamt. Nach Jahrzehnte langen Bemühungen, sich konfessionell Gehör zu verschaffen, und einer erfolgreichen Aufbauarbeit des Reformierten Bundes hatte man eine gewisse Bedeutung erlangt. Auf diesem Hintergrund erscheint es als durchaus frech, wenn jüngere Reformierte den führenden Repräsentanten kleinlichen Konfessionalismus oder spätere »Jungreformierte« denselben nicht genug konfessionelle Bissigkeit vorwarfen. Karl Barth spöttelte über Lang, den er auf der Hauptversammlung 1923 in Emden traf und der »ganz anders als erwartet« sei: »ein kleines altes Männlein …, äußerst vorsichtig und schlau im Abwürgen unangenehmer Diskussionen und ähnlichen Künsten, sonst aber herzlich unbedeutend, obwohl sicher vieles wissend.« Barth wird nicht zuletzt Lang gemeint haben, als er seinem Freund Eduard Thurneysen schrieb: »Die führenden Männer des Reformierten Bundes sind gänzlich ungebrochene Leute, die sich durchaus nicht aus dem Konzept bringen ließen, sondern sich begnügten, mich über den grünen Klee zu loben und dann zu tun, als wäre nichts geschehen.«55 Zuvor hatte Barth die deutschen Reformierten allerdings frontal angegriffen. Seinen vermutlich erstaunten Zuhörern erklärte der junge Göttinger Professor, dass zeitgenössische Antworten auf die Frage nach »reformierter Lehre« unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort »des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art«. Zu fordern sei aber gerade mit den »Vätern« die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.56 Barth vertrat dies mit Verve, aber die führenden Reformierten aus den erwecklichen Kontexten werden sich doch gerade als solche Verteidiger von »Bibel und Geist« verstanden haben. Zwei Jahrzehnte später erinnerte 55

Karl Barth, Rundbrief vom 24. September 1923, in: Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930, Zürich 1974, S. 182–189, Zitat: S. 185; Brief Barths an Thurneysen vom 25. September 1923, in: a.a.O., S. 189f., Zitat: S. 190. 56 Karl Barth, Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe (1923), in: ders. Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze, Zürich 1990, S. 202–247, hier: S. 212.

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sich Lang noch der »gedankenreichen Ausführungen, von Geist und Leben sprühend«. »[A]lle Hörer, zumal die theologische Jugend, [riß] neben der glänzenden Rede vorzüglich das Neue und Kühne in seinen [sc. Barths] Darlegungen zur Bewunderung fort. Wir aber, die wir es gewagt hatten, Karl Barth auf den für uns so wichtigen Lehrstuhl in Göttingen zu rufen, fühlten mit hoher Befriedigung, daß dieser Mann wenigstens dem damaligen Geschlecht Wichtiges zu sagen habe.«57 Fremd blieb Lang auch später so manche theologische Polemik Barths, er anerkannte aber auch: »Immerhin reizte Barths Schroffheit wieder einmal zu tieferem Nachsinnen und zur Anerkennung seines aufrüttelnden, geistesmächtigen Scharfsinns.«58 Gewiss wurde Lang kein »Barthianer«, aber er eröffnete dem theologischen Heißsporn doch die Möglichkeiten, in der reformierten Szene Fuß zu fassen. Nachdem Lang bereits ab 1909 theologische Ferienkurse organisiert hatte, lud der Reformierte Bund auf Initiative von Hermann Albert Hesse ab 1925 zu theologischen Wochen nach Elberfeld ein, während derer neben Johann Viktor Bredt immer wieder auch Karl Barth und ihm nahestehende Theologen zu Wort kamen. Im Frühjahr 1933 war Lang 66 Jahre alt. Junge Theologen nannten ihn intern despektierlich »Papa Lang«. Trotz seiner von ihm eingestandenen vorsichtigen und vermittelnden Art muss die konfessionelle Erinnerung an den angeblich überforderten und zaudernden altväterlichen Lang, der dann Anfang 1934 in höchster Not durch den tatkräftigen Hermann Albert Hesse abgelöst worden sei, modifiziert werden.59 Lang hatte bereits am 27. Mai 1933 angekündigt, im Frühjahr 1934 nicht wieder als Moderator kandidieren zu wollen.60 Die kirchenpolitisch ungemein bewegten Monate des Frühjahrs 1933 hatten in ihm wohl die Überzeugung reifen lassen, dass er den Herausforderungen der ›neuen‹ Zeit nicht mehr gerecht werden könnte. Außerdem galt der Elberfelder Hermann Albert Hesse schon länger als geeigneter Nachfolger. Während der Gründungsversammlung des Coetus reformierter Prediger am 13. Oktober wurde formuliert: »In aller Ehrerbietung bitten wir den Herrn Moderator, in der gegenwärtigen schwierigen Lage von seinem Amt zurückzutreten, damit die Leitung des Bundes in jüngere Hände gelegt werden kann.«61 Im Dezember 1933 ehrte die RKZ August Lang noch 57

Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 165. Dieses schrieb Lang 1944, als Barths Schriften schon jahrelang in Deutschland verboten waren. 58 Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 172. 59 Aus Langs Perspektive vgl. ders., Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 224–227. 60 Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994, S. 41, Anm. 210. 61 Karl Immer, Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1933–1913, hg. von Joachim Beckmann, Neukirchen-Vluyn 1976, S. 13; vgl. auch Brief Immers an Lang vom

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zu seinem 40jährigen Dienstjubiläum in Halle,62 drei Wochen später erschien dann aber eine schonungslose Abrechnung des bisherigen Kurses der Reformierten durch Wilhelm Niesel63 – »diese Worte [galten] wohl in erster Linie mir«, wie Lang ahnte.64 Zur Hauptversammlung am 5. Januar 1934 in Barmen hat nicht einmal mehr der Moderator Lang eingeladen, sondern die Initiatoren der Freien reformierten Bekenntnissynode, die unmittelbar davor stattfand. In seiner Perspektive legte Lang sein Amt freiwillig nieder und wurde zum Ehren-Moderator gewählt. Nicht nur Hermann Albert Hesse, sondern auch die neuen Moderamensmitglieder Karl Barth, Eberhard Baumann und Harmannus Obendiek standen dann für einen eindeutigen bekenntniskirchlichen Kurs des Reformierten Bundes. August Lang nahm aus der anhaltinischen Ferne den »Kirchenkampf« der Reformierten wahr, hoffte vergeblich auf eine Übereinkunft der landeskirchlichen und der vereinsmäßig organisierten und bekenntniskirchlichen Reformierten im Osnabrücker Kirchenkonvent und auf ein Mittun der Bekennenden Kirche (BK) in den Kirchenausschüssen ab 1935. »[I]nnerlich war ich mit dem jetzt eingeschlagenen Kurs, durch den der Reformierte Bund sozusagen ganz in der Bekennenden Kirche aufging, nicht einverstanden und hielt mich demzufolge von da an so gut wie ganz zurück.«65 Bis 1943 versorgte Lang sein Pfarramt in Halle und beging dort sein 50jähriges Amtsjubiläum; er nahm noch an weiteren europäischen Treffen wie dem Genfer Calvin-Jubiläum 1936 teil und konnte 1941 noch ein größeres Werk über »Puritanismus und Pietismus« herausbringen. Das Kriegsende erlebte er als Niederlage und musste den Unfalltod seiner zweiten Tochter kurz vor Pfingsten 1945 erleiden. Am 2. Dezember 1945 ist August Lang im Alter von 78 Jahren in Halle gestorben. 4. Hermann Albert Hesse (1934–1946): konfessionalistisch und kämpferisch »Eine tief im Calvinismus wurzelnde theologische Überzeugung paart sich bei ihm mit dem unnachgiebigen und unbelehrbaren Trotz des 17. Oktober 1933: »den Platz am Steuer freizumachen für eine jüngere Kraft«, in: Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 81. 62 Unserem verehrten Herrn Prof. D. August Lang in Halle a.d. Saale, im Namen der Mitglieder des Moderamens: Adolf Lauffs, in: RKZ 83 (1933), Nr. 49 vom 3. Dezember 1933, S. 369f. Ausdrücklich wird vermerkt, dass »wir jetzt gerne jüngeren Kräften die weitere Führung überlassen« (S. 370). 63 Wilhelm Niesel, Bekenntnis oder Berechnung, in: RKZ 83 (1933), S. 398–400. 64 Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 225. 65 Lang, Lebenserinnerungen (wie Anm. 40), S. 231.

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Friesen.«66 Mit dieser ungemein treffenden Charakterisierung half das kollaborierende Konsistorium in Düsseldorf dem NS-Unrechtsstaat, den vierten Moderator des Reformierten Bundes zu kriminalisieren. »Als Vorkämpfer des reformierten Konfessionalismus« sei Hesse quasi ein kirchlich-institutioneller Querulant. Hermann Albert Hesse war einer der zahlreichen ostfriesischen Pastoren des Wuppertals in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hesse wurde am 22. April 1877 in Weener unweit der deutsch-niederländischen Grenze geboren.67 Familiär durch die Erweckungsbewegung geprägt, ging er ein Jahr nach dem Abitur 1894 zum Studium nach Erlangen, wo es den einzigen reformierten Lehrstuhl in Deutschland gab, der mit E.F. Karl Müller außerordentlich glücklich besetzt war. Nach drei Semestern wechselte er nach Berlin, wo Adolf Schlatter als Gegenpol zum liberalen Adolf Harnack wirkte. Nach dem Ersten Examen 1899 vor dem Konsistorium in Aurich folgte er Schlatter nach Tübingen und promovierte dort 1901 zum Lizentiaten der Theologie und legte im Herbst desselben Jahres das Zweite Examen mit Auszeichnung ab. Nach einem kurzen Einsatz in Moers wirkte er von 1902 bis 1909 als Pastor in Meiderich und kam dort mit erwecklichen und mit kohlbrüggianischen Kreisen in Kontakt. Der viel umworbene junge und gelehrte Pfarrer übernahm dann von 1909 bis 1916 eine ehemals reformierte Pfarrstelle St. Pauli in Bremen, wo dem Ehepaar Hesse68 fünf Kinder geboren wurden, um schließlich 1916 seinen Bestimmungsort zu erreichen: Elberfeld. Hier traf er u.a. auf den Moderator des Reformierten Bundes Heinrich Calaminus und den Superintendenten Nathanael Geyser. Neben der anspruchsvollen Gemeindearbeit engagierte sich Hesse bald in weiteren Kontexten: So übernahm er bereits im Frühjahr 1918 nach dem Abgang von Theodor Lang bis 1929 die Schriftleitung der 66

Zitiert nach Theodor Langenbruch, Hermann Albert Hesse. Reformierter Theologe und führender Mann der Bekennenden Kirche, in: Wuppertaler Biographien 17, hg. von Hans-Joachim de Bruyn-Ouboter (Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde des Wuppertals 37), Wuppertal 1993, S. 84–101, hier: S. 93. 67 Vgl. zum Folgenden neben Langenbruch, Hermann Albert Hesse (wie Anm. 66), Hermann-Peter Eberlein (Hg.), Album ministrorum (wie Anm. 25), S. 190f.; Günther van Norden, KZ-Häftling um des Glaubens willen. Der standhafte Bußprediger Hermann Albert Hesse, in: ders. / Klaus Schmidt (Hg.), Sie schwammen gegen den Strom. Widersetzlichkeit und Verfolgung rheinischer Protestanten im »Dritten Reich«, Köln 22007, S. 186–189 (Lit.!); Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 156–158; Hans-Georg Ulrichs, Art. Hesse, Hermann Albert, in RGG4 III (2001), S. 1706f.; Simone Rauthe, »Scharfe Gegner«. Die Disziplinierung kirchlicher Mitarbeitender durch das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz und seine Finanzabteilung von 1933 bis 1945 (SVRKG 162), Köln 2003, S. 216–218; Herwart Vorländer, Kirchenkampf in Elberfeld 1933–1945. Ein kritischer Beitrag zur Erforschung des Kirchenkampfes in Deutschland (AGK E 6), Göttingen 1968. 68 Im März 1909 hatten Hermann Albert Hesse und Martha Bochterle (1881–1954), die aus dem schwäbisch-herrnhuterischen Korntal bei Stuttgart stammte, geheiratet.

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RKZ, setzte dort allerdings gerade auch während der letzten Kriegswochen und den Wintermonaten 1918/19 dessen nationalprotestantische Linie fort – zweifelsohne eine Minderheitenmeinung im deutschen Reformiertentum69 –, schwenkte dann aber quasi entpolitisiert zu einer Loyalität zur gegebenen Situation und damit zur demokratischen Staatsform um. 1921 wurde er ins Moderamen des Reformierten Bundes gewählt; auf ihn waren zwei Jahre zuvor bei der Moderatorenwahl nur wenige Stimmen entfallen, so daß August Langs Position über viele Jahre als unangefochten angesehen werden kann. Nach Geysers Tod übernahm Hesse als Calaminus’ Nachnachfolger 1920 die Leitung des Elberfelder Kandidatenstiftes, das ab 1928 als altpreußisches Predigerseminar anerkannt wurde. Ebenso unterrichtete er an der 1928 errichteten Theologischen Schule. Hesse publizierte in der RKZ und andernorts, engagierte sich kirchenpolitisch als Synodaler, so etwa seit 1924 auch in der Generalsynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union und war so in die Auseinandersetzungen um das Bischofsamt involviert. Dieses außerordentliche kirchliche und wissenschaftliche Engagement während der Weimarer Republik zeitigte durchaus ambivalente Folgen: Zum einen fand es etwa mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn am 2. Juni 1925 Anerkennung, zum anderen reizte das Auftreten dieses bedeutenden Pfarrherrn zu respektvollem Spott, in dem er hinter vorgehaltener Hand als »Papst« und sein Pfarrhaus als »Vatikan« bezeichnet wurde. Dennoch agierte Hermann Albert Hesse im Jahr 1933 erstaunlich unsicher. Zum 50jährigen Vereinsjubiläum des Reformierten Bundes 1934 war ein Wechsel an der Spitze geplant. So war es wenig verwunderlich, dass in den hektischen Wochen und Monaten bis zur neuen Kirchenverfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) im Juli 1933 nicht mehr August Lang reformierter Repräsentant war, sondern diese Rolle dem bekannten Kirchenpolitiker und -publizisten Hermann Albert Hesse zufiel. Der von der Situation und den damals erhofften Chancen für die Kirche begeisterte Otto Weber erschien intern wohl als zu jung; er wurde aber sowohl vom Staat als auch von den Deutschen Christen gerne als Reformierter in Leitungsfunktionen gerufen – und Weber, Deutscher Christ (bis November 1933) und NSDAP-Mitglied, ließ sich auch von illegitimer kirchlicher Leitung rufen, von 1933 bis in die Spätjahre des »Dritten Reiches«, als er im so genannten Geistlichen Vertrauensrat mitwirkte. Hesse schätzte Weber gewiss als jungen reformierten Theologen; leider war er auch von Hitlers Vertrauensmann Ludwig Müller zunächst durchaus beeindruckt.

69 Vgl. Ulrichs, »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden« (wie Anm. 33).

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Beim reformierten »Aufbruch« in Rheydt am 16./17. April 1933 waren noch alle reformierten Gruppierungen vertreten. Weber erinnerte sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: »Als der einwandfrei führende Kopf unter uns Reformierten erschien auch in Rheydt H. Hesse.«70 Hesse holte sich zwar den Rat seiner reformierten Brüder, auch den Karl Barths, sorgte aber im Frühjahr und Sommer 1933 immer wieder für Enttäuschungen; so stimmte er, der Jahre zuvor mit Vehemenz einen altpreußischen Bischof abgelehnt hatte, sogar für das »Bischofsgesetz« der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Nach eigener Erinnerung71 war es dann eine gemeinsame Bahnfahrt mit Karl Barth und die Lektüre von dessen Schrift »Theologische Existenz heute!«, die ihn zur Bekennenden Kirche hin und auch von früheren theologischen Positionen wie seiner Schlatter-Schülerschaft weg führte. Diese legendäre Umkehr scheint doch zu früh angesetzt zu sein, denn auch in der zweiten Jahreshälfte 1933 distanzierte er sich nicht klar von Otto Weber, dessen DC-Mitgliedschaft von Karl Immer und vom Coetus reformierter Prediger, der am 13. Oktober 1933 gegründet worden war, eindeutig abgelehnt wurde. Bereits Zeitgenossen charakterisierten Hesses Agieren als »eigenwillig« oder auch als »uneindeutig«. Dies war für manche so enttäuschend, dass sie ihn nicht mehr als zukünftigen Moderator sehen wollten.72 Wilhelm Kolfhaus’ zeitgenössische Einschätzung kaschierte die Differenzen unter den Reformierten, wenn er verallgemeinernd hinwies auf »die Gemeinden unseres Bekenntnisses … die sich nicht scheuten, klar und eindeutig Christus als den einigen Herrn der Kirche zu bekennen und unerschütterlich jedem Versuch zu widerstehen, die Kirche des Herrn Jesus Christus nach menschlichem Gutdünken zu formen. Die Geschichtsschreibung des Jahres 1933/34 wird nicht schweigen können von dem Kampf der Reformierten für das Recht ihres Königs Christus.«73 In den Wochen nach der Coetus-Gründung, vollends nach dem »Sportpalast-Skandal« am 13. November 1933 gingen große Teile der Reformierten ins Lager der Bekennenden Kirche über – auch Hesse. So war die in den Kontexten des Coetus betriebene Freie reformierte Synode am 3./4. Januar 1934 und die am Tag darauf stattfindende Hauptversammlung des Reformierten Bundes kein spontaner »Putsch« gegen August Lang und einen anachronistischen Kurs des Reformierten Bundes, sondern die Manifestation der Kurskorrektur durch die reformier70

So Otto Weber in seinen Erinnerungen (1947), in: Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 404–416, hier: S. 405. 71 Hermann Albert Hesse, Mit Karl Barth im Kirchenkampf, in: RKZ 97 (1956), Nr. 10/11 vom 15. Mai / 1. Juni 1956 (Karl Barth zum 10. Mai 1956), S. 231–236. 72 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 49 mit Anm. 249; S. 82. 73 Kolfhaus, 50 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 1), S. 304f.

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ten BK-Kräfte – und eine personelle Neuausrichtung, die schon lange anstand. Die Hauptversammlung wählte Hermann Albert Hesse zum neuen Moderator und Karl Barth ins Moderamen. Hesse orientierte sich nun ganz an Karl Barth, wobei ihn sein Mitarbeiter Wilhelm Niesel unterstützte. Später konnte Hesse Barth als »Lehrer von Gottes Gnaden«74 bezeichnen. Vor allem war Hesse, der an allen vier Reichsbekenntnissynoden teilnahm, bereit, auch Barths politische Einschätzung des Nationalsozialismus zu teilen. Nicht zufällig war Hesse der Adressat des wichtigen »Abschiedsbriefes« von Barth vom 30. Juni 1935, in dem er der Bekennenden Kirche politisches Versagen vorwarf.75 Später erinnerte sich Hesse nur mit tiefer Scham an »Rheydt«, an sein Mittun bei der neuen Kirchenverfassung, seiner Fehleinschätzung etwa Ludwig Müllers und anderer. In den binnenreformierten Konflikten – Reformierte im Reformierten Bund, im Coetus und bei den Bekenntnissynoden versus landeskirchliche Reformierte u.a. – und in den Auseinandersetzungen um weitere staatliche Versuche wie den Kirchenausschüssen, die evangelische Kirche zu »ordnen«, sah Hesse auch auf Seiten vieler BK-Vertreter eine falsche Kompromissbereitschaft, so auch bei der »Legalisierung« der von BK-Gremien geprüften jungen Theologen oder beim Eid auf den »Führer«. Zunächst noch allgemein wertgeschätzt,76 wurde er zunehmend auch in BK-Kontexten isoliert. Kirchliche Behörden und auch frühere Weggefährten bezichtigten ihn einer rational nicht erklärbaren Radikalisierung. Aber solche Ressentiments gegen Hesse, die aus den Auseinandersetzungen des »Kirchenkampfes« stammten und die auch nach 1945 weiter gepflegt wurden von denen, deren Verhalten Hesse durch seine klarere Haltung ins Unrecht setzte, sollten heute nicht einfach weiter tradiert werden, wie es bei Beschreibungen der »Persönlichkeit« Hesses bis in die jüngste Vergangenheit auch in wissenschaftlichen Untersuchungen geschieht. Es bleibt beschämend, dass innerhalb der reformierten Kirche nur wenige den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus erkannt und die Verbrechen an den Juden auch benannt haben – Hesse gehört zu den bemerkenswerten Ausnahmen. Nach Drohungen und Repressalien seit 1936, mithin nach Jahre langen Anfeindungen und Gefährdungen, gerieten Hermann Albert Hesse und sein Sohn Helmut Hesse (1916–1943)77 ins Visier des nationalsozialisti74 75

Vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 105.361. Abgedruckt u.a. in Hans Prolingheuer, Der Fall Karl Barth 1934–1935. Chronographie einer Vertreibung, Neukirchen-Vluyn 21984, S. 345–350. 76 RKZ 87 (1937), S. 179–189, v.a. Hermann Klugkist Hesse, Zur theologischen Arbeit von D. Hesse, in: a.a.O., S. 185–189. 77 Vgl. Günther van Norden, Helmut Hesse. Ein Bekenntnispfarrer, den die Bekennende Kirche nicht ertrug, in: MEKGR 29 (1980), S. 241–268; vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 310–315; Annkathrin Amelsberg, Helmut

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schen Terrorstaates, nachdem sie in BK-Gottesdiensten am 23. Mai und – nach der verheerenden Bombardierung Barmens und Ronsdorfs – am 6. Juni 1943 die Zerstörungen als Strafgericht Gottes bezeichneten, zur Buße aufriefen und die Verfolgung, ja Vernichtung von Juden verurteilten. Am 8. Juni 1943 verhaftet, verblieben sie noch Monate im Polizeigefängnis, wo Vater Hesse von seiner »Pensionierung« per Verfügung des Konsistoriums erfuhr. In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1943 wurden beide Hesses in das Konzentrationslager nach Dachau gebracht, wo Sohn Hesse zehn Tage später am 24. November 1943 zu Tode gebracht wurde. Da zwei weitere Söhne als Soldaten gestorben waren, wurde der alte Hesse am 18. April 1944 aus dem KZ entlassen. In Elberfeld war der Aufenthalt für ihn nicht mehr möglich; so verlebte das Ehepaar Hesse das letzte Kriegsjahr und die unmittelbare Nachkriegszeit in Hesses Heimatstadt Weener. Das Leben des Reformierten Bundes war spätestens mit der Inhaftierung Hesses 1943 und das des Coetus mit dem Tode Karl Immers 1944 zum Erliegen gekommen. Auf der ersten Hauptversammlung nach dem Krieg 1946 in Detmold (1.–3. Oktober) wurde der junge Wilhelm Niesel (s.u.) zum Moderator und Hermann Albert Hesse zum Ehrenmoderator gewählt. Hesse siedelte nach Elberfeld über und wirkte weiter als Prediger und Kirchenpolitiker in bekenntniskirchlichen Gremien. Herausragend war dabei sein unnachgiebiges Engagement für eine erneuerte Israel-Theologie, denn auch in der BK gab es Bedenkenträger und Zauderer, die grundlegende heilsgeschichtliche Rolle des Volkes Israel anzuerkennen. Hesse, der bereits im Sommer 1942 eine Erörterung der Israeltheologie im Moderamen angemahnt hatte78 und wohl auch die Diskussionen und Erklärungen aus den Niederlanden kannte, forcierte dieses Thema auch im führenden »Bruderrat« nach 1945. »Allein Hesse [unternahm] Anstrengungen, die Sache zu beschleunigen.«79 Auf dem Weg zur Erklärung des Bruderrates vom April 1948 hielt Hesse auf der Sitzung am 7. Januar 1948 den Vortrag »Die Judenfrage in der Verkündigung heute«.80 In seiner Bibel gesättigten Studie betont er den Rang des Alten Testaments, Israels Erwählung und die Einheit der Welt durch den »Ölbaum der Verheißung«, der als Israel oder aber auch als Christus identifiziert werden könne.81 Die Radikalität von Hesses Ausführungen Hesse. Spuren eines Märtyrers der Bekennenden Kirche. Darstellung, Dokumente, Bilder (VIKJ 28), Berlin 2006 (dort zu Hermann Albert Hesse S. 26–30). 78 Vgl. Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart (wie Anm. 1), S. 56. 79 Siegfried Hermle, Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945 (AKiZ B 16), Göttingen 1990, S. 319. Ein sehr schmales Referat von Hesses Schrift, a.a.O., S. 319f. 80 Gedruckt als Heft 3 der »Schriftenreihe der Bekennenden Kirche«, Stuttgart 1948. 81 A.a.O., S. 36.

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ist bis heute nicht wirklich wahrgenommen: Jesus war Jude, Gottes Wort wurde jüdisches Fleisch und sogar der Auferstandene ist Jude.82 Das »Heil der Völkerwelt [ist] wesenhaft verbunden … mit den Juden.«83 Hesses frühe israeltheologische Einsichten sollten in der Geschichtsschreibung über das erneuerte Verhältnis von Synagoge und Kirche nach 1945 deutlicher wahrgenommen werden. Das Moderamen und die RKZ gratulierten dem 80jährigen im April 1957,84 um nur wenige Monate später seinen Tod zu vermelden.85 Hermann Albert Hesse ist im Alter von 80 Jahren am 26. Juli 1957 gestorben und wurde auf dem Friedhof der niederländisch-reformierten Gemeinde in Wuppertal begraben. 5. Wilhelm Niesel (1946–1973): bekennend und beharrend Konnte August Lang das Moderatorenamt trotz der historischen Zäsur von 1918/19 nahtlos von seinem Schwiegervater Heinrich Calaminus übernehmen, so Wilhelm Niesel 1946 von seinem Lehrer Hermann Albert Hesse, mit dem er viel teilte: eine kirchenpolitische und theologische Intransigenz, Härte auch gegen sich selbst, eine entschiedene Gefolgschaft Barths. Bevor Niesel 1946 recht jung Moderator wurde, hatte er bereits eine wissenschaftliche Karriere, viel Praxis in kirchlicher Lehre sowie lange »Kampfjahre« in Kirche und Staat hinter sich. Wilhelm Niesel wurde am 7. Januar 1903 in Berlin geboren und katholisch getauft.86 Im Jahre 1918 wurde er durch Günther Dehn kon82 83 84 85 86

A.a.O., S. 24. A.a.O., S. 22. RKZ 98 (1957), S. 185f.189f. RKZ 98 (1957), S. 348. Zum Folgenden vgl. Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, hg. von Martin Breidert und Hans-Georg Ulrichs (EBzrP 7), Wuppertal 2003; darin: Sigrid Lekebusch, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf. Eine biographische Skizze, S. 15–34; Hans-Georg Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe. Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 – ein Beitrag zur Geschichte der Reformierten in Deutschland im 20. Jahrhundert, S. 35–74 (Wiederabdruck in diesem Band). Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth. Zwei Beispiele aus ihrem Briefwechsel 1924–1968, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 177– 196 (Wiederabdruck in diesem Band); ders. »Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland«. Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988), in: Marco Hofheinz / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 71–100 (Wiederabdruck in diesem Band). Vgl. die Lexikoneinträge Peter Noss, Art. Niesel, Wilhelm, in: BBKL VI (1993), S. 765–774; Hartmut Ruddies, Art. Niesel, Wilhelm, in: RGG4 VI

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firmiert, der ihn in den jugendbewegten Neuwerk-Kreis brachte und zum Studium der evangelischen Theologie motivierte. Nach dem Abitur 1922 studierte Niesel zunächst zwei Semester in Berlin (u.a. bei Adolf von Harnack, der damals mit Barth über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stritt), sodann ein Semester in Tübingen und schließlich von Oktober 1923 bis August 1925 in Göttingen bei Karl Barth. Nach dem Ersten Theologischen Examen vor dem Konsistorium der Mark Brandenburg arbeitete Niesel von Dezember 1926 bis zum Oktober 1928 zusammen mit Peter Barth in Madiswil (Schweiz) an der Herausgabe der Opera selecta Calvins. Karl Barth nannte dies das Madiswiler »Calvinlaboratorium«.87 Seitdem und nach Peter Barths Tod 1940 als alleiniger Herausgeber erarbeitete Niesel sich die Schriften Calvins und muss wohl zu Lebzeiten als einer der besten Calvin-Kenner im deutschsprachigen Raum gelten. Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster promovierte ihn 1930 mit einer Arbeit über Calvins Abendmahlslehre88 und einer Vorlesung über Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition.89 Doktorvater war Karl Barth.90 Nach einem Jahr im reformierten Predigerseminar in Elberfeld, einem kurzen Vikariat in Wittenberge und dem Zweiten Examen wurde Niesel 1930 als Pastor und Studieninspektor des Elberfelder Predigerseminars gewählt und somit Mitarbeiter Hermann Albert Hesses. Daneben unterrichtete Niesel gelegentlich an der Theologischen Schule Elberfeld, die von Otto Weber geleitet wurde. Hier begann Niesel mit Vorlesungen über Calvin, deren Resultat u.a. seine Theologie Calvins91 wurde. Niesel erlebte zwölf Jahre »Kirchenkampf«. Bereits im Frühjahr 1933 nahm er an der Rheydter Versammlung teil, erarbeitete die Düsseldorfer und Elberfelder Thesen mit,92 war Gründungsmitglied des Gemeindeta(2003), S. 309f. – Unterdes ist erschienen: Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und Hans-Georg Ulrichs, Göttingen 2015; vgl. auch Matthias Freudenberg / Hans-Georg Ulrichs, »... weil Du überhaupt zu uns gehörst.« Zur Edition des Briefwechsels zwischen Karl Barth und Wilhelm Niesel 1924–1968, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 32 (2016), Nr. 2, S. 155–171. 87 Brief von Karl Barth an Wilhelm Niesel vom 8. Mai 1928; Briefwechsel Barth/Niesel (wie Anm. 86), S. 62–64, hier: S. 63. 88 Calvins Lehre vom Abendmahl (FGLP III/3), München 1930, 21935. 89 In: ZZ 8 (1930), S. 511–528. 90 Karl Barths Promotionsrede ist abgedruckt in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hg. von Hermann Schmidt, Zürich 1994, S. 569–571. 91 München 1938, 21957, 31958, Übersetzungen ins Japanische, Englische, Ungarische. Vgl. Matthias Freudenberg, Wilhelm Niesels Calvin-Interpretation, in: Breidert/ Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel (wie Anm. 86), S. 75–98. 92 Die Düsseldorfer Thesen (Eine theologische Erklärung zur Gestalt der Kirche) und die Elberfelder Thesen (Forderungen zur Gestalt der Kirche) sind abgedruckt in: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2013, S. 249–259 bzw. S. 265–270.

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ges unter dem Wort und des Coetus reformierter Prediger Deutschlands und natürlich Hesses Berater. Sein Beitrag »Bekenntnis oder Berechnung«93 war wegweisend für die Neuausrichtung der Reformierten mit der Freien reformierten Synode und der Hauptversammlung des Reformierten Bundes vom 3. bis zum 5. Januar 1934 in Barmen. An der Barmer Synode Ende Mai 1934 nahm Niesel als »Beobachter« teil und gehörte zu dem Ausschuss, der der Barmer Theologischen Erklärung die letztgültige Form gab. Niesel konnte Barmen später »eine[.] Sternstunde der Kirche«94 nennen. Seit Mai 1934 war Niesel Mitglied im Bruderrat der altpreußischen Bekennenden Kirche. Zum Herbst 1934 wechselte er als reformierter Referent zum Präses der BK Karl Koch nach Bad Oeynhausen (neben Hans Asmussen als lutherischem Pendant) und 1935 als »Geschäftsführer« des Bruderrates der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) nach Berlin. In Berlin war er maßgeblich an den Entwicklungen in der ApU beteiligt.95 Bleibenden Einfluss sicherte sich Niesel durch seine Vorarbeiten zur Zweiten freien reformierten Synode im März 1935 in Siegen, auf der der Anstoß zur Gründung Kirchlicher Hochschulen gegeben wurde.96 Seit dem Wintersemester 1935/1936 lehrte Niesel Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Dahlem, praktisch seit dem ersten Semester im Untergrund. Wie bereits im Rheinland leitete er in Berlin-Brandenburg das Ausbildungsamt der BK.97 Der Kampf des nationalsozialistischen Gewaltstaates gegen den christlichen Glauben führte zu wachsenden Repressionen: Zunächst die offene Propagierung des »Neuheidentums« seit 1935, sodann die Einsetzung der Kirchenausschüsse und Hanns Kerrls und schließlich die wachsende Verfolgung von Christen durch die gleichgeschaltete Justiz und die »Polizeibehörden« des totalitären Staates, die als immer bedrängender empfunden wurde. Deshalb wurde das erste Jahr der massiven Repressionen (1937) von Niesel als das schwerste aus der Sicht der BK bezeichnet. Niesel war und blieb steter Gegner von kirchenleitender »Realpolitik« und von konfessioneller »innerer Emigration«. Nach einem Ausreiseverbot aus Berlin 1938, mehreren Prozessen und Haftzeiten 93 94

Vgl. Anm. 63. Wilhelm Niesel, Worüber man sich wundern muß, in: RKZ 110 (1969), S. 138f., hier: S. 138. 95 Über den Kirchenkampf in der ApU hat Niesel ein quasi-autobiographisches Buch vorgelegt: Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945, Göttingen 1978 (AGK E11). 96 Niesels Vortrag »Kirchliche Hochschule für reformatorische Theologie« ist auch abgedruckt in: Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 171–182. Zu Siegen vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf (wie Anm. 60), S. 222–244. 97 Seit 1935 wurde Niesel begleitet von Susanna, geb. Pfannschmidt, einer Mitarbeiterin Martin Niemöllers.

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wurde Niesel 1941 mit Redeverbot und Ausweisung aus Berlin belegt. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom »Eisernen Wilhelm«, der nahezu selbstverständlich ins Gestapo-Gefängnis ging. Von 1941 bis 1943 fand Niesel Zuflucht als Hilfsprediger in Breslau. Danach bot die Lippische Landeskirche unter Landessuperintendent Wilhelm Neuser dem ständig Bedrohten Unterschlupf als Pastor der Gemeinde Reelkirchen. Auch während der Kriegsjahre war Niesel an Planung und Organisation der BK und ihrer Synoden beteiligt. Noch vor Kriegsende begann – mit englischer Genehmigung – Niesels Einsatz für den Wiederaufbau legitimer kirchlicher Strukturen, nur kurz in Lippe, sehr bald wieder in der ApU, sodann in der EKD, aber schließlich in erster Linie in reformierten Kontexten. Niesel zählte während des Kirchenkampfes nicht zu den »jungen Brüdern«, sondern war vielmehr als BK-Vertrauensmann der Theologiestudenten und als Dozent für sie verantwortlich. An vorderster Stelle für die Reformierten innerhalb der BK standen Ältere. Während nach der Kapitulation Deutschlands die einen zu jung und die anderen zu alt für neue Führungsaufgaben oder verstorben waren, legte Niesel 1945 seine Rolle als Referent und Mitarbeiter ab und avancierte in der Tat zum herausragenden Repräsentanten der deutschen Reformierten. Als reformierter Vertreter wurde er im August 1945 als einer der Sprecher des neu gebildeten Rates der EKD in Treysa berufen. Im Jahr 1946 wurde er auf der Hauptversammlung (1.–3. Oktober) in Detmold zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt, im selben Jahr trat er die Pfarrstelle der reformierten Gemeinde in Schöller und die damit verbundene Dozentur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal an – Berufungen auf Professuren in Mainz und Bonn schlug er in den Jahren 1946–1948 mehrfach aus.98 Wenn er auch anders als andere BK-Leute auf eine Hochschule-Karriere verzichtete, so verabschiedete er sich dennoch nicht aus der Wissenschaft und der internationalen Calvin-Szene. Niesels wissenschaftliche Verdienste wären darzustellen an den zahllosen Aufsätzen v.a. zu Calvin99, seiner Symbolik100 u.v.m. – diese Verdienste wurden durch fünf Ehrendoktorate anerkannt: Göttingen (1948), Aberdeen (1954), Genf (1958), Straßburg (1964) und Debrecen. Mehrfach war er Gastprofessor im Ausland: in Schottland, Amerika und Japan. 98 Seit 1951 führte Niesel den Titel Professor (Beschluss der Kirchenleitung der EKiR vom 20. Juli 1951). 99 Einige sind gesammelt in Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus (wie Anm. 96); vgl. weiterhin die Bibliographien: ThLZ 88 (1963), S. 633f.; Karl Halaski / Walter Herrenbrück (Hg.), Kirche, Konfession, Ökumene. Festschrift für Professor D. Dr. Wilhelm Niesel, Moderator des Reformierten Bundes zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1973, S. 157–164; Noss, Art. Niesel (wie Anm. 86), S. 767–774. 100 Das Evangelium und die Kirchen. Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirchen 1953, überarbeitet 21960.

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Wilhelm Niesel trat vehement für die konfessionellen Interessen ein. Er polemisierte gegen jede von ihm diagnostizierte »Lutheranisierung« oder gar »Katholisierung« in Liturgie und Kirchenordnung. Als »reformierte Posaune« konnte ihn der reformierte Publizist Karl Halaski charakterisieren.101 Niesel war gewiss ein verlässlicher und berechenbarer Repräsentant, aber persönlich doch weniger zugänglich als etwa der elegante und kulturaffine Karl Halaski oder Landessuperintendent Walter Herrenbrück sen.102 Theologisch stand Niesel hinter Otto Weber, gegen den er letztlich wohl immer einen Rest Misstrauen hegte, und anderen zurück. Niesel hat auch als Moderator des Reformierten Bundes versucht, »das Erbe der BK«, »den Ertrag des Kirchenkampfes« nach 1945 umzusetzen und in der kirchenleitenden Praxis anzuwenden. Möglicherweise hat die Erfahrung des Kirchenkampfes innerhalb eines totalitären Weltanschauungsstaates dann in der neuen demokratischen Staatsform weniger innovativ gewirkt als vielmehr verhindert, dass aufgrund offener Situationen auch neue, liberalere theologische Antworten gegeben werden konnten. Niesel sah den modernen Menschen und damit auch den zeitgenössischen Christen »durch mächtige Propagandaapparate« bedrängt, sich »dem westlichen Denken oder der östlichen Ideologie zu verschreiben.«103 Immer wieder spürt man bei Niesel eine gewisse Distanz zur staatlichen Macht, so dass ihm auch ein solennes Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat schwer zu fallen scheint. »Die Mächtigen der Erde, obwohl verschiedener Weltanschauung, scheinen sich in einem Punkte einig zu sein. Sie wetteifern miteinander an einer Art von Turmbau zu Babel, nur daß sie heute weniger bis in den Himmel vorzustoßen suchen, als vielmehr in die Geheimnisse der Schöpfung eindringen wollen und diese damit zu zerstören drohen.«104 Niesel orientierte sich theologisch, kirchenpolitisch und politisch an Karl Barth und an Barmen.105 Allerdings sah er Barths nur zögerliche Kritik an den realsozialistischen Zuständen als ungenügend an. So gab es unterschiedliche Einschätzungen über die Situation der Christen etwa in der DDR und in Ungarn. 101

So in: RKZ 98 (1957), S. 2f. – Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »… ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«. Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski (in diesem Band). 102 Vgl. meinen Aufsatz »Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik (in diesem Band). 103 Reformiertes Bekenntnis heute (1955), in: Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus (wie Anm. 96), S. 31–39, hier: S. 32. 104 Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, in: a.a.O., S. 40–45, hier: S. 43. Niesel bezog sich damit auf die Gefahren eines Atomkrieges. 105 Wie bereits die von Niesel herausgegebenen BSKORK (1938) die Düsseldorfer Thesen von 1933 enthalten, so beginnt auch Niesels Symbolik grundlegend mit der Barmer Theologischen Erklärung.

5. Wilhelm Niesel (1946–1973): bekennend und beharrend

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Die bereits genannten Arbeitsgebiete überschritt Niesel durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und im Reformierten Weltbund. Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes global unterwegs war. Diese Jahre waren freilich auch schon der Beginn einer Entfremdung zum zeitgenössischen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung 1964 wählte noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen »Kirchenkämpfer« zum Weltbund-Präsidenten, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der BK und die reformierte Tradition hinzuweisen. Doch in den sechziger Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im Weltbund immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen. Die Nachfolgediskussionen um den Moderator begannen spätestens Mitte 1971 – im Herbst 1971 war Niesel bereits ein Vierteljahrhundert im Amt106 –, hatte Niesel doch bei seiner letzten Wahl erklärt, dass er 1974 nicht wieder kandidieren werde. Der seit 1960 amtierende Generalsekretär Karl Halaski sollte 1973 in den Ruhestand treten. Das Moderamen setzte deshalb einen Ausschuss ein, der die künftige Arbeit von Moderator, Generalsekretär, RKZ-Schriftleiter und andere Personalfragen klären sollte.107 Nicht die turnusmäßige Hauptversammlung in Hamburg 1972 (12.–14. Oktober), sondern die für die personelle Zäsur eigens einberufene Hauptversammlung in Siegen 1973 (29.–30. März) verabschiedete den gerade 70jährigen Moderator Wilhelm Niesel und wählte dessen Wunschkandidaten Hans Helmut Eßer ins Amt. Die außerordentliche Hauptversammlung in Siegen tagte unter dem Thema »Reformierte Gemeinden heute. Ihre Rolle, ihre Aufgaben und ihre Chance.« Niesel hielt nochmals Rückblick: Allein in der theologischen Erkenntnis, wie sie in der ersten Barmer These formuliert sei, habe man als Reformierter Bund, als reformierte Gemeinden und Kirchen eine Existenzberechtigung.108 106

Gerhard Nordholt, Ein seltenes Jubiläum. Wilhelm Niesel 25 Jahre Moderator, in: RKZ 112 (1971), S. 232f. Auch dort werden die drei Determinanten des Nieselschen Lebenslaufs genannt: »Kenner und Erforscher der Theologie Calvins …, zugleich Schüler Karl Barths, in der Zeit des Kirchenkampfes jahrelang an führender Stelle der Bekennenden Kirche tätig« (S. 232). 107 Protokoll der Moderamenssitzung 17.–18. September 1971, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 100. 108 Wilhelm Niesel, Rückblick und Ausblick. Der Reformierte Bund 1946–1973, in: RKZ 114 (1973), S. 82–85.

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Niesel hat die Reformierten in den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik gewiss selbstbewusst geführt und sich und seiner Konfession Anerkennung verschafft. Karl Barth nannte ihn den »ausgesprochenste[n] Reformierte[n] in Deutschland.«109 Auf interne Kritik und Reformvorschläge hat er nicht immer unwirsch, aber manches Mal wohl doch mit Unverständnis reagiert.110 Hatte er am Anfang seiner Tätigkeit sofort für eine Fixierung der Barmer Theologischen Erklärung in der Ordnung des Reformierten Bundes gesorgt, so versuchte man bei der Ordnungsrevision 1970 (Hauptversammlung Elberfeld, 22.–25. Oktober) den geäußerten Reformwünschen entgegen zu kommen: einerseits wurden Einzelpersonen wieder vollberechtigte Mitglieder, andererseits wählte die Hauptversammlung mit 12 Mitgliedern (alle vier Jahre sechs) nur noch die Hälfte des Moderamens, denn weitere zwölf wurden von den beteiligten Kirchen delegiert. Niesel sprach davon, dass damit »die Verkirchlichung des Bundes … deutlich fortgeschritten« sei.111 Als Niesel Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber die Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag112 lassen auch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Er war respektiert, aber nicht beliebt. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine »Kirchenkampf«-Erinnerungen113 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten. Einigermaßen unzeitgemäß erscheint dann auch Niesels »theologisches Testament«, eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel »Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre«.114 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig »progressive« Positionen, aber dem Buch haftet ein theologisch repristinierender Ton an.

109 Karl Barth, in: Gespräch mit Tübinger »Stiftlern« (2. März 1964), in: Karl Barth, Gespräche 1964–1968, hg. von Eberhard Busch, Zürich 1997, S. 31–129, hier: S. 114. 110 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Die Reformierten und »1968«: Wahrnehmungen und Wirkungen. Erste Anstöße zu einem liegen gebliebenen Thema, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 8), Wuppertal 2004, S. 183–202 (Wiederabdruck in diesem Band). 111 Niesel, Vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart (wie Anm. 1), S. 49. 112 Hans Helmut Esser, Wilhelm Niesel 75 Jahre alt, in: RKZ 119 (1978), S. 47; Joachim Guhrt, Ehrung für Wilhelm Niesel zum 80. Geburtstag, in: RKZ 124 (1983), S. 36–38; Hans-Joachim Kraus, Glückwunschadresse. Wilhelm Niesel zum achtzigsten Geburtstag, in: a.a.O., S. 39f.; Hans-Joachim Kraus, Wilhelm Niesel – 85 Jahre, in: RKZ 129 (1988), S. 6. 113 Bereits 1949 gab Niesel heraus: Um Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union 1934–1943, Bielefeld 1949. 114 Erschienen erst 1983, allerdings rechtzeitig zu Niesels 80. Geburtstag.

6. Hans Helmut Eßer (1973–1982): sachlich und solide

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Seinen Ruhestand, über viele Jahre lang noch ausgefüllt mit kirchlichen Ehrenämtern, verlebte Niesel mit seiner Frau in Königsstein/Taunus. Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 gestorben und im reformierten Dörflein Schöller nahe Wuppertal beerdigt worden.115 6. Hans Helmut Eßer (1973–1982): sachlich und solide In den Jahren von etwa 1966 bis 1973 kam es gesamtgesellschaftlich zu einem Generationenwechsel. Auch kirchlich trat eine Kohorte in den Ruhestand, die noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurde und vor allem durch den »Kirchenkampf« geprägt war. Der Reformierte Bund suchte nahezu zwei Jahre lang ein neues Führungsteam. Als mögliche Kandidaten für das Moderatorenamt nach Niesel wurden Lothar Coenen, Hans Helmut Eßer, Wilhelm Neuser und Johann Tibbe benannt.116 Eßer war gerade erst in den Reformierten Bund aufgenommen117 und nach der Hauptversammlung 1972 dann im Dezember ins Moderamen kooptiert worden. Im Sommer 1972 war das »Moderamen … der Meinung, dass für den Dienst des künftigen Moderators die Professoren Dr. Eßer und D. Kraus in erster Linie in Frage kommen.«118 Offensichtlich wollte Niesel Eßer als seinen Nachfolger durchsetzen: Dieser hatte das Hauptreferat auf der von ihm mit vorbereiteten Hauptversammlung 1972 gehalten119 und wurde auf der außerordentlichen Hauptversammlung im März 1973 namentlich von Niesel begrüßt. Zeitzeugen berichten von einer hektischen Kandidatensuche auch am noch amtierenden Moderator vorbei, bei der es enttäuschende Absagen (wie etwa von Walter Kreck) gegeben habe. Bei der Wahl, zum ersten Mal mit mehreren Kandidaten, entfielen auf Eßer 130 Stimmen, auf den aus der Hauptversammlung vorgeschlagenen Lothar Coenen 48 bei 12 Enthaltungen.120 So verhinderte Niesel den hochangesehenen Coenen, der theologisch dezidiert konservativ war, und im Vorfeld den ebenfalls sehr angesehe115

Todesanzeige des Moderamens, in: RKZ 129 (1988), S. 100; Karl Halaski, Wilhelm Niesel, in: a.a.O., S. 101; Jürgen Fangmeiers Rede während der akademischen Gedenkfeier am 26. Januar 1989 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal: Wilhelm Niesel – Lehrer, Forscher, Gubernator, Pastor, Zeuge, in: RKZ 130 (1989), S. 77–80. 116 Protokoll der Moderamenssitzung 24./25. März 1972, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 110. 117 A.a.O., S. 113. 118 Protokoll der Moderamenssitzung 22.–24. Juni 1972, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 115. 119 Hans Helmut Eßer, Gewalt und Gegengewalt unter der Königsherrschaft Jesu Christi, in: RKZ 113 (1972), S. 245–249. 120 LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 138; vgl. auch a.a.O., Nr. 115 [21.30]: Hauptversammlung 1972–1973.

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nen Hans-Joachim Kraus, der eine Legislaturperiode später ohne Alternative sein sollte. In jedem Falle wurden die Veränderungen im Moderamen einschließlich des Moderators als »Wachablösung« verstanden,121 auch wenn Niesel einen allgemein akzeptierten Kandidaten der »Mitte« durchzusetzen verstanden hatte und auf Kontinuität hoffte. Niesel musste in Eßer seinen geeignetsten Nachfolger sehen: ein rechtschaffener, solider Calvin-Forscher, der auch Ansehen in der EKD genoss, jemand, der Gewähr dafür zu bieten schien, dass theologische Experimente keine Heimstatt im Reformierten Bund würden finden können. Aber wie schwer musste es für den Nachfolger werden, eigenes Profil zu entwickeln, wenn sein Vorgänger als »der personifizierte Reformierte Bund« (so Joachim Guhrt122) galt? Hans Helmut Eßer wurde am 24. März 1921 in Rheydt geboren.123 Als Jugendlicher stand er dort unter dem Eindruck von Wilhelm August Langenohl und den »Jungreformierten«. Nach seinem Abitur 1939 nahm er noch ein weitgefächertes Studium auf, wurde allerdings 1940 zur Wehrmacht eingezogen, geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde bis zum Archipel Gulag verschleppt. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1948 studierte er Theologie in Wuppertal, Göttingen, Paris und Bonn und wurde dabei besonders vom ehemaligen Jungreformierten Otto Weber und den bekenntniskirchlichen Lutheranern Hans Joachim Iwand und Helmut Gollwitzer geprägt. Beide Examina legte er bei der Evangelischen Kirche im Rheinland ab. Während seiner Tätigkeit als Gollwitzers Assistent (1957–1962) in Berlin konnte er eine dogmengeschichtliche Untersuchung für die Promotion 1961 in Bonn einreichen. Im Jahr 1962 wurde Eßer Professor für Evangelische Theologie an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Berlin und Lehrbeauftragter an der Freien Universität. Von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1986 lehrte er schließlich Reformierte Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und war Direktor des Seminars für Reformierte Theologie. 121

Vgl. Karl Halaski, Wachablösung, in: RKZ 114 (1973), S. 106f.; Unsere außerordentliche Hauptversammlung in Siegen, in: a.a.O., S. 107–109; Beschlüsse in: a.a.O., S. 109f. 122 Joachim Guhrt wurde auf der Hauptversammlung 1973 nahezu einstimmig zum Generalsekretär gewählt; ders., Geschichten und Geschichte. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Lebens im 20. Jahrhundert, Bad Bentheim 2000, S. 144–146. 123 Zum Folgenden vgl. Karl-Wilhelm Dahm, Akademisches Porträt. Eröffnungsansprache zum Symposion anläßlich des 75. Geburtstages von Hans Helmut Eßer, in: Michael Beintker (Hg.), Certitudo Salutis. Die Existenz des Glaubens zwischen Gewißheit und Zweifel. Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstags von Hans Helmut Eßer (Studien zur systematischen Theologie und Ethik 9), Münster 1996, S. 5–10; Bibliographie Hans Helmut Eßer, zusammengestellt von Peter Zocher, in: a.a.O., S. 99–106. In der Jubiläumsschrift des Reformierten Bundes 1984 (wie Anm. 1) gibt es keine einzige Zeile über Eßers Moderatorentätigkeit (a.a.O., S. 50).

6. Hans Helmut Eßer (1973–1982): sachlich und solide

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Eßer folgte Niesel bereits 1972 als reformierter Vertreter im Rat der EKD (bis 1985) und fungierte von 1973 bis 1982 als Moderator des Reformierten Bundes. Er engagierte sich in der Weltkirche: Von 1975 bis 1983 war er Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen. In seiner Zeit als Moderator kamen die reformierten Kirchen Mittel- und Osteuropas neu in den Blick, gerade auch in ihrer bedrängten politischen Situation. Eßer hat die Beziehungen zu diesen Kirchen und ihre Unterstützung wesentlich gefördert. 1977 erhielt er für seine Verdienste die theologische Ehrendoktorwürde der Reformierten Hochschule in Cluj/Klausenburg (Rumänien). Eßer lag an einer selbstbewussten Vertretung reformierter Interessen, zugleich in der Offenheit für innerprotestantische Dialoge wie auch für Lehr- und andere Gespräche in einem weiteren ökumenischen Kontext. In seiner Lehre wusste Eßer sich im Besonderen der Theologie Calvins und der reformierten Lehr- und Bekenntnistradition verpflichtet. Bis zuletzt war er als Mitherausgeber und Bearbeiter der wissenschaftlichen Edition der Reformierten Bekenntnisschriften engagiert. Eßer orientierte sich theologisch »bewußt offenbarungs-positivistisch; ein anderer Kompaß steht mir nicht zur Verfügung.«124 Der Theologie Karl Barths wusste er sich tief verbunden, auch wenn er nicht unmittelbar am »Kirchenkampf« teilgenommen hatte. Von daher war er sogar der richtige Mann zur richtigen Zeit. Der mit Eßer ins Amt gekommene Generalsekretär Guhrt schreibt über die 70er Jahre: »Die im Kirchenkampf gewonnenen Erkenntnisse verblassten mehr und mehr. Andere Fragen, wie sie sich im Laufe der zunehmenden Säkularisierung ergaben, fanden mehr Aufmerksamkeit.«125 Man könnte Hans Helmut Eßer als den Helmut Schmidt der Reformierten bezeichnen: Das Amt hatte er von einem altgedienten, Respekt erheischenden Vorgänger übernommen, und nachdem in den Jahren zuvor Reformbestrebungen Raum beansprucht hatten, musste er einen pragmatischen Weg der mittelfristigen Umsetzung finden sowie »extremistische« Gefahren bannen. Durch die Menschenrechtsdebatte, durch die Ökologie- und Friedensbewegung vor und um 1980 gewann der »linke« politische Flügel an Einfluss, während sich der »konservative« Flügel aus dem Bereich der öffentlichen Reformierten mehr und mehr zurückzog. Gelegentlich konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Reformierte Bund nicht eine Sammlungsbewegung konfessionell Interessierter, sondern politisch Bewegter darstellte. War Eßer zu Beginn der 80er Jahre noch gefragt, reformierte Ekklesiologie auch aktualisierend

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Hans Helmut Eßer, Dank und Ausblick, in: Beintker, Certitudo Salutis (wie Anm. 123), S. 95–98, hier: S. 95. 125 Guhrt, Geschichten und Geschichte (wie Anm. 122), S. 146.

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darzulegen,126 so wurde er (kirchen-) politisch im eigenen »Lager« übergangen: Zum einen entstand zwischen Moderator und Generalsekretär ein Konflikt über die Frage, ob man die Kontakte zur weißen reformierten Kirche in Südafrika wenigstens sistieren sollte. Zum anderen wollten die Reformierten ein entschiedeneres »Friedenswort« vorlegen als dasjenige des Rates der EKD (1981), dessen Mitglied Eßer war. Auch für das Ende der Moderatorenzeit Eßers existiert eine gewisse Parallele zu Helmut Schmidt: Der Widerstand erwuchs im eigenen Lager, der »außerparlamentarische« Druck nahm zu. Aber während es im politischen Bereich durch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt und die Wahl Helmut Kohls zu einer konservativen »Wende« kam, positionierten sich die Reformierten weiter links. Eßers umsichtiger, von vielen als nachgerade »seelsorgerlich« beschriebener Kurs war nicht mehr en vogue – man wollte lieber »klare Kante« zeigen und entschieden politisch auftreten. Ein akademischer Kollege schrieb davon, »wie er das unruhige Schiff des Moderamens auf der in dieser Zeit stürmischen See gesellschafts- und kirchenpolitischer Auseinandersetzung auf einem Kurs zu halten bemüht war, den er vor seinem eigenen theologischen Kompaß verantworten konnte.« »Mit großem Respekt« habe man beobachtet, »wie Prof. Eßer diese schwierigen Aufgaben in der ihm eigenen seelsorgerlichen Art in Angriff nahm, nämlich in der Balance von verstehender und widerstehender Menschenführung.«127 Während der Moderamenssitzung im Dezember 1981 warf der 60jährige Eßer das Handtuch: »Moderator Eßer erklärt, daß er aus gesundheitlichen Gründen und wegen seiner turnusmäßigen Verpflichtung als Geschäftsführender Direktor seiner Fakultät auf der nächsten Hauptversammlung nicht mehr für das Moderamen und das Amt des Moderators für eine Kandidatur zur Verfügung steht. Mehrere Mitglieder des Moderamens bitten Eßer, seinen Entschluß zu überdenken und wenigstens für einen Platz im Moderamen zu kandidieren.«128 Eßer war frustriert, auch wenn er öffentlich Stil bewahrte,129 und verabschiedete sich danach lange Jahre aus reformierten Kontexten. Mit ihm gingen reformierte Konservative, 126

Hans Helmut Eßer, Art. Reformierte Kirchen, in: TRE XXVIII (1997), S. 404–419, hier: S. 416; ders., Die Bedeutung der reformierten Kirchen für das Leben der Evangelischen Kirche in Deutschland. Reformierte Tradition heute: Last oder Hilfe?, in: Lomberg u.a., Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland (wie Anm. 1), S. 456– 466; ders., Das reformierte Zeugnis in gesamtkirchlicher Verantwortung, in: 100 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 1), S. 83–95. 127 Dahm, Akademisches Porträt (wie Anm. 123), S. 8. 128 Protokoll der Sitzung des Moderamens, 3.–5. Dezember 1981, Berlin, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund, Nr. 160–164 [22.39–43]: Januar bis März 1982, S. 9. 129 Vgl. ein Interview von idea mit Eßer unmittelbar nach der Auricher Hauptversammlung, in: RKZ 123 (1982), S. 245f. Ein Dankeswort während der Hauptversammlung von Landessuperintendent Gerhard Nordholt, in: RKZ 123 (1982), S. 150f.

7. Hans-Joachim Kraus (1982–1990): prophetisch und politisch

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Evangelikale und Pietisten, auch Anhänger der »Jungreformierten«. Erst später konnte Eßer wieder freundlicher seiner Konfessionsfamilie gedenken. Seine Spuren in der Geschichte des Reformierten Bundes müssen erst noch entdeckt und nachgezeichnet werden. Nach einem langen und produktiven Ruhestand in der Nähe von Münster, wo er sich nicht zuletzt um die Edition Reformierter Bekenntnisschriften verdient gemacht hat, siedelte er noch nach Detmold um. Dort verstarb Hans Helmut Eßer am 13. Januar 2011 im Alter von 89 Jahren. 7. Hans-Joachim Kraus (1982–1990): prophetisch und politisch Nur vier Monate nach dem intern angekündigten Rückzug Eßers konnte der denkwürdigen Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Aurich 1982 (22.–24. April) mit Hans-Joachim Kraus ein überzeugender Kandidat präsentiert werden. Denkwürdig bleibt die Auricher Hauptversammlung nicht nur wegen der Wahl Kraus’ oder wegen der Verbindung mit der Jubiläumssynode der Evangelisch-reformierten Kirche (in Nordwestdeutschland), sondern vor allem wegen des Vortrags eines jüdischen Theologen. Die damals verabschiedete Thesenreihe »Wir und die Juden – Israel und die Kirche« war von Kraus konzipiert worden. Zwei Jahre nach dem Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 wollten die deutschen Reformierten, theologisch unterstützt von niederländischen Konfessionsgeschwistern, auf dem eingeschlagenen Weg weitere und weitergehende Schritte tun. Die Reformierten prägten in der ersten Hälfte der 80er Jahre ihr Selbstverständnis, als konfessionelle Minorität sowohl in theologischen als auch in politisch-ethischen Fragen avantgardistisch die Diskurse voranzutreiben. Anders als bei Eßers Wahl 1973 war 1982 keine Zeit für ausführliche Beratungen und Erwägungen über zahlreiche Personalvorschläge, und anders als bei Eßers Wahl gab es dann auch keinen weiteren Kandidaten. Der bereits zehn Jahre zuvor ebenfalls benannte Kraus wurde zum Moderator gewählt und folgte damit dem jüngeren Vorgänger nach; damit war auch klar, dass Kraus nur für maximal eine Legislaturperiode würde zur Verfügung stehen können. Diese Jahre von 1982 bis 1990 gehören sicher zu den turbulentesten Jahren in der Geschichte des Reformierten Bundes. Hans-Joachim Kraus wurde am 17. Dezember 1918 in Essen-Schonnebeck geboren.130 Nach dem frühen Tod seines Vaters, des Pfarrers 130 Zum Folgenden vgl. Bertold Klappert, Reich Gottes – Reich der Freiheit. HansJoachim Kraus (1918–2000) und sein Weg zur Gesamtbiblischen Theologie, in: Theologische Beiträge 33 (2002), Heft 4, S. 220–231; Bernd Janowski, Art. Kraus, Hans-

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Ernst Kraus, wuchs er in Barmen auf. Er wurde am 11. März 1934, zwischen den dort stattfindenden Bekenntnissynoden, in der Gemarker Kirche in Barmen durch Adolf Lauffs konfirmiert. Er war in der Jugendarbeit von Karl Immer tätig und leitete den dortigen Schülerbibelkreis,131 dem auch Johannes Rau angehörte. In Wuppertal-Elberfeld legte Kraus 1939 das Abitur ab. Nach dem Reichsarbeitsdienst meldete er sich als Offiziersanwärter an einer Luftkriegsschule. Im August 1940 überlebte er den Absturz bei einem Übungsflug in Schlesien und verbrachte schwer verletzt ein Jahr in einem Lazarett in Breslau. Nach eigener Aussage hat ihm der Fußballer Fritz Walter bei einem Besuch in Berlin persönlich geholfen, wieder Lebensmut zu fassen. In dieser Zeit entschließt er sich, Theologie zu studieren. Lebenslang sollte er aber auch ein Fußball-Fan und ein Fußball-Experte bleiben. Auf Grund des Flugunglücks wurde er nicht mehr zur Wehrmacht eingezogen. Er studierte nach der Entlassung aus dem Wehrmachtslazarett im September 1941 bei Julius Schniewind132 und dem strafversetzten Ernst Wolf in Halle sowie bei Gerhard von Rad, der in Jena in seiner Privatwohnung Vorlesungen hielt. Vor seinem Ersten theologischen Examen in Lippe und einem BK-Vikariat im Oberbergischen gelang ihm im August 1944 – also nach nur drei Jahren Studium! – eine alttestamentliche Dissertation bei Gustav Hölscher und Martin Dibelius in Heidelberg, wo kaum noch Theologiestudierende immatrikuliert waren.133 Nach dem Kriegsende wurde Kraus 1946 Assistent Hans Walter Wolffs an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und zugleich Hilfsprediger in Düsseldorf. 1947 wechselte er zu Martin Noth nach Bonn Joachim, in: RGG4 IV (2001), S. 1735; Johannes Rau, Kräftige Anstöße für die politische Ethik. Hans-Joachim Kraus 1918–2000, in: zeitzeichen 2 (2001), Heft 1, S. 49; Klaus Koch, Hans-Joachim Kraus 17.12.1918–14.9.2000, in: Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Jahresbericht 2001 (2000), S. 60–62. Ein Schriftenverzeichnis liegt nur bis 1978 vor: Irmhild Umbach, Personalbibliographie Hans-Joachim Kraus (Arbeiten aus dem Evangelischen Bibliothekar-Lehrinstitut Göttingen 10), Göttingen 1978. Ein BBKL-Eintrag fehlt. – Hier wurden einige Korrekturen nach Einsicht in das Typoskript der Dissertation (s.u.), dem ein Curriculum vitae beigegeben ist, vorgenommen. 131 Die erwecklich und auch jugendbewegt aufgestellten Gruppen des Schülerbibelkreises (SBK oder BK) erlitten bereits 1933 staatliche Repressionen. Der Reichsverband unter der Leitung des Reichsjugendwartes Udo Smidt wurde 1934 aufgelöst. 1938 wurde die Zeitschrift »Die Jungenwacht« verboten. Viele Gruppen wirkten aber heimlich weiter; die BK’ler fungierten oft als jugendliche Akteure der Bekennenden Kirche. 132 Diesem fühlte sich Kraus besonders verbunden. Seit 1952 gab er Schriften Schniewinds heraus und verfasste 1965 eine Biografie (Gießen 21990). 133 In mehreren Beiträgen über Kraus wird die Dissertation nur ungenau angegeben, wohl weil das Jahr Verdacht erregt und die Freistellung von der Wehrmacht nicht bekannt ist. Alle Lehrer Kraus’ stehen indes der BK nahe. – Hans-Joachim Kraus, Zeuge und Zeugnis im Alten Testament. Ein Beitrag zur Begriffsaufhellung der neutestamentlichen Wortgruppe mart- und zum Verständnis der urchristlichen Märtyreranschauung, diss. theol. Heidelberg 1944 (Typoskript).

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und habilitierte sich dort 1948 über den Propheten Micha. Am 27. Juni 1948 wurde Kraus in Bonn ordiniert. Er vertrat 1949/1950 den Lehrstuhl Gerhard von Rads in Göttingen, wurde 1951 außerordentlicher Professor in Bonn und 1954 Professor für Altes Testament an der neu errichteten Universität Hamburg – im Alter von nur 35 Jahren. Bereits vorher – seit 1948 – begann Kraus auf Anregung von Walter Herrenbrück sen. mit Planungen zu einer biblischen Kommentarreihe. Die Reihe »Biblischer Kommentar«134 mit dem bezeichnenden Kürzel »BK« wurde dann von Martin Noth begründet. Von Hans-Joachim Kraus erschienen in dieser Reihe 1956 »Klagelieder« und 1960 »Psalmen« in zwei Bänden. In der ersten Auflage des Psalmenkommentars ist die theologische Prägung durch die Barth’sche Theologie zu spüren; die fünfte Auflage 1978 führte zu einer Neubearbeitung, der dann 1979 als dritter Band des Werkes eine Theologie der Psalmen folgte. Neben den Psalmen interessierte sich Kraus stark für die Prophetie sowie für die Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testamentes. Neben seinem bleibenden Werk als wissenschaftlicher Exeget ist vor allem sein Beitrag zur Erneuerung der christlichen Theologie durch das Gespräch mit dem Judentum zu nennen. Als Hamburger Lehrstuhlinhaber wurde er 1961 anlässlich des Kirchentags in Berlin der erste Vorsitzende der neuen Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Dieses Themas hatte er sich schon früh angenommen, es sollte ihn bis an sein Lebensende begleiten, viele Publikationen hervorbringen und Anstöße zeitigen, etwa durch einen wichtigen Vortrag 1979 unmittelbar auf dem Weg zum Rheinischen Synodalbeschluss oder während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1990 (s.u.). Kraus war schon sehr früh auch politisch aktiv: Im Frühjahr 1958 fand die größte »Kampf dem Atomtod«-Demonstration auf dem Hamburger Rathausplatz statt; einer der Redner war der damalige Hamburger Theologieprofessor Hans-Joachim Kraus. Auch dieses politische Wirken zieht sich durch die folgenden Jahrzehnte, besonders während seiner Göttinger Jahre. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung am 31. März 1984 hatte er als Nachfolger von Otto Weber den Barth-Lehrstuhl für Reformierte Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen 134 Vgl. Rolf Rendtorff, Zu den Anfängen des Biblischen Kommentars. Kritische Erinnerungen, in: Evangelische Theologie 62 (2002), S. 5–10; Hans-Joachim Kraus, Wie entstand der Biblische Kommentar?, in: 75 Jahre Arbeit für Theologie und Gemeinde. Ein Almanach, dargeboten vom Kalenderverlag und Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins, Neukirchen-Vluyn 1964, S. 22–27; Werner Braselmann, Bericht über die Beteiligung von Hans-Joachim Kraus am Werden und Fortgang des Biblischen Kommentars Altes Testament – und über mehr. Auch: ein Blatt der Freundschaft, in: »Er ist unser Friede«. Festgabe zum 80. Geburtstag von Hans-Joachim Kraus am 17. Dezember 1998, hg. im Auftrag des Moderamens des Reformierten Bundes von Peter Bukowski u.a., Wuppertal 1998, S. 7–10.

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inne. Hier wandte er sich auch der Systematischen Theologie zu und veröffentlichte Bücher über Barth, über Religionskritik und grundlegend von einem Reich-Gottes-Denken her eine eigene Dogmatik (1975/1983). Johannes Calvin ist ihm ein wichtiger Gewährsmann, etwa in seiner programmatischen Göttinger Antrittsvorlesung »Calvins exegetische Prinzipien«. »In seiner Mischung von Offenheit und Entschiedenheit, von persönlichem Charme und sachlicher Klarheit hat er der Göttinger Fakultät viele wichtige Impulse vermittelt.«135 In Göttingen ist er bei progressiven Kräften auch als homo politicus geschätzt, er tritt für Reformen des Theologiestudiums ein, für das Antirassismus-Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen oder etwas später für die Nicht-Diskriminierung von DKP-Mitgliedern unter Pfarrern und Theologen.136 Als Moderator des Reformierten Bundes war Kraus bereits 1972 im Gespräch gewesen, aber erst durch den Verzicht Hans Helmut Eßers auf eine erneute Kandidatur Ende 1981 wurde er kurzfristig auf den Schild gehoben. Erst 1981 war er Mitglied des Bundes geworden – das könnte Zufall sein oder ein Hinweis darauf, dass politisch progressive Reformierte ihn ohnehin gegen den damaligen Moderator in Stellung bringen wollten. Die eindeutige politische Ausrichtung des Bundes während der 80er Jahre, die Kraus doch wesentlich mitbestimmt hat, wird nachträglich durch die Tatsache überschattet, dass mit der ebenfalls 1982 ins Moderamen gewählten West-Berliner Pfarrerin Horsta Krum die DDRStaatssicherheit bis 1990 mit am Tisch saß. Sicher war der Stasi-Einfluss denkbar gering, aber der realsozialistische Geheimdienst war doch wohl über reformierte Interna gut informiert. Da die Reformierten in den Kontexten der westdeutschen Friedensbewegung stark vertreten waren, die DDR diese Friedensbewegung finanziell am Leben hielt, wie es heute als belegt angesehen werden kann, waren Informationen aus reformierten Kontexten für den Geheimdienst gewiss nicht uninteressant. Der Auftakt der Moderatorentätigkeit Kraus’ nach der denkwürdigen Auricher Hauptversammlung im April 1982 war fulminant. Bereits in der Sommersitzung 1982, also nach weniger als drei Monaten, wurde die bekannte Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« vom Moderamen angenommen. Ein nur wenige Wochen bestehender Ausschuss unter der Federführung von 135

Hannelore Erhart, Johnny in der »Viererbande«, in: »Er ist unser Friede« (wie Anm. 134), S. 37–42, hier: S. 78. 136 Neben Erhart, Johnny in der »Viererbande« (wie Anm. 135), vgl. Manfred Josuttis, Zwischen Fußball und Politik. Erinnerungen an die Göttinger Anfangsjahre, in: »Er ist unser Friede« (wie Anm. 134), S. 75–79. – Stellungnahme zur Feststellung der Unvereinbarkeit von pfarramtlichem Dienst und Mitgliedschaft in der DKP bzw. anderen marxistisch-leninistischen Parteien, in: Evangelische Theologie 37 (1977), S. 358–361; unterschrieben haben aus der reformiert-barthianischen Gruppe Hannelore Erhart, Hans-Joachim Kraus, Hans Theodor Goebel, Dietrich Neuhaus und Jörg Schmidt (a.a.O., S. 361).

7. Hans-Joachim Kraus (1982–1990): prophetisch und politisch

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Rolf Wischnath hatte nicht »unter Zugrundelegung der bisher vorliegenden reformierten Stellungnahmen zur Friedensfrage« (so der im Vorwort wiedergegebene Arbeitsauftrag) ein neues Wort des Moderamens entworfen, sondern vielmehr einen Text aus der Gemeinde Soest vorgelegt. Dort wirkte Rolf Wischnath als Pfarrer. Kurz nach Übersendung der Vorlage an alle Moderamensmitglieder war dieser Text vom Presbyterium und vom Gemeindebeirat als ein Soester Wort zur Friedensfrage angenommen und veröffentlicht worden. Die Resonanz auf die Erklärung eines status confessionis durch das Moderamen war enorm: Viele Reformierte freuten sich an der Entschiedenheit des Papiers, man hatte ungemein Profil gewonnen – die Kehrseite freilich war, dass nicht eben wenige Repräsentanten des Gesamtprotestantismus entsetzt reagierten, weil der mühsam in der EKD erreichte Konsens, dokumentiert in der Friedensdenkschrift vom Herbst 1981, durch die Erklärung eines status confessionis gefährdet erschien.137 Hatten Kraus’ politische Optionen in früheren Jahren durchaus befreienden Charakter, so gab seine Sozialismus-Affinität in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Anlass zu Irritationen. Nur unzureichend dokumentiert ist das problematische Auftreten des damaligen Moderators bei der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1988 in Nordhorn (13.–15. Oktober), als er die historische Rolle des jungen Nicolae Ceauşescu würdigte, um eine Erklärung der Hauptversammlung gegen das Terrorregime in Rumänien zu verhindern138 – konkreter Auslöser internationaler Proteste waren Pläne zu einer massenhaften Zwangsumsiedlung der bäuerlichen Bevölkerung. Zwei Jahre später brachte Kraus nicht die Courage auf, frühere Fehler einzugestehen, sondern lobte sein »Engagement« für die unterdrückten Rumänen.139 Kurz zuvor, Ende 137 Aus Kraus’ Perspektive vgl. Hans-Joachim Kraus, Die Friedenserklärung des Moderamens in der Diskussion, in: 100 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 1), S. 134– 145. Vgl. auch in diesem Band die Studie: Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982. 138 Der eingebrachte Antrag ist abgedruckt in: Die Prophetische Sendung der Gemeinde. Beiträge und Berichte von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 13.–15. Oktober 1988 in Nordhorn, Bad Bentheim 1988, S. 82. Das Protokoll vermerkt lediglich eine »Gegenrede des Moderators, diesen Antrag nicht zu behandeln«. In der Diskussion »widerspricht [Harm Ridder] dem Moderator, dass Ceauşescu jemals eine ›Friedenstaube‹ gewesen sei. Ein rumänischer Gast sagt aus, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, auch nicht durch einen solchen [den Diktator anklagenden] Beschluß.« A.a.O., S. 88. In dem dann abgeänderten Antrag »nimmt [die Hauptversammlung] mit Betroffenheit zur Kenntnis, dass in der Volksrepublik Rumänien elementare Menschenrechte aufs Gröbste missachtet werden.« Ebd. 139 Kraus sagte in seinem »Bericht des Moderamens«: »Im Gegensatz zum Weltrat der Kirchen (1989 in Moskau) verurteilte der RWB [Reformierter Weltbund] in scharfer Form die anhaltende ›Missachtung der Bürger- und Menschenrechte in Ceauşescus Staat‹«, in: Glaubwürdiges Zeugnis der Gemeinde. Beiträge und Berichte von der Haupt-

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Von Brandes bis Bukowski

Januar 1990, hatte er sich noch Sorgen um die Zukunft des Sozialismus gemacht.140 Der Schlusspunkt von Kraus’ Moderatorentätigkeit stellte die Diskussion um »Leitsätze« zum Verhältnis von Israel und Kirche dar. Der Hauptversammlung in Siegen 1990 (10.–12. Mai) lagen zwei Varianten vor, deren jeweilige Verfechter sich unversöhnlich gegenüber standen. Die Einzelheiten und den genauen Verlauf der komplexen Entwicklungen von 1980 bis 1990 nachzuzeichnen, muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, aber vielleicht ist es eben bezeichnend für »Johnny« Kraus’ Amtszeit, dass ihm zwar theologische und kirchenpolitische Pointierungen gelangen, nicht jedoch die Vermittlung von Positionen und die Zusammenführung von Gruppen. Von 1978 bis 1995 lebte Kraus in Wuppertal-Beyenburg, danach im Augustinum-Stift in seiner Geburtsstadt Essen. Er war seit 1944 mit Ingrid, geb. Kossmann, Urenkelin eines Frankfurter Rabbiners, verheiratet. Sie starb 1978. Mit ihr hatte Kraus vier Kinder. Später heiratete er Brigitte Hoyer-Kraus, die 1995 starb. Nach einigen Jahren, die auch von Krankheit und Einsamkeit belastet waren, verstarb Hans-Joachim Kraus am 14. November 2000 in Essen. Er wurde auf dem reformierten Friedhof in Wuppertal-Barmen begraben. Vielen ist Kraus als ein fröhlicher Mensch in Erinnerung, der gut »palavern« und über Fußball im Allgemeinen und Fortuna Düsseldorf im Besonderen fachsimpeln konnte. »Hans-Joachim Kraus, der sensible, weltzugewandte und literarisch gebildete Wissenschaftler, war ein Theologe von echtem Schrot und Korn.«141 Zweifelsohne war Kraus ein großer Theologe,142 der eine ausführliche Würdigung seiner Lebensleistung versammlung des Reformierten Bundes 10.–12. Mai 1990 in Siegen, Bad Bentheim 1990, S. 14–23, hier: S. 15. »In besonderer Weise haben wir den Leidensweg und Befreiungskampf der Schwestern und Brüder in Rumänien begleitet. Anfang Dezember hat der Moderator im Auftrag des Moderamens ein Schreiben an den rumänischen Staatspräsidenten gerichtet und ihn aufgefordert, die Hetz- und Verfolgungskampagne gegen László Tökés einzustellen.« A.a.O., S. 17. – Auf internationaler Ebene haben vor allem reformierte Theolog/inn/en auf die Terrorherrschaft in Rumänien hingewiesen, freilich nicht immer Gehör gefunden, vgl. Heinz Joachim Held, Ökumene im Kalten Krieg, in: Heinz-Jürgen Joppien (Hg.), Der Ökumenische Rat der Kirchen in den Konflikten des Kalten Krieges. Kontexte, Kompromisse, Konkretionen (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 70), Frankfurt a.M. 2000, S. 21–161, besonders S. 82–94: Die Debatte über Rumänien 1988/1989, S. 86–94 über die von Kraus erwähnte Sitzung des ÖRK-Zentralausschusses im Juli 1989 in Moskau. 140 Bei einem Treffen der Konvente am 31. Januar 1990 in Hagen schlug Kraus neben der Frage nach der »Wählbarkeit von Republikanern« (i.e. eine kurzlebige rechtsextreme Partei) als zweites für die kommende Arbeit wichtige Thema vor: »Was wird aus dem Sozialismus?« Kraus, Bericht (wie Anm. 139), S. 22. 141 Rau, Kräftige Anstöße (wie Anm. 130). 142 In jüngerer Zeit werden seine Versuche, die Christologie im Zusammenhang mit dem jüdisch-christlichen Dialog leicht modalisierend zu reformulieren, eher kritisch

7. Hans-Joachim Kraus (1982–1990): prophetisch und politisch

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verdient. Ausgezeichnet wurde er mit drei Ehrendoktoraten (Bonn, Aberdeen, Rumänien), er war ein anregender Lehrer, einer der ganz wichtigen Erneuerer des jüdisch-christlichen Verhältnisses.143 Anders als Niesel und Eßer hatte Kraus tatsächlich »Schüler« und war ein markanter Universitätstheologe.144 Seine Bilanz als Kirchenpolitiker fällt indes dagegen ab. Neben solchen, die ihn begleitet, geehrt und sich an ihm orientiert haben, gab es solche, die sich vom ihm abgedrängt und durch ihn brüskiert gefühlt haben. Seinem (kirchen-) politischen Auftreten eignete etwas Kompromissloses an – die Schwäche eines solchen Agierens sah er wohl nicht. Während der Hauptversammlung in Siegen 1990 musste für den mit 71 Jahren zu verabschiedenden Moderator ein Nachfolger gewählt werden. Noch nie hatte eine Frau kandidiert, und Wuppertal dominierte die bisherige Moderatorengeschichte: Calaminus, Hesse, Niesel und Kraus sind mit diesem reformierten »Vorort« (Goeters) eng verbunden. Zwei Kandidaten standen 1990 zur Wahl, beide wiesen eine »linke Biographie« auf, beide verstanden sich als Schüler Karl Barths und Walter Krecks, beide waren wesentlich jünger als der 1918 geborene Kraus (Jahrgang 1948/1950). Beide waren somit Kandidaten, die gut zu den zurückliegenden Jahren des Reformierten Bundes passten. Bereits seit Ende der 60er Jahre war einer der Kandidaten, Rolf Wischnath, in der reformierten Szene engagiert und seit vielen Jahren im Moderamen profiliert vertreten. Maßgeblich hatte er die Moderamenserklärung von 1982 forciert. Wie Kraus scheute Wischnath vor Polarisierungen nicht zurück. Überraschend wurde jedoch der junge Studienleiter Peter Bukowski aus Wuppertal zum Moderator gewählt. Er sollte bis 2015 eine Ära prägen.145

gesehen. Vgl. Marco Hofheinz, Geistchristologie im Heidelberger? Bemerkungen zu einer umstrittenen These, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der 9. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 49–60. 143 Hans-Joachim Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 1991. 144 Vgl. dazu die voluminöse Festschrift: Hans-Georg Geyer u.a. (Hg.), »Wenn nicht jetzt, wann dann?« Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, NeukirchenVluyn 1983. 145 Über diese Zeit gibt Bukowski Auskunft: »Es muss uns nicht geben, aber es gibt uns.« Ein Vierteljahrhundert als Repräsentant der Reformierten in Deutschland. Peter Bukowski im Interview, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 71–111.

Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Fünf biographische Studien

1. Kirchenleitende Persönlichkeiten als Repräsentanten Im deutschen Reformiertentum gibt es zwar kein Bischofsamt, aber kirchenleitende Personen können trotzdem Kirche prägende Persönlichkeiten sein. Da über sie die Quellenlage in der Regel gut ist, kann man diese in ihrem Weg und Wirken kirchenhistorisch oftmals besser darstellen als andere Theologen. Dabei ist anzunehmen, dass die Darstellung von landeskirchlichen Repräsentanten tatsächlich repräsentativ für das jeweilige Kirchenwesen sein kann, wenn auch nicht unbedingt für die Mehrheit der Kirchenmitglieder. Freilich geht es in den folgenden fünf biographischen Studien um die jeweils handelnde Person, nicht um das »Amt« an sich. Die nordwestdeutsche reformierte Landeskirche wurde erst 1882 begründet. Folglich waren die Jahrzehnte davor Zeiten der Sammlung und der Selbstbewusstwerdung; die Jahrzehnte danach erforderten lange Prozesse der landeskirchlichen Konsolidierung. Die hier vorgestellten Theologen zeigen in jedem Fall, dass von einer Uniformität des reformierten Protestantismus kaum gesprochen werden kann. In dieser Reihe stehen milde konservative »Positive« zusammen mit einem »Kohlbrüggianer«; strenge Calvinisten sucht man hier zu Beginn genauso vergebens wie später überzeugte »Barthianer«. Unter den fünf folgenden Personen finden sich mit Petrus Georg Bartels und Walter Hollweg zwei bedeutende Erforscher der Geschichte des reformierten Protestantismus. Kirchengeschichte und Kirchenleitung gehen offenbar gut zusammen. Die beiden anderen führenden Geistlichen, Hermann Müller und Gerhard Cöper, sind je auf ihre Art Männer des Übergangs gewesen. Mit Lümko Iderhoff wird ein an der Kirchenleitung beteiligter »Laie« vorgestellt, der als politischer Akteur auch zur weltlichen Obrigkeit zu zählen ist. 2. »Deutsch reformiert«: Petrus Georg Bartels (1832–1907) Aus nicht-akademischen Verhältnissen stammend avancierte Petrus Georg Bartels bereits in jungen Jahren zum führenden reformierten Kirchenmann in Ostfriesland und führte die fünf, durchaus weit vonein-

2. »Deutsch reformiert«: Petrus Georg Bartels (1832–1907)

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ander entfernten Regionen, die dann die »Evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover« bildeten, maßgeblich zusammen. Bartels wurde am 19. Februar 1832 als zweites Kind des Schneidermeisters Enno Bartels und Eke Dettmers, die allerdings früh verstarb, in Emden geboren. Eine zweite Ehe des Vaters währte nicht lange, woraufhin das Geschäft aufgegeben wurde und Bartels bei seinem als Privatier lebenden Vater aufwuchs und dessen Förderung erhielt. Die Schulen durchlief er mit Bravour und schloss die Reifeprüfung mit »sehr gut« ab. Durch ein Stipendium wurde ihm ein Theologiestudium in Göttingen ermöglicht. Der Studienort ist von einigem Interesse, da ostfriesisch-reformierte Kandidaten eher in Halle/Saale studierten. Die Tradition vieler Generationen zuvor, sich an niederländischen Fakultäten zu immatrikulieren – und hier steht Groningen an erster Stelle –, war in den Jahrzehnten zuvor abgebrochen. Die Verwaltung des hannoverschen Königreiches, zu dem Ostfriesland seit Beginn 1816 gehörte, legte zunehmend Wert auf ein Studium im eigenen Staat und bemühte sich, die sprachliche und theologische Tradition der calvinistischen Niederlande aus dem Nordwesten des Königreichs zu verdrängen.1 Von 1852 bis 1855 studierte Bartels in Göttingen und legte am 1. Mai 1855 vor dem Coetus der reformierten Prediger Ostfrieslands seine Prüfung pro licentia concionandi ab. Gemäß der Prüfungsbestimmungen verfasste er drei Prüfungs-Arbeiten in drei Sprachen (Die Weissagungen des alten Bundes unter dem Gesichtspunkt des Glaubens ...; Ecclesiae christianae apud gentes Germanas initia; Het christendom is niet alleen eene leer maar ook leven; alle am 19. April 1855 in Emden), aufgrund derer der Coetus zum Urteil kam, »tum ecclesiastico, tum vero etiam scholasticis et academicis ad Coetum nostram Emdanum accessit«. Nach einer kurzen Beschäftigung an der Lateinschule Weener (Ostfriesland) fand Bartels zum 31. März 1856 eine Anstellung als zweiter Hauptlehrer an dem Schullehrer-Seminar und der Töchterschule in Aurich. Am 3. November 1857 bestand Bartels die Prüfung pro ministerio vor dem Coetus in Emden und wurde einen Monat später am 3. Dezember 1857 als Prediger in den Emsdörfern Mitling und Mark angestellt. Damit begann eine einzigartige Laufbahn, die Bartels sowohl wissenschaftlich als auch kirchlich in Ostfriesland zu eine der prägenden Figuren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machen sollte. Am 23. April 1858 heiratete er die aus Weener stammende Hinriette Schaer, mit der er acht Kinder haben sollte. Wissenschaftlich wendet er sich der reformierten Tradition zu, arbeitet zu Johannes Calvin und zu Johannes a Lasco, über den er 1860 eine 1 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Volkstheologie oder: Von der Freiheit anders zu denken. Der Unterricht in der christlichen Religion bei Helias Meder (1761–1825) (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 42), Göttingen 2009 (v.a. capp. 11.4 und 11.5).

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

umfangreiche Biographie veröffentlicht. Im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1863 veranstaltete er eine Schul-Ausgabe des Heidelberger Katechismus (1864). Anders als in anderen Kirchengebieten kam es um die Jahrhundertmitte im reformierten Ostfriesland nicht zu einem handfesten Katechismusstreit, aber sowohl Unterrichtsbücher der Aufklärungszeit als auch regionale Bekenntnisse wie der Emder Katechismus wurden – nicht zuletzt durch eine junge Theologengeneration – zurückgedrängt; theologisch begann man sich um den Heidelberger Katechismus zu sammeln, der bereits in der Lingener Denkschrift von 1857 als das die reformierten Gebiete vereinigende Band genannt wurde.2 Als 28jähriger wird Bartels in die Prüfungskommission und in eine Gesangbuchkommission des Coetus berufen. Zum 4. Mai 1862 wechselt er auf die größere Pfarrstelle nach Pilsum bei Emden, am 5. Februar 1864 wird er zum Superintendenten der vierten reformierten Inspektion bestellt. Im Herbst des darauf folgenden Jahres (8. Oktober 1865) beruft man Bartels zum Prediger in Emden, wo er am 22. Dezember desselben Jahres anlässlich eines Besuches König Georgs V. seine Berufung zum General-Superintendenten, Consistorialrath und Prediger zu Aurich erfährt. Nach einigem Sträuben übernimmt der erst 33jährige diese Ämter am 1. bzw. 5. Februar 1866 und sollte danach beinahe vierzig Jahre an der Spitze der ostfriesischen Reformierten stehen. Eventuell ist die Ernennung des allseits hoch angesehenen Bartels als eine besondere Reverenz des Königs an die ostfriesische reformierte Kirche zu verstehen. Anders als die lutherischen Christen, denen der König schon 1864 mit der Kirchenvorstands- und Synodalordnung eine Landeskirche sanktioniert hatte, mussten die Reformierten noch zwei Jahrzehnte bis 1882 auf ihre kirchliche Selbstständigkeit warten. Daher könnte man Bartels’ Ernennung auch als eine Art Kompensation seitens des Königs verstehen. Freilich ist nicht undenkbar, dass im Falle einer längeren Existenz des hannoverschen Königreiches über 1866 hinaus die Gründung der reformierten Landeskirche auch bald erfolgt wäre – und wohl auch mit Bartels an der Spitze. Die Hannoversche Obrigkeit präferierte nicht eine 2

Denkschrift zur Orientirung über die Zustände, Hoffnungen und Bedürfnisse der reformirten Kirche im Königreich dem Hohen Königlichen Ministerio der geistlichen Angelegenheiten von dem Comitee der Conferenz reformirter Geistlicher aus diesem Königreiche unterthänigst überreicht, Lingen 1857; vgl. dazu Gerhard Nordholt, Die Entstehung der »Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover«, in: Elwin Lomberg / Gerhard Nordholt / Alfred Rauhaus (Bearb.), Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982, S. 91–157, hier: S. 115–129. Vgl. auch Hans-Georg Ulrichs, »In Einigkeit des wahren Glaubens« (HK 54). Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover, in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 131–163 (Wiederabdruck in diesem Band).

2. »Deutsch reformiert«: Petrus Georg Bartels (1832–1907)

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einheitliche Territorialkirche, die durch eine Union hätte gebildet werden müssen, sondern die konfessionelle Koexistenz innerhalb des Landes. Zunächst aber ist Bartels für die reformierten Gemeinden im Bereich des Auricher Simultankonsistoriums zuständig. Im Zusammenhang mit den staatskirchenrechtlichen Veränderungen der ersten Jahrhunderthälfte hatten auch die Reformierten in Ostfriesland und im übrigen Königreich Hannover verschiedene Optionen beraten, so etwa einen kirchlichen Anschluss an Westfalen, wo die synodal-presbyterial geprägte Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 galt. Nachdem Ostfriesland 1866 wieder preußisch geworden war und die evangelischen Kirchen der neuen Provinzen nicht der preußischen Union von 1817 eingegliedert wurden, setzten die Reformierten auf das seit 1613 reformierte hohenzollersche Königshaus. Nach Eingaben an den Kultusminister und später dann auch an den preußischen König (dieser war Summepiskopus, nicht der Kaiser!) erließ Wilhelm I. am 4. Mai 1881 eine Berufung zu einer reformierten Synode, die vom 27. November bis zum 12. Dezember 1881 in Aurich tagte. Mit der Unterschrift unter dem Allerhöchsten Erlass am 12. April 18823 schuf der preußische König aus den reformierten Gemeinden Ostfrieslands, der Grafschaft Bentheim, der Niedergrafschaft Lingen, des Herzogtums Bremen und der Grafschaft Plesse die »Evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover«.4 Während in Aurich ein Simultankonsistorium und in Bentheim ein »reformierter Oberkirchenrath« genanntes Organ für die reformierten Gemeinden zuständig waren, unterstanden die der drei anderen Gebiete bis dato lutherischen Konsistorien. Nun wurden sie zum 1. April 1884 dem Auricher Konsistorium unterstellt und damit Bartels zum ersten Generalsuperintendenten der reformierten Landeskirche ernannt. Bis zu seiner Emeritierung am 1. Juli 1903 (nicht wie oft falsch angegeben: 1907) sieht sich Bartels davon ganz in Anspruch genommen, die bislang kirchlich und auch rechtlich sehr heterogenen Gebiete zu einer reformierten Landeskirche zusammenwachsen zu lassen. An seiner Seite sorgte Fürst Edzard zu Innhausen und Knyphausen für Kontinuität, da dieser von 1885 bis 1908 der »Gesammtsynode« als Präsident vorsaß. 3

Der Erlass sowie die Kirchengemeinde- und Synodalordnung sind abgedruckt in: Die Kirchengesetze der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover nach den Motiven, den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen bearbeitet von Ernst Giese, Aurich 1902, S. 1–112. 4 Vgl. Lomberg u.a., Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, a.a.O. Vgl. auch J.F. Gerhard Goeters, Die Situation der Reformierten im 19. Jahrhundert und die Entstehung der Reformierten Landeskirche Hannover und des Reformierten Bundes. Vielfalt und Einheitsbestrebungen unter den deutschen Reformierten (1983), jetzt in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von Heiner Faulenbach und Wilhelm H. Neuser (Unio und Confessio 25), Bielefeld 2006, S. 357–374.

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Neben seiner kirchenregimentlichen Tätigkeit aber zeichnet sich Bartels durch umfangreiche Veröffentlichungen kirchengeschichtlicher und allgemein- (besonders: regional-) geschichtlicher Arbeiten aus. Seiner Feder entstammen unzählige Beiträge zur ostfriesischen Geschichte; sie gelten Themen aus der Römerzeit bis ins 19. Jahrhundert und umfassen die politische und kulturelle Geschichte, Geographie, Kartographie und Historiographie. Kirchlichen Fragen und Problemen pflegte sich Bartels historisch zu nähern und legte Arbeiten zu den entstandenen Freikirchen, zu dem Verhältnis der Reformierten und Lutheraner und zu Fragen reformierter Bekenntnisse und Theologumena vor. Zwar scheute er sich nicht vor klaren Abgrenzungen, aber er war viel zu sehr ein ruhiger Wissenschaftler, als dass er sich in grober Polemik geübt hätte. Große Quellenkenntnis gepaart mit einem einfachen Darlegungsstil machen seine Arbeiten auch nach einem Jahrhundert noch lesenswert. Theologisch orientierte er sich an einem milden ethisch geprägten Biblizismus. So stand er beispielsweise der calvinischen Prädestinationslehre skeptisch gegenüber und vertrat einen eigenständigen »deutsch-reformierten«, nicht exklusiv calvinistischen, sondern vermittelnden und irenischen Weg (Heinrich Heppe), folgte damit freilich auch einem lang gehegten Emder Selbstbewusstsein. Insgesamt kann Bartels sicher nicht als intransigenter Konfessionalist gelten. Dennoch und obwohl er kaum zu den Erweckten im engeren Sinne zu rechnen sein wird, ist er als typisch anzusehen für diejenigen, die kurz nach Mitte des 19. Jahrhunderts reformierte Theologie wieder verstärkt von der konfessionellen Tradition her verstehen, interpretieren und gestalten wollten, die letzten Ausläufer spätaufgeklärter Wirkungen hinter sich ließen und diese rekonfessionalisierende Haltung bis in das erste Quartal des 20. Jahrhunderts eintrugen. Am 8. August 1887 wurde ihm von der Göttinger Fakultät die theologische Ehrendoktorwürde verliehen. Durch einen tragischen Unfall verlor Bartels 1892 vier Finger; dieses Unglück bewirkte nicht allein ein Abflauen der literarischen Produktion, sondern schwächte den ohnehin Überarbeiteten zunehmend. Zum 1. Juli 1903 trat er von seinem Amt zurück, vielfach des Dankes der Kirche versichert. Nach vier Jahren im Ruhestand verstarb er am 22. Oktober 1907 in Aurich. Bartels’ herausragende Lebensleistung wird man im Aufbau und der Konsolidierung der reformierten Landeskirche sehen müssen. Seine historischen Arbeiten werden heute noch oft zitiert und zeigen seine überregionale Bedeutung. Seine Theologie war geprägt von dem, was im 19. Jahrhundert gemeinhin als »reformiert« angesehen wurde; die mit dem Calvin-Jubiläum 1909 einsetzende Neubesinnung der Reformierten auf den Genfer Reformator5 hat Bartels nicht mehr erlebt. 5 Vgl. auch Hans-Georg Ulrichs, »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens.« Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Refor-

2. »Deutsch reformiert«: Petrus Georg Bartels (1832–1907)

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Werke: a) theologisch und kirchengeschichtlich: Christus, unser Friede. Preispredigt über Römer 5,1–5, gehalten am Sonntage nach Pfingsten 1855 in der Universitätskirche zu Göttingen, Aurich 1855; Johann Calvins Büchlein vom Leben eines Christenmenschen. Deutsch bearbeitet von Petrus Georg Bartels, Aurich 1857; Johannes a Lasco, Elberfeld 1860 (Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformirten Kirche, hg. von J.W. Baum u.a., eingeleitet von K.R. Hagenbach, IX. [Supplement-] Theil), Elberfeld 1861; Die Prädestinationslehre in der reformirten Kirche von Ostfriesland bis zur Dortrechter Synode, mit besonderer Beziehung auf Johann a Lasco, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 5 (1860), S. 313–352; Woher und wohin mit den Schäden unserer Abendmahlspraxis, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 1861, Nr. 33–36; Kern des Heidelberger Katechismus mit erläuternden Bibelstellen, Aurich 1864; Die bisherigen Konflikte, Unionsideen und Unionsversuche zwischen Lutheranern und Reformierten in Ostfriesland (Mitteilungen aus der Pastoralconferenz für Emden und Umgebung), Aurich 1867; Vier Predigten, gehalten vor der deutsch-reformirten Gemeinde zu Emden, Aurich 1867; Die Confirmation in den reformirten Gemeinden Ostfrieslands, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 19 (1869), S. 97–113; Eine charakteristische Unionsdebatte im reformirten Ostfriesland aus der Zeit der Einführung der Union in Preußen, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 19 (1869), S. 191–201; Lebens- und Sterbensgeschichte der Presbyterien in Ostfriesland, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 20 (1870), S. 213–228; Der Heidelberger Katechismus im Unterricht der Kinder und Katechumenen, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 21 (1871), S. 97–112.131–140.161–175; Die kirchenpolitischen Ideen Johannes a Lasco’s, mit besonderer Beziehung auf die niederländische Synode zu Emden A. 1571, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 21 (1871), S. 353–369; Eine Reliquie von der unüberwindlichen Armada auf der Insel Spiekeroog?, in: Ostfriesisches Monatsblatt für provinzielle Interessen 1 (1873), S. 109–111.304f.; Die biblische Lehre von der Taufe im Gegensatz zu der baptistischen entwickelt, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 19 (1874), S. 69–108.238–259; Lebens- und Sterbensgeschichte der Presbyterien in Ostfriesland. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen evangelischen Kirchenverfassung, in: Ostfriesisches Monatsblatt für provinzielle Interessen 2 (1874), S. 345–359; Rechtsgeschichtliche Bemerkungen über das Interessentenstimmrecht bei Prediger- und Schullehrerwahlen in Ostfriesland, in: Ostfriesisches Monatsblatt für provinzielle Interessen 3 (1875), S. 337–345; Die Angebäude der Grossen Kirche zu Emden, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 2,2 (1877), S. 163f.; Beiträge zur Geschichte des Pietismus in Ostfriesland, in: Ostfriesisches Monatsblatt für provinzielle Interessen 8 (1880), S. 433–440.481–488. 541–547; 9 (1881), S. 12–18.53–59.124–131.198–205.351–356; Mitteilungen zur Geschichte des Pietismus in Ostfriesland und den benachbarten Landschaften, in: ZKG 5 (1882), S. 251–291.387– 440; Ist Resius der Verfasser des Abendmahlsliedes ›O Christ wy dancken dyner güdt‹?, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 6,1 (1884), S. 120–122; Raub der Kirchenglocken zu Osteel durch die Mansfelder, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 6,1 (1884), S. 122f.; Zur Geschichte des Ostfriesischen Consistoriums, Aurich 1885; Zur geschichtlichen Orientierung über die rechtliche Natur der Kirchenlasten in den ostfriesischen Landgemeinden und ihren Zusammenhang mit dem PredigerWahlrecht, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 6,2 (1885), S. 51–90; Beiträge zur ostfriesischen Reformations-, Kirchen- und Literaturgeschichte, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und mierten in Deutschland, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 231–265 (Wiederabdruck in diesem Band).

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vaterländische Altertümer zu Emden 7,2 (1887), S. 104–128; Das rechte Festhalten in trüber Zeit. Predigt über 2. Könige 2,1–13, zur Eröffnung der zweiten Hauptversammlung des Reformierten Bundes zu Detmold am 24. August 1887 gehalten, Elberfeld 1887; Artikel in: Friedrich Zimmer (Hg.), Bücherkleinode evangelischer Theologen. Mitteilungen bekannterer evangelischer Theologen der Gegenwart über Bücher, die ihnen für Amt und Leben von besonderem Wert gewesen sind, zusammengestellt und als Einleitung in die »Bibliothek theologischer Klassiker« (Bibliothek theologischer Klassiker. Ausgewählt und herausgegeben von evangelischen Theologen, 1. Band), Gotha 1888, S. 4–6; Ein Kuriosum aus der Norder Reformationsgeschichte, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 8,2 (1889), S. 151–158; Zwei Briefe Petrus Medman’s an Philipp Melanchthon, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 8,2 (1889), S. 162–164; Züge aus der Geschichte der Bentheimer reformierten Kirche (Vortrag vom 3. September 1889 als Manuskript gedruckt), o.O., o.J. (1889) (vorhanden im Niedersächsischen Staatsarchiv, Aurich); Beiträge zum Verständnis und zur Behandlung des Heidelberger Katechismus, in: RKZ 44 (1894), S. 41ff.105–108.201f. 266ff.321.329f.; RKZ 45 (1895), S. 241–244; RKZ 46 (1896), S. 11–15.17–20; Der Heidelberger Katechismus und die Prädestinationslehre. Ein Beitrag zur Geschichte des Eindringens des Kalvinismus in die deutschen reformierten Kirchen (hg. von Udo Smidt), Hameln-Hannover 1931. b) (regional-)geschichtlich (Auswahl): Abriß einer Geschichte des Schulwesens in Ostfriesland, Aurich 1870; Vocation für Ubbo Emmius in’s Rectorat zu Leer, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 1,2 (1873), S. 92–94; Ein Kommentar zu Ubbo Emmius, Itinerarium meum ..., Emden 1877; Geschichte der holländischen Sprache in Ostfriesland, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 4,2 (1881), S. 1–19; Ubbo Emmius und seine Rerum Frisicarum Historia, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 6,1 (1884), S. 1–36; Entstehung und Dotation der ostfriesischen Landschulen, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 8,1 (1888), S. 41–55; Zur Geschichte der Wiedertäufer, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 8,2 (1889), S. 158–161; Notizen aus der Pestzeit, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 11 (1895); Ostfriesische Studenten auf der Universität Basel, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 11,1/2 (1895), S. 421–425; Die älteren ostfriesischen Chronisten und Geschichtsschreiber und ihre Zeit, Bd. I: 1. Eggerik Beninga und seine Cronica der Fresen; 2. Ubbo Emmius und seine Rerum Frisicarum Historia (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands IV), Aurich 1905; Bd. II: 3. Enno Rudolf Brenneysen und seine Studien zur ostfriesischen Geschichte; 4. Tileman Dothias Wiarda (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands VII), Aurich 1907. Bibliographien: Ostfriesische Bibliographie (16. Jh.–1907), bearbeitet von Martin Tielke (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXa), Hildesheim 1990, verzeichnet die in Ostfriesland bis 1907 erschienenen Arbeiten Bartels’, vgl. a.a.O., S. 160, s.v. Bartels; Bibliographie in: Walter Hollweg, Petrus Georg Bartels 1832–1907, in: Otto Heinrich May (Hg.), Niedersächsische Lebensbilder III (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen [Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe] 22), Hildesheim 1957, S. 1–10, hier: S. 8–10. Nachlass: Niedersächsisches Staatsarchiv Aurich, Bibl. 0 307, 10. Quellen: Personalakte im Archiv der Ev.-ref. Kirche, Leer, Predigerverzeichnis Nr. 13a; Verhandlungen der Gesammt-Synode der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover, Aurich 1882ff.

3. »Reformiert weitherzig«: Hermann Wilhelm Müller (1837–1918)

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Literatur: Reformirte Kirchenzeitung 53 (1903), S. 239; Reformirte Kirchenzeitung 57 (1907), S. 358f.; Reden zur Begräbnisfeier des Generalsuperintendenten a.D. D. Bartels am 28. Oktober 1907, Aurich 1908; Heinrich Reimers, D. Petrus Bartels, in: Upstalsboom, Heimatbeilage der Auricher Zeitung Nr. 43 vom 20. Februar 1932; Wilhelm Augener, Petrus Georg Bartels (1866–1886), in: 175 Jahre Ev.-ref. Kirche Aurich. Beiträge zu Geschichte und Leben der Ev.-ref. Kirchengemeinde Aurich. Herausgegeben zum 175jährigen Jubiläum der Kirche vom Kirchenrat und der Gemeindevertretung, Aurich 1989, S. 76 (Portr.) (zuerst o.J.); Heinrich Reimers, D. Petrus Bartels, in: 175 Jahre Ev.-ref. Kirche Aurich, a.a.O., S. 77–81 (zuerst in: Upstalsboom 1932 s.o.); L. Houtrouw, Verzeichnis der vom 1. Januar 1901 bis zum 31. Dezember 1940 verstorbenen reformierten Prediger Ostfrieslands nebst einigen biographischen Notizen (als Manuskript gedruckt), Norden 1951, S. 5 (Nr. 1); Albrecht Saathoff, in: Heimatkunde und Heimatgeschichte, Beilage der Ostfriesischen Nachrichten, Februar 1955, S. 7; ders., in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 37 (1957), S. 113–118; Walter Hollweg, Petrus Georg Bartels 1832–1907, in: Otto Heinrich May (Hg.), Niedersächsische Lebensbilder III (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen [Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe] 22), Hildesheim 1957, S. 1–10; Hans-Georg Ulrichs, Art. Bartels, Georg Petrus, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 30–33; ders., Art. Bartels, Petrus Georg, in: BBKL XV. Ergänzungen II (1999), S. 86–93. Portrait: Zum 75. Geburtstage unserer »Evang.-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland«, Beilage zum Sonntagsblatt für ev.-ref. Gemeinden 61 (1957), Nr. 14 vom 7. April 1957, S. 15; Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches VI), Pewsum 1974, S. 460; Photographie in der Landschaftsbibliothek der Ostfriesischen Landschaft, Aurich.

3. »Reformiert weitherzig«: Hermann Wilhelm Müller (1837–1918) Wenn mit Petrus Georg Bartels zunächst ein Ostfriese die junge reformierte Landeskirche leitete – der ostfriesische Teil war nun einmal mit einigem Abstand auch der größte –, wurde es gewiss als der Einheit und dem Zusammenwachsen förderlich angesehen, dass mit Hermann Müller der Nachfolger ein Vertreter eines der anderen reformierten Gebiete Hannovers war. Hermann Wilhelm Müller, Sohn des Pastors Johann Christian Ludwig Müller und dessen Frau Marie Christine, geb. Mecke, wurde am 10. Dezember 1837 in Bremerhaven-Lehe an der Unterweser geboren. Nach dem Besuch eines Gymnasiums in Bremen und dem Abitur Ostern 1857 studierte er sieben Semester evangelische Theologie, davon eines in Basel, vier in Tübingen (vor allem bei Johann Tobias Beck) und zwei in Berlin (bei Karl Immanuel Nitzsch u.a.). Das theologische Examen (pro licentia concionandi pro ministerio) legte er Ostern 1861 vor dem Ministerium in Bremen ab und wurde gleich danach am 10. März 1861 ordiniert. Vom 24. März 1861 bis zum 4. Mai 1862 war Müller in Neuenkirchen bei Bremen als Pastor adj[unctus] (etwa: Hilfsprediger) tätig, am 18. Mai 1862 wurde er dort als Pastor bestallt. Dreieinhalb

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Jahre später, am 12. November 1865, trat er sein neues Amt als Pastor im benachbarten Blumenthal an, der weitaus größten reformierten Gemeinde an der Unterweser, wo er beinahe 38 Jahre Dienst tun sollte. Damit blieb Müller seiner reformierten Heimat an der Unterweser treu. Nachdem die Pastoren der fünf reformierten Gemeinden im Herzogthum Bremen am 21. September 1853 als ersten Schritt auf dem Weg zu einem konfessionellen Zusammenschluss einen »Predigerverein« vom lutherischen Konsistorium Stade sanktioniert bekamen, wurde am 14. März 1867 durch Erlass des Königlich Preußischen Konsistoriums in Stade eine neue Kirchen- und Schulinspektion eingerichtet, die aus den Ortschaften Blumenthal, Holßel, Lehe, Neuenkirchen und Ringstedt bestand.6 Als dann 1882 die »Evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover« entstand (s.o. cap. 1.), fanden die reformierten Gemeinden an der Unterweser endlich ihre Heimat in einer reformierten Landeskirche, in der sie als achte »Inspektion« (Synodalbezirk) aufgenommen und so dem Auricher Konsistorium unterstellt wurden. Müller hatte als einer der »von Seiner Majestät dem Kaiser und Könige ernannte[n] Mitglieder« an der »außerordentlichen Synode zur Berathung einer Kirchengemeinde- und Synodalordnung für die evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover« vom 27. November bis zum 12. Dezember 1881 in Aurich teilgenommen; laut Protokoll erwies er sich dabei nicht etwa als unbeweglicher Konfessionalist, sondern eher als ein kirchlicher Pragmatiker: So befürwortete Müller ein paritätisch besetztes Konsistorium und votierte dafür, in gemischt-konfessionellen Gebieten die Lutheraner nicht von den Bezirkssynoden auszuschließen, denn »es [sei] der beste Ruhm und die höchste Ehre der reformirten Kirche, weitherzig zu sein und dadurch ein Haus des Friedens zu werden.« Müller, der sich auf der außerordentlichen Synode mit seiner irenischen Position durchsetzen konnte, nahm an allen weiteren »Gesammtsynoden« als gewählter Abgeordneter teil und war so von Anfang an mit der Geschichte der reformierten Landeskirche verbunden und beteiligte sich durch häufige Kommissionsmitarbeit an deren Konsolidierung. Zum Beispiel gehörte er zur Prüfungskommission und war Vorsitzender der »PetitionsCommission«, lehnte aber 1885 auf der ersten ordentlichen Synode eine Wahl in den Synodal-Ausschuss ab. In mehreren gesetzlichen Detailfragen, die die »Gesammtsynode« in den achtziger und neunziger Jahren zu klären hatte, votierte Müller gegen eine Stärkung der presbyterialsynodalen Mitwirkung an der Kirchenleitung. Am 5. März 1890 wurde Müller, der unverheiratet blieb, Superintendent der achten Inspektion der reformierten Landeskirche. 6

Vgl. Johannes Göhler, Die Entstehung der reformierten Inspektion im ehemaligen Herzogtum Bremen 1853–1867, in: JGNKG 64 (1966), S. 144–153.

3. »Reformiert weitherzig«: Hermann Wilhelm Müller (1837–1918)

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Nachdem der langjährige Generalsuperintendent Petrus Georg Bartels (s.o.) zum 1. Juli 1903 seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde Hermann Müller als Nachfolger in diesem kirchenleitenden Amt in Vorschlag gebracht. Seine Einwände, er sei mit 65 Jahren bereits zu alt für diese Aufgabe, ließ das Ministerium nicht gelten. Im Juni 1903 teilte Müller mit, dass er das Amt nicht würde annehmen können, aber im Juli signalisierte er dann doch seine Bereitschaft. So wurde durch einen Brief des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 25. Juli 1903 dem Auricher Konsistorium mitgeteilt, dass Müller durch Allerhöchsten Erlaß seit dem 14. Juli 1903 als zweiter Generalsuperintendent der »Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover« die Nachfolge Bartels’ angetreten hatte. Nach seinen eigenen Worten nahm er das Amt »nicht ohne Bangen« an, weil er sich der Problematik bewusst war, einem derart bedeutenden Vorgänger nachzufolgen. Nach wie vor stand das Zusammenwachsen der verschiedenen Gebiete der reformierten Landeskirche auf der Tagesordnung. Gerne wies Müller darauf hin, dass nach evangelischem Verständnis die Bekenntnisschriften, und also hier der Heidelberger Katechismus, der jedoch erst 1936 von der Landessynode zur offiziellen Bekenntnisschrift der reformierten Landeskirche erklärt wurde, von der Bibel her zu lesen sei und nicht etwa die Bibel nach Maßgabe der Bekenntnisse zu interpretieren sei, da eine Irrtumsmöglichkeit der von Menschen aufgestellten Bekenntnisse vorausgesetzt sein müsse. Müller setzte mit seinem Streben nach konfessionellem Ausgleich durchaus die Arbeit seines Vorgängers Bartels fort, eine Kontinuität bestand wohl auch in der Ablehnung der »modernen« oder liberalen Theologie. Anders als Bartels spielte Müller nach seiner Ernennung zum Generalsuperintendenten auf den Gesamtsynoden keine dominierende Rolle; vielmehr wurde durch das Hervortreten des Vorsitzenden der Synode, Fürst Edzard zu Inn- und Knyphausen (1827–1908), und des Konsistorialpräsidenten Dr. Lümko Iderhoff (1856–1931, s.u. cap. 5.) die kirchliche Gewaltenteilung deutlich. Neben immer neuen gesetzlichen Bestimmungen waren in den Amtsjahren Müllers im besonderen Kirchbuch (Agende) und Gesangbuch nötige Diskussionsthemen, um die Einheit der jungen Landeskirche weiter zu festigen. Wo die sonntäglichen Nachmittagsgottesdienste kaum noch besucht wurden, wurden sie eingestellt; die Einrichtung von Kindergottesdiensten wurde auf bezirks- und landeskirchlicher Ebene diskutiert. Im Jahr 1904 musste Müller »über die geringe Anzahl der ... Kandidaten [der Theologie aufklären], die insbesondere durch das Übertreten vieler Kandidaten in andere Berufe hervorgerufen werde. Auch sei die heutige Zeitströmung dem Studium der Theologie nicht günstig.« Zwölf Jahre später stand während des Krieges der reformierten Landeskirche bei wachsender Zahl der Vakanzen kein einziger Kandidat mehr zur Verfügung. Seine Sorge um die Gemeinden war respektiert: »Mit

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aufrichtiger Dankbarkeit empfand man es …, daß er sich in Hirtenfürsorge der einzelnen Gemeinden und Pastoren annahm und nicht als ›Aktenmensch‹ auftrat. Wohl mochte es manchem Prediger einen gelinden Schrecken einjagen, wenn der ›General‹ plötzlich unter der Kanzel saß. Aber seine herzgewinnende, milde und dabei doch feste Art schlug bald die Brücken des Vertrauens.«7 Im Jahr 1909 konnte Müller an der Calvin-Feier in Genf teilnehmen und eine Grußadresse überreichen.8 Die in diesem Jahr auch vielerorts in Deutschland stattfindenden Calvin-Gedenkfeiern können durchaus als Beginn einer »Calvin-Renaissance« bezeichnet werden, die die starke Betonung eines wohl vor allem gegen calvinisches Gedankengut gerichteten »deutsch-reformierten« Weges zurückdrängte. Auch Müllers Vorgänger Bartels verstand sich noch betont in dieser Tradition. Ein glühender Calvinist ist Müller weder vorher gewesen noch durch das Jubeljahr 1909 geworden, über die mit diesem Jahr verbundene wachsende Bedeutung des Reformiertentums wird er sich freilich gefreut haben und konnte mit diesem Selbstbewusstsein etwa auch im Zusammenhang des Reformationsjubiläums 1917 nachdrücklich positiv auf den Genfer Reformator hinweisen. Die theologische Fakultät der Universität Marburg verlieh Müller auf Antrag Ernst Achelis’ (1838–1912), eines der bekanntesten deutschen Theologen der damaligen Zeit, Ende des Jahres 1903 den theologischen Doktortitel ehrenhalber.9 In den Jahren des Ersten Weltkrieges10 wandte sich Müller wegen fehlender anderer Kommunikationsmöglichkeiten – so tagten auch die synodalen Gremien nicht mehr regelmäßig – in Rundschreiben an die Pfarrer der Landeskirche, um Anregungen für den praktischen Dienst und seelsorgerlichen Rat zu geben. Ohne überbordenden Kriegsenthusiasmus – denn »vaterländische Begeisterung« sei auch »ohne Christum möglich[...]« – stellte Müller im Schreiben vom 13. März 1915 fest, dass »[d]ie Aufgabe der Kirche in diesen Kriegsmonaten ... ja wesentlich die7 So der Schriftleiter Hermann Albert Hesse, in: RKZ 68 (1918), Nr. 22, 2. Juni 1918, S. 87. 8 Vgl. Ulrichs, Calvin-Jubiläum 1909, a.a.O., cap. 5, Anm. 129. 9 Leider ist im Bestand des Universitätsarchivs im Hessischen Staatsarchiv Marburg kein eigener Vorgang zur Ehrenpromotion Müllers zu ermitteln; die Angaben beruhen auf dem Brieftagebuch der theologischen Fakultät (Best. 307a, Acc. 1950/1, Nr. 28). Ob sich Achelis und Müller noch von der gemeinsamen Schulzeit in Bremen kannten? Beide erhielten 1857 in Bremen die Hochschulreife. Beide wirkten Anfang der 60er Jahre als Hilfsprediger nahe Bremen. 10 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.« Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, hg. von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (Forschungen zur Reformierten Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 99–135 (Wiederabdruck in diesem Band).

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selbe wie zu aller Zeit [ist]: Mit Wort und Tat in der Welt von der göttlichen Wahrheit zu zeugen und dadurch den Seelen Führerin zu ihrem zeitlichen und ewigen Heil zu sein.« Besonders sorgte sich der führende Theologe der reformierten Landeskirche wegen der sich verbreitenden Trunksucht und sexuellen Unsittlichkeit der Soldaten. In den Gemeinden selber hatte der Kirchenbesuch nachgelassen. »Wie auf die Predigten in dieser Zeit besondere Sorgfalt zu verwenden, wie die Seelsorge fleißiger als gewöhnlich zu üben ist, so mögen doch auch Kriegsbetstunden ... in keiner Gemeinde fehlen.« Im Schreiben vom 6. Januar 1916 bezeichnete Müller die in der Kriegspropaganda oft behauptete Opferwilligkeit des deutschen Volkes als etwas Großartiges, durch das das deutsche Volk »zu einer bisher nie gekannten Einmütigkeit zwar nicht mehr in der anfänglichen Begeisterung, aber in der festen Entschlossenheit« gefunden habe. »Alles das kommt noch nicht aus dem Glauben, es ist nur Edles nach dem Fleisch.« Aber das habe der Christ keineswegs gering zu schätzen. »[I]n den Schrecknissen des Krieges« ergehe »mit besonderem Ernst die Stimme des Herrn« zur Buße. Anders als erwartet habe der Krieg jedoch nicht zu einer neuen Hinwendung zum christlichen Glauben geführt. Nun beklagte Müller als Unsittlichkeit an erster Stelle den »Lebensmittelwucher«, unter dem namentlich die Armen litten. Waren sonst kirchliche Veranstaltungen und Synoden nicht gut möglich gewesen, so brachte das Jahr 1916 die letzte Gesamtsynode, die Müller erleben konnte und die unter dem königlichen Summepiskopat stand. Auch hier fehlte wie in Müllers Schreiben unkritische Begeisterung für den Krieg. Im Hinblick auf die bald anstehenden Reformationsfeierlichkeiten im Jahre 191711 unterbreitete der Gesamt-Synodalausschuß in seinem Bericht an die Synode den Vorschlag, dass die reformierte Landeskirche sich der evangelischen Landeskirche Preußens anschließen möge, weil »[d]ie Not der Zeit ... uns gebieterisch zum engsten Zusammenschluß aller Kräfte [zwingt]«. Müller wusste – zusammen mit dem königlichen Bevollmächtigten Konsistorialpräsident Lümko Iderhoff – mit dem Hinweis darauf, dass durch einen solchen kirchlichen Zusammenschluss die Reformierten der Provinz Hannover wegen der geringen Seelenzahl keine Rolle mehr spielen würden, solchen Gedankenspielen Einhalt zu gebieten. Wegen einer Herzerkrankung legte Generalsuperintendent Müller mit Ablauf des Juni 1918 sein Amt im Alter von 80 Jahren nieder. In einem Abschiedsbrief an die »Amtsbrüder« sah er schwere Zeiten für Volk und Kirche kommen. Im Blick auf die Nachkriegszeit befürchtete 11 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland, in: KZG 26 (2013), S. 238–261 (Wiederabdruck in diesem Band).

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er »schwere Kämpfe ..., die von kirchenfeindlicher Seite schon angekündigt sind.«12 Müller selbst musste die Bestrebungen radikaler Sozialdemokraten nach einer radikalen Trennung von Kirche und Staat während der ersten Wochen nach Ausrufung der Republik, die nicht wenige deutsche Protestanten für Jahre traumatisierten, nicht mehr miterleben. Er starb fast 81jährig am 5. Dezember 1918 in Aurich. Zu seinem Nachfolger wurde – noch vom ancien régime – der Emder Pastor und Präses des Coetus Gerhard Cöper (1865–1927; s.u. cap. 4.) bestimmt. Zu Beginn der außerordentlichen Synode der reformierten Landeskirche gedachte man am 23. November 1920 des früheren Generalsuperintendenten. Der Vorsitzende, Superintendent a.D. Hermann Tholens, hob hervor: »Bewußt seiner Verantwortung vor Gott und groß in brennender Liebe zur Kirche – so habe er unter uns gelebt und gewirkt. Den Gemeinden und Geistlichen sei er ein Vater gewesen.« Der »jugendliche Greis« wurde so charakterisiert: »Aristokratisch im Herzen – nach außen hin mehr ein Demokrat, so war er: ein Bremer von alter gesund reformirter Art.«13 Die Erinnerung an diesen Theologen und Kirchenpolitiker hat die reformierte Kirche nicht gepflegt. Werke: Leichenpredigt gehalten in der Kirche zu Pilsum am 7. Juni 1909 (über Ps. 92,14–16), in: Zum Gedächtnis des Pastors U.T. Meyer aus Pilsum, Emden 1909, S. 5– 11; Die Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover, in: Ernst Rolffs (Hg.), Das kirchliche Leben der evangelischen Kirchen in Niedersachsen (Evangelische Kirchenkunde. Das kirchliche Leben der deutschen evangelischen Landeskirchen 6), Tübingen 1917, S. 214–245. Quellen: Personalakte im Archiv der Ev.-ref. Kirche, Leer, Predigerverzeichnis Nr. 27; Berichte des Gesammtsynodalausschusses an die reformirte Gesammt-Synode 1891ff; Verhandlungen der Synode 1885ff. Portrait: Zum 75. Geburtstage unserer »Evang.-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland«, Beilage zum Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 61, 1957, Nr. 14, 7. April 1957, S. 11 (Nr. 23); Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches VI), Pewsum 1974, S. 460 [fälschlich 1907 statt 1903] aus dem Archiv der Ev.-ref. Kirche, Leer.

4. Ein Mann des Übergangs: Gerhard Cöper (1865–1927) In der Reihe der reformierten General- bzw. Landessuperintendenten amtierte Gerhard Cöper am kürzesten und erscheint theologisch am wenigstens profiliert. Aber seine Amtszeit fällt in eine der wichtigsten Zäsuren der Geschichte des deutschen Protestantismus, nämlich in die Jahre des Endes des landesherrlichen Kirchenregiments und denen der kirchenrechtlichen Neuorientierung. Dem am 7. Januar 1865 geborenen 12 13

Abgedruckt auch in RKZ 68 (1918), Nr. 28, 14. Juli 1918, S. 115. RKZ 69 (1919), Nr. 1, 5. Januar 1919, S. 5.

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Sohn eines Schmiedemeisters aus dem rheiderländischen Bunderhee gelang ein außerordentlicher sozialer Aufstieg, der ihn bis in das leitende geistliche Amt der reformierten Landeskirche führen sollte. Von seiner Kinder-, Schul- und Jugendzeit ist nichts mehr außer dem Besuch des Gymnasiums in Emden bekannt. Er studierte in Greifswald und Tübingen und sah sich als Schüler Adolf Schlatters, Hermann Cremers und Martin Kählers. Im Herbst 1890 (15.–26. September) absolvierte Cöper mit gutem Erfolg das Erste theologische Examen, das nicht mehr wie seit a Lascos Zeiten vor dem Coetus reformierter Prediger in Emden abgelegt wurde, sondern vor der »Kommission für die theologischen Prüfungen in der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover«, die erst seit acht Jahren existierte. Nachdem er am 27. September 1892 das Zweite theologische Examen mit dem Prädikat »ausgezeichnet« bestanden hatte, wurde er am 4. Dezember 1892 in Blumenthal an der Unterweser ordiniert und verblieb dort zweieinhalb Jahre lang als Hilfsprediger; sein direkter Vorgesetzter war der Superintendent der achten Inspektion, Hermann Wilhelm Müller (1837–1918), der von 1903 bis 1918 als Generalsuperintendent der reformierten Landeskirche wirken sollte (s.o.). Seit 1883 war Gerhard Cöper mit Hermine, geb. Bakker, der jüngsten Tochter eines Rechnungsrates aus Hamburg, verheiratet. Der Ehe entstammen zwei Söhne, von denen der eine seit dem 17. Januar 1926 in Hinte Pastor war. Eine zweite Ehe mit Fanny, geb. Thienemann, blieb dann kinderlos. Zum 28. Juli 1895 wurde Cöper Pastor in Grimersum, zum 20. März 1898 dann in Emden. Seit 1908 war er Mitglied der theologischen Prüfungskommission, Anfang 1914 wurde er erster Geistlicher in Emden. Darüber hinaus wirkte er lange Zeit als Kreisschulinspektor in Emden, als Mitherausgeber des »Sonntagsblattes für evangelisch-reformierte Gemeinden« und ab 1916 als Mitglied der »Gesamtsynode« der reformierten Landeskirche, von 1917 bis 1918 als Präses des Coetus der reformierten Prediger Ostfrieslands. Auf der Coetus-Sitzung am 2. Mai 1917 war er als Nachfolger des fast 79jährigen Otto Galama Houtrouw (1838–1933) in der Stichwahl mit knapper Mehrheit gegen Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor (1845–1921) gewählt worden; mit »der Bitte um Nachsicht« – wie das Protokoll wiedergibt – nimmt er die Wahl an. Im ersten Halbjahr 1917 erfolgt die Eintragung des Coetus in das Vereinsregister des Amtsgerichtes Emden. Während der Coetus-Sitzung am 1. Mai 1918 spricht Cöper »über die Segensmacht des Gebetes aufgrund von Jacob[us] 5,13–18. Unter dem Eindruck seiner Ausführungen wird auf Besprechung verzichtet.«14 Theologische Äußerungen oder gar dezi14 Gerhard Cöper, Von der Segensmacht des Gebets. Nach Jakobus 5,13–18, in: RKZ 68 (1918), Nr. 29, 21. Juli 1918, S. 120–123; Nr. 30, 28. Juli 1918, S. 126f.

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dierte Positionen Cöpers sind auf Grund mangelnder Quellen schwer zu fassen. Bereits vorher, nämlich am 15. März 1917, wurde Cöper zum Konsistorialrat im Nebenamt beim Auricher Konsistorium ernannt, zu einer Zeit also, als Hermann Müller Generalsuperintendent war. Am 12. April 1917 wurde er in das Amt eingeführt. Als Müller aus gesundheitlichen Gründen mit Ende Juni 1918 seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde Cöper zunächst kommissarisch zum 1. Juli 1918 mit den Geschäften betraut. Im September wurde er zunächst besoldungsmäßig als Generalsuperintendent (12. September), dann mit Bescheid vom 4. Dezember 1918 auch offiziell als Stelleninhaber seit dem 1. September 1918 anerkannt. Dies geschah mithin im staatskirchenrechtlichen »Niemandsland«, da mit dem alten Regime das landesherrliche Kirchenregiment zu existieren aufgehört hatte, die neuen, bis in die Gegenwart bewährten Regelungen der Weimarer Reichsverfassung aber erst in Jahresfrist in Geltung traten. Aufgrund seines kirchenleitenden Amtes schied Cöper hernach aus dem Coetus und dessen Präsesamt aus, so dass seine dortige Präsidenzeit nur Episode blieb. Über diese Zeit ab Sommer 1918 berichtete Cöper knapp sieben Jahre später im Rückblick: »Nicht lange nach meinem Amtsantritt brach die Revolution aus; es waren in den ihr folgenden Wirren nicht leichte Jahre meines Dienstes.« In einem »Hirtenbrief« zum Jahresbeginn, in dem das Zeitgeschehen wie von vielen anderen reformierten Theologen unter der Perspektive des Gottesgerichts und eines daraus folgenden Bußrufs auf Grund »unsere[r] Mitschuld am Zusammenbruch unseres Volkes« gesehen wird, erwägt Cöper die Möglichkeit, »daß alte Formen zerbrechen, damit neue geschaffen werden«.15 In Cöpers Zeit als Generalsuperintendent fallen somit nach den Gründungsjahren die bis dahin vielleicht schwersten Jahre in der Geschichte der reformierten Landeskirche, hatte man doch mit der Abdankung des preußischen Königs den Summepiskopus verloren, dessen Großvater erst 1882 die neue Landeskirche sanktioniert hatte. Der Wechsel von der Monarchie zu einem demokratischen Staatswesen erforderte auch neue staatskirchenrechtliche Regelungen. Dem Coetus berichtete Cöper am 19. Dezember 1918 von einer Sitzung im Ministerium in Berlin am 12./13. Dezember 1918, »daß man im Ministerium ziemlich planlos und über die Wirkung des Religionserlasses erstaunt gewesen, auch gegenüber dem festen Auftreten und Zusammenhalt der verschiedenen landeskirchlichen Behörden offenbar erkannt habe, man 15

Abgedruckt in: RKZ 69 (1919), Nr. 11, 16. März 1919, S. 73 (Abdruck nach dem KGVBl.). – Vgl. zur reformierten Landeskirche ab 1918 Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Personen, Band 2: Landes- und Provinzialkirchen, bearbeitet von Karl-Heinz Fix u.a. (AKiZ A 20), Göttingen 2017, S. 213–221: Hannover (reformiert) / Nordwestdeutschland-reformiert.

4. Ein Mann des Übergangs: Gerhard Cöper (1865–1927)

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sei zu weit gegangen«. Und in der Tat wurden dann in der Weimarer Reichsverfassung und den folgenden Gesetzen die kirchlichen Privilegien weitgehend erhalten. Dennoch musste Sorge getragen werden für den äußeren Bestand der eigenen kirchlichen Strukturen: Auf der »Gesamtsynode« 1920 kam beispielsweise die Bedürftigkeit der Pastoren zur Sprache, ebenso wie die schon länger erhoffte Professur für reformierte Theologie in Göttingen. Entscheidend war sodann das »Kirchengesetz betreffend eine außerordentliche Kirchenversammlung zur Feststellung der künftigen Verfassung für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover«. Wahlberechtigt waren »alle konfirmierten männlichen und weiblichen Mitglieder der Kirchengemeinde, die am Wahltage mindestens 24 Jahre alt sind.« Damit erhielten die Frauen erstmals direkten Einfluss bei kirchlichen Wahlen, wenn auch die 1922 zusammentretende verfassunggebende Kirchenversammlung weiterhin ausschließlich aus Männern bestand. Während der außerordentlichen Kirchenversammlung vom 17. bis zum 19. Januar und vom 18. bis zum 22. September 1922 wurde über die künftige Verfassung verhandelt. Umstritten war neben dem Bekenntnisparagraphen und dem – auch passiven – Frauenwahlrecht der demokratische Grundzug der neuen Verfassung, gegen den sich vor allem Vertreter der Grafschaft Bentheim – darunter auch der nachmalige Landessuperintendent Walter Hollweg (1883– 1974, s.u.) – aussprachen. Dieser »etwas weltfremd anmutenden« Position wurde dann aber widersprochen. Cöper machte »geltend, daß hinsichtlich des Frauenstimmrechts zu beachten sei, daß die Frau durch das Christentum aus der untergeordneten Stellung, wie sie ihr die Antike zuweise, gehoben und dem Manne gleichgestellt sei.« An dieser Stelle votierte Cöper demnach für die progressive, freilich auch längst überfällige Regelung; eine andere Variante wäre im Geltungsbereich der Weimarer Reichsverfassung wohl auch schwerlich durchsetzbar gewesen. Cöper konnte sich aber auch gegen gänzlich kongregationalistische Bestrebungen einiger ostfriesischer Synodaler verwahren. Ein profilierter Theologe wird Cöper nicht gewesen sein. Er selbst hat aber die Einrichtung des reformierten Lehrstuhls an der Universität Göttingen an verantwortlicher Stelle mit betrieben und erlebte auch die ersten Auftritte Karl Barths mit. Auf einer Coetus-Tagung im Oktober 1922 in Emden kommt es nach zwei Vorträgen zu Diskussionen, von denen Barth seinem Weggenossen Eduard Thurneysen beeindruckt berichtet. Am Ende der Tagung, so Barth, »[konnte] der Generalsuperintendent mir das Vertrauen der ostfriesischen Geistlichkeit solenn aussprechen«.16

16

Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II: 1921–1930 (GA V), Zürich 21987, Rundbrief Barths, 16. Oktober 1922, S. 111–114, hier: S. 111.

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

Bis 1924 fungierte die Auricher Behörde als Simultankonsistorium, dann waren nur noch die reformierten Gemeinden der preußischen Provinz Hannover dieser Behörde unterstellt, während die lutherischen Gemeinden Ostfrieslands dem Landeskirchenamt Hannover zugeordnet wurden. Der erste ordentliche Landeskirchentag (vorher: »Gesam[m]tsynode«) der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover vom 3. bis 6. März 1925 in Aurich schloss den kirchlichen Neuordnungsprozess ab und wurde deshalb auch zum Auftakt der Versammlung als »Wendepunkt unseres kirchlichen Lebens« bezeichnet. Dieses höchste Gremium der Landeskirche nahm von der Wahl eines Landessuperintendenten Abstand, weil nach staatlichem Recht diejenigen Kirchenbeamten, die im Amte bleiben wollten, in entsprechende Ämter zu übernehmen waren.17 Offensichtlich legte man auch in der reformierten Kirche mehr Wert auf die Kontinuität zum früheren Staatskirchentum als auf eine freie Kirche in einem freien Staat – oder man schätzte den Amtsinhaber derart und traute ihm zu, die Geschicke der Kirche auch in neuen rechtlichen Kontexten gut lenken zu können. Cöper amtierte seit dem 1. April 1925 nur noch weniger als zwei Jahre, da er nach schwerer Krankheit am 29. Januar 1927 im Alter von 62 Jahren verstarb. Gerhard Cöper mag vielleicht kein herausragender Theologe gewesen sein, aber immerhin hatte er viel Rückhalt in seiner Kirche: Viele Jahre lang war er Inhaber einer bedeutenden Pfarrstelle, dem Coetus saß er nur kurz vor, weil er dann im Sommer 1918 nach Aurich in die konsistoriale Kirchenleitung berufen wurde. Hier gelang ihm an verantwortungsvoller Stelle daran mitzuarbeiten, dass sich die reformierte Landeskirche gut in der neuen staatskirchenrechtlichen Situation zurecht fand. Im Nachruf des Landeskirchenvorstandes wird Cöper folgendermaßen charakterisiert: »Mit großer Gewissenhaftigkeit und Treue hat er seine Gaben und Kräfte in den Dienst unserer Gemeinden und unserer Kirche gestellt und stets Gottes Ehre und der Gemeinden Bestes erstrebt. Durch die Güte und Freundlichkeit seines Wesens war er vielen treuer Freund und Berater. Uns war er stets ein lieber Mitarbeiter.« Werke: Jeremias 18,1–6. Predigt zur Eröffnung der Tagung des Reformierten Bundes in der Neuen Kirche zu Elberfeld am 26. August 1919, in: RKZ 69 (1919), Nr. 38/39 vom 28. September 1919, S. 281–283; Gesamtbescheid von Generalsuperintendent CöperAurich auf die im Jahre 1920 gehaltenen Synoden des 2., 3., 4. und 6. Bezirks, in: RKZ 72 (1922), Nr. 1 vom 1. Januar 1922, S. 8f. Literatur: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation, hg. von Philipp Meyer, Band 1, Göttingen 1941, S. 517; L. Houtrouw, Verzeichnis der vom 1. Januar 1901 bis zum 31. Dezember 1940 verstorbenen reformierten Prediger Ostfrieslands nebst einigen biographischen Notizen (als Manuskript gedruckt), Norden 1951, S. 7 (Nr. 9); Christian Züchner (Hg.), Über Zeiten und Räu17

Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches 6), Pewsum 1974, S. 553, spricht irrtümlicherweise von einer Wahl Cöpers.

5. Weltliche Macht im Dienst der Kirche: Lümko Iderhoff (1856–1931)

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me. Aus der Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde Emden, Emden 1997, S. 264, Nr. 128. Quellen: Personalakte im Archiv der Ev.-ref. Kirche, Leer, Predigerverzeichnis Nr. 224; Verhandlungen der Gesamtsynoden 1916ff; Protokollbuch des Coetus. Portrait: Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches 6), Pewsum 1974, S. 461 (Nr. 200) aus dem Archiv der Ev.-ref. Kirche, Leer [mit dem falschen Vornamen Hermann statt Gerhard].

5. Weltliche Macht im Dienst der Kirche: Lümko Iderhoff (1856–1931) Lümko Iderhoff entstammt einer alten ostfriesischen Elitenfamilie. Die Familie Iderhoff lässt sich bis in die frühe Reformationszeit Ostfrieslands nachweisen; möglicherweise hängt der Name mit der Ortschaft Ihrhove (früher: Ydehof, Yderhave oder Yderhofe) zusammen. Die Heimat der Iderhoffs wurde dann allerdings die Krummhörn. Als ältestes Kind von Jan Hoiten Geerds Iderhoff (1827–1914) und Mentje Albers Ellerbeck (1822–1876) wurde Lümko Iderhoff am 11. Januar 1856 in Wirdum geboren. Nach Absolvierung des Gymnasiums in Emden studierte er seit 1876 Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, Leipzig und Berlin. Vom 24. November 1879 bis zum 31. März 1923 war er über mehr als vier Dekaden im preußischen Staatsdienst tätig, zunächst als Gerichtsreferendar in Aurich, Hannover und Stade, als Regierungsreferendar in Merseburg und dann als Regierungsassessor in Danzig. Am 15. Mai 1888 wurde Iderhoff mit der kommissarischen Verwaltung des Landratsamtes Weener beauftragt und damit in seine ostfriesische Heimat zurückgerufen; die endgültige Ernennung zum Landrat erfolgte zum 1. November 1888. In Weener wirkte Iderhoff bis 1893. Mit dem 1. Oktober 1893 wurde er zunächst kommissarischer Landrat in Aurich. Nach einem entsprechenden Beschluss des Kreistages vom 3. April 1894 wurde er am 9. Mai 1894 zum Landrat ernannt und stand bis 1904 an der Spitze des Auricher Landratsamtes. In dieser Zeit wirkte er auch als Mitglied des hannoverschen Provinziallandtages seit 1891 und des Preußischen Abgeordnetenhauses seit 1898, so dass er während der Sitzungsperioden der Parlamente häufig in der Heimat vertreten werden musste. Iderhoff gehörte seit 1891 als einer der »von Sr. Majestät dem Könige Ernannten« der »Gesammtsynode« der Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover an. Auch als Auricher Landrat wurde er entsprechend in die Synode berufen, wo er sich naturgemäß bei rechtlichen und finanziellen Fragen engagierte, etwa in verschiedenen Kommissionen. Iderhoff vertrat zumeist pragmatische Positionen, die ostfriesische Besonderheiten und Befindlichkeiten berücksichtigten. Auffällig oft gingen er und der »königliche Commissarius« für die Gesamtsynode, Konsistorialdirektor Scheffer, einig. Im Jahr 1892 wurde Iderhoff bei fünf Ge-

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

genkandidaten von den Synodalen mit großer Mehrheit in den »Gesammt-Synodalausschuß« gewählt. Seit dem 1. Juli 1904 war Iderhoff Konsistorialpräsident im Auricher Konsistorium und damit Nachfolger von Scheffer. Das Konsistorium verwaltete seinerzeit die lutherischen Gemeinden Ostfrieslands und die Gemeinden der 1882 errichteten reformierten Landeskirche, die neben den ostfriesischen Gemeinden die Reformierten in der Grafschaft Bentheim, in Lingen, an der Unterweser und in der Plesse bei Göttingen umfasste. Iderhoff stand somit als Konsistorialpräsident an der Spitze der Verwaltung von etwa 120.000 Reformierten in der Provinz Hannover mit ihren damals 124 Pfarrstellen. Mit dem Präsidenten wechselte damals auch der reformierte Generalsuperintendent: Petrus Georg Bartels (s.o.) war nach Jahrzehnten an der Spitze der Reformierten zum 1. Juli 1903 von Hermann Müller (s.o.) abgelöst worden, der zuvor Superintendent der achten Inspektion in Blumenthal an der Weser gewesen war. Iderhoff, der ja seit einer Dekade bereits in Aurich tätig war, kannte die politischen und kirchlichen Verhältnisse Ostfrieslands sehr gut. Neben dem Generalsuperintendenten Hermann Müller und dem Konsistorialpräsidenten Lümko Iderhoff fungierte mit dem starken Vorsitzenden der Gesamtsynode, Fürst Edzard zu Innhausen und Knyphausen, ein zweiter »Laie« in führender Position – allerdings verstarb der Fürst dann 1908.18 Iderhoffs Hauptsorge galt dem weiteren inner-organisatorischen Aufbau der jungen reformierten Landeskirche, in der es noch vieles – gerade auch zwischen den recht unterschiedlichen Regionen – aus- und anzugleichen galt. In Rücksprache mit synodalen Gremien betrieb Iderhoff in den staatlichen Hierarchien auch reformierte Kirchenpolitik. So versuchte er etwa, Lobby-Arbeit für einen reformierten Lehrstuhl zu leisten. Diese in die Kriegszeit zurückreichenden Aktivitäten wurden 1921 mit der Berufung Karl Barths nach Göttingen noch von Erfolg gekrönt. Auch in der Zeit seiner kirchlichen Tätigkeit war Iderhoff als Lobbyist in politisch-wirtschaftlichen Kontexten tätig. Über lange Jahre war er etwa Abgeordneter der Kreisbahn Leer-Aurich-Wittmund GmbH und saß weiterhin im Preußischen Abgeordnetenhaus. Gemeinsam mit dem Generalsuperintendenten Hermann Müller gelang es Lümko Iderhoff auf der letzten unter dem königlichen Summepiskopat stehenden Synodaltagung der reformierten Landeskirche 1916, den Bestrebungen einzelner Synodaler entgegenzutreten, die nicht zuletzt wegen der Kriegsnöte einen Anschluss an die preußische Landeskirche gefordert hatten. Auf der außerordentlichen Synode im Novem18 Vgl. Walter Deeters, Art. Innhausen und Knyphausen, Edzard, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band I, Aurich 1993, S. 202f. Leider wird hier Edzards kirchliche Rolle nicht gewürdigt, dabei stand Fürst Edzard neben P.G. Bartels für die jahrzehntelange Kontinuität in der reformierten Landeskirche.

5. Weltliche Macht im Dienst der Kirche: Lümko Iderhoff (1856–1931)

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ber 1920 musste Iderhoff die Weichen dafür stellen, dass sich auch die reformierte Landeskirche durch eine verfassunggebende Versammlung eine neue Ordnung gemäß den neuen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen geben konnte. Diese verfassunggebende Versammlung trat dann 1922 zusammen. Als altgedienter preußischer Verwaltungsbeamter wird ihm das nicht leicht gefallen sein, aber Iderhoff organisierte den Neuaufbau der Institution Kirche im demokratischen Rechtsstaat mit derselben Loyalität und demselben Eifer, wie er sich seit 1904 dem strukturellen Aufbau der damals noch jungen reformierten Landeskirche gewidmet hatte. Iderhoff trat 1920 nicht nur für eine sich nach allgemeinen Kirchenwahlen konstituierende Versammlung ein, sondern stritt auch pointiert für das Frauenwahlrecht. Von Anfang an vertrat er die reformierte Landeskirche in den Gremien des Kirchenbundes während der Weimarer Republik. Im Januar 1922 begrüßte Iderhoff die verfassunggebende Versammlung und brachte mit einer grundlegenden Rede die Begründung für die neue Kirchenverfassung ein, die ja auch Iderhoffs eigenes Arbeitsfeld, das staatliche Konsistorium, überwand und eine rein synodale Leitung der Kirche schuf. Freilich plädierte Iderhoff leidenschaftlich für ein Nebeneinander von Landeskirchenrat und Landeskirchenvorstand. Als Konsistorialpräsident war Iderhoff auch in die durchaus Mythen umrankten Auseinandersetzungen um Pastor Dr. jur. Arnold Nordbeck im rheiderländischen Landschaftspolder verstrickt.19 Dabei vertrat und formulierte Iderhoff die Position der Kirchenregierung. Wohl hat die Kirchenregierung unter Iderhoff es an notwendiger Skepsis und Kritik den Großbauern gegenüber fehlen lassen, aber sie hat weder Nordbecks Absetzung noch Schwächung betrieben. Im Gegenteil: Zunächst war man in Aurich bemüht, die verschiedenen Perspektiven des Konfliktes zu verstehen, dann war man um eine Verständigung und um einen Ausgleich bemüht, was Nordbeck später als »Beschwichtigung« verstand. Schließlich musste dieser so lange schwelende Konflikt irgendwie gelöst werden. Dass man sich dazu der auch rechtlich äußerst fragwürdigen, von Iderhoff selber als unbefriedigend eingeschätzten Maßnahme der 19 Heide Braukmüller hat Nachdrucke der beiden Schriften Arnold und Gesine Nordbecks veranstaltet: Arnold Nordbeck und Philaletes [i.e. Gesine Nordbeck], Die Aufhebung der Pfarrstelle in Landschaftspolder [Göttingen 1926] und Die Geschichte einer Landarbeitersiedlung [Göttingen 1928]. Ein Beitrag zur Kirchen- und Sozialgeschichte Ostfrieslands, hg. von Heide Braukmüller, Leer 1998; dort auch weitere Texte. Vgl. auch zur Biographie Arnold Wilhelm Nordbeck, Erinnerungen, hg. von Heide Braukmüller, Leer 2009; Paul Weßels, »Wer glaubt, flieht nicht.« Pastor Wilhelm Nordbeck in Landschaftspolder, in: Emder Jahrbuch 88/89 (2008/2009), S. 174–209. Nordbeck gehörte bereits vor dem Krieg zu den Unterstützern der Deutschen Friedensgesellschaft, stand also ohnehin in Opposition zu den staatlichen Konsistorien und zur protestantischen Mehrheitsmeinung.

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

Aufhebung der betreffenden Pfarrstelle bediente, gereichte der reformierten Landeskirche gewiss nicht zum Ruhm. Ein moralisches Fehlverhalten ist dem Konsistorialpräsidenten indes schwerlich nachzuweisen. Im Übrigen gehörte Nordbeck auch in umkämpften Jahren zur reformierten Landessynode und hat also in der kirchlichen Öffentlichkeit eines demokratischen Gemeinwesens Gehör gefunden. So sympathisch die Parteinahme für die »Opfer« geschichtlicher Ereignisse ja sein mag, so sehr wird man sich ebenfalls um eine angemessene Beurteilung etwa kirchenleitenden Handelns bemühen müssen. Auch im »Fall« Nordbeck hat die Kirchenleitung Langmut bewiesen und lange zum Pastor gestanden. Aber die demokratisch legitimierten Organe der Kirche, u.a. auch der örtliche Kirchenrat, sahen dann keine Zukunft mehr mit einer gedeihlichen Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Pastor.20 Nachdem die neue, 1922 beschlossene Verfassung 1924 staatlicherseits bestätigt worden war, sollte die »Kirchenbehörde« vollends umgestaltet werden; beispielsweise erhielt der seit 1918 amtierende Generalsuperintendent Gerhard Cöper (s.o.) den neuen Titel »Landessuperintendent«, das seit 1884 in dieser Form bestehende Auricher Konsistorium wurde 1924 aufgelöst. Mit Hinweis auf die Umgestaltung und auf sein hohes Lebensalter von 69 Jahren suchte Iderhoff am 11. Februar 1925 um Pensionierung zum 1. April 1925 nach und verlebte seinen Ruhestand in Sandhorst bei Aurich. Jetzt vertrat er von 1925 bis 1929 für den Wahlbezirk Aurich die Deutschnationale Volkspartei im Provinziallandtag Hannover, um »das Erbe der Konservativen der kaiserlichen Zeit« (Heinrich Schmidt) zu wahren. Iderhoff verstarb am 10. Januar 1931, einen Tag vor seinem 75. Geburtstag, in Sandhorst. Er war seit dem 9. Oktober 1890 verheiratet mit Hermine Iderhoff, geb. Pohlmann (geb. 22. August 1867 in Leer), die ihren Mann um neun Jahre überlebte und am 16. August 1940 verstarb. Dem Ehepaar waren die drei Kinder Menna, Johann und Lümko geboren worden. Die Familie Iderhoff ist bis heute überwiegend in Ostfriesland beheimatet. Werke: Die Fehnkolonie ›Großefehn‹, in: Protokoll der Sitzung der Central-MoorCommission 43, 1899, S. 17–25 (auch als Sonderdruck, Aurich 1899); Unsere Deichund Sielordnung und das neue Preußische Wassergesetz, in: Landwirtschaftliches Zentralblatt für Ostfriesland 7, 1912, Nr. 48 [wiedergegeben nach den Protokollen des Preußischen Abgeordnetenhauses]. Literatur: Heinrich Schmidt, Politische Geschichte Ostfrieslands (Ostfriesland im Schutze des Deiches, 5), Leer 1975; Biographisches Handbuch für das Preussische Abgeordnetenhaus 1867–1918, bearb. von Bernhard Mann unter Mitarbeit von Martin Doerry, 20

P. Weßels widerspricht a.a.O., S. 204, Anm. 148, meiner Einschätzung des Agierens Lümko Iderhoffs und der Kirchenleitung, muss aber gleichzeitig von den nicht wenigen Bemühungen der Kirchenleitung und namentlich Iderhoffs berichten, Nordbeck gegen Anwürfe aus dem Lager der Großbauern zu verteidigen.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)

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Cornelia Rauh und Thomas Kühne (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 3), Düsseldorf 1988, S. 194, Nr. 1006; Hermann Adams, Jeltko Iderhoff. Ein namhafter Ihrhover, Drost von Berum, Ihrhove 2002. Quellen: Personalakte im StAA, Rep. 16/2, 109; Amtsblatt der kgl. Regierung zu Aurich (betreffende Jahrgänge); Verwaltungsberichte über den Kreis Aurich (StAA, Dep. 34, Nr. 29 f.); Verhandlungen der ordentlichen Synoden der evangelisch-reformierten Gemeinden der Provinz Hannover, 1891ff.; Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover vom 12. Januar 1931, S. 1; Reformirte Kirchenzeitung 54 (1904), 3. Juli 1904, S. 215. Portrait: StAA, Rep. 243 A 531 und B 1305; Landschaftsbibliothek, Aurich.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974) Mit dem vom Niederrhein stammenden Walter Hollweg erhielt die Evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover einen weithin anerkannten wissenschaftlichen Theologen, der sich mit seinen wissenschaftlichen Gaben auch den Herausforderungen von Kirchenleitung stellte. Über seine Rolle ist – bei aller persönlicher Anerkennung – lange gestritten worden, da ihm nur einige Jahre Kirchenleitung je vor und nach der NS-Diktatur vergönnt waren; die längste Zeit seiner kirchenleitenden Tätigkeit, nämlich genau die Hälfte, musste er während des »Dritten Reiches« bestehen. Walter Hollweg wurde am 23. Mai 1883 als Sohn des Kaufmanns Karl Hollweg in Mönchengladbach geboren. Von 1889 bis 1893 besuchte er die Volksschule und von 1893 bis 1902 das Gymnasium in Mönchengladbach. Bereits hier dürfte er vom niederrheinischen Reformiertentum geprägt worden sein, vermutlich auch schon von der Theologie Hermann Friedrich Kohlbrügges. Ab dem Sommersemester 1902 studierte Hollweg zunächst evangelische Theologie und Geschichte für ein Semester in Bonn, wechselte dann aber für drei Semester nach Halle, wo er dem habilitierten reformierten Domprediger August Lang und dem Inspektor des Reformierten Konviktes Wilhelm Goeters begegnet sein wird. Sein Studium schloss Hollweg dann wiederum in Bonn ab. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten theologischen Examen vor dem Konsistorium der Rheinprovinz in Koblenz (1906 und 1908) promovierte Hollweg 1907 an der Universität Bonn zum Dr. phil. Im Jahr 1919 erwarb er mit einer Arbeit über die evangelischen Gesangbücher am Niederrhein vom 16. bis zum 18. Jahrhundert den Grad des Lizentiaten der Theologie. Seine frühen wissenschaftlichen Arbeiten befassten sich in erster Linie mit kirchen- und liturgiegeschichtlichen sowie hymnologischen Themen; auch noch in den 20er Jahren arbeitete Hollweg als ausgewiesener Kenner der Tradition am neuen reformierten Gesangbuch mit. Die Universität Gießen, an der seinerzeit der Reformierte Leopold Cordier tätig war, verlieh Hollweg im Jahr 1929 den Titel eines Doktors der Theologie ehrenhalber. Seine Körperbehinderung – auf-

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

grund einer Kinderlähmung hinkte er mit der rechten Hüfte – stand Hollweg bei der kirchlichen und wissenschaftlichen Karriere offenbar nicht im Wege. Hollwegs kirchlich-theologischer Weg führte ihn vom Vikariat in Elberfeld (1907–1909), wo er auch die Vorbereitungen auf das bedeutsame Calvin-Jubiläum 1909 miterlebte und wo der junge Josef Bohatec wirkte, vom 21. März 1909 bis 31. Oktober 1927 ins reformierte Pfarramt nach Gildehaus (Grafschaft Bentheim). Mit seiner »nüchterneindringlichen, schriftgebundenen Predigt« (Walter Herrenbrück sen.) konnte er die dortigen Reformierten für sich einnehmen. In der Grafschaft gab es mit Pastor Peter Schumacher (Uelsen)21 einen hervorragenden Vertreter der Theologie Hermann Friedrich Kohlbrügges. Als Synodaler bei der verfassunggebenden Landessynode 1922 (Januar und September) war Hollweg an prominenter Stelle beteiligt und stritt gemeinsam mit P. Schumacher u.a. im »Bentheimer Abänderungsvorschlag« für durchaus konservative Positionen: Neben einem Plädoyer für einen sich enger an die neutestamentlichen Aussagen anlehnenden Aufbau der Kirche kritisierte man einen sich am Zeitgeist orientierenden »demokratischen Zug« des Verfassungsentwurfs. Gegenredner werteten dies als »etwas weltfremd«. Die Bentheimer lehnten eine zu starke Position der Pfarrer im Gegenüber zu ihrer Gemeinde genauso ab wie die Einführung des Frauenwahlrechts und die Verhältniswahl. Um den Weg zu einer neuen Verfassung dennoch frei zu machen, formulierten die Bentheimer zwar am Ende nochmals ihren Protest, stimmten aber schließlich für die neue Verfassung. Hollweg galt später wegen seines pointierten Engagements als »einer der Väter der Kirchenverfassung« (Gerhard Nordholt). Obwohl bereits in weiten Kreisen der reformierten Landeskirche und in den synodalen Kontexten durchaus angesehen, verlor Hollweg die Wahl zum Kirchenpräsidenten am 4. März 1925 gegen Superintendent Johann Nikolaus Ditzen (Blumenthal). Von 1924 bis 1927 wirkte Hollweg als erster gewählter Vorsitzender des VI. Bezirkskirchenverbandes, bevor er nach dem Tod von Gerhard Cöper (29. Januar 1927, s.o.) und »einem kurzen, nicht eben glücklichen Interim« (W. Herrenbrück sen.) mit Wirkung vom 1. November 1927 zum Landessuperintendenten der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover gewählt wurde. Hollweg war der akademisch bedeutendste Theologe der Landeskirche seinerzeit und fand über theologische und geographische Parteigrenzen hinweg die Zustimmung innerhalb der Landeskirche, zumal er mit seinen Forschungsschwerpunkten Hymnologie und Kirchengeschichte ein bewusst kirchlicher Theologe war. Für fast ein Vierteljahrhundert stand Hollweg als Landessuperintendent (1939 wiedergewählt und zugleich Präsident des Landeskirchen21

Vgl. Karl Koch, Art. Schumacher, Peter, in: BBKL XV (1999), S. 1271–1273.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)

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rates) an der Spitze der reformierten Landeskirche. Er gehörte dem Moderamen des Reformierten Bundes an. Auch auf dem internationalen Parkett des Reformiertentums wusste er sich zu bewegen. Die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1930 in Elberfeld erlebte ihn als einen ausgezeichneten Hauptredner. Von einiger Wichtigkeit war später die Tagung des Reformierten Weltbundes (Östliche Sektion) 1956 in Emden. Trotz der Verbindungen Schumachers zum für die deutschen Reformierten bald bestimmenden Schweizer Theologen Karl Barth und dessen Einfluss auch im Bereich der reformierten Landeskirche Hannovers scheint Hollweg kein »Barthianer« gewesen zu sein. Anders als andere – vor allem rheinische – Reformierte ließ er sich von Barth nicht in die entschiedene Richtung der Bekennenden Kirche (BK) rufen. Seine Sorge galt bei aller theologischen Grundlegung eben auch der Sicherung der Institution Kirche und der ihr vertrauenden und anvertrauten Menschen. Insofern hatte Hollweg es sicherlich schwerer, als es die ihn kritisierenden Bekenntniskräfte sehen konnten. Hollweg gehörte im Frühjahr 1933 zu denen, die in den kirchlichen Umwälzungen das »reformierte Erbe« auch institutionell sichern, wenn möglich sogar stärken wollten. Das geschah zum einen durch engere Kooperation mit anderen reformierten Partnern (obgleich der Versuch zu einer Fusion mit der Lippischen Landeskirche genauso fehlschlug wie der Versuch zum Aufbau einer reformierten Reichskirche), zum anderen durch taktisch-strategisches Mittun in der im Juli 1933 neu gegründeten Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), etwa durch den Präsidenten Otto Koopmann, der »als ausgesprochener Anhänger des nationalsozialistischen System gelten« kann.22 Hollweg konnte allerdings auf den durchaus angesehenen, jungen reformierten Theologen Otto Weber verweisen, der sich immer wieder als reformiertes Alibi in den Kontexten der deutsch-christlich dominierten DEK einspannen ließ; für seinen institutionell-beharrenden Kurs gelang es Hollweg später, den holländischen Theologen Theodorus L. Haitjema als Fürsprecher zu gewinnen. Die nationalsozialistischen »Deutschen Christen« waren in der reformierten Kirche nur sehr kurz von Bedeutung und nach dem sog. »Sportpalastskandal« im November 1933 kaum noch eine zählbare Größe; durch landeskirchliche Beschlüsse der Unvereinbarkeit von reformierter Kirchenmitgliedschaft und DCMitgliedschaft wurden die letzten Vertreter endgültig marginalisiert.23 22 Paul Weßels, Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892– 1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002, S. 244f. Vgl. auch Antje Donker, Art. Koopmann, Otto Heinrich, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band II, Aurich 1997, S. 213f. 23 Vgl. Paul Weßels, Die Deutschen Christen in Ostfriesland und ihr Kampf um Einfluss in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde 81 (2001), Aurich 2002, S. 167–204.

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

Deutsch-christliche Positionen wurden aber durch die bald gleichgeschalteten anderen Landeskirchen und dann auch im Bereich der DEK mehr und mehr durchgesetzt, etwa durch den »Arierparagraphen«. Auch nach der Konstituierung der Bekennenden Kirche (Coetus reformierter Prediger Deutschlands, Pfarrernotbund, reformierte Bekenntnissynode Barmen Januar 1934, Ulmer Bekenntnistag, Provinzialbekenntnissynoden und dann vor allem durch die beiden Reichsbekenntnissynoden in Barmen und Dahlem) meinte die Auricher Kirchenleitung unter Hollweg einen »neutralen«, auf Sicherung des eigenen Bekenntnisses bedachten Kurs fortsetzen zu sollen. Dagegen erhob sich dann mit der reformierten »Bekenntnisgemeinschaft« im November 1934 eine innerkirchliche Opposition, die die Kirchenleitung zum Anschluss an die BK bewegen wollte. Es gelte jetzt nämlich, aus dem Bekenntnis ein aktuelles Bekennen zu folgern. Im maßgeblich von Karl Barth formulierten »Uelsener Protokoll« zwischen Kirchenleitung und Bekenntnisgemeinschaft vom Dezember 1934 wurde dies zwar festgelegt, aber da neben den positiven »Bekenntnis«-Sätzen die Verdammungssätze fehlten, konnte die Kirchenleitung bei ihrem neutralistischen Kurs bleiben.24 Die Bekenntniskräfte fühlten sich von Hollweg und seinem Berater P. Schumacher »über den Tisch gezogen.« Auch in den kommenden Jahren hatte die reformierte Kirche unter Hollweg nicht die Kraft, Unrecht wirksam beim Namen zu nennen und sich tatsächlich der BK anzuschließen. Immerhin ergaben neuere Forschungen (H. Wever), dass Hollweg sehr wohl im Hintergrund versucht hat, bedrängten Mitgliedern seiner Kirche zu helfen, indem er Gespräche mit den Behörden suchte. Vermittlungsversuche zwischen landeskirchlichen und bekenntniskirchlichen Reformierten wie der Reformierte Kirchenkonvent Osnabrück im April 1934 scheiterten; spätestens 1936 waren die deutschen Reformierten gespalten und nicht mehr gemeinsam handlungsfähig. Man wird allerdings den Eindruck nicht los, dass Hollweg sich kirchenpolitisch auch nicht gegen die reformierten Kirchenjuristen Otto Koopmann und (ab 1937:) Adolf Kramer durchsetzen konnte. Sie waren doch wohl die eigentlichen Gegner der BK. Die im März 1935 staatlicherseits aufoktroyierte »Finanzabteilung«, mit der der NS-Staat andere Landeskirche durchaus wirksam zu knebeln verstand, stand unter dem Vorsitz von Otto Koopmann, wurde jedoch bereits im Juli desselben Jahres wieder aufgelöst bzw. die Kompetenzen wurden dem Landeskir-

24

Zum Uelsener Protokoll vgl. den entsprechenden Exkurs im Beitrag über Heinz Otten in diesem Band; vgl. auch Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009, S. 135–141.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)

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chenrat übertragen.25 Ob hierfür vor allem die geringe Größe der Landeskirche oder die kompromissbereite Haltung Koopmanns veranwortlich ist, kann nicht spekulativ, sondern nur durch Quellenstudien geklärt werden. Walter Hollwegs Bruder Karl Eduard Hollweg, Gymnasiallehrer in Oldenburg, war ein enger Freund Heinrich Oltmanns, des pietistischen Bekenntnispfarrers, der der reformierten BK in Ostfriesland ihr besonderes Gepräge gab.26 Man wird nicht fehlgehen mit der Vermutung, dass Hollweg durchaus stille Sympathien für die BK gehegt hat. Während des Landeskirchentages Ende November 1936 wandte sich Hollweg vehement gegen die Irrlehren der DC: »Jedermann weiss, dass ich theologisch und kirchlich gesehen diese Haltung [sc. der DC] glatt ablehne.«27 Den Unvereinbarkeitsbeschluss zwischen DC und reformierter Landeskirche trug er maßgeblich mit. Auch unterschrieb Hollweg gemeinsam mit dem BK-Pastor Friedrich Middendorff u.a. eine »Erklärung« vom Reformationstag 1937 gegen »Protestantische Rompilger« von Alfred Rosenberg.28 Er hielt sich also nicht prinzipiell von der BK fern oder distanzierte sich gar. Das Bild Hollwegs als eines Taktikers und Zauderers wird allerdings dadurch noch weiter verdunkelt, dass er eigentlich ohne Not die vom Reichskirchenminister Hanns Kerrl vorgelegten »Grundsätze« auch in ihrer verschärften ursprünglichen Form (1939) unterzeichnet hat, mit denen »Kirchenführer« bis hin zu den DC das »völkisch-politische Aufbauwerk des Führers« unterstützten, eine »verantwortungsbewusste Rassenpolitik« als erforderlich ansahen und nationalsozialistische Politik und christlichen Glauben für vereinbar und maßgeblich für die Deutschen hielten.29 Allerdings wird man nicht übersehen dürfen, dass die reformierte Landeskirche wie praktisch alle anderen Landeskirchen in Deutschland in den Jahren 1938 und 1939 sprunghaft gestiegene Austrittszahlen zu verzeichnen hatte30 – man 25

Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Personen, Band 2: Landes- und Provinzialkirchen, a.a.O., S. 220. 26 Vgl. P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O. 27 H. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 204. 28 Abgedruckt in: Siegfried Hermle / Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche n der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, Nr. 178, S. 369–372. 29 Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover), AGK 8, Göttingen 1961, S. 42f.; H. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 277f. (mit der irreführenden Bezeichnung »Invariata«); S. Hermle / J. Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, a.a.O., Nr. 239, S. 471f. Otto Weber war offenbar skeptisch und hielt sich zurück, vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999, S. 213f. 30 Vgl. Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Lucian Hölscher

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

kann nur erahnen, was das für die Kirche leitenden Personen bedeutet haben muss, die in verantwortliche Ämter der Kirche gewählt worden waren. Ende der 30er Jahre befand sich die Kirche tatsächlich in einer Krise innerhalb des nationalsozialistischen Weltanschauungsstaates, der mit den Mitteln seiner Gewaltherrschaft nun auch den weltanschaulichen und institutionellen Gegner »Kirche« ausschalten wollte. Der als wichtiger erachtete Krieg hielt dann die Machthaber von entsprechenden Plänen ab. Trotz der dringenden Bitte Friedrich Middendorffs 1946 trat Hollweg nicht von seinem Amt zurück; der 1927 ins Amt Gewählte war nach Ablauf der ersten Amtszeit noch 1939 von der Synode wiedergewählt worden und stand demnach 1946 gar nicht zur Wahl, sondern erst 1951 – formal gewiss korrekt, aber nach den Zäsuren der zurückliegenden Jahre kirchenpolitisch doch eher ungeschickt. Immerhin überwand Hollweg offenkundig die Spannungen zu früheren Bekenntnispfarrern. In einer gemeinsamen Erklärung von Landeskirchenvorstand und Bekenntnisgemeinschaft am 4. Februar 1946 heißt es: »Der Landeskirchenvorstand steht nicht an, zuzugeben, dass er im Drang des Kampfes um den äusseren Bestand unserer Landeskirche dem nationalsozialistischen Staat gegenüber, dessen Dämonie er im Gegensatz zu[r] Bekennenden Kirche nicht in voller Klarheit und nicht früh genug erkannte, in mancher Entschliessung sich einer Formulierung bedient hat, die er auf Grund nachträglicher, besserer Erkenntnis preisgibt.«31 Solche klaren Worte findet man selten von »Kirchenführern«, die in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Verantwortung für die Institution Kirche getragen haben. So fand denn auch Hollweg, wie in den Jahren zuvor, das Vertrauen der Mehrheit der Synode, die dann erstmals seit 1939 wieder im Oktober 1946 in Leer tagte und mit der Annahme der Barmer Theologischen Erklärung als Bekenntnisschrift (»eine Erklärung zum rechten Verständnis des Heidelberger Katechismus, die [sic!] für Lehre und Ordnung in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover verbindlich ist«) einen wegweisenden Beschluss fasste. Dass im so genannten »Geistlichen Synodalbericht« vor dem unter Mitarbeit von Tillmann Bendikowski u.a., Band 1: Norden, Berlin / New York 2001, S. 322. 31 Zit. nach Sigrid Lekebusch, Die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Manfred Gailus / Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 137–159, hier: S. 156 (Original des Textes in: LKA Leer, Kirchenordnungen 16, IV). – Eine Übereinkunft von »intakter« Kirchenleitung und Bekenntniskräften zwecks gemeinsam zu gestaltender Zukunftsverantwortung lag ganz auf der Linie des Einigungswerkes von Theophil Wurm; vgl. Gerhard Ringshausen, Erneuerung und Neuordnung der Kirche. Die evangelische Kirche in Deutschland 1945, in: KZG 23 (2010), S. 380–411.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)

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Landeskirchentag ein außerordentlich tapferes und demütiges Wort zur eigenen Schuld der Landeskirche gesprochen wurde, wird heute kaum noch wahrgenommen; dieses Wort stammt zwar von Walter Herrenbrück und aus den BK-Kontexten, wurde dann aber zu einem landeskirchlichen Wort, zu dem sich folglich auch Hollweg »bekannte«.32 Hollwegs langer Tätigkeitsbericht auf dieser Synode mit einem Rückblick auf den Kirchenkampf erwähnt Versuche, dem staatlichen Unrecht Einhalt zu gebieten, doch fügt er einschränkend hinzu: »[I]ch verkenne nicht: Unser Widerspruch hätte noch viel entschlossener, rücksichtsloser und vernehmbarer erfolgen sollen und müssen.«33 Hollweg und Schumacher wurden sogar mit der Ausarbeitung eines neuen Kirchenverfassungsentwurfs beauftragt, der aber dann nicht weiter diskutiert wurde.34 Hollwegs Mitarbeit an der reformierten Liturgie, dem »Kirchenbuch«, war auf Grund seiner hymnologischen und liturgiegeschichtlichen Kenntnisse auch nach 1945 willkommen. In Hollwegs letzten Jahren als Landessuperintendent wurde Pastor Walter Herrenbrück (zunächst ab 1937 in Tergast, dann ab 1950 in Leer), der für eine klare Positionierung bei der BK in der Schülerschaft Karl Barths eingetreten war, der »starke Mann« der Landeskirche, der im Hintergrund kirchenpolitisch durch die deutschen Reformierten unterstützt agierte35 und Hollweg dann nach einer Gegenkandidatur zum 1. November 1951 ablöste – ein verspäteter Triumph der BK oder eine Fortschreibung konservativer reformierter Theologie in der Kirchenleitung oder beides, wohl auch verbunden mit nicht-theologischen Faktoren und Mentalitätsunterschieden der alten Führungsriege aus den 20er Jahren und den jüngeren BK-Kräften.36 32

Vgl. Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover 10 (1946), Nr. 10, 20. Dezember 1946, S. 36; Sonntagsblatt, Nr. 22, 3. November 1946, S. 156f. 33 Sonntagsblatt, Nr. 18, 4. Mai 1947, S. 71. 34 Vgl. Berthold Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung 1882 zum Loccumer Vertrag 1955, in: Lomberg u.a., Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, a.a.O., S. 325–356, hier: S. 344–347. 35 So war es wohl nicht Hollweg, sondern Herrenbrück und andere BK-Vertreter, die die reformierte Landeskirche etwa in Gegenposition zur VELKD brachten und die die Einheit und das Kirche-Sein der EKD mit der gemeinsamen Anerkennung der Barmer Theologischen Erklärung begründeten, auch wenn das Rundschreiben des Landeskirchenrates vom 18. April 1947 an alle EKD-Kirchen Hollwegs Unterschrift trägt. 36 Zu Walter Herrenbrück und seinem kirchenleitendes Wirken in den 40er, 50er und 60er Jahre vgl. den entsprechenden Aufsatz in diesem Band. Vgl. auch den Teilabdruck Hans-Georg Ulrichs, »Eine unbequeme, aber doch sehr heilsame Ruhestörung«. Der Sieg Barthianischer Kirchenpolitik über die konsistoriale Tradition in der reformierten Landeskirche: der Wechsel von Walter Hollweg zu Walter Herrenbrück 1951, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 115 (2017), Hannover 2017, S. 73–100.

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

Hollwegs Agieren in der Zeit des »Dritten Reiches« ließ sich in der Retrospektive wohl leicht als wenig tapferes Lavieren beurteilen. Vor und nach 1945 wurde der Vorwurf erhoben, die Kirchenleitung unter Hollweg habe das »Bekenntnis« verraten, aber mit wachsendem Abstand wird in der Forschung auch wieder verstärkt gesehen, dass Hollweg in einer so genannten »intakten Landeskirche«, in der es weder den DC die Mehrheit zu erobern noch den Staatsbehörden die Macht an sich zu reißen gelungen war, die Verantwortung dafür trug, das kirchliche Leben aufrecht zu erhalten. Dass Kirchenführung in Zeiten eines totalitären Terrorstaates mit immer geringer werdendem Spielraum für kirchenleitendes Handeln und wachsender Bedrückung öffentlich-christlichen Lebens auch nicht »ohne Sünde« bleiben kann, zeigt nicht zuletzt Hollwegs Versagen gegenüber devianten Personen aus dem Bereich seiner Kirche, von denen manche vergeblich auf kirchlichen Beistand gehofft haben. Hollweg allerdings undifferenziert in einem Atemzug mit Otto Koopmann – oder gar mit dessen Nachfolger Adolf Kramer – zu nennen, der nun tatsächlich die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Zentralbehörden in Berlin suchte, wird seiner Leistung, das reformierte Kirchenschiff durch diese anfechtungsreiche Zeit gesteuert zu haben, nicht gerecht.37 Gewiss, auf ein Eingeständnis der persönlichen Schuld wartete man bei Hollweg vergebens; dieses verbarg er unter der von ihm durchaus geleisteten kritischen Rückschau auf den Kirchenkampf. Er verkörperte eben auch das vermeintlich Unangreifbare der konsistorialinstitutionellen Kirche.38 Literarisch außerordentlich fruchtbar gestaltete Walter Hollweg seinen Ruhestand: So konnte er mehrere Arbeiten zum Heidelberger Katechismus und zur reformierten Kirchengeschichte vorlegen, die auch nach zwei Generationen noch Geltung haben, manche sogar – etwa im Vorfeld 37

»Die Auricher Kirchenleitung in der nationalsozialistischen Zeit (vor allem Landessuperintendent Hollweg und Kirchenjurist Otto Koopmann) hat intensiv mit der deutschchristlichen Kirchenleitung und der nationalsozialistischen Kirchenpolitik kooperiert.« Man habe dadurch zwar die kirchliche Eigenständigkeit erhalten wollen, habe aber die Eindeutigkeit des Christus-Zeugnis vermissen lassen, so Georg Plasger, Die Geschichte der Evangelisch-reformierten Kirche (Synode ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), in: 125 Jahre Evangelisch-reformierte Kirche, hg. von Walter Herrenbrück und Hilke Klüver im Auftrag des Moderamens der Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche, Leer 2007, S. 11–13, hier: S. 13. Auch H. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., passim, kritisiert Hollweg scharf, wenngleich sie sich ebenso meinen Einschätzungen Hollwegs anschließen kann. 38 Während der Aussprache vor der Wahl zum Landessuperintendenten am 31. Mai 1951 »[wurde] abfällig vom königl[ich] preuß[ischen] Generalsuperintendenten alter Prägung gesprochen« (Niederschrift über die Verhandlungen des 7. ordentlichen Landeskirchentages der Evangelisch-Reformierten Kirche in Nordwestdeutschland vom 28. bis 31. Mai 1951 in Aurich [als Typoskript gedruckt], S. 53). Die Zeit solchen Amtsverständnisses sei abgelaufen.

6. Anerkannt und umstritten: Walter Hollweg (1883–1974)

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des Jubiläums des Heidelberger Katechismus 2013 – neu Beachtung fanden. Hollwegs große, posthum erschienene Geschichte über den Pietismus in Ostfriesland gilt als Pionierarbeit und glänzt durch Quellenkenntnis. Seinen umfangreichen privaten Bücherbestand gab Hollweg nicht als Depositum zur Bibliothek der Großen Kirche Emden, sondern an das Seminar für reformierte Theologie der Universität Münster. Am 23. April 1974 ist Hollweg nach langjähriger Krankheit 91jährig in Emden verstorben und wurde am 27. April in seiner ersten Gemeinde Gildehaus beigesetzt. Frühere Kritik an seiner Kirchenpolitik während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war schon damals längst von der Hochachtung vor diesem einzigartig begabten Mann gedämpft. Unter den reformierten Generalsuperintendenten vor und den Landessuperintendenten und Kirchenpräsidenten nach ihm ragt Hollweg mit seiner theologischen und kirchengeschichtlichen Bedeutung weit heraus. Sein Nachfolger Walter Herrenbrück (sen.) schrieb in seinem Nekrolog: Hollwegs »Name stand für gute Theologie [und] humane Kirchenleitung«. Werke (eine Vollständigkeit ist beim Umfang dieses Œuvres kaum zu erreichen): Verzeichnis der notleidenden reformierten Prediger- und Lehrerfamilien der Pfalz, in: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 1 (1907), S. 385–426; Dr. Georg Heßler. Ein kaiserlicher Diplomat und römischer Kardinal des 15. Jahrhunderts, Leipzig 1907; Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden, in: Calvinstudien. Festschrift zum 400jährigen Geburtstage Johann Calvins, hg. von der Reformierten Gemeinde Elberfeld, Leipzig 1909, S. 125–186; Johannes Schumacher genannt Baudius, ein wahrer Reformator am Niederrhein, Teil 1: Theologische Arbeiten aus dem Rheinischen Wissenschaftlichen Predigerverein NF 14, Tübingen 1913; Teil 2: dass., a.a.O., NF 15, Tübingen 1914; Das ostfriesische reformierte Gesangbuch von 1616, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 26 (1921), Göttingen, S. 225–230; Geschichte der evangelischen Gesangbücher vom Niederrhein im 16.–18. Jahrhundert (Publikation der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XL), Gütersloh 1923; Der Ältestendienst im Lichte des Wortes Gottes und des Bekenntnisses unserer Kirche, in: Biblische Zeugnisse, Februar 1930; als Herausgeber: Bilder aus der Vergangenheit der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, Emden 1933; Gesang im französischen Gottesdienst, in: Biblische Zeugnisse, Juli/August 1936; leitende Mitarbeit: Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, herausgegeben vom Moderamen des Reformierten Bundes, Neukirchen 1951, 21956; Bernhard Buwo, ein ostfriesischer Theologe aus dem Reformationsjahrhundert, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden, 33. Band, 1953, S. 71–90; Art. Achelis, Ernst Christian, in: NDB 1 (1953), S. 29; Heinrich Bullingers Hausbuch. Eine Untersuchung über die Anfänge der reformierten Predigtliteratur (BGLRK VIII), Neukirchen-Vluyn 1956; Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Die Geschichte ihrer Entstehung, in: ders. (Hg.), Wir grüßen die Brüder. Zur Tagung des Reformierten Weltbundes (Östliche Sektion) vom 16. bis 21. August 1956 in Emden, Emden 1956, S. 49–64; Aus der 75jährigen Geschichte der Ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland, in: Sonntagsblatt 61 (1957), Nr. 14 (7. April 1957), Beilage; Art. Bartels, Petrus Georg (1832–1907), in: Otto Heinrich May, Niedersächsische Lebensbilder III (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen [Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

Lippe] 22, Hildesheim 1957, S. 1–10; Wieder ein neues Gesangbuch? NeukirchenVluyn 1958; Art. Gellius Faber de Bouma, in: NDB IV (1959), S. 719f; Art. Ligarius, Johannes (1529-96), in: RGG3 IV, 1960, S. 376; Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus. Erste Folge (BGLRK XIII), NeukirchenVluyn 1961; Das Gesangbuch für die niederländischen Flüchtlinge in Emden vom Jahre 1574 und seine Auswirkungen auf den Kirchengesang in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden, 41. Band, 1961, S. 39–58; Die Bibliothek der Großen Kirche zu Emden, in: Reformierte Kirchenzeitung 105 (1964), S. 169–172; Der Augsburger Reichstag von 1566 und seine Bedeutung für die Entstehung der Reformierten Kirche und ihres Bekenntnisses (BGLRK XVII), Neukirchen-Vluyn 1964; Die Bibliothek der Großen Kirche zu Emden, in: Reformierte Kirchenzeitung 105 (1964), S. 169–172; Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus. Zweite Folge (BGLRK XXVIII), Neukirchen-Vluyn 1968; Die Nachwirkungen der Weseler Konventsbeschlüsse von 1568, dargestellt bis zur Emder Synode von 1571, in: Weseler Konvent 1568–1968, Düsseldorf 1968, S. 140–162; Geschichte der evangelischen Gesangbücher vom Niederrhein im 16.–18. Jahrhundert. Ergänzt mit Vorwort und bibliographischem Nachtrag vom Verfasser (ND von 1923), Hildesheim / New York 1971; Art. Faber de Bouma, Gellius (Jelle Smit), in: NDB IV, 1971, S. 719f.; Wie Gildehaus eine reformierte Gemeinde wurde (Vortrag zum Reformationsfest 1917), in: Zwischen gestern und morgen. Festschrift zum ersten Gottesdienst nach der Kirchenrenovierung, 30. November 1975, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Gildehaus, S. 49– 58; Die Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands. Von ihren Anfängen bis zur großen Erweckungsbewegung (um 1650–1750) (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 57), Leer/Aurich 1978; Kirchenleitung im Kirchenkampf. Auszüge aus Synodalreden von 1936 und 1937, in: Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, a.a.O. (s.u. Literatur), S. 298–304. Literatur: Robert Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen und Gemeinden von 1933– 1950, in: Kirchliches Jahrbuch 77 (1950), Gütersloh 1951, S. 228–332; RGG3 VI, Register, S. 101; Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover), AGK 8, Göttingen 1961; Karl Halaski, D. Dr. Walter Hollweg 90 Jahre, in: RKZ 114 (1973), S. 127; Walter Herrenbrück, Walter Hollweg. Erinnerung und Dank, in: RKZ 115 (1974), S. 140–143; Gerhard Nordholt, D. Dr. Walter Hollweg (unveröffentlichtes Manuskript in der Personalakte, 2 S.); Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, bearb. von Elwin Lomberg, Gerhard Nordholt und Alfred Rauhaus, Weener 1982; Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994; Hans-Georg Ulrichs, Heinz Otten. Ein vergessenes Schicksal aus dem reformierten Kirchenkampf. Mit zwei Briefen Karl Barths und einem Geleitwort von Landessuperintendent Walter Herrenbrück, Bovenden 1994 (Wiederabdruck in diesem Band); Karl Koch, Kohlbrüggianer in der Grafschaft Bentheim. Eine Studie zur reformierten Kirchengeschichte der Grafschaft Bentheim zwischen 1880 und 1950. Gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, in: Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, Band 12 (1996), S. 355–423, bes. 404f.; Paul Weßels, Die Deutschen Christen in Ostfriesland und ihr Kampf um Einfluss in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde 81 (2001), S. 167–204; ders., Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892–1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002, S. 191f et passim; Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-

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reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009 (Rezension des Vf. in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 107 [2009], Hannover 2009, S. 233–240). Quellen: PA, LKA Leer; Nachlass: Nachlass im LKA Leer; Bestand Kirchenkampf im Archiv der Ev.-ref. Kirche (Leer). Portrait: Photographie bei der Evangelisch-reformierten Kirche, Leer; Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches 6), Pewsum 1974, S. 553; P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O. (s.o. Literatur), S. 191.

7. Abschluss Die Reihe dieser fünf kirchenleitenden Persönlichkeiten mag trotz ihrer räumlichen Begrenztheit auf eine deutsche Landeskirche doch repräsentativ für das Reformiertentum in Deutschland sein. Gewiss sind umfangreiche sozialgeschichtliche Untersuchungen der Personalakten nötig, um valide Aussagen über soziale Herkunft und soziale Mobilität der Pfarrerschaft und des kirchlichen Leitungspersonals machen zu können und gewiss sind regionale und zeitliche Unterschiede zu gewärtigen. Die hier dargestellten Personen gehörten verschiedenen Generationen an, aber sie waren auch von unterschiedlich Herkunft: Zwei Ostfriesen und je eine Person von der Unterweser und aus dem Rheinland – dieser allerdings über seine Tätigkeit in der Grafschaft Bentheim landeskirchlich akkulturiert – bekleideten über nahezu drei Generationen das Amt des reformierten General- bzw. Landessuperintendenten. Für das aufstiegsorientierte Handwerker- und Kleinbürgertum stellte der Beruf des evangelischen Pfarrers eine attraktive Chance innerhalb der Sozialhierarchie dar. Weder die Herkunft aus einfacheren und nicht-akademischen Verhältnissen wie bei Bartels und Cöper noch die Nicht-Zugehörigkeit zu eine der weit verzweigten »Pastorendynastien« wie bei Müller verhinderte offenbar den Zugang zu den Leitungsämtern. Kriterien dafür waren wohl tatsächlich vor allem persönliche Begabung, Erfahrung und Leistungsbereitschaft. Auch der Coetus spielte keine dominierende Rolle bei der Vergabe dieser leitenden Position. Neben den Theologen leiteten gesellschaftliche Eliten, die auch staatliche Ämter inne hatten, vor 1918 die Landeskirchen in deren eigenen Gremien oder als Staatsbedienstete in den Konsistorien. An den hier beschriebenen kirchenleitenden Personen wird die große Integrationsleistung der jungen Landeskirche deutlich. Verschiedene Gebiete, unterschiedliche Milieus, Frömmigkeiten und theologische Profile wurden zusammengeführt und zusammen gehalten. Der Kohäsionsfaktor war die gemeinsame Konfession, nicht etwa staatspolitischer Druck oder andere Zwänge. Um 1900 stellte sich das reformierte Kirchenwesen wie auch die reformierte Theologie überwiegend »positiv«,

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Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland

der Theologie des 19. Jahrhunderts, vor allem der historisch-kritischen Exegese, nicht gänzlich ablehnend gegenüber dar, allerdings wenig interessiert an liberalen Formaten von Systematischer Theologie. Älteren Vertretern, die ihre biographischen und gewiss auch mentalen Wurzeln im 19. Jahrhundert besaßen, ist es gelungen, loyal in kirchlichen Strukturen weiter zu arbeiten, auch als sich mit der Änderung der Gesellschaftsform 1918/1919 neue staatskirchenrechtliche Grundsätze etablierten. Bedeutende, ja für das 20. Jahrhundert prägende Ereignisse bestimmten nicht unmittelbar und gänzlich reformierte Mehrheiten oder Repräsentanten: Auch nach dem Jubiläumsjahr 1909 gab es Reformierte, die sich nicht zuerst über Johannes Calvin definiert sahen – wie es auch später Theologen und Kirchenfunktionäre gab, die sich nicht einem sich herausbildenden Barthianischen mainstream einordneten. Der reformierte Protestantismus ist theologisch und kirchenpolitisch zumeist pluriform gewesen.

»In Einigkeit des wahren Glaubens« Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover

1. Einleitung Landeskirchengrenzen zeugen von Geschichte oder von Gegenwart. Einige Landeskirchen, die seltsam zugeschnitten anmuten, spiegeln die territorialen Verhältnisse nach dem Wiener Kongress wider. Bundesländergrenzen müssen wie im Fall der rheinischen Kirche und von Nordrhein-Westfalen keine Kirchengrenzen sein. Andere Kirchtümer, wie die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau, sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und vereinen ältere, ehemals voneinander unabhängige Gebiete. Und manche sind wie die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland oder die Nordkirche Ergebnisse neuester Notwendigkeiten. Bei allen Unterschieden ist doch gemeinsam, dass – mit minimalen Besonderheiten – eine wie auch immer zu bestimmende Region als maßgebliche Größe der Kirchenbildung zu Grunde lag. In ganz Germanien? Nein! Einige von unbeugsamen Reformierten bevölkerte Regionen wurden 1882 im heutigen Niedersachsen zu einer Landeskirche zusammengefügt. Nicht Region, sondern Konfession ließ sie einig und eins werden, wenngleich innerhalb eines Territoriums; eine Länder übergreifende Institution, wie sie mit der Integration etwa der reformierten Gemeinden von Braunschweig und Bückeburg angestrebt wurde, konnte seinerzeit nicht realisiert werden. Allerdings, so konstatierte der frühere Doyen der niedersächsischen Kirchengeschichtsschreibung Hans-Walter Krumwiede (1921–2007), zeigte sich im Königreich Hannover nach Einverleibung nicht-lutherischer Gebiete in Folge des Wiener Kongresses und dem Ausbleiben von landesweiten Unionsbestrebungen ein »allmähliche[r] Übergang vom Staatskirchentum mit einer Landesreligion zum paritätischen Staatskirchenrecht.«1 Erst nach Jahrzehnten konfessioneller Lobbyarbeit wurde die reformierte Landeskirche landesherrlich sanktioniert und erst durch Jahrzehnte hindurch 1 Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Band 2: Vom Deutschen Bund 1815 bis zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1948, Göttingen 1996, S. 282. »Für die hannoversche Staatsraison war nicht die unionistische Staatskirche das Gebot der Stunde, sondern Friede unter den Konfessionen.« A.a.O., S. 284. Zu den lokalen und regionalen Unionsversuchen vgl. Hans Otte, Unionen und Unionsversuche im Königreich Hannover zwischen 1815 und 1848, in: JGNKG 89 (1991), S. 237–275.

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»In Einigkeit des wahren Glaubens«

wuchs tatsächlich zusammen, was dann zusammen gehörte. Dieses Gebilde verstand sich als Bekenntniskirche – und wir wundern uns im Nachhinein, dass ihr Bekenntnisstand nicht bei der Landeskirchengründung 1882, sondern erst durch eine Verfassungsreform 1970 tatsächlich und eindeutig geklärt wurde. Eine Konfessionskirche war fast ein Jahrhundert lang ohne geklärten Bekenntnisstand – besser ist das reformierte Unbehagen, kodifizierte Konfessionen könnten Kirche gründend sein, kaum zu demonstrieren. Bei all dem spielt der Heidelberger Katechismus die herausragende Rolle – sowohl in der Geschichte der Kirchenverfassung als auch im »richtigen Leben« dieser Landeskirche. Im Jubiläumsjahr 2013 pflegte man sehr höflich, wohlwollend und wertschätzend über ihn und über seine Tradenten zu sprechen. Die Geschichte des HEIDELBERGERs wird als Erfolgsgeschichte geschrieben. Allerdings werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass dieser wertgeschätzte theologische Text auch kirchenpolitisch missbraucht werden konnte. Auch gilt es wahrzunehmen, dass die reale Bedeutung des HEIDELBERGERs für das kirchliche Leben spätestens im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts rapide nachgelassen hat. 2. Konfessionelle Sammlung mit dem HEIDELBERGER nach der Mitte des 19. Jahrhunderts 2.1 Kontexte: »Schutz und Hort unter dem milden Scepter des glorreichen evangelischen Guelphenhauses« Im 450. Jubeljahr existierte reformierter Protestantismus in Deutschland nicht ohne den HEIDELBERGER als Bekenntnisgrundlage. Das war beim ersten historisch bedeutenden Jubiläum 18632 noch anders. Damals war diese Bekenntnisschrift wohl anerkannt, aber eben nicht als einzige Möglichkeit, den reformierten Glauben zu formatieren.3 Eine binnenkonfessionelle Bekenntnispluralität musste jedoch einer institutionellen Kirchwerdung im Wege stehen, zumal wenn diese nicht oder nicht ausschließlich auf die Gegebenheit einer Region beruhen sollte. Dieses Unbehagen an konfessioneller Uneindeutigkeit ging nun gut einher mit 2 Vgl. Detlef Metz, Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus in Deutschland im Jahr 1863, in: JbWKG 108 (2012), S. 199–222. 3 Wir sprechen hier nur von den deutschen Territorien. Andere reformierte Länder bzw. Kirchen wie etwa in Frankreich, England oder Schottland hatten andere Bekenntnisschriften, in den Niederlanden galten neben dem – allerdings dort sehr belangreichen – HEIDELBERGER innerhalb der »drie formulieren« auch noch die Confessio Belgica und die Dordrechter Lehrregeln, und in der Schweiz herrschte de facto oder gar de iure Bekenntnisfreiheit.

2. Konfessionelle Sammlung mit dem Heidelberger nach der Mitte des 19. Jahrhunderts

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einem erwecklich-konservativen Pendelausschlag, mit dem nicht zuletzt jüngere Reformierte sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts anschickten, einigen sich der Aufklärung verpflichteten Lehrbüchern4 den Garaus zu machen. Aber ähnlich wie in Lippe, wo es im Katechismusstreit auch zwei Anläufe brauchte, um den HEIDELBERGER zu restaurieren,5 wurde in der Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts in Ostfriesland der seit 1824/1825 etablierte Kurze Unterricht in der christlichen Religionslehre von Helias Meder (1761–1825) nicht sogleich verdrängt, sondern zunächst noch neben dem autochthonen Emder Katechismus (1554) und dem HEIDELBERGER weiter benutzt.6 In der Grafschaft Bentheim wurde der 1809 erschienene moderate Kurze Entwurf zum Unterricht im Christentum von Mauritz Philipp Katerberg (1733–1815)7 zwar im Laufe der Jahrzehnte für nicht ganz befriedigend gehalten, aber doch mindestens bis in die 90er Jahre im kirchlich verantworteten Unterricht verwandt.8 Die Bekenntnispluralität musste überwunden werden, wenn man das Reformiertentum im Königreich Hannover stärken, ja durch eine Kirchengründung langfristig sichern wollte. Das wussten auch die Kreise, die hinter der so genannten Lingener Denkschrift von 1857 standen.9 Nicht nur räumlich waren die Reformierten getrennt, sondern auch organisatorisch: Die Reformierten in Ostfriesland unterstanden einem lutherisch dominierten Konsistorium in Aurich,10 in Bentheim bestand der reformierte Oberkirchenrath fort, die Reformierten in Lingen wurden beaufsichtigt vom lutherischen Konsistorium in Osnabrück, die Unterweser-Gemeinden unterstanden dem lutherischen Konsistorium in 4

Gelegentlich waren solche Regionalkatechismen nicht tatsächlich »aufgeklärt«, sondern nur in einem vernünftigen Maße zeitgemäß, aber ein oder zwei Generationen zuvor entstanden – das genügte, um von den jungen Konservativen mit dem pejorativ gemeinten Epitheton »aufgeklärt« oder »rationalistisch« versehen zu werden. 5 Vgl. Gesine von Kloeden, »Wahrheitsmilch« oder »verschimmelter Kohl«? Eine Übersicht zu Einführung und Wirkung des Heidelberger Katechismus im Fürstentum Lippe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5 / Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 183–191. 6 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Volkstheologie, oder: Von der Freiheit anders zu denken. Der Unterricht in der christlichen Religion bei Helias Meder (1761–1825) (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 42), Göttingen 2009, S. 506–518. 7 Vgl. Ulrichs, Volkstheologie, a.a.O., S. 425–432. 8 In der Grafschaft Bentheim, später dann auch in Ostfriesland, ist natürlich die besondere Situation der Abspaltung der Altreformierten zu berücksichtigen; seit 1838 gründeten sich kleine altreformierte Gemeinden, die stark von der niederländischen »afscheiding« von 1834 unter der Führung Hendrik de Cocks abhängig waren. 9 Zum Folgenden vgl. Ulrichs, Volkstheologie, a.a.O., S. 519f. Vgl. auch Anm. 18. 10 Dort gab es zwar einen reformierten Konsistorialrat/Generalsuperintendenten, aber insgesamt konnten sich die Reformierten nicht mit einem solchen Konsistorium anfreunden – zumal nicht die selbstbewussten Emder Reformierten mit einer Behörde im überwiegend lutherischen Landstädtchen Aurich.

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Stade und die Plesse-Gemeinden dem lutherischen Konsistorium in Hannover.11 Schließlich gab es noch die wenigen Gemeinden der Niedersächsischen Konföderation, von denen vier zum Königreich gehörten; sie sind im Wesentlichen hugenottischen Ursprungs. Anders als in zahlreichen deutschen Territorien verzichtete man nach dem Wiener Kongress in Hannover auf eine Union und setzte vielmehr auf ein gedeihliches Mit- oder wenigstens Nebeneinander der Konfessionen. Die im Königreich verstreuten Reformierten hielten es für ihr Glück, dass »sie alle einen gemeinsamen Schutz und Hort unter dem milden Scepter des glorreichen evangelischen Guelphenhauses gefunden haben.«12 Reformierte im Königreich Hannover standen nicht allein mit ihren Einigungsbestrebungen. Am Rande der Evangelischen Kirchentage sammelten sich ab 1850 reformierte Vertreter, ab 1851 erschien dann die Reformierte Kirchenzeitung. Diese Unternehmungen gehören zwar in die Vorgeschichte des Reformierten Bundes, bilden aber den weiteren konfessionellen Kontext, zumal es personelle Überschneidungen gab. Auch andernorts gab es zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ringen um den Bekenntnisstand. 2.2 Die Lingener Denkschrift 1857: »Das Band der Lehreinheit« Nachdem die Kirche im Königreich Hannover mit dem Staatsgrundgesetz 1833 und dem Gesetz über Kirchen- und Schulvorstände 1848 an Selbstständigkeit gewonnen hatte, hatte es seit 1849 Gespräche über eine – auch: reformierte – Vorsynode gegeben; am Horizont tauchte so etwas wie eine Hannoversche Union sui generis auf, die aber in den Konsistorien auf wenig Gegenliebe stieß, obwohl oder gerade weil die beiden evangelischen Konfessionen durchaus passabel nebeneinander existierten. Die durchaus weit gediehenen Verfassungspläne verliefen sich jedoch staatlicherseits,13 so dass die Reformierten selber aktiv werden mussten.14 Im Sommer 1849 hatte eine erste reformierte Konferenz

11 12 13

Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 337. So die Lingener Denkschrift von 1857 (bibliographische Angaben in Anm. 18), S. 13. Vgl. Gerhard Nordholt, Die Entstehung der »Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover«, in: Elwin Lomberg / Gerhard Nordholt / Alfred Rauhaus (Bearb.), Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982, S. 91–157, hier: S. 104–113. Im Jahr 1852 gab es einen Thronwechsel von Ernst August zu Georg V. 14 Vgl. auch Ernst Kochs / Diddo Wiarda, Erbe und Auftrag. 450 Jahre Coetus der evangelisch-reformierten Prediger und Predigerinnen Ostfrieslands, Leer 1994 (der Beitrag Kochs, ursprünglich 1943 zum Coetusjubiläum entstanden, kursierte viele Jahre als Typoskript und Kopie u.d.T.: Vier Jahrhunderte Coetus der reformierten Prediger Ostfrieslands. Ein Querschnitt durch die reformierte Kirche Ostfrieslands und ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der reformierten Kirche), S. 74f.

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in Bremen stattgefunden,15 von 1855 bis 1870 tagte nahezu jährlich die »Allgemeine Konferenz der Prediger und Kandidaten reformierter Konfession im Königreich Hannover« in Lingen. Besonders bedeutsam wurde die 1855 angeregte, dann 1856 in Lingen zusammengetretene Konferenz.16 Auf ihr wurden vorbereitete Grundsätze eines möglichen Zusammenschlusses der reformierten Gemeinden der verschiedenen Gebiete innerhalb des Königreiches Hannover derart zielgerichtet diskutiert,17 dass schließlich 1857 die wirkmächtige Lingener Denkschrift18 herausgegeben werden konnte. Mit dem avisierten Ziel war die Frage gestellt, was diese Gebiete zusammenhielte und was als ›Normallehre‹ Geltung beanspruchen könne. Auch die Lingener Konferenz ist ein Beispiel für die damals neue konfes15

Vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 118f., nach: Theodor Hugues, Die reformirte Kirche im Königreiche Hannover, in: RKZ 1 (1851), S. 189f.193f. 16 Aus Ostfriesland kamen 34 Teilnehmer, 7 aus Bentheim, 4 aus Lingen, 2 von der Unterweser, je ein Prediger kam aus der Plesse und von den Konföderationsgemeinden, vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 121. 17 Im Folgenden wird die Denkschrift wiedergegeben. Vgl. den Abdruck des Konferenz-Programms in Nordholt, Entstehung, a.a.O., Abb. 51 und 52. Von den vier in Lingen 1856 gehaltenen Vorträgen, veröffentlicht in der Reformirten Kirchenzeitung, sind separat publiziert worden: Zwei Referate, gehalten auf der reformirten Predigerconferenz zu Lingen am 8. Juli 1856, Erlangen 1856 (Jan van Buiren, Über die Aufstellung von Grundsätzen und Angabe gemeinsamer Maaßregeln zur eventuellen Aufrechterhaltung der Rechte, Freiheiten und Institutionen der reformirten Kirche im Königreich Hannover, S. 1–23; Johann Koppelmann, Über Angabe der Mittel, wodurch das Presbyterialsystem in seiner Verbindung mit den Synodaleinrichtungen den Gemeinden den möglichst größten Nutzen bringen kann, S. 23–30). Zu van Buiren s.u.; Koppelmann war Pastor in Schüttorf. 18 Denkschrift zur Orientirung über die Zustände, Hoffnungen und Bedürfnisse der reformirten Kirche im Königreich Hannover dem Hohen Königlichen Ministerio der geistlichen Angelegenheiten von dem Comitee der Conferenz reformirter Geistlicher aus diesem Königreiche unterthänigst überreicht, Lingen 1857. Unterzeichnet ist der Text von Dr. Theodor Hugues (Celle), Superintendent Christian Johann Trip (Leer), P. Engelbert Crigee (Schüttorf) und P. Hermann Albert Hesse (Emden); damit waren also das große Ostfriesland zweifach (oder vertrat Hesse Emden bzw. den Coetus?), Bentheim und die Konföderation vertreten; auch die beiden Referenten von 1856 Jan van Buiren und Johann Koppelmann stammten aus Ostfriesland bzw. Bentheim, die beiden anderen P. Wiarda aus Ostfriesland sowie Superintendent Albert Louis van Nes aus Bovenden (Plesse), dem vorbereitenden Comité gehörte auch der Lingener Superintendent Christian Gottlieb Jüngst an, so dass nur die Unterweser-Gemeinden nicht direkt in Erscheinung traten. Als Hauptverfasser der Denkschrift gilt Theodor Hugues (1803– 1878), der auch bei der Gründung des Reformierten Bundes eine nicht unerhebliche Rolle spielen sollte, vgl. zu ihm Andreas Flick, »Auf Widerspruch waren wir gefaßt …« Leben und Werk des reformierten Erweckungstheologen Theodor Hugues (Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V. 38 / Celler Beiträge zur Landesund Kulturgeschichte 33), Bad Karlshafen / Celle 2004, v.a. S. 230–241: Die Lingener Konferenz. – Zur Denkschrift vgl. auch Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 115–129; Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, S. 338–340.

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sionelle Theologie.19 Sie polemisierte gegen »den religiösen Indifferentismus, der alle Gebiete des Staats und der Kirche fast ein halbes Jahrhundert beherrschte« (S. 5), mithin gegen die Aufklärung und namentlich gegen den »Rationalismus« (S. 59.74), und zeigte sich erfreut darüber, dass »das confessionelle Bewusstsein wieder erwacht« (S. 59, vgl. S. 69) sei. Konfessionalismus wurde als modern, Rationalismus dagegen als gestrig dargestellt und von vielen der Akteure wohl auch tatsächlich so verstanden. Gegenüber einer lutherischen Obrigkeit gab man sich betont geschwisterlich, beklagte aber die immer wieder einmal auftretenden lutherischen Feindseligkeiten gegenüber den Reformierten20 und die Gefahr, von den Lutheranern absorbiert zu werden (S. 5f.8.52). »Ohne Zweifel bietet die reformirte Kirche dieses Königreiches ein gar eigenthümliches Bild grosser Verschiedenartigkeit der äusserlichen Gestaltung, sowohl des Gemeindelebens als auch der Verfassungsformen dar.« (S. 4) In einem Überblick über die reformierten Gebiete des Königreichs, über »ihre Begründung, ihre Geschichte, ihren gegenwärtigen Zustand« (S. 16), stellte die Denkschrift eine Präferenz für die synodalpresbyteriale Ordnung fest, auch wenn diese oft »gehemmt« sei durch staatliche Eingriffe oder durch eigene Laxheit im Umgang mit ihr, zumal häufiger das Laienelement gefehlt habe. In der Lehre bestünde eine gewisse Variabilität, was sich im Gebrauch von Bekenntnisschriften und Katechismen niederschlägt.21 Doch überall fände sich der HEIDEL19

Neben dieser ideellen Motivlage und den historisch-politischen Kontexten gab es noch andere Ermöglichungsbedingungen: Die Denkschrift nannte ausdrücklich »die Schienenwege«, mit der die entlegenen Gebiete des Königreiches nun leichter vereinigt werden könnten, a.a.O., S. 3. 20 »Seit vor 14 Jahren einer der hervorragenden Stimmführer der lutherischen Kirche in unserm Lande unsere reformirte Kirche darstellte als ›ein Conglomerat von Secten, diesseits und jenseits des Weltmeeres, welche diesen Namen führen‹, und keine Zurückweisung solcher Behauptung von lutherischer Seite stattfand, musste es wohl als ausgemacht erscheinen, dass mit solchen Brüdern keine Union zu schliessen sei, ohne sich selbst aufzugeben« (S. 8). In der lutherischen Kirche sei ein »oft schroff hervortretende[n] Confessionalismus« festzustellen (S. 45). »[W]oran es gewiss zu Zeiten nicht fehlt«, seien »unfreundliche oder wohl gar feindliche Berührungen« mit »andern Confessionsverwandten« (S. 77). 21 So wurden (1) reformierte Pfarrer in Ostfriesland bei sonstiger Bekenntnisfreiheit auch auf die CA verpflichtet, in Emden und Ostfriesland galt der Emder Katechismus, außerhalb Emdens auch der HEIDELBERGER, aktuell galten auf Empfehlung des Coetus 1856 der Emder Katechismus, der HEIDELBERGER sowie das Unterrichtsbuch von Helias Meder (S. 25f.). (2) In der Grafschaft Bentheim mussten die Pfarrer neben den eigenen »12 Artikeln« von 1613 (BSKORK, Nr. 41, S. 833f.; Reformierte Bekenntnisschriften 3/2: 1605–1675, bearbeitet von Eberhard Busch u.a., Neukirchen, Nr. 76, S. 41–46) den HEIDELBERGER anerkennen (S. 34), allerdings trat dann als Lehrbuch noch der KATERBERGER von 1809 dazu (S. 40, zu Katerberg s.o.); als Grundlage für die Sonntagnachmittagsgottesdienste galt jedoch der HEIDELBERGER (S. 40f.). (3) In der Niedergrafschaft Lingen wurde der HEIDELBERGER im Konfirmandenunterricht gebraucht, der Kurze Unterricht von Daniel Heinrich Hering (1722–1807; Schöndorf 1778, 111856) und der

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BERGER,

so dass man in ihm »das Band der Lehreinheit« zu sehen habe, dass die »Reformierten mit den Glaubensgenossen in den andern Provinzen verknüpft«.22 Aus der Geltung unterschiedlich gefasster Bekenntnisstände und mehrerer Unterrichtsbücher in den einzelnen Gebieten schlussfolgerte man in Lingen also nicht, dass dieser plurale Zustand erhaltenswert sei, sondern betonte quasi den kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich als Form »presbyterial-synodal« als Kirchenorganisationsstruktur und als Inhalt den HEIDELBERGER und erhob entsprechend die Forderung nach weiterer und endlicher Herausstellung des allen gemeinsamen Lehrbuches – angeblich ohne einer Uniformität das Wort reden zu wollen (vgl. S. 82) sowie einem diesen Gemeinden gemeinsamen Gebilde in Form einer reformierten Landeskirche. Die Lingener Denkschrift, wie auch schon die ersten KonferenzTagesordnungen,23 zielte darauf ab, den HEIDELBERGER nicht nur als das allgemein-reformierte Symbol und als das die fünf Gebiete und die Konföderationsgemeinden verbindende Band zu erweisen, sondern in ihm – wie auch in der synodal-presbyterialen Ausrichtung – die Grundlage für die Vereinigung der Gemeinden zu einer reformierten Landeskirche im Königreich Hannover zu sehen (vgl. S. 80). Denn irgendwann müsse das gemeinsame Bekennen auch eine institutionelle Form finden, wie die Kirchenstrategen in Lingen weiter argumentierten. War man also bislang zusammengehalten von einer »Lehrübereinstimmung« durch den HEIDELBERGER sowie »dem gemeinschaftlichen Unterthanenverhältniss zu dem Königshause von Hannover«, so sei nun noch »ein[.] gemeinsame[s] Verfassungsleben« (S. 77) erforderlich, zumal es vor zwei Extremen schützt: zum einen vor »hierarchischen Gelüsten« und zum Biblische Catechismus von Friedrich August Junker (1753–1816; Halle 1787, 191834) in der Schule (S. 49). (4) In den Gemeinden der Plesse, die bis 1815 hessisch waren, galt als Lehrgrundlage die CA sowie Luthers Kleiner Katechismus (S. 54) bzw. später der Hessische Katechismus, der auch aktuell gelte; »allmählig [wurde] neben ihm der Heidelberger Katechismus eingeführt« (S. 55) – der 1816 eingeführte lutherische Hannoversche Landeskatechismus (1790) wurde 1856 »definitiv beseitigt« (S. 56). (5) Die Unterweser-Gemeinden gehörten zur reformierten Kirche in Bremen, wo seit 1601 der HEIDELBERGER als Lehrbuch belegt ist und er auch neben der CA zur Verpflichtungsformel der Pfarrer gehört (S. 61, vgl. S. 66), wenngleich hier und da auch der Hannoversche oder Luthers Kleiner Katechismus benutzt werde (S. 66). Der dortige Predigerverein der reformierten Pfarrer wurde 1853 als quasi-Kirchenleitung anerkannt (S. 67f.) – er sollte sich um den HEIDELBERGER noch sehr verdient machen. (6) Trotz der hugenottischen Herkunft und der Geltung französischer Lehrzeugnisse war jedenfalls in den deutschen Gemeinden der Niedersächsischen Conföderation der HEIDELBERGER nicht ausgeschlossen (S. 73). In diesem disparaten Gebilde, das sich über drei Staaten erstreckte (Hannover, Braunschweig, Schaumburg), konnte aber »keine Uebereinstimmung der Liturgie, des Katechismus, des Gesangbuches gewonnen werden« (S. 75). 22 A.a.O., S. 26 (für Ostfriesland); vgl. nahezu identische oder ähnliche Formulierungen S. 41 (für Bentheim), S. 50 (für Lingen), S. 57 (für die Plesse), S. 69 (für Unterweser). 23 Vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 120.

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anderen vor »independentistischen Gelüsten« (S. 78). Beides konnte einem protestantisch-obrigkeitlichen Staat natürlich nicht gefallen. 2.3 Kirchenrechtlich-kirchenpolitische Resonanzen: »Vorbildlich wirken … auf das Verhalten der ganzen reformierten Kirche Deutschlands« Aber spielte sich dies nicht alles in einem abgelegenen Winkel der deutschen Länder ab, jedenfalls was die große Mehrheit der betreffenden 113 Gemeinden an der niederländischen Grenze anlangt? Dass hier über die Territorialgrenzen hinweg möglicherweise Wegweisendes betrieben wurde, ahnten zwei weithin bekannte kirchenpolitische Akteure, die durch ihre Beiträge in weit verbreiteten theologischen Magazinen der Lingener Denkschrift zu einer breiten Aufmerksamkeit verhalfen. Karl Heinrich Sack (1789–1875),24 seinerzeit Oberkonsistorialrat in Magdeburg, rezensierte die Denkschrift geradezu enthusiastisch. Sie sei »eine stillschweigende Zurechtweisung derer, welche Hoffnungen wie die vom allmählichen Sich-Verlieren, vom Bestimmtsein zur unvermerkten Ueberleitung oder nahen Rückkehr in die lutherische Kirche und dgl. allzu sanguinisch bei sich Raum gegeben haben.«25 Nicht zuletzt gegen »die sogenannte lutherische Strömung« könne die Gründung einer reformierten Landeskirche in Hannover »vorbildlich wirken … auf das Verhalten der ganzen reformierten Kirche Deutschlands« (S. 187), frohlockte Sack, eine Ablehnung der Lingener Vorschläge führe dagegen zu einer »Unzufriedenheit, die zuletzt über die Grenzen der kleinen reformirten Gebiete hinausgehen würde.« (S. 187) »Zwar gelitten haben [diese reformierten Gemeinden im jetzigen Königreich Hannover], gehemmt, beschädigt worden sind sie, aber es ist noch ein gesunder Kern des Glaubens und der Lehre da. Der Heidelbergische Katechismus, ihr unschätzbares gemeinsames Band, bejaht ihnen in gesalbter Weise« die Inhalte des christlichen Glaubens.26 Sack spitzte die kirchenpolitischen Konsequenzen zu: »Wir sagen nicht in dem Tone einer nur zu viel repristinirenden Entschiedenheit: entweder lutherisch oder reformiert, sondern wir sagen: entweder eine frei von beiden Seiten gewollte und 24

Zu diesem dritten wichtigen Sack vgl. Mark Pockrandt, Die Bedeutung von Karl Heinrich Sack (1789–1875) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) für die Union, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Preußische Union: Ursprünge, Wirkung und Ausgang. Einblicke in vier Jahrhunderte evangelischer Kirchen- und Konfessionsgeschichte (Unio und Confessio 27), Bielefeld 2011, S. 97–109, hier: S. 98–102. 25 Denkschrift …, angezeigt von Dr. K[arl] H[einrich] Sack, in: Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben (begründet durch Dr. Jul[ius] Müller, Dr. Aug[ust] Neander, Dr. K[arl] I[mmanuel] Nitzsch) 8 (1857), Nr. 24 vom 13. Juni 1857, S. 187–191, hier: S. 187. 26 Diese positive Beurteilung des HEIDELBERGERS ist insofern bemerkenswert, als dass K.H. Sack in früheren Jahren ein eigenes Lehrbuch vorgelegt hatte: ders., Katechismus der christlichen Lehre. Für die Jugend evangelischer Gemeinen, Bonn 21834, 31850.

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weise geleitete positiv-evangelische Union, oder eine gerechte Anerkennung und Rechtsgewährung für beide Seiten, wozu denn auch das Recht der Reformirten gehört, sich so lange der Union zu versagen, als sie nicht (was auch die Denkschrift richtig bemerkt) für vollkommen ebenbürtig von Seiten der anderen Partei anerkannt werden.« (S. 190) Die Länder mit Unionen wie Preußen, Baden und Pfalz möchten fortfahren mit einem guten ausgleichenden Miteinander beider Traditionen, »so haben reformirte Gemeinden von einer solchen Union nichts zu fürchten« (S. 191). Ganz anders sah dies der lutherische Kirchenjurist Otto Mejer (1818–1893), der dem Neuluthertum Theodor Kliefoths juristischen und publizistischen Flankenschutz bot. In einem fulminanten Gegengutachten,27 das auch die Sack’sche Rezension erwähnt und also möglicherweise von dort motiviert sein könnte, bot Mejer ein Meisterstück konfessioneller Polemik. Sie verbarg sich unter einer vorgeblich weitgehenden Würdigung und unter ausführlichen historischen Beschreibungen, mit denen Mejer vor allem die »einseitig[e] und ungenau[e]« (S. 81) Schilderung der ostfriesischen Verhältnisse in der Denkschrift richtig stellen wollte.28 »Althannover« sei historisch lutherisch, die reformierten Gebiete seien im Wesentlichen erst 1815 hinzugekommen. Die reformierten Gebiete seien unabhängig voneinander. Ostfriesland, Bentheim und Lingen »[wiesen] bloß den Einen verwandtschaftlichen Zug des niederländischen Typus ihres kirchlichen Lebens insgesamt auf[.].« (S. 6) Diese Charakterisierung war bei Mejer sicher pejorativ gemeint wie auch die Emdens als einer »dem Landesherrn gewöhnlich aufsässige[n] Stadt« (S. 6), jedenfalls bis 1744, als Ostfriesland seine Selbstständigkeit verlor und an Preußen kam. Der Kirchenjurist konzentrierte sich vor allem auf die Abweisung der Forderung nach einer presbyterial-synodalen und damit unabhängigen Kirche, auch wenn die staatliche Oberauf27

Reformirte Zustände und Bestrebungen im Königreich Hannover. Auf Anlaß einer Denkschrift des Comité der Conferenz reformirter Geistlicher aus diesem Königreiche erörtert von Dr. Otto Mejer, in: Kirchliche Zeitschrift [1854–1859, hg. von Theodor Kliefoth und Otto Mejer] 4 (1857), dann auch als mehr als 130seitiger Separatdruck erschienen (Leipzig o.J.), wonach im Folgenden zitiert wird; zu dieser Kritik Mejers vgl. auch Kochs/Wiarda, Erbe und Auftrag, a.a.O., S. 75. Zu Mejers staatskirchenrechtlichen und konfessionspolitischen Positionierungen vgl. Gerhard Besier, Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära. Die Diskussion in Staat und Evangelischer Kirche um eine Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse Preußens zwischen 1866 und 1872 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 49), Berlin u.a. 1980, S. 94–98. 28 Den ostfriesischen Verhältnissen sind die Seiten 30–90 gewidmet. Möglicherweise hat Petrus Georg Bartels seine in diesen Jahren zahlreich entstandenen Arbeiten zur ostfriesischen Kirchengeschichte nicht zuletzt als Antwort auf Mejer verfasst. Mit den historischen und gegenwärtigen Verhältnissen in Bentheim (S. 91–99), Lingen (S. 99– 107), Plesse (S. 107–111) und den bremischen Gemeinden an der Unterweser (S. 111– 118) beschäftigte sich Mejer eher kurz.

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sicht erhalten bleiben sollte. Auch Reformierte kennten die konsistoriale Form der Kirchenleitung, etwa die Bentheimer. Da auch die Lutheraner eine lutherische Landeskirche wünschten, wäre – eigentlich – eine reformierte Kirchwerdung durchaus zu unterstützen (vgl. S. 17.122). Allerdings sah Mejer bei den Reformierten »Kirche« unterbestimmt, da im presbyterial-synodalen System die Kirche lediglich als »Societät«, nicht jedoch als »Institut« verstanden werde (S. 19). So etwas führe dann zum »Independentismus« (S. 21). Insofern seien eben die »Anschauungen vom Wesen der Kirche selbst« strittig (S. 122). So resümierte Mejer, dass die reformierten »Einheitsbestrebungen nach ihrer materiellen Seite« zu billigen seien, die auch biblisch nicht geforderte presbyterialsynodale Form aber nicht »wünschenswerth« und auch reformierterseits nicht selbstverständlich sei (S. 28); außerdem seien auch »die Consistorien … von jeher nicht Staats-, sondern Kirchenbehörden gewesen.« (S. 95) Und schließlich seien die Lehrdifferenzen zwischen den einzelnen reformierten Regionen doch so groß, dass man widersprechen müsse, wenn der HEIDELBERGER, dem Mejer sonst eine »in seiner Art so höchst anerkennenswerthen Trefflichkeit« zugestand (S. 87), als »Band der Lehreinheit« bezeichnet werde (S. 86, vgl. S. 118). Mejers Text changierte von deskriptiv und verständnisvoll zu irenisch, um dann aber klarzustellen: »Auch ist uns die reformirte Kirche schon jetzt, in ihrer minderen Geschlossenheit in Deutschland, eine Gegnerin gewesen, deren Einfluß auf lutherisches Kirchenleben so vielfach und so kräftig zersetzend gewirkt hat, daß wir nicht wünschen können, sie in diejenigen kirchlichen Einheit und Concentration sich erheben zu sehen, die sie erlangen würde, wenn die Behauptung« der Lehreinheit durch den HEIDELBERGER »wahr wäre.« (S. 88) Mejer sah bei den reformierten Bestrebungen auch Gefahren für den Staat und votierte für den Summepiskopat – den die Denkschrift gar nicht in Frage gestellt hatte! – und polemisierte gegen »Republik«, »Parlamentarismus«, gegen liberale Parteien und diffamierte die Anhänger des presbyterial-synodalen Systems, mit dem eine »demokratische[.] Zersetzung der Kirche« (S. 133) drohe: Sie, »die Prediger der Republik in der Kirche« (S. 134), rechneten doch wohl mit dem Parlamentarismus und einer Lossagung des Staates von der Kirche (vgl. S. 129f.). Das ist in der zweiten Hälfte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts durchaus als Versuch zu werten, die konfessionellen Gegner zu kriminalisieren. Dass Mejer »die reformirte Kirche in gewissen Punkten als unsere Gegnerin zu betrachten nicht leugnen« wollte und dennoch davon sprechen konnte, eines Leibes Glied zu sein (S. 135), ist nicht leicht nachvollziehbar. Die in der Denkschrift von den Reformierten geäußerten Hoffnungen und Bedürfnisse gerieten so in konfessionelle Auseinandersetzungen, die es reichsweit gab. Zaudernde Unionstheologen und lutherische Konfessionalisten hatten wohl beide tatsächlich Angst vor einer reichsweiten

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reformierten Kirche.29 Sie galt es zu verhindern. Präzedenzfälle, die eventuell im ganzen Reich hätten Nachahmer finden können, mussten ausgeschlossen werden. Es war schon verquer: Auf den beiden Seiten der Lutheraner und Reformierten wurde eine konfessionelle Renaissance begrüßt, aber man machte sich gegenseitig das Leben schwer. Mit dem Coetus reformierter Prediger in Emden schloss sich die größte selbstständige reformierte Interessensvertretung den Intentionen der Denkschrift grundsätzlich an, jedoch fand sie keine Resonanz bei der königlichen Regierung.30 Reformierte trafen sich weiter zu den Konferenzen, betrieben also unentwegt die konfessionelle Lobbyarbeit weiter. Das erwies sich auch als notwendig. 2.4 Der faktische Gebrauch des HEIDELBERGERs bis zur Landeskirchengründung: »Abänderungen nicht zu wünschen« Das HEIDELBERGER-Jubiläum 1863 wurde auch von »niedersächsischen« Reformierten wahrgenommen und betrieben, etwa durch Editionen und Arbeiten von Petrus Georg Bartels31, Johannes (oder Jan) van Buiren (1814–1870)32 und anderen. Allerdings konnte man trotz der den HEIDELBERGER propagierenden erwecklichen Neokonservativen nicht von einer unumstrittenen Position des Katechismus sprechen, wie eine Umfrage des Konsistoriums Aurich 1854 ergab; der Coetus trat deshalb für den o.g. Dreierkompromiss für Ostfriesland ein.33 Im Coetus selbst wurde im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1863 sogar darüber nachgedacht, »sich nach einem angemessenen Unterrichtsbuch für die Jugend an Stelle des Heidelbergers umzusehen.«34 Auch dort war man nicht auf den HEIDELBERGER festgelegt, und erst recht war überhaupt die Stellung von Bekenntnisschriften umstritten. Eine ähnliche Spannung zwischen der Lingener Denkschrift und den Wünschen vor Ort zeigte auch eine entsprechende Umfrage 1863 in den 29

Vgl. Metz, Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus, a.a.O., S. 208: Pläne einer reformierten Nationalsynode. – Die RKZ etwa konnte seinerzeit selbstverständlich von der »Reformirten Kirche in Deutschland« schreiben, die es derart konstituiert ja gar nicht gab. 30 Vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 128f.; Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 340; Flick, »Auf Wiederspruch waren wir gefaßt …«, a.a.O., S. 239. 31 Petrus Georg Bartels, Kern des Heidelberger Katechismus mit erläuternden Bibelstellen, Aurich 1864. Von Bartels stammen mehrere Ausarbeitungen zur Geschichte und zum praktischen Unterricht mit dem Katechismus. 32 Johannes van Buiren, Der Heidelbergische Katechismus. Im Auszuge mit ausgedruckten Schriftstellen herausgegeben von J. van Buiren, weil[and] reformierten Pastor in Leer, Barmen 71887. – Vgl. Martin Tielke, Art. Johannes van Buiren, in: Biographisches Lexikon für Ostriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 53–54. 33 Vgl. Ulrichs, Volkstheologie, a.a.O., S. 508–517. 34 Zitiert nach Kochs/Wiarda, Erbe und Auftrag, a.a.O., S. 119.

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Grafschafter Gemeinden.35 In vielen Gemeinden war der Katerberger Katechismus in Schule und Konfirmandenunterricht üblich, während der Katechismuspredigt der HEIDELBERGER zu Grunde lag. An anderen Orten war dieser aber auch schon in den kirchlichen und schulischen Unterricht eingedrungen. Man kann vermuten, dass nicht die örtlichen Presbyterien, sondern die jeweiligen Pfarrer entschieden und durchsetzten, welches Lehrbuch benutzt wurde. Weder wurde der plurale Gebrauch als Makel angesehen noch die verschiedenen Lehrbücher als widersprüchlich wahrgenommen, eine flächendeckende Harmonisierung wurde abgelehnt: »[D]as Kirchenvolk wünscht, daß keine abändernde Bestimmung in dem Bestehenden getroffen werde«, wie der Pfarrer aus Neuenhaus »Nomine Consistorii« erklärte.36 Oder man kam wie in Schüttorf nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme, weil »im Kirchenrath die Meinungen [darüber] getheilt [sind]«, ob eines der Bücher abgeschafft werden solle.37 Das parallele Auswendiglernen zweier Katechismen benötigte nach den Erfahrungen in Nordhorn 14 bis 18 Monate; diese Praxis war derart etabliert, dass man resümierte: »[S]o kann bei den obwaltenden Verhältnissen die jetzige Praxis nicht wol ohne Störung und Unzufriedenheit aufgehoben werden, und müßen wir deshalb wünschen, daß es bei dem Bestehenden vorerst sein Bewenden behalte.«38 Auf Grund dieser und weiterer Stellungnahmen stellte der Bentheimer Oberkirchenrat fest, dass »sämtliche Orts-Consistorien Abänderungen nicht zu wünschen erklärt haben.«39 Der HEIDELBERGER war also in den reformierten Gemeinden des Königreiches Hannover bekannt und im Gebrauch, aber – wie sowohl die Lingener Denkschrift selbst als auch die genannten Umfragen in Ostfriesland und der Grafschaft Bentheim nahelegen – nicht allein dominierend, so dass es als etwas zu optimistisch bezeichnet werden muss, wenn die Verfasser der Denkschrift suggerierten, in ihm das alle reformierte Regionen verbindende Moment sehen zu können, das eine Lan35 Alle folgenden Angaben nach den Archivalien in: LKA Leer Generalia 9.5. Bücher und Schriften / Religionslehrbücher, Heidelberger Katechismus, Nr. 2: Der Gebrauch des Heidelberger Katechismus im Schul- und Konfirmandenunterricht in der Grafschaft Bentheim, Umfrage des Oberkirchenraths nach Katechismus-Gebrauch 1863, 18. März 1863. 36 J. Slingenberg, Brief an Königlicher Oberkirchenrath Bentheim, Neuhaus, 20. April 1863. Weitere Bitten um Beibehaltung des Status quo kamen aus Bentheim (19. April 1863, Pastor Meese) u.a. 37 Koppelmann, Schüttorf, 28. April 1863. Hier hatte man das Problem erkannt, dass »der Übergang von dem kleinen Katerberger zum Heidelberger Catechismus für die Kinder ein zu großer Sprung ist«. 38 Pastor Lucassen, Nordhorn, 10. April 1863. 39 Aktennotiz ohne Datum ohne Ort. – Ganz selten werden noch weitere Lehrbücher verwandt, etwa in Ohne (Grafschaft Bentheim), Friedrich Adolf Krummacher, BibelKatechismus, Essen 1837.

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deskirchengründung geradezu notwendig erscheinen ließ. Die historisch-politischen Kontexte sprachen für die Gründung einer reformierten Landeskirche, und sie wäre wohl auch kurz nach der lutherischen Landeskirche, die 1864 sanktioniert wurde,40 gekommen, wenn Hannover als selbstständiger Staat noch länger existiert hätte. Die Geschehnisse des Jahres 1866 haben dies sistiert. Die reformierten Ostfriesen bejubelten damals die »Wiedervereinigung« mit Preußen. Auf die eigene Landeskirche mussten sie dagegen noch anderthalb Dekaden warten. Berlin war weit entfernt, Preußen hatte andere Sorgen. 3. Gründung der Landeskirche 1882 und ihr Bekenntnisstand während des Kaiserreichs 3.1 Gründung 1881/82: »Der Bekenntnisstand … wird … nicht berührt.« Die Lage der Reformierten in der neuen preußischen Provinz war durchaus prekär. Würde die Kirche in Hannover der preußischen Union inkorporiert, drohte, wie Reformierte fürchteten, der Untergang in ihr; bliebe Hannover kirchlich selbstständig, drohte die Majorisierung durch das Hannoversche Luthertum.41 Auch auf Reichsebene machte man sich Sorgen um die niedersächsischen Reformierten, wie zahlreiche Artikel in der RKZ belegen. Dieses Organ wurde von den Protagonisten dazu genutzt, ihre Anliegen kirchenpolitisch reichsweit brisant erscheinen zu lassen. Einige Positionsbestimmungen und Pamphlete erschienen auch selbständig.42 40

Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 355–358. Ausführlich: Wolfgang Rädisch, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und der preußische Staat 1866–1885 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 25 / Niedersachsen und Preußen 10), Hildesheim 1972. Vgl. auch Hans Otte, Landeskirchliche Identität in Preußen. Das Beispiel der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers in Preußen, in: ders. u.a. (Hg.), Landeskirchengeschichte. Konzepte und Konkretionen. Tagung des Arbeitskreises Deutsche Landeskirchengeschichte im Kloster Amelungsborn vom 29. bis 31. März 2006 (Herbergen der Christenheit, Sonderband 14 / Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 7), Leipzig 2008, S. 67–88. 41 Zu dieser Phase vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 129–136. 42 Zwei publizistische Beispiele, die sich mit der konfessionellen Situation im seit 1866 erweiterten Preußen auseinandersetzen: Friedrich Wilhelm Hassencamp, Das Wesen der reformirten Kirche und die Union, Elberfeld 1867 (gemeinsam mit einem Vortrag von Adolph Zahn gedruckt: Zwei Vorträge, gehalten zu Detmold auf der Conferenz reformirter Theologen und Aeltesten im Juni 1867, S. 1–58); n.n., Furcht und Hoffnung der reformirten Kirche Deutschlands. Eine Stimme aus ihrer Mitte, Elberfeld 1867 (vgl. Besier, Preußische Kirchenpolitik, a.a.O., S. 109–111). Der Elberfelder Pfarrer Hassencamp, der zunächst apologetisch bestreitet, »daß unsere reformirte Kirche … ein nichtdeutsches, fremdes Gewächs sei und derselben schon deshalb jede Berechtigung zu nationaler Pflege abgehe« (a.a.O., S. 1f.), plädierte auf Grund der friedliebenden und unionistischen Gesinnung des Reformiertentums für einen Verbleib reformierter Ge-

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Für die östlichen Provinzen der altpreußischen Union wurde bereits 1873 eine Kirchengemeinde- und Synodalordnung erlassen, während im Westen die vielfach revidierte Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 galt. Nachdem sowohl die Lingener Konferenz als auch der Coetus in den folgenden Jahren mehrfach bei Regierung und König um die Einberufung einer Vorsynode und die Errichtung einer reformierten Landeskirche mit einer presbyterial-synodalen Verfassung gebeten hatte, wurden die preußischen Behörden Ende der 70er Jahre aktiv, allerdings verhinderten zahlreiche Monita innerhalb des Staatsapparates die rasche Realisierung. Im Jahr 1880 initiierten die Behörden ein klärendes Gespräch »mit sachkundigen Vertrauensmännern aus den betheiligten Kirchenkreisen« über die noch verbliebenen »Meinungsverschiedenheiten«, bei dem die Weichen gestellt werden konnten.43 Daraufhin genehmigte der preußische König Wilhelm I. die Einberufung einer Vorsynode am 27./28. November 1881 in Aurich, um die vorliegende Kirchengemeinde- und Synodalordnung für die Reformierten zu beraten. Die Wahl der Delegierten wurde an manchen Orten angefochten, da teils sehr alte Bestimmungen angewandt wurden, was das Stimmrecht anging. Die Gründung der Landeskirche hat offenkundig das Kirchenvolk durchaus bewegt. In erstaunlicher Freimütigkeit wurde während der außerordentlichen Synode vom 28. November bis zum 12. Dezember 1881 in Aurich in 13 Sitzungen debatttiert; zahllose Änderungsanträge standen zur Diskussion.44 Den Bekenntnisstand der Landeskirche betreffend wurden zwei den unbestimmten § 1 näher erläuternde Anträge eingebracht. Zunächst war ein Zusatz beantragt worden: »Der seitherige Bekenntnißstand diemeinden innerhalb der preußischen Landeskirche, um eine »Isolirung« und ein Hinabsinken »zu einer einseitigen und stagnirenden Secte« zu verhindern (S. 54), gestand jedoch den Reformierten in den neupreußischen Gebieten, namentlich den Hannoveranern, einen anderen Weg zu, weil diese sich nicht aus einer bestehenden Landeskirche erst noch zu lösen hätten (S. 57). Von einer daraus erwachsenen freien reformierten Kirche erhoffte sich Hassencamp eine »Stärkung der Reformierten«; eine »ref[ormierte] Kirche in Deutschland« als eine eigenständige »Kirchenformation« lehnte er freilich ab (ebd.). Der Anonymus der genannten zweiten Schrift sah die Existenz des Reformiertentums durch die sich ausweitenden Unionen bedroht, zumal außerhalb des neuen erweiterten Preußens nur sehr wenige reformierte Gemeinden existierten (S. 4). In diesem Kairos müssten nun die Reformierten in den neupreußischen Gebieten einen stellvertretenden Dienst wagen (S. 10) und selbstständig bleiben. Aufgrund der Lingener Denkschrift (S. 14) erhoffte sich der Verfasser »[e]ine selbständige reformirte Kirche Hannovers« (S. 17). Nach deren Vorbild könnten sich dann auch die Gemeinden weiterer reformierter Gebiete, wie etwa Hessens, zu einer Kirche vereinigen (S. 18), könne doch der Territorialismus nicht allein leitendes Prinzip von Kirchenbildung sein (S. 21). 43 Vgl. Nordholt, Entstehung, a.a.O., S. 136–144. 44 Bericht über die Verhandlungen der außerordentlichen Synode für die evangelischreformirten Gemeinden der Provinz Hannover. Mit Benutzung amtlicher Quellen erstattet von Th. Raydt und H. Dirksen, Aurich 1882.

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ser Gemeinde[n] wird durch die vorliegende Ordnung in keiner Weise geändert.« Nach der Bemerkung des königlichen Kommissars Ministerial-Direktor Friedrich Wilhelm Barkhausen (1831–1903), nachmaliger Präsident des altpreußischen EOK, »der richtige Platz« »für eine solche Zusicherung« sei der zu erwartende »Allerhöchste Erlaß« des Königs, wurde der Antrag zurückgezogen.45 Ebenso verhinderte der königliche Kommissar den HEIDELBERGER als »Lehrnorm«, wie es der Synodale Döscher, Grundbesitzer von der Unterweser, beantragt hatte: »Grundlage dieser nach Gottes Wort reformirten Kirche ist die heilige Schrift alten und neuen Testaments; Lehrnorm der Heidelberger Katechismus.«46 Barkhausen argumentierte, dass beides »unzweifelhaft« bereits der Fall sei. Allerdings: »Indessen könne eine bezügliche Bestimmung jedenfalls nicht in den vorliegenden Entwurf zu einem Kirchengesetz aufgenommen werden, durch welches erst ein Kirchenkörper organisch verfaßt werden solle. Auch sei die Frage, ob ein organisch verfaßter Kirchenkörper Bestimmungen über das Bekenntnis zu treffen berechtigt sei und eventuell ob dies auf dem Wege der kirchlichen Gesetzgebung oder in welcher anderen Weise geschehen könne, eine außerordentlich schwierige, und werde dieselbe von Autoritäten auf diesem Gebiete in ganz verschiedener Weise entschieden.« Dies genügte dem Petenten, der daraufhin seinen Antrag zurückzog.47 Eine solche unbestimmte Bekenntnisregelung stand in Hannoverscher Tradition: Auch bei der Gründung der lutherischen Landeskirche, seinerzeit noch unter Hannoverscher Herrschaft, wurde – wohl im Rückblick auf die erheblichen Katechismus- und Bekenntnisstreitigkeiten bei den Lutheranern – in der Kirchen- und Synodalordnung festgeschrieben: »Die Lehre selbst bildet keinen Gegenstand der Gesetzgebung der Landeskirche.«48 Nunmehr war der Weg frei. Im »Allerhöchsten Erlaß« vom 12. April 1882 sanktionierte der preußische König, Kaiser Wilhelm I., die Kirchengemeinde- und Synodalordnung der »Evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover«. Ausdrücklich hieß es, wie von Barkhausen bereits angekündigt, im königlichen Erlass: »Der Bekenntnisstand der in der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover vereinigten 45 Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., S. 56. Antragsteller war der Emder Pastor Otto Zillessen (1842–1907), später Konsistorialrat in Münster. In Emden galten ja drei Lehrbücher (s.o.). 46 Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., S. 56; Die Kirchengesetze der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover nach den Motiven, den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen bearbeitet von Ernst Giese, Aurich 1902, S. 3. Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 380; Metz, Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus, a.a.O., S. 222, Anm. 104. 47 Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., S. 56. 48 Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 358.

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Gemeinden wird durch diese Ordnung, wie Ich ausdrücklich erkläre, nicht berührt, auch eine Änderung derselben damit in keiner Weise beabsichtigt.«49 Die Reformierten hatten ihre eigene Kirche erhalten, aber anders als von der Lingener Denkschrift gefordert, gab es bestenfalls eine an den Obrigkeitsstaat angepasste synodal-presbyteriale Ordnung. Auch die besonders auf der außerordentlichen Synode 1881 erhobene Forderung nach einer rein reformierten Aufsichtsbehörde50 konnte nicht durchgesetzt werden; man wurde vielmehr dem Auricher Simultan-Konsistorium unterstellt. Und das vorgeblich alle Gebiete verbindende Lehrdokument, der HEIDELBERGER, blieb im Gründungsdokument und in der Verfassung der neuen Provinzkirche unerwähnt. Dennoch sollte er für das Zusammenwachsen der knapp 85.000 Glieder in 114 Gemeinden (1882)51 eine herausragende Rolle spielen. 3.2 Konfessionalisierungen: »Allgemeine, wenn auch nicht durchweg rechtliche Anerkennung« Der HEIDELBERGER spielte nämlich gerade auch in anderen reformierten Kontexten eine herausragende Rolle. Zwei Jahre nach der reformierten Landeskirche wurde 1884 der Reformierte Bund gegründet: »De facto, nicht nach der Intention ist der Reformierte Bund eine Komplementärgründung zu der eben entstandenen ersten reformierten Landeskirche auf deutschem Boden, in Hannover.«52 Der Reformierte Bund hatte anders als reformiert Hannover und auch anders als in der überwiegend reformierten Landeskirche Lippes im § 1 seiner Grundordnung eine klare, substantielle Bekenntnisaussage, indem dort der HEIDELBERGER genannt wurde. Was der kommende führende reformierte Theologe E.F. Karl Müller aus Erlangen in seiner »Symbolik« über den HEIDELBERGER als Bekenntnisschrift sagen konnte, galt auch von ihm als Unterrichtsbuch: »[U]nter den Bekenntnisschriften erfreut sich von 49 Faksimile in Nordholt, Entstehung, a.a.O., Abb. 55; vgl. auch: Die Kirchengesetze, bearbeitet von Ernst Giese, a.a.O., S. 1. Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., Anlage E, S. 123. – Es trifft also nicht zu, wenn in einer landeskirchlichen Jubiläumsbroschüre behauptet wird: »Als gemeinsames Bekenntnis wurde der Heidelberger Katechismus eingeführt.« In: 125 Jahre Evangelisch-reformierte Kirche, hg. von Walter Herrenbrück und Hilke Klüver im Auftrag des Moderamens der Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche, Leer 2007, S. 11. 50 Vgl. die Immediateingabe, in: Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., Anlage D, S. 120–122. 51 Vgl. die statistischen Angaben, in: Raydt/Dirksen, Bericht, a.a.O., Anlage G, S. 149–152. 52 Johann Friedrich Gerhard Goeters, Die Situation der Reformierten im 19. Jahrhundert und die Entstehung der Reformierten Landeskirche Hannovers und des Reformierten Bundes. Vielfalt und Einheitsbestrebungen unter den deutschen Reformierten, in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, herausgegeben von Heiner Faulenbach / Wilhelm H. Neuser (Unio und Confessio 25), Bielefeld 2006, S. 357–374 (zuerst in: RKZ 124 [1983], S. 130–133.158–161), hier: S. 364.

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allen der Heidelberger Katechismus allgemeiner, wenn auch nicht durchweg rechtlicher Anerkennung.«53 Heinrich Calaminus (1842–1922), einer der ersten Vordenker des Bundes und dessen zweiter Moderator sowie langjähriger Herausgeber der RKZ, meinte gar: »[D]ie deutsche reformirte Kirche ist aber entstanden, steht und fällt mit dem Heidelberger Katechismus«.54 Das war zwar konfessionelle Imagination, aber typisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – und sie wurde wirksam als Motivation, mit dem HEIDELBERGER die Reformierten zu einen. Dieses gelang tatsächlich immer mehr in den Gebieten der reformierten Landeskirche. In Ostfriesland wurden um 1880 Debatten geführt, welche Ausgabe des Katechismus benutzt werden sollte,55 etwa die van Buirensche Ausgabe (s.o.) oder dann später 1889 doch besser eine neu eingerichtete von Stokmann / van der Laan.56 Zu einem wichtigen Umschwung kam es 1888 in Emden, als mit Beschluss des Kirchenrates zum 1. April 1888 statt des Emder Katechismus der HEIDELBERGER eingeführt wurde, und zwar auch mit der Begründung, dass er in allen anderen reformierten Gemeinden Ostfrieslands gelte.57 Allerdings wurde er als Unterrichtsbuch eingeführt, nicht jedoch als Bekenntnisschrift. Fortan wurde ausschließlich der HEIDELBERGER in Emden benutzt, aber er war damit noch nicht selbstverständlich; das angenommene Erbe musste man sich noch erst erwerben, um es zu besitzen und um es benutzen zu können: Der ostfriesische Coetus nahm sich von 1892 bis 1915 – mithin fast ein Vierteljahrhundert! – Zeit, den HEIDELBERGER von Sitzung zu Sitzung zu besprechen und ihn auf seine Schriftgemäßheit zu untersuchen!58 53

Ernst Friedrich Karl Müller, Symbolik. Vergleichende Darstellung der christlichen Hauptkirchen nach ihrem Grundzuge und ihren wesentlichen Lebensäusserungen, Leipzig 1896, S. 379 (S. 438–442 zum HEIDELBERGER). 54 Heinrich Calaminus, Die Geschichte des Heidelberger Katechismus in Deutschland. Vortrag gehalten am Montag, den 8. Dezember 1884 zu Elberfeld (Vorträge zur Förderung und Belebung des reformirten Bekenntnisses 1), Elberfeld 1885, S. 3. 55 Vgl. LKA Leer, Generalia 9.5. Bücher und Schriften / Religionslehrbücher, Heidelberger Katechismus, Nr. 3: Der Gebrauch des Heidelberger Katechismus im Schul- und Konfirmandenunterricht in den Gemeinden Ostfrieslands. 56 Der Heidelberger Katechismus für Schul- und Katechumenenunterricht, bearbeitet von G. Stokmann und B. van der Laan, hg. von G.H. Stokmann, Emden 51912 (1879, 41903). Hier war man bemüht, »dem etwas spröden Stoff des Katechismus« durch Beigabe ausführlicher Bibelzitate und Lieder »Farbe, Wärme und Leben zu verleihen« (S. VII). 57 Vgl. dazu die entsprechenden Kirchenratsprotokolle (vorhanden in der Johannes a Lasco Bibliothek, Große Kirche Emden); Aktennotiz von A[nton] Si[kken], Wie es in Emden zum Heidelberger Katechismus kam (o.O., o.J.), in: LKA Leer, 9.5. Bücher und Schriften / Religionslehrbücher, Heidelberger Katechismus, Nr. 5. – Übrigens tat christliche Unterweisung offenbar Not: In Rückblicken alter Pastoren aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts finden sich immer wieder Erinnerungen an Aberglauben und heidnische Praktiken der Landbevölkerung auch noch zur Zeit des Kaiserreiches! 58 Vgl. Diddo Wiarda, Der Coetus im Kaiserreich, in: Eberhard Busch u.a., »… um die Kirche zu bewahren und zu schützen.« Beiträge zum Jubiläum des Coetus der evange-

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Er wurde nun auch in das »Gesangbuch für Kirche, Schule und Haus in den reformirten Gemeinden Ostfrieslands« aufgenommen.59 Das Auricher Konsistorium verbreitete eine »Zusammenstellung« von HEIDELBERGER-Fragen für den praktischen Unterricht als Memorierstoff.60 Auch in der Grafschaft Bentheim ging man immer mehr ganz zum HEIDELBERGER über, weil der Katerbergsche Katechismus sich offenkundig überlebt hatte. Interessant ist, dass zahlreiche Editionen des HEIDELBERGERs benutzt wurden: überregionale, die auch reichsweit anerkannt waren, wie etwa die von Karl Sudhoff61, aber auch eigene regionale, wie eine Lingener Ausgabe (gedruckt bei J. Veldmann) oder eine des Predigervereins an der Unterweser.62 In der Regel waren dies wenig umstrittene Vorgänge. Aber es gab auch einen unnachgiebigen Verfechter des HEIDELBERGERs, der gar gegen örtliche Mehrheiten seine Ansicht durchzusetzen wusste. Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1905), ab 1882 Pfarrer in Spanbeck, ab 1887 (gewählt 1886) in Eddigehausen, war »in konfessioneller Hinsicht eine ausgesprochen kämpferische Natur«,63 wie Gerhard Menk meint; er lisch-reformierten Prediger und Predigerinnen in Ostfriesland 1544–1994, Bovenden 1995, S. 29–42, hier: S. 30–33. 59 Gesangbuch für Kirche, Schule und Haus in den reformirten Gemeinden Ostfrieslands. Mit Genehmigung der kirchlichen Behörde herausgegeben von dem Cötus der reformierten Prediger, neunte Auflage, Aurich 1898 (das ist wohl die erste Auflage nach der Landeskirchen-Gründung von 1882); der HEIDELBERGER, a.a.O., S. 429–464. Neben dem Gesangbuch wurde noch ein entsprechendes Psalmbuch benutzt, Aurich 81898; dort waren Emder und Heidelberger Katechismus abgedruckt. – Die anderen Gebiete der Landeskirche hatten eigene Gesangbücher. 60 Vgl. die Edition von Stokmann / van der Laan (vgl. Anm. 56), S. IVf.: Zusammenstellung derjenigen Fragen aus dem Heidelberger Katechismus, welche nach den darüber ergangenen Anweisungen des Konsistoriums und der Regierung in Koblenz, der Synoden von Siegen und Tecklenburg, der Regierung zu Magdeburg und des Konsistoriums für Lippe-Detmold für die ihnen unterstellten reformierten Kirchen bezw. Gemeindegruppen als Memorierstoff für die Schulen in wesentlicher Übereinstimmung ausgewählt bzw. ausgeschieden wurde. – In der Grafschaft galt eine andere Auswahlliste, vgl. a.a.O., S. VI. 61 Der Heidelberger Katechismus, nach den ältesten Ausgaben herausgegeben, zum besseren Verständniß zergliedert, durch Schriftstellen, biblische Beispiele und Lieder belegt, mit einer Einleitung, einer Haustafel und einer Uebersicht der Unterscheidungslehren der evangelischen und römischen Kirche versehen, von Karl Sudhoff, 4., verb. und mit einem kirchenhistorischen Anh. verm. Aufl., Kreuznach 1857, Leipzig 111901 und weitere Auflagen. 62 Der Heidelberger Katechismus zum Gebrauch in Kirche und Schule, hg. von dem Predigerverein der reformierten Gemeinden im vormaligen Herzogtum Bremen, 1893, 31908. Diese Predigerkonferenz wurde 1851 staatlicherseits erlaubt und sah den HEIDELBERGER als einigende Bekenntnisschrift an. – Entscheidender Kopf war sicherlich Hermann Müller, ab 1890 Superintendent, der 1903 Generalsuperintendent der reformierten Landeskirche wurde. 63 Gerhard Menk, Einleitung, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. Protestantische Pfarrer- und Professorenprofile zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Marburg 2011, S. 17–126, hier: S. 123.

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verweist auf »die pfarramtliche Tätigkeit Cunos, in der immer wieder der Heidelberger Katechismus als zentrale Kategorie erscheint und eine dementsprechend wichtige Rolle spielte«.64 Cuno stand »für die sehr starke konservierende, ja jetzt sogar retardierende Tendenz, die die deutsche Spielart des reformierten Glaubens weithin auszeichnete und bestimmte.«65 Jedenfalls führten Cunos Bestrebungen 1895 dazu, dass in den Plesse-Gemeinden »der Alleingebrauch des Heidelberger Katechismus fortan frei stehen« soll,66 so wie er es in seinen Gemeinden praktiziert hatte, während seine Kollegen beim Hessischen Landeskatechismus geblieben waren. Zumeist wird verkürzt behauptet, damit sei der HEIDELBERGER in der Plesse eingeführt und andere Schriften außer Kraft gesetzt worden; richtig ist vielmehr, dass es den HEIDELBERGERVerfechtern erlaubt war, in ihren Gemeinden ausschließlich (!) den HEIDELBERGER zu verwenden und den Hessischen Landeskatechismus zu übergehen. De facto wirkte diese Erlaubnis dann aber wohl als Durchsetzung des HEIDELBERGERS in allen Plesse-Gemeinden. Die Option für den HEIDELBERGER konnte aber auch sympathischer als bei Cuno anmuten: Edmund Eichhorn (1857–1920), Pfarrer der reformierten Gemeinde Hannover, profilierte seine aufblühende Gemeinde konfessionell mit dem HEIDELBERGER, baute großzügig und sorgte dafür, dass die Gemeinde 1901 die niedersächsische Konföderation verließ und sich der reformierten Landeskirche eingliederte.67 Hannover spielte fortan, auch finanziell, eine wichtige Rolle innerhalb der Landeskirche.

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Cuno hat sich offenkundig permanent mit dem HEIDELBERGER und seiner Rezeption befasst, vgl. den von ihm herausgegebenen Thesaurus: Der Heidelberger Katechismus erklärt mit den Worten bewährter Lehrer der reformierten Kirche alter und neuer Zeit, nebst allerlei Beigaben, Prag 1897 (erschienen als Beilage der »Evangelisch reformierten Blätter aus Österreich« 1891–1896). 65 Gerhard Menk, Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1904). Pfarrer, Historiker, Glaubenskämpfer. Eine Lebensskizze, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder, a.a.O., S. 867–888, hier: S. 868 (zuerst 1986 erschienen). Im LKA Leer liegt die PA mit einem umfangreichen, handschriftlichen Lebenslauf Cunos vor. Vgl. auch die Akte LKA Leer Generalia 9.5. Bücher und Schriften / Religionslehrbücher, Heidelberger Katechismus, Nr. 1: Der Gebrauch des Heidelberger Katechismus in den Gemeinden der Inspektion Bovenden, Voll. I und II. 66 Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover 2. Band, Nr. 44, 13. Juli 1895, S. 189; Die Kirchengesetze, bearbeitet von Ernst Giese, a.a.O., S. 200. – In Göttingen erschien auch eine neue Unterrichtsausgabe: Adam Heilmann, Der Heidelberger Katechismus für den Schul- und Konfirmandenunterricht, Göttingen 1905. 67 Vgl. Frauke Geyken, 300 Jahre Evangelisch-reformierte Kirchengemeinde Hannover 1703–2003, Hannover 2003 (zu Eichhorn S. 84–106).

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3.3 Unterricht und Predigt mit dem HEIDELBERGER: »In der Regel« Nach dem unaufgeregten und unaufhaltsamen Vordringen des HEIDELBERGERs und den Plesse-Unruhen stellte eine konsistoriale Umfrage aus dem Jahr 1896 dar, wie der faktische Gebrauch landeskirchenweit einzuschätzen war.68 Mit 18 Fragen wurde der Stand an der Basis konkret abgefragt. Während in Ostfriesland an vielen Orten die KatechismusPredigt »in der Regel« in Übung stand, jedoch Ausnahmen etwa an Festtagen und in der Passionszeit erwünscht waren, an einigen Orten allerdings auch wegen des fortgeschrittenen Alters des Pfarrers nicht mehr nachmittags gepredigt wurde, und auch der Konfirmandenunterricht im Hinblick auf Dauer und Umfang (»Mindestmaß«) der KatechismusFragen nicht einheitlich geregelt war,69 galt für die Grafschaft Bentheim, dass praktisch überall – in der Grund- und Volksschule, im Konfirmandenunterricht und im Sonntagnachmittagsgottesdienst – der HEIDELBERGER zu Grunde gelegt wurde, ganz überwiegend in der Ausgabe von Karl Sudhoff. Historisch bedingt sind die krassen Ausnahmen Freren und Papenburg, wo aus dem lutherischen Landeskatechismus gelernt wurde. Ganz selten wurden noch weitere Büchlein für den Unterricht genannt, etwa die »Konfirmandenstunden« von Karl Wilhelm Doll (Karlsruhe 1873).70 Die Plesse-Gemeinden hatten bislang mit Ausnahme der Cuno-Gemeinden Spanbeck und Eddigehausen den Hessischen Landeskatechismus benutzt, stellten sich in den folgenden Jahren aber auch um (s.o.). Eine unterdes gewachsene allgemeine Anerkennung spiegelte sich auch in den landeskirchlichen Bemühungen wieder, die man auf das HEIDELBERGER-Jubiläum 1913 verwandte. So heißt es in einer landeskirchlichen Bekanntmachung: »Am 19. Januar 1913 erneuert sich das 350jährige Gedächtnis des Tages, an welchem durch Erlaß des Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz der Heidelberger Katechismus zuerst in die reformierte Kirche Deutschlands eingeführt wurde. Derselbe enthält das gemeinsame Bekenntnis aller reformierten Gemeinden unseres Konsistorialbezirks und ist ein Quell reichen Segens für sie geworden. In allen reformierten Gemeinden ist er das Lehrbuch im Konfirmandenunterricht, in den meisten bieten seine Fragen und Antworten auch den Text für die Predigten der Nachmittagsgottesdienste dar. Diese hohe 68

Bekanntmachung betr. Katechismus- und Confirmandenunterricht, Aurich 29. Januar 1896, Nr. 52, in: LKA Leer, 20.7. Gottesdienst / Verschiedenes, Nr. 20 Predigten über den Heidelberger Katechismus und Katechismusunterricht in den reformierten Gemeinden (ab 1896). 69 So im zusammenfassenden Bericht, 1. Mai 1896, Umfrage in 1. reformierter Inspektion (Ostfriesland), in: a.a.O. 70 Vgl. Johannes Ehmann, Die badischen Unionskatechismen. Vorgeschichte und Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert (VBKRG 3), Stuttgart 2013, S. 346–349.

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Bedeutung des Buches veranlaßt uns, hiermit anzuordnen, daß im Gottesdienst am Sonntag, dem 19. Januar 1913, seiner Einführung und seines Wertes in festlicher Weise in allen reformierten Gemeinden gedacht werde.«71 Ob dies nun vor Ort ein ganzer Gottesdienst wurde oder nur ein ausführlicher Hinweis auf das Jubiläum, ob man in einem Vor- oder gerne auch in einem Nachmittagsgottesdienst feierte, blieb den Gemeinden bzw. dem Eifer des jeweiligen Pfarrers überlassen. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1917, das man in der reformierten Landeskirche vor allem dazu benutzen wollte, mit der eigenen reformatorischen Tradition bekannt zu machen,72 fragte das Konsistorium wiederum den Stand des Katechismus-Gebrauchs ab.73 Besonders fokussierte man die Katechismus-Predigt, denn sie war auf Grund der nur noch eingeschränkt zu leistenden pfarramtlichen Dienste während des Ersten Weltkrieges teilweise aufgegeben worden. Es fehlten die zum Kriegsdienst eingezogenen Prediger, so dass die daheimgebliebenen zahlreiche Vertretungen zu übernehmen hatten. Die Notwendigkeiten und Bedrängnisse ließen unterschiedliche Varianten entstehen, etwa auch den Versuch, Abendgottesdienste einzuführen. In den Antworten auf die Umfrage wurde öfter die Bitte laut, keine Verfügung zu erlassen, die Nachmittagsgottesdienste (wieder) verpflichtend einzuführen, denn »es ist keinerlei Stimmung dafür, und man glaubt auch nicht, daß sie lebensfähig sein werden.«74 So setzte sich eine Entwicklung fort, die schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte und sich nach dem Krieg fortsetzen sollte, dass für hinzugekommene gottesdienstliche und lehrhafte Formate wie Andachten, Bibelstunden, Arbeiterverein, Kindergottesdienst u.a. mancherorts auf den Nachmittagsgottesdienst und damit auf die Katechismus-Predigt verzichtet wurde. Man wird nach dem ersten Vierteljahrhundert der reformierten Landeskirche resümieren dürfen: Der sich entwickelnde oder schon herausgestellte Trend innerhalb der deutschen Reformierten zum HEIDELBERGER hat die Latenzphase der Landeskirchen-Gründung mit ermöglicht, wie auch der dann folgende Prozess der Landeskirchengründung 71

Kirchliches Gesetzes- und Verordnungsblatt der reformierten Landeskirche, Bekanntmachung betreffend Gedenkfeier der Einführung des Heidelberger Katechismus, Aurich, den 19. Juli 1912 (handschriftlich in LKA Generalia 9.5.3.), gedruckt dann in: Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover 4 (1912), Nr. 31, Aurich, 19. Dezember 1912. 72 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland, in: KZG 26 (2013), S. 238–261 (Wiederabdruck in diesem Band). 73 Verfügung bzw. Rundabfrage des Konsistoriums am 12. Mai 1917 betr. Nachmittagsgottesdienste, in: LKA Leer, 20.7.20. Predigten über den Heidelberger Katechismus und Katechismus-Unterricht in den reformierten Gemeinden überhaupt. 74 Kirchborgum, 15. Juni 1917, Abschrift der Kirchenratssitzung, in: a.a.O.

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von der Lingener Konferenz 1856 bis zur Sanktionierung der Landeskirche 1882 mithalf, die Vielfalt der Unterrichtsbücher und Bekenntnisschriften zurück zu drängen und alle(s) unter den HEIDELBERGER zu sammeln – und über diese Gründung hinaus: Der HEIDELBERGER verband inhaltlich, was sich räumlich und menschlich noch nicht so nahe stand. Aus kirchenpolitischer Fiktion wurde so nach zwei Generationen doch weitgehende Realität. 4. Die reformierte Landeskirche in der ersten deutschen Demokratie und die faktische Vorherrschaft des HEIDELBERGERs Auch wenn dieser Teil der Geschichte der reformierten Landeskirche noch nicht detailliert untersucht worden ist, scheint die Überführung der Institution in die Demokratie relativ problemlos möglich gewesen zu sein. Zwar bedauerte man auch bei den Reformierten das Ende des landesherrlichen Summepiskopats und namentlich das Ende der Hohenzollern-Herrschaft, aber man ergriff so rasch es die äußeren Umstände zuließen die notwendigen Maßnahmen zur rechtlichen Neuetablierung der Landeskirche. Durch vom Staat genehmigte und vom Konsistorium erlassene Übergangsbestimmungen konnten die alten Führungskräfte weiter agieren. Das gilt für den theologisch vielleicht blassen Generalsuperintendenten Gerhard Cöper (1865–1927); das gilt aber auch für konsistoriale Juristen wie vor allem Lümko Iderhoff (1856–1931), den Auricher Konsistorialpräsidenten seit 1904.75 Die 1920 konstituierte Landessynode konnte 1922 einen Verfassungsentwurf beraten und beschließen, der im Mai 1924 veröffentlicht und schließlich am 1. November 1924 von der preußischen Regierung »anerkannt« wurde.76 Geändert wurde der Name der Kirche in »Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover«, der Generalsuperintendent hieß für einige Generationen »Landessuperintendent«,77 das Frauenwahlrecht wurde nach kontroversen Diskussionen eingeführt u.a.m. Nicht geändert wurde der Bekenntnisstand der Landeskirche. Vor dem § 1 der neuen Kirchenverfassung hieß es, dass der »Bekenntnisstand unverändert bleibt«.78 75

Vgl. in diesem Band den Aufsatz: Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 76 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 423. 77 Aktuell trägt der leitende Geistliche der Evangelisch-reformierten Kirche den Titel »Kirchenpräsident« (seit 2004). Seit dem Jubiläumsjahr des HEIDELBERGERS 2013 ist dies Dr. Martin Heimbucher, der sich als Oberkirchenrat der UEK um dieses Jubiläumsjahr besonders verdient gemacht hatte. 78 Vgl. Kirchengesetz über die Verfassung der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, in: Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover 5, Nr. 77, 8. Mai 1924, S. 406–422, hier: S. 406. – Die späte Veröffentlichung der neuen Verfassung hing mit der noch

4. Die reformierte Landeskirche in der ersten deutschen Demokratie

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Man konnte sich also auch nach gut einer Generation nicht auf eine klarere Formulierung wie 1881/1882 verständigen. Immerhin fand der HEIDELBERGER explizite Erwähnung: Der kirchliche Unterricht, dem örtlichen Kirchenrat zur Beachtung aufgetragen, war innerhalb der Landeskirche mit ihm zu gestalten, wie § 19 bestimmte: »Der kirchliche Unterricht ist auf Grund der heiligen Schrift an der Hand des Heidelberger Katechismus zu erteilen.«79 Gewiss wird der HEIDELBERGER in den 20er Jahren eine besondere Wertschätzung auch innerhalb der reformierten Landeskirche erfahren haben, unter den Theologen und in Publikationen, in den Gemeinden durch Unterricht und Predigt. Besonders zu nennen ist dabei die Gruppe der Kohlbrüggianer, die unter der Bezeichnung »Freunde des Heidelberger Katechismus« firmierten und auch publizistisch aktiv waren; diese waren nicht nur am Niederrhein und im Wuppertal anzutreffen, sondern hatten in Peter Schumacher (1878–1950)80 und Walter Hollweg (1883–1974)81 auch in der Grafschaft Bentheim zwei wichtige Repräsentanten.82 Beide vertraten bei den Verfassungsdiskussionen 1922 durchweg konservative Positionen – etwa gegen das passive Frauenwahlrecht und gegen parlamentarische Äquivalente in der Kirche (die »Masse« sei »der Tod der Kirche«, wie behauptet wurde) – und Bentheimer Regionalinteressen; beide spielten später im »Kirchenkampf« eine wichtige Rolle: Hollweg als Landessuperintendent (seit 1927), Schumacher als »Vermittler« zwischen Kirchenleitung und Bekenntnisgemeinschaft. Dass man mit dem HEIDELBERGER weiter zusammenwuchs, zeigte auch die Aufgabe eigener regionaler Ausgaben, die es nahezu in jeder der reformierten Regionen gegeben hatte. Als 1927 eine neue Bentheimer Ausgabe geplant wurde, da die gebräuchlichen Ausgaben von Stokmann und Sudhoff nicht mehr zu kaufen waren, konnte man diese Pläne aufgeben, nachdem bekannt wurde, dass der Reformierte Bund im Oktober 1927 mit einer Ausgabe auf den Markt kommen würde.83 Auch im ersausstehenden Entgegennahme durch den Staat zusammen, der allerdings durch die Inflation 1923 vollauf mit anderen Sorgen befasst war. 79 A.a.O., S. 408. – Eine solche Bestimmung beinhaltete die Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1881/1882 nicht, vgl. Die Kirchengesetze, bearbeitet von Ernst Giese, a.a.O., S. 30 (§ 17). 80 Vgl. Karl Koch, Art. Schumacher, Peter, in: BBKL XV (1999), S. 1271–1273. 81 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Hollweg, Walter, in: BBKL XXIII (2004), S. 668– 676; Art. Hollweg, Walter, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 4, Aurich 2007, S. 207–211 (vgl. auch ders., Reformierte Kirchenleitung, a.a.O. [in diesem Band]). 82 Vgl. Karl Koch, Kohlbrüggianer in der Grafschaft Bentheim. Eine Studie zur reformierten Kirchengeschichte der Grafschaft Bentheim zwischen 1880 und 1950. Gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, in: Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, Band 12, 1996, S. 355–423. 83 Vgl. die entsprechenden Schreiben in: LKA Leer, 9.5. Bücher und Schriften / Religionslehrbücher, Heidelberger Katechismus, Nr. 2: Grafschaft Bentheim. Das Büchlein

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ten gemeinsamen landeskirchlichen Gesangbuch wurde der Katechismus aufgenommen.84 In anderen Regionen wie Lippe und Siegerland blieb man dagegen noch länger bei eigenen Katechismustext-Ausgaben. Wie in der reformierten Landeskirche so genoss der HEIDELBERGER auch in der Lippischen Landeskirche und im Reformierten Bund hohes Ansehen. Der die reformierten Debatten immer stärker prägende Karl Barth (1886–1968) dagegen, seit 1921 Inhaber des Göttinger Lehrstuhls und seit spätestens 1923 in der reformierten Landeskirche präsent, musste erst noch zum HEIDELBERGER finden, bis er ihn ab der zweiten Hälfte der 30er Jahre allgemein wertschätzen konnte.85 5. Zwischen Bekenntnis und Bekennen Die Herausforderungen des totalitären Weltanschauungsstaates und der Landeskirchentag 1936 5.1 Die »intakte« Landeskirche Komplexe historische Vorgänge wie der Kirchenkampf86 in einer »intakten« Landeskirche sind in wenigen Sätzen nicht zu beschreiben.87 Die erschien dann zwei Jahre später als geplant: Der Heidelberger Katechismus für Kirche, Schule und Haus und in Anlehnung an die ersten Ausgaben von 1563 herausgegeben vom Ref[ormierten] Bunde f[ür] Deutschland, Neukirchen 1929. Die Mitwirkung des Auricher Landessuperintendenten Walter Hollweg wurde im Vorwort eigens vermerkt. 84 Evangelisch-reformiertes Gesangbuch. Herausgegeben im Jahre 1929 von der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, Frankfurt/Main 1929, Anhang, S. 60–97; so bis zur 6. Auflage 1956 (also unmittelbar vor dem neuen EKG), nach 1946 dann auch mit der Barmer Theologischen Erklärung (s.u.). 85 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Mit freiem Gewissen glauben und leben. Die rezeptionsgeschichtliche Pluralität und Produktivität des Heidelberger Katechismus, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 7 (2013), S. 129–167, v.a. cap. 3.3. Karl Barth: Von »fragwürdig« bis »respektvoll« (Teilabdruck in diesem Band); vgl. jetzt ausführlich: Hanna Reichel, Theologie als Bekenntnis. Karl Barths kontextuelle Lektüre des Heidelberger Katechismus (FSÖTh 149), Göttingen 2015. 86 Es gab nahezu von Anfang an Kritik an dem Begriff »Kirchenkampf«. Spätestens seit dem TRE-Artikel »Nationalsozialismus und Kirchen« von Joachim Mehlhausen (1994) werden andere Begriffe bevorzugt und der »Kirchenkampf«-Begriff als unwissenschaftlich oder Interesse geleitet verstanden. Angesichts des relativierenden Verständnisses, den Alternativbegriffe unterdes transportieren, kehrt der Vf. zum Terminus »Kirchenkampf« zurück. 87 Die drei wichtigsten Werke aus drei Generationen sind: Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover), AGK 8, Göttingen 1961; Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994; Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage

5. Zwischen Bekenntnis und Bekennen

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Kirchenleitung unter Landessuperintendent Walter Hollweg versuchte einen legalistischen Kurs zu steuern, um den Bestand der Kirche und die ordnungsgemäße Kirchenleitung nicht zu gefährden. Bei Hollweg ist eine größere Nähe zum NS-Staat nicht anzunehmen, auch die Theologie der Deutschen Christen (DC) war ihm sicherlich suspekt; dagegen war der reformierte Kirchenjurist Otto Koopmann immer wieder bereit, den kirchlich und staatlich Mächtigen in Berlin weit entgegen zu kommen.88 Aufs Ganze gesehen spielten die Deutschen Christen keine Rolle in der Landeskirche;89 der Sommer 1933 war ein DC-Strohfeuer, nach dem Sportpalastskandal im November 1933 war es zu Massenaustritten gekommen. Schließlich kam es trotz allem zu einem Unvereinbarkeitsbeschluss (s.u.). Eine Bekenntnisgemeinschaft (BG) innerhalb der Landeskirche bildete sich erst im November 1934. Strittig war, ob das – reformierte – Bekenntnis zu einem aktuellen Bekennen in den kirchlichen Auseinandersetzungen führen musste und ob sich deshalb die Landeskirche der Bekennenden Kirche (BK) anzuschließen habe. Die rechtmäßig zu Stande gekommene Auricher Kirchenleitung ließ sich ihre Existenz vom unrechtmäßigen Berliner Kirchenregiment garantieren und fand dafür immer wieder synodale Mehrheiten. Das von Karl Barth entworfene Uelsener Protokoll vom Dezember 1934 sollte die Kirchenleitung der evangelisch-reformierten Landeskirche auf einen bekenntniskirchlichen Kurs festlegen. Hier wurde Frage 1 des HEIDELBERGERs gemeinsam mit dem Ersten Gebot als Ausgangspunkt des Bekennens genannt.90 Dass beide reformierten Landeskirchen die Bedeutung und den Rang des HEIDELBERGERs als Bekenntnisschrift kirchenrechtlich festlegen konnten, sich aber nicht eindeutig auf die Seite der Bekennenden Kirche schlugen, zeigt, dass es eben unterschiedliche Interpretationen nicht nur der jeweiligen kirchenpolitischen Situation, sondern auch der normativen Texte aus der Tradition gibt. Die Auricher Kirchenleitung entfernte sich zudem immer weiter vom Reformierten Bund, der seit Anfang Januar 1934 entschieden auf bekenntniskirchlichen Kurs lag. Zwar fanden noch hier und da Gespräche statt – innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009. 88 Vgl. Antje Donker, Art. Koopmann, Otto Heinrich, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 213f. 89 Vgl. Paul Weßels, Die Deutschen Christen in Ostfriesland und ihr Kampf um Einfluss in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde 81 (2001), Aurich 2002, S. 167–204. 90 Zum letztlich wirkungslosen Uelsener Protokoll vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig ...« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: RKZ 136 (1995), S. 82–89 (Wiederabdruck als Exkurs im Aufsatz über Heinz Otten in diesem Band); Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …«, a.a.O., S. 135–141.

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etwa im Osnabrücker Kirchenkonvent –, aber Hollweg trat aus dem Moderamen des Bundes aus. Die Bildung des »Arbeitsausschusses der reformierten Kirche Deutschlands« am 3. Juli 1936 war der praktische Vollzug der bereits eingetretenen Spaltung innerhalb des deutschen Reformiertentums. Auch dies nahmen die BG-Mitglieder in den Kirchenbezirken mit Erschrecken zur Kenntnis und setzten die Bekenntnisfrage mit zahlreichen Eingaben auf die Tagesordnung der kommenden Tagung der Landessynode. 5.2 Der Landeskirchentag 1936: »Die Berufung auf den Heidelberger ungeheuerlich«? Die ungeklärte Situation bzw. die Differenzen innerhalb der reformierten Landeskirche mussten zu weiteren Verständigungsversuchen führen. Soweit ersichtlich, hat die Kirchenleitung das Gespräch mit der Bekenntnisgemeinschaft jedenfalls nicht abgebrochen, sondern blieb offiziell und persönlich für Kommunikation offen. Beispiele dafür sind das Uelsener Protokoll, die Kanzelerklärung des Landeskirchenvorstandes (LKV) vom 28. März 1936,91 mit der man eindeutig und mit zahlreichen Belegen aus dem HEIDELBERGER gegen die »Deutsche Glaubensbewegung« Position bezog, sowie der Landeskirchentag vom November 193692 – signifikant dann auch darin, dass der Vorsitzende der BG, Pastor Heinrich Oltmann93, in den LKV gewählt wurde. Die Tagesordnung für diese viertägige Synodaltagung, zu der sehr kurzfristig eingeladen wurde (10. November 1936), war umfangreich, da neben ausführlichen Berichten aus der Kirchenleitung zahlreiche Anträge aus den Kirchenbezirken vorlagen: »Der Hauptgegenstand der Tagesordnung werden die Verhandlungen über die augenblickliche kirchliche Lage bilden«, wie das Einladungsschreiben vermerkte. Vor allem aus den von der BG geprägten Bezirken Rheiderland, Leer und Bentheim waren Anträge gestellt worden über die Feststellung der Irrlehre der DC und deren Ausschluss von kirchlichen Ämtern, dem Anschluss der Landeskirche an die Reichsbekenntnissynode, die Übernahme von Barmen

91

Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt 8, Nr. 5, 4. April 1935, S. 27ff.; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., Dokument 7, S. 70–73. 92 LKA Leer, 68.1 Reformierte Synodalsachen/Generalia, Nr. 30 Achter außerordentlicher Landeskirchentag vom 24. bis 27. November 1936; dass., Anlage: Handakte D. Hollweg. – Von den Synodaltagungen der 30er und 40er Jahre erschienen keine gedruckten Protokolle, wohl aber Typoskripte, die im landeskirchlichen Archiv lagern. Hier: Verhandlungen des achten außerordentlichen Landeskirchentages der evangelischreformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Reformierten Kirche zu Aurich vom 24. bis 27. November 1936 (im Folgenden: Verhandlungen LKT 1936). 93 Vgl. Paul Weßels, Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892– 1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002.

5. Zwischen Bekenntnis und Bekennen

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Januar 1934,94 die Bestätigung des vom LKV bereits am 3. Januar 1935 ratifizierten Uelsener Protokolls, die Bekenntnisschule u.a.95 Vom Kirchenrat Emden kam dagegen ein eher überraschend anmutender Antrag, nämlich den Bekenntnisstand der Landeskirche betreffend (TOP IX.): Der HEIDELBERGER solle »für Lehre und Ordnung« in der reformierten Landeskirche »verpflichtend« sein.96 Auch wenn dieser Antrag schließlich mit großer Mehrheit angenommen wurde, haben sich in der Debatte um ihn die grundsätzlichen Differenzen innerhalb der Landeskirche gezeigt und nahezu alle anderen Diskussionsgegenstände schwangen hier mit.97 In ihren Berichten verteidigten Präsident Koopmann und Landessuperintendent Hollweg den bisherigen Kurs der Landeskirche und stellten das Erreichte als Erfolg da. Hollweg spielte der Antrag aus Emden in die Karten, erklärte er doch: »Bekennende Haltung ist nur möglich auf Grund eines klar erkannten Bekenntnisstandes.« Dass er damit nicht etwa die Bekennende Kirche insgesamt und deren Vordenker Karl Barth – indes aus seinem Amt vertrieben – meinte, war auch nicht zu überhören: »Man täusche sich doch nicht darüber, dass z.B. die Begeisterung für einen Mann wie Karl Barth weithin eine rein kirchenpolitische ist.«98 Knapp zwei Jahre zuvor hatte Hollweg in Uelsen noch mit Barth zusammen gesessen! Hollweg fand zu keiner eindeutigen Haltung gegenüber der BK. Gänzlich unnachgiebig zeigte sich Hollweg aber später in der Debatte gegenüber den DC. Der einigermaßen harmlos lautende Antrag aus Emden fand zunächst nähere Erläuterungen durch den Synodalausschuss und den Kirchenpräsidenten (Vorsitzender der Synode) Erich Riedlin (1867–1945), der selbst Pfarrer in Emden war, und dann die Unterstützung durch Landessuperintendent Hollweg. Er »betont die Notwendigkeit, die Bekennt94 Die Landeskirchenleitung verweigerte sich der Bitte, diese Erklärung der Ersten freien Bekenntnissynode allen Synodalen zuzusenden, da der Antrag nicht von ihr käme, sondern vom Kirchenbezirk Leer. 95 Hinter solchen Anträgen standen in der Regel konkrete Erfahrungen: die Pfarrwahl von Heinz Otten in Großwolde/Kirchenbezirk Leer; der Schulstreit in Schüttorf/Bentheim u.a. 96 Hier wird man auf den anderen »Streitfall« innerhalb der Landeskirche als Kontext hinweisen müssen, der sich 1935 in Emden bei der Einführung von Pastor Gerhard Brunzema zugetragen hatte: Der nachmalige Vorsitzende von »Kein anderes Evangelium« wollte sich, verkürzt zusammengefasst, nicht von einem DC ins Amt einführen lassen; vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 22; Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …«, a.a.O., S. 180–198. Emder Pfarrer 1936 waren Gerhard Brunzema, Hermann Immer, Erich Riedlin und Jan Remmers Weerda. 97 Insofern ist es überraschend, wenn Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …«, a.a.O., S. 209, nur eben die Annahme des HEIDELBERGERs notiert, nicht aber schildert, wie (stark) darum gerungen wurde. Auch insgesamt differieren die Deutungen des LKT 1936 zwischen Wever und dem Vf. nicht unerheblich. 98 Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 87.

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nisfrage zu regeln, nachdem in den bisherigen Gesetzen stets nur gesagt sei, der Bekenntnisstand bleibe unverändert. In den einzelnen Bezirken der Landeskirche seien verschiedene Bekenntnisse verbindlich«, auch wenn unterdes durch die Verpflichtung, den Konfirmandenunterricht mit dem HEIDELBERGER zu halten, sowie einen Hinweis im Ordinationsgelübde der HEIDELBERGER als maßgebliche Orientierung diente.99 Während Heinrich Oltmann, ein theologisch konservativer und pietistischer reformierter Theologe, nur Bedenken gegen das konkrete Procedere äußerte, wie Bekenntnisse Gegenstand der landeskirchlichen Gesetzgebung sein könnten, holte Pastor Gerd Hesse Goeman (1895– 1982)100 von der BG in einer offenkundig vorbereiteten Stellungnahme weit aus: Warum solle der seit Jahrhunderten verwendete, gerade in den letzten Jahren besonders »liebgewordene[.]« Katechismus nun 1936 »feierlichst ratifiziert werden« (S. 165)? Wäre dies eine bloße »Plattitüde«, dann wäre es allerdings »deplaciert[.]«, nähme man andere anerkannte Bekenntnisse doch auch nicht an. Neben dem HEIDELBERGER gäbe es weitere Bekenntnisse, die wohl mehr »Spuren der Kirche unter dem Kreuz« zeigten, in der es nicht um Territorien ginge, sondern um die Kirche Jesu Christi (S. 166). Es dürfe aber nicht sein, dass feststehende Symbole eine bekennende Dynamik verhinderten. »Sollte die Festlegung auf den Heidelberger … etwa bedeuten, daß man ein biblisches Wort zu den Angriffen der Gegenwart vermeiden will, dann wäre ja die Berufung auf den Heidelberger ungeheuerlich und ein Neutralisierungssalz anstatt eines biblischen Wortes, das Salz und Licht bedeutet.« (S. 167) Aus der Perspektive der BG war klar: »Wir dürfen auch nicht den Schein erwecken, als ob wir durch die Berufung auf den Heidelberger Katechismus das klare, für die Gegenwart notwendige Wort des Bekennens verhindern wollten. Wir haben gelernt, daß wir uns nicht hinter die Bekenntnisse verschanzen können, und daß uns Reformierte eine Anerkennung der reformierten Bekenntnisse und der Wille, für unsere reformierten Gemeinden zu kämpfen, noch nicht zu gemeinsamem Bekennen zusammenführt.« In eine solche Erklärung dürfe sich also kein »konfessionalistisches Mißverständnis« einschleichen. Goeman verwies explizit auf das Uelsener Protokoll und Barmen Januar und Barmen Mai. Theologiehistorisch zu verstehende »Unterscheidungslehren« blieben »metaphysische Spielerei[en]«, und »die Rettung einer reformierten Kirchenordnung, die vielleicht schon irgendwo fertig liegt« (S. 168), wäre eben bloß »eine kirchenpolitische Angelegenheit«. Es müsse aber 99 100

Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 164. In: Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 165–170. – Leider existiert über diesen entschiedenen Vertreter der BK, ab 1927 Pastor in Kirchborgum, von 1936 bis 1959 Superintendent des V. Bezirks, bislang kaum Literatur, vgl. lediglich Paul Weßels, Pastor Gerd Hesse Goeman – »ein Theologe von Passion«, in: Der Deichwart, Beilage der Zeitung »Rheiderland« Nr. 2/3, 2002; ders., Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 307–309.

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darum gehen, mit dem HEIDELBERGER und den Bekenntnissen »den Christus zu bezeugen, der heute der Herr ist.« Innerhalb der BK hätte es weiterführende Erkenntnisse gegeben: »Wir haben es erfahren, daß wir den Heidelberger sachverständiger auslegen als zu einer Zeit, als wir es mit einer gewissen reformierten Begeisterung taten … Wir müssen feststellen, daß die Barmer Erklärung [sc. vom Januar 1934] heute notwendig ist als Deutung unseres Bekenntnisses.« Diese »Erklärung zu den reformatorischen Bekenntnissen« sei notwendig, um dem Mißverständnis zu wehren, »daß von der Reformationszeit bis zum Jüngsten Gericht nun nichts mehr gesagt zu werden brauchte« (S. 169). Sonst wäre der HEIDELBERGER zum »Museumsstück« (S. 170) gemacht. Goeman bat entsprechend darum, »diesen Antrag Emden abzulehnen«, und falls er lediglich eine verfassungsrechtliche Lücke schließen wolle, dann könne man darüber beraten, wenn eine neue Verfassung erarbeitet werden sollte (S. 169). Offenkundig lag hier eine andere Verhältnisbestimmung von Bekenntnis und Bekennen vor, als sie etwa Hollweg verstand. Die Bekennende Kirche sah die Gefahr, dass mit einem – statuarischen – Bekenntnis das – aktuelle – Bekennen verhindert werden sollte.101 Diese Befürchtung wurde bestätigt durch das Votum eines DC-Synodalen: »Herr Pastor Koops erklärt, daß die Deutschen Christen … sich dem Emder Antrag voll und ganz anschlössen. Er selbst habe stets mit Freuden nach dem Heidelberger unterrichtet und auch in der Predigt ihn zu Grunde gelegt.«102 So zeichnete sich also eine große Mehrheit der Kirchenleitung, der kirchlichen Mitte und der DC ab, während die BG als Bedenkenträgerin außen vor zu bleiben drohte. Das wiederum wusste Landessuperintendent Hollweg zu verhindern, indem er abschließend darauf verwies, »daß eine etwaige Annahme des Emdener Antrages nicht etwa 101

So nochmals in einer Stellungnahme der BG zum LKT 1936 vom 18. Januar 1937, in: Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., Nr. 22, S. 153–157: »In einer solchen Lage bedeutet ein bloßes Zurückgreifen auf die alten Bekenntnisse für die nach Gottes Wort reformierte Kirche nur ein scheinbares Bekennen, in Wirklichkeit ist es ein Verkennen der gegenwärtigen Anfechtung und damit praktisch eine Scheidung von der Kirche, die in Barmen auf Grund der alten Bekenntnisse tatsächlich bekannt hat. Wie notwendig eine bindende Erklärung über das rechte Verständnis der alten Bekenntnisse ist, beweist überdies die Tatsache, daß alle kirchenzerstörenden Angriffe bis hin zu den radikalsten bisher erfolgt sind unter Berufung auf die alten Bekenntnisse und daß trotz praktischer Gültigkeit des Heidelberger Katechismus bis zum letzten Landeskirchentag (drei Jahre lang!) offenbar keine bekenntnismäßige Dringlichkeit bestanden hat, gegen die DC eine Maßnahme der Kirchenzucht auszuüben.« A.a.O., S. 155f. – In anderen Kontexten konnte sich die BK dagegen für den HEIDELBERGER als Schibboleth aussprechen, etwa die BK-Kreissynode Siegen 1937 (Vortrag von Detlef Metz in Detmold am 14. September 2013). 102 Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 170. – Zu Gerhard Wilhelm Koops (1870– 1963), damals Pastor in Borßum (bei Emden), vgl. Weßels, Deutsche Christen, a.a.O., S. 196–198.

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als Grund für die Ablehnung der Barmer Erklärung anzusehen sei.« Hollweg integrierte so die BG in den landeskirchlichen Konsens. Mit einer kleinen Abänderung wurde der Antrag dann »fast einstimmig angenommen.«103 Auch wenn Hollweg hier nicht offen Partei für die BK ergriff, wusste er doch, dass die Frontlinien woanders verliefen als zwischen Kirchenleitung und BG. In den weiteren Verhandlungen über die Annahme von Barmen Januar und dem Uelsener Protokoll sprach er sich vehement gegen »die Irrtümer der Deutschen Christen« aus, gegen die, wie die BG forderte, eine kirchenrechtliche Handhabe geschaffen werden müsse. Freilich sah Hollweg bereits im HEIDELBERGER ein genügendes, gleichsam theologisch-überführendes Instrument, so dass es der Annahme weiterer Erklärungen nicht bedürfe.104 Hollweg versuchte, Koops zu veranlassen, seine Verbindungen zu den DC zu lösen, wobei er »Nationalsozialist … ruhig bleiben [könne], das stehe hier durchaus nicht zur Debatte.«105 Nach langer Debatte und Sitzungsunterbrechung stellte der Landeskirchentag dann bei nur 2 Enthaltungen fest, dass »die in den Schriften der Deutschen Christen geäußerten Lehrmeinungen und darum die Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen mit dem Bekenntnis unserer Landeskirche unvereinbar« seien. Die erforderlichen Maßnahmen habe der LKV zu treffen.106 Anschließend wurde das Uelsener Protokoll einstimmig angenommen,107 die Barmer Erklärung vom Januar 1934 dagegen nicht, schließlich wurde der Anschluss der Landeskirche 103 104

Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 171. Vgl. Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 173. So argumentierten im Übrigen auch Oltmann und andere aus den BG-Kontexten. – In regionalen Arbeitsgemeinschaften der BG wurde der HEIDELBERGER studiert; möglicherweise ein bekenntniskirchlicher Reflex auf die Beschlüsse der Landessynode stellt dar: Heinz Otten, Das Bekenntnis der Einheit der Kirche nach dem Heidelberger Katechismus, in: Evangelische Theologie 5 (1938), S. 223–232. Otten (1909–1942), direkter Barth-Schüler, fand Gehör bei Hollweg. Die Aussagen dieses Aufsatzes sind jedoch derart rein systematisch-theologisch, dass kaum ersichtlich wird, wie diese HEIDELBERGER-Exegese zur Scheidung von den DC beitragen könnte. 105 Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 175. Interessant sind die anzunehmenden Konnotationen einer solchen Aussage: Wenn der andere etwas bleiben könne, bedeutet dies auch, dass Hollweg sich selbst eben nicht als Nationalsozialist bezeichnen würde und offenbar »man« in der Synode auch eher nicht Nationalsozialist war. – Allerdings: Mit einer derart fatalen Unterscheidung von Glauben und Politik scheint es Hollweg dann auch möglich gewesen zu sein, die Godesberger Erklärung sogar in ihrer schlimmeren, ursprünglichen Form mit zu unterzeichnen; in diesen vom Reichskirchenminister Hanns Kerrl vorgelegten »Grundsätzen« von 1939 unterstützten »Kirchenführer« bis hin zu DC das »völkisch-politische Aufbauwerk des Führers«, sahen eine »verantwortungsbewusste Rassenpolitik« als erforderlich an und hielten nationalsozialistische Politik und christlichen Glauben für vereinbar und maßgeblich für die Deutschen. 106 Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 177. 107 Ebd.

5. Zwischen Bekenntnis und Bekennen

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an die BK vor allem mit der Begründung, die Landeskirche könne dann nicht mehr frei genug handeln, etwa was die Reichskirchenausschüsse anlange, mit 26 zu 9 Stimmen abgelehnt.108 Mit dem Landeskirchentag 1936 entschied sich nicht eine konsistoriale oder gar illegitime Kirchenleitung, sondern eine gewählte Synode für einen inhaltlich zur BK offenen, aber institutionell von ihr unabhängigen Kurs. Auch wenn die BG Abstimmungsniederlagen hinnehmen musste, blieb sie Teil der »intakten« Landeskirche und übernahm in ihr Verantwortung, indem ihr Vorsitzender Heinrich Oltmann in den LKV gewählt wurde. Dagegen stellte man synodal fest, dass die DC keinen Platz in der reformierten Kirche haben können. Im Jahr 1939 wurde Walter Hollweg als Landessuperintendent von der Synode wiedergewählt. »[E]rst im Kirchenkampf 1936 wird der Heidelberger Katechismus allgemein verbindlich«, wie Hans-Walter Krumwiede urteilte.109 Einerseits trifft dies zu, andererseits darf ein wichtiger Zusatz nicht übersehen werden, den das Typoskript des Synodalprotokolls freilich nicht wiedergibt. Noch am letzten Tag des Jahres informierte der Kirchenjurist Otto Koopmann die Pfarrämter über »Innerkirchliche Angelegenheiten«, nämlich über die Beschlüsse der Synode. Nach dem Beschluss über den Bekenntnisstand ist dort notiert: »Dazu wird vermerkt, daß der Bekenntnisstand der Gebiete der Landeskirche, in denen noch weitere Bekenntnisse bindende Kraft haben, durch diese Erklärung natürlich unverändert bleibt.«110 Diese Formulierung findet sich dann als handschriftlicher Vermerk auch im Protokoll der Synode.111 So wurde der HEIDELBERGER also im Kirchenkampf verbindlich eingeführt, aber es hieß zum dritten Mal in der noch jungen Geschichte der Landeskirche, dass der althergebrachte Bekenntnisstand der reformierten Landeskirche unberührt bliebe. Eine tatsächlich kirchenrechtliche Funktion zur Zu108

Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 181. Hollweg hatte darum gebeten, »man möge die Last auch nicht zu schwer machen.« A.a.O., S. 180. 109 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 380. 110 Innerkirchliche Angelegenheiten, Aurich, den 31. Dezember 1936, in: LKA Leer 68.1.30. 111 Verhandlungen LKT 1936, a.a.O., S. 171. Vermerk vom 2. Februar 1937. Im Kirchlichen Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover 8, Nr. 26, 26. Januar 1937, S. 165, heißt es etwas anders: »Dazu wird jedoch ausdrücklich bemerkt, daß die Geltung anderer reformierter Bekenntnisse, soweit sie in einzelnen Teilgebieten der Landeskirche bindende Kraft haben, durch diese Entschließung nicht aufgehoben wird.« [gez. Horn und Koopmann] Die Vermutung, dass hier der Kirchenjurist in seinem Sinne »nachgebessert« habe, liegt zwar nahe, lässt sich aber nicht belegen, zumal bereits vor den »Innerkirchlichen Mitteilungen« in der RKZ ein ähnlicher Vorbehalt zu lesen war: »Der Bekenntnisstand der Gebiete der Landeskirche, in denen noch weitere Bekenntnisse bindende Kraft haben, bleibt durch diese Erklärung natürlich unverändert.« Wiarda, Landeskirchentag der reformierten Landeskirche Hannover, in: RKZ 86 (1936), S. 411f., hier: S. 411.

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rückweisung der DC innerhalb und außerhalb der Landeskirche sowie zur Zuordnung zur Bekennenden Kirche, wie das auf den HEIDELBERGER zurückgreifende Uelsener Protokoll nahegelegt hatte, erhielt der HEIDELBERGER in den folgenden Jahren nicht. 6. Landeskirchliche Bekenntnisprofilierungen von 1946 bis 1970/1988 Die deutschen Reformierten haben gleich nach Kriegsende den HEIDELBERGER sehr protegiert, ihn teils sogar als Bestandteil der von den Amerikanern geforderten reeducation kommuniziert. Man konnte dabei nicht zuletzt auf die Bemühungen der Lippischen Landeskirche zurückgreifen, die im Zusammenhang mit dem territorialen Reformationsjubiläum 1938 eine Edition veranstaltet hatte, nachdem 1931 der HEIDELBERGER für kirchenrechtlich verbindlich erklärt worden war. In reformiert Hannover trafen nach 1945 frühere Kirchenleitung und frühere Opposition aufeinander, die jedoch darin eins waren: beide wertschätzten den HEIDELBERGER außerordentlich. Trotz vehement vorgebrachter Kritik konnte sich Landessuperintendent Walter Hollweg im Amt halten; der unterdes oberste BG-Repräsentant – nachdem Heinrich Oltmann bereits 1937 gestorben war – Friedrich Middendorff wurde auf der ersten Nachkriegssynode (15. bis 17. Oktober 1946 in Leer) am 17. Oktober 1946 zum Kirchenpräsidenten gewählt, Peter Schumacher kam noch hochbetagt in den Landeskirchenvorstand. Der eigentlich starke Mann wurde Walter Herrenbrück (sen.), Pastor zunächst in Tergast, dann in Leer, ehrenamtliches Mitglied des Landeskirchenrates. Herrenbrück war Schüler Karl Barths. Hollweg hat es bei der turnusmäßig anstehenden Wahl zum Landessuperintendenten verpasst, den Weg frei zu geben und unterlag 1951 dem Gegenkandidaten Walter Herrenbrück.112 Es ist nicht ganz falsch, wenn gesagt wird, dass die Synode im Oktober 1946 die Barmer Theologische Erklärung angenommen hat.113 Es gibt allerdings eine Hierarchisierung der angenommenen Bekenntnisschriften. So hieß es nun nach zehn Jahren: »In Weiterführung des Beschlusses, den der 8. außerordentliche Landeskirchentag im November 1936 über den Bekenntnisstand der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover gefaßt hat, beschließt der Landeskirchentag: Wir bekennen die ›Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche‹ vom 30. Mai 1934 als eine Erklärung zum rechten Verständnis des Heidelberger Katechismus, die [sic!] für 112 113

Vgl. den Aufsatz über Walter Herrenbrück in diesem Band. Vgl. Berthold Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung 1882 zum Loccumer Vertrag 1955, in: Lomberg u.a., Evangelisch-reformierte Kirche, a.a.O., S. 325–356, hier: S. 343; 125 Jahre evangelisch-reformierte Kirche, a.a.O., S. 12.

6. Landeskirchliche Bekenntnisprofilierungen von 1946 bis 1970/1988

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Lehre und Ordnung in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover verbindlich ist.« Damit sei bezeugt, dass die Barmer Erklärung »über den geschichtlichen Anlaß ihrer Entstehung hinaus die Evangelische Kirche in Deutschland zu dem Schriftzeugnis von der Alleinherrschaft Jesu Christi ruft und eine Mahnung an die bekenntnisbestimmten Kirchen bleibt, in der Einheit des Glaubens und Bekennens zu verharren, wie sie auf der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche Ereignis geworden ist.« So wurde BARMEN zwar als verbindlich erklärt, jedoch als Fortführung, als aktualisierende Exemplifizierung des HEIDELBERGERS verstanden. Mehr und mehr wurde jedoch, nicht allein für die reformierte Landeskirche, sondern für den reformierten Protestantismus in Deutschland nach 1945, BARMEN 1934 wichtiger als der HEIDELBERGER 1563. Nachdem es mit der Auflösung des Landes Preußen auch keine Provinz Hannover mehr gab und sich das Land Niedersachsen konstituierte, wurde 1949 der Name der Landeskirche in »Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland« geändert. Seit dem gab es zwei größere Verfassungsänderungen, nachdem der Versuch einer »geistlichen« Kirchenordnung, mit deren Erarbeitung Hollweg und Schumacher beauftragt worden waren, gescheitert war.114 Nach dem Loccumer Vertrag von 1955115 gab es die erste Änderung im Jahr 1958. Hier hieß es zum vierten Mal nach 1882, 1922 und 1936, dass der Bekenntnisstand unberührt bleibe: »Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, deren Bekenntnisstand unverändert bleibt, gibt sich … diese Verfassung.«116 Obwohl also auch hier der HEIDELBERGER nicht explizit genannt wurde, war er der dominierende Referenztext aus der Tradition. Das zeigte sich vielfältig: Am kirchlichen Unterricht, immer seltener an Katechismuspredigten, vor allem am theologischen Bemühen der führenden Kirchenmänner, wofür neben den historischen Arbeiten Hollwegs die ganz im Barthschen Sinne stehenden Aktualisierungen Walter Herrenbrücks zu nennen wären. Entsprechend wurde auch das Jubiläum 1963117 langfristig vorbereitet und gefeiert. In diesen Feiern trat der junge 114 115

Vgl. Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 344–347. Vgl. Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 351–353; vgl. Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), In Freiheit verbunden. 50 Jahre Loccumer Vertrag, Hannover 2005. 116 Kirchengesetz über die Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland in der Fassung vom 9. Mai 1958, in: Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland 11, Nr. 28, 25. August 1959, S. 179–196, hier: S. 179. 117 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft. Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der 9. Internationalen Emder Tagung zur Ge-

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Gerhard Nordholt (1920–1994) als konservativer HEIDELBERGER-Exeget auf; er wurde dann 1963 zum Nachfolger Herrenbrücks gewählt.118 Um 1970 gab es eine Reihe von rechtlichen Angleichungen an die faktisch gegebene Situation: Die Bentheimer Kirchenordnung (1709) mit ihren »12 Artikeln« von 1613 wurde 1971 offiziell abgeschafft bzw. bereits 1970 durch »Empfehlungen für das kirchliche Leben« ersetzt, wo der HEIDELBERGER prominent genannt wird.119 Ebenfalls 1971 trat das »Bovender Modell« in Kraft, mit dem der neuen konfessionellen Gewichtung der Plesse-Gemeinden Rechnung getragen wurde. Hier entstanden quasi gemischt-konfessionelle Gemeinden mit reformierten Pfarrämtern.120 Erst im Herbst 1971 gaben die letzten Gemeinden der reformierten Landeskirche das Verbot des Frauenstimmrechts auf.121 Eine Änderung betraf auch den Bekenntnisstand der Landeskirche: Im November 1970 wurden der HEIDELBERGER und BARMEN als Bekenntnisschriften in Absatz 2 der Kirchenverfassung genannt.122 Klarheit war auch deshalb vonnöten, weil man – wie beim Loccumer Vertrag – seit 1970 mit den anderen Landeskirchen in Niedersachsen in der Konföderation kooperierte.123 Zu einer Besinnung auf reformierte Grundwerte in Sachen Kirchenordnung verhalfen auch die Feiern zum Gedenken an die Emder Synode von 1571.124 In den Jahren 1971 bis 1974 wurde die Kirchenverfassung überarbeitet. Die Nennung des HEIDELBERGERs wurde dann bei der zweiten Neufassung der Kirchenverfassung bestätigt. Nachdem die reformierten schichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 185– 211 (Wiederabdruck in diesem Band). 118 Vgl. Ulrichs, Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft, a.a.O., S. 204f.209; zu Nordholt vgl. Alfred Rauhaus, Art. Nordholt, Gerhard, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 274–276. 119 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 2, a.a.O., S. 283, wohl nach Heinrich Freese, Bezirkskirchenverband VI, in: Lomberg u.a., Evangelisch-reformierte Kirche, a.a.O., S. 41–50, hier: S. 42. 120 Vgl. Wilhelm Buitkamp, Bezirkskirchenverband IX, in: Lomberg u.a., Evangelischreformierte Kirche, a.a.O., S. 70–76, hier: S. 72. 121 Vgl. Winfried Stolz, Die Verfassungsgrundsätze von 1974, in: Lomberg u.a., Evangelisch-reformierte Kirche, a.a.O., S. 357–376, hier: S. 365. 122 Vgl. Stolz, Die Verfassungsgrundsätze von 1974, a.a.O., S. 359f. – Dies war tatsächlich lediglich eine Angleichung an die gegebene Situation, denn von praktizierten bekenntnisrechtlichen Eigentümlichkeiten in den unterschiedlichen Regionen der reformierten Landeskirche ist in dieser Zeit nichts bekannt. 123 Vgl. Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 352. – Noch näher rückten die verschiedenen evangelischen »Bekenntnisse« durch die Leuenberger Konkordie (1973). 124 Vgl. Stolz, Die Verfassungsgrundsätze von 1974, a.a.O., S. 364. Vgl. zu diesem Jubiläum Elwin Lomberg (Bearb.), Emder Synode 1571–1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973.

7. Abschluss: »Die Aufgabe, eine dialogfähige reformierte Konfessionalität zu gestalten«

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Gemeinden Bayerns zur reformierten Landeskirche gekommen waren, passte nicht nur der Name schlecht. In der gemeinsam beschlossenen Kirchenverfassung vom Juni 1988 sieht sich diese Kirche – in folgender Hierarchie – gegründet auf Jesus Christus nach dem Zeugnis des Alten und Neuen Testaments (1). Wegen der bleibenden Erwählung Israels gehört zum »Wesen und Auftrag der Kirche, Begegnung und Versöhnung mit dem Volk Israel zu suchen.« (2) »Als Urkunden des Bekenntnisstandes … gelten die altkirchlichen Bekenntnisse …, der Heidelberger Katechismus und die Theologische Erklärung von Barmen vom 31. Mai 1934«, in reformierter Tradition allerdings »vorbehaltlich weiterführender schriftgemäßer Glaubenserkenntnis« (4).125 7. Abschluss: »Die Aufgabe, eine dialogfähige reformierte Konfessionalität zu gestalten« Der gebotene Überblick hat gezeigt, dass der HEIDELBERGER in der Geschichte der niedersächsischen Reformierten eine herausragende kirchenpolitische und -praktische Funktion spielte. Es waren nicht selten – aus heutiger Sicht – »Konservative«, die sich auf ihn beriefen: Mitte des 19. Jahrhunderts Neu-Konfessionelle, die hinter der Lingener Denkschrift und anderen Einigungsbestrebungen standen, zu Beginn der Landeskirche Konfessionalisten wie F.W. Cuno, im Zusammenhang mit der Kirchenverfassung von 1922 und in den 20er Jahren Kohlbrüggianer wie P. Schumacher, J.Th. Horn und W. Hollweg, im Zusammenhang mit dem wichtigen Landeskirchentag von 1936 die eher legalistische Kirchenleitung, die »Mittelpartei« sowie die eigentlich marginalisierten Deutschen Christen (auch wenn die eigentlichen theologischen Liebhaber des HEIDELBERGERs in der BG anzutreffen waren), nach 1945 die theologisch gelegentlich als »neo-orthodox« bezeichneten »Barthianer«. Der HEIDELBERGER wirkte – auch ohne eindeutigen Verfassungsrang. Er wirkte nicht zuletzt im kirchlichen Leben und prägte so etwas wie eine »reformierte Mentalität«, auch wenn dies historiographisch schwierig aufzuweisen ist. In den zurückliegenden drei Dekaden ist die reformierte Landeskirche verstärkt eine das niedersächsische Territorium nach Nord, Ost und Süd weit übergreifende Konfessionskirche geworden.126 Die angebotene 125

Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland) vom 9. Juni 1988, in: Gesetz- und Verordnungsblatt der Evangelisch-reformierten Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Nordwestdeutschland [und Bayern?]) 16, Nr. 1, 15. August 1988, S. 1–23, hier: S. 3: I. Verfassungsgrundsätze, § 1 Grundlegung. 126 Bereits vorher gehörten mit Lübeck und Stuttgart (1952) Gemeinden außerhalb des niedersächsischen Territoriums zur Landeskirche; Altona, 1923 zur Landeskirche ge-

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»In Einigkeit des wahren Glaubens«

volle synodale Gemeinschaft hat die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen im Jahr 2009 allerdings nicht angenommen, so dass es hier nach knapp 175 Jahren nicht zu einer »Wiedervereinigung« von Landes- und Freikirche gekommen ist. Mit der Verfassung von 1988, deren Anfangsbestimmungen auf die Reform von 1970 zurückgehen, ist sie eine auch statuarisch bekenntnisbestimmte Kirche. Ob sie damit innerhalb des deutschen volkskirchlichen Protestantismus überlebensfähiger ist als kleine Territorialkirchen wie etwa die Lippische Landeskirche, prophezeit nicht der Historiker, sondern das wird die Zukunft erweisen. Auch zukünftig wird sicherlich mehr oder minder regelmäßig die Frage nach einer stärker konstitutionalisierten niedersächsischen Konföderation, also nach einer niedersächsischen oder nordwestdeutschen Kirche auftreten. Weniger »Bekenntnis«, sondern nicht zuletzt die gesellschaftlich-ökonomischen Kontexte werden hier wahrscheinlich ausschlaggebend sein. Allerdings fungierte die reformierte Kirche in der zurückliegenden Generation als Sammelbecken reformierter Gemeinden aus ganz Deutschland, weshalb sie seit der Verfassung von 1988 auch nicht mehr den Namen einer »Landes[!]kirche« führt, wie es seit 1949 in der Verfassung gestanden hatte. Möglicherweise wird sie sich deshalb wie bei ihrer Gründung weiterhin vor allem als bekenntnisbestimmte Kirche erweisen, für die Territorialgrenzen jedenfalls nicht allein konstitutiv sind.127 Es wird also auch in Zukunft merkwürdig anmuten, auf einer Landkarte des deutschen Protestantismus die Evangelisch-reformierte Kirche eingezeichnet zu sehen. Sie liegt wegen ihrer Geschichte und Gegenwart irgendwie quer.

kommen, war 1976 ausgegliedert worden, um sich der freien reformierten Gemeinde in Hamburg anzuschließen. Diese ist im Übrigen seit 2012 Gemeinde der ErK. 127 Dass eine Bekenntnisorientierung nicht abschottet, sondern in den Dialog führt, hat der 2013 gewählte Kirchenpräsident Martin Heimbucher in seiner »Bewerbungsrede« vor der Synode am 21. Juni 2013 angemerkt: »Konfessionalismus … ist von gestern. Aber eine dialogfähige reformierte Konfessionalität zu gestalten, das bleibt unsere Aufgabe.«

»Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden«1 Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert »Ein Catechismus, dessen Schicksale so zahlreich und merckwürdig [sind], daß wir sie nicht in wenige Blätter einschliessen, und allhier erzehlen können.«2

1. Einleitung 1.1 Erinnerungen Eher randständig war der Gebrauch des HEIDELBERGER KATECHISMUS im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in den meisten reformierten volkskirchlichen Gemeinden in Deutschland zu nennen. Zur Konfirmation Palmarum 1981 mussten wir Konfirmanden einer kleinen ostfriesischen Gemeinde die Frage 1 gemeinsam vorlesen (!) – von den Inhalten etwaiger vorangegangener katechetischer Erklärungen des Post-68erPfarrers ist mir nichts mehr erinnerlich. »Form und Maß« hatte dieser kirchliche Unterricht jedenfalls nicht durch den HEIDELBERGER bekommen, wie es laut kurpfälzischer Kirchenordnung von 1563/64 ursprünglich Zweck gewesen war. Als ich im Wintersemester 1986 Theologie zu studieren begann, war die erste Dogmatik-Vorlesung eine zwei1

Genaues Zitat: »Überall, wo er verloren geht, wird wahrscheinlich sehr bald das reformierte Wesen überhaupt verschwinden.« August Lang, Zum 350jährigen Jubiläum des Heidelberger Katechismus, in: RKZ 63 (1913), S. 17–20, hier: S. 18. – Dieser Teilabdruck meines Vortrags auf der Tagung »450 Jahre Heidelberger Katechismus. Erfolgsgeschichte und Bedeutung eines Klassikers der Christentumsgeschichte«, die in Kooperation der badischen und pfälzischen Kirchengeschichtsvereine am 18. und 19. Januar 2013 in der Evangelischen Akademie der Pfalz in Landau stattfand, basiert auf den Studien, die zu meinen Beiträgen zum Jubiläumsjahr notwendig waren: Hans-Georg Ulrichs, »Akkurat orthodox«, doch von »relativer Autorität«. Wirkungsgeschichten des Heidelberger Katechismus, in: Martin Heimbucher / Christoph Schneider-Harpprecht / Aleida Siller (Hg.), Zugänge zum Heidelberger Katechismus. Geschichte – Themen – Unterricht, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 65–76; ders., Der Heidelberger Katechismus im 20. Jahrhundert am Beispiel Karl Barths (Unterrichtsentwurf für die Sek. II), auf der CD Didaktische Zugänge zum Heidelberger Katechismus. Ein Handbuch für die Praxis mit Unterrichtsentwürfen (gehört zum zuvor genannten Werk); ders., Kritiek op de Heidelbergse Catechismus, in: Arnold Huijgen / John V. Fesko / Aleida Siller (Hg.), Handboek Heidelbergse Catechismus, Utrecht 2013, S. 147–158 (deutsch: Gütersloh 2014, S. 130–140). 2 So wurde bereits Mitte des 18. Jahrhunderts resümiert: Johann Christoph Koecher, Catechetische Geschichte der Reformirten Kirchen, in welcher sonderlich die Schicksale des Heidelbergischen Catechismi ausführlich erzehlet werden, aus bewährten Urkunden und Schriftstellern verfaßet und an das Licht gegeben, Jena 1756, S. 170.

282 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« semestrige Auslegung des HEIDELBERGERs durch Jürgen Fangmeier in Wuppertal – gewiss ein Privileg für einen angehenden reformierten Theologen. Kaum etwas anderes hat seit dem meinen reformierten Glaubensstil und meine Theologie geprägt wie der HEIDELBERGER. Auch in der unierten Landeskirche Badens, deren Ordnungen ich in der Ordination 1998 zu wahren versprochen habe, besitzt der HEIDELBERGER Bekenntnisrang. Ob mein Wechsel ins Pfarramt der Heidelberger Universitätskirche drei Jahre vor dem letzten Jubiläum des HEIDELBERGERs hominum confusione oder providentiae Dei geschah, ist dagegen nicht so klar zu identifizieren. Sicher ist: Der Verfasser ist in mehrfacher Hinsicht ein »Heidelberger«. 1.2 Vorüberlegungen Der Heidelberger Katechismus hatte bei der »Sammlung« reformierter Kräfte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle gespielt. Auch wenn reformierterseits Bekenntnisse nicht als kirchengründend angesehen wurden, sammelte man sich doch sowohl in den reformierten Landes- und Freikirchen als auch bei den vereinsmäßig verbundenen Reformierten um diese Bekenntnisschrift. Sah man sich als konfessionelle Minderheit ohnehin schon zumeist in einer bedrängten Situation, wurden äußere Angriffe auf den HEIDELBERGER und innere Erosion seines Gebrauchs besonders sensibel, nicht selten auch alarmistisch wahrgenommen. Dies ist bei den Akteuren der Jubiläen 1913, wie es im Zitat in der Überschrift anklingt, genauso festzustellen wie ein halbes Jahrhundert später in den ersten Jahren nach dem Jubiläum 1963: »Ist aber erst der Heidelberger abgeschafft, dann hat es ein Ende mit der reformierten Kirche.«3 Das Jubiläum 1863 markiert eine neue Aufmerksamkeit für den HEIDELBERGER, mit der die konfessionellen Konsolidierungen des nächsten Halbjahrhunderts erfolgreich betrieben werden konnten. Im folgenden Halbjahrhundert zwischen den Jubiläumsjahren 1913 und 1963 kommt es zu einer starken theologischen Beachtung dieser theologischen Grundschrift, während danach eine zunächst schleichende, dann aber doch rapide Erosion des katechetischen Bewusstseins von Theologie und Kirche nicht aufzuhalten gewesen zu sein scheint. Nichts desto weniger gehörte der theologische Rekurs auf den HEIDELBERGER und die kirchliche Praxis mit ihm zu den Signaturen des reformierten Protestantismus im 20. Jahrhundert wie auch zu seinen sich selbst vergewissernden »Erinnerungsorten«. Insofern ist die Fokussierung seiner Geschichte im 20. Jahrhundert – mitsamt seiner »Vorgeschichte« im 19. 3

So Superintendent Heinrich Höhler (1907–1995), Elberfeld, an Wilhelm Niesel, 19. Dezember 1966, in: LLK, Dep. Reformierter Bund, Nr. 346 [41.16], Heidelberger Katechismus 1963–1967.

1. Einleitung

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Jahrhundert – ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Reformierten im zurückliegenden Jahrhundert. Bereits zum Jubiläum vor einem halben Jahrhundert wurde 1963 festgestellt, dass der HEIDELBERGER »seinen Lauf rund um die Welt angetreten hat und durch Jahrhunderte hindurch das Glaubensdenken von Christen verschiedensten Kulturstandes und verschiedensten Kulturraumes maßgeblich beeinflußt hat.«4 Aber neben einer Orientierung im Denken sei der HEIDELBERGER zum »das religiöse Leben nährenden Bekenntnisbuche geworden«.5 Manche gehen sogar noch weiter in ihrer Einschätzung: »Nicht dogmatisches Lehrbuch, sondern Lebenshilfe zum Glauben sollte er [sc. der Heidelberger Katechismus] sein.«6 Karl Barth spricht zu recht von den »Überlieferungen in Lehre und Leben«.7 Der HEIDELBERGER ist wichtig für das kirchliche Leben und die Theologien des weltweiten reformierten Protestantismus, wichtig für reformierte Selbstbestimmungen im Glauben und Leben seit 450 Jahren, wichtig so auch als Band kirchlicher Gemeinschaft rund um den ganzen Globus; er hat also über Zeiten und Räume hinweg eine »ökumenische Funktion« ausgeübt. Wir fokussieren im Folgenden nicht nur, aber doch vor allem deutsche Verhältnisse, obwohl wir wissen, dass größere Teile dieser Geschichten eigentlich namentlich in den Niederlanden,8 dann auch in den USA9 und zunehmend in Asien und Australien aufzufinden sind.10 Auch in früheren wirkungsgeschichtlichen Abhandlungen werden die deutschen Territorien und Regionen aufgeführt, in denen der HEIDELBERGER als Bekenntnisschrift zur Geltung gelangte. Entsprechend ent4 Lothar Coenen (Hg.), Handbuch zum Heidelberger Katechismus, Neukirchen 1963, S. 62. 5 Moritz Lauterburg, Art. Heidelberger Katechismus, in: RE X (1901), S. 164–173, hier: S. 173. 6 Lothar Coenen, Wort Gottes und Heiliger Geist, in: ders., Handbuch, a.a.O., S. 81– 90, hier: S. 81. 7 Karl Barth, Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe (1923), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze, Zürich 1990, S. 202– 247, hier: S. 210. 8 Vgl. Frank van der Pol, De receptie van de Heidelbergse Catechismus in de noordelijke Nederlanden, in: Huijgen/Fesko/Siller, Handboek, a.a.O., S. 123–133. Vgl. auch die Beiträge von Frank van der Pol, Herman Selderhuis und Wim Verboom in: Christoph Strohm (Hg.), Profil und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Internationales Symposium vom 8. bis 11. Mai 2013 in Heidelberg (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte), Gütersloh 2014. 9 Vgl. Jan Stievermann, Der Heidelberger Katechismus in Nordamerika: Von der Kolonialzeit bis zum Bürgerkrieg, in: EvTh 72 (2012), S. 432–443; Daniel Silliman, Der Heidelberger Katechismus in Nordamerika: Vom Bürgerkrieg bis heute, in: a.a.O., S. 445–457. Vgl. auch die Beiträge von Francis Bremer, Kenneth Minkema und Jan Stievermann in: Strohm, Profil, a.a.O. 10 Vgl. auch Joel R. Beeke / Eric D. Bristley, De receptie van de Heidelbergse Catechismus buiten Europa, in: Huijgen/Fesko/Siller, Handboek, a.a.O., S. 135–145.

284 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« standen auch jeweils dort Bearbeitungen und Fortführungen, Kommentare und Predigten, die ebenfalls zur theologischen Rezeption gehören11 und die auch direkt ins Leben der Menschen hineinwirkten. Wir müssen also im Folgenden die verschiedenen reformierten Regionen wie auch die unterschiedlichen Gruppierungen des pluralen reformierten Protestantismus beachten. Der reformierte Protestantismus ist nicht ausschließlich vom HEIDELBERGER geprägt worden; wenn sich in ihm jedoch – neben ganz überwiegend Gemein-Protestantischem – typisch Reformiertes widergespiegelt findet, wäre mentalitätsgeschichtlich mit guten Gründen anzunehmen, dass er dann besonders solche Prägungen verstärkt hat. Was aber kann es realhistorisch bedeuten, wenn der HEIDELBERGER den reformierten Protestantismus christuszentriert (der einzige Trost), rational (was zu wissen nötig ist) und ethisch (Von der Dankbarkeit) formatiert hat? Folgt daraus auch eine rationale Lebensführung? Folgt aus der Pluralisierung und dem Aufbau der Kirche von der Gemeinde her eine politische Präferenz für die freiheitliche Demokratie mitsamt dem freien Wirtschaftsleben? Folgt aus all dem, nicht zuletzt aus der Christuszentrierung, eine erhöhte Resilienz, ja ein Widerstandspotential gegen gesellschaftliches und politisches Unrecht – etwa im Kampf gegen die Weltanschauungsdiktaturen und gegen staatlich legitimiertes Unrecht des 20. Jahrhunderts? 2. Konfessionelle Renaissancen: Das 19. Jahrhundert Der HEIDELBERGER lag in reformierten Stammlanden in Deutschland seit dem Konfessionellen Zeitalter dem kirchlichen und schulischen Unterricht und mancher Katechismuspredigt zu Grunde, etwa in Ostfriesland, Bentheim, Lippe, am Niederrhein, in Hessen und der Pfalz sowie in reformierten Gemeinden in Hannover, Brandenburg, SachsenAnhalt, Thüringen, Sachsen und Bayern. Aber selten war die Geltung völlig uneingeschränkt. In Lippe hatte die Kirchenordnung von 1684 noch bestimmt: »Die Catechisation sol eingerichtet werden nach der Ordnung und Abtheilung des Heidelbergischen Catechismi …« (Kap. 8,11–13). Nichts desto weniger etablierte sich auch dort im 19. Jahr11

Einen wahren Thesaurus von HEIDELBERGER-Auslegungen, leider ohne Nachweise und ohne wissenschaftliche Qualität, bietet Friedrich Wilhelm Cuno, Der Heidelberger Katechismus erklärt mit den Worten bewährter Lehrer der reformierten Kirche alter und neuer Zeit, nebst allerlei Beigaben, Prag 1897 (erschienen als Beilage der »Evangelisch reformierten Blätter aus Österreich« 1891–1896). Vgl. auch Heinrich Simon van Alpen, Geschichte und Litteratur des Heidelbergischen Katechismus, oder kurze Geschichte der Reformation in der Pfalz, Schweiz, in Holland, England, Deutschland, Pohlen und Ungarn, Frankfurt am Main 1800 (über 400 Seiten!).

2. Konfessionelle Renaissancen: Das 19. Jahrhundert

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hundert mit Ferdinand Weerths Leitfaden ein zeitgenössisches Unterrichtsbuch.12 Wie in anderen Territorien kam es Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Lippe zu einem großen »Katechismusstreit« um die Frage, ob aufgeklärte Traditionen fortgesetzt oder der HEIDELBERGER wieder vollständig eingeführt, also restituiert werden sollte. In Lippe entschied eine Mehrheit zunächst noch gegen den HEIDELBERGER, bis er 1858 als verbindliches Lehrbuch wieder eingeführt wurde.13 Auch in Hessen-Kassel musste der Heidelberger quasi zurückerkämpft werden. Ein anderes Beispiel für die relative Geltung des HEIDELBERGERs ist Emden. Obwohl dort 1571 die wichtige Emder Synode stattgefunden hatte, Emder Delegierte in Dordrecht 1618/1619 vertreten waren und für Emden durchgängig unzählige HEIDELBERGER-Drucke nachgewiesen werden können, blieb man im »Genf des Nordens« beim eigenen, dem Emder Katechismus von 1554,14 der mit zu den »Vorbildern« des HEIDELBERGERs zu zählen ist. Ihm galten die großen Auslegungen von Daniel Bernhard Eilshemius (1610/1612) und des Pietisten Eduard Meiners (1727/1740). Für den praktischen Gebrauch in den unteren Klassen wurden kleinere Werke importiert, Ende des 18. Jahrhunderts entstanden eigene Lehrbücher in Emden (Helias Meder) und andernorts, die ihren Einfluss teils bis zur Jahrhundertmitte geltend machen konnten. Ein Epochenereignis in der Geschichte des Protestantismus sind die Gründungen von »Unionen« in deutschen Territorien nach dem Wiener Kongress 1815. Die Zusammenführung der beiden Konfessionskirchen – aus welchen Motiven und in welcher konkreten Gestalt auch immer – brachte zahlreiche Fortschritte und führte mit auf den Weg zu einer wachsenden institutionellen Verselbstständigung der evangelischen Kirche. Agenden mussten geschrieben, Gesangbücher herausgegeben und die gemeinsame Lehrgrundlage festgestellt werden. Das Letztere geschah durch Gründungsurkunden und durch neu zu verfassende Katechismen, über die zumeist Streit entstand. Nicht selten hingen etablierte Kirchenleute am aufgeklärten Erbe, während es junge Konservative, oft auch Erweckliche gab, die klassisch-reformatorische Texte restituieren woll12 Abgedruckt in: Matthias Freudenberg, Reformierte Katechismen aus drei Jahrhunderten (Beiträge zur Katechismusgeschichte 10), Rödingen 2005, S. 45–111. 13 Wilhelm H. Neuser, Die Einführung des Heidelberger Katechismus in Lippe im Jahre 1602 und der Kampf um Beibehaltung im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 74 (1981), S. 57–78. Vgl. Gesine von Kloeden, »Wahrheitsmilch« oder »verschimmelter Kohl«? Eine Übersicht zu Einführung und Wirkung des Heidelberger Katechismus im Fürstentum Lippe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 183–191. 14 Vgl. Alfred Rauhaus, Einleitung, zu: Der Kleine Emder Katechismus (1554) in der Fassung von 1579, in: Reformierte Bekenntnisschriften, Band 1/3: 1550–1558, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 295–303.

286 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« ten. À la longue führten die Unionsgründungen im 19. Jahrhundert zu einer überproportionalen Zurückdrängung des HEIDELBERGERs gegenüber der lutherischen Katechismus-Tradition in den evangelischen Landeskirchen – und das mit einer konfessionsspezifischen Logik: Bekenntnisschriften sind im reformierten Verständnis nicht Kirchen gründend.15 Die Erben des lutherischen Protestantismus hielten dagegen am Konkordienbuch von 1580 fest. Reformierte Hochschulen und Lehrstühle verschwanden im 19. Jahrhundert nahezu sang- und klanglos. Gegen die volkskirchliche Mitte und gegen die Auswirkungen der Union erstanden auch reformierte Oppositionen, durchaus mit Parallelen zu den lutherischen Separationen: Zum einen sind die Altreformierten im Königreich Hannover zu nennen, die sich einem holländischen Vorbild von 1834 entsprechend vier Jahre später 1838 von der reformierten Territorialkirche in der Grafschaft Bentheim und dann auch in Ostfriesland »abschieden« und seit dem eine Freikirche bilden. Wenn auch die Differenzpunkte hier zunächst nicht die Bedeutung des HEIDELBERGERs, sondern eher die Lehrregeln von Dordrecht, ein strengeres Verständnis von Bibel und Prädestination sowie ein allgemeines Unbehagen gegen moderne Einflüsse waren, so entwickelten sich die Altreformierten doch zu den treuesten Tradenten des HEIDELBERGERs im deutschen Protestantismus und sind es bis in die Gegenwart geblieben. Zum anderen ist an den in Elberfeld tätigen niederländischen Pfarrer Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) zu erinnern, dessen Gemeinde sich den Unionsumgestaltungen widersetzt hatte und ebenfalls eine quasi-freikirchliche Existenz führte. Mit seinen biblischen Predigten, aber auch mit seinen »Erläuternden und befestigenden Fragen und Antworten zum Heidelberger Katechismus« (1851) hat er weit über seine Gemeinde hinaus gewirkt, nicht zuletzt – auch über Schüler und Nachfolger – bis hin zu Karl Barth16 und seinem Umfeld (s.u.). Mitte des 19. Jahrhunderts gewann eine neue Dynamik innerhalb des Reformiertentums mehr und mehr an Boden: Vor allem Theologen der jüngeren Generation, bewegt von erwecklichen Zusammenhängen und geprägt von einem nachrevolutionären Konservatismus, propagierten den HEIDELBERGER. Das konnte auch funktional intendiert sein, 15

»Die reformierten Gemeinden standen wegen ihrer geringen Zahl besonders in der Gefahr, von der Union absorbiert zu werden, die reformierte Kirche drohte innerhalb der Unionskirchen ganz zu verschwinden. … [sc.: Bei den Reformierten] fehlt die Wertung ›des‹ Bekenntnisses als einer die Kirche konstituierenden Größe«. Hans-Jörg Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit (AGK 28), Göttingen 1974, S. 98f. 16 Bei seiner überraschend positiven theologiegeschichtlichen Darstellung Kohlbrügges bezog Barth sich auf diese »Erläuternden und befestigenden Fragen«, vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 51985 (11947), S. 579–587, hier: S. 581–585.

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etwa in der Lingener Denkschrift von 1857, die letztlich zur Gründung der reformierten Landeskirche im Königreich bzw. (seit 1866:) der Provinz Hannover im Jahr 1882 führte: Alle Gebiete in Hannover, in denen der HEIDELBERGER in der Praxis Anwendung fand, sollten zu einer Landeskirche zusammengeführt werden. Es stellte sich dann zwar heraus, dass der HEIDELBERGER schon auf Grund der quantitativen Verteilung nur »relative Autorität« genoss, was die jungkonservativen Akteure aber nicht daran hinderte, mit dem HEIDELBERGER die Bekenntniszusammengehörigkeit zu behaupten. Zweifelsohne hat aber nicht zuletzt der HEIDELBERGER dann die teils entfernten Gebiete dieser Landeskirche in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz tatsächlich zu einem einheitlichen Kirchentum zusammengeführt – sogar das auf exponierte Selbstständigkeit beharrende Emden führte den HEIDELBERGER Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ein, während die landeskirchliche Gesamtsynode erst 1936 unter ganz anderen Herausforderungen den HEIDELBERGER zur Bekenntnisschrift erklären sollte.17 Einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der reformierten Landeskirche Hannovers war der erste Generalsuperintendent Petrus Georg Bartels; wie andere trat er für eine deutsch-reformierte Lesart des HEIDELBERGERs ein. Wie andere hat auch er das HEIDELBERGER-Jubiläum 1863 für zahlreiche Publikationen genutzt. Während wir von einem Jubiläum des HEIDELBERGERs 1813 kaum etwas in Erfahrung bringen können, waren doch die Zeiten der napoleonischen Kriege zu unruhig, stellt das Jubiläum fünfzig Jahre später einen Meilenstein für die Reformierten dar.18 In diesem Zusammenhang sind etwa die Ausleger Karl Sudhoff19 und später dann Hermann Dalton sowie Otto Thelemann20 17

Vgl. dazu Hans-Georg Ulrichs, »In Einigkeit des wahren Glaubens« (HK 54). Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover, in: Ehmann, Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches, a.a.O., S. 131–163 (Wiederabdruck in diesem Band). 18 Vgl. Detlef Metz, Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus in Deutschland im Jahr 1863, in: JbWKG 108 (2012), S. 199–222. 19 K. Sudhoff edierte auch Olevians »Vester Grund« (1854, 21857), verfasste die epochale Doppelbiographie über Olevian und Ursin (1857) sowie den wichtigen Artikel Heidelberger Katechismus in der ersten Auflage der RE. Vgl. die ausführliche Biographie Sudhoffs von Friedrich Wilhelm Graf, Art. Sudhoff, Karl Jakob, in: BBKL XI (1996), S. 183–208. F.W. Graf beschreibt Sudhoff trotz seines großen Auftaktes bei »Religion« in seinem Handbuch gerade nicht als liberal, sondern als konfessionalistisch. Sudhoff war römisch-katholischer Konvertit. 20 O. Thelemann berichtete auch von der Deutschland weiten, in Detmold stattfindenden Konferenz reformierter Prediger, Ältesten und Kandidaten vom 7. bis 9. Juli 1863, in: RKZ 13 (1863), S. 273ff.; vgl. auch Metz, 300. Jubiläum, a.a.O., S. 206–210. Vgl. Johannes Ehmann, »Gedrängt, aber nicht übermocht – bekämpft, doch nicht überwunden«. Der Heidelberger Katechismus im Wirken Karl Otto Thelemanns (1828–1898),

288 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« zu nennen oder auch Predigten und anderes Schriftgut besonders aus Elberfeld, der vielleicht größten und bedeutendsten reformierten Gemeinde in Deutschland.21 Unverkennbar waren es aber die dezidiert konservativen und konfessionalistischen Vertreter wie Adolph Zahn oder Friedrich Wilhelm Cuno, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den HEIDELBERGER propagierten. Besonders blühte die kirchenhistorische Wissenschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte. Neben dem erwähnten neureformierten-calvinistischen Konfessionalisten K. Sudhoff legte geradezu als Antipode Heinrich Heppe zahlreiche Arbeiten, darunter auch zum HEIDELBERGER, vor, mit dem er im ›melanchthonischen‹ Geist die Kirchenunion stärken wollte. In den Niederlanden – konfessionell unterdes durchaus diversifiziert22 – erwarben sich Maurits Albrecht Gooszen, Gilles D.J. Schotel und Jacob Isaak Doedes große Anerkennung und fanden auch in Deutschland Resonanz. Neben den traditionell reformierten Gebieten beging man auch in der badischunierten Kurpfalz das Jubiläum; Carl Ullmann23 unterhielt ohnehin Kontakte zu niederländischen Theologen. Besonders bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass neben den niederländischen Arbeiten nun auch Bücher aus den USA zur Kenntnis genommen werden konnten (James I. Good, Philipp Schaff, John W. Nevin).24 Das 19. Jahrhundert in: ders., Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches, a.a.O., S. 107–117. 21 Besonders zu beachten ist der voluminöse Band: Der einige Trost im Leben und im Sterben. Dargelegt in Predigten verschiedener Verfasser über den Heidelberger Katechismus. Hg. zum Gedächtnis der 300-jährigen Jubelfeier des Katechismus von den Pastoren der reformirten Gemeinde zu Elberfeld, Elberfeld 1863. Vgl. Metz, 300. Jubiläum, a.a.O., S. 210f. 22 »Im Allgemeinen wird der Katechismus in unserem Vaterlande [sc. NL] von den Orthodoxen sehr hochgeschätzt, und auch die Liberalen, wiewohl sie nicht vollkommen mit seinen Lehrsätzen übereinstimmen, achten ihn doch als ein ehrwürdiges Denkmal der großen Vorzeit.« (G.D.J. Schotel) Der HEIDELBERGER hielt also unterschiedliche Strömungen innerhalb einer Konfession zusammen. 23 Ullmann engagierte sich natürlich im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1863, vgl. etwa ders., Einige Züge aus der Geschichte des Heidelberger Katechismus, in: Studien und Kritiken 36 (1863), S. 631–670. 24 Gedenkbuch der dreihundertjährigen Jubelfeier des Heidelberger Katechismus in der Deutsch-Reformirten Kirche der Vereinigten Staaten, Chambersburg u.a. 1863; über die amerikanischen Feiern berichtet zeitgenössisch aktuell Philipp Schaff, Geschichte, Geist und Bedeutung des Heidelberger Katechismus. Ein Beitrag zur dreihundertjährigen Jubelfeier, in: Zeitschrift für die historische Theologie 1864, S. 323–377, hier: S. 373–377. Im 19. Jahrhundert existierten durchaus geschlossene deutsche oder niederländische reformierte Milieus in den USA, wo der HEIDELBERGER gepflegt wurde und deren Literatur auch in Europa zur Kenntnis genommen werden konnte. So erschien noch in den 80er Jahren eine umfangreiche deutsche Predigtsammlung: Reformirte Heilslehre vom einigen Trost im Leben und im Sterben. Predigten über den Heidelberger Katechismus, bearbeitet von einer Anzahl Prediger der Reformirten Kirche in den Vereinigten Staaten, Cleveland (Deutsches Verlagshaus) 1882 (588 Seiten!). – N.b.: Das

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endet für den HEIDELBERGER mit dem zweiten opus magnum des niederländischen Theologen, Journalisten und (Kirchen-)Politikers Abraham Kuyper, seinem vierbändigen Werk »E voto dordraceno«, in dem die kursorische Auslegung des HEIDELBERGERs in der neocalvinistischen Zeitung »De Herauld« wiedergegeben ist. Ins Deutsche wurde dieses Mammutwerk nicht übersetzt, fand jedoch durch Berichte und Besprechungen in den reformierten Medien eine weite Beachtung. Von Bedeutung war ebenso Jan Bavinks groß angelegte Auslegung kurz nach der Jahrhundertwende (1903ff.). 3. Pluralisierungen und Widerstände: Das 20. Jahrhundert25 3.1 Reformierte Flügel, Gruppen und Landeskirchen bis zum Kirchenkampf 26 Den Reformierten, die um 1900 mehrheitlich »positiv« (zwischen mildethisch bis eher erwecklich) eingestellt und kirchlich und gesellschaftlich unauffällig waren, gelang mit dem Calvin-Jubiläum 1909 ein Neuaufbruch.27 Die Theologieprofessoren E.F. Karl Müller aus Erlangen und August Lang aus Halle hatten maßgebliche historische Arbeiten über Calvin vorgelegt und waren – wie bereits zuvor – auch 1913 zum HEIDELBERGER-Jubiläum publizistisch engagiert.28 Ebenso beging man in den Zentren des reformierten Protestantismus dieses Jubiläum, etwa Jubiläumsjahr des HEIDELBERGERs war inmitten des amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865), die Schlacht von Gettysburg fand im Sommer 1863 statt. 25 Zur Erforschung des HEIDELBERGERs im 20. Jahrhundert (und damit auch zu dessen jeweiliger Rezeption) vgl. Paul W. Fields, Bibliography of Research on the Heidelberg Catechism since 1900, in: Lyle D. Bierma u.a. (Hg.), An Introduction to the Heidelberg Catechism. Sources, History and Theology, Grand Rapids 2005, S. 119–133. 26 Vgl. die Überblicksdarstellung Georg Plasger, Safekeeping and Sifting: Observations on the German Reformed Tradition, 1900–1930, in: Journal of Reformed Theology 6 (2012), S. 143–164. 27 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens.« Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 231–265 (Wiederabdruck in diesem Band). 28 Etwa: August Lang, Der Heidelberger Katechismus. Zum 350jährigen Gedächtnis seiner Entstehung (SVRG 113), Leipzig 1913. August Lang war ein ganz früher Ökumeniker; 1914 unternahm er eine Amerika-Reise und hielt mehrere Vorträge, die dann auch in den USA gedruckt wurden; vgl. August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010, S. 112–121. Die deutsche Fassung eines Vortrags: ders., Der theologische Charakter des Heidelberger Katechismus, in: ders., Reformation und Gegenwart. Gesammelte Aufsätze vornehmlich zur Geschichte und zum Verständnis Calvins und der reformierten Kirche, Detmold 1918, S. 254–271 (auch in: ThStK 89 [1915], S. 138–157).

290 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« in Barmen-Gemarke.29 Allerdings gab es wohl wegen des Ersten Weltkrieges kaum Nachwirkungen dieser Bemühungen, zumal dann in den 20er Jahren andere, weitaus umstürzendere Gedanken auch bei den Reformierten diskutiert wurden. Derart große Werke wie von James I. Good30 in den USA entstanden um 1913 in Deutschland nicht. Vor allem im Umfeld des 1884 gegründeten Reformierten Bundes und des rheinischen Reformiertentums pflegte man das HEIDELBERGER-Erbe, sei es im pietistischen Sinne wie etwa von August Lang31, sei es in kohlbrüggianischer Tradition wie im Umfeld des »Korrespondenzblatts der Freunde des Heidelberger Katechismus« (1904–1924) und der »Biblischen Zeugnisse. Monatsblatt der Freunde des Heidelberger Katechismus« (1903–1940), wofür die Namen von Fritz Horn, Wilhelm August Langenohl oder auch Peter Schumacher stehen.32 Innerhalb des deutschen Reformiertentums konnten sich also Pietisten wie auch »AntiPietisten« auf den HEIDELBERGER beziehen – als antiliberal verstanden sich beide. Würdigungen des Katechismus außerhalb des reformierten Traditionsspektrums blieben dagegen weithin ohne Resonanz. Ein revidierender Blick lohnte sich möglicherweise hinsichtlich der Frage, ob es auch theologisch liberale und kulturprotestantische Auslegungen des HEIDELBERGERs gab, da Theologen dieser Tradition seit der Vorherrschaft der Theologie Barths aus der Erinnerungsgemeinschaft der Reformierten verschwanden. So widmete Wilhelm Gustav Adolf Meyer seine »Gedanken und Bemerkungen zum Heidelberger Katechismus« (1921; fertig gestellt bereits 1917) bezeichnenderweise dem Nestor der liberalen Praktischen Theologen Friedrich Niebergall. »Natürlich konnte ich die Dinge nur so darstellen, wie ich sie zu sehen vermag, und es 29

Vgl. die Festschrift der Gemeinde: Was haben wir heute noch an unserem Heidelberger Katechismus? Zur Erinnerung an den 19. Januar 1913, hg. vom Presbyterium der Reformierten Gemeinde Gemarke, Elberfeld 1913. 30 James I. Good, The Heidelberg Catechism in its Newest Light, Philadelphia 1914. 31 Im Jahr der Gründung des Reformierten Bundes trug in typischer Manier vor der nachmalige Moderator und Schwiegervater August Langs: Heinrich Calaminus, Die Geschichte des Heidelberger Katechismus in Deutschland. Vortrag gehalten am Montag, den 8. Dezember 1884 zu Elberfeld (Vorträge zur Förderung und Belebung des reformirten Bekenntnisses 1), Elberfeld 1885. Vgl. auch E.F. Karl Müller, Symbolik. Vergleichende Darstellung der christlichen Hauptkirchen nach ihrem Grundzuge und ihren wesentlichen Lebensäusserungen, Leipzig 1896, S. 438–442. 32 Vgl. aus diesem Umfeld die umfangreiche Auslegung von Emanuel Felke, Das Siegel des Bundes. Betrachtungen zum Heidelberger Katechismus, Krefeld 1921. Diese Auslegungen, »die er in regelmäßigen Zusammenkünften mit einem niederrheinischen Freundeskreise« gab, erschienen zunächst im »Korrespondenzblatt«. – E. Felke, befreundet mit dem erzkonservativen Adolph Zahn und verehrt von vielen, hat die Homöopathie entscheidend weiterentwickelt und ist weltweit als »Lehm-Pastor« und mit der »Felke-Methode« berühmt geworden – Felke war gewiss ein »Original«, um das mindeste zu sagen. Vgl. den Nekrolog von Fritz Horn, in: Korrespondenz-Blatt der Freunde des Heidelberger Katechismus 24 (1926), Nr. 9 vom 15. September 1926, S. 71f.

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liegt mir fern, anderen Auffassungen in ihrer berechtigten Eigenart zu nahe treten zu wollen.«33 In der kursorischen Interpretation des Katechismus schlugen bei Meyer volkskirchlich-liberaltheologische Ansätze durch wie eine Kritik am Apostolikum oder einem zu naiven Verständnis der Bibel, gäbe es doch nach dem Ende der Inspirationslehre gar keine Schriftbeweise mehr. Auch Fichte, Goethe und Schiller oder »Das Buch der Gottesfreunde«34 waren ihm belehrende und resümierende Zitate wert. Nicht selten meinte der Ausleger auch dem Katechismus nicht mehr folgen zu können, sondern suchte nach zeitgemäßen Interpretamenten, wie man persönlich Glaubenswahrheiten annehmen könnte (mit Wendungen wie: »Wir sollten heute jedenfalls so weit sein …«35). In den Fragen 3–9 sah Meyer die »Religion« »hinter der Theologie des 16. Jahrhunderts« derart verschwinden, »daß man niemandem zumuten sollte, den Worten des Katechismus in allen Stücken zuzustimmen.«36 Meyer vertrat hier eher eine »Willensfreiheit« und eine Schleiermacher’esk anmutende Christologie. Er empfahl, solche Katechismus-Fragen gar nicht im Unterricht zu traktieren. Meyer bemühte sich um eine aus seiner Sicht zeitgemäße Rezeption des alten Textes. Einem derart liberalen Umgang steht schroff gegenüber, was von konfessionalistischen Konservativen zu vernehmen war und was kaum anders als ein Versuch einer Restitution zu bezeichnen ist: Über mehrere Länder hinweg (Schweiz, Holland, Deutschland – durchaus mit Unterschieden!) wirkten die »Jungreformierten«,37 die sich konservativ konfessionell deutlicher profilieren wollten und aus deren Umfeld auch HEIDELBERGER-Interpretationen stammen, etwa die von Max Frick (1932) aus der Schweiz. Hier wird im HEIDELBERGER ein Zeugnis aus Zeiten gesehen, »die klare, gerade Grundlinien der Erkenntnis besaßen«.38 Während der theologisch liberale W.G.A. Meyer noch absichts33 Wilhelm Gustav Adolf Meyer, Gedanken und Bemerkungen zum Heidelberger Katechismus. Ein Hilfsbuch für den Unterricht, Gießen 1921, S. 5. – Biographisch ist kaum etwas über den kurhessischen Pfarrer W.G.A. Meyer (1877–1936) in Erfahrung zu bringen, der von 1906 bis 1921 Pfarrer im hessischen Spielberg war, vgl. KurhessischWaldeckisches Pfarrerbuch, Zweiter Band: Pfarrergeschichte des Sprengels Hanau (»Hanauer Union«) bis 1968, bearb. von Max Aschkewitz, Erster Teil (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 33), Marburg 1984, S. 417f. 34 Untertitel: Deutsche Stimmen der Gegenwart über Gott und Religion, gesammelt und hg. von Karl Josef Friedrich, Gotha 1917. 35 Meyer, Gedanken und Bemerkungen, a.a.O., S. 75. 36 Meyer, Gedanken und Bemerkungen, a.a.O., S. 73. 37 Vgl. Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf (BGLRK 37), Neukirchen 1974, S. 29-45. – In der Schweiz waren die »Jungreformierten« dezidiert politisch konservativ, vgl. Peter Aerne, Religiöse Sozialisten, Jungreformierte und Feldprediger. Konfrontationen im Schweizer Protestantismus 1920–1950, Zürich 2006. 38 Max Frick, Reformierter Glaube. Eine Darstellung der biblischen Lehre an Hand des Heidelberger Katechismus (Reformierte Schriften 9), Zürich 1932, S. 3. – Die Ausliefe-

292 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« voll zeitgemäß sein wollte, waren die Jungreformierten in ihrem Selbstverständnis gegenwartsskeptisch und antimodern: Durch die Ablösung von reformatorischen Einsichten während des zurückliegenden Jahrhunderts habe man sich »Menschenmeinungen, Zeitweisheiten und Gelehrtenfündlein ausgeliefert.«39 Die Jugend wüchse »in einem Chaos von Meinungen auf«, die Aufgabe zu unterrichten stelle sich »in dieser Zeit der allgemeinen Auflösung und Verwirrung«.40 Der »Fortschrittsglaube« als zeitgenössische »Modeweisheit« habe indes dazu geführt, dass Glaubenswissen verloren gegangen sei. Deshalb müsse man auf Traditionsgut zurückgreifen, etwa auf den Katechismus: »Ohne auf alle Fragen, die uns in der Gegenwart, vorgelegt werden, zu antworten, gibt er doch auf die zentralsten Fragen des christlichen Glaubens und Lebens die Antwort so klar, daß wir auch heute noch in ihm den Ausdruck reformierter Lehre finden.«41 Frick bemerkte nicht, wie sein Versuch, eine nicht gegenwartsbezogene Lektüre auch und gerade gegen den von ihm konstatierten »Zeitgeist« vorzunehmen, ebenso eine kontextuelle Lektüre darstellt. Es gab also Rezeptionen des HEIDELBERGERs sowohl durch Liberale als auch durch Konservative. Erstaunlich oft veröffentlichten Gemeindepfarrer ihre Skripte, mit denen sie im kirchlichen Unterricht oder bei Predigten im HEIDELBERGER unterwiesen.42 Diese sind überwiegend milde konservativ. Freilich wird man in der Einschätzung nicht ganz falsch liegen, dass die Stimmen innerhalb des Reformierten Bundes und die in der RKZ veröffentlichten Artikel den quantitativ deutlich dominierenden mainstream der deutschen HEIDELBERGER-Rezeption wiedergeben. In den 20er Jahren stritten Reformierte um die Wahrnehmung ihrer Konfession und wehrten sich – in nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments notwendig auf der Agenda stehenden Debatten – gegen eine Gestaltgebung von Kirche, insofern Bestimmungen darin mit reformierten Grundsätzen unvereinbar waren.43 Auch hierbei ging es weniger um eine bloß institutionelle Etablierung des Bekenntnisses an sich, als vielmehr um die aus dem Bekenntnis zu folgernden Sachverhalrung in Deutschland geschah über die Buchhandlung des Neukirchener Erziehungsvereins, geworben wurde in der RKZ. Wir können also annehmen, dass dieses Buch auch von den deutschen Reformierten beachtet worden ist. 39 Frick, Reformierter Glaube, a.a.O., S. 3. 40 Frick, Reformierter Glaube, a.a.O., S. 4. 41 Frick, Reformierter Glaube, a.a.O., S. 3. 42 Neben dem genannten Meyer seien beispielhaft aufgeführt: Albert Doht (1894– 1896) und Hermann van Senden (1928) aus Lippe sowie der altreformierte Egbert Kolthoff (1937). Eine kleine Übersicht bietet Paul Gabriel, Vom neuen Menschen in Christus. Erläuterungen zum Heidelberger Katechismus – nach der in der Provinz Sachsen gebrauchten Ausgabe – für den Konfirmanden-Unterricht, Halle (Saale) 1927. 43 Nach wie vor unverzichtbar: Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O.

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te. Dennoch wurde auch die Bedeutung des formalen Bekenntnisses erkannt. Die neue Kirchenordnung in Lippe von 1931 bekräftigt den HEIDELBERGER als Bekenntnisgrundlage. Besonders der Landessuperintendent Wilhelm Neuser protegierte den HEIDELBERGER, 1938 erschien unter dessen Ägide eine Maßstäbe setzende KatechismustextAusgabe der Lippischen Landeskirche.44 Erst 1936, als die theologischen Turbulenzen um das Bekenntnis im nationalsozialistischen Staat bereits beendet zu sein schienen, die schweren Verfolgungen der Kirche aber noch bevorstanden, wurde der HEIDELBERGER in reformiert Hannover durch die Synode zur Bekenntnisschrift erklärt (s.o.). Und so agierten nicht nur Kirchenleitungen: Auch die 800 Pfarrer, Ältesten und Gemeindeglieder, die sich im Frühsommer 1933 hinter Hermann Albert Hesse als Sachwalter reformierter Interessen bei den DEK-Umbauplänen stellten, bezogen sich auf den HEIDELBERGER »als der maßgebenden reformierten Bekenntnisschrift«.45 Der HEIDELBERGER erfüllte also landeskirchlich durchaus auch kirchenpolitische Funktionen: Ekklesiologische Profilierungen im Kirchenaufbau in der ersten Demokratie und Absicherung des Kirche-Seins in der totalitären NS-Diktatur. 3.2 Der HEIDELBERGER als Resilienzressource? Gewiss, theologische Konzentration konnte auch für die Analyse der Gegenwart hilfreich werden, aber allein Texte – und seien sie noch so tapfer – waren noch keine Gewähr für ein Engagement gegen Unrecht. »Festen Widerstand tun« sollte man nach HEIDELBERGER 127 gegen die Versuchungen von Teufel und Welt; an zahlreichen Stellen des HEIDELBERGERs wird ermuntert zum Tun des Gerechten.46 Es gab vom HEIDELBERGER geprägte Christen wie den Märtyrer Paul Schneider47, 44

Vgl. auch Hermann Schürhoff-Goeters, Wilhelm Goeters (1878–1953). Aus seinem Nachlass und den Erinnerungen seiner Familie, Mönchengladbach 2007, S. 282–291: Wilhelm Neuser und die Neuherausgabe des Heidelberger Katechismus für Lippe 1938. 45 Zit. nach Reese, Bekenntnis, a.a.O., S. 174, Anm. 61. 46 Auch wenn der obrigkeitlich verordnete HEIDELBERGER kein Widerstandstext war, so finden sich doch widerständig anmutende Zitate. Frage 32: Christ/inn/en sollen »mit freiem Gewissen in diesem Leben wider die Sünde und Teufel streite[n]«. Frage 52: Christ/inn/en sollen »in aller Trübsal und Verfolgung mit aufgerichtetem Haupt« der Zurechtbringung der Verhältnisse entgegensehen. Im dritten Teil »Von der Dankbarkeit« geht es immer wieder darum, »je länger je mehr« den Geboten Gottes zu leben. Frage 110: »Gewalt« und »Schein des Rechts« sind gegen Gottes Gebot [Frage 127: der zu leistende »feste[.] Widerstand« bezieht sich auf Teufel, Welt und das eigensüchtige Ich. 47 Andreas Görlich, Paul Schneider und der Heidelberger Katechismus, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher zu seinem 80. Geburtstag, Band 2, hg. von Heiko A. Oberman u.a., Zürich 1993 (Zwingliana XIX/Teil 2 [1991/1992]), S. 91–102. Im Jubiläumsjahr 2013 erschien Klaus Maßmann, Den »Heidelberger« ins Gefängnis schicken ... Paul Schneider und der Heidelberger Katechismus, Osnabrück 2013 (Privatdruck).

294 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« den Berliner Pfarrer Martin Albertz sowie die Wuppertaler Karl Immer, Hermann Albert Hesse und sein Sohn Helmut Hesse, die auf Grund ihres reformiert geprägten christlichen Glaubens das Unrecht der NSDiktatur bekämpften.48 Aber daneben gab es auch theologische Freunde des HEIDELBERGERs, die wie Fritz Horn konservativ-»unpolitisch« blieben oder die wie Otto Weber der nationalsozialistischen Diktatur und dem illegitimen Kirchenregiment bis zum Ende die Treue hielten. Die Leser des reformierten Sonntagsblattes bekamen Ende 1939 gar eine Deutung des Kriegsgeschehens und eines gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler im Lichte der Vorsehungslehre des HEIDELBERGERs durch den Schriftleiter Gerrit Herlyn vorgeführt.49 Ob es wenigstens intern Widerspruch gab, lässt sich nicht belegen. Auch der »Kirchenkampf« hat also nicht erwiesen, dass man mit dem HEIDELBERGER schon per se auf dem richtigen Weg ist. Es ist bestenfalls theologie- und kirchengeschichtliches Wunschdenken, wenn J.F. Gerhard Goeters über den HEIDELBERGER behauptet: »In der Zeit des Kirchenkampfes im Dritten Reich hat er sich als ein klarer Wegweiser zum rechten Verständnis des Evangeliums bewährt.«50 Das mag für die Bekennende Kirche gelten, aber es gab auch politischen und theologischen Irrtum mit dem HEIDELBERGER. Jahrzehnte später zeigten die Auseinandersetzungen in Südafrika, wo sowohl bei den Protagonisten des Apartheidregimes als auch bei den Oppositionellen Bekenner des HEIDELBERGERs zu finden waren, ein entsprechend ambivalentes Bild. Der HEIDELBERGER präjudiziert nicht die Option seiner Bekenner für Gerechtigkeit in dieser Welt.

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Vgl. auch Udo Smidt, Der Heidelberger Katechismus im Zeugnis der Bekennenden Kirche, in: Walter Herrenbrück / Udo Smid (Hg.), Warum wirst Du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, S. 144–155, v.a. S. 154f. 49 Vgl. Jürgen Sternsdorff, Gerrit Herlyn zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Treue zu Adolf Hitler in der Bekennenden Kirche, nach unveröffentlichten Quellen, Marburg 2015, S. 156–163. 50 So in der aktuellen Ausgabe des HEIDELBERGERs: J.F. Gerhard Goeters, Zur Geschichte des Katechismus, in: Heidelberger Katechismus. Revidierte Ausgabe 1997, 5., überarbeitete Auflage 2012, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirche, von der Lippischen Landeskirche und vom Reformierten Bund, Neukirchen 2012, S. 83–95, hier: S. 94. Vgl. auch Heinrich Graffmann, Art. Heidelberger Katechismus, in: RGG3 III (1959), S. 127f.: Der HEIDELBERGER »bewährte … seine Kraft aufs neue im Kirchenkampf« (a.a.O., S. 128). – Dies ist natürlich auch das Selbstverständnis der reformierten BKRepräsentanten gewesen: Mit dem HEIDELBERGER trat man ein für die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments, für einen klaren Christusbezug – und sah sich im »Kampf des Glaubens«. Vgl. Hermann Klugkist Hesse, Der einige Trost im Leben und im Sterben. Der Heidelberger Katechismus als Zeugnis der Kirche (Nach Gottes Wort reformiert 2), Neukirchen 1939. Man wird in diesem Heft manches als Anspielung auf den »Kirchenkampf« verstehen können, aber die seinerzeitigen theologischen Verirrungen werden doch als eine »Frucht des gottfernen 19. Jahrhunderts« gedeutet (a.a.O., S. 12).

3. Pluralisierungen und Widerstände: Das 20. Jahrhundert

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3.3 Karl Barth: Von »fragwürdig« bis »respektvoll«51 Karl Barth repräsentiert für viele theologische Zeitgenossen ein neoorthodoxes Reformiertentum. Dabei war Karl Barths Weg von einem eher experimentell-polemischen Theologen zu einem Liebhaber alter Bekenntnistexte nicht ganz beschwerdefrei. Als Pfarrer hatte er für einen selbstbewussten Rekurs auf kirchlich approbierte Bekenntnisschriften oder gar für Reformationsfeiern eigentlich nur feinen Spott übrig. Als reformierter Pfarrer in der Schweiz hat er sich, soweit ich sehe, nicht mit dem HEIDELBERGER befasst – auch nicht während des Jubiläumsjahres 1913 – und nur sehr gelegentlich mit anderen Bekenntnisschriften. Im Jahre 1921 sah sich der eben berufene Professor vor die Aufgabe gestellt, den HEIDELBERGER auszulegen.52 Barth fremdelte durchaus damit: Den HEIDELBERGER nannte er »ein entschieden fragwürdiges Werk«. Gewiss wird man dies nicht allzu negativ zu verstehen haben, sondern auch im Wortsinne als frag-würdig hören, konnte Barth doch nach der ausführlichen Interpretation der Frage 1 diese als »entschieden nicht gut« beurteilen, dann aber die Antwort auf diese Frage 1 ausdrücklich gutheißen.53 Am Ende des Semesters wird Barth Frage 19 sogar als eine »ganz vortreffliche« bezeichnen.54 Im Hinblick auf Texte aus der Tradition fühlte sich Barth hin- und hergerissen: »Fortwährend könnte ich ungefähr alles gut und nicht gut heißen.«55 In weiteren Vorlesungen näherte er sich der reformierten Tradition, etwa in derjenigen über die reformierten Be-

51

Neben den beiden akademischen Qualifikationsarbeiten von Matthias Freudenberg (Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit [NthDuH 8], Neukirchen-Vluyn 1997) und von Georg Plasger (Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000) sei verwiesen auf Hanna Reichel, Dogmatik auf dem Weg. Karl Barths hermeneutischer Schlüsselbund zum Heidelberger Katechismus, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Vorträge der 9. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Neukirchen-Vluyn 2013, S. 171–184, jetzt dies., Theologie als Bekenntnis. Karl Barths kontextuelle Lektüre des Heidelberger Katechismus (FSÖTh 149), Göttingen 2015. Vgl. auch Eberhard Busch, »Jesus Christus, dein einziger Trost«. Der Heidelberger Katechismus und der Theologe Karl Barth, in: ThR 78 (2013), S. 518–540; Matthias Freudenberg, Voorbeelden van herinterpretaties van de Heidelbergse Catechismus, in: Huijgen/Fesko/Siller, Handboek, a.a.O., S. 159–170, hier: S. 165–168: Karl Barths visie op de HC. 52 Diese Vorlesung konnte bislang nicht publiziert werden. Vgl. Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 64f. Zu dieser Vorlesung nun aber detailreich Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 34–74. 53 So in einem Brief vom 18. November 1921 an Eduard Thurneysen, in: Karl BarthEduard Thurneysen Briefwechsel 1921–1930, Zürich 1974, S. 8. 54 Brief vom 2. Februar 1922 an Eduard Thurneysen, in: Barth-Thurneysen Briefwechsel 1921–1930, a.a.O., S. 36f. 55 A.a.O., S. 37.

296 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« kenntnisschriften im Frühjahr 1923.56 Dort konnte Barth gerade gegen ein zu lutherisch – nämlich: zu innerlich-individualistisch – gedachtes »Trost«-Verständnis die »unzweideutig … typisch-calvinische Zweiheit von Heilsgewißheit und Gehorsamsbereitschaft« in Antwort 1 des HEIDELBERGERs loben57 und diesen Zug von Rechtfertigung und Heiligung an zahlreichen weiteren Stellen, nicht zuletzt in Bezug auf das Gesetzesverständnis, aufzeigen. Spätestens hier begannen doch Barths Sympathien für den reformierten Glaubensstil und das reformierte Format von Theologie, wenn er den HEIDELBERGER so charakterisiert, dass in diesem »durchgängig die Aufgabe schon in der Darstellung der Gabe miteinbezogen und gleichsam schon von oben her in ihrer Notwendigkeit klar gemacht [wird]«.58 Die »Dankbarkeit« sah Barth dann quasi als die Begründung »von unten« und als »psychologisch[e]« Plausibilisierung dieses Zusammenhangs an.59 Deshalb begrüßte Barth, dass der HEIDELBERGER »für Deutschland das gegebene Lehrbuch reformierten Christentums« sei, allerdings unter der Voraussetzung, dass er »calvinisch« gelesen werde.60 Ob geschlussfolgert werden kann, dass es neben Calvin nicht zuletzt der HEIDELBERGER war, mit dem Barth zu einem reformierten Theologen geworden ist? Sicher wäre Calvin an erster Stelle zu nennen. Zunächst jedoch bleiben durchaus grundsätzliche Bedenken gegenüber Bekenntnisschriften bei Barth. Als konfessioneller Reformierter verstand er sich Mitte der 20er Jahre gewiss nicht. Neben seinen Vorlesungen an der Universität Göttingen wurde Barth dennoch von Kirchen und kirchlichen Organisationen um konfessionelle Positionsbestimmungen angefragt, so dass er sich auch hier der Frage nach dem Bekenntnis zu stellen hatte. Barths erster großer Auftritt vor den deutschen Reformierten fand während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden statt. In seinem fulminanten Vortrag erklärte der junge Professor seinen vermutlich nicht wenig erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössische Antworten auf die Frage nach »reformierter Lehre« unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort »des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter 56

Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923), Zürich 1998 (vgl. darin das Vorwort von Eberhard Busch, a.a.O., S. VII–XII). Zum HEIDELBERGER vgl. besonders a.a.O., S. 169–175. Vgl. auch Freudenberg, Barth und reformierte Theologie, a.a.O., S. 266f.; Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 65f.; Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 74–81. 57 Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften, a.a.O., S. 171. 58 A.a.O., S. 174. 59 Ebd. 60 A.a.O., S. 175. Diese Mahnung könnte durchaus eine Kritik an die melanchthonische Lesart Heinrich Heppes oder an August Langs Interpretation aus pietistischer Perspektive darstellen.

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Art« – das war eine polemische Ohrfeige für die zukunftsfrohen Anhänger eines neu-reformierten Selbstbewusstseins und des reformierten Establishments. Zu fordern sei, so Barth, gerade mit den reformierten »Vätern« die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.61 Barth wählte deshalb auch den Ansatzpunkt vom »die reformierte Lehre zunächst charakterisierenden Punkt« aus, nämlich dem »Schriftprinzip«.62 Dabei pochte Barth allerdings auf ein dynamisches Verständnis der Offenbarung: Gewiss gilt das Wort Alten und Neuen Testaments, die ganze Schrift, aber doch »nie ohne das entscheidende Wort des Geistes, aus dem sie selbst stammt«.63 Barth forderte die Wiederentdeckung der Majestät Gottes und der daraus abzuleitenden Orientierung an dessen Geboten, die typisch reformiert »die Wendung von der Anschauung Gottes … zurück zum Leben, zum Menschen und seiner Lage« mit einschließen.64 Bekenntnis und Leben gehören zusammen, wie Barth auch im HEIDELBERGER entdeckte. Der Rückbezug auf die biblische Offenbarung habe Lehre und Bekenntnis kritisch zu prüfen, so dass die Freiheit besteht, Neues zu sagen. »Das reformierte Dogma, mit allem Ernst als solches verstanden, ist im Fluß.«65 Entsprechend skeptisch beurteilte Barth eine statuarische Bekenntnis-Setzung. Barth erhielt vom Reformierten Weltbund den Auftrag, für den im Sommer 1925 bevorstehenden General Council in Cardiff über »Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses« nachzudenken.66 Zwei Jahre zuvor hatte Barth in Emden auf die theoretische Möglichkeit eines neuen Bekenntnisses verwiesen, um einer Erstarrung der Lehre zu wehren, die nicht immer wie61 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 212. Barth hat in frech-freimütiger Weise seinen Freunden von diesem Ereignis berichtet: Karl Barth, Rundbrief vom 24. September 1923, in: Barth-Thurneysen, Briefwechsel 1921–1930, a.a.O., S. 182–189. Vgl. auch Brief Barths an Thurneysen vom 25. September 1923, in: a.a.O., S. 189f.: »Mein Emdener Vortrag war die Stimme eines Predigers in der Wüste [vgl. Jes. 40,3]. Die führenden Männer des Reformierten Bundes sind gänzlich ungebrochene Leute, die sich durchaus nicht aus dem Konzept bringen ließen, sondern sich begnügten, mich über den grünen Klee zu loben und dann zu tun, als wäre nichts geschehen.« Der milde Moderator Lang und der ungestüme Barth passten nicht wirklich zusammen; immerhin gedachte Lang auch noch zwanzig Jahre später freundlich dieses Barth-Vortrags: Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 165. 62 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 222f. 63 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 223. 64 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 238. 65 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 214. Vgl. jetzt auch Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 81–85. 66 Unter dem genannten Titel abgedruckt in Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, a.a.O., S. 604–643; Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 85–89. – Barth konnte nicht nach Cardiff reisen; der übersetzte Vortrag wurde gekürzt vorgelesen. Barth trug die deutsche Fassung am 3. Juni 1925 der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Duisburg-Meiderich vor.

298 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« der neu kritisch an der Bibel gemessen wird; er nahm diesen Gedanken auch jetzt nicht zurück,67 trug aber ernste Bedenken gegen ein »allgemeines reformiertes Bekenntnis« vor: Einerseits sei ein – reformiertes – Bekenntnis nicht die Definition einer konfessionellen Eigenart, sondern Stimme der Una Sancta Ecclesia, andererseits könne es kein allgemeines Bekenntnis geben, da immer konkret lokal und aktuell bekannt werden müsse: »Wir, hier, jetzt – bekennen dies!«68 Diese Einsichten führten dann auch zu der von Barth doch wohl positiv verstandenen »bunten unbekümmerten Krähwinkelei der reformierten Konfessionen«.69 Als dritten Einwand formulierte Barth die Frage, ob man wirklich um Gottes (!) willen jetzt zu reden habe, nicht jedoch aus kirchenpolitischen oder anderen Gründen.70 Nicht ein deshalb resignatives Zurückgreifen auf alte Bekenntnisse hat Barth damit bezwecken wollen, sondern eine Schärfung des Verständnisses von Bekenntnis als eines aktuellen, konkreten Bekennens, das sich vom Heiligen Geist getrieben weiß. Alte Bekenntnistexte sind nicht an sich würdig, sondern dann, wenn sich ihre Vitalität verifiziert. Viele Reformierte orientierten sich wenige Jahre später im Kirchenkampf an Karl Barth, nur ausgerechnet die Realpolitiker der beiden reformierten Kirchenleitungen in Aurich und Detmold nicht. Deshalb war es vor allem der Reformierte Bund seit seiner Hauptversammlung im Januar 1934, der sich mit Hermann Albert Hesse, Harmannus Obendiek und Wilhelm Niesel eng an Barth anlehnte. Grundsätzliche Bedenken wie in der Mitte der 20er Jahre geäußert mögen Barth 1933 bewogen haben, sich gegenüber zu raschen und zu vollmächtigen Bekenntnis-Ausrufen reserviert zu verhalten.71 Aber in seinen Formulierungen (und damit auch in seinem theologischen Denken) griff Barth nun in den aktuellen Auseinandersetzungen des Kirchenkampfes vermehrt auf alte Bekenntnistexte zurück. Es war – nicht nur – den Refor67 68 69

Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 615. Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 616. Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 623. – Immer wieder wird diese originelle Formulierung Barths in dem Sinne zitiert, als ob Barth hier einen reformierten Provinzialismus oder eine konfessionelle Uneinheitlichkeit kritisieren wollte. Vielmehr sah Barth in der pluralen Bekenntnisszene bei den Reformierten »ein[en] geheimnisvolle[n] sachliche[n] Zwang« walten (ebd.). 70 Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 634–642. August Lang erinnerte sich: »Immerhin reizte Barths Schroffheit wieder einmal zu tieferem Nachdenken und zur Anerkennung seines aufrüttelnden, geistesmächtigen Scharfsinns.« Ders., Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 172. 71 Vgl. etwa dazu Michael Hüttenhoff, Theologische Opposition 1933. Karl Barth und die Jungreformatorische Bewegung, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, S. 424–444. Vgl. auch Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 93–124.

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mierten wohl bewusst, dass die maßgeblich von Karl Barth entworfene Barmer Theologische Erklärung in ihrer ersten These auf die bekannte Frage 1 des HEIDELBERGERs rekurrierte. In einer späteren Würdigung des HEIDELBERGERs stellte Barth diesen Zusammenhang dar: »Gott ist in diesem Text [des HEIDELBERGERs] kein [sc. philosophisch bestimmbarer Gott], sondern wo die Vokabel Gott auftaucht, da handelt es sich immer um Gott in Jesus Christus (Frage 26!). Gott ist im Heidelberger nach einer oft wiederholten Wendung der, ›der sich in seinem Wort geoffenbart hat‹ (Fragen 25, 95, 117). Wenn im Jahre 1934 in Barmen die Erkenntnis der evangelischen Kirche zusammengefaßt wurde in dem Satz: ›Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift offenbart wird, ist das eine Wort Gottes …‹, so ist dieser erste Satz von Barmen nicht nur in formalem Anklang an Frage 1 des Heidelbergers formuliert worden. Eine andere als eine auf das eine Wort Gottes in Jesus begründete Theologie kann sich jedenfalls nicht auf den Heidelberger Katechismus berufen.«72 Barth unterstützte die Bekennende Kirche nicht nur auf Reichsebene, sondern auch lokal – als Kandidat bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 in Bonn – und regional. Das von Barth entworfene Uelsener Protokoll vom Dezember 1934 sollte die Kirchenleitung der evangelischreformierten Landeskirche in Hannover auf einen bekenntniskirchlichen Kurs festlegen. Hier wird Frage 1 des HEIDELBERGERs gemeinsam mit dem 1. Gebot als Ausgangspunkt des Bekennens genannt.73 Dass beide reformierten Landeskirchen die Bedeutung und den Rang des HEIDELBERGERs als Bekenntnisschrift kirchenrechtlich kodifizierten, sich aber nicht eindeutig auf die Seite der Bekennenden Kirche schlugen, zeigt, dass es eben unterschiedliche Interpretationen nicht nur der jeweiligen kirchenpolitischen Situation, sondern auch der normativen Texte aus der Tradition gibt. Innerhalb der Bekennenden Kirche gab es vielfältige Überlegungen zur Bedeutung des »Bekenntnisses«, der Konfession. Waren sie trennend oder verbindend? War die Bekennende Kirche vollgültig Kirche, etwa auf Grundlage des Bekenntnisses? Auch Barth hat ab Mitte der 30er Jahre einige Überlegungen zu den Themenfeldern »Bekenntnis« und »Bekenntnisunion« u.ä. unternommen und dabei nochmals stärker die

72 Karl Barth, Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, Vorlesung gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947, Zollikon-Zürich 1948, S. 20. 73 Vgl. zum letztlich wirkungslosen Uelsener Protokoll Hans-Georg Ulrichs, »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig …« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: RKZ 136 (1995), S. 82–89 (Wiederabdruck in diesem Band als Exkurs im Beitrag über Heinz Otten); Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009, S. 135–141.

300 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« alten Bekenntnisse wert geschätzt74 – angesichts der christlichen Ketzer der »Deutschen Christen« und der nationalsozialistischen Neuheiden, die eben dieses kirchliche Bekenntnis verlassen hatten, ist dies gut nachvollziehbar. Obwohl, oder vielmehr gerade weil Barth die Bekennende Kirche zum aktuellen Bekennen angeleitet hatte, wurde ihm deutlich, dass das kirchliche Bekenntnis ein hohes Gut ist. Wer dieses Gut nicht pflegt, wer sich nicht in den Grundlagen des christlichen Glaubens auskennt, gerät in einer Situation, in der substantiell bekannt werden muss, gegenüber den anderen Mächten und Gewalten in eine hilflose Lage, da die theologischen Analysemittel für Irrlehre im Glauben und Leben fehlen. Theologische Konzentration und Widerständigkeit schließen sich nicht aus, sondern sind vielleicht sogar komplementär.75 Erstaunlich viele Weggefährten und Schüler Barths haben sich gerade in den 30er Jahren mit dem HEIDELBERGER beschäftigt und dazu ihre Ergebnisse publiziert. Auch Barth selbst, 1935 aus Deutschland vertrieben, führte 1938 Schweizer Religionslehrer grundlegend und kontextuell mit dem HEIDELBERGER in den Glauben ein (publiziert erst 1960).76 Im eher bekenntniskritischen Kontext des Schweizer Protestantismus – in manchen Gebieten der Schweiz gab es Bekenntnisfreiheit, insofern die normative Geltung symbolischer Schriften im 18. und 19. Jahrhundert aufgehoben worden war – wertschätzte Barth mit seinen Erfahrungen des Kirchenkampfes in Deutschland den HEIDELBERGER als eine »legitime Bezeugung der Heiligen Schrift«, die ihrerseits die einzig legitime Autorität in Kirche und Theologie sein kann. Aus dem »fragwürdigen Werk«, wie er den HEIDELBERGER 1921 noch bezeichnen konnte, war für Barth unterdes ein »klassisches Dokument des Glaubens der nach Gottes Wort reformierten Kirche« geworden, dem gegenüber mindestens ein »[r]espektvolles Hinhören« geboten sei.77 Zwei schon früher von 74 Reichel, Dogmatik auf dem Weg, a.a.O., S. 177f., Anm. 19, zeigt auch auf Grund unveröffentlichter Dokumente, dass Barth sich von 1935 bis 1940 am intensivsten mit Bekenntnisschriften beschäftigt hat. 75 Hier wäre etwa auch auf die Debatten und Interpretationen der »Theologischen Existenz heute!« vom Sommer 1933 hinzuweisen, s.o. 76 Karl Barth, Einführung in den Heidelberger Katechismus (ThSt 63), Zürich 1960. Der Vortrag wurde also erst 22 Jahre später publiziert, und zwar nach einer »stenographischen Nachschrift« (a.a.O., S. 2). Vgl. Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 66–68. Diesen hektographierten Text veröffentlichte Walter Herrenbrück sen. auch in seinem »Bezirksbruderbrief« Nr. 76 im Dezember 1960 (in: LKA Leer); er scheint den Text Barth wieder vorgelegt zu haben, woraufhin es zur Publikation in den »Theologischen Studien« kam. – Vgl. Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 136–152. Im Jubiläumsjahr 2013 wurde publiziert: Karl Barth, Einführung in die reformierte Lehre auf Grund des Heidelberger Katechismus (1. Vorlesung, 5. Mai 1936), herausgegeben von Patricia Rich und Hans-Anton Drewes, in: ThZ 69 (2913), S. 266–276. 77 Barth, Einführung, a.a.O., S. 5.

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ihm benannte Charakteristika des HEIDELBERGERs stellte Barth dann in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: Wie in den 20er Jahren betonte er den Zusammenhang von Glauben und Leben78 und wie im aktuellen Bekennen nach 1933 hielt er ausschließlich eine christologische Erkenntnis in der Theologie für sachgemäß.79 Barth sah im Alten und Neuen Testament das eine Evangelium.80 Nach 1945 griff Karl Barth gerne auf den HEIDELBERGER zurück, sei es in seiner Vorlesung in den Ruinen der Bonner Universität 1947 (erschienen 1949), sei es im Rahmen seiner stetig anwachsenden »Kirchlichen Dogmatik«,81 wo er beispielsweise immer wieder auch das Motiv der »Dankbarkeit« aus dem HEIDELBERGER aufnahm. Barth ließ sich sofort nach der Kapitulation Deutschlands wieder in den Dienst rufen und half mit, die Positionen der Bekennenden Kirche in der Phase der Reorganisation des deutschen Protestantismus zu formulieren. In den Jahren 1946 und 1947 kam er jeweils für das Sommersemester an seine alte Wirkungsstätte, die Bonner Universität, zurück – und begann, Theologie mit Hilfe der kirchlichen Bekenntnisse zu lehren: zunächst 1946 an Hand des Apostolikums, dann 1947 »nach dem« HEIDELBERGER, also gut ein Vierteljahrhundert nach seiner ersten Vorlesung in Göttingen (s.o.).82 Im HEIDELBERGER sah er so etwas wie eine Zusammenfassung des reformatorischen Gedankengutes, das nun dringend wieder 78

A.a.O., S. 3: »Es gibt kein Leben im Trost ohne Erkenntnis des Trostes, es gibt keine wirkliche Erkenntnis des Trostes abgesehen vom Leben.« A.a.O., S. 20: »Sobald man sich auf die Trennung von Glauben und Leben einläßt, hat man diese Lehre verfälscht. Es gibt kein Glauben, das nicht Bekennen, Danken, Streiten wäre! Es gibt kein Leben des Bekennens, Dankens und Streitens, das nicht das Leben des Glaubens wäre. In Jesus Christus gibt es diese Spaltung nicht …« A.a.O., S. 21: Im Gebet »wird erneut der Zusammenhang deutlich zwischen Lehre und Leben, Theorie und Praxis.« 79 Bereits in der Antwort zu Frage 1 beziehen sich alle Relativsätze auf das Subjekt Jesus Christus, vgl. a.a.O., S. 6. Barth sprach a.a.O., S. 8 von »der ausschließlichen Erkenntnis Gottes in Christus.« 80 Barth, Einführung, a.a.O., S. 7. 81 Vgl. Wilhelm Niesel, Karl Barth und der Heidelberger Katechismus, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zürich 1956, S. 156–163. – Dieser Aufsatz, der Barth eine noch größere Nähe zum HEIDELBERGER als ohnehin gegeben unterstellt und den HEIDELBERGER barthianisch zu lesen versucht, berührt nur ein wenig die Bonner Vorlesung Barths und trägt auch sonst nicht viel zum Thema bei. Bei diesem Harmonisierungsversuch sticht heraus, dass Niesel Barths Charakterisierung der Fragen 47f. als eines »theologischen Betriebsunfall[s]« zurückweist (s.u.). 82 Barth, Christliche Lehre, a.a.O. – Die dortigen Leitsätze sind original von Barth, während der Textbestand auf einer von Barth redigierten Stenographie beruht, die seine in »freie[r] Darbietung« gehaltene Vorlesung dokumentiert. Vgl. Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 68–71; Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 172–199. – Die bisherige Ausgabe (Zollikon-Zürich 1948) bietet für die Fragen 81–129 lediglich die Leitsätze, aber keine Auslegungen. Unterdes ist eine Text-Fassung aufgetaucht, die auch für diese Fragen die stenographierten und von Barth durchgesehenen Auslegungen umfasst. Eine Publikation ist vorgesehen.

302 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« geltend gemacht werden müsste. »Die Behauptung darf gewagt werden, daß wir es im Heidelberger Katechismus mit einem guten Bekenntnis der auf das Evangelium gegründeten und durch das Evangelium erneuerten reformatorischen Kirche zu tun haben.« (S. 15) Barth erläuterte die grundsätzliche Kontextualität sowohl allen Theologietreibens wie auch des HEIDELBERGERs in seinem Entstehungszusammenhang sowie die der gegenwärtigen Deutung dieses Textes. Deshalb müsse das Verstehen »an unserem geschichtlichen Ort« (S. 12f.) gewagt werden, zumal man eben nicht mehr im 16. Jahrhundert lebe (vgl. S. 15). Der theologiegeschichtliche Ort dieser Auslegung ist deutlich: Nach dem Kirchenkampf ist diese Vorlesung ein Spitzendokument Barthscher Theologie, in der Theologie als Christologie auf die Spitze getrieben wird. Alle Lehrgegenstände sind christologisch begründet und vermittelt: »Alles Sachliche«, so Barth zu Antwort 1, »ergibt sich schlechterdings aus dem Sein und Tun des Subjektes Jesus Christus« (S. 24). Und diese Feststellung ist auch generell zu verstehen, denn Christus »ist das Subjekt aller göttlichen Aktion.« (S. 73) Das Bekennen des »Elends« sei erst nach (!) der Erkenntnis der Erlösung möglich; deshalb sei sogar der erste Teil des Katechismus, ohnehin nach Antwort 1 (und 2) platziert, Teil dieser bereits im Glauben erfahrenen Erlösung, also Teil der Gnadenlehre, denn in Antwort 4 sei klar, dass Christus das »Urteil« gesprochen habe (S. 30–35, vgl. S. 40). Auch dasjenige, was von der Schöpfung83 oder von der Gemeinde84 zu sagen ist, »geschieht Alles aus der Initiative Jesu Christi.« (S. 80) Alles ist unter dieser einen Herrschaft Christi verbunden, was weder eine Trennung zweier Sphären zulässt noch menschliches Handeln in eine geistliche oder eine weltliche Dimension aufspaltet: Es gibt kein Christsein, das nicht auf die Welt bezogen ist.85 Oder um es mit Barths Spitzensätzen zu sagen: »Die Beziehung des Christen zur Welt ist nicht fakultativ … weil Christus ja durch seine Gemeinde und als deren Haupt Alles regiert.« (S. 77) »Es gibt kein Privatchristentum.« (S. 80.84) »Wer zwischen Glauben und Werken [sc. aus Dankbarkeit] unterscheiden oder gar scheiden wollte, der hat hier das Entscheidende nicht verstanden.« (S. 81) Glauben war für Barth ein Leben in dankbarem Gehorsam,86 weshalb Barth hier den neben »Glauben« häufigsten

83

Vgl. Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 52–58 (»Die Fragen 26–28 gehören zu den Glanzstücken des Katechismus«, a.a.O., S. 53); vgl. auch a.a.O., S. 24. 84 Vgl. Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 72–81. 85 Vgl. Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 72–77. 86 Interessanterweise wird dieses heute eher problembelastete Wort »Gehorsam« vor allem vom linksprotestantischen Flügel des Reformiertentums benutzt: In Barthscher Fortführung bei Walter Kreck, im Umfeld und in der Nachgeschichte der Friedenserklärung des Moderamens des Reformierten Bundes von Rolf Wischnath u.a. bis in die Gegenwart, vgl. Hans-Georg Ulrichs, Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das

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Begriff des HEIDELBERGERs, nämlich »Leben«, aufgriff und verwendete. Der HEIDELBERGER bejahe das menschliche Leben in dieser Welt: »Ich darf Mut fassen, zu leben.« (S. 55) Das war ein kontextuelles, geradezu seelsorgerliches Wort nach einem harten Winter 1946/1947, in dem es zahlreiche Kälte- und Hungertote gegeben hatte sowie die Suizidrate erschreckend hoch war; auch war die Angst vor einem neuen Krieg weit verbreitet. Und in die Situation hinein sagte Barth vor Studierenden, von denen nicht wenige unmittelbare Kriegserfahrungen gemacht hatten: Auch mit den gerade zurückliegenden Erfahrungen, »daß der Mensch im Grunde nicht gut ist, daß die Tünche von Humanismus und Kultur vielmehr als peinlich dünn sich erweist und daß es wenig braucht, daß sie abbröckelt und ein untermenschliches, ein tierisches Wesen enthüllt« (S. 33), müsse man »auch im Jahre 1947« dankbar mit Freude leben (S. 57). Ein Grund zum Resignieren sah Barth nicht: »Sünde kann nur noch ein Anachronismus sein.« (S. 65)87 Dagegen sei »Glaube … eine Antizipation unseres Standes im Endgericht«, wo Gottes und des Menschen Recht »wieder hergestellt ist, obwohl ich noch im Stande und in der Ordnung ›von des Menschen Elend‹ bin« (S. 84). Wie mag es für Menschen geklungen haben, die noch weniger als zwei Jahre zuvor der täglichen antisemitischen Staatspropaganda ausgesetzt waren, wenn Barth die Einheit der ganzen Schrift des Alten und Neuen Testaments hervorhob und das Judentum nicht mit dem teuflischen Untergang dieser Welt assoziierte, sondern mit der von Ewigkeit bestimmten und eschatologisch sich erweisenden Erlösung der ganzen Welt: Christus als »[d]as ewige Wort des Vaters war ein jüdischer Mensch … Altes und Neues Testament, Juden und Christen gehören in unlöslicher Weise zusammen.« (59)88 Das war für Barths Hörer in dieser Form revolutionär neu und eine heute nur schwerlich nachvollziehbare Befreiung vom Ungeist des antisemitischen Nationalsozialismus und antijüdischer theologischer Traditionen. Bei aller positiven Rezeption des alten Bekenntnistextes: Barth bewahrte sich ebenso die Freiheit zur inhaltlichen Kritik und gestand eine »gewisse[.] Transformation, der ich das ehrwürdige alte Büchlein unterzog.« (S. 7) Er begegnete dem alten Text »in der freien Ehrfurcht und Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 (Abdruck in diesem Band). 87 Nämlich: Von ihrer Überwindung her zu denken; diese ist faktisch geschehen, wenngleich Sünde – noch – erfahrbare Wirklichkeit ist. Vgl. zu diesem Lehrstück, das Barth nahezu zeitgleich in seinen KD-Vorlesungen traktierte, die klassische Studie Wolf Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth (NBST 3), Neukirchen-Vluyn 21983 (Berlin 11970). 88 Ähnlich hat sich Barth auch 1933 wider den damaligen Zeitgeist geäußert, vgl. Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933– 1945, Neukirchen-Vluyn 1996, S. 169.

304 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« Dankbarkeit, in der wir einem guten Bekenntnis … verpflichtet sind«.89 Das »freie[.] Gewissen« aus Antwort 32 hätte doch auch gerade von den »Bekennern« des HEIDELBERGERs »richtig gehört« werden müssen (S. 61f.). Er werde sich »Abweichungen gestatten, wo uns dies notwendig erscheint«, kündigte Barth zu Beginn an (S. 15) und nimmt sich eine ähnliche Freiheit wie der Liberale W.G.A. Meyer (s.o.) gegenüber dem Bekenntnistext. So konnte Barth etwa die Fragen 47/48 des HEIDELBERGERs als einen »theologischen Betriebsunfall« bezeichnen.90 Barth war also nicht einfach weiter »verkirchlicht«, theologisch immer weiter »nachgedunkelt« und griff deshalb zu den kirchlichen Normschriften, sondern Barth hat sich auch nach 1945 den kritischen Impetus der 20er Jahre bewahrt, auch wenn er den Reichtum der theologischen Tradition anders wertschätzen konnte. Allerdings muss realistisch taxiert werden: Der HEIDELBERGER war gewiss nicht die Hauptreferenzschrift für Barths Theologie.91 Aber er hat ihn gerne und gut als »Medium« seiner Theologie gebraucht – und dies m.E. auch völlig zu Recht. Die Barthsche Lesart des HEIDELBERGERs ist gewiss eine der bedeutendsten Interpretationen im 20. Jahrhundert. Diese hier beschriebene Haltung Barths hat den reformierten Protestantismus in Deutschland geprägt. Ein aktualisierendes BekenntnisVerständnis von Bekennen, eine christozentrische Theologie, der unauflösliche Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung und damit die Bejahung des Lebens aus und in der Konsequenz des Glaubens,92 die – wenn man so will: materiale – Einheit der Schrift Alten und Neuen 89 90

Barth, Christliche Lehre, a.a.O., Leitsatz zu § 1 (a.a.O., S. 11). Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 71; es ist zu beachten, dass bereits bei Barth diese Charakterisierung in Anführungszeichen steht! W. Niesel hat diesen Vorwurf Barths – zwar freundlich im Ton, aber deutlich in der Sache – zurück gewiesen, vgl. ders., Barth und der Heidelberger, a.a.O., S. 159f. Vgl. Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 77–80. 91 Damit sei lediglich en passant ein kleines Fragezeichen an Georg Plasgers Formulierung gesetzt, den HEIDELBERGER könne man »als einen der herausragenden Gesprächspartner Barths in der Kirchlichen Dogmatik« bezeichnen, vgl. Plasger, Relative Autorität, a.a.O., S. 71. Zu den Spuren des HEIDELBERGERs in der KD vgl. a.a.O., S. 71–85; Reichel, Theologie als Bekenntnis, a.a.O., S. 203–239. Auch der HEIDELBERGER-Liebhaber Karl Halaski listete kurz auf: ders., Der Heidelberger Katechismus in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, in: RKZ 107 (1966), S. 98f. 92 Vgl. dazu neben diversen Belegen im HEIDELBERGER selbst auch Zacharias Ursinus in seiner eigenen Katechismusauslegung: »Nam ut Deum in hac et futura vita celebrare possimus«. Das Werk wurde von David Pareus posthum 1591 ediert, später u.d.T. »Corpus doctrinae Orthodoxae sive Catecheticarum Explicationum« mehrfach publiziert, auch enthalten in den von Quirinius Reuter veranstalteten Opera theologica des Ursin (1612). Ein kleiner Ausschnitt aus diesem umfangreichen Kommentar ist abgedruckt in: Johann Michael Reu (Hg.), Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530 und 1600, Erster Teil: Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts, Erster Band: Süddeutsche Katechismen, Gütersloh 1904, S. 273-282, hier: S. 277, Z. 13f.

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Testaments und mit allem die Nähe zu Israel: das sind konfessionsidentifizierende Kennzeichen, nicht nur theologisch, sondern geistlich-mental, über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die Reformierten begannen im 20. Jahrhundert bereits bei einer größeren, wenn auch plural zu verstehenden Nähe zum HEIDELBERGER. Die Nähe zur theologischen Tradition wurde dann seit den 30er Jahren immer stärker begleitet von einer geradezu bekenntnishaften Nähe zu Barth selbst. Was »reformiert« war, entschied sich nach 1945 weniger an der Nähe oder Distanz zum HEIDELBERGER als vielmehr an dem behaupteten oder festzustellenden Verhältnis zu Barth (als Buch und Person) und zu BARMEN. Das aber verstand man in engstem Zusammenhang. 3.4 Von 1945 bis zum Jubiläum 1963 Die Reformierten in Deutschland haben nach 1945 neben, nicht selten sogar noch vor dem HEIDELBERGER besonders den Rang der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 zu betonen versucht – sie erschien ihnen wohl zeitgemäßer und hatte sich in jüngster Vergangenheit bewährt. Und doch bemühte man sich auch sehr darum, genügend viele Exemplare des Katechismus gedruckt zu bekommen und verbesserte Ausgaben einzurichten. Der im Kirchenkampf tapfere, theologisch unnachgiebige Wilhelm Niesel, vor allem aber der feinsinnige reformierte Publizist und Funktionär Karl Halaski sorgten sich in den 50er und 60er Jahren in kirchlich-praktischer, aber auch konfessioneller Hinsicht um den HEIDELBERGER. Heinrich Graffmann legte ein mehrbändiges Handbuch zum Unterricht – freilich mit einem großen historischen Teil – vor, während Walter Hollweg sich in zahlreichen, bis heute respektablen kirchengeschichtlichen Arbeiten dem HEIDELBERGER widmete und dabei belegen konnte, dass Caspar Olevian nicht als zweiter Hauptverfasser des Katechismus anzunehmen ist. Derart umfangreiche Auslegungen wie diejenige von Klaas Schilder in den Niederlanden waren in Deutschland dagegen offenbar nicht möglich.93 Freilich gab es gerade in Holland nicht etwa eine Interpretation, sondern der HEIDELBERGER war Bestandteil theologischer Debatten, Auseinandersetzungen und Streitigkeiten.94 Das HEIDELBERGER-Jubiläum 1963 wurde zwar international und groß gefeiert, womit die zur kirchlichen und theologischen Macht gelangten Vertreter der Bekennenden Kirche ihre Position demonstrieren konnten, aber ähnlich wie 1913 verpufften auch hier die unmittel93

Klaas Schilder, Heidelbergsche Catechismus, 4 Bände, Goes/NL 1947–1951. – Der Tod nahm diesem konservativen Theologen die Feder beim zehnten Sonntag (Fragen 27f.) aus der Hand, sonst hätte er das Kuypersche Werk vom Umfang her sicher noch weit hinter sich gelassen. 94 Jan van Genderen, De Heidelbergse Catechismus in discussie, in: ders., Naar de norm van het Woord, Kampen 1993, S. 166–191.

306 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« baren Folgen der Feierlichkeiten, weil sich unmittelbar danach gesellschaftlich-politisch-geschichtlich andere Themen durchsetzten.95 Die Vermittlungsprobleme waren evident. Auch 1963 war deutlich, dass sich Katechismus-Predigten und ein Unterricht allein mit dem Katechismustext aufs Ganze gesehen ihrem Ende näherten. Eine KatechismusAusgabe in jugendgerechter Sprache – oder was man dafür hielt – war immerhin eine Art Achtungserfolg.96 Nicht von ungefähr kam die Idee auf, – Lehrpredigten und die alten »Katechisatien« geradezu transformierend – Glaubenskurse für Erwachsene mit dem HEIDELBERGER zu kreieren, nicht im Format der modernen, seit den 1970er Jahren sich entwickelnden Erwachsenenbildung, wohl aber mit neuer und bewusster Bestimmung einer Zielgruppe. Dieses Unterfangen hat allerdings à la longue keine bleibende Wirkung gezeitigt. Der HEIDELBERGER fand im Halbjahrhundert von 1913 bis 1963 eine respektable Resonanz, zunächst bei den eher kirchlich Konservativen, dann vor allem in der Lesart der Theologie Barths. Umso geringer war die Wirksamkeit des HEIDELBERGERs im folgenden Halbjahrhundert bis zu den Vorbereitungen des Jubiläumsjahres 2013, denn anderes als die traditionelle Lehre drängte sich in sich stark wandelnden Kontexten ins kirchliche Bewusstsein. 3.5 Neue Zeiten, neue Themen: Von den 60er Jahren bis ins 21. Jahrhundert Sowohl in der Theologie als auch besonders in der weltweiten Ökumene traten alsbald neue Themen in den Vordergrund, so dass im Laufe der 60er Jahre die konfessionellen Kräfte, seien sie am reformatorischen oder am Kirchenkampf-Erbe orientiert, mehr und mehr an Bedeutung verloren. Bis zum Ende der 70er konnten sich zwar im deutschen Reformiertentum als der Trägergruppe von HEIDELBERGER-Traditionen eher die theologisch »konservativen« Personen behaupten, dann wurde auch dort 95 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft. Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Vorträge der 9. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 185–211 (Wiederabdruck in diesem Band). 96 Der Heidelberger Katechismus. Für den Jugendunterricht in evangelischen Gemeinden vereinfachte Ausgabe, Neukirchen-Vluyn 1961 (121993). Zu der dort eingeführten verfälschenden Version von Antwort 54 vgl. Ulrichs, Bekenntnistreue, a.a.O. – 1937 publizierte der Jungreformierte Wilhelm Bernoulli im Zwingli-Verlag Zürich eine Ausgabe des HEIDELBERGERS. Danach gab es auch in der Schweiz eine sprachlich leicht modernisierte Fassung: Der Heidelberger Katechismus, wie er von den reformierten Kirchen als Bekenntnis anerkannt wurde. Sie wurde bereits 1943 in mehreren Zehntausend Exemplaren gedruckt, dann 1953 in über 150.000 Exemplaren. Eine kleine Auslegung aus Schweizerischen Kontexten ist Eduard Schweizer, Einübung im Glauben anhand des Heidelberger Katechismus (Bausteine 5), St. Gallen 1953.

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mit den Menschenrechten, der Ökologie, dem Frieden sowie dem christlich-jüdischen Dialog andere Themen als die der unmittelbaren konfessionellen Selbstvergewisserung auf die Tagesordnung gesetzt. Nicht immer hat der HEIDELBERGER dabei maßgeblich geprägt. Für die Reformierten im christlich-jüdischen Dialog aber war es von Vorteil, mit dem HEIDELBERGER in einer Tradition zu stehen, die keine Nachordnung oder gar Ablösung des Alten durch das Neue Testament kennt.97 Allerdings stellte die starke christologische Ausrichtung, die in der Friedensfrage noch hermeneutischer Ausgangspunkt war, ein Problem für die christlichen Akteure des christlich-jüdischen Dialogs dar. Der HEIDELBERGER traf nach dem Jubiläumsjahr 1963 nur noch auf wenig Interesse, auch wissenschaftlich.98 An deutschen Hochschulen wurden kaum Vorlesungen über den HEIDELBERGER angeboten; neben dem Kirchenhistoriker Wilhelm H. Neuser (Münster) waren es von systematischer Seite noch Jürgen Fangmeier (Wuppertal) und Eberhard Busch (Göttingen)99, die in der zurückliegenden Generation mit dem HEIDELBERGER in die Theologie einführten.100 Die Frage lag offen zu Tage: Handelt es sich hier nicht um ein »überholtes Lehrbuch«?101 Chancen zum Lehr-Gespräch wurden jedenfalls nicht ergriffen: Als von römisch-katholischer Seite Heinz Schütte 1979 versuchte, mit dem HEIDELBERGER ins Gespräch zu kommen, führte dies zu einer inhaltlich harschen Ablehnung seitens des Moderamens des Reformierten Bundes102 – vielleicht auch deshalb, weil man zeitgleich seine Kraft in 97 Vgl. auch Bernd Schröder, Theologien der Frage. Lernen mit Israel und dem Heidelberger Katechismus, in: Heimbucher/Schneider-Harpprecht/Siller, Zugänge, a.a.O., S. 143–150. 98 Nach der Monographie von Wulf Metz (Necessitas satisfactionis? Eine systematische Studie zu den Fragen 12–18 des Heidelberger Katechismus und zur Theologie des Zacharias Ursinus, Zürich 1970) dauert es eine Generation, bis Thorsten Latzel (Theologische Grundzüge des Heidelberger Katechismus. Eine fundamentaltheologische Untersuchung seines Ansatzes zur Glaubenskommunikation [MThSt 83)], Marburg 2004) wieder ein grundlegendes Werk zum HEIDELBERGER vorlegte. Die Auslegung von Alfred Rauhaus (Den Glauben verstehen anhand des Heidelberger Katechismus. Eine Einführung in die Gedankenwelt des Christentums, Wuppertal 2003) fand nur in einem begrenzten konfessionellen Milieu Zuspruch. 99 Eberhard Busch, Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998. 100 Wilhelm Niesel führte im Frühjahr 1978 in Japan in die evangelische Theologie ein und orientierte sich, vor allem im Abschnitt »Die Verherrlichung Gottes« (Ethik) am HEIDELBERGER, vgl. Wilhelm Niesel, Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre, Konstanz 1983. 101 Walter Herrenbrück (jun.), Der Heidelberger Katechismus – überholtes Lehrbuch oder Wegweiser für die Gemeinden, in: RKZ 124 (1983), S. 42–46 (Wilhelm Niesel zum 80. Geburtstag gewidmet). 102 Heinz Schütte, Der Heidelberger Katechismus. Ein Bezugspunkt des Mühens um Katholisch-Reformierte Einheit, in: KNA - Ökumenische Information, Nr. 42–48/79. Schüttes Aufsatz und die Stellungnahme des Moderamens in epd-Dokumentation

308 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« die aktuellen Auseinandersetzungen um die Apartheid investieren musste. Etwas abständig musste es zu Beginn der 80er Jahre wirken, als im Zusammenhang mit einer auf das Jubiläum 1963 zurückgehenden historischen Untersuchung von Walter Henß103 ein Reprint der 3. Auflage des HEIDELBERGERs erschien – auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung und in völlig anders gelagerten Bekenntnisherausforderungen. Das schon numerisch wenig elegante 425. Jubiläum im Jahr 1988 erwies die weitgehende HEIDELBERGER-Vergessenheit.104 Der Rest ist Schweigen – es standen andere Themen auf der kirchlichen und konfessionellen Agenda und mit dem Herbst 1989 dann auch ungeahnte politische Themen. Und wenn es doch um Bekenntnisse und Bekennen ging, dann wurde Barmen präferiert, das 1984 – nicht zuletzt in theopolitischen Zusammenhängen – gefeiert wurde, oder in aktuellen Kontexten das Bekenntnis von Belhar (s.u.). In der Satzung des Reformierten Bundes e.V. ist zu lesen: »Zur Erfüllung seiner Aufgaben soll sich der Bund besonders darum bemühen, dass das Wort Gottes der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments so verkündigt und gelehrt wird, wie es in den Bekenntnissen der Reformation, insbesondere im Heidelberger Katechismus und aufs Neue bekannt in der Theologischen Erklärung von Barmen, bezeugt wird« (§ 3 [2] 1.). Neben den (überwiegend) reformierten Landeskirchen zählen 10/1981. Vgl. auch Kirchliches Jahrbuch 108/109 (1981/1982), Gütersloh 1985, S. 138–142. Vgl. Jan Rohls, Was ist für ein unterschied zwischen dem Abendtmal des Herrn und der Bäpstlichen Meß? Frage 80 und die Anerkennung des Heidelberger Katechismus, in: Una Sancta 38 (1983), S. 188–197. – Bereits eine Generation zuvor hatte es eine reformiert-katholische Annäherung gegeben, und zwar in einem 1944 von Karl Barth und Hans Urs von Balthasar abgehaltenen Seminar an der Universität Basel »Die katholische Kritik am Heidelberger Katechismus« (vgl. Reichel, Dogmatik auf dem Weg, a.a.O., S. 182, Anm. 30). 103 Walter Henss, Der Heidelberger Katechismus im konfessionspolitischen Kräftespiel seiner Frühzeit. Historisch-bibliographische Einführung der ersten vollständigen deutschen Fassung, der sogenannten 3. Auflage von 1563 und der dazugehörigen lateinischen Fassung, Zürich 1983. – Das Vorwort datiert von 1979. 1983 war immerhin ein Gedenkjahr des HEIDELBERGERs, nämlich das 400. Todesjahr Zacharias Ursinus. Vgl. Gustav Adolf Benrath, Zacharias Ursinus als Mensch, Christ und Theologe, in: RKZ 124 (1983), S. 154–158. 104 Im RKZ-Jahrgang 1988 bleibt der HEIDELBERGER nahezu unerwähnt; im Jahrgang darauf wird ein im Jubiläumsjahr gehaltener Bielefelder Gemeindevortrag des jungen reformierten Theologen Michael Welker, seinerzeit Professor in Münster, abgedruckt: Michael Welker, Freiheit und Halt im christlichen Glauben. 425 Jahre Heidelberger Katechismus als Bekenntnisschrift, in: RKZ 130 (1989), S. 156–160. Wissenschaftlich meldet sich zu Wort: J.F. Gerhard Goeters, Caspar Olevianus als Theologe, in: MEKGR 37/38 (1988/1989), S. 287–344. Immerhin wagte Rudolf Bohren in diesen Jahren, den HEIDELBERGER als seelsorglichen Text fruchtbar zu machen: ders., In der Tiefe der Zisterne. Erfahrungen mit der Schwermut, München 1990. Kaum beachtet wurde Gunter Zimmermann, Der Heidelberger Katechismus als Dokument des subjektiven Spiritualismus, in: Archiv für Reformationsgeschichte 85 (1994), S. 180–204.

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auch unierte Landeskirchen wie Baden den HEIDELBERGER zu ihren Bekenntnisgrundlagen. Dennoch ist unschwer festzustellen, dass der HEIDELBERGER kaum noch im kirchlichen Unterricht der Gegenwart Berücksichtigung findet. Verfechter eines Katechismus-Unterrichts in der zurückliegenden Generation und theologisch, didaktisch und ästhetisch nicht wirklich wegweisende Unterrichtsmaterialien aus reformierten Kontexten105 wurden wie auch modernisierende Versuche, nicht zuletzt aus der Schweiz (Christian Keller, oder auch sehr traditionell: Gerold Meili), in Deutschland bestenfalls betroffen beäugt. Auch der liturgische Gebrauch des Katechismus ist aufs Ganze gesehen eher verschwindend gering; sogar in der reformierten Freikirche sind immer weniger Katechismuspredigten zu hören.106 Im letzten Quartal des 20. Jahrhundert ist so weniger Kritik als zunehmend Unkenntnis des HEIDELBERGERs das Problem der Rezeptionsgeschichte – auch innerhalb des reformierten Protestantismus, seiner historischen Trägergruppe. Die 1997 vorgenommene Textrevision wurde zunächst allgemein begrüßt, in der Vorbereitung des Jubiläumsjahres 2013 allerdings auch gelegentlich als nicht texttreu genug kritisiert.107 Nach den positiven Erfahrungen des EKD-weit begangenen CalvinJahres 2009, das den deutschen Reformierten viel Aufmerksamkeit und ungeahnte öffentliche Sympathien bescherte,108 identifizierten sie sich im Jubiläumsjahr 2013 gerne mit dem HEIDELBERGER.109 Ob es, neben all den wissenschaftlichen und publizistischen Erträgen, dadurch auch zu einer nachhaltig in der kirchlichen Praxis feststellbaren Renaissance des HEIDELBERGER kommen wird, steht noch dahin. Während des 20. Jahrhunderts ist also weder »das reformierte Wesen« verschwunden noch hat es »ein Ende mit der reformierten Kirche« 105

Vgl. die beiden bis heute in den Regalen reformierter Pfarrhäuser stehenden Unterrichtswerke, so unterschiedlich sie sind: Günter Twardella, Bausteine zum Heidelberger Katechismus, 2 Bde, Gladbeck 1982 (und weitere Auflagen); Anbahnung. Bilder und Texte zum Heidelberger Katechismus. Erarbeitet und zusammengestellt vom Ausschuß für Konfirmandenunterricht der Evangelisch-reformierten Kirche, Wuppertal 1998. 106 Immerhin wurde aus diesem Bereich eine umfangreiche Publikation gewagt, die eine dreißigjährige Predigtpraxis mit dem HEIDELBERGER wiedergibt: Arend Klompmaker, Predigten zum Heidelberger Katechismus, Bad Bentheim 2012. 107 In der dortigen Einleitung (vgl. wie Anm. 50) wird vermerkt, dass man mit dieser Textgestalt die Fassung von 1963 revidiert habe; das ist insofern nicht ganz richtig, als dass die Jubiläumsausgabe 1963 eine Wiederauflage der Lippischen Ausgabe von 1938 darstellt. Insofern war die Revision 1997 nach annähernd 60 Jahren überfällig. 108 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Weltgestaltung. Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009, in: evangelische aspekte 20 (2010), Heft 3: August, S. 24–29 (Wiederabdruck in diesem Band, Anhang). 109 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Kleines Buch mit großer Wirkung. 450 Jahre Heidelberger Katechismus: das Jubiläumsjahr 2013, in: Kirchliches Jahrbuch 140 (2013). Dokumente zum kirchlichen Zeitgeschehen, Gütersloh 2015, S. 91–109 (Wiederabdruck in diesem Band, Anhang).

310 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« gegeben, wie die ganz zu Anfang zitierten Skeptiker meinten. Ob dies ursächlich damit zusammenhängt, dass man am HEIDELBERGER festgehalten hat, wie die implizite Forderung lautete, sei dahingestellt. Nach einer sehr intensiven theologischen Rezeption kam es zu einer kirchlichen Erosion des Katechismus-Gebrauchs. Der HEIDELBERGER wurde nicht durch die immer wieder beklagte »Lutheranisierung« einst reformierter Gemeinden in Unionskirchen nach 1945 verdrängt, sondern er verlor binnenkonfessionell an praktischer Bedeutung. Und doch zeigt das 20. Jahrhundert zunächst auch eine vitale Rezeption: Reformierte vergewisserten sich ihrer konfessionellen Identität mit einem Rekurs auf die alten Bekenntnisgrundlagen. Daran konnte im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2013 angeknüpft werden. Innerhalb des reformierten Protestantismus bezogen sich sehr unterschiedliche Theologien und Frömmigkeitsstile auf den HEIDELBERGER. Karl Barth urteilte gar, dass »[a]uch ein vernünftiges Luthertum« – von drei geringfügigen konfessionellen Spezifika abgesehen – den HEIDELBERGER gutheißen müsste; dieser sei nämlich ein »Dokument allgemeiner evangelischer Erkenntnis«. Vor wenigen Jahren scheiterte – endgültig? – der Versuch, die Confessio Augustana als EKD-weites Bekenntnis einzuführen.110 Vielleicht hätte man lieber auf den HEIDELBERGER zurückgreifen sollen.111 4. Bekennen in ökumenischer Dimension Bis heute leistet der HEIDELBERGER wertvolle Dienste im kirchlichen Unterricht – allerdings weniger in Deutschland als in der weltweiten reformierten und unierten Konfessionsfamilie. Eine kritische Anfrage konnte im »Jahrhundert der Ökumene« auch in der räumlich-kulturellen Dimension nicht ausbleiben: Kann in völlig neuen und anderen Kontexten ein mitteleuropäisches Dokument aus dem 16. Jahrhundert als Grundlage des eigenen (autochthonen) Glaubens übernommen werden? So fragte Raden Soedarmo 1963 für die indonesischen Verhältnisse.112 110

Vgl. Georg Plasger, Die Confessio Augustana als Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland? Anmerkungen und Überlegungen aus reformierter Perspektive, in: ZThK 105 (2008), S. 315–331. 111 Auf die ökumenische Valenz des HEIDELBERGERs und damit auch auf eine mögliche Funktion innerhalb des deutschen Protestantismus weist hin Johannes Ehmann, Mit Ecken und Kanten. Der Heidelberger Katechismus wirkt über Ursprungsort und Entstehungszeit hinaus, in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 14 (2013), S. 26–28. 112 Raden Soedarmo, Der Schritt in die andere Welt. Der Katechismus als europäisches Geistesgut im Werden der Jungen Kirchen, dargestellt am Beispiel Indonesiens, in: Coenen, Handbuch, a.a.O., S. 231–248. Zu Indonesien Christian und Pebri Goßweiler,

4. Bekennen in ökumenischer Dimension

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Auch wird man zu unterscheiden haben zwischen dem Gebrauch des HEIDELBERGER in Majoritäts- und in Minoritätskirchen. Minderheiten müssen sich immer rechtfertigen, warum es sie überhaupt gibt, und Polemik gegen ihre konstitutiven Texte ertragen. Dennoch wird der HEIDELBERGER, nicht selten in Kurzversionen, für den Unterricht in Missionsgebieten eingesetzt – bis in die unmittelbare Gegenwart. So ist er auch gegenwärtig als elementares Lernbuch in Gebrauch. In Australien, in Indonesien, in Korea, in Südafrika, in den Niederlanden und in Nordamerika (USA und Kanada) und anderswo werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und im HEIDELBERGER unterrichtet. Als Bekenntnisschrift bietet der HEIDELBERGER den Kirchen für mehr als 100 Millionen Christen weltweit eine theologische Orientierung. Die reformierten Kirchen weltweit verstehen »Bekennen« überwiegend als einen aktuellen Prozess, bei dem freilich die alten Bekenntnisse sehr nützlich sein können. So betonen auch diejenigen Kirchen, die neuere Bekenntnistexte verantworten, in nicht geringer Zahl ebenso ihre Orientierung am HEIDELBERGER KATECHISMUS.113 Alte Bekenntnistexte und kontextuelles Bekennen müssen sich nicht ausschließen. Der Reformierte Protestantismus kennt eine offene Bekenntnisgeschichte. An drei zeitgenössischen Beispielen kann dies exemplifiziert werden: (1) Das Belhar-Bekenntnis aus Südafrika von 1986114 und die Accra-confession des Reformierten Weltbundes (jetzt: World Communion of Reformed Churches [WCRC]) aus dem Jahr 2004 schreiben direkt und indirekt die Bekenntnistradition von Barmen fort – und in den Herkunftskontexten von Barmen wird überlegt, wie nun auch hier diese neuen Bekenntnistexte der globalen Konfessionsfamilie rezipiert

Der Heidelberger interkulturell. Erfahrungen in Indonesien, in: Heimbucher / SchneiderHarpprecht / Siller, Zugänge, a.a.O., S. 178–184. 113 Lukas Vischer (Hg.), Reformiertes Zeugnis heute. Eine Sammlung neuerer Bekenntnistexte aus der reformierten Tradition, Neukirchen-Vluyn 1988. Vgl. jetzt Margit Ernst-Habib, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 158), Göttingen 2017. 114 Der Text und eine Einführung finden sich in Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, S. 267–273; Marco Hofheinz u.a. (Hg.), Reformiertes Bekennen heute. Bekenntnistexte der Gegenwart von Belhar bis Kappel, Neukirchen-Vluyn 2015, S. 18–25. – Von methodischen und inhaltlichen Ähnlichkeiten über Anspielungen bis hin zu direkten Zitaten des HEIDELBERGERs im Belhar-Bekenntnis spricht Piet J. Naudé, Neither Calendar nor Clock. Perspectives on the Belhar Confession, Grand Rapids / Cambridge 2010, bes. S. 5–10 et passim. Vgl. auch Dirk J. Smit, Das BelharBekenntnis: Kontext, Hermeneutik und Folgen? Belhar im Kontext südafrikanischer Bekenntnisbildung, in: Maren Bienert u.a. (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung (reformiert! 2), Zürich 2017, S. 203–219.

312 »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden« werden können.115 (2) In den USA führte ein längerer Prozess zu einem neuen kirchlichen Grundlagen- und Lehrdokument.116 (3) In der reformierten Schweiz haben Überlegungen zum »Bekenntnis« seit einigen Jahren viel Raum eingenommen.117 Der HEIDELBERGER ist ökumenisch, da er weltweit Kirchen verbindet. August Lang, reformierter Aktivist der jungen ökumenischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte immer wieder auf dieses Charakteristikum hingewiesen und lieferte auch die inhaltliche Begründung. Der HEIDELBERGER könne so ökumenisch wirken, da er bereits von Beginn an ökumenisch war, indem unterschiedliche theologische Traditionen und Strömungen in ihm miteinander verbunden wurden und aufs Ganze gesehen eher unpolemisch argumentiert wurde.118 Auch ein Jahrhundert später wird resümiert: »[G]iven the orientation of the Heidelberg Catechism, within German Protestantism the Reformed tradition is clearly more ecumenically minded than the majority of Lutherans.«119 So ist der HEIDELBERGER heute mehr denn je in seiner Geschichte tatsächlich ökumenisch: konfessionsverbindend und weltumspannend.

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Das Bekenntnis von Belhar und seine Bedeutung für die reformierten Kirchen in Deutschland, hg. von der Lippischen Landeskirche in Zusammenarbeit mit der Evangelisch-reformierten Kirche, Detmold 21998; Martina Wasserloos-Strunk (Hg.), Denken und Handeln für Gerechtigkeit, Hannover 2011; Gemeinsam für eine andere Welt. Globalisierung und Gerechtigkeit für Mensch und Erde. Die Herausforderung des Bekenntnisses von Accra für die Kirchen, Redaktion: Allan Boesak, Johann Weusmann, Charles Amjad-Ali, o.O. [Leer/Johannesburg] o.J. [2010]. 116 Belonging to God: A First Catechism; Study Catechism; beide Texte finden sich unter www.pcusa.org. Vgl. bereits von 1990: A Brief Statement of Faith, in: Hofheinz, Reformiertes Bekennen, a.a.O., S. 50–56; Margit Ernst-Habib, »Wir, hier, jetzt – bekennen dies!« Kontext und Normativität reformierten Bekennens – ein Fallbeispiel aus den USA, in: Bienert u.a., Neuere reformierte Bekenntnisse, a.a.O., S. 237–253. 117 »Als Grundlage für eine Vernehmlassung zum reformierten Bekennen in der Schweiz«: Reformierte Bekenntnisse. Ein Werkbuch, hg. von Matthias Krieg, Zürich 2009. Vgl. auch Matthias Zeindler, Das Credo von Kappel, in: Bienert u.a., Neuere reformierte Bekenntnisse, a.a.O., S. 271–286; neben zahlreichen kleineren Bekenntnistexten vgl. den von Franz Christ erstellten Text: Brannte nicht unser Herz in uns? Ein Basler Katechismus, Basel 2011. 118 Lang, Heidelberger Katechismus, a.a.O., S. 47. 119 Plasger, Safekeeping and Sifting, a.a.O., S. 146.

Ein reformierter Charismatiker Der Weg Carl Octavius Vogets zwischen reformierter Tradition und pfingstlerischem Aufbruch

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten die Gemeinschafts- und die Heiligungsbewegung ein verlebendigendes Moment im deutschen Protestantismus dar. Auch landeskirchliche Unierte, Lutheraner und Reformierte ließen sich inspirieren und wirkten mit. Auch im Umfeld der erwecklichen Reformierten des Wuppertals, des Bergischen Landes, des Niederrheins und des Siegerlandes, die zum Teil auch im Reformierten Bund engagiert waren, gab es personale Schnittmengen mit diesen Frömmigkeitsbewegungen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam es zu mehreren Krisen dieser Bewegung, nachdem aus Großbritannien und aus Nordamerika die Pfingstbewegung auch Deutschland erreicht hatte und in der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung ihren Ort suchte. Mit ihren charismatischen Signaturen wie der Glossolalie bewirkte sie spektakuläre Massenereignisse, stieß aber auch auf energischen Widerspruch – nicht zuletzt bei den Leitungen der staatskirchlichen Landeskirchen – und provozierte Spaltungen. Der Reformierte mit dem größten Einfluss in der Pfingstbewegung war Carl Octavius Voget, der den pfingstlerischen Aufbruch in Nordamerika miterlebt hatte und ihn dann in seine Heimat transferierte. 1. Herkunft und Studium Die weitläufige Familie Voget war und ist eine bedeutende Gelehrtenfamilie in Ostfriesland, die zahlreiche Pastoren, Ärzte und Lehrer hervorgebracht hatte. Carl Octavius Voget wurde als Sohn des Gutsbesitzers Gustav Hinrich Voget und Johanne Friederike, geb. Ledeboer, am 9. Juni 1874 in Jesteburg im Kreis Harburg geboren, wuchs aber seit 1878 mit später zwölf Geschwistern auf dem Gut Harzhof bei Eckernförde auf, das der Vater gepachtet hatte. Nach dem Besuch der Mittelschule wechselte er Ostern 1888 an das Schleswiger Gymnasium, ging ein Jahr später aber in das Haus seines Onkels Friedrich Julius Voget (1843–1940), der als Pastor in Holthusen (Ostfriesland) wirkte.1 Dem 1

Vgl. L. Houtrouw, Verzeichnis der vom 1. Januar 1901 bis zum 31. Dezember 1940 verstorbenen reformierten Prediger Ostfrieslands nebst einigen biographischen Notizen (als Manuskript gedruckt), Norden 1951, S. 27f. (Nr. 84). Friedrich Voget war ein

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Ein reformierter Charismatiker

Besuch der Lateinschule in Weener folgte der Besuch des traditionsreichen Ubbo-Emmius-Gymnasiums in Leer, das Voget Ostern 1894 mit dem Abitur verließ. Nach eigenen Angaben2 bewog die Lektüre von Schriften Johann Heinrich Jung-Stillings Voget zum Theologiestudium, eine Rede des Basler Professors Bernhard Riggenbach (1848–1895) auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im August 1893 in Emden ließ ihn Basel als erste Station seines Studiums wählen. Während die theologische Fakultät ihn nicht tiefer prägte, empfand er die Privatlektüre von Johann Tobias Becks Werken, auf die Riggenbach verwies, und die Vorlesungen auf der außerhalb der Universität angesiedelten »Predigerschule« als eine wohltuende »Immunisierung« gegen die Bibelkritik, die Beziehungen zum Haus der Basler Mission und zur Heilsarmee bildeten in Voget eine tiefe Frömmigkeit und ein reiches geistliches Leben aus, das wohl außerhalb des volkskirchlichen mainstream lag. Nach einem Jahr wechselte er an die Universität Kiel in die Nähe seines Elternhauses; auch dort ließen ihn dogmatische und bibelkritische Vorlesungen unbefriedigt. Ab dem Wintersemester 1895/1896 studierte Voget an der eher konservativen Greifswalder Fakultät, wo er mit Hermann Cremer (1834– 1903), einem biblizistischen Neutestamentler, der aber beinahe den ganzen theologischen Fächerkanon unterrichtete, den ihn prägenden Lehrer fand. Nach kurzer Vorbereitungszeit im Hause seines Onkels Pastor F.J. Voget in Holthusen bestand C.O. Voget das Erste theologische Examen am 14./15. September 1897 in Aurich mit »gut«. Nach kurzen Hospitationen am Königlichen Seminar in Aurich und beim Holthuser Onkel wohnte er ab Anfang 1898 wieder bei seinen Eltern, um die jüngeren Geschwister zu unterrichten; im April des Jahres übernahm der Vater einen Hof in Niendorf bei Lübeck, den die Familie 1908 wieder aufgab, um nach Emden zu ziehen. Vogets Arbeitskraft war bereits in jungen Jahren durch eine Schmerzerkrankung stark beeinträchtigt. Im Jahr 1899 trat er als Hilfsprediger einem weiteren Onkel, dem Plantlünner Pastor Garnerus, zur Seite und bereitete sich auf die nächste Prüfung vor: Das Zweite theologische Examen bestand er am 25. September 1900 in Aurich mit »gut«. Am 1. Oktober 1900 wechselte er als Hilfsprediger nach Möhlenwarf, wo er, der Sohn eines Gutspächters, sensibel die soziale Situation der Landarbeiter wahrnahm (vgl. den untenstehenden Anhang).

erwecklicher Pastor, der nicht nur Charisma besaß, sondern mit seinem theologischen Format eine führende Gestalt auch des Coetus reformierter Prediger war. 2 Vgl. die Personalakte des Consistoriums Aurich im Archiv der Ev.-reformierten Kirche, Leer, Candidatenverzeichnis Nr. 183, Predigerverzeichnis Nr. 275 und Nr. 387.

2. Begegnung mit dem charismatischen Christentum in Nordamerika

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2. Begegnung mit dem charismatischen Christentum in Nordamerika Voget blieb allerdings nur bis Ende 1901 Hilfsprediger in Möhlenwarf. Danach trat er eine zunächst für zwei Jahre geplante Erholungs- und Studienreise an, weil seine kränkliche Konstitution eine regelmäßige geistige Anstrengung nicht zuließ. Da zwei jüngere Brüder eine Farm in Salem im US-Staat Oregon bewirtschafteten, reiste er nach Übersee. In Amerika studierte Voget die kirchlichen Verhältnisse, nahm die Religionsfreiheit und die konfessionelle und staatsunabhängige Pluralität wahr, wo Laien eine herausragende Rolle spielten, und wurde so ein ganz früher Ökumeniker. Im erwecklichen Milieu des Methodismus und freier Denominationen findet er seine geistliche Heimat. Gewiss wird er an der Westküste der USA direkt vom Beginn bzw. der Vorgeschichte der modernen Pfingstbewegung und der Zungenrede erfahren (Los Angeles 1906), sie vielleicht sogar unmittelbar erlebt haben, als dort schon vor 1906 urchristliche Charismen herbeigesehnt wurden. Obwohl er die Anstellungsfähigkeit in seiner reformierten Heimatkirche gefährdet, verschiebt er die Heimreise einige Male, um weitere Eindrücke auf Reisen durch die USA zu sammeln. In einem der regelmäßig der Kirchenleitung gesandten Studienberichte schreibt Voget, dass er »mehr und mehr die Überzeugung gewinne, daß meine besondere Anlage und Aufgabe auf dem Gebiete freier, evangelistischer Thätigkeit liegen dürfte.« So strebt er nach seiner Heimkehr etwa eine Anstellung in der Inneren Mission an, nachdem er in Amerika als Prediger bei Evangelisationen beteiligt war. Bevor Voget Anfang 1905 nach Deutschland zurückkehrt und seine Wiederaufnahme in die Landeskirche beantragt, heiratet er am 19. Dezember 1904 Emma Rebecka Iler (1872–1952) in Beautville/Oregon. Sechs Kinder wurden dem Ehepaar geboren; zwei Söhne folgten später ihrem Vater in den Pfarrdienst der reformierten Landeskirche nach. 3. Erste Pfarrstelle und pfingstlerische Aufbrüche in Ostfriesland Am 30. Juli 1905 wird Voget in Bunde, im südwestlichen Teil Ostfrieslands in unmittelbarer Nähe zur niederländischen Grenze, ordiniert und mit der dortigen zweiten Pfarrstelle betraut. Kurz darauf wird ihm qua Amt die Schulaufsicht über die Schulen in Bunderneuland und Boen übertragen. Sein nachmaliger Schwager Heinrich Oltmann beschrieb Vogets Prägung Jahrzehnte später so: »Bevor er sein erstes Pfarramt in Bunde antrat, hatte der Kandidat mehrere Jahre unter seinen Brüdern in dem amerikanischen Küstenstaat Oregon am Stillen Ozean gelebt. Die nachhaltige Berührung mit dem kirchlichen Leben Nordamerikas hat ihm wohl jene ökumenische Weite gegeben, die sein Denken und Ver-

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Ein reformierter Charismatiker

halten zeitlebens auszeichnete. Ökumenische Originalität ist bei allen Veränderungen im Laufe von 30 Jahren der Grundzug seiner theologischen Haltung geblieben.«3 Diese erworbene spirituelle Offenheit und der weite Horizont kirchlichen Denkens führten jedoch rasch zu Problemen. Noch vor Ablauf des ersten Dienstjahres erreicht die Auricher Kirchenleitung im Mai 1906 eine umfangreiche Petition Bunder Ältester und Bürger, mit der gegen Vogets Amtsführung Beschwerde erhoben wurde. Vor der für Disziplinarfälle zuständigen Kirchenkommission muss Voget sich rechtfertigen, warum er während einer Evangelisation im Mai einem – aus der Sicht der Beschwerdeführer – inkompetenten Redner (immerhin einem Prinzen!) das Wort überlassen und eine schismatische Versammlung besucht habe, vor der auch der Generalsuperintendent D. Petrus Georg Bartels brieflich gewarnt habe. Mit der Ermahnung, »nicht zu sehr seinen eigenen Weg zu gehen«, wird am 29. Juni 1906 die Angelegenheit in einer Aussprache erledigt; allerdings trifft noch fünf Jahre später ein anonymes Klageschreiben »mehrere[r] Interessenten« bei der Kirchenleitung des Inhalts ein, dass Voget sich keineswegs von den »Versammlungen des Gesundbetens, Zungenredens und Bekenntnisablegens« fernhielte; das Phänomen der Glossolalie erfasste in Vogets Anwesenheit nicht nur einige Rheiderländer Baptisten, sondern auch seine Ehefrau. Der zeitgenössische, äußerst kritische Beobachter Paul Fleisch, beschreibt, dass Voget in Hannover und näherhin in Ostfriesland »zunächst ziemlich allein geblieben« sei. Von zwei Baptisten in seinen Versammlungen wurden glossolalische Phänomene berichtet, »Voget mußte nur jauchzen während dieser Vorgänge … Doch empfing dann wenigstens seine Frau am 14. Februar [Jahr?] abends, ungefähr halbsechs, ihre Pfingsttaufe. ›Ihr Mund war voll heiligen Lachens, da der Geist auf sie fiel, und dann sprach sie in einer deutlichen und schönen Sprache, so etwa wie Chinesisch denken wir.‹«4 In den turbulenten Jahren der Gemeinschafts-, Heiligungs- und Pfingstbewegung, in denen es zu zahlreichen Klärungen und Trennungen kam, »blieb Voget, der auch anderen die Hände auflegte, der Zungenbewegung treu.«5 Natürlich gab es bleibende Vorbehalte, wie sich auch Heinrich Oltmann erinnerte: »Es hat damals Menschen gegeben, die an jener Erweckungsbewegung nur manche befremdende Äußerlichkeiten und 3

Zitiert nach Christian H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung (Mülheimer Richtung) nach ihrem geschichtlichen Ablauf, Altdorf bei Nürnberg 1958, S. 213. 4 Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, dritte, vermehrte und vollständig umgearbeitete Auflage. Zweiter Band: Die deutsche Gemeinschaftsbewegung seit Auftreten des Zungenredens, 1. Teil: Die Zungenbewegung in Deutschland, Leipzig 1914, S. 19. Das Zitat stammt aus einer pfingstlerischen Zeitschrift. 5 P. Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Zweiter Band: Die deutsche Gemeinschaftsbewegung seit Auftreten des Zungenredens, a.a.O., S. 249.

3. Erste Pfarrstelle und pfingstlerische Aufbrüche in Ostfriesland

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gelegentliche schwärmerische Entgleisungen sahen und kritisch abseits stehen blieben. Sie haben nie das Entscheidende und Bleibende jener großen Zeit erkannt, in der das Wort Gottes als eine lebendige Kraft Gottes ungezählte Menschen packte und sie zur Anbetung der im Glauben erfahrenen Gnade Gottes brachte.«6 Es gab auch grundsätzlich wohlwollende, aber in der konkreten Sache skeptische Stimmen unter den Pfarrern der Landeskirche. Johannes Conrad (1871–1957), seit 1907 Pfarrer in Emden, einer Hochburg erwecklicher Kreise und Gruppen, verstand das »Sehnen nach größerer Fülle des heiligen Geistes« in den Gemeinden als »berechtigt«, sah allerdings »manche Geschwister … der sogenannten Pfingstbewegung« auf »Irrwegen«, da »über manche ein falscher Geist gekommen« sei. Er appellierte: »Darum prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind. Erkennungszeichen sind 1. die Demut, 2. ein stiller, sanfter, nicht aufgeregter Geist, 3. biblische Klarheit in den Hauptpunkten der Lehre.«7 Conrad und Voget kannten sich von den Sitzungen des Coetus reformierter Prediger in Emden. Es ist nicht gut denkbar, dass dort nicht auch über die pfingstlerischen Phänomene gesprochen worden ist. Was hier kirchenobrigkeitlich misstrauisch beobachtet, von einem lutherischen Theologen kritisch beurteilt und auch von einem reformierten Amtsbruder skeptisch gesehen wird, liest sich später in anderen Kontexten anders, denn Vogets Name ist mit einer Phase lebendigen Glaubens und der Erweckung im Rheiderland verbunden: »Die weitreichendste und tiefgehendste Erweckung,« so urteilt Heinrich Oltmann dreißig Jahre später, »die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, war aber die, die bald nach Dienstantritt des Pastors Carl Octavius Voget anbrach, von Bunde ausgehend, nach Stapelmoor weitergehend und bald über einen großen Teil des Rheiderlandes sich ausbreitend.«8 Es bleibt bei allem impliziten Paternalismus der Erwecklichen festzuhalten, dass diese Erweckungen durchaus auch emanzipatorisch wirkten, indem auch den beinahe noch leibeigenen Landarbeitern und Landarbeiterin6 7

Zitiert nach C.H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, a.a.O., S. 213. P. Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Zweiter Band: Die deutsche Gemeinschaftsbewegung seit Auftreten des Zungenredens, a.a.O., S. 87. Conrad selbst gehörte zur Gemeinschaftsbewegung. Die 18. Gnadauer Pfingstkonferenz im Juni 1914 in Wernigerode erlebte ihn als Redner über »Dienen wir einander in der Liebe?«, bei der 22. Konferenz im Mai 1920 in Elbingerode trug er über »Die biblische Beurteilung der Sünde« vor. 8 Zitiert nach C.H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, a.a.O., S. 213 (die fehlerhafte Bildung der Superlative im Zitat ist norddeutsches Idiom). Vgl. auch Paul Weßels, »… für oder wider Christus!« Heinrich Oltmann, Carl Octavius Voget und die Erweckungsbewegung in Bunde 1905/1906, in: Der Deichwart, Beilage der Zeitung »Rheiderland« Nr. 5, 2001; ders., Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892–1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002, S. 31–39 (a.a.O., S. 32f.: Biogramm C.O. Vogets).

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nen eigenes Subjektsein gelehrt wurde: Du bist von Gott erlöst, Du kannst Dein Leben nach Deinem Glauben ausrichten. Vogets Rolle wird nicht zu gering zu veranschlagen sein, da die zeitgenössische Literatur ihn als den ostfriesischen Repräsentanten der Pfingstbewegung nennt.9 Neben der dominierenden Figur Jonathan Paul wächst Voget in den folgenden Jahren langsam in führende Positionen der Pfingst- und Gemeinschaftsbewegung hinein. Dabei versuchte Voget mit großem persönlichem Engagement, Spaltungen und Irritationen innerhalb der Bewegung zu überwinden und sie zum Dienst innerhalb der Landeskirchen zu bewegen; eigenständigen Organisationen stand er ablehnend gegenüber. Krisen innerhalb der Bewegung, die durch starken Enthusiasmus und unkonventionelle religiöse Ekstase – etwa 1907 bei der Glossolalie – hervorgerufen wurden, trat er bereits in frühen Jahren mit einer die religiöse Begeisterung relativierenden Bußfertigkeit entgegen. Im Jahr 1919 führte eine Besprechung führender »Brüder«, die Voget in Leer organisiert hatte, zu einer Konsolidierung der Bewegung. Aufgrund erneut auftretender gesundheitlicher Probleme versuchte Voget im Sommer 1908 einen Wechsel in die bedeutend kleinere Gemeinde Ihrenerfeld, aber die Bunder Gemeinde bewegte ihn zum Bleiben. Knapp ein Jahr danach, am 28. März 1909, rückte er durch Wahl auf die erste Pfarrstelle in Bunde auf. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse meldete sich Voget im Herbst 1914 freiwillig als Dolmetscher zum Militäreinsatz, »diente« allerdings nicht oder nur kurz, da er dem unausgebildeten Landsturm angehörte. 4. Im Dienst der Pfingstbewegung in Deutschland Am 1. Mai 1920 scheidet Voget aus dem Dienst der reformierten Landeskirche aus und wird – obwohl auch ein Wechsel nach Amerika möglich gewesen wäre – Gemeinschaftsleiter in Brieg in Schlesien, einem der Zentren der pfingstlerischen Bewegung in Deutschland. Die dortige Gemeinde brauchte nach großen Unruhen, die wohl auch durch einen enthusiastischen »Libertinismus« mit bedingt waren, eine neue Führung. In den nächsten vier Jahren gelingt es Voget, die Lage in Brieg und Schlesien zu befrieden. Im Jahr 1924 wird er in Weener (Ostfriesland) wohnhaft, gewinnt aber offenbar keinen prägenden Einfluss auf die in Ostfriesland anfangs der 20er Jahre um sich greifende Erweckung. Viel9

Vgl. P. Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Zweiter Band: Die deutsche Gemeinschaftsbewegung seit Auftreten des Zungenredens, a.a.O., S. 9.19.110.199.249. Vgl. auch Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung, (ursprünglich Gießen) Berlin (Ost) 1979, S. 193f.

4. Im Dienst der Pfingstbewegung in Deutschland

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mehr gehört er für die nächsten neun Jahre, also fast während der gesamten Zeit der Weimarer Republik, zu den führenden Köpfen der Pfingst- oder Gemeinschaftsbewegung im Deutschen Reich, die sich nach Vogets Einschätzung damals in einer kritischen Phase befand. In zeitgenössischen Texten wird er als der »geistig bedeutendste[.] [Führer der Pfingstbewegung]« angesehen; immerhin flossen aus seiner Feder einige bemerkenswerte Lebensbilder mystischer, amerikanischer und englischer Theologen; Voget redigierte auch die Zeitschrift »Heilszeugnisse«. In der historischen Forschung wird diese Zeit der Pfingstbewegung auch als »Ära Voget« (P. Fleisch) bezeichnet.10 Durch zahlreiche Konferenzen und die ausgedehnte Predigerreisetätigkeit sowie sein publizistisches Schaffen innerhalb der pfingstlerischen Publizistik gewinnt Voget in der Tat neben Jonathan Paul (1853–1931) großen Einfluss. Bei aller Kritik und Distanz zur volkskirchlichen Realität scheint es Vogets Bestreben gewesen zu sein, es nicht zu einem endgültigen Bruch mit den evangelischen Landeskirchen kommen zu lassen. Nach eigener Angabe habe er gar versucht, »eine Organisation dieser Bewegung zu hintertreiben«, um sie bei den verfassten Kirchen zu halten.11 Durch seine Kenntnis der Theologie Hermann Friedrich Kohlbrügges war er vor »Schwärmertum« gefeit. Ende der 20er Jahre strebte Voget eine Vereinigung mit den Gnadauern an. Als Vogets Haltung einer weniger enthusiastischen Vorstellung des gelebten Glaubens sich durchsetzt, kommt es natürlich zu Enttäuschungen Andersdenkender, die Voget Quietismus vorwerfen. Als er zu der Kräfte zehrenden Arbeit und den ermüdenden Richtungsstreitigkeiten eine Alternative sucht, zieht es ihn aufgrund seiner »Liebe zur angestammten Heimatkirche« wieder zu den ostfriesischen Reformierten. Am 10. Januar 1929 stellt er einen Antrag auf Wiederaufnahme in die Pastorenschaft, der zunächst wohlwollend entgegen genommen wird. Bei dem bei Übertritten und Neuaufnahmen von Pastoren obligatorischen Kolloquium vor dem Theologischen Prüfungsausschuss am 18. April 1929 entstehen jedoch Zweifel, ob er loyal zur Landeskirche stehen und seine Kontakte zur Pfingstbewegung aufgeben würde. Voget selber lehnt die Wiederaufnahme unter der Bedingung, auf Betätigung innerhalb der Pfingstbewegung zu verzichten, im Mai 1929 rundweg ab.12 Erst nach Vorlage etlicher Artikel und Aufsätze 10 Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland. Ihr Wesen und ihre Geschichte in fünfzig Jahren, Hannover 1957, v.a. S. 266–332. 11 Zur Frage nach einer Distanzierung von den verfassten Kirchen innerhalb der Gemeinschaftsbewegung vgl. die zeitgenössische Darstellung von Wilhelm Heienbrok (Hg.), Evangelische Kirchenkunde. Ein Buch von Geist und Werk der deutschen evangelischen Kirchen, Bielefeld/Leipzig 1929, S. 159–167. 12 Entsprechend äußerte sich Voget auch auf dem Hauptbrüdertag 1929 in Berlin, er scheide »keineswegs aus der Pfingstbewegung, bleibe vielmehr nach wie vor herzlich mit [ihr] verbunden.« C.H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, a.a.O., S. 150f.

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Ein reformierter Charismatiker

Vogets gibt sich vor allem Landessuperintendent Walter Hollweg zufrieden.13 Am 12. Juni 1929 stimmt der Landeskirchenvorstand dem Wiederaufnahmegesuch Vogets zu, am 6. Oktober 1929 wird er als Pastor in Stapelmoor (Rheiderland) eingeführt. In Stapelmoor war sein gleichnamiger Großvater als Emeritus im Jahre 1885 gestorben. 5. Im reformierten Kirchenkampf Bereits vor 1933 bekannte sich Voget als Anhänger Hitlers und der Nationalsozialisten, auch wenn seine eigentliche politische Heimat die Deutschnationalen gewesen sein dürften. Direkt politisch wurde er nicht tätig. Von der »nationalen Erhebung 1933« sind die politischen Anmerkungen in seinen Aufsätzen und Artikeln auch noch bis 1934 begeistert. Voget war auch nach der ›Auflösung‹ der Parteien und anderer Ereignisse, die die Rechtsstaatlichkeit des neuen Staates manifest in Frage stellten, der Enthusiasmus nicht abhanden gekommen. In einem Artikel in der Reformierten Kirchenzeitung vom Sommer 193314 war von Voget zu lesen: »Freiheit und Brot, das waren die beiden unentbehrlichen Volksgüter, die wir von Hitler erhofften für uns und unsere Kinder und weshalb wir ihm unsere Stimme gaben an den Tagen, da die Wahlurne über unseres Volkes Geschicke entschied. Nun hat die ersehnte Stunde geschlagen: ›Es flattern Hitlers Fahnen über allen Straßen!‹« (S. 247). Freiheit sei keine Zuchtlosigkeit, sie könne es nicht geben »ohne ernste, strenge Zucht, ohne straffe Autorität. Das hat Adolf Hitler begriffen, und dafür sind wir ihm Dank schuldig!« (S. 248) Davon abstrahiert sah er mit dem Aufkommen der Deutschen Christen (DC) und des NS-Neuheidentums von Alfred Rosenberg und Mathilde Ludendorff geradezu endzeitliche Kämpfe auf die Kirche zukommen. Im ersten Jahr des »Dritten Reiches« engagierte sich Voget verstärkt im Coetus reformierter Prediger Ostfrieslands, wo er zwischen den wenigen reformierten DC und den ostfriesischen Gemeinschaftsleuten und den sich sammelnden Bekenntniskräften um Heinrich Oltmann zu vermitteln versuchte.15 Seit 1934 war Voget Mitglied des Landeskirchenvorstandes und als theologisches Mitglied auch des Landeskirchenrates; die Alternative zu ihm wäre der »Kohlbrüggianer« Pastor Peter Schumacher aus Uelsen 13 Zu Walter Hollweg vgl. in diesem Band den Aufsatz Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf biographische Studien, Abschnitt 6. 14 Carl Octavius Voget, Die freie Kirche im freien Staat, in: RKZ 83 (1933), S. 247– 249. – Zu »1933« vgl. auch Manfred Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: GuG 29 (2003), S. 481–511. 15 Vgl. P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 251–260.

5. Im reformierten Kirchenkampf

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gewesen, der wohl wegen des geographischen Interessensausgleichs zwischen Ostfriesland und Bentheim nicht zum Zuge kam. Als Mitglied der Kirchenleitung nahm Voget an den Verhandlungen zum Uelsener Protokoll am 21./22. Dezember 1934 im Uelsener Pfarrhaus teil, in dem sich die Kirchenleitung im Gespräch mit der erst im Herbst 1934 konstituierten Bekenntnisgemeinschaft (BG) und dem bekannten reformierten Theologen Karl Barth vom Wortsinn her auf eine bekennende Position festlegen ließ, daraus dann aber keine praktischen Konsequenzen zog, obwohl die Thesen auf dem Landeskirchentag vom 24. bis zum 27. November 1936 angenommen wurden.16 Voget wurde kirchenobrigkeitlich als Versöhner zwischen den Lagern eingesetzt, und er hat sich selber sicherlich auch so verstanden: So wirkte er 1933 versöhnend im Coetus zwischen den »Deutschen Christen« und der Gruppe um Heinrich Oltmann (s.o.), so sollte er im Falle Gerhard Brunzemas, der bei seiner Amtseinführung durch einen DC-Mann 1935 in Emden einen Skandal herbeiführte, versöhnlich zwischen Brunzema und dem Emder Kirchenrat um Jan Remmers Weerda klären.17 Nach längerem Herzleiden, während dessen ihn sein Sohn in der Gemeinde vertrat, verstarb Carl Octavius Voget am 9. September 1936 in Stapelmoor im Alter von 62 Jahren. Die Kirchenleitung rief ihm nach, dass er »die ihm verliehenen reichen Gaben des Geistes in unermüdlicher Arbeit und mit hingebender Treue in den Dienst unserer Kirche gestellt« habe. Durch die Formulierung der Todesanzeige, die die »schweren Notjahre, die über die Kirche gekommen sind«, nennt, gerät die Landeskirche in Konflikt mit der »Ostfriesischen Tageszeitung« (Emden), die diesen Passus so nicht drucken zu können glaubt, während das »Rheiderland. Tageszeitung und Anzeiger« den Text am 11. September unverändert abdruckt – ein sehr schlichtes Beispiel für die enger werdenden Handlungsspielräume der Kirche in einer Gesellschaft, die vom nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat mehr und mehr geprägt wurde. Der mit heutigen Maßstäben als evangelikal zu charakterisierende Vorsitzende der Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der reformierten Landeskirche, Pastor Heinrich Oltmann aus Loga, der Vogets jüngste

16

Zum Uelsener Protokoll vgl. den entsprechenden Exkurs im Beitrag über Heinz Otten in diesem Band; vgl. auch Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009, S. 135–141. 17 Vgl. H. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 180–198; P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 324f. Zu J.R. Weerda vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Weerda, Jan Remmers, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 397–399; ders., Art. Weerda, Jan Remmers, in: BBKL XV. Ergänzungen II (1999), S. 1451–1457.

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Ein reformierter Charismatiker

Schwester Taletta (geb. 1893) 1918 geheiratet hatte18 und also Schwager Vogets war, saß von 1930 bis 1932 dem ostfriesischen Gemeinschaftsverband vor. Oltmann sagte während des Gedächtnisgottesdienstes für Carl Octavius Voget am 14. September 1936, Voget sei eine geistlich sehr gereifte Persönlichkeit gewesen. »So fand ihn der mit dem Jahre 1933 einbrechende Kampf um die Kirche nicht unvorbereitet. Das Wesen der mit dem Jahre 1933 in die evangelische Kirche einbrechenden Irrlehre und Gewalt erkannte er ganz tief, wenn er wiederholt sagte: ›Dahinter steht der leibhaftige Satan.‹« Oltmann sprach offen davon, »daß wir beide in der Beurteilung des Weges, den wir heute im Dienst an der Kirche zu gehen haben, zeitweilig auseinander gingen … Wir waren einig in der Beurteilung …, daß die Kirche einem konzentrischen antichristlichen Angriff gegenüber steht …, einig in der Beurteilung …, daß sie [sc. die Kirche] die Ordnungen Gottes verlassen hat … [b]ei den Kirchenleitungen, die die Einfalt des bekennenden und praktisch handelnden Gehorsams gegen die Schrift so oft [hat] fehlen lassen, um durch kirchenpolitische Berechnungen, durch behördliche Zweckmäßigkeitserwägungen, durch Zurückschrecken vor den Göttern des Weltgeistes der Kirche eine Sicherung zu verschaffen, die doch keine Sicherung ist, weil der schlichte und praktische Gehorsam gegen das Wort des Herrn die einzige Sicherheit der Kirche ist … Sein Ziel war die freie, d.h. die für das Evangelium freie Kirche in einem freien, d.h. für seinen gottgewiesenen Auftrag freien Staate … Die Verschiedenheit der Erkenntnis zwischen uns ging um die Frage nach dem Wege, auf dem alle diese Anliegen … zu vertreten seien.«19 An diesen Aussagen des Exponenten der reformierten BG über ein Mitglied der Kirchenregierung lässt sich erahnen, wie schwer es fallen muss, die Positionen innerhalb der reformierten Landeskirche während des Kirchenkampfes historisch gerecht zu beurteilen. Voget und Oltmann standen sich theologisch gewiss sehr nahe und beurteilten doch kirchenleitendes Handeln unterschiedlich. Heinrich Oltmann nahm im November 1936 Vogets Platz im Landeskirchenvorstand ein;20 er verstarb allerdings auch bereits am 8. Februar 1937, so dass der erwecklich-missionarische Flügel der reformierten Landeskirche, sei es auf Seiten der Kirchenleitung, sei es auf Seiten der Bekennenden Kirche, seiner führenden Gestalten beraubt war. 18 19

Vgl. P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 132–134.298–300.347–349.364f. Zitiert nach dem gedruckten Manuskript Heinrich Oltmann, Gedächtnis-Gottesdienst in der reformierten Kirche zu Stapelmoor anläßlich der Beerdigung des Pastors Carl Octavius Voget am 14. September 1936 (als Manuskript gedruckt), Leer o.J. (1936) (teilweise abgedruckt in: C.H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, a.a.O., S. 211–217). 20 Vgl. P. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 350.

5. Im reformierten Kirchenkampf

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Wenn nicht alles täuscht, war Carl Octavius Voget, der in Nachrufen als »ein Mann von lauterster Gesinnung, reichster Begabung und ausgeprägter Eigenart« bezeichnet wurde, eine der größten religiösen Begabungen, die die reformierte Landeskirche der Provinz Hannover je in ihren Reihen hatte. Wäre es ihm gelungen, pfingstlerisches Gedankengut und einen entsprechenden geistlichen Erfahrungsraum in seine reformierte Herkunftskirche zu transferieren, hätte sie zur konfessionellen Avantgarde gehört – jedenfalls ist die weltweite Pfingstbewegung, deren Anfänge Voget in den Vereinigten Staaten miterlebte, bereits jetzt mit Abstand der größte und erfolgreichste Flügel des globalen Protestantismus. Das freundliche Andenken an Carl Octavius Voget ist mit dem Tode derer, die mit ihm die Rheiderländer Erweckung anfangs des 20. Jahrhunderts erlebt hatten, verstummt. Werke: unzählige Artikel und Aufsätze in den Zeitschriften der Pfingst- und Gemeinschaftsbewegung »Auf der Warte«, »Pfingstbotschaft«, »Lied des Lammes« u.a., Mitherausgeber der »Heilszeugnisse«, Artikel auch in der Reformierten Kirchenzeitung und im Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden. Aus Bundes vergangenen Tagen. Zur Erinnerung an die 25jährige Jubelfeier des evang[elischen] Männer- und Jünglingsvereins zu Bunde (16. Januar 1910), dargereicht von den Pastoren C.O. Voget und A.H. Lötter, o.O. o.J. (Bunde 1910); Die freie Kirche im freien Staat, in: Reformierte Kirchenzeitung 83 (1933), S. 247–249; Wesen und Gestalt der Kirche. Von dem Evangelium und den Bekenntnissen, in: Reformierte Kirchenzeitung 83 (1933), S. 261f.; ausführlicher dass., in: Reformierte Kirchenzeitung 34 (1934), S. 69–71.77–80. Literatur: Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, 2. Band, 1. Teil: Die Zungenbewegung in Deutschland, Leipzig 1914; Heinrich Oltmann, Gedächtnis-Gottesdienst in der reformierten Kirche zu Stapelmoor anläßlich der Beerdigung des Pastors Carl Octavius Voget am 14. September 1936 (als Manuskript gedruckt), Leer o.J. (1936) (teilweise abgedruckt in: C.H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, a.a.O. (s.u.), S. 211–217); Nachrufe in Sonntagsblatt für evangelischreformierte Gemeinden 45 (1936), S. 382, Reformierte Kirchenzeitung 86 (1936), S. 310; L. Houtrouw, Verzeichnis der vom 1. Januar 1901 bis zum 31. Dezember 1940 verstorbenen reformierten Prediger Ostfrieslands nebst einigen biographischen Notizen (als Manuskript gedruckt), Norden 1951, S. 27 (Nr. 82); Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland. Ihr Wesen und ihre Geschichte in fünfzig Jahren, Hannover 1957 (Neudruck u.d.T. Geschichte der Pfingstbewegung in Deutschland 1900–1950, Marburg 1983); Christian H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung (Mülheimer Richtung) nach ihrem geschichtlichen Ablauf, Altdorf bei Nürnberg 1958 (v.a. S. 211–217); Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover) (AGK 8), Göttingen 1961; Jan Luiken Oltmann, Heinrich Oltmann. Pastor in Loga 1921–1937, Stationen eines Lebens, Weener 1987 (v.a. S. 60); Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994; Hans-Georg Ulrichs, Heinz Otten. Ein vergessenes Schicksal aus dem reformierten Kirchenkampf, Bovenden 1994 (vgl. in diesem Band den Aufsatz über H. Otten); Ernst Kochs / Diddo Wiarda, Erbe und Auftrag. 450 Jahre Coetus der evangelisch-reformierten Prediger und

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Ein reformierter Charismatiker

Predigerinnen Ostfrieslands, Leer 1994; Hans-Georg Ulrichs, »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig ...« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: Reformierte Kirchenzeitung 136 (1995), S. 82–89; Familiengeschichte Voget, o.O. o.J. Quellen: Personalakte des Consistoriums Aurich im Archiv der Ev.-reformierten Kirche, Leer, Candidatenverzeichnis Nr. 183, Predigerverzeichnis Nr. 275 und Nr. 387. Nachlass: teils vorhanden privat. Das Grabmal C.O. Vogets befindet sich auf dem Friedhof der evangelisch-reformierten Gemeinde Stapelmoor.

Anhang Von Armut und Mystizismus der Landarbeiter und dem Egoismus der Bauern.Wie Carl Octavius Voget ein ostfriesisches Dorf um 1900 beschrieb In der Personalakte des Pastors Carl Octavius Voget im Archiv der Evangelisch-reformierten Kirche in Leer findet sich ein detaillierter Bericht über das Leben in Möhlenwarf im Jahre 1901. C.O. Voget war vom 1. Oktober 1900 bis Ende 1901 in Möhlenwarf als Hilfsprediger tätig. Obwohl er aus der großbäuerlichen Schicht kam, hat C.O. Voget doch mit Sensibilität und Sympathie die Lage der armen Landbevölkerung wahrgenommen und das Verhalten der Bauern beklagt. In einem Bericht vom 28. Oktober 1901, den die Auricher Kirchenleitung von ihm erbeten hatte, um über die Notwendigkeit einer eigenständigen Pfarrstelle in Möhlenwarf besser unterrichtet zu sein, schreibt der junge Theologe Folgendes:

Gemäß einem unter dem 13. November 1900 ausgesprochenen Wunsch des königlichen Konsistoriums liegt es mir nun ob, »über die Eigenart der Filiale Möhlenwarf – Zusammensetzung der Bevölkerung, sociale, religiöse, sittliche Zustände, sektiererische Propaganda etc. – mich etwas näher zu äußern.« Die Bevölkerung Möhlenwarfs setzt sich in der Hauptsache zusammen aus Landarbeitern, Fuhrleuten und Handelsleuten, wozu noch zwei Gastwirte, zwei Müller, einige Kaufleute und ein paar kleine Landgebräucher kommen. In socialer Beziehung ist es ein beklagenswerter Übelstand, daß auf dem teilweise ziemlich unfruchtbaren Heidestrich Möhlenwarf – Tichelwarf – Stapelmoorerheide eine unverhältnismäßig große Zahl von Arbeitern sich zusammendrängt, von denen die meisten einen mehr oder weniger weiten Weg zu ihrer Arbeitsstätte zurückzulegen haben. Es ist eine bedauerliche Folge der mit der allgemeinen Freizügigkeit zusammenhängenden Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, daß unsern landwirtschaftlichen Arbeitern das Heimatrecht in den Bauerndörfern, deren Scholle sie bauen, versagt wird. Auf diese Weise muß mancher Arbeiter 2–4 Stunden täglich hin und her wandern, um zu seiner Arbeitsgelegenheit zu gelangen. Sollte ein unternehmender Kopf über kurz oder lang inmitten dieser zahlreichen Arbeiterbevölkerung, die zudem während der Wintermonate bisweilen wochenlang ohne Arbeit und

Anhang

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Verdienst ist, eine Fabrik einrichten – derartige Pläne werden bereits erwogen –, so würde sich der Egoismus der Bauern bitter rächen und der Charakter unserer Gemeinden unter dem anfangs zweifellos freudig begrüßten Tausch der mühsamen Landarbeit mit lohnenderer Fabrikbeschäftigung unberechenbaren Schaden leiden können. Bis jetzt noch zeigt die in teilweise sehr ärmlichen Verhältnissen lebende Bevölkerung dieser Gegend eine recht erfreuliche Empfänglichkeit für die Wahrheit [der kirchlichen Verkündigung] und einen ausgeprägten Sinn ernster Gottesfurcht, dem auch der Rohe sich nicht völlig entziehen kann, wiewohl die Spuren verderblicher socialdemokratischer Einwirkung sich nicht mehr verkennen lassen. Bleibt die Gemeinde ohne eigene treue pastorale Pflege und nur auf die immer mehr sich lockernde kirchliche Verbindung mit Weener angewiesen, so würde ein baldiges Anheimfallen an die Socialdemokratie einerseits und an die baptistische und altreformierte Denomination andererseits mit Sicherheit zu erwarten sein. Es fehlt nämlich der Gemeinde bei allem religiösen Interesse doch an einem im Worte gegründeten und in schriftgemäßer, klarer Erkenntnis der Wahrheit gefestigten Kern, der Zeugniskraft genug besäße, um als Licht und Salz [Matthäus 5,13f.] durch Wandel und Wort nachhaltig auf das Ganze zu wirken. Ein unklarer Mysticismus, verworrene Begriffe über den ordo salutis [Heilsordnung] und eine einseitige Betonung des Gefühls unter Zurücksetzung des praktischen Gehorsams [gegen Gottes Gebote] lassen manchen zu keinem munteren Zeugen der Gnadengabe des Heils werden. Unermüdliche, möglichst einfach gehaltene biblische Unterweisung, ein vorbildlicher Wandel in Liebe sowie eine ununterbrochene persönliche Berührung des Pfarrers mit den einzelnen Gemeindegliedern, wie sie von Weener aus nicht möglich ist, kann da allein Wandel schaffen. Einer solchen Arbeit gegenüber hat die Propaganda der Baptisten von Weener her, noch die der Altreformierten von Bunde her viel zu bedeuten, wiewohl die religiöse Kraft des Baptismus auch in Zukunft sich stärker erweisen wird als die oft einseitige, quietistisch [auf die innerliche Erbauung] gerichtete Predigt der Abgeschiedenen [Altreformierten]. Zum Schluß noch einige Bemerkungen über sittliche Zustände in der Gemeinde. Der Kampf gegen die Trunksucht wird in unserer Gegend nie ruhen dürfen. In Möhlenwarf wird man bei dem ungewöhnlichen Kinderreichtum der Arbeiterfamilien der heranwachsenden Jugend besondere Sorgfalt zuwenden müssen. Die Ehe ist leider in der Regel eine Mußehe, doch lernt man darüber milder urteilen, wenn man bedenkt, welchen Versuchungen die jungen Leute in den Jahren der Reife schon durch die Wohnungsverhältnisse ausgesetzt sind. Sehr erfreulich dagegen ist es, daß nach dem Fehltritt in den meisten Fällen die Ehe nachträglich nach staatlicher und kirchlicher Ordnung vollzogen wird, sodaß uneheliche Geburten immerhin eine Ausnahme bilden.

»Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«1 Karl Bauer – ein reformierter Kirchenhistoriker aus Baden

1. Einleitung Obwohl Karl Bauer ein umfangreiches Œuvre hinterlassen hat und von Karl Barth durchaus für akademische Aufgaben empfohlen worden war, ist dieser reformierte Kirchenhistoriker heute nahezu unbekannt. Er gehörte nicht zum organisierten mainstream der deutschen Reformierten, sondern stand – nachdem er aus dem Pfarrdienst einer unierten Landeskirche ausgeschieden war – als Privatgelehrter eher im Abseits. Da seine Ehe kinderlos blieb, pflegte niemand die familiäre Erinnerung an ihn. Ein persönlicher Nachlass wurde nicht bewahrt. Im Mittelpunkt des folgenden Portraits steht Bauers Lebensweg, nicht jedoch sein wissenschaftliches Schaffen; wer sich in dessen akademisches Werk vertiefen möchte, erhält mit dem erstellten Schriftenverzeichnis am Ende eine Orientierungshilfe. 2. Herkunft und Ausbildung Karl Christof Gustav Adolf Bauer2 wurde am 23. Juni 1874 als Sohn von Dr. phil. Heinrich Bauer und dessen Frau Julie, geb. Altfelix, in Rastatt geboren. Sein Vater war dort bis 1875 Divisionspfarrer, wurde dann aber als reformierter Pfarrer (ab 1908: Geheimer Konsistorialrat) nach Frankfurt/Main berufen.3 So wurde die Mainmetropole Bauers Heimatstadt,4 wo er von 1883 bis 1892 das Städtische Gymnasium besuchte. Karl Bauer studierte 1892 an der Universität Heidelberg, im Studienjahr 1893/94 in Berlin, wo er u.a. philosophische Vorlesungen 1

Mit diesem Satz seines Lehrers Karl Holsten (1825–1897), endet Karl Bauers Antrittsvorlesung 1919. 2 Er darf nicht verwechselt werden mit dem gleichnamigen Künstler Prof. Karl Bauer (1868–1942). 3 Vgl. Heinrich Bauer, Pfarrer der deutschen evang.-reformierten Gemeinde zu Frankfurt a.M. und Geheimer Konsistorialrat, 31. Januar 1915: Ansprachen bei seinem Begräbnis mit der letzten Predigt des Heimgegangenen und einem Abriß seines Lebens, o.O. 1915. 4 Als Heimatanschrift gab Bauer im Schriftverkehr mit dem Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe an: 5. Bürgerstraße 5, Frankfurt a.M.

2. Herkunft und Ausbildung

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bei Wilhelm Dilthey hörte; danach setzte er sein Studium in Heidelberg fort und lernte dort neben Prof. Adolf Hausrath (1837–1909) den Kirchenhistoriker Prof. Georg Grützmacher (1866–1939) kennen. Wie sein Vater schloss sich auch Karl Bauer dem Akademisch-theologischen Verein zu Heidelberg an. Im Spätjahr 1895 (8. Oktober) legte Bauer die theologische Vorprüfung ab und nach dem folgenden Besuch des Praktisch-Theologischen Seminars in Heidelberg5 im Jahr darauf die theologische Hauptprüfung. Am 3. November 1896 wurde er »recipiert«, im selben Monat zeichnet ihn die Universität Heidelberg mit der Goldmedaille für eine Preisarbeit der theologischen Fakultät aus. Bauers erste Stationen im badischen Kirchendienst waren: zum 1. März 1897 Vikar beim Dekan in Kehl, ab dem 22. Dezember 1897 Stadtvikar in Karlsruhe, für eineinhalb Jahre unterbrochen wegen Verwendung im Sekretariat des EOK (1. August 1898–28. Februar 1900).6 Ihm wird »unermüdliche Arbeitslust u[nd] ... freundliche[s] Wesen« attestiert. Während seiner Zeit im EOK hilft Bauer beim Aufbau des Kindergottesdienstes in Karlsruhe mit. In die Karlsruher Zeit fällt auch Bauers erste größere Veröffentlichung »Die Geschichte des akademisch-theologischen Vereins zu Heidelberg«. Nach mehreren erfolglosen Bewerbungen7 und Ablehnung eines Antrags auf Studienurlaub8 wird Bauer zum 1. August 1904 als Pfarrverwalter für zunächst sechs Monate nach Donaueschingen entsandt. Nachdem er sich am 27. Dezember 1904 unter anderem auch für die dortige Pfarrstelle beworben hatte, wird er dort 1905 zum Stadtpfarrer bestellt und bleibt für die kommenden 14 Jahre.9

5

Vgl. Walther Eisinger, Das Heidelberger Praktisch-Theologische Seminar. »Pflanzschule« und Seminar für junge Theologen, in: ders., »... und fällt deswegen auch in Gottes Sprache«. Beiträge zu Johann Peter Hebel, Philipp Melanchthon, zu Homiletik und Religionspädagogik sowie ausgewählte Predigten, herausgegeben von Johann Anselm Steiger und Hans-Georg Ulrichs. Mit einer Werkbibliographie von Arthur Hermann, Heidelberg 2001 (auch erschienen als: Sonderveröffentlichung des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden I), S. 245–276. 6 In der landeskirchlichen Personalakte sind ein handschriftlicher Lebenslauf, die Examensklausuren, die Vikariatsberichte und -predigten enthalten (LKA Karlsruhe, PA Bauer, Karl). 7 Bewerbungen Bauers liegen vor 1900 auf die Mittelstadt in Karlsruhe, im April 1904 auf die Altstadtpfarrei in Weinheim und eine weitere Bewerbung nach Mannheim. 8 Am 30. April 1904 stellt Bauer den Antrag wegen einer größeren wissenschaftlichen Reise zwecks Altertumswissenschaft des Heiligen Landes. 9 Zahlreich sind aber Bauers Versuche bereits in den ersten Donaueschinger Jahren, in eine größere Stadt versetzt zu werden. Es liegen Bewerbungen vor für Konstanz (1908), Heiliggeist Heidelberg, Trinitatiskirche Mannheim (beide 1909), Ludwigskirche Freiburg und Christuskirche Heidelberg (beide 1910) – allesamt doch exponierte Pfarrstellen der badischen Landeskirche, auf die Bauer hat wechseln wollen.

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»Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«

3. Pfarramt und persönliche Bedrängnis in Donaueschingen 1905–1919 Die evangelische Gemeinde Donaueschingen war zu Bauers Zeit recht jung. Zwar existierte dort ab 1821 eine Hofpredigerstelle, aber erst 1870 kam es zu einer Pastoration und schließlich 1878 zu einer etatmäßigen Pfarrstelle.10 Ein Höhepunkt im gottesdienstlichen Leben der Gemeinde war sicherlich, wenn Kaiser Wilhelm II. mit Familie und Hofstaat einoder zweimal jährlich zum Urlaub in die Nähe kam und für gewöhnlich am Gottesdienst teilnahm. Dann wurden Einlasskarten gedruckt, ohne die eine Gottesdienstteilnahme wegen Überfüllung nicht möglich war. »Für Kinder und Katholiken bleibt die Kirche geschlossen«, wie der Kirchengemeinderat am 16. April 1906 zu einem entsprechenden Anlass festschreibt.11 Zunächst scheint Bauer als Gemeindepfarrer sehr beliebt zu sein. Offensichtlich fruchten einige Innovationen von ihm. Die Visitation am 23./24. September 1905 ergab, »daß die kirchliche Arbeit in Donaueschingen wieder in einen geordneten und förderlichen Gang gekommen ist. Das Einvernehmen zwischen Pfarramt und Kirchengemeinderat ist ein gutes«.12 Dass Bauer gerne und schnell zur Feder griff, wird die Gemeinde zunächst eher gefreut als gestört haben. Seit dem 1. Juni 1905 erscheint der »Evangelische Gemeindebote für Donaueschingen und Diaspora«.13 In einer kleinen Broschüre aus dem Jahr 1906 erläutert Bauer den neu gegründeten Männerverein. Mit seiner Erfahrung aus der Karlsruher Zeit gelingt ihm 1908 die Einführung des Kindergottesdienstes. Aus seinem kirchlichen Unterricht und der Wahrnehmung, »daß es ... an Kenntnissen und Verständnis fehlt«, erwuchs ein Kompendium über das Elementarwissen für Konfirmanden und Konfirmierte, das 1909 in erster und 1910 in zweiter Auflage herauskam.14 Einmal konnte sein 10

Vgl. Heinrich Neu, Pfarrerbuch der evangelischen Kirche Badens von der Reformation bis zur Gegenwart, Teil I: Das Verzeichnis der Geistlichen geordnet nach den Gemeinden (VVKGB 13), Lahr 1938, S. 100f. 11 Protokoll-Buch des KGR (im Besitz der evangelischen Gemeinde Donaueschingen), S. 18. 12 So im Bescheid des Dekans, St. Georgen, den 25. September 1905, in: LKA Karlsruhe SpA 1338: »Kirchenvisitationen und Religionsunterricht in der Diaspora btr.« 1882–1924. 13 Der »Gemeindebote« bringt aber mehrfach Ärger ein. Im Protokollbuch des KGR steht unter dem 2. Juni 1909 vermerkt: »Der Kirchengemeinderat spricht seine Mißbilligung und sein Bedauern darüber aus, daß ... ein Leser des ›Gemeindeboten‹ diesen an Herrn Pfarrer [Klaus] Wurth [den nachmaligen Kirchenpräsidenten, der Vf.] in Bretten eingesandt und demselben damit wieder [!] Veranlassung zu einer erneuten [!] Kritik an dem Blatte gegeben hat.« Protokoll-Buch des KGR, S. 35. 14 Als Motto zitiert er den Anfang des Glaubensbekenntnisses der deutschen evangelisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt a.M. von 1554: »... so ist es der Mühe wert, daß ein jeder gewiß wisse, worin das wahre Christentum bestehe.« Das Kompendium beginnt mit dem zweiten Glaubensartikel! – Auch Bauers Vater hatte 1910 ein Unter-

3. Pfarramt und persönliche Bedrängnis in Donaueschingen 1905–1919

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publizistischer Ehrgeiz sogar Not lindern: Als am 5. August 1908 eine Brandkatastrophe beinahe die halbe Stadt Donaueschingen vernichtete,15 hielt Bauer am darauf folgenden Sonntag eine Predigt über Haggai 2,1–9, die zugunsten der Abgebrannten verkauft wurde – in immerhin fünf Auflagen bis zum 16.000. Exemplar. Bauer fördert die christliche Lehre, wo es ihm möglich ist. Offensichtlich macht er auch keinen Hehl aus seinen theologischen Präferenzen: Im Calvin-Jubiläumsjahr 1909 lädt er seinen Vater Heinrich Bauer zu einem Vortrag unter dem Titel »Aus dem Leben des Reformators Johannes Calvin« ein, den er später im Gemeindeboten abdruckt. Um 1910 wendet sich Bauer verstärkt den »protestantischen Belangen«16 zu und schreibt zwei »Flugschriften« für den Evangelischen Bund17 sowie einige kleinere Aufsätze und Predigten zu reformationsgeschichtlichen Themen. Dann jedoch bricht seine literarische Produktion für einige Jahre ab. Beginnende Auseinandersetzungen mit dem Kirchengemeinderat, mehrere Erkrankungen und nicht zuletzt der Krieg mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein. Im Februar 1911 verliert Bauer im Unterricht seine Beherrschung und schlägt einen Schüler. Ein Vikar Schurr zeigt dieses Delikt umgehend beim Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) in Karlsruhe an; zu einer Ahndung kommt es allerdings nicht. Der Visitationsbericht von 1911 ermahnt Bauer, weniger zu publizieren und mehr Seelsorge zu treiben. Wegen Arbeitsüberlastung erhält er 1912 einen Vikar zugewiesen, was seine Lage aber nicht grundlegend zu ändern vermag. Ein Attest vom 18. Oktober 1912 bescheinigt ihm arbeitsmindernde »Nervosität«,18 wodurch auch der Kirchenbau in Donaueschin-

richtsbuch herausgegeben: Konfirmandenunterricht von Dr. Heinrich Bauer, gedruckt bei Gebr. Knauer, Frankfurt 1910. 15 Im Evangelischen Gemeindeboten 4 (1908), Nr. 5 vom 16. August 1908 wird im Rahmen der Predigt, die danach im Druck erscheint, mitgeteilt, dass 125 Wohnhäuser verbrannt seien und damit 221 Familien bzw. fast 700 Menschen obdachlos geworden seien. Auch im Gemeindesaal wurden die »Brandgeschädigten« einquartiert. Am 19. August 1908 beschließt der KGR, dass Räumlichkeiten des Pfarrhauses dem Finanzamt überlassen werden (Protokoll-Buch des KGR Donaueschingen, S. 29). 16 Schon auf der KGR-Sitzung am 11. September 1909 anlässlich der Visitation am 11./12. September 1909 heißt es: »Ein etwas heikler Punkt ist das Verhältnis zur kath[olischen] Kirche.« Im März 1908 hatte Karl Bauer Sophie Zehner von der Konfirmation zurückgewiesen »wegen Hinneigung zur katholischen Kirche« (Protokoll-Buch des KGR, S. 27). 17 Da der Evangelische Bund 1887 in Frankfurt gegründet wurde und dabei auch die deutsch-reformierte Kirche als Versammlungsstätte diente, ist es möglich, dass Bauer über seinen Vater Zugang zu diesem Verein fand. 18 »Neurasthenie« wird als damalige »Modekrankheit« bezeichnet, die oft diagnostiziert wurde.

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»Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«

gen verzögert wird.19 Die im darauf folgenden Sommer durchgeführte Visitation (21./22. Juni 1913) markiert den Beginn von Auseinandersetzungen mit dem Kirchengemeinderat, die dann bis zu Bauers Ausscheiden aus dem Pfarrdienst andauern sollten. Im Bericht des Dekans vom 25. Juni wird zwar konzediert, dass die Gemeinde äußerlich wohlgeordnet sei, aber es wird auch vermerkt: »Besonders ist es ein Mißstand, der manche Erscheinung im Gemeindeleben erklärt, daß der Geistliche sich viel zu sehr auf seine Predigt- u[nd] Unterrichtstätigkeit u[nd] seine schriftlichen Amtsgeschäfte beschränkt u[nd] zu wenig persönliche Berührung mit seinen Gemeindegliedern sucht … Pfarrer Bauer, der seiner ganzen Anlage nach mehr für die stille Arbeit in der Studierstube geschaffen ist, auch sonst von sehr zurückhaltender Art ist, ist es nicht gegeben, seinen Gemeindegliedern, da wo er sich gibt, auch … nahezutreten.« Bauer sei »ein wissenschaftlich außerordentl[ich] tätiger Mann«. Dieser aber lässt nun kaum ein gutes Haar an seiner Gemeinde, im April 1914 kommt es zu Beschwerden wegen »Mißhelligkeiten« zwischen Bauer und dem Kirchengemeinderat.20 Zwei Älteste treten wegen Spannungen zum Pfarrer aus dem Gremium zurück. Der Krieg21 scheint zunächst eine Lösung des Konfliktes zu erübrigen, Bauer aber leidet weiterhin unter »ziemlich hochgradiger Nervosität«.22 Hinzu tritt in diesen schwierigen Jahren noch eine persönliche Tragödie in Bauers Leben: Am 9. Juli 1917 zeigt er noch stolz dem EOK an, dass er die Tochter Gerta (geb. 20. Mai 1898 zu Karlsruhe) des Lahrer Oberbürgermeisters Altfelix (wohl aus der weiteren Verwandtschaft seiner Mutter) heiraten wolle; auch bewirbt er sich um eine Kehler Pfarrstelle. Schon wenige Wochen später, am 10. August 1917, teilt das Dekanat Hornberg dem EOK mit, dass Bauer »aus triftigen Gründen« die Verlobung habe lösen müssen. Im Jahr 1918 tritt dann klar zutage, wie offenkundig das Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde zerrüttet ist. Im Frühjahr 1918 gibt es 19 Die 1913 eingeweihte Christuskirche ist ein Zentralbau mit Turm über dem ovalen Mittelteil. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde sie 1948/49 wieder aufgebaut; im Jahr 1974 wurde der Innenraum neu gestaltet. 20 Bauer bewirbt sich 1914 erfolglos um die Stelle in Heidelberg-Rohrbach. Als Bauers Vater am 31. Januar 1915 plötzlich verstarb, bewarb sich auch der Sohn – mit vier anderen Bewerbern aus Baden – auf dessen Stelle in Frankfurt, allerdings auch hier vergeblich. 21 Bereits seit 1913 gehörte Bauer zum »Landsturm«, ab dem 1. Oktober 1913 ist er Militärseelsorger des Standortes Donaueschingen. Unter der Kriegszeit fanden regelmäßig sonntags und donnerstags um 20.00 Uhr Kriegsandachten statt. Für das »Mobilmachungsjahr« 1916/17 beantragt er eine »Unabkömmlichkeitserklärung« (1936 behauptet er dagegen gegenüber den Universitätsbehörden in Münster, dass er selber um einen Fronteinsatz gebeten habe, der EOK allerdings wegen fehlenden Ersatzes gegen dieses Ansinnen votiert habe). Wegen seiner Militärseelsorge erhielt Bauer 1916 und 1918 Kriegsauszeichnungen. 22 So ein Attest vom 18. April 1916 (LKA Karlsruhe, PA Bauer, Karl).

3. Pfarramt und persönliche Bedrängnis in Donaueschingen 1905–1919

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eine Beschwerde gegen Bauer durch den Organisten: Bauer habe das Spielen eines Luther-Liedes untersagt. Am 19. September 1918 erteilt ihm der EOK einen offiziellen Verweis, der Kirchengemeinderat fordert einen Wechsel im Pfarramt. Der sollte dann erst realisiert werden, als sich für Bauer der Übergang ins akademische Lehramt öffnete. Da sein früherer Heidelberger Lehrer Georg Grützmacher zum Wintersemester 1914/1915 als Konsistorialrat und ordentlicher Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament nach Münster an die neu gegründete evangelisch-theologische Fakultät gewechselt war und Bauer zu ihm Kontakt hielt, konnte er sich mit seinen wissenschaftlichen Ambitionen ins Westfälische orientieren. Zwei Tage nach dem Rigorosum am 8. März wurde er am 10. März 1919 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelmsuniversität nach seinem Vortrag über »Antiochia in der ältesten Kirchengeschichte« summa cum laude zum lic. theol. promoviert. Thema seiner Doktorarbeit war »Die Einstellung des reformierten Gottesdienstes in der Reichsstadt Frankfurt a.M. im Jahre 1561«. Drei Tage später schreibt Bauer einen ausgesprochen frechen Brief an den Karlsruher EOK, in dem er die erfolgte Promotion mitteilt. Während der frühere EOK (gemeint ist wohl der unter Albert Helbings23 Ägide bis 1914) noch eine respektable Kirchenleitung gewesen sei und auch ihn unterstützt habe, sei das – so Bauer – gegenwärtig, also während der »Regentschaft« Eduard Uibels (1846–1925), nicht mehr der Fall. Da Grützmacher ihn wegen einer baldigen Habilitation nach Münster rief, strebte Bauer nach 22 Jahren im badischen Kirchendienst aus dem kirchlichen Amt und schied auf eigenen Wunsch zum 15. September 1919 aus. Im Zusammenhang mit Beschwerden aus der Gemeinde Donaueschingen, dass er sich weniger um die Belange der Gemeinde als um seine eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen gekümmert habe, wechseln der Angeklagte und die Aufsichtsbehörde noch einige harsche Briefe. Bauer bittet um Urlaub ab dem 1. Juni. Ein Tag nach Inkrafttreten seines Amtsverzichtes schreibt er dem EOK am 16. September 1919, dass er sich vom EOK aus der Landeskirche hinausgedrängt fühle. Im Bericht des neuen Pfarrers Karl Bender vom 10. Dezember 1920 anlässlich der Visitation am 18./19. Dezember steht über seinen Vorgänger: »Nachdem das Verhältnis zwischen dem letzten Pfarrer Lic. theol. K. Bauer ... und der Gemeinde immer unhaltbarer geworden war – eine a.o. Kirchenvisitation brachte am 20. Okt[ober] 1918 die nötigen amtlichen Feststellungen – entschloß er sich, auf seine Pfarre zu verzichten mit Wirkung vom 15. Sept[ember] 1919 an. Vom 1. Juni bis 15. Sept[ember] wurde er beurlaubt und auf den 15. Sept[ember] aus 23

Aus der Zeit um 1910 liegen mehrere freundliche Briefe Bauers an »Seine Exzellenz«, i.e. Kirchenpräsident Albert Helbing (1837–1914), vor. Offensichtlich fühlte er sich wohlwollend von Helbing wahrgenommen.

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»Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«

dem Dienst der Landeskirche entlassen.« Mit der Neubesetzung der Pfarrstelle trat für die Donaueschinger Gemeinde ausweislich der Kirchengemeinderatsprotokolle eine wesentliche Besserung ein, zumal Pfr. Bender sich rasch das Vertrauen der Gemeinde erwarb. 4. Lehrtätigkeit in Münster ab 1919 und wissenschaftliche Erfolge In Münster24 lebte Bauer – finanziell unabhängig – ganz für seine kirchenhistorischen Interessen und erwarb sich bald die Sympathien seiner Kollegen und anderer Weggefährten. Das Bild, das hier von Bauer zu zeichnen ist, steht in einem krassen Gegensatz zu dem, was sich aus seinen letzten Donaueschinger Amtsjahren ergab. Wilhelm Stählin erinnert sich: »Nicht vergessen habe ich den Kollegen Carl [sic!] Bauer, der als außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte ebenso ein gelehrter Forscher wie ein liebenswürdiger Mensch war. Seine unbestechliche Wahrheitsliebe brachte ihn während des dritten [sic!] Reiches in Schwierigkeiten, als er seine wissenschaftlich begründeten Zweifel an der Geschichte von dem großen Sachsenmord Karls des Großen äußerte.«25 Zunächst konzentrierte sich Bauer auf sein akademisches Fortkommen.26 Bereits im September 1919 – also nur ein halbes Jahr nach seiner Promotion! – habilitierte er sich mit der ersten Hälfte seiner Arbeit über den »Bekenntnisstand der Reichsstadt Frankfurt a.M. im Zeitalter der Reformation«27 in Münster und erhielt ab dem Sommersemester 1921 einen Lehrauftrag für die Geschichte der reformierten Kirche und Missionsgeschichte.28 Konnte er sich zunächst noch selber finanzieren, traf 24

Wohnsitz war Hornstraße 16. – Zur Fakultät in Münster vgl.: Die Evangelischtheologische Fakultät der Universität Münster (1914–1954), Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelmsuniversität zu Münster Heft 34, Münster 1955; Robert Stupperich, Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, in: DtPfrBl 64 (1964), S. 464–466; Wilhelm H. Neuser (Hg.), Die evangelisch-theologische Fakultät Münster 1914–1989 (Unio und Confessio 15), Bielefeld 1991. 25 Wilhelm Stählin, Via Vitae. Lebenserinnerungen, Kassel 1968, S. 223. 26 Die folgenden Ausführungen basieren auf Akten aus dem Universitäts-Archiv Münster (UA Münster). – Auch Historiker profitieren gelegentlich vom nationalsozialistischen Wahnsinn: im Universitäts-Archiv liegt ein Fragebogen zur Erfassung der arischen Abstammung usw. vor, aus dem zahlreiche exakte biographische Daten entnommen wurden, die anderenfalls hier nicht hätten mitgeteilt werden können. Am 26. Februar 1937 musste Bauer per Formular erklären: »Mir ist nicht bekannt, daß ich von jüdischen Eltern oder Großeltern abstamme.« 27 Der Titel des Habilitationsvortrags am 24. Juli 1919 lautete »Die Beziehungen Calvins zu Frankfurt a.M.«, die Antrittsvorlesung am 23. September 1919 »Ferdinand Christian Baur als Kirchenhistoriker« (gedruckt 1920 bzw. 1921/22). 28 Durchschlag des Beauftragungsschreibens des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 14. Januar 1921 findet sich in Personalakten Nr. 2

4. Lehrtätigkeit in Münster ab 1919 und wissenschaftliche Erfolge

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ihn die schwere Wirtschaftskrise hart; so musste er sich Ende 1923 gegen Gerüchte zur Wehr setzen, dass er gut versorgt sei. »Als ich mich im September 1919 hier habilitierte, hatte ich auf mein Pfarramt verzichtet, um mich ausschließlich meinen wissenschaftlichen Neigungen zu widmen. Ein Ruhegehalt bezog ich demgemäß nicht, war vielmehr lediglich auf die Zinsen meines Vermögens29 angewiesen. Diese waren für jene Zeit völlig ausreichend, um mir eine gesicherte Existenz zu garantieren. Ich sah auch keine Anzeichen dafür, daß in dieser Hinsicht ein so vollständiger Umschwung bevorstehe, wie ihn dann der Friede von Versailles herbeigeführt hat. Die Folgen des Umschwunges, der nun schon seit geraumer Zeit eingetreten ist, haben sich inzwischen für mich mehr und mehr fühlbar gemacht. Vermutlich seit Entrichtung des Reichsnotopfers gehöre ich zu denjenigen Privatdozenten, deren wirtschaftliche Existenz schwer gefährdet ist.«30 Immer wieder erhält er während der Inflation nachgebesserte neue Entschädigungen für seinen Lehrauftrag, so dass er sich mehr schlecht als recht hindurch helfen kann. Nachdem ihm am 21. März 1924 seine Fakultät »aufgrund seiner zahlreichen durch methodische Sorgfalt und exakte Einzelforschung gleich ausgezeichnete Beiträge zur Kirchengeschichte«31 den D. theol. h.c. verliehen hatte, wurde er 1925 daselbst apl. Professor, erhielt allerdings keinen kirchengeschichtlichen Lehrstuhl, obwohl er auf einer entsprechenden Berufsliste primo loco loziert worden war. In einem Entwurfstext der Fakultät heißt es: »Zunächst beantragen wir für den Herbst die Ernennung unseres kirchengeschichtlichen Privatdozenten Karl Bauer zum n[icht] b[eamteten] a[ußer] o[rdentlichen] Professor. Karl Bauer, der auf der Höhe seines Lebens sein badisches Pfarramt verlassen hat, um sich der reinen wissenschaftlichen Forschung zu widmen, ist in unserer Fakultät Privatdozent seit dem WS 1919. Er ist in den letzten Jahren an den Fakultäten in Wien und Bonn32 auf die Vorschlagsliste gesetzt worden, Bd. 1 (mit dem köstlichen Schreibfehler »die Gesichte der reformierten Kirche«!) des UA Münster. 29 Dieses stammte möglicherweise aus dem Erbe des 1915 verstorbenen Vaters. 30 Bauer an die Evangelisch-Theologische Fakultät, 18. Dezember 1923 (UA Münster, Personalakten Nr. 2 Bd. 1). 31 UA Münster, Ehrenpromotionsakten Nr. 21. 32 Der Moderator des Reformierten Bundes Prof. August Lang brachte auch Karl Bauer für die neu geschaffene Professur für reformierte Theologie in Göttingen ins Gespräch, die dann aber Karl Barth, der spätere Kollege Bauers in Münster, erhielt; vgl. Matthias Freudenberg, Die Errichtung der Professur für Reformierte Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 94 (1996), S. 237–257, hier: S. 256, Anm. 70 (Wiederabdruck in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie [Theologie. Forschung und Wissenschaft 36], Berlin 2012, S. 275–295). – Eine mögliche spätere Berufung nach Bonn, die über die Beziehungen des dorthin gewechselten Barth zu dem dortigen Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt

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wir selbst haben ihn für eine etwaige kirchengeschichtliche Professur in unserem Schreiben vom 6. Mai [19]25 an erster Stelle genannt und verweisen auf die dort beigefügte Charakteristik.«33 Mit der daraufhin folgenden Ernennung zum Professor wurde Bauers Mut belohnt, das Pfarramt zu verlassen und seinen kirchengeschichtlichen Neigungen zu folgen. Auch privat scheint der nunmehr 51jährige Gelehrte sein Glück gefunden zu haben. Am 13. April 1926 heiratet er die Studienrätin Dr. phil. Elisabeth Bauer (geb. am 24. Dezember 1891 in Neukirchen, gest. [?]), geb. Larfeld, eine Tochter des Bonner Professors D. Dr. Wilhelm Larfeld.34 Die Ehe blieb kinderlos. Wie motiviert Bauer ist, beweist seine literarische Produktion: Es erscheinen in den 20er Jahren zahlreiche Bücher, Aufsätze (vor allem in der ZKG) und Lexikonartikel (vor allem in der RGG2) – mehrere Bücher im Zusammenhang mit den akademischen Titeln 1919, die vor 1919 erarbeitet und auch teils geschrieben worden sind, so dass die erwähnten Klagen der Donaueschinger Kirchengemeinde und ihrer Vertreter wohl berechtigt gewesen waren. Dann gelingt Bauer aber auch die Publikation von vier teils umfangreichen Monographien in den Jahren von 1927 bis 1933: zu Valérand Poullain (1927), zur Wittenberger Universitätstheologie (1928)35, zu Gustav Adolf (1932) und zu seinem Heidelberger Lehrer Adolf Hausrath (1933).36 Seit 1925 ist Karl Barth Bauers Kollege in Münster.37 Beide kannten sich seit der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. Barth charakterisiert Bauer als »ein[en] feine[n] gelehrte[n] kleine[n] Mann«, der im Verlauf der Tagung »eine gute Dar-

betrieben werden sollte, ist erwähnt im Schreiben Bauers an Barth vom 18. Juli 1930 (Karl-Barth-Archiv Basel). 33 UA Münster, Kurator Personalakten Nr. 22 (Datum des Entwurf-Schreibens der Fakultät an den Kultusminister: 31. Juli 1925). 34 Wilhelm Larfeld (1858–1929) war evangelischer Theologe und klassischer Philologe, vgl. A. Meyer, Art. Larfeld, Willhelm, in: RGG2 III (1929), S. 1490. Larfeld war als Oberlehrer in Remscheid tätig, habilitierte 1920 im Neuen Testament und bot danach Übungen und Vorlesungen in »neutestamentlichen Hilfswissenschaften« an. 35 In diesem Buch versucht Bauer den Nachweis zu führen, dass die Reformation nicht mit Luthers Leben allein identifiziert werden dürfe, so wie es nach seinem Urteil die Orthodoxie, die Aufklärung, die Romantik und der Liberalismus gleichermaßen taten. – 1928 hält Bauer auf einem internationalen Historiker-Kongress den Vortrag »Die Genesis der Wittenberger Reformation«. 36 Es erschien nur Band 1. Band 2 wird als Manuskript im LKA Karlsruhe aufbewahrt (LKA Karlsruhe, 150.007 NL Hausrath 11). – Zu Hausrath vgl. jetzt Gottfried GernerWolfhard, Adolf Hausrath (1837–1909), in: Lebensbilder aus der evangelischen Kirche in Baden im 19. und 20. Jahrhundert, Band V: Kultur und Bildung, Heidelberg u.a. 2007, S. 101–121. 37 Vgl. Wilhelm H. Neuser, Karl Barth in Münster 1925–1930 (ThSt 130), Zürich 1985.

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stellung von Coccejus [gab]«.38 Bauer war wohl derjenige, der als Erster Anfang der 20er Jahre ein reformiertes Profil der Münsteraner Fakultät forderte, nicht zuletzt für die ostfriesischen und westfälischen Studenten aus dieser Traition.39 Dieses Profil wurde dann mit Barth gewonnen. In der gemeinsamen Zeit an der Universität Münster tauschen die beiden ihre jeweils neuesten Veröffentlichungen aus.40 So dankt Bauer dem reformierten Kollegen »für die verständnisvollen Worte, die Sie mir über meinen Poullain geschrieben haben.« In mehreren Schreiben unterstreicht Bauer, dass er von Barth immer wieder Anregungen erhielt. So kann wohl angenommen werden, dass Bauer Barths Schriften gut kannte und dessen Aufstieg zum führenden reformierten Theologen mitverfolgt hat. Ob sie dagegen Gemeinsames planten und durchführten, kann momentan bis auf zwei Ausnahmen nicht dargelegt werden: Zum einen referierten beide auf der zweiten Theologischen Woche des Reformierten Bundes vom 18.–21. Oktober 1927 in Elberfeld,41 und zum anderen protestierten sie gemeinsam mit Wilhelm Stählin gegen einen kitschigsentimentalen, heroisierenden und vergröbernden Lutherfilm, der im ganzen Reich gezeigt wurde und am 8. Januar 1929 in einer »evangelischen Gemeindefeier« in Münster zur Aufführung kam.42 Wie sehr Barth seinen Kollegen schätzte, geht wohl daraus hervor, dass er gegenüber Bauer sagte, »nach Ihrer [sc. Barths] Meinung wäre ich der gegebene Mann gewesen, um Ihr Nachfolger in Göttingen zu werden.«43 Im Jahr 1931 versucht Barth in der Tat, über den Kirchenhistoriker Wilhelm Goeters in Bonn, der mit dem Auricher Landessuperintendenten 38

Karl Barth in einem Rundbrief vom 24. September 1923, in: ders. / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II: 1921–1930, Zürich 21987, S. 182–189, hier: S. 186. Bauers Referat trug den Titel Coccejus und seine Bedeutung für unsere Zeit. Der Vortrag blieb wohl unveröffentlicht. 39 Manfred Jacobs, Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Münster 1914–1933, in: W.H. Neuser (Hg.), Fakultät, a.a.O., S. 42–71, hier: S. 59, Anm. 51; auch in W.H. Neuser, Karl Barth in Münster, a.a.O., S. 8f. 40 Im Karl Barth-Archiv (Basel) liegen folgende Briefe/Postkarten vor: Bauer an Barth, 31. Januar 1927; 11. April 1927; 9. August 1928; 18. Juli 1930; 22. Mai 1931; Barth an Bauer, 29. Mai 1931. 41 Vgl. W.H. Neuser, Karl Barth in Münster, a.a.O., S. 81f. Bauer trug vor über »Das Wort bei den Reformatoren in seinem Verhältnis zum Humanismus«, Barth über »Das Wort in der Theologie von Schleiermacher bis Ritschl«, vgl. Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hg. von Hermann Schmidt, Zürich 1994, S. 183–214. 42 Vgl. W.H. Neuser, Karl Barth in Münster, a.a.O., S. 75f. Der Protestbrief an die evangelische Kirchengemeinde, eine Antwort derselben sowie eine Replik E. Stählins namens der drei Protestierenden in: Karl Barth, Offene Briefe 1909–1935, hg. von Diether Koch, Zürich 2001, S. 129–134. 43 Bauer an Barth, 22. Mai 1931 (KBA Basel). – Vgl. auch Barths Gutachten: Zur Frage der Vertretung reformierter Theologie in der theologischen Fakultät Göttingen (1930), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2013, S. 3–7.

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Walter Hollweg bekannt war, Bauer auf den Göttinger Lehrstuhl für reformierte Theologie zu hieven.44 Leider kommt die Berufung Bauers auf diesen nunmehr zum etatmäßigen Ordinariat aufgewerteten Lehrstuhl nicht zustande. 5. Lehre und Forschung, Kirchenkampf und staatliche Bedrängnis seit 1933 Über Bauers Einstellung zum nationalsozialistischen Staat und sein Agieren innerhalb der Fakultät45 lässt sich wenig sagen, da ein privater Nachlass wohl nicht erhalten ist. Immerhin steht auch Bauers Name unter einer Erklärung von 119 Theologie-Professoren vom 6. November 1934, in dem der Rücktritt des Reichsbischofs gefordert wird.46 Daraufhin schließen sich viele der Unterzeichner der Bekennenden Kirche an. Auch Bauer engagiert sich nach seinem Beitritt am 11. November 193447 für die westfälische BK, vielleicht nicht in der öffentlichen Kirchenpolitik, wohl aber wissenschaftlich: So wird er vom BK-Bruderrat den Studierenden als Lehrer empfohlen;48 im Jahr 1936, also zur Zeit des Reichskirchenausschusses und des Reichskirchenministers Hanns Kerrl, veröffentlicht er auf Bitten des BK-Präses D. Karl Koch einen größeren Beitrag über die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835, mit der die beiden Westprovinzen Preußens sich von Friedrich 44

Barth an Bauer, 29. Mai 1931 (KBA Basel). Von Barths Wechsel nach Münster 1925 bis zu Otto Webers Berufung 1934 wurde der Göttinger reformierte Lehrstuhl von Hans Duhm (1878–1946) vertreten. 45 Vgl. Wilhelm H. Neuser, Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, in: ders. (Hg.), Fakultät, a.a.O., S. 72–94. 46 Vgl. Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin / New York 1996, S. 134–149, hier: S. 138f.; W.H. Neuser, Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, a.a.O., S. 83; W. Stählin, Via Vitae, a.a.O., S. 292; Bernd Hey, Die Kirchenprovinz Westfalen 1933–1945 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 2), Bielefeld 1974, S. 308, Anm. 5: Bauer sei zu den Dozenten der Fakultät in Münster zu zählen, die »der BK nahe[standen] oder ... sich kirchenpolitisch neutral [verhielten]«. 47 W.H. Neuser, Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, a.a.O., S. 83. 48 Vgl. Wilhelm H. Neuser, Die Teilnahme der Professoren aus Münster an den kirchlichen Prüfungen – ein Stück westfälischer Kirchenkampf, in: Leonore Wenschkewitz / Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKiZ B 18), Göttingen 1993, S. 317–345, hier: S. 333. Vgl. auch Nicola Willenberg, »Der Betroffene war nur Theologe und völlig unpolitisch.« Die Evangelisch-Theologische Fakultät von ihrer Gründung bis in die Nachkriegszeit, in: Hans-Ulrich Thamer u.a. (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, Band 1 (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster 5), Münster 2012, S. 251–308, hier: S. 275: Der Bruderrat der Bekenntnisstudenten empfahl in Münster Karl Bauer, Werner Foerster, Wilhelm Goeters und Hans Emil Weber.

5. Lehre und Forschung, Kirchenkampf und staatliche Bedrängnis seit 1933

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Wilhelm III. ihre presbyterial-synodale Kirchenordnung erkämpften und damit ein gerüttelt Maß an Staatsunabhängigkeit für die evangelische Kirche einforderten und zu realisieren wussten. Bei einer historischkritischen Darstellung – so Bauer – könne man »erkennen, daß es bereits damals, nur unter anderen Verhältnissen, um dieselben Dinge ging wie heute.«49 Solche kirchengeschichtliche Besinnung war 1936 durchaus politisch deutbar und wurde von NS-Seite nicht selten als reaktionär diffamiert. Bauer blieb in diesen Jahren allerdings auch seinem angestammten Arbeitsgebiet treu. So entstand nach einer Artikelserie ein kleines Büchlein über »Wilhelmus von Nassauen« (1933) und die bis heute gültige Darstellung »Aus der großen Zeit der theologischen Fakultät zu Heidelberg« (Vortrag 1936, gedruckt 1938). Zehn Jahre nach dem ersten Versuch, Bauer auf einen Lehrstuhl zu setzen, setzte die Münsteraner Fakultät im Februar 1935 Karl Bauer erneut auf Platz 1 einer Berufsliste (Nachfolge Grützmacher). Nach einem Veto des Dekans und NS-Theologen Friedrich Wilhelm Schmidt wurde Bauer nicht berufen.50 Die Annahme liegt nahe, dass diesem Veto die bekenntniskirchliche Haltung Bauers zu Grunde lag. Dass die Universität und die Fakultät klar positioniert waren und entsprechend agierten, erhellt auch aus der Aberkennung der Ehrendoktorwürde für Karl Barth, die ihm 1922 in Münster zuerkannt worden war.51 Wie Bauer gehörte auch seine Frau zur Bekenntnisgemeinde Münster. Gemeinsam mit anderen »Beauftragten der Bekenntnisgemeinde Münster im IV. Pfarrbezirk« verantwortete sie ein Flugblatt, in dem auf die rechtliche Möglichkeit hingewiesen wird, dass Katechumenen-Eltern ihre Kinder nicht zu den DC-Pfarrern schicken müssten, sondern auch Parochie übergreifend die Pfarrer der Bekennenden Kirche in Anspruch nehmen könnten. Dieses Flugblatt, das die DC-Pfarrer öffentlich mit Namen nannte und die DC der »Irrlehre« bezichtigte, landete in Bauers Universitäts-Personalakte und sollte dann sowohl ihm als auch seiner Frau später noch sehr schaden. Die heftigste Auseinandersetzung Bauers mit staatlichen Stellen wird in der Literatur über die Fakultät in Münster nicht dargestellt. Sie bahnte sich im Zusammenhang mit einem kirchengeschichtlichen Aufsatz an. Im Jahr 1936 legte Bauer eine Untersuchung über »Die Quellen für das

49 Karl Bauer, Aus der Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835. Mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Westfalen, mit einem Vorwort von Präses D. Koch, Witten 1936, S. 7. 50 Vgl. N. Willenberg, Die Evangelisch-Theologische Fakultät, a.a.O., S. 263. 51 Vgl. Sabine Happ, »Streng vertraulich«. Das Verfahren zur Aberkennung des Ehrendoktors von Karl Barth an der Universität Münster (1936–1939), in: Westfälische Forschungen 61 (2011), S. 345–363.

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sogenannte Blutbad von Verden«52 vor und behauptete, dass Karl der Große die dort genannten 4500 Sachsen im Jahre 782 nicht erschlagen, sondern lediglich »deportiert« habe (eine Konjektur von decollatio zu delocatio); ein quellenkritischer Vergleich hatte ihn auf diese Spur geführt. Offenbar fand diese Untersuchung Bauers größere Verbreitung: Ein Nachruf in den Badischen Pfarrvereinsblättern53 schreibt ihm das Verdienst zu, »auch an seinem Teil dem unsachlichen Gerede von der Massenschlächterei der Sachsen durch Karl d.Gr. ein Ende zu bereiten.« Da aber »[i]n der nationalsozialistischen Historiographie … dieser Greuel als wichtigstes Beispiel für den ›Sachsenschlächter‹ Karl [d. Gr.] [galt]«,54 geriet Bauer nun in die Mühlen des totalitären Staates. Nachdem in verschiedenen wissenschaftlichen und nationalsozialistischen Zeitschriften versucht worden war, Bauers Position zu widerlegen (u.a. in der ehrwürdigen Historischen Zeitschrift [HZ55]), und Bauer 1938 in Aufsätzen dagegen stritt, bestellte der »Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« ein Gutachten vom Marburger Historiker Prof. Edmund Stengel (1879–1968), der 1933 ein »Bekenntnis« deutscher Hochschullehrer zum NS-Staat und Adolf Hitler unterzeichnet hatte und seit 1937 NSDAP-Mitglied war, wohl nicht zuletzt deshalb, um weiterhin wissenschaftlich Karriere machen zu können. Stengel kommt in seinem Gutachten gegen Bauer zu dem Urteil, dass die Quellenlage letztlich nicht geklärt und deshalb Bauers Argumentation nicht zwingend sei; dennoch behauptet Stengel, dass dagegen

52

In: Westfälische Zeitschrift – Zeitschrift für Vaterländische Geschichte und Altertumskunde 92 (1936), II. Abt., S. 40–73, auch als selbstständige Schrift in zwei Auflagen erschienen: Münster 1936, wiederabgedruckt in: Walther Lammers (Hg.), Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich (WdF CLXXXV), Darmstadt 1970, S. 109– 150. In diesem Sammelband sind auch Aufsätze von Friedrich von Klocke, Erwin Rundnagel und Wilhelm Schmitt aus den Jahren 1937 bis 1940 abgedruckt, die auf Bauer reagieren. Der Aufsatz Bauers wurde rezensiert, etwa in der HZ, ebenso in Tageszeitungen und fand so weithin Beachtung. 53 Badische Pfarrvereinsblätter 48 (1939), Nr. 3 vom 3. April 1939, S. 25f. 54 Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Band 1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995, S. 372. Ein besonders antisemitischer Akteur, der das Blutbad von Verden benutzte, war Johann von Leers. – Ein anderer, nachmalig sehr bekannter Kirchenhistoriker geriet ebenfalls in erhebliche Konflikte mit dem NSStaat wegen seiner Arbeiten über die Christianisierung der Sachsen: der BK-Historiograph Kurt Dietrich Schmidt. Vgl. zum ganzen auch Hanns Christof Brennecke, Der sog. germanische Arianismus als ›arteigenes Christentum‹. Die völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann / Harry Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im ›Dritten Reich‹ (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21), Gütersloh 2002, S. 310–329. 55 Erwin Rundnagel, Der Tag von Verden, in: HZ 157 (1938), S. 457–490, wiederabgedruckt in W. Lammers (Hg.), Eingliederung, a.a.O., S. 205–242, hier: S. 219: »Die Arbeit Bauers ist somit ein Musterbeispiel einer ›entarteten‹ Geschichtsschreibung.«

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der Gegenbeweis zu Bauer allerdings zwingend sei.56 Bauer erhält am 31. Mai 1938 einen offiziellen Verweis, da er sich mit dieser Veröffentlichung »auf ein umstrittenes abseits seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit liegendes Gebiet begeben [hat] und damit … vorurteilsfreie und wahrheitssuchende Forschung … gefährdet.«57 In mehreren Schreiben verwahrt sich Bauer gegen den Vorwurf, nicht vorurteilsfrei und stattdessen willkürlich und tendenziös gearbeitet zu haben. Entgegen des Stengel-Gutachtens und des »Pressefeldzuges gegen mich«58 verweist er auf zahlreiche Zustimmung, die er aus wissenschaftlichen Kontexten erfahren habe. 6. Rascher Tod 1939 und ausbleibende Genugtuung nach 1945 Am Jahresende 1938 erkrankt Karl Bauer und bittet im Falle seines Ablebens um eine Rente für seine Frau. Den Dekan der theologischen Fakultät, den Systematiker Friedrich Wilhelm Schmidt (1893–1945),59 NSDAP-Mitglied seit 1933, quält wohl sein schlechtes Gewissen: Zwar bleibt er bei seiner Einschätzung, dass Bauer »immer eine gewisse Engstirnigkeit hat bemerken lassen … Erschwerend kommt hinzu, daß er seit dem politischen Umbruch sich kirchen- wie sonst politisch deutlich in die Reaktion hat hineintreiben lassen, weil es ihm nicht möglich ist, die großen Gesichtspunkte und Ausmaße des Umbruchs im Dritten Reich zu sehen und zu verstehen. Die Schwierigkeiten mit seiner Arbeit über Karl den Großen sind Symptom seiner ganzen Haltung.«60 Aber es gelte eben auch, dass Bauer »zweifellos ein besonders fleißiger Privatdo56

Der ganze Vorgang mit Briefen, Erlassen und dem Gutachten Stengels in: UA Münster, Kurator Personalakten Nr. 22. 57 Der Reichsminister an den Universitätskurator, 13. Mai 1938, a.a.O. 58 Bauer an den Universitätskurator, 12. August 1938, a.a.O. Es gab allerdings auch nationalsozialistische Publizisten, die der These Bauers zustimmten; es habe sich damit nämlich herausgestellt, dass sich Deutsche nicht massenhaft von einem Franzosen töten ließen. – Jahrzehnte später macht sich jemand über Karl Bauers Forschungen lustig, der sicherlich nicht in einem Atemzug mit der Nazi-»Wissenschaft« genannt werden möchte: Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Band 4: Frühmittelalter, Reinbek 1994, S. 470f. Ob Deschner milder über Bauer geurteilt hätte, wenn er von dessen wissenschaftlicher Nonkonformität und damit von dessen deviantem Verhalten gewusst hätte? 59 Nach W.H. Neuser, Die Teilnahme der Professoren, a.a.O., S. 321, muss Schmidt als DC-Sympathisant gelten. Er gehörte zu den liberalprotestantischen Theologen, die vor 1933 politisch inaktiv waren, mit 1933 politisch aktiv wurden und mit geschichtlichen Begründungen den NS-Staat zu legitimieren suchten, vgl. Christian Weise / Matthias Wolfes, Art. Schmidt, Friedrich Wilhelm, in: BBKL XVII (2000), S. 1210–1231. 60 Schmidt an den Rektor der Universität, 29. Dezember 1938 (UA Münster, Kurator Personalakten Nr. 22).

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zent gewesen« ist; deshalb spricht sich der Dekan für die Bewilligung der Rente aus. Offenbar wusste Bauer, wie stark sein Leben durch die Krankheit gefährdet war. Nach nur wenigen Wochen verstirbt er am 18. Februar 1939 an Encephalitis (Gehirnentzündung) – zehn Tage später folgte ihm sein Lehrer und Förderer Georg Grützmacher. Bauer wurde auf dem Münsteraner Zentralfriedhof begraben. Sicherlich wird sich kein Kausalnexus zwischen der Erkrankung und der Bedrängnis, in die Bauer am Ende seines Berufsweges geriet, beweisen lassen, zweifelsohne hat Bauer sich aber in seiner kirchlichen und wissenschaftlichen Ehre tief gekränkt gefühlt. Wie groß die Wertschätzung Bauers in Universitätskreisen tatsächlich war, zeigt ein Brief des Universitätsrektors an den Wissenschaftsminister vom 16. Mai 1940, in dem er »[i]n Übereinstimmung mit dem Leiter der Dozentenschaft und örtl[ichen] Dozentenbundsführer« um die Erhöhung der monatlichen Unterstützung für die Witwe Bauers nachsucht. »Während der 20 Jahre seiner Zugehörigkeit zur Universität hat Prof. Bauer eine außergewöhnlich große Lehrtätigkeit entfaltet … Bei den Studierenden hat sich Prof. Bauer wegen seines klaren Vortrags größter Wertschätzung erfreut. Auch als Wissenschaftler hat Prof. Bauer auf dem Gebiete der Kirchengeschichte eine außergewöhnlich erfolgreiche Tätigkeit entfaltet … Er war ein ungewöhnlich bescheidener Mensch und eine ausgesprochene Gelehrtennatur.« Bauers Frau darf trotz drohender Armut nicht wieder in ihren Beruf als Lehrerin zurückkehren. Nach Ansicht des Kurators der Universität sei sie »den Anforderungen der heutigen Mädchenschulen in erzieherischer und unterrichtlicher Hinsicht nicht mehr gewachsen. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß sie sich seinerzeit in kirchenpolitischer Hinsicht in unerwünschter Weise herausgestellt hat (sogenannte Bekenntnisfront)«.61 Dennoch nimmt Elisabeth Bauer ab dem 19. Dezember 1942 eine Vertretung als Studien-Assessorin in Castrop-Rauxel wahr. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie bis 1951 als Lehrerin an einer Neuendettelsauer Mädchenschule tätig und lebte danach in Bad Salzuflen in bescheidenen Verhältnissen, da ihr Mann ja nicht Beamter gewesen war und sie somit keine Bezüge erhielt. Zwar sieht Frau Bauer ein, dass es für die damalige Universität schwierig ist, ihr jetzt ein angemessenes Auskommen zu garantieren, aber es klingt doch resignierend, wenn sie schreibt: »Ich sehe vollkommen ein, daß es also juristisch gar keine Möglichkeiten gibt, nachträglich meinem Mann für seinen tapferen und so schweren Kampf gegen das Dritte Reich eine Genugtuung zu verschaffen. Das tut mir sehr leid. Ich hätte seinem Andenken eine sol-

61 Der Kurator an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 7. Juli 1939 (a.a.O.).

7. Abschluss

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che gerechte Würdigung von Herzen gewünscht.«62 Doch trotz des Engagements des früheren Kollegen Bauers Prof. Werner Foerster (1897– 1975)63 und der Fakultät samt ihrem Dekan Robert Stupperich (1904– 2003)64 und dem Wohlwollen des nordrhein-westfälischen Kultusministers Werner Schütz kommt eine Anerkennung Karl Bauers als »Nazigeschädigter« und damit eine ordentliche Versorgung seiner Witwe in den 60er Jahren nicht zustande. 7. Abschluss Ein Nachruf in den Badischen Pfarrvereinsblättern ehrt Bauer als einen Mann, der sich im badischen Kirchendienst »[n]eben der Gemeindearbeit, zu der es ihn stark hinzog«, besonders auch der Wissenschaft gewidmet habe. Das erste mag wohlwollend zu seiner Ehrenrettung geschrieben worden sein, das zweite trifft zweifelsohne zu. Der Nachruf endet dann: »Zum Schluß noch ein Wort über Karl Bauer als Mensch. Von seinem Fleiß und seinem reichen Wissen war schon die Rede. Aber betont muß auch die aufrechte Art werden, womit er für das von ihm als richtig und wahr Erkannte einzutreten allezeit die Tapferkeit besaß. Viel in die Öffentlichkeit ist er nicht getreten ... An Wuchs nicht eben groß, mochte man ihm gegenüber an Philipp Melanchthon, seinen Landsmann, denken. Die Größe des Geistes und die Weite des Wissens hatte er ebenfalls mit ihm gemeinsam ... Doch ist bei aller Entschiedenheit ... Karl Bauer keine Kämpfernatur gewesen. Jedenfalls war es ihm, mußte

62 E. Bauer an den Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, 30. Oktober 1960 (UA Münster, Personalakten Nr. 2 Bd. 2). 63 W. Foerster erinnert sich in einem Brief an Dekan R. Stupperich vom 9. Juli 1960 (UA Münster, Personalakten Nr. 2 Bd. 2) zahlreicher (!) Ungerechtigkeiten, die Bauer nach 1933 widerfahren seien; historisch-kritisch gilt es aber zu bedenken, dass Foerster erstens aus der Erinnerung schreibt und zweitens seine Ausführungen einen bestimmten Zweck haben, nämlich zu belegen, wie Bauer ein »Nazigeschädigter« wurde. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass das berichtete zugefügte Unrecht und die Tapferkeit Bauers pointiert oder gar überzogen geschildert werden: Bauer sei im Jahr 1934 die Nachfolge Grützmachers aus politischen Gründen vorenthalten worden [allerdings wurde Bauer auch schon 60 Jahre alt, der Vf.]; trotz Aufforderung 1938, in die Partei einzutreten, um dadurch eine mögliche »Diätenprofessur« zu erhalten, habe Bauer dieses Ansinnen abgelehnt; dann aber führt auch Foerster v.a. die Auseinandersetzungen über das »Blutbad von Verden« an; von Bauers Frau gibt er weiter, dass ein Verlag seinerzeit ein Manuskript zurücksandte mit dem Hinweis, man sei »von oben her vor ihm als Autor gewarnt worden«; DC-Studenten hätten zum Boykott seiner Vorlesungen aufgerufen; einen Verweis habe er wegen ihrer Mitgliedschaft im »Bruderrat der bekennenden [sic!] Kirche« in Münster erhalten. 64 In einem Schreiben an den Kultusminister vom 28. Juli 1960 nennt Stupperich Karl Bauer »eine persona minus grata« im NS-Staat (UA Münster, Personalakten Nr. 2 Bd. 2).

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er einmal ein deutliches Wort reden, immer nur um die Sache und niemals um seine Person zu tun.«65 Bauers großartige persönliche Leistung besteht darin, dass er nach zwanzigjährigem Kirchendienst noch den Weg ins universitäre Lehramt gefunden hat, auch wenn ihm eine ordentliche Professur versagt blieb. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, stets philologisch genau aus den Quellen erarbeitet, kreisen um Themen aus der Alten Kirche und der Reformationszeit, v.a. aber um Themen reformierter Kirchengeschichte und Theologie. Wohl wegen geringer Originalität ist Bauer von der Theologiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts praktisch übergangen worden. Die Kirchengeschichtsschreibung in badischen und reformierten Kontexten hat Karl Bauer ebenso beinahe ganz vergessen. Weder sein Name noch seine Werke über Hausrath oder die Heidelberger Fakultät begegnen in den Jubiläumsbüchern der badischen Landeskirche von 1971 und 1996. Bauers theologiegeschichtliche Arbeiten über die Reformierten in Frankfurt sind dagegen bei Fachleuten bis heute geschätzt. Diese »ausgesprochene Gelehrtennatur« hat vielleicht als Gemeindepfarrer nicht immer glücklich agiert, seine an der Alten Kirche und der Reformation geschulte Theologie führte ihn aber in den Bereich der Bekennenden Kirche und sein wissenschaftliches Ethos musste ihn geradezu zwangsläufig in Konflikt mit dem totalitären Weltanschauungsstaat bringen. Es wäre geradezu nachlässig, sich innerhalb der Kirche und an der Universität nicht mehr an Karl Bauer zu erinnern, der am Ende seines Lebens so viel Leiden um der wissenschaftlichen und kirchlichen Redlichkeit willen hat tragen müssen. Werke: Geschichte des akademisch-theologischen Vereins zu Heidelberg während der ersten vierzig Jahre seines Bestehens, im Auftrage des Altherrnverbandes bearbeitet von Karl Bauer, Stadtvikar in Karlsruhe, Heidelberg 1903, 171 S.; – Unser evangelischer Männerverein, Donaueschingen 1906; – Seid getrost! Predigt über Haggai 2,1–9, gehalten in dem evangelischen Gottesdienst in Donaueschingen am 8. Sonntag nach Trinitatis, den 9. August 1908, nach dem großen Brandunglück vom 5. August 1908, Heidelberg 1908, 16 S. (16.000 Exemplare!); – Luther und Schiller, in: Protestantische Monatshefte. NF der Protestantischen Kirchenzeitung 13 (1909), S. 457–480; – Was ein evangelischer Christ heute wissen muß. Für Konfirmanden und Konfirmierte zusammengestellt unter besonderer Berücksichtigung der badischen Verhältnisse von Karl Bauer, Pfarrer in Donaueschingen, 1. Auflage 131 S., Heidelberg 1910; zweite, stark erweiterte Auflage (ohne Untertitel) Heidelberg 1910, 159 S.; – Über die Reform der kirchlichen Lehrbücher und die Katechismusnot in Baden, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie VI (1910), S. 181ff.392ff.; – Hat Jesus gelebt? Osterpredigt gehalten am 28. März 1910, Karlsruhe 1910, 20 S.; – Luther und der Papst, in: Jubiläumsschrift (Heft 100). Mit Beiträgen von W. Friedensburg, Otto Scheel, K. Bauer, Fritz Herrmann, K. Benrath, G. Kawerau (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 21 (1910), Erstes bis viertes Stück, Leipzig 1910, S. 231–273; – Carlo Borromeo und seine Zeit. Ein Bild aus den Tagen der Gegenreformation als Spiegelbild für unsere Gegenwart, 65

Badische Pfarrvereinsblätter 48 (1939), Nr. 3 vom 3. April 1939, S. 25f.

7. Abschluss

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entworfen aus Anlaß der Borromäus-Enzyklika (Flugschriften des Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen 293 [XXV. Reihe, 5], Halle/Saale 1910, 22 S.; – Der Humanist unter den Reformatoren. Melanchthonpredigt, in: Deutsches Christentum. Neue Folge der Bremer Beiträge 4 (1910), S. 197–207; – An Luther's Tische (Flugschriften des Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutschprotestantischen Interessen 325/326), Halle/Saale 1911, 34 S.; – Trauerfeier für Prinz Friedrich Eduard zu Fürstenberg gehalten am 11. Januar 1917 in der evangelischen Kirche zu Donaueschingen, Donaueschingen 1917, 12 S.; – Antiochia in der ältesten Kirchengeschichte (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 87), Tübingen 1919, 47 S.; – Die Beziehungen Calvins zu Frankfurt a.M. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 38 [1920], Nr. 133), Leipzig 1920, 76 S.; – Zur Datierung zweier Stücke aus dem Briefwechsel Calvins (No. 2573.3304), in: RKZ 70 (1920), S. 181–184.189–192; – Zur Datierung einiger Briefe Calvins, in: RKZ 70 (1920), S. 321–324; – Ferdinand Christian Baur als Kirchenhistoriker, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte NF 25 (1921), S. 1–70; 26 (1922), S. 1–60; – Der Bekenntnisstand der Reichsstadt Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 19 (1922), S. 194–251; 20 (1923), S. 127–174; 21 (1924), S. 1–36.206–238; 22 (1925), S. 39–101; – Die letzten Beziehungen Melanchthons zu Frankfurt a.M. Mit einem bisher ungedruckten Gutachten Melanchthons, in: ZKG 40 (1922), S. 158–167; – Zur Acontius-Forschung, in: ZKG XLII (1923), S. 76–81; – Zur Verständigung über die Stellung Augustins in der Geschichte. In Anschluß an E. Troeltschs »Augustin«, in: ZKG XLII (1923), S. 223–243; – Engelbert Sibelius. Pfarrer der reformierten Gemeinde [Frankfurt] 1610–1614, in: Reformiertes Wochenblatt 4 ([Frankfurt am Main]1923), S. 39– 41.46f.; – Johann Heinrich Ludolf Schrader. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde von 1823 bis 1875, in: a.a.O., S. 49–51; – Das Entstehungsjahr von Luthers Sermo de indulgentiis pridie Dedicationis, in: ZKG XLIII (1924), S. 174–179; – Zu Augustins Anschauung von Fegfeuer und Teufel, in: ZKG XLIII (1924), S. 351–355; – Die Einstellung des reformierten Gottesdienstes in der Reichsstadt Frankfurt a.M. im Jahre 1561, Inaugural-Dissertation Münster i.W., Universitätsbuchdruckerei Johannes Bredt 1924, 38 S., vollständige Arbeit mit Untertitel: Ein Beitrag zur Kirchen- und Dogmengeschichte im 16. Jahrhundert, Münster 1925; – Valérand Poullain. Ein kirchengeschichtliches Zeitbild aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts (Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins NF 3. Band), Elberfeld 1927, 337 S.; – Ein Vorläufer des Synkretismus in Frankfurt a.M., in: ZKG XLV (1927), S. 74–87; Das Wort bei den Reformatoren in seinem Verhältnis zum Humanismus, in: RKZ 78 (1928), S. 385– 387.393–395.401–404.409–412; – Art. in RGG2 I (1927): Alsted, Johann Heinrich; Alting, 1. Jakob 2. Johann Heinrich 3. Menso; Batissol; Baumgarten-Crusius; Baur, Ferdinand Christian; Bernsau; Beyer, Hartmann; Bochart; Bouquin; Braun, Johannes; Bucanus; Burmann, Franz; Calamy 1.2; Cartwright; Coverdale; van Diest 1.2; – Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der Deutschen Reformation, Tübingen 1928, 159 S.; – Symbolik und Realpräsenz in der Abendmahlsanschauung Zwinglis bis 1525, in: ZKG XLVI (1928), S. 97–105; – Art. in RGG2 II (1928): Egli, Raphael; Endemann; Engelhardt, Joh. G.V.; v. Engelhardt; Fegfeuer; Gieseler; Gürtler; Hagenbach; Hall, Thomas; v. Hase, Karl August; Hauck, Albert; Hausrath; Henderson, Alexander; Hilgenfeld; Holsten; Hooker, Thomas; Howe; – Art. in RGG2 III (1929): Kurtz; Limbus; Loofs; v. Marck; Melville; – Art. in RGG2 IV (1930): Möller, Wilhelm; Müller, Karl; Münster II. Universität; Neander, August; Niedner; Nippold; Poullain; Presbyterianer; Presbyterianische Allianz; Reuter, Hermann; van Rijssen; – Rez. zu Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Die Dogmengeschichte des Mittelalters. Vierte, neu durchgearbeitete Auflage, Leipzig 1930, in: RKZ 81 (1931), Theologische Literaturbeilage, S. 2f.; – Art. in RGG2 V (1931): v. Schubert, Hans; Schwegler; Scultetus, Abraham; Sell; de Superville; Travers; Trelcatius 1.2; Wendelin; Westminster-

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»Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«

Konfession; Westminster-Synode; Whitgist; – Das Bild Gustav Adolfs im Wandel der Zeiten, Leipzig 1932; Gustav Adolf. Ein kirchengeschichtliches Gedenkblatt, in: RKZ 82 (1932), S. 289–291.297–301; – Wilhelmus von Nassauen. Zum Verständnis seiner inneren Entwicklung, Heidelberg 1933, 40 S. (vorher erschienen in RKZ 83 [1933], Nr. 15–18); – Adolf Hausrath. Leben und Zeit, Band I: 1837–1867, Heidelberg 1933, 282 S. (Band II blieb ungedruckt und befindet sich im Archiv der Evangelischen Landeskirche in Baden); – Die Stellung Württembergs in der Geschichte der Reformation, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte NF 38 (1934); – Luthers Aufruf an den Adel, die Kirche zu reformieren, in: Archiv für Reformationsgeschichte XXXII (1935), S. 167–217; – Was ist evangelische Kirche in reformatorischem Sinn?, in: RKZ 86 (1936), S. 11–13.19–21.33–36 – Aus der Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835. Mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Westfalen, mit einem Vorwort von Präses D. Koch, Witten 1936, 73 S. (vorher erschienen in: Das Evangelische Westfalen XII [1935]); – Die Quellen für das sogen[annte] Blutbad von Verden, in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für Vaterländische Geschichte und Altertumskunde 92 (1936), II. Abt., S. 40–73; – Aufsatz zu Adolf Hausraths 100. Geburtstag, in: Protestantenblatt 1937; – Aufsatz über Sachsenmission und Widukind, in: Forschungen und Fortschritte 1938, Nr. 2 vom 10. Januar 1938; – Aus der großen Zeit der theologischen Fakultät zu Heidelberg (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche Badens XIV), Lahr 1938, 60 S., ohne Anmerkungen wiederabgedruckt in: Kleine Geschichte der Heidelberger Theologischen Fakultät von Marsilius von Inghen bis Gottfried Seebaß. Festgabe des Dekanats zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Gottfried Seebaß (o.O. o.J. [als Manuskript gedruckt Heidelberg 1997]), S. 16–43; – Art. Kurtz, Johann Heinrich (1809–1890) (mit R. Wittram), in: RGG3 IV (1960), S. 189; – Art. Poullain, Valérand (Valerandus Pollanus, ca. 1520– 1557) (mit O. Weber), in: RGG3 V (1961), S. 479. Nicht nachzuweisen: Die Heidelberger Disputation Luthers. Literatur: Hermann Mulert, Art. Bauer, Karl, in: RGG2 I (1927), S. 798; – RGG3 VII (1965), S. 14 (Mitarbeiterverzeichnis); – B.G., D. Karl Bauer†, in: Badische Pfarrvereins-Blätter 48 (1939), Nr. 3 vom 3. April 1939, S. 25f.; – Nicola Willenberg, »Der Betroffene war nur Theologe und völlig unpolitisch.« Die Evangelisch-Theologische Fakultät von ihrer Gründung bis in die Nachkriegszeit, in: Hans-Ulrich Thamer u.a. (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, Band 1 (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster 5), Münster 2012, S. 251–308. Quellen: LKA Karlsruhe, Generalia, Kirchendiener 548; – Gemeindearchiv der evangelischen Gemeinde Donaueschingen: Protokollbuch des Kirchengemeinderates 1904– 1951; – Universitätsarchiv der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster: Kurator Personal-Akten Nr. 22 (1925–1961); Evangelisch-Theologische Fakultät Personalakten Nr. 2 Bd. 1 (1920–1925) und Bd. 2 (1957–1961); Promotionsakten Nr. A 3 (1919); Ehrenpromotionsakten Nr. 21 (1924); Habilitationsakten Nr. 49 (1919).

Heinz Otten Ein Barth-Schüler im reformierten Kirchenkampf

1. Vorbemerkungen Nach 1945 war es lange nicht opportun, die kirchenpolitisch virulente Kirchenkampf-Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Bekennenden Kirche (BK) zu stören, für die man vor allem die Namen Wilhelm Niemöller und Kurt Dietrich Schmidt nennen könnte sowie auf reformierter Seite nicht zuletzt Robert Steiner.1 Es störten höchstens lutherische Konfessionalisten, die der Barmer Theologischen Erklärung keinen Bekenntnisrang zugestehen konnten. Erst mit einem Abstand von einer Generation entstand mit den Werken von Klaus Scholder und Kurt Meier eine BK-unabhängige Kirchenkampf-Forschung. In den 80er Jahren gab es noch marxistische oder vom deutschen Staatssozialismus finanzierte Kritik am Weg der BK. Besonders in der zweiten Hälfte der 80er Jahre entstanden mehrere Arbeiten einer jüngeren Forschergeneration, die sich als Theologen oder Historiker des wissenschaftlichen Instrumentariums der allgemeinen Geschichtswissenschaft bediente, etwa der Sozialgeschichte und der Widerstandsforschung. Diese Arbeiten förderten einerseits das Niveau ungemein, andererseits waren manche Arbeiten allzu verliebt in Methoden. Aktuell scheint eher die Gefahr zu bestehen, dass historiographische Annäherungen an den »Kirchenkampf« wieder zu sehr theologiegeschichtlich dominiert sind oder mit bereits getroffenen Einschätzungen die Ergebnisse präjudizieren. Als Beispiel aus dem reformierten Bereich sei genannt, wie ertragreiche Beobachtungen Sigrid Lekebuschs, die zwei »Gruppen« zu analysieren versteht,2 in Helma Wevers Studie erstarren können. Gewiss hat es die 1

Auch die Kirchenkampfhistoriographie ist unterdes Gegenstand von Geschichtsschreibung. Neben den forschungsgeschichtlichen Vorbemerkungen in größeren Werken und einigen Einzelstudien vgl. jetzt: Siegfried Hermle / Dagmar Pöpping (Hg.), Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945 (AKiZ B 67)), Göttingen 2017. Vgl. auch Klaus Fitschen, Ambivalenzen des Kirchenkampfes, in: Thomas Brechenmacher / Harry Oelke (Hg.), Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 11), Göttingen 2011, S. 113–122. 2 Allerdings gibt es auch innerhalb dieser »Gruppen« große Differenzen, was Lekebuschs Lehrer Günther van Norden zu weiteren Gruppenprofilen geführt hat, vgl. Günther van Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf, in: Matthias Freudenberg (Hg.),

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Heinz Otten

Alternative »Bekenntnis« oder »Bekennen« auch in früheren Werken gegeben, aber sie war entweder wie bei Friedrich Middendorff3 aus der BK-Zeit übernommen oder aber wie bei Herwart Vorländer kritisch verwendet; letzterer warnte vor einer »allzu bequemen KirchenkampfAlternative«, in dem er auf die »sich fortwährend verschiebenden und theologisch keineswegs in feste Schemata einzupassenden … Fronten der ›Bekennenden Kirche‹ einerseits und den ›Konfessionellen‹ andererseits« hinwies.4 Wer mit einer historischen Person nachvollzieht, wie schwierig es in den 30er Jahren zuweilen fallen musste, sich ein kirchlich-politisches Urteil zu bilden, wird sich vor Dogmatismen aller Art hüten. Eine biographische Studie orientiert sich am Lebenslauf und ist dadurch einer »Real-Historie« ungleich näher, als dies Studien über Institutionen als konstruierte Quasi-Wesen sein können. Personen müssen sich in der jeweiligen Situation ein Urteil bilden und sich für ein Handeln entscheiden. Damals einsichtige Handlungsoptionen änderten sich und erscheinen im Nachhinein nicht mehr plausibel, im weltanschaulichen Terrorstaat werden zudem die Handlungsspielräume kleiner. Unübersichtlich stellen sich die komplexen Verhältnisse und die »Strukturen« für die jeweils konkret Handelnden dar. Das gelebte Leben ist ein Ringen – und davon zeugt auch die Kirchengeschichte. Wie viele andere rang Heinz Otten um seinen Weg: persönlich, theologisch, vor allem aber kirchenpolitisch. Auch an seinem Weg lässt sich erahnen, wie diffizil es war, als Christ im »Dritten Reich« zu bestehen. Der Lebensweg von Heinz Otten, den Hermann Albert Hesse, der seinerzeitige Moderator des Reformierten Bundes, als einen »klar stehenden, theologisch sehr tüchtigen Mann« bezeichnet hat, scheint in mehrfacher Hinsicht geeignet zu sein, sich dem reformierten Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 71–86. 3 Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover) (AGK 8), Göttingen 1961. – Nicht als Historiograph, sondern als Kirchenpolitiker hatte Middendorff diese Gegenüberstellung zweier Positionen auch in seiner großen Rede vor dem ersten Landeskirchentag am 15. Oktober 1945 benutzt, fand aber keine Mehrheit gegen den Landessuperintendenten Walter Hollweg. Im Kirchenkampf benutzte etwa Hermann Albert Hesse eine solche Zweiteilung von »Bekennen« und »Bekenntnisstand«. Im Jahr 1945 konnte man dann auch Bekenntnisstand und Bekenntnishaltung unterscheiden (vgl. den Aufsatz über die Reformierten im Herbst 1945 in diesem Band). 4 Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf [BGLRK XXXVII], Neukirchen-Vluyn 1974, S. 9.23. A.a.O., S. 46, relativiert Vorländer diese Dichotomie und verweist auf theologische Kontinuitäten oberhalb der kirchenpolitischen Parteiungen.

2. Herkunft aus Ostfriesland

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Kirchenkampf und den Ereignissen in der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover zu nähern.5 Er gehört zu den repräsentativen jungen Theologen, die sich in der Schülerschaft Karl Barths reformierte Traditionen und hier besonders den Genfer Reformator Johannes Calvin angeeignet haben. Politisch war man weder in dieser Alterskohorte reformierter Theologen noch innerhalb des Barth-Schülermilieus immer einig, wohl aber fand man in der Regel den Weg zur Bekennenden Kirche. Nicht zuletzt junge Theologen und solche mit liberal-theologischen oder radikal-barthianischen Positionen nahmen auch Probleme innerhalb der BK wahr. 2. Herkunft aus Ostfriesland Als zweites von drei Kindern des Hauptlehrers Jan Otten und Frau Heidine, geb. Aeissen, wurde Heinz (eigentlich: Heinrich-Ludwig) Otten am 24. Februar 1909 im südwestostfriesischen Wymeer geboren. Seine Heimat wurde allerdings Greetsiel, ein Fischerdorf an der Nordseeküste 5 Das unüberholte Standardwerk ist Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994 (meine Rezension in: KZG 8 [1995], S. 228–232); vgl. auch dies., Die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Manfred Gailus / Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 137–159. Von den neueren Werken seien hier genannt für den Bereich der reformierten Landeskirche: Paul Weßels, Nicht hoffnungslos, sondern handelnd. Heinrich Oltmann (1892–1937). Ein reformierter Pastor im Kirchenkampf, Wuppertal 2002; Bernhard Roth, Die Anfänge der Bekenntnisgemeinschaft in der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover 1934, in: Paul H.A.M. Abels (red.), Nederland en Bentheim. Vijf eeuwen kerk aan de grens / Die Niederlande und Bentheim. Fünf Jahrhunderte Kirche an der Grenze, Delft/NL 2003, S. 235–253. Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009. Zu Wevers Werk habe ich grundsätzliche Bedenken angemeldet; vgl. meine Rezension in: JGNKG 107 (2009), S. 233–240. Zu den erst 1988 zur Landeskirche gestoßenen bayrischen Reformierten vgl. Norbert Aas, Hohe Erwartungen, ungeprüfte Staatstreue und Verdrängung der Realität: Die reformierte Synode in Bayern und der Nationalsozialismus (ms.), Bayreuth 2015. Ines Petersen schreibt an der Universität Osnabrück an einer Arbeit über die reformierte Landeskirche während des Nationalsozialismus aus Gemeindeperspektive. – Zum weiteren Kontext vgl. weiter Gottfried Abrath, Subjekt und Milieu im NS-Staat. Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936–1939, Analyse und Dokumentation (AKiZ B 21), Göttingen 1994 (meine Rezension in: KZG 8 [1995], S. 555–558); Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999; Peter Noss, Martin Albertz 1883–1956. Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001.

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Heinz Otten

im Kreis Norden, wohin sein Vater 1912 als Schulleiter berufen wurde. Nicht lange wächst Heinz Otten in den bescheidenen, aber gesicherten Verhältnissen einer Lehrerfamilie auf, denn als der Vater 1916 als Soldat eingezogen wird, zieht die Mutter mit den zwei Kindern – bereits 1906 war Tochter Luise geboren – auf den elterlichen Hof nach Boen zurück. Vom Mai 1916 bis zum November 1918 besucht Heinz die Grundschule im benachbarten Wymeer. Nach der Rückkehr aus dem Krieg im November 1918 nimmt Vater Otten seine Tätigkeit in Greetsiel sofort wieder auf, so dass die Familie noch vor dem Weihnachtsfest zurück an die Nordseeküste zieht. Bis Ende 1921 konnte Heinz die Volksschule in Greetsiel besuchen, bevor er zum Januar 1922 in die Quarta des humanistischen Wilhelmsgymnasiums Emden eintrat. Der Greetsieler Gemeindepastor Superintendent i.R. Jan Friesemann Viëtor6 hatte ihn zur Vorbereitung auf den Besuch des Gymnasiums seit einiger Zeit Latein gelehrt. Da die Entfernung zwischen Greetsiel und Emden eine tägliche Fahrt zwischen Elternhaus und Schule nicht gestattete, musste für Heinz ein neues Zuhause in Emden gefunden werden; man fand es bei dem kinderlosen Lehrerehepaar van der Laan, von dem Otten sich noch bis weit in die dreißiger Jahre hinein die Geschehnisse in Stadt und Kirche Emden berichten ließ. Nachdem er in den Winterhalbjahren 1922 bis 1925 den Konfirmandenunterricht in Emden besucht hatte, wurde Heinz Otten im April 1925 in Greetsiel konfirmiert. Da Vater Otten die Orgel der Kirchengemeinde spielte, bestand stets eine enge Verbindung zur Kirche, zumal man mit der Pastorenfamilie Rudolf Tuente freundschaftlichen Kontakt pflegte. Als Schüler interessierte sich Heinz Otten besonders für Geschichte und deutsche Literatur, gleichwohl aber auch für theologische und religiöse Fragen.7 »Ich habe als Oberprimaner eine Zeit gehabt, da schwärmte ich stark für Goethe, für den deutschen Idealismus, kurz für das, was man ›Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit‹ zu nennen pflegt. Damals war ich Leser des Lienhardschen Türmer,8 neigte zur Anthroposophie«.9 6 Vgl. L. Houtrouw, Verzeichnis der vom 1. Januar 1901 bis zum 31. Dezember 1940 verstorbenen reformierten Prediger Ostfrieslands nebst einigen biographischen Notizen (als Manuskript gedruckt), Norden 1951, S. 26 (Nr. 81). 7 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932 (Personalakte [PA] Otten, LKA Archiv ErK, Leer). 8 Friedrich Lienhard (1865–1929) war Schriftsteller und ein Wortführer der »Heimatkunstbewegung«. 9 Brief Ottens an Marie Fürbringer, 28. Januar 1934. Die Familie Otten (Oldenburg/ Leer) hat mir Einblick in den privaten Nachlass gewährt. Alle im Folgenden genannten Briefe und Dokumente ohne nähere Bezeichnung eines Fundorts finden sich in diesem privaten Nachlass.

3. Studienjahre in Tübingen, Bonn und Basel

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Während seines letzten Schuljahres lernt Otten die 1910 in Aachen geborene, aber in Emden aufgewachsene Marie-Luise Fürbringer10 kennen. Einige Jahre später resümiert er: »Ich bin sehr gern zur Schule gegangen.«11 Ostern 1928 verlässt er das Wilhelmsgymnasium mit einem insgesamt »guten« Abitur.12 3. Studienjahre in Tübingen, Bonn und Basel Heinz Otten begann – gemäß seiner Lieblingsfächer in der Schule – Germanistik, Geschichte und evangelische Theologie im weit entfernten Tübingen zu studieren. Ziel seines Studiums sollte dem Wunsch des Vaters entsprechend der Lehrerberuf sein, aber durch das nach dem ersten Semester abgelegte Hebraicum hielt er sich die Option für einen Wechsel an die evangelisch-theologische Fakultät offen. Nach einem Vortrag Karl Barths während eines theologischen Studienkursus’ für die Pastoren und Studenten der reformierten Landeskirche 1929 in Emden fiel die Entscheidung: »Es war nach meinem 2. philologischen Semester, als ich Sie zum ersten Mal hörte. Und obwohl ich Sie nicht gerade gut verstanden habe, hat Ihr Vortrag13 mich bewogen, Theologie zu studieren.«14 Diese Worte Ottens an Karl Barth15 bezeichnen sechs Jahre spä10 Vgl. Dietlinde Cunow, Art. Marie-Luise Otten, geb. Fürbringer 1910–1938, in: Lexikon früher evangelischer Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 288. Der Artikel besteht nahezu ausschließlich aus Sätzen, die dieser Arbeit – ohne Kenntlichmachung – entnommen worden sind. 11 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. 12 Vgl. Abschrift des Reifezeugnisses im Universitätsarchiv Halle, Rep. 27, Nr. 241. Vom »nicht genügend« in Englisch und Freies Zeichnen über »genügend« in Mathematik und Physik reichten Ottens Schulnoten bis zum »sehr gut« in Deutsch und Geschichte. 13 Karl Barth, Die Lehre von den Sakramenten, in: ZZ 7 (1929), S. 427–460 (auch in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hg. von Heinrich Schmidt, Zürich 1994, S. 393–441). Über den Kurs 2.–4. April 1929 und Barths Vortrag berichtete Udo Smidt, Zum theologischen Ferienkurs in Emden, in: RKZ 79 (1929), S. 123–125; vgl. auch Brief Barths an Ch. von Kirschbaum, 5. April 1929, in: Karl Barth / Charlotte von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, hg. von Rolf-Joachim Erler, Zürich 2008, S. 89–92, hier: S. 90. 14 Brief Ottens an Barth, 13. Juli 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 15 Der Schweizer Pfarrer erhielt 1921 die neue Professur für reformierte Theologie in Göttingen, die für die reformierte Landeskirche eingerichtet worden war. 1925 wechselte Barth an die Universität Münster, womit die Entfernung zu den nordwestdeutschen Reformierten kleiner wurde. In der Pastorenschaft Ostfrieslands und der Grafschaft Bentheim fand Barth frühe Anhänger; vgl. Holger Finze-Michaelsen, Karl Barth und Ostfriesland. Ein kleines Kapitel reformierter Kirchengeschichte, in: Ostfreesland. Kalender für Jedermann 1987, Norden 1986, S. 111–117; Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930 (Karl Barth Gesamtausgabe V), Zürich 1974, S. 111–113

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Heinz Otten

ter den Wendepunkt in seinem geistigen Werdegang. Zwar blieb er noch zunächst für weitere zwei Semester – es war das erste gemeinsame Studienjahr mit Marie-Luise, die nach ihrem Abitur 1929 Heinz nach Tübingen gefolgt war – an der philosophischen Fakultät, aber durch »die Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths wurde mir meine Stellung als sogenannter ›Schmalspurtheologe‹ immer problematischer«; da Theologie den ganzen Menschen umfasse, erfordere es ein »ganzes und alleiniges Studium« der Theologie.16 So wechselte Otten zum Sommersemester 1930 dann auch an die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen, die sich damals mit so bekannten Theologen wie den Neutestamentlern Adolf Schlatter und Gerhard Kittel und dem Systematiker Karl Heim einer großen Resonanz erfreute, vor allem in theologisch eher konservativen Kreisen. Aber es hielt Heinz Otten nur noch ein Semester dort, denn während »die Tübinger Fakultät mich merkwürdig wenig berührt hat, stand ich in Bonn von Anfang an ganz und gar unter dem Eindruck Karl Barths und so ist mir Bonn mit Karl Barth, K[arl] L[udwig] Schmidt17, [Wilhelm] Goeters18 und [Ernst] Wolf19 zur – wenn man so sagen darf – theologischen Heimat geworden.«20 Mit seinem Wechsel nach Bonn zum Wintersemester 1930/31 gibt er seiner »Vorliebe für systematische Theologie«21 Raum, studiert eifrig bei dem seit 1930 immer kirchenkritischer22 werdenden Barth und dem jungen Kirchengeschichtler Ernst Wolf; Otten besucht die Sozietäten beider Professoren, mit denen und deren Familien er gemeinsam mit seiner Freundin, die mit ihm nach Bonn gegangen war, offensichtlich

(Rundbrief, 16. Oktober 1922): »Die Ostfriesen und die Bentheimer sind ausgezeichnete Leute, mit denen ich mich sehr wohl vertragen konnte.« (A.a.O., S. 111). 16 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. 17 Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) war SPD-Stadtverordneter in Bonn. Er gehörte zu den ersten Theologen, die Deutschland noch 1933 verließen, nachdem er aufgrund des § 4 des Gesetzes vom 7. April 1933 zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus dem Staatsdienst entlassen worden war. Vgl. Wilhelm Niemöller, Die Evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfes, Bielefeld 1956, S. 340f.; Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, I: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, geringfügig ergänzte Ausgabe (TB), Frankfurt/M. und Berlin 1986, S. 551. Zu K.L. Schmidt vgl. besonders Andreas Mühling, Karl Ludwig Schmidt. »Und Wissenschaft ist Leben« (AKG 66), Berlin / New York 1997. 18 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Goeters, Wilhelm Gustav, in: BBKL XXIV (2005), S. 715–719. 19 Vgl. Wolfgang Maaser, Art. Wolf, Ernst, in: BBKL XIII (1998), S. 1495–1501. 20 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. 21 Ebd. 22 Vgl. Barths Aufsätze »Quousque tandem ...?« (1930) und »Die Not der evangelischen Kirche« (1931), in ZZ 8 (1930), S. 1–6 und ZZ 9 (1931), S. 89–122; auch in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, a.a.O., S. 521–535.

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guten persönlichen Kontakt pflegte.23 Das Studium beansprucht ihn derart, dass er Aktivitäten in einer schlagenden Verbindung, denen er in Tübingen in der ›Derendingia‹ noch nachgegangen war und woher seine Mensurnarbe auf der linken Gesichtshälfte rührte, aufgibt. »Mit Barths Tätigkeit an diesem neuen Ort brach an der Bonner evangelisch-theologischen Fakultät eine unvergeßliche Blütezeit an«,24 die freilich nur drei bis vier Jahre währte; dann wurde die Fakultät von den Nationalsozialisten durch Versetzungen und Entlassungen25 ›aufgelöst‹. Karl Barth als »uns allen ein von Gott der Kirche geschenkter Lehrer«26 musste wegen des starken Zuspruchs seitens der Studierenden sein Seminar zweifach abhalten und bot neben der Hauptvorlesung eine Sozietät an,27 in der man nur nach einer strengen Prüfung Teilnehmer werden konnte. Hier traf »der vielversprechende Heinz Otten«28 auf viele nachmalige Professoren. Zum engeren Schülerkreis um Barth – hier finden sich auch Ottens Freunde – gehörten u.a. Helmut Gollwitzer, Werner Koch, Fritz Schipper, Karl-Gerhard Steck und Hellmut 23

So weiß Otten Wolf am 2. März 1938 zu berichten, dass sich Marie-Luise sehr über einen Brief Wolfs gefreut hatte, »denn Wolfs gehörten zu ihren schönsten Studiumserinnerungen« (Nachlass Ernst Wolf); Barth schreibt am selben Tag: »Ihre liebe Frau steht mir von Bonn her noch so deutlich vor Augen ...« (s.u.). 24 Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1986, S. 213; vgl. auch J.F. Gerhard Goeters, Karl Barth in Bonn 1930–1935, in: EvTh 47 (1987), S. 137–150; Hermann Dembowski, Die Evangelisch-Theologische Fakultät zu Bonn in den Jahren 1930 bis 1935, in: MEKGR 39 (1990), S. 335–361; vgl. auch den zeitgenössischen Bericht eines Bonner Studenten: [Heinrich Bernds], Theologisches und Erbauliches (Aus dem Hörsaal von Karl Barth). Von einem Studenten der Theologie in Bonn, in: RKZ 82 (1932), S. 329–331; zu Bernds s.u. 25 Eine genaue Auflistung der Versetzungen und Entlassungen bei Hartmut Aschermann / Wolfgang Schneider, Studium im Auftrag der Kirche. Die Anfänge der Kirchlichen Hochschule Wuppertal 1935 bis 1945 (SVRKG 83), Köln 1985, S. 30. Vgl. auch Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin / New York 1996, S. 365–373; Wolfram Kinzig, Wort Gottes in Trümmern. Karl Barth und die Evangelisch-Theologische Fakultät vor und nach dem Krieg, in: Thomas Becker (Hg.), Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im ›Dritten Reich‹ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 23–57. 26 So formulierte der konservative Reformierte Wilhelm Kolfhaus in RKZ 84 (1934), S. 439 (30. Dezember 1934), der sich in den Jahren zuvor durchaus mit Barth hatte literarisch in der Reformierten Kirchenzeitung streiten können. 27 Vgl. Busch, Karl Barths Lebenslauf, a.a.O., S. 215. 28 Werner Koch, ›Sollen wir K. weiter beobachten?‹ Ein Leben im Widerstand, Stuttgart 1982, S. 42. Zu Koch vgl. Rüdiger Weyer, Art, Koch, Werner (1910–1994), in: BBKL XXIII (2004), S. 821–825; Bernd Schoppmann, Bonhoeffers unbekannte Schüler. Vikare in Finkenwalde – Pfarrer in der Rheinischen Kirche (SVRKG 182), Bonn 2013, S. 51– 67; Günther van Norden, Ein rheinischer Pfarrer im Kirchenkampf, oder: Finkenwalder Solidarität, in: Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der Internationalen BonhoefferGesellschaft. Deutschsprachige Sektion, Nr. 114, November 2016, S. 47–65.

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Traub.29 »Es herrschte gerade in dieser Zeit unter Barths Studenten eine ungemein bewegte Atmosphäre fleißigen Studierens und Diskutierens, stürmischen Aneignens und ›Anfragens‹, in der selbst ihr Lehrer mit ihrem Widerspruch bedrängt wurde, in der wohl auch die Gestalt des etwas allzu eifrigen ›Barthianers‹ auftauchte.«30 Nach Berichten von Kommilitonen traf man Heinz Otten nur selten ohne seine ›Nicki‹, wie Marie-Luise seit je genannt wurde. »Während unseres gemeinsamen Studiums in Bonn hat sie immer heftig gegen meinen Ehrgeiz gekämpft und es immer als besonders greulich empfunden, wenn wir Theologen die Beschäftigung mit dem Worte Gottes zur Befriedigung unseres Ehrgeizes mißbrauchen und uns mit Hilfe theologischer Sätze um die praktische Entscheidung herumdrücken. Sie hat es damals in Bonn nicht leicht gehabt mit mir; denn wir Barthschüler lechzten förmlich nach einem anerkennenden Wort unseres Meisters.«31 Marie-Luise Fürbringer und Heinz Otten trennten ihre Studienorte für ein Semester im Frühjahr 1932; Marie-Luise wandte sich nach Königsberg,32 während Heinz Otten auf Anraten Barths an die Basler Universität in die Schweiz ging. Bedingung war allerdings ein Wohnheimplatz, »da es sonst zu teuer wird«;33 Familie Otten musste nämlich wegen »der Gehaltskürzung durch die letzten Notverordnungen«34 mit einem schmalen Etat wirtschaften. Für eine Bewerbung für das Wohnheim ›Alumneum‹ bat Otten seinen theologischen Lehrer Barth, eine Empfehlung über »a) christliche Gesinnung und sittlich unbescholtenen Lebenswandel, b) Begabung und c) Fleiß«35 zu schreiben. Der Bitte kommt Barth gerne nach und schreibt dem »Hausvater« des Alumneums: »Sehr geehrter Herr Pfarrer! Herr stud. theol. Heinz Otten in Greetsiel (Ostfriesland) steht, wie er mir schreibt, in Unterhandlung mit Ihnen wegen seiner allfälligen Aufnahme in das Alumneum und bittet mich, ihm die dazu nötige Empfehlung zu geben. Ich kann das mit gutem Gewissen tun, nachdem ich Herrn Otten in Bonn sowohl persönlich als [auch] wissenschaftlich als einen sehr eifrigen und ernst zu nehmenden Studenten kennen gelernt habe. Er war Mitglied meines Seminars und meiner Sozietät, hat auch an meinen offenen Abenden regelmässig teilgenommen und ich 29

Nicht zutreffend ist Buschs Meinung (Karl Barths Lebenslauf, a.a.O., S. 216), dass Walter Kreck auch zu diesem Kreis gehörte. 30 Busch, Karl Barths Lebenslauf, a.a.O., S. 216. 31 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. 32 M.-L. Fürbringer wurde von dem alten jüdischen Amtsgerichtsratsehepaar Brach aus Aachen protegiert und wohl auch finanziell unterstützt. – Das Ehepaar Brach wurde im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. 33 Brief Ottens an Barth, 20. März 1932 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 34 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. 35 Brief Ottens an Barth, 20. März 1932, a.a.O.

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habe an der Aufgeschlossenheit und Aktivität, mit der [er] überall mitarbeitete, immer Freude gehabt. Ich möchte es ihm herzlich gönnen, wenn aus dem Basler Semester, das er sich vor Allem der praktischen Theologie halber wünscht, etwas werden könnte und weil die Sache für ihn von der Aufnahme in das Alumneum abhängt, erlaube ich mir hiemit, sein Gesuch mit meiner Empfehlung zu unterstützen.«36 Im Alumneum aufgenommen, an dessen internationaler Besetzung er sich besonders erfreut,37 will Heinz Otten intensiv studieren und belegt neben vier Vorlesungen noch vier Seminare. Basel ist nicht nur die Heimat Barths, sondern auch die Wirkstätte seines lebenslangen Mitstreiters Eduard Thurneysen, der erst kurz zuvor eine Professur für Praktische Theologie an der Basler Universität angetreten hatte. »Durch Vorlesung, Seminar und darüber hinaus durch persönliche Bekanntschaft mit Herrn Pfarrer D. E. Thurneysen erhielt ich manche Anregung für das Gebiet der Homiletik.«38 Thurneysen schreibt seinem Weggefährten nach Bonn: »Deine Studenten, Frey und Otten, sind Stützen meines Seminars.«39 Am Ende des Semesters resümiert Thurneysen gegenüber Barth, dass vor allem die aus Bonn gekommenen – »dir treu ergebene[.]« – Studenten positiv aufgefallen wären. »Frey und Otten haben mir wirklich Freude gemacht … Die werden beide ganz sicher ihren Mann stellen. Sie haben in Basel freilich eher geseufzt unter den miesen theologischen Verhältnissen.«40 Neben den Veranstaltungen Thurneysens besuchte Otten die des Systematikers Adolf Köberle41, die des Alttestamentlers Walter Baumgartner und die des Philosophen Heinrich Barth. In einem Brief Ottens an dessen Bruder Karl in Bonn heißt es: »Ihr Herr Bruder liest die Geschichte der Philosophie des Mittelalters und im Seminar Augustinus’ Konfessionen von Kapitel 10 an.«42 In diesem langen Brief erzählt Otten seinem Bonner Lehrer von den Ereignissen in Basel: von einem Kolleg mit nur acht (!) Hörern und 36

Brief Barths an Dr. Jakob Wirz, 24. März 1932 (Staatsarchiv des Kantons BaselStadt: Privatarchiv 810 B V). Otten war nicht der einzige Student, der durch Empfehlungen von Barth und Thurneysen von Bonn nach Basel wechseln konnte, vgl. Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel III 1930–1935 einschließlich des Briefwechsels zwischen Charlotte von Kirschbaum und Eduard Thurneysen, hg. von Caren Algner (GA 34), Zürich 2000, S. 264.279f. 37 Brief Ottens an Barth, 2. Mai 1932 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 38 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. 39 Barth/Thurneysen, Briefwechsel III 1930–1935, a.a.O., S. 236f. (14. Juni 1932). Paul Oskar Frey (1910–1995) hatte auch 1931/1932 an Barths Seminar in Bonn teilgenommen. 40 Barth/Thurneysen, Briefwechsel III 1930–1935, a.a.O., S. 238 (22. Juli 1932). 41 Thurneysen berichtet Barth: »Köberle las über Katholizismus, und offenbar wußten die geöffneten Ohren deiner Schüler auch da manchen falschen Ton zu hören.« Ebd. 42 Brief Ottens an Barth, 2. Mai 1932, a.a.O.

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Seminaren mit durchschnittlich fünf (!) Teilnehmern, von einem scharfen Disput im Seminar bei Köberle um die Barthsche Theologie, die er – Otten – gemeinsam mit einem deutschen Kommilitonen verteidigte, wobei es bei »der Frage der Heilsgewißheit … um ein Haar zum Zusammenstoß gekommen [wäre]«, und schließlich davon, dass »Herr Pfarrer Thurneysen … mir von einem Zusammenstoß [erzählte], den er mit Ihrem Herrn Bruder gehabt hat über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung.«43 Offenbar zeigte sich Otten nach der Rückkehr aus Basel außerordentlich begeistert von Eduard Thurneysen. Im Spätherbst 1932 schreibt Barths Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum von Bonn aus nach Basel: »Herr Otten läßt dich grüßen. Es läuft hier das Gerücht, ›er sei in Thurneysen verliebter als in seine Braut‹ (!), und man neckt ihn allerorten ein wenig damit.«44 Zur Vorbereitung auf das im Frühjahr 1933 abzulegende Erste Theologische Examen kehrt Otten nach Bonn zurück. Ob er sich neben seinem Studium etwa auch in der »Bonner Jungreformierten Arbeitsgemeinschaft« engagiert hat, wo er gewiss zahlreiche ihm theologisch Nahestehende getroffen hätte, ist nicht festzustellen.45 »Neben der mich in erster Linie in Anspruch nehmenden Vorbereitung fürs Examen höre ich die Herren Professoren Barth und Wolf.«46 Heinz Otten kann seine Examensvorbereitung schon zum fünften theologischen Semester beginnen, hatte doch der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ihn am 26. Oktober 1932 im Hinblick auf die vier philologischen Semester von der Regel eines mindestens dreijährigen Studiums an deutschen Fakultäten befreit, dem so genannten ›Triennium‹. Nicht ohne Stolz gibt Heinz Otten unter dem 27. April 1933 dem »sehr geehrte[n], liebe[n] Professor« in Bonn zu wissen, dass er sein Examen in 43

Ebd. Thurneysen kommentierte die gemeinsame Lehrveranstaltung mit Heinrich Barth eher launig: »Krach gab es … keinen, sondern man tanzte in aller Vorsicht ein Menuett.« Barth/Thurneysen, Briefwechsel III, a.a.O., S. 238. Karl Barth schreibt kurz vor Weihnachten 1932 an Thurneysen: »Auch der Knabe Otten kam hinsichtlich seiner (sc. Heinrich Barths) irgendwie etwas kopfschüttelnd aus Basel zurück.« A.a.O., S. 330 (23. Dezember 1932). 44 A.a.O., S. 294 (17. November 1932). Diese besondere Sympathie war Thurneysen entgangen, ihm sei sie jedenfalls »fabelhaft neu … Ich habe ein freundliches kleines Nachtessen, zu dem ich ihn … in ein Lokal eingeladen hatte kurz vor Semesterschluß, in guter Erinnerung und lasse ihn durchaus wieder grüßen.« A.a.O., S. 298 (21. November 1932). 45 Zu dieser Gruppe vgl. Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 39f. – Vgl. Vorläufige Sätze der Jungreformierten Arbeitsgemeinschaft in Bonn, in: RKZ 82 (1932), Nr. 50 (11. Dezember 1932), S. 392. 46 Otten-Lebenslauf, Bonn 1932, a.a.O. – Barth las im Wintersemester 1932/1933 über die »Vorgeschichte der neueren protestantischen Theologie und behandelte im Seminar Calvin, Institutio III, in der Sozietät Luthers Großen Katechismus und während des Offenen Abends Ethik; vgl. Karl Barth, Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch unter Mitarbeit von Bartolt Haase und Barbara Schenk, Zürich 2004, S. 679.

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Aurich47 »sehr gut« absolviert habe. Aber schon jetzt schaut er wehmütig auf die Bonner Zeit bei Barth zurück: »Wie gerne wäre ich mal bei Ihnen gewesen!«48 4. Studieninspektor in Halle »Auf Grund einer Empfehlung von Herrn Professor D. Barth-Bonn ist mir vom Kuratorium des ev.-reformierten Studienkonvikts in Halle (Saale) für das Jahr 1933/34 die Vertretung des ... Inspektorpostens angeboten worden,« schreibt Otten der reformierten Kirchenleitung.49 Der Inspektor Werner Wiesner (1902–1974) wollte sich für die Fertigstellung einer Habilitationsschrift beurlauben lassen. Trotz seiner Promotion beim lutherischen Theologen Paul Althaus50 meinte er Barth theologisch nahe zu stehen und versuchte deshalb, Kontakt zu diesem aufrecht zu erhalten. Im Januar 1933 fragte Wiesner bei Barth an, ob er jemand für die Vertretung des Inspektorenpostens empfehlen könne. Und Barth kann einen jungen Theologen aus seinem Schülerkreis benennen: »Es handelt sich um einen jungen Ostfriesen, Heinz Otten, geb. 1909, der 9 Semester Philologie und Theologie studiert hat (in Tübingen, Basel und Bonn) und eben im Begriffe steht, seine erste theologische Prüfung in Aurich zu bestehen. Er arbeitet an einer Lutherdissertation51 bei Wolf. Ich habe in den Semestern, in denen er hier studierte, einen ausgezeichneten Eindruck sowohl von seiner Klugheit wie von seinem Ernst und Eifer gewonnen und mich an seiner Mitarbeit in meinen Seminaren, offenen Abenden etc. immer nur freuen können. Ähnlich ist es in Basel meinem Freunde Thurneysen mit ihm gegangen. Ich traue es ihm sehr wohl zu, daß er, gerade weil er ein Mensch von bescheidenem Wesen ist, vermöge der guten Energieen, die ihm eigen sind, in der Lage sein wird, sich die Liebe und den Respekt bei den Studenten, denen es in einem Amte wie dem Ihrigen bedarf, in kurzer Zeit zu erwerben. Das Kuratorium Ihres Konviktes und Sie würden es auf keinen Fall zu bedauern haben, wenn Sie ihm Ihre Stelle auf ein Jahr anvertrauen würde … Ich darf nicht vergessen, ausdrücklich zu 47

Sitz des Konsistoriums der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover. Dem damaligen Sprachgebrauch folgend wird die reformierte Landeskirche im Folgenden als »reformiert Hannover« bezeichnet. 48 Brief Ottens an Barth, 27. April 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 49 Brief Ottens an LKR, 20. Februar 1933 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). 50 Wiesner kann auf Grund seiner Dissertation als früher Kenner der Barthschen Theologie gelten, vgl. Werner Wiesner, Das Offenbarungsproblem der dialektischen Theologie (FGLP III/2), München 1930. 51 Hier irrt Barth, s.u.

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erwähnen, daß Herr Otten nicht nur reformierter Konfession ist, sondern auch sehr lebendig in der reformiert-theologischen Tradition steht … Ich darf wohl anmerken, daß er für eine möglichst baldige Nachricht über Ihre Entscheidung dankbar wäre, weil für das Jahr nach seinem Examen auch noch eine andere Möglichkeit für ihn zur Diskussion steht.«52 Offenbar erhält Otten auf Grund dieser Empfehlung unmittelbar danach eine entsprechende Anfrage aus Halle. Vorbehaltlich eines erfolgreichen Examens zwei Monate später nimmt Heinz Otten dieses Angebot an und setzt im Februar 1933 den reformierten Landeskirchenrat in Aurich davon in Kenntnis mit der Bitte, ihm die Zeit als Studieninspektor auf die Vikariatszeit anrechnen zu wollen.53 In einer dogmengeschichtlichen Sozietät Ernst Wolfs über »Prädestination« bei Augustin, Thomas von Aquin und Calvin bekam Otten die Anregung zu den nun aufgenommenen Arbeiten zu seiner Doktorarbeit über »Calvins theologische Anschauung von der Prädestination«.54 Otten wird erster Promovend Wolfs55; dieser wird im Zuge der ›Auflösung‹ der Bonner Fakultät 1935 nach Halle strafversetzt.56 Am 29. April – mithin knapp eine Woche nach dem Examen – zieht Heinz Otten als 24jähriger Inspektor in das Reformierte Studienkonvikt an die Kleine Klausstraße nach Halle. Auf der Fahrt dorthin unterbricht er seine Reise in Göttingen, um sich von dem für ein Jahr beurlaubten Studieninspektor Lic. Werner Wiesner Instruktionen einzuholen. Dieser teilt Otten den Standpunkt des Göttinger Theologen Emanuel Hirsch mit, der »begeistert hinter der nationalen Regierung« stände, wie Otten seinem Bonner Lehrer und dem früheren Fakultätskollegen Hirschs berichtet. Nach Hirsch »müsse [es] übers Jahr nur noch nat[ional] soz[ialistische] Hochschullehrer in allen Fakultäten geben, und wer nicht mitmache, habe zu verschwinden. Kein Wunder, daß Hirsch zum Dekan gewählt wurde! Wiesner, der schon aus angeborener Ängstlichkeit nicht allzuviel patriotischen [?] Mumm in den Knochen hat, fing nun auch noch an: Ja! Barths Theologie zeige doch eine bedenkliche Leere im Punkt ›Schöpfungsordnungen‹: Staat, Volkstum, Rasse usw. 52

Brief Barths an W. Wiesner, 31. Januar 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 47f. – Welche andere Option Otten hatte, ist nicht überliefert. Möglicherweise handelte es sich um eine Mitarbeiterstelle bei einem der o.g. Theologieprofessoren. 53 Brief Ottens an LKR, 20. Februar 1933 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). 54 Vgl. das Vorwort in Heinz Otten, Calvins theologische Anschauung von der Prädestination (FGLP IX/1), München 1938. 55 Vgl. Ernst Wolf, Geleitwort, in: Heinz Otten, Prädestination in Calvins theologischer Lehre, Neukirchen-Vluyn 1968 (Nachdruck der Dissertation München 1938), S. 6. – Zu korrigieren ist also die Angabe in Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 642, Otten habe bei Barth promoviert. 56 Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 342.

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Wenigstens könnten sich die ›Barthianer‹ doch nicht mit religiösem Pathos fürs Vaterland begeistern. Ich hatte den Eindruck: der will mal Dozent werden und merkt allmählig [sic!], was man da sagen und nicht sagen muß.«57 Über das von Hirsch Mitgeteilte wird sich Barth kaum gewundert haben, wohl aber über die von Otten zugetragenen Aussagen Wiesners, der ihm gegenüber durchaus andere Signale gegeben hatte – freilich vor Beginn des »Dritten Reiches«. In Halle begegnet Heinz Otten Amalie Loofs, einer Schwester des 1928 verstorbenen Dogmengeschichtlers Friedrich Loofs, die im Konvikt als Hausmutter tätig ist. Mit ihr pflegt er noch weit über seine Hallenser Zeit hinaus brieflichen Kontakt. Ottens Aufgaben sind neben der geistlichen und seelsorgerlichen Begleitung seiner 16 Studenten – z.B. durch die Hausandachten, die er montags und sonnabends zu halten hat – die allmorgendlichen Übungen im Alten und Neuen Testament; etliche dicht beschriebene Hefte im Nachlass zeugen von intensiven Vorbereitungen. Daneben bietet er Einführungen in (kirchen-)geschichtliche Themen wie »Puritaner« oder »Oliver Cromwell« an. »Das theologische Niveau der Studenten ist nicht gerade sehr hoch, aber sie sind alle interessiert.«58 Auch die von jeweils einem der Konviktualen in schalkhaftem Ton verfassten Annalen des ›Reformierten Conviktes‹ befassen sich mit dem neuen Inspektor, »der zwar wiederum zu den finsteren Dialektikern gehört, nichtsdestotrotz mit den größten Hoffnungen begrüßt wurde. Unter seiner [!] Regime entstand so etwas wie Führerprinzip, das zwar vorläufig sein Dasein noch in Windeln führt, aber auf dem Ausflug nach Merseburg sein respektables Stimmchen ertönen ließ. Wie weit die Tatsache, daß ein neuer Inspektor hier eingezogen ist, von historischer Bedeutung für die Entwicklung des Ganzen sein wird, mögen spätere Geschlechter besingen. Im Übrigen dürfte K. Barth, der sich der geistlichen Vaterschaft dieses Sprößlings rühmen kann, auch weiterhin bestimmungsgebend für das Aufblühen und Wachsen seines Sohnes sein.«59 Wie wahr gerade das Letztgenannte würde, sollten die kommenden Jahre zeigen! 57

Brief Ottens an Barth, 14. Mai 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Seine während der Beurlaubung entstandene Arbeit ist: Werner Wiesner, Die Lehre von der Schöpfungsordnung. Anthropologische Prolegomena zur Ethik, Gütersloh 1934. Vgl. auch ders., Das Evangelium im Dritten Reich. Grundsätzliches zur Verkündigung des 2. und 3. Artikels, Göttingen 1933 (auf dem Titelblatt steht unter dem Verfassernamen: »Mitglied des Reichsführerstabes im Studentenkampfbund ›Deutsche Christen‹«). 58 Brief Ottens an Barth, 14. Mai 1933, a.a.O. 59 Konviktannalen II, Sommersemester 1933, S. 5 (Archiv des Reformierten Convictes, Halle). Zum Jahr 1933/1934 im Konvikt vgl. auch August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010, S. 241f.

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Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Halle ist auch und gerade im Jahr 193360 in Auseinandersetzungen verwickelt: Barths Theologie wird als »Unheilstheologie gegenüber der Heilstheologie des N.T.« bezeichnet, die Mehrheit der Dozenten erklärt, dass man »sich in der Person des Pfarrers Dehn getäuscht« habe und nun einsehe, dass nationalsozialistische Studenten, die seit dem versuchten Antritt der Professur im November 1931 sich mühten, durch Diffamierungen Günther Dehn von seinem Lehrstuhl für Praktische Theologie zu drängen, im Recht gewesen seien.61 Bei Bücherverbrennungen von ›undeutschen‹ Büchern am 12. Mai 1933 gehen auch Dehns Arbeiten in Flammen auf.62 Günther Dehn war einer der Gründer des Bundes der religiösen Sozialisten gewesen und stand durch sein Eintreten für Völkerversöhnung und Kriegsverhütung in Opposition zu nationalsozialistischen Kreisen, die die Öffentlichkeit gegen ihn aufzubringen verstanden. Eine Berufung zuvor nach Heidelberg scheiterte wie dann auch die Berufung nach Halle. Wie K.L. Schmidt gehörte auch Dehn zu den zuerst – aus politischen Gründen – entlassenen Professoren.63 Karl Barth, mit Dehn seit der Zugreise zum berühmten Tambacher Vortrag 1919 bekannt,64 versuchte ihm beizustehen. Dieses und das Engagement anderer nützte letztlich nichts. Dehn verlor nicht allein seine Professur, sondern blieb 60

Zur besonderen Bedeutung dieses Jahres für den Protestantismus vgl. Manfred Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: GuG 29 (2003), S. 481–511; vgl. auch ders., Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im »Dritten Reich«, in: ders. / Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 96–121, hier: S. 102–104. – Vgl. Biographisches Lexikon für die Universität Halle-Wittenberg (1933–1945). Theologische Fakultät, in: Henrik Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Halle 2002, S. 270–285. 61 Brief Ottens an Barth, 14. Mai 1933, a.a.O. Bei dieser Erklärung handelt es sich um die Begrüßung der theologischen Fakultät an ihre Studenten zum Semesterbeginn vom 20. April 1933, abgedruckt in: Ernst Rudolf Huber / Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. IV: Staat und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1988, S. 803. Zum ›Fall Dehn‹ vgl. Ernst Bizer, Der ›Fall Dehn‹, in: Festschrift für Günther Dehn zum 75. Geburtstag am 18. April 1957 dargebracht von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität, hg. von W. Schneemelcher, Neukirchen 1957, S. 239–261; Günther Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München, S. 247–285; Hartmut Ludwig, Kirche und Versöhnung. Vor 50 Jahren: ›Fall Dehn‹, in: Junge Kirche 43 (1982), S. 191–197; J.F. Gerhard Goeters, Art. Dehn, Günther, in: TRE VIII (1981), S. 390–392; Scholder I, a.a.O., S. 216–224; K. Meier, Fakultäten, a.a.O., S. 12–16; Friedemann Stengel, Wer vertrieb Günther Dehn aus Halle?, in: ZKG 114 (2003), S. 384–403. 62 Vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 43–47. 63 Vgl. Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 341; K. Meier, Fakultäten, a.a.O., S. 75f. 64 Vgl. Busch, Karl Barths Lebenslauf, a.a.O., S. 124.

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auch innerhalb der Bekennenden Kirche einsam, wenngleich er später Dozent an der Hochschule für reformatorische Theologie der BK in Berlin werden sollte. Als besonders traurig muss gelten, dass nicht – ausschließlich – die oft als konservativ inkriminierten Ordinarien in Heidelberg und Halle Dehns Amtsantritt verhinderten, sondern aggressiv auftretende nationalsozialistische Studenten, die die Mehrheit der Studenten zu beeindrucken verstanden. Ein fanatisierter Mob Studierender bestimmte die Tagesordnung bereits vor Beginn des »Dritten Reiches«! Neben diesen Gegnern, so erinnerte sich Dehn später, blieben einige Anhänger »mir aber treu. Besonders waren mir die Insassen des reformierten Konviktes mit ihrem Inspektor Wiesner ergeben.«65 Dieser hatte jenem »hin und wieder die Möglichkeit gegeben, vor Studenten in einem kleineren Kreise über ein wissenschaftliches oder praktisches Problem zu reden.«66 Neben seiner Tätigkeit als Inspektor hilft Heinz Otten, wo er kann: Er übernimmt »Schreibmaschinenarbeit« für den von 1919 bis 1934 amtierenden Moderator des Reformierten Bundes, Prof. August Lang (1867–1945),67 versieht an der Schloss- und Domgemeinde vertretungsweise den Konfirmandenunterricht, predigt mehrfach in Hauptgottesdiensten für den Domprediger Lic. Dr. Paul Gabriel und hält »Kindergottesdienst-Helfer-Vorbereitungsstunden«.68 Das »Dritte Reich« ist noch keine vier Monate alt, da fürchtet Otten schon, dass Barth seine Arbeit würde nicht mehr ungestört fortsetzen können. »Wir werden uns doch wohl auf einen schweren Kampf mit den ›Deutschen Christen‹ gefaßt machen müssen.«69 Kurz vor der Abreise nach Halle hatte ihm »der Führer der N.S.D.A.P. bei uns in Greetsiel schon erklärt, ich brauche nicht auf eine Pfarre in Ostfriesland zu rechnen, wenn ich nicht mit ihnen zusammen den ›Marxismus‹ bekämpfen wolle ... Man kann wirklich den Humor verlieren.«70

65 66 67

Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, a.a.O., S. 278. Ebd. August Lang war 1893 reformierter Domprediger in Halle geworden, Habilitation 1900, Superintendent und Honorarprofessor 1921, Moderator des Reformierten Bundes 1919–1934; vgl. K.-G. Wesseling, Art. Lang, August, in: BBKL IV (1992), S. 1077f.; Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O. 68 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 1. Juni 1934. In einer Beschreibung der Verhältnisse in Halle anfangs des »Dritten Reiches« schreibt Wolfgang Trillhaas: »Etwas im Winkel der Praktischen Theologie stand der feinsinnige Hymnologe Paul Gabriel, reformierter Domprediger, schon der Erscheinung nach ein Doppelgänger Paul Gerhardts.« Wolfgang Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, S. 145. Zu Gabriel vgl. auch Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 275f. 69 Brief Ottens an Barth, 14. Mai 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 70 Ebd.

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Der Bonner Barth-Schülerkreis unterhielt im Frühjahr 1933 einen Informationsaustausch durch Rundbriefe, in denen Informationen und Einschätzungen aus dem Barth-Umfeld und den jeweiligen Tätigkeitsfeldern mitgeteilt wurden.71 Nach einem ausführlichen Schreiben Helmut Gollwitzers über die Situation in Bonn72 antwortet Heinz Otten am 22. Mai 1933 aus Halle73: »Wie sehr das harte Urteil Barths über die ›Deutschen Christen‹ trotz der Zugehörigkeit [Karl] Fezers und anderer noch immer stimmt, hat ja der letzte Aufruf gezeigt, den Fezer mit unterschrieben hat und in dem in einem neuen Bekenntnis die Abweisung moderner Irrlehren wie Materialismus, Mammonismus, Bolschewismus und unchristl[icher] Pazifismus von der Kirche verlangt wird.74 Als ob nicht z.B. Fichte der Kirche genau so nah bzw. so fern steht wie etwa der jetzt nur noch mit Abscheu genannte Marx!75 Was mich persönlich aber neben der dauernden Sorge um die Kirche am meisten bewegt, das ist meine politische Haltung: Haben wir, die wir nicht Nat[ional]soz[ialisten] waren und sind, nicht doch vielleicht uns versehen? Können wir wirklich mit Recht das, was heute in Deutschland passiert, als brutale Reaktion abtun oder sollte es nicht doch der politische Ausdruck unserer Zeit sein? Haben wir etwa ein Interesse für die Leute, die mit dem Volksvermögen in schamlosester Weise umgegangen sind? Und das für mich ent71

Der am 3. August 1994 verstorbene D. Hellmut Traub hat dem Vf. einen Briefwechsel des Freundeskreises Georg Eichholz, Helmut Gollwitzer, Benjamin Locher, Heinz Otten, Fritz Schipper, Karl Gerhard Steck und Hellmut Traub aus dem Jahr 1933 anvertraut. Er liegt ediert vor: Die Rundbriefe des Barth-Schülerkreises (Mai bis Juli 1933), in: Hellmut Traub, »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit«. Beobachtungen eines Predigers, Zeugen und Lehrers zur kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von HansGeorg Ulrichs, mit Beiträgen von Gerhard Sauter und Hinrich Stoevesandt, Wuppertal 1997, S. 41–95. Vgl. in diesem Band auch den Aufsatz über Hellmut Traub. – Der Briefwechsel muss noch mindestens zwei Jahre weiter fortgeführt worden sein. Im Sommer 1935 berichtet Charlotte von Kirschbaum in einem Brief vom 5. Juli 1935 an Barth: »Gestern las ich noch eine Sammlung Rundbriefe, die das Trüpplein unserer Getreuen (Steck, Gollwitzer, Schipper, Otten, Eichholz etc.) sich schreiben. Das ist doch sehr bewegend, und das ist doch eine kleine Schar, wie wir sie so vielleicht sonst nirgends auf der Welt haben und haben werden.« Barth / von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, a.a.O., S. 217f. – Einer aus diesem besonderen Kreis, Helmut Gollwitzer, wird dann 1975 auch die Predigt anlässlich der Beisetzung Charlotte von Kirschbaums halten, vgl. ders., Nachrufe (Kaiser Traktate 27), München 1977, S. 31–35. 72 Rundbriefe, a.a.O., S. 46–53. 73 Zuerst abgedruckt in: Rundbriefe, a.a.O., S. 53–57. 74 Am 16. Mai 1933 erschienen die neuen Richtlinien der DC u.a. mit der Unterschrift Fezers, abgedruckt in: Chronik der Kirchenwirren, hg. von Joachim Gauger, Elberfeld 1934, S. 79. Auch Barth bezieht sich später auf diese Passage, vgl. Karl Barth, ThExh (Neuausgabe [s.u. Anm. 110]), S. 56. 75 Fichte wurde seinerzeit in der Theologie v.a. von Emanuel Hirsch und Friedrich Gogarten rezipiert.

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scheidende: Können wir es uns in dieser wahnsinnigen außenpolitischen Situation, in der wir doch sind, noch leisten, in dieser skeptischen Haltung gegenüber der Regierung zu verharren? Da es ja auch kein Zurück mehr gibt, wir im Hinblick auf die russische Situation noch weniger denn je Lust haben, uns für ein etwaiges Sowjet-Deutschland einzusetzen, uns auch für eine Sozialdemokratie nicht begeistern können, die nun auf einmal wieder von Sozialismus redet, nachdem man vorher nichts mehr davon hörte, und deren hervorragende Führer es vorgezogen haben, sich mit ihrem Geld in die Schweiz zu verziehen,76 müssen wir uns irgendwie mit der Tatsache abfinden, daß wir im nat[ional]-soz[ialistischen] 3. Reich leben. Ich meine nun gerade nicht den berühmten Boden der Tatsachen. Aber haben wir uns nicht in Hitler z.B. schwer getäuscht? Seine letzte Reichstagsrede77 besaß doch wirklich ein Format, wie auch wir sie in vielen Kanzlerreden vorher vermißt haben. Und darum frage ich mich immer und immer wieder: Sollten nicht die vielen begeisterten und im ganzen etwas beschränkten Nazis mehr politischen Instinkt besessen haben als wir? Versteht mich recht: Ich frage das alles und möchte Euren Rat und Eure Meinung haben. Den Conviktualen, die natürlich alle Nazis sind, mache ich immer wieder klar, daß man als Theologe zwar Nat[ional]soz[ialist] sein kann, indem man das politische Wollen des NS bejaht, aber auf keinen Fall ›Deutscher Christ‹. Auch im Hinblick auf eine Kirchenspaltung müssen wir uns doch auf alle Fälle vor irgendeinem Antifaschismus hüten. Übrigens haben die Deutschen Christen bei der gestern hier abgehaltenen Wahl zur Synode noch nicht die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten … [A]uch im übrigen akademischen Leben [sc. neben der theologischen Fakultät] macht sich ein sehr plumper und unsachlicher Radikalismus bemerkbar, über den sogar die eifrigsten Nazis entsetzt sind. Wie ja so oft, so sind auch hier die Führer der Studentenschaft die übelsten Schreier. Denen ist es dann auch wohl zu verdanken, daß bei der Verbrennung angeblich undeutscher Bücher auch solche von Dehn zusammen mit den Büchern von Magnus Hirschfeld78 verbrannt wurden. 76

Sozialdemokratische Politiker flohen u.a. in die Schweiz, nachdem besonders nach dem so genannten Ermächtigungsgesetz massive Verfolgungsmaßnahmen auch gegen Sozialdemokraten begannen. Am 22. Juni 1933 wurde die SPD verboten, danach lösten sich andere Parteien unter Druck selbst auf. In Prag konstituierte sich dann eine ExilSPD. – Otten gibt hier unkritisch Berichte aus den herrschenden Medien wieder. 77 Vermutlich meint Otten Hitlers außenpolitische Regierungserklärung vor dem Reichstag am 17. Mai 1933, die sogenannte »Friedensrede«, deren Aussagen von allen verbliebenen Reichstagsfraktionen gebilligt wurden. 78 Magnus Hirschfeld (1868–1935), Sexualforscher, dessen Berliner Institut am 6. Mai 1933 Ziel einer »Säuberungsaktion« durch Studenten war; am 10. Mai 1933 fanden in Universitätsstädten Bücherverbrennungen statt. Hirschfeld emigrierte noch 1933 nach Frankreich.

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Die Studenten werden mit Rassevorlesungen derartig überladen, daß für die übrigen Vorlesungen kaum noch Zeit ist. Außerdem wird in diesen pseudowissenschaftlichen Vorlesungen ein derartiger Materialismus verzapft, dem gegenüber der heute sooft zitierte und verabscheute Materialismus des gottlosen Marxismus geradezu ein ideales Ansehen bekommt. Das Dollste hat sich darin der mit Recht so berühmte Günther79 aus Jena geleistet: Danach ist Kant eine traurige Erscheinung gegenüber einer nordischen Erscheinung mit der dazu nötigen Erbmasse, was ja sicher im Hinblick auf sein Äußeres von einer bemerkenswerten Kenntnis zeugt. Daneben wird hier tüchtig Wehrsport in Theorie und Praxis getrieben. Auf Antrag der theol[ogischen] Fakultät werden auch die Privatdozenten, Assistenten und Conviktsinspektoren gebeten, an den viermal im Semester stattfindenden Ausmärschen teilzunehmen. So habe ich denn gestern meinen Kadaver zur Rettung des Vaterlandes einige Stunden in Bewegung gesetzt, habe mir die Anfangsgründe der Militärwissenschaft wie ›Stillgestanden‹, ›Rührt Euch‹, ›Rechts um‹ und anderes von einem sich als preußischer Unteroffizier gebärdenden Kommilitonen unter dem nötigen Geschimpfe beibringen lassen. Dabei habe ich mich gefreut an dem Gedanken, daß ev[entuell] auch in Bonn solche Ausmärsche stattfinden könnten … Von der Fakultät ist sonst nicht viel zu sagen: Schumann80, der ja wohl genannt werden dürfte, hält im Hinblick auf das geistige Niveau der Studenten seinem mir gegenüber zum Ausdruck gebrachten Urteil nach wohl erforderlichen erschütternd naiven Vorlesungen, in denen er in gar zu breiten Ausführungen seinen Zuhörern das Wesen der menschlichen Existenz mit seiner ihm eigentümlichen von Rehmke81 – ist es auch recht? – übernommenen Terminologie klarzumachen sucht. Ich war einmal da, um nicht so schnell wieder hinzugehen. Die Vorlesung nennt sich christl[iche] Ethik. Stauffer82, für den [Ernst] Fuchs sich ja so interessierte, weil er ihn für seinen Konkurrenten hielt, da aber St[auffer] N[ational]S[ozialist] ist, hat Fuchs die Schlacht schon im voraus verloren, will uns am Freitag abend hier im Konvikt einen 79

Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968), Professor auf dem ersten Lehrstuhl für »Rassenkunde« in Jena 1933, danach in Berlin und Freiburg. 80 Friedrich Karl Schumann (1886–1960), ao. Professor für Systematische Theologie 1928 in Tübingen, 1929 in Gießen, 1932 in Halle, 20. Juli – 27. September 1933 in der Einstweiligen Leitung der DEK, Austritt aus den DC nach dem »Sportpalastskandal« im November 1933. – Honorarprofessor 1951 in Münster, 1955 emeritiert. Vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 282. 81 Möglicherweise ist der Philosoph Johannes Rehmke (1848–1930) gemeint. 82 Ethelbert Stauffer (1902–1979), Neutestamentler in Halle, ab 1934 in Bonn, beteiligte sich an Maßnahmen gegen Barth; vgl. K.-G. Wesseling, Art. Stauffer, Ethelbert, in: BBKL X (1995), S. 1245–1250. Vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 282f.

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Vortrag über das Thema halten: Der Römerbrief der Deutschen (Hebbels Nibelungen). Was es werden wird, weiß ich gar nicht, sicher aber eine furchtbare Häresie. Ob es auf etwas Ähnliches hinauslaufen wird wie Stapels Nomoslehre?83 Benz84 kenne ich noch zu flüchtig, um etwas über ihn sagen zu können, ebenso [Fritz] Liebs Freund Tschizewskij.85 Von Dobschütz86 redet von der ›Unheilstheologie‹ und meint damit Barth. Er soll die Tatsache, daß der neue Inspektor des Ref[ormierten] Convikts aus Bonn käme, mit einem bösartigen Knurren beantwortet haben. Fabelhafte Leute sind hier die beiden Emeriti Kattenbusch und Ficker.87 Schon äußerlich sind es interessante Köpfe, mit denen ich gleich in ein feines theol[ogisches] Gespräch kam, und zwar mit Kattenbusch sogar über den hier so verfemten Barth. Er hat ihm vorzuwerfen eigentlich nur die Tatsache, daß seine Theologie reformiert sei und dieselben Fehler infolgedessen habe wie die Calvins, der zwar ein großer Theologe gewesen sei, aber z.B. Luthers Gottesbegriff nicht mehr verstanden habe. Nun ist es mir immer noch lieber, Barth wird im Zusammenhang mit Leuten wie Calvin angegriffen, als daß man all das Dumme wiederholt, was sonst gesagt zu werden pflegt. Ficker machte mich darauf aufmerksam, daß für die Lutherforschung der katholische Kultus viel zu wenig mit berücksichtigt sei. Und wenn ich nun auch noch von mir selbst erzählen soll: An meiner Arbeit habe ich sehr viel Spaß, besondere Freude machen mir die NTÜbungen, in denen wir den Hebräerbrief lesen. Ich habe noch nie vorher gewußt, daß so feine Dinge im Hebr[äer]brief stehen. Die Studenten sind auch im allgemeinen sehr interessiert, wenn ihre Kenntnisse auch nicht gerade überragend sind. Im AT muß ich mich tüchtig für das Formenerklären vorbereiten, da ich seit dem Hebraikum diese ach 83

Wilhelm Stapel (1882–1954), Herausgeber der Monatsschrift »Deutsches Volkstum« 1919–1938; vgl. Scholder I, a.a.O., s.v. Stapel; Friedrich Wilhelm Graf, Art. Stapel, Wilhelm, in: BBKL X (1995), S. 1165–1200. 84 Ernst Benz (1907–1978), hatte sich 1932 in Halle habilitiert, 1935 erhielt er einen Ruf als Professor für Kirchengeschichte nach Marburg; vgl. Thomas K. Kuhn, Art. Benz, Ernst, in: BBKL XVI (1999), S. 98–101. 85 Dmitrij Cyzevskij (Tschizewskij) (1894–1977), ukrainischer Literaturwissenschaftler, unterrichtete von 1932 bis 1945 in Halle Slavistik. Nach 1945 war er an den Universitäten in Marburg, Harvard und Heidelberg tätig. 86 Ernst von Dobschütz (1870–1934), Neutestamentler in Halle. 87 Ferdinand Kattenbusch (1852–1935), Professor für Systematische Theologie in Gießen, Göttingen und Halle; vgl. Wolfdietrich von Kloeden, Art. Kattenbusch, Ferdinand, in: BBKL III (1992), S. 1239–1241. Barth konnte in sehr freundlichem Ton, aber inhaltlich entschieden nur konstatieren, dass er und Kattenbusch sachlich weit auseinander lägen, vgl. Brief K. Barths an F. Kattenbusch vom 25. Dezember 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 589f. – Johannes Ficker (1861–1944), Kirchenhistoriker und Archäologe, PD 1890 in Halle, Professor 1900 in Straßburg, 1919 in Halle; vgl. BBKL II (1990), S. 29f. Vgl. auch Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 274f. bzw. S. 277.

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so nützliche Übung stark vernachlässigt habe; aber es ist weiter nicht schlimm – wenigstens m.E. allerdings im Gegensatz zu meinem Vorgänger [sc. Werner Wiesner] nicht – wenn einer, der bei Otto Weber in Elberfeld88 hebräisch gelernt hat, an diesem Punkt mir entschieden überlegen ist. Wenn wir uns über eine Form nicht ganz im Klaren sind, dann beuge ich mich in Demut und bereue die Sünden meiner Jugend. Mit Papa Lang89 lebe ich in einem sehr freundschaftlichen Verhältnis. Schon mein gut ref[ormierter] Taufschein, dann das Studium bei ›unserm Barth‹ sichert mir sein Wohlwollen. Er ist ein gütiger alter Mann, mit dem man besser nicht gerade theol[ogische] Fragen bespricht, wenigstens soll man sich dabei nicht aus dem Gebiet der Historie entfernen. Am Sonntag muß ich hier im Dom predigen und zwar im Abendgottesdienst. Wenn ich dabei 10 Hörer habe, kann ich mich freuen.« Otten und seine Freunde diskutieren offen die schwer überschaubare Lage in Staat und Kirche. Er bittet seinen Freund Hellmut Traub und die anderen um Hilfe: »Ihr müßt mir drum so oft wie möglich Material schicken, damit ich in meiner heillosen Wut keine Böcke schieße. Es geht ja gar nicht um die Personen [Friedrich von] Bodelschwingh und [Ludwig] Müller, sondern es geht darum, ob der Reichskanzler – der auch noch katholisch ist – der evangelischen Kirche das Oberhaupt setzen darf, um damit die Kirche zu einem Instrument des Staates zu machen oder ob wir uns dagegen wehren dürfen. Außerdem schämt sich der Müller nicht, in seiner Pfingstpredigt glatt den Geist des neuen Deutschland mit dem Heiligen Geist gleichzusetzen.90 Das ist Kreaturvergötterung!«91 Bei Karl Barth sucht Otten von Anbeginn des Kirchenkampfes Rat, wie es fortan so viele tun sollten. Barth, so seine »Hausgenossin«92 Charlotte von Kirschbaum, »ist jetzt [sc. Sommer 1933] fast ununterbrochen beansprucht von Schülern und ehemaligen Schülern, die oft auf einsamen 88 89

Otto Weber war von 1928–1933 Dozent an der Theologischen Schule in Elberfeld. Bezeichnenderweise wurde August Lang von vielen jüngeren Theologen »Papa« genannt, womit dessen grundgütiger, ostentativ mild-pietistischer Habitus karikiert werden sollte. Vgl. auch Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 274, Abb. 16. Barth hatte nach seiner Erstbegegnung mit Lang im September 1923 scharfzüngiger geurteilt: »ein kleines Männlein …, äußerst vorsichtig und schlau im Abwürgen unangenehmer Diskussionen und ähnlichen Künsten, sonst aber herzlich unbedeutend, obwohl sicher Vieles wissend.« Karl Barth, Rundbrief vom 24. September 1923, in: Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930, Zürich 1974, S. 182–189, hier: S. 185. 90 Vgl. Thomas M. Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit (AKiZ B 19), Göttingen 1993, S. 130. Der Völkische Beobachter berichtete am 7. Juni 1933 von Müllers Pfingstpredigt. 91 Brief H. Ottens an H. Traub vom 13. Juni 1933, in: Rundbriefe, a.a.O., S. 76f., hier: S. 76. 92 So Barths Bezeichnung in: ders., Briefe 1933, a.a.O., S. 544.

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Posten stehend, sich nicht mehr zurechtfinden in der schwierigen Situation und des Rates und Trostes bedürfen.«93 Im Juni 1933 hatte es in Halle – wie in vielen anderen Orten Deutschlands auch – eine Offensive der ›Glaubensbewegung Deutsche Christen‹ (DC) gegeben; so geschah es an der Universität, dass die Studierenden zu einer DC-Kundgebung befohlen wurden, an deren Ende eine Vertrauenserklärung für den Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, der von Hitler und den DC als Reichsbischof vorgesehen war, verlesen wurde; diese wurde dann als Auffassung aller Studierenden der evangelischen Theologie in Halle verbreitet. »Professor Kohlmeyer94 – Kirchenhistoriker – forderte die engste Verbindung zwischen Staat und Kirche, wobei er auf die schöne Zeit des Landeskirchentums vor dem Kriege als nachahmenswertes Beispiel hinwies. Für einen Historiker doch ein merkwürdiges Urteil! Und anschließend kam dann die Entschließung, daß die Hallenser Studentenschaft geschlossen hinter Müller steht. (Kohlmeyer behauptet, von dieser Entschließung erst zwei Minuten vor seiner Rede erfahren zu haben.)«95 »Die Bewohner des reform[ierten] Konvikts kochten vor Wut, obgleich sie zum größten Teil National-Sozialisten sind.«96 Otten bezeichnet nicht allein die Vorgänge in Halle, sondern die im ganzen Deutschen Reich als »Vergewaltigung der evang[elischen] Kirche«.97 Organisatorischen Widerstand »gegen den Verrat der evang[elischen] Kirche an den totalen Staat«98 – so Otten – leistet in Halle nur eine Gruppe der »Jungreformatorischen Bewegung«,99 angeführt vom damaligen Privatdozenten und späteren Tübinger Neutestamentler Otto Michel. Otten stellt sich dieser Gruppierung zur Verfügung, freilich ohne sich zu binden. Er bemerkt, dass es gar nicht um den lutherischen Reichsbischof100 gehe – 93

Brief Charlotte von Kirschbaums an Hugo Pitsch vom 12. Juli 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 289–291, hier: S. 291. 94 Ernst Kohlmeyer (1882–1959), zuerst Professor in Kiel, bis 1929 in Breslau, bis 1935 in Halle, dann in Bonn. 1933 gehörte Kohlmeyer zu den DC, später trat er der NSDAP bei, vgl. Sebastian Kranich, Art. Kohlmeyer, Wilhelm Heinrich Ernst, in: BBKL 31 (2010), S. 741–745; vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 278. 95 Brief Ottens an die Freunde des Barth-Schülerkreises vom 23. Juni 1933, in: Rundbriefe, a.a.O., S. 77–81, hier: S. 78. 96 Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1933 (Karl Barth-Archiv, Basel), vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 258f. 97 Brief Ottens an Barth, 22. Juni 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel, vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 261). Diese Kundgebung erwähnt auch Otto Michel in seiner Autobiographie: ders., Anpassung und Widerstand. Eine Autobiographie, Wuppertal/Zürich 1989, S. 70. 98 Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1933, a.a.O. 99 Vgl. Peter Neumann, Die Jungreformatorische Bewegung (AGK 25), Göttingen 1971. 100 Der ›Bischofsstreit‹ zwischen Lutheranern und Reformierten war schon in den zwanziger Jahren ausgefochten worden, vgl. Herwart Vorländer, Kampf gegen das Bischofsamt, in: ders., Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 51–76; Eckhard Lessing, Zwischen

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Ludwig Müllers baldige Einsetzung zum neuen ›Reibi‹ durch Hitler geht als Gerücht umher –, »sondern um die Selbständigkeit der Kirche überhaupt«; ein sich abzeichnender »reformierter Weg«, eine Sicherung des bloßen Bekenntnisstandes, ist für Heinz Otten keine Möglichkeit. Er beklagt vor allem auch »das Verhalten des Reformierten Bundes, der dauernd seine Uninteressiertheit gegenüber dem Bischofsstreit betont.«101 Sicher, es ging nicht allein um den lutherischen Reichsbischof, aber der Reformierte Bund meinte wohl noch 1933, sich um die Auseinandersetzungen in der Kirche und um die Kirche herumdrücken zu können. Auch Barth sah durchaus kritisch auf die Reformierten des Sommers 1933, gab es doch neben klar positionierten Personen wie dem jungen Wilhelm Niesel102 auch ältere, eher konservative Vertreter wie Fritz Horn, August Lang oder seinen Fakultätskollegen Wilhelm Goeters, die eher uneindeutig agierten, sowie »den völlig haltlosen O[tto] Weber«103, der sich zu dieser Zeit als Deutscher Christ gerne auch von der entstehenden Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) und dem nachmaligen Reichsbischof engagieren ließ.104 Barth und seine Schüler standen kirchenpolitisch und theologisch im Abseits. Am 17. Juni 1933 fragt Otten bei Barth an: »Werden Sie in den nächsten Tagen öffentlich zur kirchlichen Lage Stellung nehmen?« Umgehend antwortet Barths

Bekenntnis und Volkskirche. Der theologische Weg der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (1922–1953) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen (Unio und Confessio 17), Bielefeld 1992, S. 28–31. Als man im Frühjahr 1933 eine Neuordnung der 29 Landeskirchen zu einer Reichskirche plante, kam auch diese Frage wieder auf. Vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 662, s.v. Bischof. Vgl. auch Lang, Lebenserinnerungen, a.a.O., S. 149f.199 et passim. 101 Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1933, a.a.O. 102 Zu Niesel vgl. die entsprechenden Aufsätze in diesem Band. 103 So K. Barth in einem Brief an E. Thurneysen vom 27. Juni 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 262–266, hier: S. 264. Zu Barth und Weber vgl. Vicco von Bülow, »Keinem der theologischen Zeitgenossen so tief verpflichtet … wie Karl Barth«. Zur Beziehung von Otto Weber und Karl Barth, in: RKZ 140 (1999), S. 75–82. 104 Der Reformierte Bund fand seine tapfere oppositionelle Rolle, nachdem der altgediente Moderator August Lang (Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 45) auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 5. Januar 1934 von D. Hermann Albert Hesse (Elberfeld) abgelöst wurde. Vgl. Wilhelm Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 38–57; Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf, a.a.O.; Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert (1877–1957), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 156–158; Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes zu Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70, hier: S. 45–48 (Wiederabdruck in diesem Band). Barth hat H.A. Hesses unklares Agieren im Frühjahr und Sommer 1933 noch mit Unbehagen und Kritik gesehen.

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Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum105, berichtet von einer vergleichbaren Studenten-Kundgebung an der Bonner Fakultät und kündigt ein Wort Barths zur Sache (sic!) an. Sie referiert Barths Gedanken für dieses im Entstehen begriffene Wort: Die Kirche habe sich nicht abdrängen zu lassen in eine ihr nicht eigene Fragestellung; deshalb wolle er – Barth – ein kirchliches Wort aussprechen, kein kirchenpolitisches, welches sich allein um den Bischofsstreit drehe. Es könne nicht der Streit um Gruppen vorrangig sein, also auch nicht der um die Gruppe der Jungreformatorischen Bewegung106, sondern der um die Kirche. Als Weisung für den Brief an Otten hatte Barth seiner Mitarbeiterin zugerufen: »Sag ihm, er soll jetzt selber Bischof sein!«107 Der Brief Charlotte von Kirschbaums gibt also – passagenweise wörtlich – schon Tage vor der Fertigstellung der »Theologischen Existenz heute!« am 24./25. Juni Inhalte dieser Barth-Schrift wieder.108 Inzwischen wird in Halle die »Vertrauenserklärung« der DC-Kundgebung wegen »Gewissenszwang« von der Fakultät für nichtig erklärt. Aber obwohl sich die Opposition mehr und mehr sammelt, ist Otten skeptisch: »Trotzdem ich nun diesen Kampf zusammen mit anderen gekämpft habe, glaube ich dennoch, daß wir im Grunde sehr einsam unsern Weg gehen müssen. Wir sind doch eine erschütternd kleine Minderheit.«109 In den kirchenpolitisch unübersichtlichen Tagen des Sommer 1933 und nur wenige Tage nach Ottens Anfrage gibt Karl Barth seiner Schrift 105

Charlotte von Kirschbaums Brief an Otten, den sie entweder am 19. oder 20. Juni 1933 geschrieben haben dürfte, da Ottens Brief vom 17. Juni 1933 stammt, ist ediert worden: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 258–261; die Datierung des Briefs von Kirschbaums ebenfalls auf den 17. Juni 1933 (a.a.O., S. 259) muss ein Versehen von Kirschbaums oder der Editoren sein. – Auf diesen Brief geht auch ein Georg Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 156f. 106 Barth hatte erhebliche Vorbehalte gegen die Jungreformatorische Bewegung, hielt sie in manchem für gefährlicher als die Deutschen Christen, bei denen die Häresie offen zu Tage trat, während bei jenen eine falsche Natürliche Theologie und ein BindestrichChristentum manchmal nur heimlich regiere. Vgl. dazu jetzt ausführlich: Michael Hüttenhoff, Theologische Opposition 1933. Karl Barth und die Jungreformatorische Bewegung, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, S. 424–444. 107 Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 260. 108 Die ThExh entstand also nicht – nach einer Mär – in einer Nacht, sondern wohl zwischen dem 13. und 25. Juni; vgl. Hinrich Stoevesandt, »Von der Kirchenpolitik zur Kirche!« Zur Entstehungsgeschichte von Karl Barths Schrift ›Theologische Existenz heute!‹ im Juni 1933, in: ZThK 76 (1979), S. 118–138, hier: S. 126; dagegen falsch: Hans Prolingheuer, Der »unpolitische Karl Barth« als Lehrer der Kirche 1933–1935? Eine politische Legende!, in: RKZ 130 (1989), S. 115–124, hier: S. 121. 109 Brief Ottens an Barth, 22. Juni 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Zu den »Auseinandersetzungen im Kirchenkampf« an der theologischen Fakultät in Halle vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 175–180.

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»Theologische Existenz heute!«110 in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni die endgültige Form; mit dieser vielgelesenen Schrift schenkte Barth der BK ein Manifest und avancierte zum ›Vater der BK‹; dies geschah, nachdem am 24. Juni August Jäger zum staatlichen Kommissar für die evangelische Kirche der Altpreußischen Union (ApU) eingesetzt worden war111 und daraufhin Friedrich von Bodelschwingh, der sich am 27. Mai zum ›Reichsbischof designatus‹ der neu geschaffenen, aber noch verfassungslosen DEK hatte wählen lassen, von seinem ›Amt‹ zurückgetreten war. In dieser Schrift fordert Barth, »Theologie und nur Theologie« zu treiben »als wäre nichts geschehen«, nennt die Ideologie der DC eine Irrlehre und grenzt sich von der von Karl Heim, Walter Künneth, Hanns Lilje u.a. getragenen Jungreformatorischen Bewegung ab, die zwar eine Vermischung von Staat und Kirche ablehne, aber trotzdem ein »freudige[s] Ja zum neuen deutschen Staat«112 spräche und sich eben somit nicht energisch genug von den DC absetze.113 Heinz Otten engagiert sich daraufhin nicht mehr in der Gruppe um Otto Michel114, obwohl Michel noch bis mindestens Ende Juli Otten zu 110

Abdruck auch in: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2013, S. 280–363, Einleitung, a.a.O., S. 271–280. Zur ThExh vgl. die mit Anmerkungen und einer Einleitung von Hinrich Stoevesandt versehene Neuausgabe, ThExh NF 219, München 1984; Hinrich Stoevesandt, Was heißt »theologische Existenz«? Über Absicht und Bedeutung von Karl Barths Schrift »Theologische Existenz heute!«, in: EvTh 44 (1984), S. 147–177. Vgl. auch Michael Beintker, Theologische Existenz und Reformationsfeier. Einblicke in Karl Barths Arbeiten im Sommer und Herbst 1933, in: Thomas K. Kuhn / Katharina Kunter (Hg.), Reform, Aufklärung, Erneuerung. Transformationsprozesse im neuzeitlichen und modernen Christentum, Festschrift zum 80. Geburtstag von Martin Greschat, Leipzig 2014, S. 182–197; Achim Detmers, Vom Praeceptor Germaniae secundus« zum »Daniel in der Löwengrube«. Karl Barth als sozialer Akteur im »Feld des Kirchenkampfes« 1933, in: Kuhn/Kunter, Reform, Aufklärung, Erneuerung, a.a.O., S. 198–230. 111 Jäger blieb nur bis zum 15. Juli 1933 in diesen Amt. In den Folgejahren konnte er sich aber immer wieder großen Einfluss und wichtige Ämter verschaffen. 112 Aufruf der ›Jungreformatorischen Bewegung‹ zum Neubau der evangelischen Kirche, Punkt 11, in: W. Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 82f.; vgl. Siegfried Hermle / Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, Nr. 41, S. 110f. 113 Vgl. Barth, ThExh, a.a.O., S. 3.24.30. 114 Neumann, Jungreformatorische Bewegung, a.a.O., S. 114f., führt die Hallenser Gruppe als »typisches Beispiel für die theologisch unprofilierte Haltung der JB« an; unter dem 10. Juli 1933 – Otten hatte sich zwei Wochen zuvor zurückgezogen – erwägt die Gruppe um Otto Michel einen Anschluss an die DC! Dieses in seiner Autobiographie nicht erwähnt zu haben, gereicht Michel nicht zur Ehre, ja man gewinnt dort beinahe den Eindruck, dass Michel gar nicht richtig zu der JB gehört habe. Otten bleibt dort ungenannt. – Unterdes ist bekannt geworden, dass O. Michel bereits 1930 vorübergehend, 1933 dann endgültig der NSDAP beitrat und von 1933 bis zu seinem gesundheitlich bedingten Ausscheiden 1936 der SA angehört hatte. Nach 1945 identifizierte sich Michel stets als Mitglied der BK, der er wohl 1935 beitrat, und suggerierte damit eine bewiesene Distanz zum NS-Staat. Vgl. Reiner Braun, »Anpassung oder Wi-

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werben suchte: Michel »bat mich, auch im WS als ›Nicht-Jung-Reformatorischer‹ mich der Gruppenarbeit zur Verfügung zu stellen. Er träumt immer noch von einer Studentengemeinde.«115 Otten aber widmete sich seiner theologischen Arbeit, seiner Dissertation. In seinem Verständnis war dies nicht als ›Rückzug‹ zu verstehen, denn hier ging es darum, sich für eine länger währende Argumentation das theologische Fundament zu erwerben. Otten nahm Barth geradezu beim Wort, wenn es etwa in der »Theologischen Existenz heute!« heißt: »Was wir heute in erster Linie brauchen, ist doch ein geistliches Widerstandszentrum, das einem kirchenpolitischen erst Sinn und Substanz geben würde. Wer das versteht, der wird heute nicht irgendeinen Kampf, sondern ein sehr schlichtes: Bete und arbeite! auf sein Programm setzen.«116 Und wie Otten weiß auch Barth: »Wir müssen es unter Umständen auf uns nehmen, sehr einsam zu werden«.117 Die Konviktannalen kommentieren die Ereignisse des Sommers 1933 in Halle etwas weniger ernsthaft, aber in allem Witz doch die Geschehnisse treffend: »Die Konviktualitas erfreute sich bester Gesundheit und konnte demnach den Wandel vom Alten zum Neuen mit Fassung ertragen. Natürlich frägt man sich, wie weit die Änderung der Lage auch den Problederstand?« Zur Diskussion um Otto Michel und den Nationalsozialismus, in: Theologische Beiträge 43 (2012), S. 290–304. Vgl. auch Klaus Haacker, Otto Michel (1903– 1993), in: Cilliers Breytenbach / Rudolf Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 341–352; vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 279. 115 Karte Ottens an H. Ott (spätere Mörchen), 25. Juli 1933. 116 Barth, ThExh, a.a.O., S. 36. Barth sprach nicht einem Rückzug das Wort; freilich sahen besonders Außenstehende dieses so, z.B. die Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), im Auftrag des Exilvorstandes der Sozialdemokratischen Partei herausgegeben von Erich Rinner, Jgg. 1 (1934) bis 7 (1940), bis März 1938 Prag, ab April 1938 Paris, neu herausgegeben und mit einem Register versehen von Klaus Behnken, Salzhausen und Frankfurt/M. 1980, die in Barth einen Neutralisten sahen. Vgl. Deutschland-Berichte der SoPaDe 1934, S. 697: »bewußt unpolitische Haltung«; »Neutralisten«, S. 710 et passim. Zum Kirchenkampf in den sog. ›Grünen Berichten‹ des Exilvorstandes der SPD gibt es zwei Untersuchungen: Peter Maser, Kirchenkampf ›von außen‹. Die Deutschland-Berichte über Kirchen und Christen im Dritten Reich, in: Werner Plum (Hg.), Die ›Grünen Berichte‹ der SOPADE. Gedenkschrift für Erich Rinner (1902–1982) (Jahresgabe 1984 für Freunde des Forschungsinstitutes der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 80. Geburtstag von Fritz Heine am 6. Dezember 1984), Bonn 1984, S. 303–390; Hans-Georg Ulrichs, Der Kirchenkampf nach den Deutschland-Berichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SoPaDe) 1934– 1940. Beobachtungen zur Funktion der Bekennenden Kirche aus einer Außenperspektive (unveröffentlichte Examensarbeit), Heidelberg/Leer 1993 (hierin auch eine genauere Analyse des Barth-Bildes der Exil-SPD). 117 Barth, ThExh, a.a.O., S. 39.

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men, die vielf[ach] besprochen wurden, ein anderes Gesicht gab, ob nicht eine Verschiebung existenziellen Gedankengutes eintrat. Sicher trug am meisten die Tatsache des Seins eines neuen Inspektors dazu bei, daß die Konviktmauern weniger als im vergangenen Semester unter der [sic!] Regime Wiesner von systematischen Gesprächen zu nächtlicher Stunde mit mehr oder weniger Tiefsinn besprochen vernahmen: die Probleme, die sich z.B. an den Gesetzesbegriff, Uroffenbarung etc. knüpfen, haben faktisch ihre Aktualität verloren, man wandte sich vielmehr den politischen bzw. kirchenpolitischen Ereignissen zu. Unser Inspektor avanzierte [sic!] zum Häuptling der einen kirchlichen Gruppe. Doch legte er seine Kriegsbemalung ab, sobald sein verehrter geistlicher Erzeuger mit Stentorstimme zum Rückzug aus dem Getümmel gerufen hatte. In Debatten solcher Art fuhr der Staat mit starker Hand hinein in Gestalt des Seniors als kommissarisch bestellten Gleichschalters, so daß die politischen Organe verstummen mußten. Man suchte derh[alben] nach einer neuen Tür bez[iehungsweise] Notausgang für geistige Expressionen, suchte und fand vorderhand seine Befriedigung in der Besprechung des Faktums des Auftretens von Ratten, gegen die man mit militärischem Mute gewappnet zu Felde zog und auch manch edles Stück zur Strecke brachte«.118 Der kirchenpolitisch hektische Sommer 1933 erbrachte, dass im ganzen Reich in den von den NS-Parteiorganisationen massiv zugunsten der DC beeinflussten Kirchenwahlen119 im Juli Nationalsozialisten bis hinauf in die Kirchenleitung gelangten und Ludwig Müller auf der 1. Nationalsynode in Wittenberg am 27. September zum ersten Reichsbischof gewählt wurde. Herbst und Jahresende sind für Heinz Otten persönlich weniger bewegt; seine Freundin war von Oktober 1933 bis April 1934 nochmals für das Fach »Evangelische Theologie« an der Universität Bonn immatrikuliert, wo sie auch Barths Seminar besuchte. So findet Otten Zeit für die Weiterarbeit an seiner Dissertation, für persönlichen Gedankenaustausch mit befreundeten Pastoren in und um Halle, so z.B. mit dem Ehepaar Siegfried und Hilde Mörchen in Jessnitz. Neben Privatem sind immer wieder Kirchliches und Politisches Gegenstand seiner Korrespondenz. Otten versucht sich dabei am »Willen Gottes« zu orientieren, der aber seiner Einsicht nach »allermeist nicht offenbar ist.«120 Er wendet sich damit auch gegen eine theologische (oder besser: religiöse) Deutung des Jahres 1933. Mit Freunden spricht er deshalb offen über die »uns alle so bewegenden Fragen nach der Haltung gegenüber diesem 118

Konviktannalen II, Sommersemester 1933, S. 5 (Archiv des Reformierten Studienkonviktes, Halle). 119 W. Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 107f.; Scholder I, a.a.O., S. 562.564. 120 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 8. März 1934.

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Staat, nach der Kirche in diesem Staat, nach der rechten Verkündigung in unserer Zeit.«121 Er bezweifelt die angeblichen »Selbstverständlichkeiten« und »natürliche Ordnungen«, vor allem dann, wenn sie religiös verbrämt sind: So stellt er in Frage, ob die Ehe tatsächlich der bürgerlichen und kirchlichen Legitimierung bedürfe, kritisiert immer wieder die DC-Ideologie und sieht im Gegensatz zur Mehrheit der ›Volksgenossen‹ den neuen Staat zunehmend kritisch, denn die »angeblichen Christenverfolgungen« kommentiert er, »daß das, was ich in Halle im Sommer erlebt habe, verdammt danach aussah.« Und er weiß von den Konzentrationslagern, in denen »nicht nur sog[enannte] schlechte Menschen« größtes Leid erfahren. In den Ereignissen des Jahres 1933 wie überhaupt in Geschichte und in der Politik vermag Otten Heiliges nicht zu erblicken: »Gott hat die russische Revolution gewollt und gemacht wie er auch die unsrige gewollt hat. Es läßt sich aber nicht von uns eindeutig feststellen, ob er nicht vielleicht mit der von uns als furchtbar empfundenen russischen Revolution dieses Volk hat segnen wollen und uns mit unserer Revolution hat strafen wollen. Die Geschichte als Offenbarungsstätte Gottes ist für uns immer doppeldeutig … Gott [ist] nach der Schrift immer mit dem Armen, Schwachen und Gequälten. Es könnte sein, daß das auch wahr ist für den politisch nun Diffamierten.«122 Otten weiß um das Unvollendete dieser Welt und bekennt sich zum Glauben an »Ewiges Leben, Auferstehung des Fleisches, Kommen der Gottesherrschaft123 ... Schon aus diesem Grunde regt es mich nicht allzu sehr auf, daß ich mit dem jetzigen Geschehen nicht begeistert mit kann, weil ich es im Lichte dieses kommenden Reiches Gottes sehe.«124 Das Jahr 1934 beginnt in Halle mit der Suspendierung dreier Pastoren, die einen Aufruf des von Martin Niemöller gegründeten »Pfarrernotbundes« gegen Reichsbischof Ludwig Müller von der Kanzel verlesen hatten; diese Suspendierungen erwiesen sich als Willkürakte, hatten doch beinahe alle Hallenser Pastoren diese Notbund-Erklärung ihrer Gemeinde mitgeteilt; warum diese drei – noch außerdem nicht prominente – gemaßregelt wurden, bleibt unerklärlich. So unsicher die Lage also lokal war, so verworren zeigte sie sich für Otten auch reichsweit: Der so genannte ›Führerempfang‹ vom 25. Januar 1934 sollte nach BKVorstellungen eigentlich zum Sturz des Reichsbischofs führen, aber durch ein vom ›Forschungsamt‹ abgehörtes Telephonat Martin Niemöllers mit despektierlichen Äußerungen über Hitler wurde die kirchliche Opposition in die Knie gezwungen, so dass sie am 27. Januar einer 121 122 123

So im Rückblick: Brief Ottens an H. Mörchen, 21. August 1940. Brief Ottens an Marie Fürbringer, 28. Januar 1934. Vgl. Barth, ThExh, a.a.O., S. 40: Die Kirche »ist die naturgemäße Grenze jedes, auch des totalen Staates. Denn das Volk lebt auch im totaler Staat vom Worte Gottes, dessen Inhalt ist: ›Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben‹.« 124 Brief Ottens an Marie Fürbringer, a.a.O.

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Treuebekundung zum Reichsbischof nicht widersprach.125 Einige Tage danach schreibt Otten: »Was dabei herausgekommen ist, weiß kein Mensch. Barth war auch nach Berlin berufen.126 Gestern hieß es, Hitler wolle öffentlich von Müller abrücken, heute, der Reibi [sc. Reichsbischof] stände fest wie noch nie.«127 Wenige Tage später weiß Otten es genauer: »Der Reibi sitzt so fest im Sattel wie noch nie. Er hat am Sonntag ... in einer öffentlichen Versammlung erklärt, er würde jetzt mit aller Schärfe gegen den Notbund vorgehen, falls die Pfarrer nicht parieren würden. Er scheue nicht davor zurück, die ganzen 5-7000 Notbundpfarrer abzusetzen und Laien auf die Kanzel zu stellen. Wir haben hier im Konvikt ein gutes Barometer an einem Kommilitonen, der, ein übler Konjunkturjäger, seiner Zeit D[eutscher] Chr[ist] wurde. Er war dann ganz still geworden, als die D[eutschen] Chr[isten] in Ungnade standen, und riskiert jetzt wieder einen solchen Ton, daß ein jeder merken kann, woher der Wind weht. Über den Empfang der Labis [sc. Landesbischöfe] bei Hitler gehen die merkwürdigsten Gerüchte. Göring hat den ganzen kirchlichen Protest gegen den Reibi aufs Politische geschoben, wofür er Beweise in Wachsplatten, die er von jedem Telephongespräch Niemöllers, des jetzt beurlaubten Führers des Notbundes gemacht hat, zu haben vorgibt. Hitler sei sehr liebenswürdig gewesen128 125

Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich II: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom, geringfügig ergänzte und korrigierte Ausgabe (TB), Frankfurt/M. und Berlin 1988, S. 48–64, vor allem S. 59ff.; Schneider, Reichsbischof, a.a.O., S. 186–191; Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, a.a.O., Nr. 86, S. 181. 126 Barth war auf Drängen des neuen Moderators des Reformierten Bundes, Hermann Albert Hesse, nach Berlin gereist und erschien dort auf der Sitzung der kirchlichen Opposition für manchen ungelegen. Als es zum Streit darüber kam, ob ein Memorandum mit einem Dank an Gott für Hitlers Taten beginnen solle, kam es zu tumultuarischen Szenen, als Barth dem Tübinger Theologen Karl Fezer zurief: »Ihr habt einen anderen Glauben, einen anderen Geist, einen anderen Gott!« (Scholder II, a.a.O., S. 54– 56 nach der Version Charlotte von Kirschbaums); nach Barths eigenen Worten im Vorwort von ThExh 7, 1934, S. 4, sagte er: »Wir haben einen anderen Glauben, wir haben einen anderen Geist, wir haben einen anderen Gott.« Vgl. auch Karl Barths Brief an Charlotte von Kirschbaum vom 23. Januar 1934, in: Barth / von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, a.a.O., S. 344–347; Brief Ch. von Kirschbaums an Eduard Thurneysen vom 26. Januar 1934, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel III, a.a.O., S. 589–595. Dort wird auch berichtet, wie Otto Koopmann (s.u. Anm. 152) als »Kirchenführer« meinte Barth brüskieren zu können, a.a.O., S. 592. Zu den verwickelten und sich gelegentlich überschlagenden kirchenpolitischen Ereignisse vgl. auch die Dissertation der Herausgeberin des dritten Bandes des Barth-Thurneysen-Briefwechsels: Caren Algner, Kirchliche Dogmatik im Vollzug. Karl Barths Kampf um die Kirche im Spiegel von seiner und von Charlotte von Kirschbaums Korrespondenz mit Eduard Thurneysen 1930–1935, Neukirchen-Vluyn 2004 (das o.g. Geschehen a.a.O., S. 67–71). 127 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 27. Januar 1934. 128 Von einem weniger liebenswürdigen Hitler berichtet dagegen Scholder II, a.a.O., S. 60.

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und habe immer nur zur Einigung gemahnt. Die Einmütigkeitserklärung [sc. vom 27. Januar], die durch die ganze Presse ging, scheint auf einen Nervenschock der Labis zurückzuführen zu sein, und zwar unter dem Eindruck des Hitler-Empfanges, den dann der Reibi geschickt ausgenützt hat. Doch ich bin auch da guten Muts: lange hält sich eine solche Terrorherrschaft in der Kirche nicht.«129 Zu Auseinandersetzungen in Ottens Landeskirche, der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover [heute: Evangelisch-reformierte Kirche], kam es erst im Herbst 1934130 im Anschluss an Mißbilligungen zum ›reformierten Sicherungsgesetz‹ der 2. Nationalsynode im August 1934. Auch schätzte Otten die Lage der Reformierten 1934 zunächst zu positiv ein, wähnte er nämlich »die gesamten Reformierten sich einig ..., sowohl in unserer Landeskirche wie auch im Rheinland.«131 129 130

Brief Ottens an Marie Fürbringer, 6. Februar 1934. Leider betrachtet Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., die Zeit bis zum Herbst 1934 nur im Überblick, so dass über die Haltung Aurichs gerade in den ersten einundeinhalb Jahren des ›Dritten Reiches‹ nur wenig bekannt ist, wie z.B. die Tatsache, dass die DC auch in reformiert Hannover die Kirchenwahlen gewannen und DC in die Leitungsgremien vordrangen (vgl. Robert Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen und Gemeinden von 1933–1950, in: KJ 77 [1950], Gütersloh 1951, S. 228–332, hier: S. 252f.) oder der nicht praktizierte Kirchenvertrag mit Lippe (vgl. dazu Sigrid Lekebusch, »Lipper, hütet Euch!« Ein Beitrag zum Kirchenkampf in der Lippischen Landeskirche, in: Buhr, Hermann de / Küppers, Heinrich / Wittmütz, Volkmar [Hg.], Kirche im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft, FS für Günther van Norden [SVRKG 111], Köln 1993, S. 273–290; Gauger, Chronik I, a.a.O., S. 82). Wie mag das Verhältnis zum »Gaufachberater für Fragen der ev.-ref. Kirche«, Jaques Bauerman Groeneveld aus Bunderhee gewesen sein, der auch in leitenden Gremien der Kirche saß (vgl. Annelene Akkermann, Art. Groeneveld, Jaques Bauerman [1892–1983], in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 164f.)? Auch wäre es wichtig, die näheren Umstände von Präsident Otto Koopmanns Engagement in der Einstweiligen Leitung der DEK (vgl. Scholder I, a.a.O., S. 584) in der Vorbereitungsphase für die 1. Nationalsynode zu kennen, aber auch, wie man denn in Aurich die gesellschaftlich-politische Ereignisse wie Reichstagsbrand, das ›Ermächtigungsgesetz‹, die Boykotte von jüdischen Geschäften, ›Auflösung‹ von Gewerkschaften und Parteien, Aufbau von Konzentrationslagern, Verhaftungen von Sozialdemokraten und Kommunisten u.v.m. gesehen hat. Vgl. zum Jahr 1933 in reformiert Hannover jetzt Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 39–68. 131 Brief Ottens an Marie Fürbringer, 6. Februar 1934. Freilich war es schon zu Spannungen zwischen dem von den Rheinländern geführten Reformierten Bund und der Auricher Kirchenleitung gekommen (Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 71), man raufte sich aber noch einmal zusammen zum ›Reformierten Kirchenkonvent Osnabrück‹ (vgl. RKZ 84 [1934], S. 139f.; Gauger, Chronik I, a.a.O., S. 187) mit der Bildung eines reformierten Kirchenausschusses (vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 76– 85). Die Trennung der Reformierten begann mit den Synoden von Barmen und Dahlem: Als der Moderator des Reformierten Bundes H.A. Hesse nach Barmen eingeladen wurde, ließ sich Aurich nicht offiziell vertreten, als der Reformierte Bund im November 1934 die Beschlüsse von Barmen und Dahlem anerkannte, kam es zum Bruch: Hollweg verließ das Moderamen (W. Niesel, Der Reformierte Bund, a.a.O., S. 38–57, hier: S.

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Otten gewann ein solches Bild vom reformierten Kirchenkampf, weil sein Informant der auf Ausgleich und Sicherung seiner kleinen Landeskirche bedachte Landessuperintendent D. Dr. Walter Hollweg132 war. Für Unruhe sorgten indessen neben den nun aufkommenden Gerüchten von einer Suspendierung Karl Barths vor allem die eigenen Zukunftspläne: Zwar bot ihm das Kuratorium des Konviktes eine Verlängerung seiner Tätigkeit als Inspektor bis zum 1. Oktober 1934 an,133 zwar übernahm er im laufenden Wintersemester 1933/1934 das neutestamentliche Proseminar an der Universität Halle, welches er im Sommersemester 1934 weiterführen sollte,134 aber sowohl der Antritt einer ihm in Aussicht gestellten Pfarrstelle in Magdeburg scheiterte, »da man einen D.C. wünscht«135 als auch »mit Mailand die Sache«,136 wohinter sich eine Auslandspfarrstelle verbergen mag. Während Heinz Otten zunächst noch Muße findet, Mitte März die Familie des Theologieprofessor Ernst Wolf in Bonn zu besuchen und während der Osterferien Predigtdienste in der heimatlichen Krummhörn – so der Name des Landstriches nordwestlich von Emden – zu übernehmen und als Gast an einer Sitzung des Zusammenschlusses der reformierten Pastoren in Ostfriesland, dem »Coetus der reformierten Prediger Ostfrieslands«, teilzunehmen,137 scheint sich im Mai plötzlich eine berufliche Perspektive zu eröffnen: Auf Vorschlag des Landessuperintendenten Hollweg ist Heinz Otten als Dozent der Theologischen Schule in Elberfeld138 im Gespräch. »Am vergangenen Freitag [18. Mai] rief abends um 11 Uhr Pastor D. Hesse 41f.). Der Kirchenkonvent traf sich ein zweites Mal dann erst am 22./23. Juni 1936 in Hagen, um sich aufzulösen; vgl. RKZ 86 (1936), S. 206; Karl Immer, Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1933–1937, hg. von Joachim Beckmann, NeukirchenVluyn 1976, S. 168f.; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 34; Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf, a.a.O., S. 124–181. 132 Walter Hollweg (1883–1974), seit 1927 Landessuperintendent, 1939–1951 zugleich Präsident von reformiert Hannover. Zu Hollweg vgl. in diesem Band den Aufsatz Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, cap. 6; Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 191f. 133 Dazu vermerken die Konviktannalen II, Wintersemester 1933/34, S. 9 (Archiv des Reformierten Convictes, Halle): »Wir alle begrüßen es, daß er uns noch ein weiteres Semester erhalten bleibt, blicken deshalb getroster in die Zukunft, obwohl der Horizont geschichtlichen Geschehens gerade nicht allzu große Heiterkeit an den Tag legt.« 134 Brief Ottens an LKR, 10. Oktober 1934 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). 135 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 1. Juni 1934. 136 Ebd. 137 Brief Ottens an LKR, 10. Oktober 1934 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). 138 Zur Gründung der Theologischen Schule, vgl. Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 16f.; Vicco von Bülow, »Hier gibt sich […] kund ein Handeln der reformierten Kirche Deutschlands«. Ein kurzer Abriß der Geschichte der Theologischen Schule Elberfeld unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfangsjahre 1928–1932, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 277–289.

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aus Elberfeld mich an, ob ich ihn nicht am Dienstag in Leipzig aufsuchen könnte, er wolle mit mir über eine eventuelle Dozentenstelle an der Elberfelder Theol[ogischen] Schule verhandeln. Ich bin daraufhin am Dienstag in Leipzig gewesen, wo anscheinend eine Sitzung der oppositionellen Kirchenführer stattfand,139 wenigstens sah ich, als ich mit D. Hesse in der Hotelhalle saß, unter anderen bekannten Theologen auch Meiser, den bayerischen Landesbischof. Hesse sagte mir dann, daß Landessuperintendent Hollweg mich für die durch Otto Webers Berufung als Professor der reformierten Theologie [sc. nach Göttingen] freigewordene Stelle dem Verwaltungsrat der Theol[ogischen] Schule vorgeschlagen habe … In Elberfeld müßte ich den hebräischen und griechischen Anfangsunterricht geben und eine 2-stündige Vorlesung halten über ›Bibelkunde des AT‹. Die Studenten wohnen im Kameradschaftshaus, und es muß einer der Dozenten im gleichen Haus mitwohnen, der als spiritus rector über dem Ganzen schwebt … Hesse ließ keinen Zweifel darüber [aufkommen], daß er mich auch dem Verwaltungsrat vorschlagen würde.«140 Unbekannte Umstände ließen dann im Laufe des Sommersemesters 1934 eine Berufung nach Elberfeld nicht zustande kommen. Zwei Jahre später übernimmt Ottens Freund Willi Rethmeier diese Aufgabe.141 Einstweilen blieb Otten also in Halle. »Pfingsten mußte ich für das 3. Reich marschieren. Es war weniger schön, ja im Vergleich mit dem, was ich sonst in den Pfingstferien zu machen pflege, geradezu erschütternd.«142 Oder wie die Konviktannalen zum Pfingstfest 1934 bemerken: »Das Konvikt kennt keine S.A.-Anwärter mehr, alle tragen vollgültig das braune Ehrenkleid. Ein 2-tägiger Ausmarsch zu Pfingsten konnte nur ein unvollkommener Ausdruck dieses schönen Erlebnisses sein. Leider wollte d[ie] böse Umwelt zunächst einmal dem Frieden nicht so recht trauen, ja gewisse Leute in d[er] Fachschaft behaupteten die unbedingte Notwendigkeit der Schulung aller Konvikte, also auch des R[eformierten] C[onviktes]. Natürlich ein einstimmiger Schrei der Empörung.«143 139

Otten hat richtig beobachtet: Unmittelbar vor der 1. Bekenntnissynode der DEK in Barmen tagte in Leipzig am 22. Mai 1934 der am 11. April 1934 gegründete ›Nürnberger Ausschuss‹, dem Hans Asmussen die von Barth in Frankfurt am 15./16. Mai verfassten Sätze der späteren Barmer Theologischen Erklärung vortrug; vgl. Scholder II, a.a.O., S. 180; Karl Herbert, Der Kirchenkampf. Historie oder bleibendes Erbe?, Frankfurt/M. 1985, S. 103. 140 Brief Ottens an seine Mutter, 24. Mai 1934. 141 Vgl. RKZ 86 (1936), S. 45. Friedrich-Wilhelm Rethmeier (1910–1943) war wohl auch mit Karl Barth persönlich bekannt (vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 355–358) und wirkte ab 1938 als Pfarrer in Klein-Midlum und Critzum in Ostfriesland. 142 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 1. Juni 1934. 143 Konviktannalen II, Sommersemester 1934, S. 5 (Archiv des Reformierten Convictes, Halle). – Ottens Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation lässt sich leicht belegen, da in

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Während Marie-Luise Fürbringer nach dem bestandenen Examen in Bonn im Mai 1934 wieder zu ihrer Mutter nach Emden zieht, nutzt Heinz Otten die letzten Wochen im Konvikt noch intensiv für seine Doktorarbeit, die er ursprünglich noch in Halle, also bis zum September, beenden wollte. Er, der sich durch einen »eines jungen Theologen würdigen, christlichen Wandel ... auszeichnet«,144 muss Abschied nehmen. So lautet die Eintragung in die Konviktannalen über das Sommersemester 1934 folgendermaßen: »Man tut dem scheidenden Inspektor keinen großen Gefallen, wollte man alle Register zu einer Lobeshymne ziehen, die sich keineswegs auf die üblichen Abschiedsreden zu beschränken braucht ... Sein Herzenswunsch ist, die Konviktualen mögen sich in 10 Jahren bei dem mit 10 Kindern gesegneten ehem[aligen] Inspektor in Greetsiel treffen. Möge er sich den Idealismus mit den 10 Kindern bewahren!«145 Nach den arbeitsreichen Wochen dieser seiner letzten Zeit in Halle verloben sich Heinz Otten und Marie-Luise Fürbringer, nunmehr 25 und 24 Jahre alt, im Spätsommer 1934 und erholen sich auf einer »wunderbaren Rügenreise Anfang September.«146 Danach tritt Otten in den kirchlichen Dienst ein. 5. Hilfsprediger in Manslagt (Ostfriesland) »Ich bin seit dem 1. Oktober 1934 Hilfsprediger in Manslagt, einem Dorf von 500 Einwohnern 17 km von Emden entfernt. Die Gemeinde einer Umfrage in den Landeskirchen über die »Beteiligung der evangelischen Pfarrer (einschließlich des Nachwuchses) am Weltkrieg und der nationalen Erhebung« alle Pfarrer, Vikare und Studenten auf Grund von Selbstauskunft aufgelistet werden. Demnach gab Otten an, im November 1934 in die SA eingetreten und im August 1935 ausgetreten zu sein. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat sich entweder Otten selbst oder der landeskirchliche Bearbeiter geirrt: Eine Mitgliedschaft in der SA von November 1933 bis August 1934 ist viel plausibler: Dann wäre Otten mit den Konviktsstudenten gewiss mit einigem Druck auch von Seiten der Universitätsverwaltung eingetreten und hätte dann seinen Wechsel in den kirchlichen Dienst genutzt, um diese Mitgliedschaft wieder loszuwerden. Mit dieser Annahme macht auch das o.g. Briefzitat Sinn, er sei zu Pfingsten – also 1934 – für das Dritte Reich marschiert. Vgl. die Akte Archiv ErK, Leer, 63.2. Nr. 14 Vol. I, in dem alle NS-Mitgliedschaften aller Theologen der reformierten Landeskirche penibel erfasst sind. 144 Zeugnis August Langs, 7. Mai 1935 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). 145 Konviktannalen II, Sommersemester 1934, S. 7 (Archiv des Reformierten Convictes, Halle). – Später geriet Studieninspektor Werner Wiesner, der nach Otten seine Stelle wieder antrat, wegen einer öffentlicher Äußerung, Gott sei auch »Gott der Juden«, und wegen seiner Erwähnung »der im KZ einsitzenden Glaubensbrüder« in den Fokus des Sicherheitsdienstes, vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 180. Wiesner wurde 1939 als Studieninspektor abgesetzt; er war ab 1949 als Professor in Mainz tätig. 146 Brief Ottens an H. Mörchen, 21. August 1940.

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ist sehr kirchlich – 90 bis 100 im normalen Sonntagsgottesdienst –, die vor 10 Jahren eine Erweckung erlebt hat, bei der immerhin das Gute herausgekommen ist, daß aus dem übelsten Säuferdorf eines der enthaltsamsten in Ostfriesland geworden ist. Zudem bekam die Gemeinde sehr bald nach ihrer Erweckung Pastoren, die als Kohlbrüggianer die frommen Menschen ›totgeschlagen‹ haben, und dadurch eine Spiritualisierung vermieden haben. Es herrscht hier in der Gemeinde einiges Verständnis, das sich auch in besonderer Aufmerksamkeit auf die Predigt äußert.«147 Obwohl Heinz Otten dem ihm lieben universitären Betrieb den Abschied geben musste, ist er dennoch »froh und dankbar ..., im Dienst einer christlichen Gemeinde«148 zu stehen. Dem Landessuperintendenten Walter Hollweg, der die besonderen Fähigkeiten des jungen Theologen erkannte und zu fördern suchte, erscheint Heinz Otten – 25jährig und ohne selbst je Vikar in einer Gemeinde gewesen zu sein! – reif genug, in der Fortbildung der ostfriesischen Vikare tätig zu sein. »Neben Gemeindedienst habe ich noch die Leitung in wissenschaftlichen Kursen, die zur Fortbildung der Kandidaten unserer Landeskirche an einem Tag in der Woche in Emden stattfinden. Homiletik und Katechetik habe ich natürlich nicht zu geben, sondern nur A.T., N.T. und Dogmatik. So habe ich trotz der kleinen Gemeinde viel zu tun, zumal ich mit den Predigten immer viel Arbeit habe und ja auch noch meinen Lic. [sc. Lizentiaten-Titel] fertigmachen will.«149 Die Kurse zur Fortbildung wurden seitens der Landeskirche eingerichtet, weil den Kandidaten der Besuch des reformierten Predigerseminars Elberfeld untersagt worden war. Dort lag man ganz auf einem bekenntniskirchlichen Kurs. Im Unterricht ließ Otten quasi selbstverständlich auch den ersten Band des monumentalen Hauptwerkes Karl Barths, die 1932 erschienene Kirchliche Dogmatik I/1 durcharbeiten. Bis zum Oktober 1937 hält Heinz Otten diese Fortbildungen noch, bis sie wegen Mangels an Kandidaten eingestellt werden müssen.150 In den Monaten des Herbstes 1934 kommt es dann zu Auseinandersetzungen zwischen Kirchenleitung und der sich nun konstituierenden ›Bekenntnisgemeinschaft‹ (BG) in reformiert Hannover. Durch seine Tätigkeit als Ausbilder der ostfriesischen Kandidaten steht Otten im engen Kontakt zur Auricher Kirchenleitung: Ottens Gesprächspartner 147

Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. Der Manslagter Pastor berichtete selbst: Hermann Immer, Erweckungen in Ostfriesland, in: Reformiertes Jahrbuch 1925/26, Elberfeld o.J., S. 123–135. Vgl. Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte (Ostfriesland im Schutze des Deiches 6), Pewsum 1974, S. 556; F. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 7. 148 Brief Ottens an Barth, 5. Dezember 1934 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 149 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. 150 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940.

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ist neben dem Mitglied des Landeskirchenrates, Carl Octavius Voget151 aus Stapelmoor, Landessuperintendent Hollweg, der Ottens Sympathie zu gewinnen scheint, denn zunächst versucht Otten trotz Unbehagen Verständnis für dessen Taktik des Erhalts der Selbständigkeit der eigenen Landeskirche aufzubringen. Dem seit dem 1. Juni 1925 amtierenden Präsidenten Otto Koopmann152 und dem Landessuperintendenten Hollweg gelang es auf der 2. Nationalsynode am 9. August 1934 in Berlin, ›Bekenntnis‹ und ›Selbständigkeit‹ zu sichern, und zwar durch das so genannte ›Sicherungsgesetz‹, offiziell ›Kirchengesetz zur Sicherung des reformierten Bekenntnisstandes‹153: Die Kirchenleitung in Aurich beteiligte sich am Aufbau der DEK durch Mitarbeit in Gremien – Koopmann schon 1933, dann wieder ab 1935 und Hollweg ab 1936 –, aber unterstand in geistlichen Dingen nicht dem Reichsbischof. In der Tat verhinderte Aurich jede Gleichschaltung und Eingliederung der reformierten Landeskirche durch den ›Rechtswalter‹ August Jäger im Frühjahr und Sommer 1934, der die Schwierigkeiten, die er bei einer derartigen Aktion gegen reformiert Hannover haben würde, durchaus sah und deshalb auf der 2. Nationalsynode ausdrücklich zusagte, reformiert Hannover nicht gewaltsam eingliedern zu wollen.154 Da es keine staatlichen Eingriffe in die Kirchenleitung gab – auch bei der ›Neuordnung‹ der Finanzen 1935 wurde Koopmann Bevollmächtigter des Staates155 – war reformiert Hannover tatsächlich ›intakt‹. Es hatte noch nicht einmal den Versuch eines gewaltsamen Einbruchs von Seiten des Staates wie etwa bei den süddeutschen Landeskirchen gegeben. Wie das möglich war, lässt sich wohl nicht allein mit der geringen Größe der reformierten Landeskirche von Hannover, sondern auch mit dem Neutralitätskurs und der positiven Einstellung von Teilen der Kirchenleitung zum NS151

Zu Voget vgl. in diesem Band den Aufsatz Ein reformierter Charismatiker. Der Weg Carl Octavius Vogets zwischen reformierter Tradition und pfingstlerischem Aufbruch. 152 Otto Koopmann (1878–1951), Landesgerichtsrat, Präsident des LKR 1. Juni 1925– 31. Mai 1937, Kanzleileiter der Einstweiligen Leitung der DEK 20. Juli–27. September 1933, Mitglied im Reichskirchenausschuss 1935–1937, Teilnehmer der ›Nationalsynoden‹ in Wittenberg 1933 und Berlin 1934. Koopmann war wohl der eigentliche innerkirchliche Gegner der BG, vgl. auch F. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 33f.116– 136; vgl. Antje Donker, Art. Koopmann, Otto Heinrich (1878–1951), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 213f.; Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 244f. 153 Gesetzblatt der DEK, 1934, Nr. 44, Berlin 10. August 1934, S. 122; auch in: (Thomas Breit [Hg.],) Die Deutsche Evangelische Nationalsynode am 9. August 1934, Bericht als Manuskript gedruckt, München 1934, S. 18 (Erklärung Jägers zum Gesetz, a.a.O., S. 19–21); Gauger, Chronik II, a.a.O., S. 280; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 100–109. 154 Scholder II, a.a.O., S. 162.279.286; Gauger, Chronik II, a.a.O., S. 276. 155 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 20.25.32.96; Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, bearb. von Carsten Nicolaisen, Band 2: 1934/35, München 1975, S. 280–283.

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Staat erklären.156 Dieser Kurs der Wahrung angeblich reformierter Belange, der eigenen Selbständigkeit und der ›Neutralität‹ mit den dahinter stehenden Fragen des Kirchenverständnisses und der rechten Kirchenleitung, führte zum Riss innerhalb der deutschen Reformierten.157 Heinz Otten sieht im ›Sicherungsgesetz‹ genau das, was Aurich dadurch zu verhindern gedachte: eine Eingliederung in die DEK. »Nun ist auch unsere Landeskirche eingegliedert«, der »Kampf beginnt auch dort.«158 Und dieser begann, als die Bekenntniskräfte und der ostfriesische Coetus das ›Sicherungsgesetz‹ abgelehnt hatten,159 der Landeskirchentag aber am 17. Oktober 1934 die Kirchenpolitik Koopmanns und Hollwegs billigte.160 Gegen diese Billigung richteten mehr als fünfzig Pastoren, Hilfsprediger und Kandidaten ein auch in der Reformierten Kirchenzeitung veröffentlichtes Votum,161 worauf der Landeskirchenvorstand mit der Erklärung »Zur Klarstellung« vom 15. November antwortete.162 Anlässlich der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 29./30. November 1934 in Detmold163 wird die »Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover« mit dem vorläufigen Arbeitsausschuss P. Heinrich Oltmann (Loga)164, 156

Die in der ersten Auflage dieses Beitrages an dieser Stelle gemachte Feststellung, die Auricher Kirchenleitung hätte sich praktisch nicht um staatlich verfolgte Amtsträger der eigenen Landeskirche gekümmert, kann nach den Forschungen von Wever, Stumme Hunde, a.a.O., passim, v.a. S. 173–274, so nicht mehr aufrecht erhalten werden. 157 Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 9. 158 Karte Ottens an S. u. H. Mörchen, 10. August 1934. 159 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden, I: Der Kampf um die »Reichskirche«, Göttingen 21984, S. 492; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 105f. 160 Wörtlich heißt es: »Wir sprechen ihnen [sc. Koopmann und Hollweg] dafür den Dank der Kirche aus«. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 52. Man wolle »unserem Volk und seinem Führer« (!) dienen; a.a.O., S. 53; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 104–113. 161 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 53–55; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 116–120. 162 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 55–62; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 121–123. 163 Zu Detmold vgl. Steiner, Weg, a.a.O., S. 259–262. Der Beschluss der Mitgliederversammlung [?] des Reformierten Bundes 28./29. November 1934 in Detmold ist abgedruckt in: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2017, S. 560–578. Unmittelbar vor der Hauptversammlung fand eine der vielen von Karl Immer organisierten Rüstzeiten für Prediger und Älteste statt (vgl. Immer, Die Briefe des Coetus 1933–1937, a.a.O., S. 41–45). Die Vorträge und die dort von Barth gehaltene Predigt sind veröffentlicht in: Karl Immer (Hg.), Die Lebensordnungen einer nach Gottes Wort erneuerten Kirche, Wuppertal 1935. Vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 123–126; vgl. auch den Bericht im Brief Barths an Ch. von Kirschbaum, Detmold, 29. November 1934, in: Barth / von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, a.a.O., S. 406–409. 164 Vgl. Jan Luiken Oltmann, Heinrich Oltmann. Pastor in Loga 1921–1937, Stationen eines Lebens, Weener 1987; v.a. aber: Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O. Mit seinem Buch

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Rechtsanwalt Hans Arends (Neuenhaus), Dr. Otto Buurman (Loga)165, P. Friedrich Middendorff (Schüttorf)166, P. Udo Smidt (WesermündeLehe)167 und P. Hermann Steen (Holthusen)168 gegründet. Eine am 29. November 1934 vom Reformierten Bund beschlossene Erklärung, mit der der Reformierte Bund neben Barmen auch die das »kirchliche Notrecht« aufstellende Bekenntnissynode von Berlin-Dahlem am 19./20. Oktober anerkannte und sich so der BK zuordnete und dazu aufgerufen wurde, »sich von jeder Zusammenarbeit mit dem falschen, deutschchristlichen Kirchenregiment zurückzuziehen«,169 machte sich die neu entstandene BG zu eigen und trat damit in Gegensatz zur Auricher Kir»Und das Meer ist nicht mehr«, Neumünster 1935, mit einem Geleitwort von Udo Smidt hatte dieser fromme Mann einen nicht abzuschätzenden Einfluss auf die Frömmigkeit in Ostfriesland, unter den Reformierten und bei erwecklichen Bekenntnischristen durchaus im ganzen Reich (vgl. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 300–306). 165 Vgl. Heinrich Buurman, Art. Buurman, Otto Taleus Eberhard (1890–1967), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 65–68; Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 248–250. Buurman vertrat die BG öfter auf bekenntniskirchlichen Zusammenkünften (z.B. mit Oltmann zusammen auf der Barmer Synode im Mai 1934, vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 10) und war Mitglied im LKT, bis er dann zum 1. April 1938 als Amtsarzt nach Liegnitz (straf-)versetzt wurde; vgl. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden (im Folgenden: SB) 47 (1938), S. 387. Nach Ernst Klee, ›Die SA Jesu Christi‹. Die Kirchen im Banne Hitlers, Frankfurt/Main 1989, S. 95f., legte Dr. Buurman in der Zeitschrift ›Die Diakonisse‹ den Pastoren nahe, Zwangssterilisationen den Betroffenen als Akt von Erbarmen zu erklären. Eine analoge Verkennung der tatsächlichen Intentionen solcher Maßnahmen sei das Urteil des »Evangelisch-reformierte[n] Landeskirchenamtes der Provinz Hannover« (gemeint ist wohl der LKV oder der LKR) über die Nürnberger Rassegesetze, dass darin das Bestreben der Regierung deutlich werde, wie »das Problem der Judenfrage auf eine gesetzliche und gerechte Weise zu regeln« sei (a.a.O., S. 124, zitiert nach Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden [Studien zu Kirche und Israel 10], Berlin 1987). In den fünfziger Jahren war Buurman als führender Medizinalbeamter bei der Bonner Regierung tätig. Nach seiner Emeritierung gelang ihm die Herausgabe eines der bedeutendsten Wörterbücher niederdeutscher Sprache. 166 Friedrich Middendorff, (1883–1973), ab 1936 im Reichsbruderrat und Rat der DEK, von 1946 bis 1953 Kirchenpräsident der ev.-ref. Kirche in NWD. Es ist interessant, dass Middendorff so entschieden gegen seine Kirchenleitung vorging, denn noch 1928 hielt er den ausgesprochen neutralistischen ›Jungreformierten‹ ein Referat (vgl. Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 38). Zu Middendorff vgl. Antje Donker, Art. Middendorff, Friedrich Justus Heinrich (1883–1973), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 255f.; Karl Koch, Art. Middendorff, Friedrich Justus Heinrich, in: BBKL XVII (2000), S. 976–981, v.a. aber die ausführliche Studie Helmut Lensing, Der reformierte Bekenntnispastor Friedrich Middendorff und der »Kirchenkampf« in Schüttorf, in: Osnabrücker Mitteilungen 114 (2009), S. 147–192. 167 Zu Smidt vgl. Antje Donker, Art. Smidt, Udo Gerdes (1900–1978), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 324f. 168 Zu Steen vgl. Antje Donker, Art. Steen, Hermann Hilko (1899–1980), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 344f. 169 Vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 123–126; Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 572.575. 41939, 81962,

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chenleitung. Nach zwei Monaten war die BG schon 1000 Mitglieder stark, später gehörten ihr zwei Drittel der Pastoren aus reformiert Hannover an.170 Heinz Otten blieb zunächst außen vor, aber er hatte dazu seine guten Gründe. »Kirchenpolitisch bin ich in einer scheußlichen Lage ... unser Landeskirchenrat in Aurich [hat] die Linie Barmen-Osnabrück171 unter Führung Barths verlassen ... und sich doch mit der Müller-Kirche wieder eingelassen. Dagegen ist eine sehr starke Opposition in der Kirche, die ja in Nr. 44 der RKZ sich gegen eine Entschließung unseres Landeskirchentags gewandt hat ... mein Name [stand] nicht unter den Unterzeichnern. Das hat folgenden Grund: die Führer der Opposition sind Pietisten, die sich nicht gescheut haben, auch ehemalige D.C. – die es theologisch m.W. auch immer noch sind – führend in ihre Reihen aufzunehmen. Und ich scheute etwas davor zurück, in der Opposition in einem Atem mit Leuten genannt zu werden, die im vorigen Jahr von den ›Wasserköpfen in Aurich‹ sprachen, weil diese keine D.C. waren. Außerdem – und das ist der Hauptgrund – halte ich die Entschließung einer Synode172 für eine respektable Angelegenheit, die ich als Einzelner nicht korrigieren darf, auch wenn sie mir nicht gefällt, sondern die wiederum durch eine besser unterrichtete Synode aufzuheben bzw. zu korrigieren wäre. In diesem Sinn habe ich den Entschließern geantwortet173 und diese Antwort auch dem Landessuperintendenten in Abschrift zugestellt, wobei ich mich mit der Opposition sachlich solidarisch erklärt habe. Ja, und nun kommt der Witz: seitdem sieht mich die Opposition als einen verkappten D.C.er an, wenigstens werde ich von ihren Entschließungen nicht mehr in Kenntnis gesetzt, und man fragt bei den Gemeindegliedern an, wenn man aus meiner Gemeinde etwas wissen will. Ist das nicht ein Witz?! Meine Haltung in dieser Entschließungsfrage hat die ausdrückliche Billigung Ernst Wolfs gefunden, und auch Karl Barth hat – als er in Detmold gefragt wurde, warum ich denn nicht unterschrieben [habe] – gesagt, daß er das schon verstehen könne.«174 170 171

Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 17. Zum Osnabrücker Konvent s.o. Anm. 131. Bereits im ersten Satz der gemeinsamen Erklärung wird auf die Barmer Erklärung der Ersten freien reformierten Synode vom Januar 1934 rekurriert. 172 Otten bezieht sich auf die Billigung der Hollweg-Koopmannschen Kirchenpolitik durch den Landeskirchentag am 17. Oktober 1934 (s.o. Anm. 160). 173 Otten hat in einem Brief an Hermann Steen vom 27. Oktober 1934 vom »Respekt vor der einmütig gefaßten Entschließung eines Landeskirchentages« gesprochen; vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 119. 174 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. Das Problem mit umstrittenen Personen in der BK/BG war offenbar bekannt, denn nach einer Mitschrift von

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Barth hatte die Reformierten in Detmold ausdrücklich davor gewarnt, die Auricher Kirchenleitung mit einem deutsch-christlichen Kirchenregiment gleichzusetzen.175 Exkurs: Das Uelsener Protokoll176 Aus persönlicher Zuneigung – es geht kein Brief ohne Grüße an das ganze Haus Barth ab, der Professor denkt an die Verlobung seiner beiden Schüler und schickt Photos von sich selbst177 – und eines weitgehenden kirchenpolitischen Konsenses zwischen Otten und Barth und der Erfahrung aus dem Verkehr mit Hollweg entschließt sich Otten, Barth und die Auricher Kirchenleitung miteinander ins Gespräch zu bringen: »Ich versuche zur Zeit, Barth und Hollweg miteinander zu versöhnen.«178 Otten ist durchaus nicht der Meinung, dass Barthsche Positionen von der innerkirchlichen Opposition in reformiert Hannover vertreten werden, außerdem sei die Kirchenleitung trotz aller Kritik, »nicht auf der Linie geblieben« zu sein, doch legitim und habe »noch von keinem etwas Bekenntniswidriges verlangt«. Die »Form, die die Opposition gegen die jetzige Haltung des Landeskirchenrates anwendet, gefällt [mir] nicht. Es wird m.E. zu oft vergessen, daß wir auch jetzt noch eine andere Kirchenregierung haben als die Altpreußische Union. Könnte man doch irgendetwas tun, Hollweg wieder dorthin zu bringen, wo er hingehört! Könnten Sie nicht, lieber Herr Professor, einen Brief an H[ollweg] schreiben – vielleicht müßte er sehr sanft sein –, der DerBarths Ausführungen in Detmold heißt es: »Die Entscheidung [zur Zugehörigkeit zur BK] darf nicht gefällt werden im Blick auf diese oder jene Person.« Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 573, Anm. r-r. Barth scheint also andere Konsequenzen zu ziehen, als Otten es hier behauptet. – Otten trat dann wenige Wochen später doch der BG bei. Im Nachlass Hermann Steens findet sich Ottens Beitrittserklärung zur BG vom 31. Dezember 1934. 175 Vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 125. Barth gab der sich zur Opposition konstituierenden BG in Detmold zu bedenken, »daß sie keinen D.C. Gegner [bei ihrem notwendigen Protest gegen Aurich] vor sich hätten.« Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 176 Zu Uelsen vgl. Steiner, Weg, a.a.O., S. 262–265; Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf, a.a.O., S. 219–221; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 135–141; vgl. Barths eigenen Bericht im Brief an Thurneysen, 24.[–26.] Dezember 1934, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel III, a.a.O, S. 792–813, hier: S. 803f. – Die Einleitung in Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 626–635, geht konform mit meinen Ausführungen; der Text ist abgedruckt a.a.O., S. 636f. 177 So erwähnt im Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935, a.a.O. 178 Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. – Eine »herausragende Rolle von Heinz Otten«, wie Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 217 in Anm. 911, bei mir gelesen haben will, habe ich nie behauptet. Ich zeichne lediglich nach, wie Otten diese Wochen am Ende des Jahres 1934 erlebt hat. Dass er dabei im Kontakt sowohl zu seinem Lehrer Barth wie auch zum Landessuperintendenten Hollweg stand und schon länger den Gastgeber Peter Schumacher in Uelsen schätzte, lässt sich ja schlechterdings nicht übersehen. Vgl. auch Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 627.

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artiges erreicht?«179 Und ebenso bedrängt Heinz Otten die Auricher Kirchenleitung, den Kontakt zu Barth zu suchen.180 Obwohl der reformierte Kirchenlehrer schon seit dem Frühjahr 1933 kaum mehr Ruhe findet, ist er doch intensiv in die kirchenpolitischen Ereignisse involviert, und weil er im Herbst aktuell wegen der Eidesfrage vor der Dienststrafkammer Köln steht, fährt Karl Barth wenige Wochen nach der Detmolder Hauptversammlung kurz vor Weihnachten 1934 nach Norddeutschland, um die reformierte Kirchenleitung auf einen »bekennenden« Kurs festzulegen. Wie in der Eidesfrage, die Barth nicht allein aus persönlichen Gründen durch streitet,181 zeigt sich auch in diesem Engagement Barths, wie mitverantwortlich er sich für den richtigen Weg der realen Institution Kirche fühlte und dann auch Persönliches hintan zu stellen bereit war. Denn er weilt während der entscheidenden Tage des Prozesses, der zunächst zu seiner Dienstentlassung führt, bei Pastor Peter Schumacher in Uelsen / Grafschaft Bentheim.182 Anfang der zwanziger Jahre hatte Barth erstaunlich viel Übereinstimmung mit Pastoren aus reformiert Hannover und besonders mit den Kohlbrüggianern183 festgestellt, zu deren Wortführern auch der »steile Reformierte« – so hatte ihn Barth einmal bezeichnet184 – Schumacher zählte. Peter Schumacher (1878–1950)185 gab über Jahre die »Biblischen Zeugnisse. Monatsblatt der Freunde des Heidelberger Katechismus« mit heraus. Neben Schumacher und Barth waren die beiden Hauptgesprächspartner Ottens, Hollweg und Voget, im Hause Schumachers anwesend; Hollweg und 179

Brief Ottens an Barth, 5. Dezember 1934 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9334.1249); teilweise auch zitiert in Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 627. 180 Ebd. 181 Wenn »Barth den Eid nicht schwören kann, kann ihn doch kein evang[elischer] Christ schwören.« Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. Barth wollte den Beamteneid auf den ›Führer‹ nur mit dem Zusatz »soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann« leisten; sonst entstände ein »unendlicher Inhalt«. Nach Steiner, Weg, a.a.O., S. 300; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 42 und Angelika GerlachPraetorius, Die Kirche vor der Eidesfrage. Die Diskussion um den Pfarrereid im ›Dritten Reich‹ (AGK 18), Göttingen 1967, S. 154, ist in reformiert Hannover kein Eid geleistet worden. 182 Hans Prolingheuer, Der Fall Karl Barth 1934–1935. Chronographie einer Vertreibung, Neukirchen-Vluyn 21984, S. 100. Vgl. auch K. Meier, Fakultäten, a.a.O., S. 82– 86; Heinrich Assel, »Barth ist entlassen …« Neue Fragen im Fall Barth, in: ders. (Hg.), Zeitworte. Der Auftrag der Kirche im Gespräch mit der Schrift (FS Friedrich Mildenberger), Nürnberg 1994, S. 77–99. 183 Karl Koch, Kohlbrüggianer in der Grafschaft Bentheim. Eine Studie zur reformierten Kirchengeschichte der Grafschaft Bentheim zwischen 1880 und 1959. Gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, in: Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, hg. von der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim e.V., Band 12, Sögel 1996, S. 355–432. 184 Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930 (Karl Barth Gesamtausgabe V), Zürich 1974, S. 106 (Rundbrief, 7. Oktober 1922). 185 Karl Koch, Art. Schumacher, Peter, in: BBKL XV (1999), S. 1271–1273.

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Schumacher hatten einander 1922 bei den Diskussionen um eine Kirchenverfassung186 mit ihrer gemeinsamen Vorliebe für die Theologie Hermann-Friedrich Kohlbrügges schätzen gelernt, und noch 1949 sollten sie gemeinsam eine ›geistliche Kirchenordnung‹ entwerfen, die jedoch nicht mehr zur Abstimmung kam.187 Aber Otten war nicht der einzige der norddeutschen Reformierten, der Kontakt zu Barth hielt und dem die Streitigkeiten innerhalb reformiert Hannovers bewusst waren. Einige Pastoren aus der Niedergrafschaft Bentheim um Peter Schumacher wurden nämlich auf die gleiche Art wie Otten initiativ. Außerdem wohnte der Barth-Schüler Walter Herrenbrück (1910–1978) zu dieser Zeit als Vikar im Hause Schumachers, der ebenfalls im brieflichen Kontakt zu seinem Lehrer stand.188 Schumacher berichtete noch in den letzten Tagen des Jahres 1934 in den »Biblischen Zeugnissen« von der Entstehung des Uelsener Protokolls: »Nachdem dem Landeskirchenvorstande in Aurich unter dem 5. Dezember 1934 erneut zugleich im Namen von vier anderen Predigern der Niedergrafschaft Bentheim von mir die Bitte ausgesprochen war, man möge eine Zusammenkunft des Herrn Landessuperintendenten D. Dr. Hollweg mit Herrn Professor D. Karl Barth zum Zwecke einer Aussprache über die kirchenpolitische Lage mit dem Ziel der Beseitigung bestehender Spannungen in die Wege leiten,189 hatte der Landeskirchenvorstand die beiden Theologen des Landeskirchenrates, den Herrn Landessuperintendenten und Herrn Pastor Carl-Octavius Voget, beauftragt, an einer solchen Besprechung teilzunehmen, und der Erstgenannte mich gebeten, eine Zusammenkunft bei mir in die Wege zu leiten.190 Zu unserer großen Freude erklärte sich Herr Professor Barth sofort bereit, zu einer solchen Besprechung hierher zu kommen; die dann am Freitag191 und Sonnabend, dem 21. und 22. Dezember 1934, im Pfarrhause zu Uelsen stattfand. 186

Einerseits protestierten sie gegen jedwede Einschränkung der Rechte der gemeindlichen Kirchenräte, andererseits gegen das – vor allem: passive – Wahlrecht für Frauen. Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 7. 187 Vgl. Berthold Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung 1882 zum Loccumer Vertrag 1955, in: Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, bearb. von Elwin Lomberg u.a., Weener 1982, S. 325–356, hier: S. 344–347. 188 Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 626f. Barth stand auch mit dem Emlichheimer Pastor Rudolf Tuente im Kontakt, vgl. a.a.O., S. 629. 189 Eine Kopie dieser Eingabe vom 5. Dezember 1934 findet sich in Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9334.1275. 190 Brief Schumachers an Barth, Uelsen, 12. Dezember 1934, in: Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9334.1274; vgl. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 627f. Barth sagte postwendend am 14. Dezember zu. 191 Man arbeitete »in einer Sitzung von nachmittags 3 Uhr bis nachts 1½ Uhr«, so Barth in Barth/Thurneysen, Briefwechsel III, a.a.O., S. 803.

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Das Ergebnis der Besprechungen, an die wir mit herzlicher Dankbarkeit zurückdenken, ist in einem von Herrn Professor Barth aufgestellten Protokoll niedergelegt, das außer von den Teilnehmern des Gespräches am zweiten Tage auch von Herrn Pastor Middendorff aus Schüttorf unterzeichnet wurde. Das Protokoll hat folgenden Wortlaut: PROTOKOLL ÜBER EINE AUSSPRACHE IM PFARRHAUSE ZU UELSEN AM 21. DEZEMBER 1934. 1. Wir sind einig darin, daß das Leben der nach Gottes Wort reformierten Kirche allein im Gehorsam gegen den einen Herrn Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt ist, Grund und Bestand hat. 2. Wir sind einig darin, daß es der evangelisch-reformierten Landeskirche von Hannover ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig ist, mit den anderen bekenntnisbestimmten und bekennenden evangelischen Kirchen Deutschlands gemeinsam zu glauben, zu lieben und zu hoffen. 3. Wir sind einig darin, daß sich der wirkliche Bekenntnisstand unserer reformierten Kirche nach Lehre und Ordnung in einer dem Bekenntnis der Väter entsprechenden praktischen, insbesondere auch kirchenpolitischen Bekenntnishaltung beweisen und bewähren muß. 4. Wir sind einig darin, daß unsere reformierte Kirche mit den anderen evangelischen Kirchen Deutschlands in der heutigen Lage aufgerufen ist, sich in Erkenntnis und Leben in neuer Demut und mit neuem Mut192 unter das erste Gebot und die erste Frage des Heidelberger Katechismus zu stellen. 5. Wir sind einig darin, daß die den Pastoren unserer reformierten Kirche aufgetragene Arbeit für das Bekenntnis entscheidend in der Richtung eines neuen Ernstnehmens ihrer Aufgabe als Prediger, Lehrer und Seelsorger und der Notwendigkeit gründlichen theologischen193 Studiums zu suchen ist. Uelsen, den 22. Dezember 1934 192

Die Worte »in neuer Demut und mit neuem Mut« fehlen bei Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 17; Kurt D. Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage: Das Jahr 1935, Göttingen, S. 33, bietet den oben zitierten Text. 193 Das Wort »theologischen« fehlt bei Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 17. Schmidt, Bekenntnisse 1935, a.a.O., S. 33, bietet den obigen Text, wie auch Steiner, Weg, a.a.O., je die längere Lesart bietet. Da auch das Exemplar des Uelsener Protokolls im Basler Karl-Barth-Archiv die längere Lesart bietet, hält Vf. diese für ursprünglich. Dieser Sicht hat sich Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 138, Anm. 553 auf Grund eines Originals im landeskirchlichen Archiv in Leer angeschlossen. Leider sind Middendorffs Textfehler aber anderweitig übernommen worden.

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gez. Prof. D. Karl Barth gez. Landessuperintendent D.Dr. Hollweg gez. C.O. Voget gez. Peter Schumacher gez. Fr. Middendorff. In diesem Protokoll sind die Richtlinien für die Haltung, die nach der übereinstimmenden Überzeugung der Unterzeichner die Reformierte Landeskirche von nun an einzunehmen hat, und die Art des kirchenpolitischen Handelns, wie sie von ihr zu erwarten ist, festgelegt. Wir dürfen bestimmt erwarten, daß der Landeskirchenvorstand sich diese Richtlinien zu eigen machen wird und daß damit eine klare Stellung unserer Landeskirche in den Auseinandersetzungen der Gegenwart bezogen wird.«194 Manche meinten in dieser Übereinkunft schon die Positionierung der Landeskirche bei der BK sehen zu können. Barth hoffte einerseits, »ein Instrument des Friedens und der Wahrheit« zwischen Kirchenleitung und BG geschaffen zu haben, andererseits blieb er skeptisch: »Wenn nicht irgendwelche jetzt noch unübersehbaren Verwicklungen und Dummheiten diese harten ostfriesischen und grafschaftlichen Köpfe aufs Neue durcheinander bringen.«195 Heinz Otten fragte angesichts »des erfreulichen Ergebnis[es] der Uelsener Besprechung« am letzten Tag des Jahres 1934 optimistisch an, »ob unter diesen veränderten Umständen die Bekenntnisgemeinschaft innerhalb unserer Landeskirche, der ich beigetreten bin, nicht überflüssig geworden ist.«196 Das war zu optimistisch gedacht, denn auch fernerhin blieb die Stellung von reformiert Hannover ebenso unentschieden, wie auch Peter Schumacher zwischen BG und Kirchenleitung schwankte. Das wurde deutlich, als ein Vorkommnis zwang, das Uelsener Protokoll maßgeblich auszulegen und anzuwenden. Zunächst aber Einiges zum Text der Übereinkunft: Das Uelsener Protokoll gab jedem das Seine! Der Wortlaut von Satz 1 erinnert nicht allein an die erste Frage des Heidelberger Katechismus, an Barmen-Januar II/1 und Barmen-Mai I, sondern sagte nichts anderes als Artikel 1 der neuen DEK-Verfassung vom 11. Juli 1933: »Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist.« Die BG glaubte wohl, dass die Auricher Kirchenleitung durch die Sätze 2 und 3 194 195 196

»Biblische Zeugnisse« 32 (1934), November/Dezember, S. 299f. Barth/Thurneysen, Briefwechsel III, a.a.O., S. 803f. Brief Ottens an Werner Koch (Nachlass Werner Koch), zit. nach van Norden, Ein rheinischer Pfarrer, a.a.O., S. 49, Anm. 2. – Diese Frage stellte Otten wohl wörtlich auch der BG, vgl. Brief Oltmanns an Barth, Loga, 9. Januar 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel, 9335.38), vgl. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 631f.

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festgelegt worden sei, sich nun gemäß der Dahlemer Synode der oppositionellen Kirchenleitung zu unterstellen bzw. ihr beizutreten. Aber es bestand tatsächlich kein Konsens über die Bedeutung von ›Bekenntnis‹ und ›bekenntnisbestimmt‹. Aurich verstand darunter offensichtlich vorrangig die als Wahrung ›reformierter Belange‹ bezeichnete Sicherung der institutionellen Selbstständigkeit reformiert Hannovers, wogegen sich ja schon die BG-Erklärung vom 25. Oktober 1934 gegen die Billigungsentschließung des Landeskirchentages ausgesprochen hatte;197 dagegen implizierte für die BG ›Bekenntnis‹ und ›bekenntnisbestimmt‹ die Auflösung jeder Verbindung »mit dem deutschchristlichen Kirchensystem, der Nicht-Kirche.«198 Satz 4 war zwar eine gewohnt gut formulierte Barth-Aussage – er sah den Kirchenkampf vor allem auch als einen Kampf um die Geltung des Ersten Gebotes199 –, eröffnete der Auricher Kirchenleitung aber alle Möglichkeiten, sich nicht der BK anzuschließen, denn natürlich beanspruchten alle Richtungen, redlich unter dem Ersten Gebot und dem Inhalt der ersten Frage des Heidelberger Katechismus zu arbeiten zu versuchen. Schließlich wiederholt Satz 5 mehr oder minder die Barthsche Mahnung aus der »Theologischen Existenz heute!« vom Juni 1933, keine Allotria zu treiben, sondern bei der der Kirche eigenen Sache und Fragestellung zu bleiben. Der entscheidende Fehler des Uelsener Protokolls war, dass Karl Barth »in dieser wichtigen Verhandlung mit den Vertretern von reformiert Hannover versäumt [hatte], die Negationen von Barmen gegenüber der Irrlehre zur Geltung kommen zu lassen und sich mit positiven Bekenntnis-Sätzen begnügte, die so ihre Entscheidungskraft verloren und reformiert Hannover gestatteten, während des ganzen Kirchenkampfes hinter einer schönen Bekenntnis-Deckung neutral zu bleiben.«200 Auch in einer von der BG erbetenen genaueren Erläuterung der Sätze der Zusammenkunft in Uelsen hat Barth Anfang 1935 noch nicht explizit die Verwerfungen benannt.201 Der »Zick-Zack-Kurs«202 der Kirchenleitung von reformiert Hannover ist im Nachhinein deutlich. Hatte man im Sommer 1933 noch den 197

Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 54; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 116–120. 198 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 65. – Auf das divergierende Bekenntnis-Verständnis fokussiert Wever ihre Untersuchung. 199 Vgl. Karl Barth, Das Erste Gebot als theologisches Axiom, in: ZZ 11 (1933), S. 297–314, auch in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, a.a.O., S. 209–241. 200 Hermann Albert Hesse, Elberfeld, in: Günther Harder / Wilhelm Niemöller (Hg.), Die Stunde der Versuchung. Gemeinden im Kirchenkampf 1933–1945, Selbstzeugnisse, München 1963, S. 302–318, hier: S. 309. Vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 140f. 201 Abgedruckt bei Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 138f. Vgl. die Reaktionen aus der BG in Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 631f. 202 Diese Charakterisierung stammt wohl aus BG-Kreisen und wurde von Friedrich Middendorff in einer Rede auf dem Landeskirchentag am 15. Oktober 1946 benutzt,

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Erhalt der kirchlichen Jugendorganisationen angeordnet,203 beauftragte man Anfang 1934 P. Lic. Ernst Kochs aus Emden, die Eingliederung in die Hitler-Jugend bis zum 19. Februar durchzuführen. Auf dem außerordentlichen Landeskirchentag am 28./29. August 1933 wurden der ›reformierte Gaufachberater der Glaubensbewegung DC‹, der Emder Pastor Wilhelm Herbrecht204, in den Landeskirchenausschuss und der frühe Nationalsozialist Jaques Bauerman Groeneveld (1892–1983) zum stellvertretenden Vorsitzenden des Landeskirchentages gewählt.205 Man scheute also nicht davor zurück, einen DC-Pastor und einen führenden ostfriesischen Nationalsozialisten, der auch DC-Mitglied war, in Leitungsgremien aufzunehmen, aber dennoch arbeitete man kurz im ›Osnabrücker Konvent‹ mit einigen reformierten Synoden und dem Reformierten Bund zusammen, wobei letzterer ja schon am 5. Januar 1934 die Unvereinbarkeit des reformierten Bekenntnisses mit der DC-Ideologie festgeschrieben hatte. Auf der einen Seite schickte man keinen Vertreter zu einer vom Reichsbischof einberufenen ›Landeskirchenführerkonferenz‹ am 14. Juni 1934, da die Grundlagen der Verfassung der DEK verlassen worden seien,206 auf der anderen Seite nahm man dann wiederum das ›Sicherungsgesetz‹ von der 2. Nationalsynode am 9. August 1934 an. Dagegen weigerte man sich dann aber wieder im November 1934, einen reformierten Vertreter für das Reichsbischof Müller beratende ›Geistliche Ministerium‹ zu benennen.207 Diesen Kurs konnte die Auricher Kirchenleitung auch mit dem Uelsener Protokoll, das gleich Anfang Januar 1935 vom Landeskirchenvorstand angenommen worden war, fortsetzen, da die Negationen – in vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 178–182, hier: S. 181 (»Zickzacklinie«); vgl. Brief Oltmanns an Barth, Loga, 12. Januar 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9335.50, Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 632, Anm. 30): »die Auricher [möchten doch] das Gehen ohne Zickzack lernen.« 203 Vgl. RKZ 83 (1933), S. 263; SB 42 (1933), S. 347. 204 Wilhelm Herbrecht (1896–1957) erklärte wohl im Zusammenhang mit dem »Sportpalastskandal« im November 1933 seinen Austritt bei den DC. Im Jahr 1935 wechselte er auf eine Pfarrstelle ins reformiert-konservative Rheydt, wo er eine nicht unumstrittene Epoche mitprägte. Leider ist es bis heute nicht möglich, Herbrechts Wege genauer nachzuzeichnen, weil die Quellen und Dokumente aus Privatbesitz nicht frei gegeben werden. Umso verdienstvoller ist Weßels’ Studie über reformierte DC: Paul Weßels, Die Deutschen Christen in Ostfriesland und ihr Kampf um Einfluss in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde 81 (2001), S. 167–204. – Vgl. zu W. Herbrecht und dem Rheydter Reformiertentum Ludwig Ditthard, Geschichte der Evangelischen Gemeinde Rheydt 1930–1960 (SVRKG 42), Düsseldorf 1971, zu Herbrecht v.a. S. 11f. (das Buch ist historiographisch kaum verantwortbar und nur sehr eingeschränkt heranzuziehen). 205 Vgl. RKZ 83 (1933), S. 287. Groeneveld schied 1936 wieder aus, vgl. SB 45 (1936), S. 503. Vgl. Akkermann, Art. Groeneveld, Jaques Bauerman, a.a.O. 206 Vgl. RKZ 84 (1934), S. 210; Gauger, Chronik II, a.a.O., S. 230. 207 Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 51.

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Bekenntnisschriften: damnationes – nicht festgelegt waren. Nur ein halbes Jahr nach der Zusammenkunft im Uelsener Pfarrhaus ist dies am ›Fall Brunzema‹ deutlich geworden.208 Gerhard Brunzema, »der einer pietistisch geprägten ostfriesischen Familie entstammte, hatte zunächst mit den Deutschen Christen sympathisiert, aber war nach der berüchtigten Sportpalastkundgebung (Berlin, 13. November 1933) vollkommen bekehrt worden und ein überzeugter Mitkämpfer der Bekennenden Kirche geworden.«209 Bei seiner Amtseinführung am 7. Juli 1935 in Emden fragte er vor der versammelten Gemeinde den ihn einführenden deutsch-christlichen Pastor Heinrich Zwitzers210 (Wybelsum), ob er DC sei. Dieser weigerte sich zu antworten. Zwar bejahte Brunzema die ihm gestellten Fragen zur Einführung, aber der Emder Kirchenrat focht diese Einführung wegen Übertretung bzw. Verletzung der Kirchenordnung an.211 Da der Rechtsausschuss der Landeskirche sich mit einem Tadel für Brunzema begnügte, rief der Emder Kirchenrat den Kirchlichen Gerichtshof der Landeskirche an, der ihn aufgrund eines Gutachtens Barths freisprach; dieses Gutachten hatten Brunzemas theologischer Beistand P. Anton Rosenboom und der juristische Verteidiger Hans Arends am 11. bzw. 12. März 1936 von Karl Barth erbeten. Rosenboom – und wohl auch andere der BG – hatte das Defizit des Uelsener Protokolls nun bemerkt, denn er schreibt an Barth: »Ich möchte gern, daß Sie nachträglich nun doch noch die fehlenden Negationen des Uelser212 Protokolls punktieren, damit ein dau208

Vgl. zum Folgenden Willem Nijenhuis, Haitjema versus Barth in de duitse kerkstrijd. De zaak Gerhard Brunzema (1935/1936), in: NAKG 66 (1986), S. 68–95 (Übersetzung der Zitate vom Vf.); Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 22; Daniel Theodor Hesse, Schätze, die nicht veralten. Eine Familienchronik, hg. und mit einem Anhang versehen von Friedrich Brunzema, Leer/Weener 1977, S. 391–397. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 180–198, wo auf den Aufsatz von Nijenhuis nicht eingegangen wird. 209 Nijenhuis, Haitjema versus Barth, a.a.O., S. 73. Im SB 42 (1933), S. 519, findet sich eine Austrittserklärung reformierter Pastoren aus der ›Glaubensbewegung DC‹ (vgl. auch RKZ 83 [1933], S. 394; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 10), die zeigt, welchen entscheidenden (!) Charakter die Theologie Barths hatte. Die Erklärung wurde verfasst von P. Friedrich Wiarda, Brandlecht, und P. Hermann Züchner, Ihrhove. Gerade der energische Einspruch des Letzteren ab 1936 gegen die ›Neutralitätsbestrebungen‹ Aurichs ist heute unbekannt; s.u. 210 In der Literatur findet sich dieser Name stets als »Zwitzers«, lediglich Wever schreibt »Zwiters«. 211 Welche Rolle der Vorsitzende des Emder Kirchenrates, der spätere Erlanger Professor Jan Remmers Weerda dabei spielte, ist nicht ganz aufzuklären. Vermutlich agierte er legalistisch und stand einem gewissen schwärmerischen Hang der BG ablehnend gegenüber. Weerda verließ jedenfalls mit einigen anderen Personen auffällig und verärgert den Einführungsgottesdienst; so Hesse, Schätze, a.a.O., S. 395. Zu Weerda vgl. auch HansGeorg Ulrichs, Art. Weerda, Jan Remmers, in: BBKL XV (1999), S. 1451–1457. 212 Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 135, Anm. 542, behauptet diese »Ableitung« des Ortsnamens Uelsen als die allein richtige. Allerdings findet sich zeitgenössisch ganz

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erndes Ausweichen unmöglich wird.«213 Rosenboom hatte keine Fragen an Barth gerichtet, sondern die Antworten vorgegeben; Barth gab sie in Frageform wieder und fügte ausführliche Begründungen hinzu. In diesem Gutachten vom 16. März 1936214 vertritt Barth die Unvereinbarkeit von reformierter Lehre und DC-Ideologie; darüber sei man sich in Uelsen einig gewesen, denn wie Satz 1 des Uelsener Protokolls identisch sei mit Barmen-Januar II/1, so enthalte dieser Satz des Uelsener Protokolls implizit auch dessen Verwerfungssatz – allein, dieser Satz fehlt im Uelsener Protokoll ! Barth setzte aber diese Implikation voraus und schlussfolgerte, dass Aurich am 22. Dezember 1934 alle DC aus Aufsichtsämtern hätte entfernen müssen. Da dies offensichtlich nicht geschehen ist, wie der ›Fall Brunzema‹ zeigte – Zwitzers gehörte nämlich, wie Brunzema richtig annahm, den DC an – habe die Kirchenleitung von reformiert Hannover das Uelsener Protokoll gebrochen. In diesem Falle gehe »die Befugnis der Entscheidung über die rechte Wahrnehmung der kirchlichen Ordnung« von der Kirchenleitung zurück auf die von DC-Aufsichtspersonen betroffenen Pastoren oder andere Glieder der Kirche.215 Barth schloss sich damit der Rechtsauffassung der BK an, deren Jurist Dr. Eberhard Fiedler erklärt hatte, dass alles Bekenntniswidrige in der Kirche eben auch rechtswidrig sei; kurz: über einem formalen Kirchenrecht steht das ›Bekenntnisrecht‹. Zwar war die Entscheidung im ›Fall Brunzema‹ endgültig, aber die Kirchenleitung in Aurich bemühte sich um Klärung dieser Grundsatzfrage des Verhältnisses zwischen ›positivem Kirchenrecht‹ (Formalrecht) und dem nach Meinung der BK über diesem stehenden ›Bekenntnisrecht‹, zumal man betonte, durchaus nicht das Uelsener Protokoll gebrochen zu haben; man sei sich in Uelsen – so die Kirchenleitung – darin einig gewesen, »daß diese Thesen weder die Eingliederung unserer Landeskirche in die Bekenntnisfront, noch den Abbruch jedes Verkehrs mit der Reichskirchenregierung bedeuten sollen.«216

überwiegend die Formulierung »Uelsener Protokoll«, dem auch die Forschungsliteratur folgt; die obige Schreibweise ist eine der ganz wenigen Ausnahmen. 213 Brief Rosenbooms an Barth, 11. März 1936; vgl. auch Brief von Rechtsanwalt und Notar Hans Arends (Neuenhaus) an Barth, 12. März 1936 (beide Briefe Karl-BarthArchiv, Basel). Dass man in Uelsen die Negationen vergaß, verwundert angesichts der Detmolder Beschlüsse vom 29./30. November 1934, vgl. Steiner, Weg, a.a.O., S. 259– 261. »Ein Ja ist nicht deutlich, wenn kein Nein folgt.« A.a.O., S. 260. 214 Das Gutachten findet sich auch im Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 11104–11106. Abgedruckt in: Immer, Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1933–1937, a.a.O., S. 134–137; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 79–82; Steiner, Weg, a.a.O., S. 263– 265; vgl. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 633–635. 215 Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 82; Steiner, Weg, a.a.O., S. 264. 216 So der Landeskirchenvorstand am 12. Juni 1935, in: Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 78.

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Am 7. April 1936 beschloss der Landeskirchenrat, den Groninger Systematiker Prof. Theodorus Lambertus Haitjema (1888–1972) um ein Gegengutachten zu bitten. Haitjema war einer der Ersten gewesen, die in den Niederlanden auf Barth aufmerksam wurden und auf ihn aufmerksam machten. Barth nennt ihn sogar einmal »mein[en] Freund Haitjema«.217 Aber er vertrat ein anderes Kirchenverständnis: Sah Barth Kirche als ein ›Ereignis‹ an, so insistierte Haitjema dagegen auf das ›Institut‹ von Kirche, auf ein Konstitutives im formalen Kirchenrecht, an dem festzuhalten sei, solange auch nur etwas von der Kirche Christi in der kirchlichen Institution festzustellen sei.218 Aurich hoffte also auf ein Gegengutachten zu Barths Auslegung des Uelsener Protokolls – und sollte nicht enttäuscht werden: Auf Bitten des Landeskirchenrates knüpfte P. Schumacher die Fäden zu Haitjema219, dessen Gutachten im November 1936 in Aurich ankam. Darin bestritt Haitjema wie erhofft die Barthsche Folgerung aus dem Uelsener Protokoll, dass DC aus kirchenleitenden Ämtern zu entfernen seien, denn das Uelsener Protokoll fordere nicht ein Übergehen des formalen Kirchenrechtes; und eine Entsetzung sei nur bei Verletzung der Amtspflichten möglich, aber da auch die Barmen-Januar-Erklärung kein kirchlich bindendes Urteil über die DCIdeologie darstelle – Barth hatte dagegen von einer »gewisse[n] kirchliche[n] Geltung«220 gesprochen –, sei mit der bloßen Mitgliedschaft zu den DC noch keine Amtsverletzung konstatierbar. Damit bescheinigte Haitjema der Auricher Kirchenleitung, zum einen das Uelsener Protokoll nicht gebrochen zu haben und zum anderen im ›Fall Brunzema‹, der jetzt ja zum ›Fall Zwitzers‹ geworden war, mit dessen Belassung im Amt 217

Brief K. Barths an H. van der Linde vom 22. August 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 339. 218 Haitjema grenzte sich damit gegen die Theologie Abraham Kuypers (1837–1920) ab, der in den Niederlanden »eine freie Kirche in einem freien Staat« befürwortete und eine reformierte Kirche gründete, die sich bald mit den älteren Abgeschiedenen vereinigte. Haitjema warnte vor jeder freikirchlichen Tendenz, die er parallel zu Kuyper bei der BK in Deutschland festzustellen glaubte, zumal in Haitjemas Augen der deutsche Kirchenkampf »eine Wiederholung [!] der niederländischen Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts [war]: wie der König Willem I. die Kirchen abhängig vom Staat machte, so machte Hitler die deutsche Kirche dem Staat hörig.« (Nijenhuis, Haitjema versus Barth, a.a.O., S. 95) Diese relativierende Sicht musste ein Befürworten eines institutionellkonservativen Kurses nach sich ziehen. Solange die ›Rechtskontinuität‹ nur irgendwie gewahrt werden konnte, war nach Haitjema die Kirche legitim. 219 Schumacher war ein guter Bekannter Haitjemas; er übersetzte sogar das Barth-Buch Haitjemas ins Deutsche: Theodorus L. Haitjema, Karl Barths ›kritische‹ Theologie. Deutsche Ausgabe, besorgt von Peter Schumacher, Wageningen (NL)/Leipzig 1926 (Rez. von Hans Michael Müller in ThBl 7 [1928], S. 158f.). Ausgerechnet also Schumacher, den man des Uelsener Protokolls wegen hätte auf Seiten der BG wähnen mögen, wird hier zum Helfershelfer einer theologischen Begründung des Auricher Kurses. Als »Kohlbrüggianer« standen sich Hollweg und Schumacher nahe. 220 So K. Barth im Vorwort zur ThExh 7 (1934), S. 4.

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des stellvertretenden Bezirksvorsitzenden recht getan zu haben. Trotzdem hatte der Landeskirchentag auf seiner Sitzung vom 24. bis zum 27. November 1936, auf der man das Uelsener Protokoll annahm, die Unvereinbarkeit der reformierten Lehre mit der DC-Ideologie erklärt.221 Gerade auch Hollweg distanzierte sich eindeutig von den DC und erklärte sie als Irrlehrer. Damit zog man also doch die Barthsche Konsequenz, nur de facto hat es anschließend keine Vorkommnisse mit den DC gegeben: In Ostfriesland gab es unter den Reformierten nur noch drei DC-Pastoren, im von Aurich weit entfernten X. Bezirk der Landeskirche einen einzigen; dazu gab es nur sehr wenige DC-Älteste in den Synoden von reformiert Hannover.222 Durch Gespräche seitens der Kirchenleitung suchte man nach »einer wahrhaft geistlichen Lösung«223 mit Pastoren und Laien, die DC waren; soweit im Moment zu überblicken ist, hat es später keine Auseinandersetzungen mehr mit den wenigen DC gegeben. Aber nach wie vor wollte sich die Auricher Kirchenleitung nicht zur BK stellen. Letztlich muss vom Uelsener Protokoll gesagt werden, dass es zwar wichtig, aber wirkungslos war.

***

Auch Otten sollte noch die Wirkungslosigkeit des Uelsener Protokolls bemerken. Doch vorerst zurück zum Manslagter Hilfsprediger: Zunächst beginnt er hoffnungsvoll das neue Jahr 1935. Er ahnt zwar schon, dass Barth Deutschland wohl werde verlassen müssen, aber er resigniert nicht: So fährt Otten vom 26. bis zum 28. März auf die Zweite Freie Reformierte Synode nach Siegen, zu der die Kirchenleitung der reformierten Landeskirche nicht eingeladen worden war.224 In Siegen verständigte man sich nach einem Weg weisenden Vortag von Wilhelm Niesel225 auf die Gründung freier theologischer Fakultäten. Daneben wurde eine Fortschreibung des in Dahlem proklamierten kirchlichen Notrechts versucht: »Wichtig ist ihr [sc. der Siegener Synode] Beschluß über den Zusammenschluß der bekennenden reformierten Gemeinden Deutschlands in Klassensynoden, Quartiersynoden und Gesamtsynode, wobei Synoden verfaßter Kirchen bisheriger Ordnung, soweit nicht eine bekenntniswidrige Zusammensetzung oder Leitung die Mitarbeit verbie221 222

Vgl. Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 204–212. Laut SB 46 (1937), S. 256, waren vier von 156 Theologen und zwölf von 732 Ältesten 1937 noch mit den DC verbunden. Vgl. auch Weßels, Die Deutschen Christen in Ostfriesland, a.a.O. 223 Walter Hollweg, Kirchenleitung im Kirchenkampf, in: Die Evangelisch-reformierte Kirche, a.a.O., S. 298–304, hier: S. 300. 224 Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 150. 225 Niesels Vortrag »Kirchliche Hochschule für reformatorische Theologie« ist auch abgedruckt in: Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 171–182.

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tet, nicht beeinträchtigt werden sollten.«226 An dieser mit einer Predigt Barths eröffneten Synode – »Die Predigt am Dienstag abend wird barba halten«227 – nimmt Heinz Otten neben anderen Pastoren und Ältesten seiner Landeskirche teil und nutzt das Treffen mit seinem Lehrer, die Lage in reformiert Hannover zu diskutieren. Diese stellt sich indifferent dar: Drei Pastoren waren wegen ihrer Weigerung, auf die Verlesung einer Erklärung des Landeskirchenvorstandes gegen das ›Neuheidentum‹228 zu verzichten, inhaftiert worden. Dadurch sei nach Meinung der BG reformiert Hannover nun wirklich nicht mehr als ›intakte‹ Landeskirche zu bezeichnen.229 Dennoch änderte die reformierte Kirchenleitung ihren Kurs nicht, sondern betonte einmal mehr am 21. März 1935, dass man sich weder dem Regiment des Reichsbischofs noch dem der Vorläufigen Kirchenleitung als Leitung der BK zu unterstellen gedenke.230 Trotz der Siegener Synode übernahm die BG keine kirchenleitenden Funktionen,231 wohl aber gab es in einzelnen Gemeinden den Versuch, sich den Vorgaben aus Siegen entsprechend synodal zu formieren.232 Innerhalb der BG in reformiert Hannover war man sich also nicht einig, ob man von einer bekenntniswidrigen Zusammensetzung der Synode oder einer bekenntniswidrigen Kirchenleitung auszugehen hatte. Wenige Tage nach dieser Synode fährt Otten zu einer obligatorischen Berichterstattung über die Vikarsfortbildung in Emden zum Lan226

Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 19; Karl Immer (Hg.), Zweite freie reformierte Synode in Siegen vom 26. bis 28. März 1935, Wuppertal-Barmen 1935; W. Kötz, Die Siegener Synode 1935, in: RKZ 96 (1955), S. 114–117; Protokollauszüge der Siegener Synode betreffend BK-Hochschulen in: Aschermann/Schneider, Studium, a.a.O., S. 284– 301; Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 222–244; Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 316–319; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 149–152; Volker Heinrich, Der Kirchenkreis Siegen in der NS-Zeit (BWFKG 13), Marburg 1996, S. 141ff.; Ulrich Weiß, Erinnerung an die Zweite Freie Reformierte Synode in Siegen am 26.–28. März 1935, in: www.reformiert-info.de (Zugriff 26. März 2010). Vgl. auch die beiden Vorträge von Georg Plasger und Veronika Albrecht-Birkner im November 2010 zum 75jährigen Gedenken an die Synode (ungedruckt). 227 Immer, Coetus-Briefe, a.a.O., S. 52. 228 Gemeint ist die ›Deutschgläubigkeit‹ Wilhelm Hauers, Mathilde Ludendorffs und Alfred Rosenbergs. In der Erklärung betont der LKV die »Übereinstimmung mit den Kundgebungen der ›Vorläufigen Leitung der DEK‹ vom 21. Februar 1935 und der ›Bekenntnissynode der evangelischen Kirche der Altpreußischen Union‹ vom 5. März 1935.« Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 70–73; Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 312–315; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 145–148. 229 Als ›intakte‹ Landeskirchen bezeichnet man allerdings die evangelischen Landeskirchen, die weder eine DC-Kirchenleitung hatten noch 1934 gewaltsam gleichgeschaltet werden konnten. Beides trifft auf reformiert Hannover zu. Formal stimmt also das Urteil der BG nicht. 230 Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 19.73f. 231 Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 19. 232 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 239; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 155.158f.

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dessuperintendenten Walter Hollweg nach Aurich. Dieser erkundigt sich dabei auch nach der Siegener Synode und »ließ sich von mir Bericht erstatten, den er ohne ein Urteil interessiert und freundlich entgegennahm.«233 Gleichwohl unternahm Otten im April 1935 den Versuch, den Manslagter Kirchenrat zu einer Zuordnung zu den freien Synoden zu bewegen; das konnte von Seiten der Kirchenleitung als eine de facto Loslösung von Aurich verstanden werden.234 Ist Otten im April noch voller Hoffnung, argwöhnt er schon im Mai, dass »Siegen für uns bislang ohne Folgen gewesen ist« und »daß Aurich immer weiter bei seiner sturen Haltung bleibt trotz des ›gemeinsamen Glaubens, Liebens und Hoffens‹ im Uelsener Protokoll.«235 Auch in der Landeskirche wird der Ton zwischen der Kirchenleitung und der BG rauer. Hollweg verlässt nach der Siegener Synode das Moderamen des Reformierten Bundes und kündigt seine Mitgliedschaft.236 Heinz Otten kann die Vorgehensweise Hollwegs immer weniger gutheißen. Hatte er noch zunächst den ›Kohlbrüggianer‹ Hollweg »menschlich und theologisch« doch eher zur BK gerechnet,237 sendet er nun schon sichtlich resigniert die Erklärung des Landeskirchenvorstandes vom 12. Juni 1935238 mit der Bitte um Rat an Barth. In dieser Erklärung wird ein Zusammengehen sowohl mit der BK als auch mit dem Reichsbischof abgelehnt und somit die Erklärung des Landeskirchenrates vom 21. März bestätigt; explizit wird der Weg, den die Siegener Synode weist, abgelehnt.239 Trotz seiner Differenzen zu Hollweg lehnt Heinz Otten indes den harten Ton der BG ab und sieht Aurich ausgegrenzt, da die Kirchenleitung von reformiert Hannover einfach nicht mehr zu den Bekenntnissynoden eingeladen wird. Und immer wieder informiert er seinen theologischen Lehrer aus Bonner Studienzeiten über die Situation in reformiert Hannover, wie er sie sieht.

233 234

Brief Ottens an Barth, 5. April 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Im Juli erklärt auch die BG, dass es ein »Wächteramt« gegenüber der kirchlichen Behörde gäbe; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 24f.83–86. Genau das vertrat auch Barth in dem Gutachten im Fall Brunzema (s.o.). 235 Brief Ottens an Barth, 8. Mai 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 236 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 240. 237 Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 21f., weist auf die Spaltung der Kohlbrügge-Schule hin: einerseits der ›neutralistische‹ Flügel mit Hollweg, Schumacher und Fritz Horn (Duisburg) samt dessen ›Ordnungsblock‹, andererseits der stärker von Barth beeinflusste Flügel mit Alfred de Quervain und Hermann Klugkist Hesse (beide Elberfeld). 238 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 76–79. 239 »Auf keinen Fall aber können wir den Weg, den die Siegener Synode beschreitet, billigen ... Schon in der Unterscheidung von ›bekennenden‹ und ›nicht bekennenden‹ reformierten Gemeinden, die die Siegener Beschlüsse auch in unsere Kirche hineintragen, sehen wir eine nicht zu unterschätzende, große innere Gefahr.« Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 78f.

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»Warum behandelt man Aurich nicht als gleichberechtigten Partner? Wenn man eine Synode veranstalten kann mit Marahrens, Meiser usw., dann kann man das wahrhaftig auch mit Aurich!«240 Und mit Sorge sieht er in die Zukunft, erwartet eine weitere Zuspitzung: »Und nun bin ich ja in der Bekenntnisgemeinschaft innerhalb unserer Landeskirche. Die wird ja bei ihrer manchmal unangenehmen Kampfeslust zu diesem Scriptum Aurichs [vom 12. Juni 1935] nicht lange schweigen ... vor diesem Zeugnis der BG ist mir jetzt schon bange. Denn die leitenden Herren wissen mir über den einzuschlagenden Weg zu genau Bescheid. Man spürt von dem Ringen und Suchen nach dem rechten Weg in der Gewißheit, daß Gott uns ihn führen wird, wie im 119. Psalm der Beter es zeigt, so herzlich wenig. Man tut nichts, um die schrecklich grassierende Sensationslüsternheit der Menschen nach kirchenpolitischem Klatsch zu hemmen, sondern im Gegenteil: ich habe den Eindruck, als meine man durch ›Aufklärung‹ die Gemeinde Jesu Christi bauen zu können. In der Auseinandersetzung mit Aurich zeigt man so wenig, daß es sich dabei wirklich um Brüder handelt, mit denen man zusammen zu ringen und zu beten hat über den einzuschlagenden Weg. Das zeigt sich ja auch in diesem von Aurich abgedruckten ungeheueren Urteil,241 das die 3 Herren [P. Heinrich Oltmann, P. Udo Smidt und P. Friedrich Middendorff] selber wohl nicht so bedacht haben. Aber an allem zeigt es sich, daß die Leitung der BG durchaus Pietisten sind. Warum ist nicht Peter Schumacher der Mann?!«242 Und noch einmal bittet Heinz Otten seinen Lehrer zu versuchen, »[Einfluß] auf Aurich und auf die Leitung unserer B.G.« zu gewinnen. »Ich kann weder Aurichs Stellung zur Bekenntniskirche billigen, noch kann ich die Art und die Sicherheit der B.G. mitmachen. Ich sehe immer 2 Brüder, die statt miteinander gegeneinander um die Wahrheit kämpfen.«243 240

Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Otten bezieht sich hier vermutlich auf die 3. Reichsbekenntnissynode in Augsburg, 4.–6. Juni 1935. Als Anhang lag dem Brief eine Abschrift der Erklärung des Landeskirchenvorstandes vom 12. Juni 1935 bei, vgl. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 633, Anm. 31. 241 Aurich lehne »praktisches Zusammengehen mit der bekennenden, kämpfenden Kirche Jesu Christi« ab. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 74–76, hier: S. 75. 242 Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Otten hatte also bis dahin den ›ausschließlich theologischen‹, aber in der Wirkung neutralistischen Kurs Schumachers nicht erkannt. Er schätzte ihn vor allem als einen engagierten, der reformierten Tradition verbundenen Theologen. – Bereits Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 46, hatte darauf verwiesen, dass gerade »im Laufe des Kirchenkampfes« diejenigen »immer zahlreicher« wurden, die nicht nur in kirchenpolitischen Konfrontationen dachten, sondern »in ihrem kirchenpolitischen Pragmatismus, durchaus auch in den … theologischen Kontinuitäten – etwa der Kohlbrügges ... – standen.« 243 Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935, a.a.O. Interessant für das Verhältnis des LKR zur BG ist eine spätere Notiz Ottens: »das [sc. volle Information zu gewähren] tut der

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Nachdem der Landeskirchenvorstand am 27. Juli 1935 auch den Vikaren verboten hatte, kirchenpolitisch Stellung zu beziehen, protestierten nahezu alle Kandidaten der Landeskirche dagegen – »angeführt von Hein[z] Otten«.244 Im Sommer 1935 ist Otten vom Weggang Barth aus Deutschland bewegt, wobei er auch das Versagen der BK nicht verkennt: Das »Traurigste daran ist doch wohl, daß die Gründe dafür nicht nur dort zu suchen sind, wo nach allem Vorangegangenen nichts Anderes zu erwarten war als das, was nun geschehen ist, sondern leider auch bei denen, von denen allerdings anderes erwartet werden durfte und mußte.«245 Barth hatte im Mai in der Schweiz auf die Frage, wie er zur Landesverteidigung stehe, geantwortet: »Natürlich bin ich dafür. Insbesondere für die Verteidigung der Nordgrenze.«246 Der Münchener Kirchenrat Julius Sammetreuther kündigte daraufhin Barth die »Zugehörigkeit zur Bekenntnisfront« auf, ja selbst Reformierte meinen, den ›Landesverräter‹ nicht länger tragen zu können und geben bei der ›Ausladung‹ Barths zur 3. Bekenntnissynode der DEK in Augsburg nach.247 Otten bedauert die große Entfernung zwischen Ostfriesland und Basel, wohin Barth aufgrund eines Rufes der dortigen Universität zog, nachdem er in Bonn in den Ruhestand versetzt worden war, »so daß für mich die Gelegenheit zu persönlichen Fragen und Ratholen sehr schwierig wird … Doch jetzt liegt mir am Herzen, Ihnen sehr, sehr herzlich zu danken für all das, was ich von Ihnen an Erkenntnis und Liebe erfahren habe … [Es kamen] die 4 Semester in Bonn, in denen ich meine, etwas von Ihrem Anliegen verstanden zu haben. Und so weiß ich denn auch, daß die Tatsache, daß ich Ihr Schüler – kein ›Barthianer‹, denn dem ist sicher das zu sagen, was Kohlbrügge den Kohlbrüggianern gesagt hat – geworden bin, nicht Ihr und nicht mein Werk gewesen ist, sondern ein Teil der freien Güte dessen, der uns alle trägt und bewahrt. Aber daß ich Gott dafür dankbar bin, läßt mich nicht vergessen, [daß ich] auch Ihnen als dem ›Gepäckträger‹ – so bezeichnet Kohlbrügge sich in dem erwähnten Brief 248 – von Herzen zu LKR ja nie«. Brief Ottens an Harmannus Obendiek, 23. Juli 1938 (Kirchenkreisarchiv Barmen, Best. Gemarke 02). 244 Jürgen Sternsdorff, Gerrit Herlyn zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Treue zu Adolf Hitler in der Bekennenden Kirche, nach unveröffentlichten Quellen, Marburg 2015, S. 86. 245 Brief Ottens an Barth, 13. Juli 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 246 Prolingheuer, Fall Karl Barth, a.a.O., S. 130.182. 247 Vgl. Prolingheuer, Fall Karl Barth, a.a.O., S. 181f. 248 Brief Kohlbrügges an U.Ph. van Verschuer, 5. Mai 1834, in: Laß dir an meiner Gnade genügen. Aus dem handschriftlichen Nachlaß H.F. Kohlbrügges übersetzt und mit einer biographischen Einführung versehen von Georg Helbig (Furche-Bücherei 4), Berlin o.J. (1935 oder früher), S. 22f.

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danken habe. Und daneben haben Sie meinen Weg während und nach meinem Studium mit Rat und Güte begleitet. Auch dafür danke ich Ihnen und möchte Sie bitten, mir zu gestatten, daß ich Ihren Rat auch von Basel her in Anspruch nehmen darf.«249 Aber nicht allein das Ratholen wird schwieriger: Der Versuch, Barths Vorlesungsmanuskript über das Johannesevangelium vom Sommersemester 1933, welches ihm von Karl Barths Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum zugesandt worden war und welches Otten von seiner Braut und einem Vikar abschreiben ließ,250 von Manslagt aus in die Schweiz zurückzuschicken, scheitert zunächst, da die Poststelle des ostfriesischen Dorfes die Portokosten nicht bestimmen kann! In und nach diesen kirchenpolitisch unruhigen Zeiten hatte Heinz Otten sich für das Zweite theologische Examen vorzubereiten. Das Thema der schriftlichen Arbeit, ob es einen ›Anknüpfungspunkt‹ für eine Gottesoffenbarung im Menschen gäbe, erschien Otten zu aktuell,251 denn dieser Streit zwischen Emil Brunner und Karl Barth war erst wenige Jahre alt und wurde vielerorts heftig diskutiert.252 Durch seine intensive Arbeit in Halle und seine Lehrtätigkeit bei den ostfriesischen Vikaren in Emden253 weiß Otten sich gut vorbereitet; am 11. Oktober 1935 besteht er dann auch sein Zweites Theologisches Examen ›sehr gut‹. Das sorgfältige Arbeiten gewohnt, erscheint es für Otten als Selbstverständlichkeit, sich nicht nur gründlich auf die Predigt für die aufmerksame Manslagter Gemeinde vorzubereiten, sondern sie auch immer vollständig auszuformulieren. Wie in den Hallenser Andachten predigt 249 250

Brief Ottens an Barth, 13. Juli 1935, a.a.O. Die Abschriften ließ Otten ungefragt erstellen und bittet nun nachträglich um Erlaubnis. »Hoffentlich aber verstehen Sie, daß ich nichts unversucht lassen konnte, mir diesen Schatz zu eigen zu machen. Und denken Sie doch auch an die christliche Gemeinde, der dieser Raub zugute kommen wird!« Brief Ottens an Ch. von Kirschbaum, 8. Mai 1935 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Die Vorlesung ist ediert: Karl Barth, Erklärung des Johannesevangeliums (Kapitel 1–8). Vorlesung Münster, Wintersemester 1925/26, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1933, hg. von Walther Fürst (Karl Barth Gesamtausgabe 9), Zürich 1977. 251 Vgl. Brief Ottens an Barth, 17. Juni 1935, a.a.O. 252 Otten bezieht später in seiner Dissertation dazu Stellung: »Aus der Tatsache des Adamitischen Falles mit seinen Folgen für die Menschheit ergibt sich die Unmöglichkeit, daß Gott für seine in der Erwählung sich offenbarende Liebe einen ›Anknüpfungspunkt‹ im abgefallenen Menschen finden kann; denn Gott kann den Sünder nicht lieben. Vielmehr kann nur der sündlose Gottessohn Gegenstand solch göttlicher Liebe sein, die sich auf den Menschen soweit erstreckt, als diese dessen Genossen sind.« Otten, Calvins theologische Anschauung von der Prädestination, a.a.O., S. 46 (dortige Belegstellen hier weggelassen). 253 »Zu dieser Arbeit wäre noch vieles und nicht viel Erfreuliches zu sagen. Denn durch die Kirchenpolitik ist weithin die Lust zu gründlicher Arbeit geschwunden.« Brief Ottens an Barth, 5. Dezember 1934 (Karl-Barth-Archiv, Basel).

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er ausgesprochen gern über Texte des Matthäusevangeliums. Otten verhehlt dabei nicht seine weltanschauliche Distanz, die auch Kritik an staatlichen Organisationen zeitigt. »Wir wären stumme Hunde, wenn wir ein reformiertes Bekenntnis aufstellen würden und nichts sagten über den ›totalen‹ Staat«;254 diese Einsicht der Ersten Freien Reformierten Synode in Barmen vom Januar 1934255 scheint Otten in seinen pfarramtlichen Tätigkeiten gewärtig gewesen zu sein. Er warnt vor dem ›Deutschglauben‹ Rosenbergs und Ludendorffs und beklagt, »daß der Widerstand gegen die Entchristlichung des Lebens so gering ist. Wo bleibt der Protest der Menschen, die mit Ernst Christ sein wollen, gegen die finstere Sonntagsentheiligung? Wo bleibt der Protest, daß die Aufmärsche der SA und H.J. immer am Sonntag in der Kirchzeit geschehen müssen? Wo bleibt der Protest des christlichen Elternhauses gegen die weltanschauliche – und das heißt im Rosenbergschen Geist – Schulung der Jungen und Mädels in der H.J. und im BDM? Wir alle machen uns schuldig, wenn wir mit offenen Augen zusehen, daß immer mehr Menschen die lebendige Quelle verlassen ...« Diese lebendige Quelle sei die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. »Warum erklärt z.B. die ev[angelische] Kirche als geschlossene Größe nicht stricte [?] und bindend, daß das AT zu den unaufgebbaren Grundlagen der Kirche gehöre, und bringt damit eine Kritik am AT, die aus der Judenfrage erwächst, wenigstens in der Kirche zum Schweigen?«256 254

So Karl Barth in seinem Einbringungsreferat, abgedruckt in: Joachim Beckmann, Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf. Eine Dokumentation aus den Jahren 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1975, S. 34–46, hier: S. 45; jetzt auch in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2017, S. 3–64, hier: S. 62. Der Begriff »stumme Hunde« entstammt Jesaja 56,10, wo über die Hirten des Volkes gesagt wird: »Alle ihre [sc. des Volkes] Wächter sind blind, sie wissen alle nichts. Stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, sie liegen und jappen und schlafen gerne.« Barth benutzte dieses Wort dann noch öfter, vgl. Scholder II, a.a.O., S. 281. Im Kirchenkampf wurde es möglicherweise zuerst benutzt in der Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes vom November 1933; vgl. Wilhelm Niemöller, Die Bekennende Kirche sagt Hitler die Wahrheit. Die Geschichte der Denkschrift der Vorläufigen Leitung von Mai 1936, Bielefeld 1954, S. 53. Wahrscheinlich hat Barth Calvin aufmerksam gelesen: Institutio IV,9,3. Im Zusammenhang mit der Frage nach einem reformierten Bekenntnis benutzt Barth diese Formulierung bereits 1925, vgl. Karl Barth, Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses, ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze, Zürich 1990, S. 604–643. 255 Die von Karl Barth entworfene »Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der DEK der Gegenwart« der ersten freien reformierten Synode in Barmen-Gemarke vom 3./4. Januar 1934 in: Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, a.a.O., Nr. 97, S. 198–202; auch in: Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisse. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, S. 230–238. 256 Predigt Ottens am Buß- und Bettag, 20. November 1935, über Jeremia 2,13.

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Wenig später predigt Otten: »Die Gemeinde Jesu ist ein Volk, zusammengesetzt aus allen Stämmen, Völkern, Nationen und Rassen, zusammengesetzt aus Menschen verschiedensten Standes, Herkommens, Denkens und Glaubens. Die Verschiedenheit der Menschen ist hier völlig bedeutungslos. Denn ›Hier ist kein Jude, noch Grieche, hier ist kein Knecht, noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in X.J. [Christus Jesus]‹ (Gal 3,28). Doch wird in der Gemeinde Jesu ... aus den verschiedensten Menschen und Stämmen nicht durch irgendwelche Abmachungen und Verträge eine Einheit, sondern das Wort, das Gott selber ist, schafft diese Einigung. Es gibt darum auch keinen Heiland für die Deutschen anders als für die Russen; es gibt auch kein anderes Evangelium für das 3. Reich und andere Reiche; es gibt auch keinen Gott für Arier und einen anderen für Semiten.«257 Solche Predigten Ottens hören nicht allein seine Manslagter Gemeindeglieder, sondern auch die umliegenden Gemeinden nordwestlich von Emden, in denen er oft Vertretungsdienst tut. Durch ein neu erworbenes Motorrad der Marke ›Conti‹ – »ist doch ein pfundiges Ding«258 – erhält Heinz Otten seine Mobilität, durch die er weit über seinen Kirchenbezirk hinaus bekannt wird. So ist es nicht verwunderlich, dass der schwerkranke Superintendent des IV. Bezirkes, Petrus Westermann (Leer), der als Prüfer in den Examina auf Otten aufmerksam geworden war, sich um dessen Versetzung nach Leer bemühte; Westermann mochte nicht mit ansehen, wie der DC-Pastor Meinhard Buurman259 als sein Stellvertreter seinen Konfirmandenjahrgang konfirmieren würde. Um Buurman auszuschalten, interveniert Westermann so lange bei der Auricher Kirchenleitung, bis man sich auf Ottens Versetzung nach Leer einigte. Problematisch wurde der Wechsel, da Otten noch nicht ordiniert war und daher nicht konfirmieren durfte. Kurzfristig beraumt der Superintendent Helmer Beenken (Pilsum) die Ordination für den 29. März 1936 an.260 Einen Tag später nimmt Otten die Arbeit in Leer auf. 257 258 259

Predigt Ottens am 16. Februar 1936 über Psalm 122,1–5. Brief Ottens an S. u. H. Mörchen, 17. Dezember 1934. Er darf nicht mit seinem Bruder, dem Ältesten Medizinalrat Dr. Otto Buurman (Loga) verwechselt werden, vgl. Anm. 165. 260 Da der 29. März 1936 ein Wahltag war, wurde Otten nicht im Hauptgottesdienst, sondern in einem zusätzlich anberaumten Abendgottesdienst ordiniert. Bei der ›Wahl‹ handelte es sich um eine ›Reichstagswahl‹, die verknüpft war mit der ›Volksbefragung‹ zur Rheinlandbesetzung am 7. März 1936. Die Deutschen stimmten laut offiziellem Endergebnis zu 99 % mit Ja – und für die NSDAP. Durch ihre Ablehnung dieser ›Wahl‹ gerieten zwei Reformierte, die in der Öffentlichkeit bekannt waren und deren Fälle deshalb große Wirkung zeitigten, in Schwierigkeiten: Friedrich Middendorff und Karl Immer; vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 32f. bzw. Bertold Klappert / Günther van Norden (Hg.), Tut um Gottes Willen etwas Tapferes! Karl Immer im Kirchenkampf, Neukirchen-Vluyn 1989, S. 47–69.

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»Man möchte nur wünschen und hoffen, daß diese wertvolle Kraft für den Dienst in unserer Landeskirche erhalten bliebe«261 – mit diesen Worten wird Heinz Otten aus der Krummhörn verabschiedet. Am 4. Mai 1936 heiraten Heinz Otten und Marie-Luise Fürbringer, die nach dem theologischen Examen an der Universität Bonn zwei Jahre zuvor »zu Hause [war], um das zu lernen, was eine Frau für ihren Haushalt können muß ... es war besonders für Nicki eine unbefriedigende Zeit, und sie wünschte oft, nach dem Examen in den Beruf gegangen zu sein. Es lag das auch mit an den häuslichen Verhältnissen bei ihrer nervenkranken Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes in der Marneschlacht 1914 nie recht gesund gewesen ist … Getraut hat uns ein alter Emder Pastor mit einer sehr schlechten Trauansprache über Josua 24,15, was aber unserer Freude und der Schönheit unserer Hochzeitsfeier keinen Abbruch getan hat.«262 Seit November 1935 war die mündliche Doktorprüfung immer wieder verschoben worden, nun endlich war sie für den 13. Mai festgesetzt worden. Otten und seine Frau freuten sich auf das Zusammensein mit Prof. Ernst Wolf und dessen Assistenten Hellmut Traub, dem gemeinsamen Freund aus Bonner Tagen, in Halle. Wolf war von Bonn nach Halle versetzt worden.263 Unterdes war er als Herausgeber der Zeitschrift »Evangelische Theologie« ein publizistisch durchaus einflussreicher wissenschaftlicher Theologe besonders in den bekenntniskirchlichen Kreisen geworden. »An dem Zustandekommen meiner Lic.-Arbeit hat sie [sc. meine Frau] genau so viel Verdienst wie ich.«264 Otten teilte Ende Juni dem Landeskirchenrat in Aurich mit: »Am 13. Mai 1936 habe ich vor der evang[elisch]-theologischen Fakultät der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg zu Halle a.d. Saale die mündliche Licentiatenprüfung mit cum laude bestanden. Das Thema der Arbeit lautete: Calvins theologische Anschauung von der Prädestination.«265 Aber Leer sollte genauso wie dann der nächste pastorale Einsatzort Hannover nur episodenhaften Charakter für Otten haben: »Schon im Juli wurde ich ganz überraschend nach Hannover versetzt, wo ein Kollege diszipliniert [worden] war. Ein Vierteljahr sind wir dort gewesen als möb261 262 263

Zeugnis Beenken, 11. Mai 1936 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. Zu Wolf in Halle vgl. Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 284f. 264 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. 265 Brief Ottens an LKR, 29. Juni 1936 (PA Otten, Archiv ErK, Leer). Um die Bewertung von Ottens Arbeit wurde innerhalb der Hallenser Fakultät heftig gestritten: Während der Doktorvater Wolf die Arbeit mit »magna cum laude« einschätzte, wollten der Korreferent Ernst Barnikol und Julius Schniewind nicht über »cum laude« hinausgehen. Streitpunkt waren v.a. einige kritische Bemerkungen Ottens zu Otto Ritschls CalvinDarstellung. Vgl. die Promotionsakte mit zahlreichen ausführlichen Gutachten im Universitätsarchiv, Halle, Rep. 27, Nr. 241.

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liertes Ehepaar; Nicki hatte nichts zu tun und hat neben vielem Lesen ihre Neigung zu Handarbeiten austoben können. Kurz bevor ich nach Ha[nnover] versetzt wurde, war ich … in Großwolde auf Grund einer Vakanzpredigt gewählt; weil mein Pflichtjahr nach dem 2. Examen aber noch nicht abgelaufen war, mußte ich vorerst noch nach Hannover.«266 6. Pfarrer im südostfriesischen Großwolde »Großwolde liegt im südlichen Ostfriesland unmittelbar an der Grenze zum katholischen Emsland. Die Gemeinde hat 1000 Einwohner, von denen gut 100 sonntäglich zum Gottesdienst erscheinen; es sind Bauern und vor allem Kolonisten auf einer Moorsiedlung, ein ganz besonders fleißiger und genügsamer Menschenschlag.«267 Die Gemeinde Großwolde, etwa 800 Mitglieder groß, war seit längerer Zeit vakant. Der letzte Stelleninhaber war P. Gerhard Brunzema, dessen Einführung in Emden zur Kontroverse um die Auslegung des Uelsener Protokolls geführt hatte.268 Brunzema war nicht nur deshalb ein typischer Vertreter des deutschen Protestantismus, weil er wie so viele andere seine Sympathien für die DC nach der Sportpalastkundgebung am 13. November 1933 aufgab, sondern auch weil er Protestantismus mit nationalkonservativer Weltanschauung vermengte: Als ›Führer des evangelischen Jugendringes für Ostfriesland‹ veranstaltete er, dessen Neigung »nicht so sehr nach der theologischen als nach der praktischen Seite«269 geht, durchaus politische ›Bibel‹-Wochen mit verschiedenen Referenten noch vor 1933 mit Themen wie »Des deutschen Volkes letzte Frage«, »Rasse, Reinheit, Ritterlichkeit« oder eine »Weltanschauungswoche für Arbeiter« unter dem Thema »Sozialismus und Christentum«.270 Zwei Versuche zur Beendigung der Vakanz waren fehlgeschlagen: Ende 1935 hatte Paul Jacobs (1908–1968) seinen Dienst in Großwolde angetreten, verließ die Gemeinde nach wenigen Monaten aber wieder, da er als Pastor in eine Gemeinde der Lippischen Landeskirche gewählt worden war. Jacobs war 1934/1935 Assistent bei Otto Weber an der 266

Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. Pastor Jelto Dunkmann wurde im Juni 1936 suspendiert, vgl. Frauke Geyken, 300 Jahre Evangelisch-reformierte Kirchengemeinde Hannover 1703–2003, Hannover 2003, S. 121–125, hier: S. 122, ohne Angaben von Gründen. – Otten hatte am 22. Dezember 1935 eine Gastpredigt in Minden gehalten, die wahrscheinlich Teil einer Bewerbung war. 267 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. 268 S.o. Exkurs: Das Uelsener Protokoll. 269 So in einem Bericht eines kirchenleitenden Theologen am 18. Mai 1934 (Akte Großwolde, Archiv ErK, Leer). 270 Kopien der Einladungszettel im Besitz des Vfs. – Brunzema war seit den 60er Jahren einer der intransigenten Vertreter der evangelikalen Gruppierung »Kein anderes Evangelium«.

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Theologischen Schule Elberfeld gewesen und hatte sich wie Otten in einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit mit der Prädestinationslehre bei Calvin auseinandergesetzt. Jacobs überlebte den Krieg und wurde später Professor für reformierte Theologie in Münster. Nach dem Weggang Jacobs’ wurde Paul Tegtmeyer (1886–1962), damals Vorsteher der Diakonenanstalt »Nazareth« in Bethel, vom Kirchenrat einstimmig für die Pfarrstelle Großwolde vorgeschlagen. Auf Grund einer schweren Erkrankung des Leiters der Betheler Anstalten Friedrich von Bodelschwingh, der 1933 wenige Wochen als designierter Reichsbischof wirkte, mochte Tegtmeyer Bethel nicht verlassen und musste deshalb seine Zusage wieder zurückziehen.271 Bei seinen ersten Kontakten zum Vakanzvertreter, dem Ihrhover Pastor Hermann Züchner, und zum Großwolder Kirchenrat betonte Heinz Otten, eine Pfarrwahl nicht annehmen zu wollen, wenn sich unter den Männern des Wahlgremiums aus Bezirkskirchenrat und Kirchenrat272 auch nur ein Deutscher Christ befände. In seinen Augen musste es nach der bereits kirchlich festgestellten Unvereinbarkeit zwischen reformierter Lehre und DC-Ideologie eine Unmöglichkeit sein, eventuell gar mit der Stimme eines Deutschen Christen die Pfarrwahl zu gewinnen. Daraufhin suchten der Vakanzvorsitzende und der Kirchenrat, der sich zwar nach den Wahlen im Juli 1933 mehrheitlich aus Deutschen Christen zusammensetzte, aber wohl nach der ›Sportpalastkundgebung‹ mit Pastor Brunzema zusammen die Seiten gewechselt hatte, gemeinsam mit dem Superintendenten Petrus Westermann, den DC P. Meinhard Buurman, der Mitglied des Bezirkskirchenrates war, von der Wahl auszuschließen. Einem schon im Frühjahr 1936 vom Vakanzvertreter im Auftrage des Großwolder Kirchenrates angeregten Lehrzuchtverfahren gegen Buurman wurde von der Auricher Kirchenleitung nicht stattgege271

Paul Tegtmeyer, ein Schwager Karl Immers, wird in Manfred Hellmann, Friedrich von Bodelschwingh d.J. Widerstand für das Kreuz Christi, Wuppertal/Zürich 1988, S. 136.139.148 als ein überaus nüchterner, weitsichtiger Vorsteher mit großem Verantwortungsbewusstsein geschildert. Auch schon 1933 gehörte er zur kirchlichen Opposition. Ein ähnlich integeres Charakterbild Tegtmeyers zeichnet Robert Frick, ›Was kann aus Nazareth Gutes kommen?‹, Neukirchen-Vluyn 1977. Dagegen malt Hans Prolingheuer, ›Wir sind in die Irre gegangen‹. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz nach dem Bekenntnis des ›Darmstädter Wortes‹ von 1947, Köln 1987, S. 138f., ein düsteres Bild von Tegtmeyer: Er soll wenigstens mitschuldig am Freitod einer Krankenschwester in den ersten Wochen des Jahres 1936 gewesen sein. Tegtmeyer gehörte später zu den evangelikalen hardlinern und konnte etwa behaupten, dass die theologische Situation zu Beginn der 60er Jahre krisenhafter sei als die Auseinandersetzungen von 1933. Vgl. jetzt Reinhard Neumann, Die Westfälische Diakonenanstalt Nazareth 1914–1954. Jahrzehnte der Krise (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 36), Bielefeld 2008. 272 Zur Änderung des Wahlmodus vgl. Fokken, Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 340. Die Ereignisse um die Pfarrwahl in Großwolde schildern auch Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 346; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 198–200.

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ben. Im März bat man, dass der »LKR eine Möglichkeit schaffen [wolle], daß die Beteiligung des Herrn Pastor Buurman an der bevorstehenden Pfarrwahl verhindert wird.«273 Züchner, der offensichtlich den ZickZack-Kurs Aurichs erkannt hatte und ihn für fatal hielt, beantragte nicht allein ein solches Lehrzuchtverfahren, sondern erarbeitete selbst eine mehrere Seiten umfassende Stellungnahme gegen die DC, und zwar schon im Februar 1936, also vor der Otten-Pfarrwahl. Züchner war mithin an einer grundsätzlichen Entscheidung gegen die DC in kirchlichen Leitungsgremien gelegen. Im Jahre 1933 hatte er noch selbst den DC angehört. Der Landeskirchenrat wähnte in Züchner einen hartnäckigen, eben grundsätzlichen Kritiker und versuchte ihn deshalb durch eine Verzögerung auszumanövrieren. Als der Landeskirchenrat Weisung gab, einen Wahltermin in Großwolde zunächst nicht festzulegen, antwortete der Vakanzvertreter im Auftrag des Kirchenrates: »Wir können nicht anders, als darin eine Bestrafung unserer Gemeinde sehen.« Während Gemeinden, die nicht gegen bekenntniswidrige Personen klagten, wählen könnten, würde »einer Gemeinde, die den Mut zum Protest aufgrund des Bekenntnisses hat«, die Pfarrwahl verunmöglicht. Darüber hinaus unternahm er den Versuch, diese Angelegenheit grundsätzlich über den Fall Buurman hinaus klären zu lassen, indem er um eine weitgehende Stellungnahme gegen die DC – »etwa in Form der in Barmen seiner Zeit angenommenen Barthschen Erklärung zum Bekenntnis«274 – und deswegen um die Einberufung des Landeskirchentages bittet.275 Obwohl Otten noch im Juni vom Großwolder Kirchenrat für die Pfarre Großwolde vorgeschlagen wurde, schickte Aurich ihn ab dem 1. Juli noch nach Hannover. Als die Großwolder Otten dennoch am 3. Juli als Einzelkandidat für eine Pfarrwahl nominierten, gab Aurich unter dem 13. Juli die Wahl frei – »in Berücksichtigung des Umstandes, daß die Gemeinde Großwolde nicht Opfer der Beeinflussung des Vakanzvorsitzenden ihres Kirchenrates werden« solle – dies die Lesart des Protokolls des Landeskirchenrates! Dabei war es die Auricher Kirchenleitung gewesen, die – nur weil ihr Züchner wegen seiner Kritik suspekt erschien – diese Wahl verzögert hatte. Die Möglichkeit zum Ausschluss 273

Brief des KR Großwolde an LKR, 12. März 1936 (Akte Großwolde, Archiv ErK, Leer). 274 Gemeint ist also die Erklärung der Januar-Synode, die aber die Auricher Kirchenleitung schon zweimal (!) anerkannt hatte: 1. Im Osnabrücker Kirchenkonvent; RKZ 84 (1934), S. 140. – 2. In der Ablehnung der Teilnahme an einer ›Landeskirchenführerkonferenz‹ am 14. Juni 1934 vom 12. Juni 1934; RKZ 84 (1934), S. 210; Gauger, Chronik II, a.a.O., S. 230. 275 Genau dieselben Forderungen stellt der Bezirkskirchentag Leer – zu dem auch Großwolde gehört – auf seiner ersten (!) Tagung nach den Kirchenwahlen 1933 am 19. Oktober 1936 auf; RKZ 86 (1936), S. 358; SB 45 (1936), S. 443; amtlicher Bericht in SB 45 (1936), S. 502f.

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Buurmans276 von der Pfarrwahl fand man – offenbar mit Billigung Aurichs – schließlich selbst: Der Wahltermin wurde so lange hin und her geschoben, bis Gewissheit bestand, dass Buurman ihn nicht würde wahrnehmen können. So trafen sich an einem späten Sonnabendnachmittag, dem 15. August 1936, fünf Mitglieder des Kirchenrates Großwolde und zwei des Bezirkskirchenrates und wählten Heinz Otten einstimmig für die Pfarrstelle Großwolde. Otten nimmt »die Wahl gerne an.«277 Nur drei Tage nach Ottens Einführung durch Westermann am 6. September starb in Stapelmoor P. Carl Octavius Voget, »ein Mann von lauterster Gesinnung, reichster Begabung und ausgeprägter Eigenart.«278 In der Predigt zur Beerdigung am 14. September erklärte Heinrich Oltmann, der drei Jahrzehnte zuvor durch die Erweckung im Rheiderland entscheidende Anstöße von Voget erhalten hatte,279 dass er und Voget zwar um den Kurs, wie die Kirche zu leiten sei, gestritten hätten, aber letztlich in der Sache einig gewesen seien.280 Dieser behauptete sachliche Konsens zwischen einem Repräsentanten der Bekenntnisgemeinschaft und einem Mitglied der Kirchenleitung muss beachtet werden, wenn der Kirchenkampf in reformiert Hannover beurteilt wird: – Kirchenkampf als »Angriff des Nationalsozialismus auf Lehre und Gestalt der Kirchen und den Widerstand der Kirchen«281 hat es im Bereich von reformiert Hannover direkt nur im geringen Maße gegeben. Möglicherweise erschien den nationalsozialistischen Akteuren die reformierte Landeskirche als zu klein und im Gesamtkonzert des deutschen Protestantismus zu unbedeutend. Auch hatte man binnenkirchlich mit dem ›reformierten Sicherungsgesetz‹ ein Mittel gefunden hatte, die reformierte Kirchenleitung zu befriedigen. In Aurich schien man vielleicht das ›Neuheidentum‹ Rosenbergs, Ludendorffs und Hauers gefürchtet zu haben – und natürlich Alkoholismus und 276

Buurman erfüllte ohnehin nicht sein Aufsichtsamt als Mitglied des BKR, wie der KR Großwolde feststellt: »Pastor Buurman schließt sich bewußt von allem persönlichen Verkehr, von allen Konferenzen und anderen Veranstaltungen des Bezirks aus, was unseres Erachtens allein schon die Ausrichtung eines Amtes der Aufsicht unmöglich macht.« KR Großwolde an LKR, 25. Februar 1936. Dieses Schreiben ist Züchners umfangreiches Memorandum gegen die DC (Akte Großwolde, Archiv ErK, Leer). 277 Brief Ottens an KR Großwolde, 17. August 1936 (Akte Großwolde, Archiv ErK, Leer). 278 RKZ 86 (1936), S. 310; identisch mit SB 45 (1936), S. 382. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 347. 279 Vgl. den Aufsatz über Carl Octavius Voget in diesem Band. 280 Heinrich Oltmann, Gedächtnis-Gottesdienst in der reformierten Kirche zu Stapelmoor anläßlich der Beerdigung des Pastors Carl Octavius Voget am 14. September 1936 (als Manuskript gedruckt), Leer o.J. (1936), S. 7–9. 281 Diese und weitere Definitionen nach dem alten Werk von Jürgen Schmidt, Die Erforschung des Kirchenkampfes. Die Entwicklung der Literatur und der gegenwärtige Stand der Erkenntnis (ThExh NF 149), München 1968, hier: S. 7.

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Bolschewismus, wie verschiedenen zeitgenössischen Erklärungen der Kirchenleitung zu entnehmen ist –, weniger aber den Nationalsozialismus als politische Ideologie und gestaltende Macht. Eingriffe in die Kirche – auch gewaltsame – hat es ›nur‹ gegen Einzelne gegeben.282 – Kirchenkampf als »das Vorgehen der mit dem Nationalsozialismus verbundenen Deutschen Christen (DC) und die Auseinandersetzung der kirchlichen Opposition mit deren kirchenpolitischen Maßnahmen und deren Ideologie«283 war wegen des insgesamt geringen Einflusses der DC in reformiert Hannover nur kurze Zeit möglich.284 Zwar hat es einzelne Diskussionen mit den DC gegeben, aber zu einer Konfrontation zwischen DC-Kirchenleitung und BK-Opposition ist es in reformiert Hannover nie gekommen, gab es doch gar keine DC-Kirchenleitung, auch eine Eingliederung als Gleichschaltung mit der DC-majorisierten DEK hat es wie auch spätere Versuche der Machtübernahme – etwa durch eine staatlich bestimmte Finanzabteilung – nicht wirksam gegeben,285 was wegen der Person des Vizepräsidenten Adolf Kramer (s.u.) aus staatlicher Sicht vielleicht auch später nicht mehr notwendig war. Auch wenn die Auricher Kirchenleitung partiell mit der offiziellen Reichskirche kooperierte, ist sie aufs Ganze – ohne die juristischen Vizepräsidenten – gesehen doch nicht nur distanziert zu den DC gewesen, sondern hat in immer geringer werdendem Handlungsspielraum die DC zurückgedrängt.286 – Kirchenkampf als »Spannungen innerhalb der evangelischen Kirche zwischen den verschiedenen Auffassungen über die Bedeutung des 282

Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 173–274, hat sich um die Dokumentation dieser Fälle bemüht. 283 Schmidt, Erforschung, a.a.O., S. 7. 284 Da Weßels und Wever in ihren Arbeiten auch die reformierten DC darstellen konnten, ist an dieser Stelle gegenüber der Erstauflage die Beurteilung verändert worden. Ich nahm seinerzeit an, dass die DC praktisch nie über nennenswerten Einfluss in der reformierten Landeskirche verfügten. Dennoch ist Manfred Gailus’ zugespitzte These auch an reformiert Hannover zu verifizieren: »Ohne Deutsche Christen keine Bekennende Kirche – wo die DC schwach waren, blieb auch die BK schwach ausgeprägt.« Gailus, Keine gute Performance, a.a.O., S. 106. Die BG in reformiert Hannover konnte in den ›eigenen‹ DC kaum einen ernsthaften Gegner finden; man musste schon die altpreußische oder die Reichsebene fokussieren, um eine Gefahr für die Kirche zu entdecken – oder aber eben die eigene Kirchenleitung wegen ihrer uneindeutigen Haltung angreifen. 285 Der »Bevollmächtigte des preußischen Staatskommissars« August Jäger im Juni und Juli 1934, der Osnabrücker Pastor Paul Engels, spielte ebenso keine Rolle wie die nur von März bis Juli 1935 fungierende »Finanzabteilung«, vgl. Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Personen, Band 2: Landes- und Provinzialkirchen, bearbeitet von Karl-Heinz Fix u.a. (AKiZ A 20), Göttingen 2017, S. 213–221: Hannover (reformiert) / Nordwestdeutschland-reformiert, hier: S. 220. 286 In dieser Einschätzung unterscheide ich mich von Wever, Stumme Hunde, a.a.O., v.a. S. 201–203, die der Kirchenleitung geradezu einen freundschaftlichen Umgang mit den DC vorwirft.

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Bekenntnisstandes, über das Wesen der kirchlichen Ordnung, über die Prinzipien kirchlichen Verhaltens und über die Stellung der Kirche zur ›Welt‹«287 ist zweifelsohne die angemessene Definition von Kirchenkampf in reformiert Hannover. Aber wie stark wird selbst dies noch relativiert, wenn ein solch exponierter BG-Vertreter wie Oltmann mit einem LKR-Mitglied, das dessen Politik sicher so mitverantworten wollte – in der ›Sache‹ einig sein konnte und nur der ›Weg‹ strittig war?! Uneinheitlich zeigt sich die BG, denkt man nämlich gegenüber diesen Worten Oltmanns an die tatsächlich energischen Auseinandersetzungen anderer BG-Kräfte, z.B. Friedrich Middendorffs mit der Auricher Kirchenleitung. Man wird dabei nicht übersehen dürfen, dass Hollweg und Koopmann keine eigenmächtige Politik trieben, sondern es verstanden, sich je und je die Mehrheit des Landeskirchentages zu verschaffen. Aber da sich die BG selbst nie als eine oppositionelle Kirchenleitung verstanden hat, handelt es sich beim Kirchenkampf in reformiert Hannover nicht um einen Kampf der Opposition »gegen die vom gefährlichen Irrgeist erfüllte und getriebene falsche Kirche oder Nichtkirche.«288 Während sich der Jurist Otto Koopmann allerdings so viele binnenkirchliche Feinde gemacht hatte, dass er Anfang Juni 1937 nicht zur Wiederwahl antrat, galt vielen in der reformierten Landeskirche Walter Hollweg als ein angesehener Theologe und Kirchenmann.

287

Schmidt, Erforschung, a.a.O., S. 7. – Allerdings darf eine solche Definition nicht absolut verstanden werden, denn tatsächlich wollte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft den christlichen Glauben zurückdrängen, weil es ideologisch-weltanschaulich unüberbrückbare Differenzen gab. Es gab also wesensmäßig einen Kampf zwischen Staat und Kirche, auch wenn er nicht immer und mit gleicher Wucht zu Tage trat. – Zur Begriffsbestimmung »Kirchenkampf« ist natürlich auch in neueren Arbeiten nachgedacht worden, auch wenn sowohl ein wissenschaftlicher Konsens als auch »[e]ine begriffs- und diskursgeschichtliche Aufarbeitung dieses Begriffs fehlt«, Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Ein Bericht über den Stand der Debatte, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008, S. 155–172, hier: S. 157, Anm. 7. Vgl. auch Kristine Fischer-Hupe, Der Kirchenkampfdiskurs nach 1945. Wie katholische und evangelische Theologen in der frühen Nachkriegszeit über den Kirchenkampf der Jahre 1933–1945 sprachen, in: KZG 15 (2002), S. 461–489, v.a. S. 464–467: Die Semantik des (Kirchen-)Kampfes. – Eine theologiegeschichtliche Verengung ist es, den »Kirchenkampf« auf die Jahre 1933 und 1934 begrenzen zu wollen, wie es Joachim Mehlhausen historiographisch-programmatisch vorzuschweben scheint, ders., Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE XXIV (1994), S. 43–78. Mehlhausens Vorschlag, nicht mehr vom »Kirchenkampf« zu sprechen, sondern nüchterner von der Zeit der »Kirchen im Nationalsozialismus«, folgt der Vf. nicht. Die TRE wie auch die RGG4 verzichten auf das Lemma »Kirchenkampf«. 288 So bezeichnet der Schüttorfer KR am 15. Oktober 1935 den Kirchenkampf im gesamten Reich; Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 26–28, hier: S. 26.

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Unter dieser Konstellation kann es nicht verwundern, dass Oltmann für wenige Wochen bis zu seinem eigenen Tod Vogets Platz im Landeskirchenrat einnahm.289 Präsident Otto Koopmann, der im heftigen Streit mit der BG stand, schied im Sommer 1937 aus der Kirchenleitung aus; Amtsgerichtsrat Adolf Kramer (Altona) wurde als dessen Nachfolger leitender Jurist in reformiert Hannover.290 Hatte Koopmann sich in den Reichskirchenausschuss Hanns Kerrls berufen und sich durch ein »Friedensangebot« des Staates ködern lassen (so Karl Immer!291), so trat Landessuperintendent Hollweg am 30. Oktober 1936 in die »Theologische Kammer der DEK« ein,292 so dass bei aller Selbstständigkeit Aurichs der Kontakt zur Reichskirche doch gegeben war. Die reformierte Kirche bewegte sich ähnlich wie die großen ›intakten‹ lutherischen Landeskirchen, die Middendorff so beschreibt: »Konfessionelle Haltung und möglichst positive Stellung zum derzeitigen Staat gingen bei ihnen Hand in Hand.«293 War dies der Kurs der Auricher Kirchenleitung, so war es dann auch nur konsequent, dass man ab 1937 versuchte, mit den lutherischen Kirchen bzw. ihren Gremien zusammenzuarbeiten. Am 2./3. April 1937 tritt Hollweg mit Marahrens und Wurm in eine neue ›Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche‹ ein, die freilich von der BK abgelehnt wurde.294 Zurück zu den Ereignissen vor Ort: Otten und seine Frau gewinnen schnell die Sympathien des »genügsamen Menschenschlags« in dem kleinen ostfriesischen Dorf. »Nicki ist ganz besonders gern hier gewesen und hat auch in besonderer Weise die Liebe der Leute hier besessen.«295 Zu Ottens Aufgaben gehört neben der Versorgung der Gemeinde Großwolde auch die dreier kleiner ›Deichgemeinden‹ an der Ems. Sie erreicht er mit seiner ›Conti‹, die ihn auch zu den Arbeitstagungen der BG brachte. Man traf sich als »motorisierte BK« (so der Volksmund) – denn auch die Brüder fuhren Motorrad – reihum. Im Jahr 1937 gründet der Freundeskreis mit und um Otten – Lic. Alfred Göhler (1907–1985), Friedrich-Wilhelm (Willi) Rethmeier (1910–1943), Fritz Schipper 289 290

Vgl. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 350–353. Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 39. Koopmanns Nachfolger Adolf Kramer war überzeugter Nationalsozialist und wohl noch feindlicher der BG gegenüber eingestellt. Koopmann dagegen wurde 1945 für eine Übergangszeit wieder in sein altes Amt eingesetzt, da man offenkundig auf seine Kompetenzen nicht verzichten konnte, vgl. Weßels, Nicht hoffnungslos, a.a.O., S. 245. 291 Deutschland-Berichte der SoPaDe 1937, S. 231 (= Immer, Coetus-Briefe, a.a.O., Brief 34 vom 20. Mai 1936, S. 154–162). 292 Vgl. Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 174. 293 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 32. 294 Vgl. Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 58; Jörg Thierfelder, Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AKiZ B 1), Göttingen 1975, S. 21f. 295 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940.

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(*1910, vermisst an der Ostfront) und der nachmalige Landessuperintendent Walter Herrenbrück – den »Theologischen Arbeitskreis«.296 Alle Genannten hatten bei Barth studiert und standen zeitweilig in Briefkontakt zu ihm. Gemeinsam mit P. Johannes Immer (Norden) und P. Hermann Steen (Holthusen) vertrat Heinz Otten, der am 10. Mai 1937 als stellvertretender Schriftführer in das Moderamen des ostfriesischen Coetus gewählt worden war,297 den Arbeitsausschuss der BG in reformiert Hannover,298 so z.B. auf einer Arbeitstagung des Reformierten Bundes im August 1937 in Barmen299 und auf einer Arbeitstagung des ›Coetus reformierter Prediger Deutschlands‹ (den Karl Immer 1933 nach ostfriesischem Vorbild gegründet hatte) vom 25. bis 27. Oktober 1937 ebenfalls in Barmen; dort hielt er als Theologe der jüngsten Generation neben zwei so bekannten Referenten wie Alfred de Quervain und Ernst Wolf den Vortrag »Das Bekenntnis der Einheit der Kirche nach dem Heidelberger Katechismus.«300 Dieser Vortrag wird nicht untypisch für Otten, vielleicht sogar für die jungen Barth-Schüler überhaupt gewesen sein. Die Ausführungen sind nicht originell, sondern orientieren sich streng an dem auszulegenden Katechismustext. Als Seitenreferenten werden neben Barth mit Harmannus Obendiek und Wilhelm Niesel andere Barth-Schüler herangezogen; mehrere Male rekurriert Otten auf Hermann Friedrich Kohlbrügge, den Barth in seiner großen theologiegeschichtlichen Vorlesung Anfang der 30er Jahre so gewürdigt hat,301 nachdem er ja bereits ein Jahrzehnt zuvor gute Kontakte zu den Kohlbrüggianern unterhalten hatte. Offenbar konnte sich Otten mit diesem doch durchaus quer stehenden Format reformierter Theologie identifizieren. Gelegentlich meint man vom Inhalt und von der Diktion her, Ottens Bonner Lehrer selbst zu hören. Es verwundert nicht, dass Otten die Einheit der Kirche, 296 297 298

Zu Herrenbrück vgl. den Aufsatz in diesem Band. Vgl. Coetus-Protokollbuch, 10. Mai 1937 (Archiv des Coetus, JaLB Emden). Vgl. die sich seit November 1934 verändernde Zusammensetzung des o.g. Arbeitsausschusses in Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949, a.a.O., S. 221. 299 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden, III: Im Zeichen des zweiten Weltkrieges, Göttingen 1984, S. 539; Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 305. 300 Heinz Otten, Das Bekenntnis der Einheit der Kirche nach dem Heidelberger Katechismus, in: EvTh 5 (1938), S. 223–232. Vgl. Hans-J. Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit (AGK 28), Göttingen 1974, S. 520. – Alle drei Referate sind abgedruckt in: EvTh 5 (1938). Harmannus Obendiek fasst die Ergebnisse der Tagung in Thesen zusammen, Um die Einheit der Kirche, in: JK 5 (1937), S. 1022–1026. – Der Heidelberger Katechismus war erst kurz zuvor 1936 als Bekenntnisschrift der reformierten Landeskirche synodal angenommen worden. 301 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 51985, § 27: Kohlbrügge, S. 579–586.

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um die ja bereits seit Sommer 1933 stark diskutiert worden war und die wegen der binnenkirchlichen Auseinandersetzungen ein geradezu existentielles Thema darstellte, ganz allein in Jesus Christus begründet sieht und entsprechend die Katechismusfragen ganz christologisch interpretiert. Wie klarsichtig und widerständig diese Theologie in ihrer Sachlichkeit sein kann, zeigt folgende Passage: »Jesus Christus als der ewige Sohn des ewigen Vaters war der Urheber der Erwählung Israels: In und durch Christus ward aus diesem Volk das Volk Gottes, die auserwählte Gemeinde des alten Bundes. Jesus Christus sammelte seine zwölf Jünger nach der Zahl der Stämme Israels als die auserwählten Repräsentanten der auserwählten Gemeinde des neuen Bundes … Weil also der Sohn Gottes im alten und neuen Bund der gleiche ist als Begründer der Kirche, darum ist die Kirche des alten und neuen Bundes die eine auserwählte Gemeinde.«302 Wer so theologisch denkt und schreibt, kann sich nicht mit der Geltung des »Arierparagraphen« in der Kirche abfinden und wird auch die immer weiter gehende Entrechtlichung der Juden im Staat nur mit Unbehagen beobachtet haben. Die theologischen Erkenntnisse sind auch zu wichtig, als sie für konfessionelle Polemik zu gebrauchen. Otten sieht – mit Barth – in den Bekenntnissen und hier im Heidelberger Katechismus keine »Selbstbezeugung einer Konfession, die gegenüber anderen Konfessionen ihre im Katechismus niedergelegte Eigenart zu wahren hätte«; die Mahnungen des Katechismus dürfe man nicht gegen andere gerichtet verstehen, sondern müsse diese auf sich selbst und sein eigenes Kirchesein beziehen. Der Katechismus ist »die Darstellung der der allgemeinen christlichen Kirche vorläufig geschenkten Einsicht von der allein in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus«.303 Daraus folgt für die Einheit der Kirche und für das eigene kirchliche Handeln: »Ein Jeder sei seines Glaubens gewiß und bewähre seine Gliedschaft in der Kirche. Wo dann Menschen von verschiedenen Bekenntnissen her zusammenkommen, da sollen sie sich gegenseitig ihren Glauben bekennen, indem sie sich der Autorität der Heiligen Schrift unterstellen. Und hier ist dann all das zu bedenken, was nach reformierter Lehre über das Verhältnis von Schrift und Bekenntnis zu beachten ist. Wenn man wirklich unter der Autorität der Schrift so seinen Glauben bekennt, da wird dann auch bei aller Verschiedenheit der Formulierungen etwas sichtbar werden von der Einheit der Kirche über die Grenzen der Gemeinden und Kirchen hinweg.«304 302 303 304

Otten, Bekenntnis, a.a.O., S. 224. Vgl. Otten, Bekenntnis, a.a.O., S. 231. Otten, Bekenntnis, a.a.O., S. 232. – Ottens Aufsatz findet auch heute noch Beachtung, etwa in der ungemein intensiven Untersuchung über den Heidelberger Katechismus: Thorsten Latzel, Theologische Grundzüge des Heidelberger Katechismus. Eine fundamentaltheologische Untersuchung seines Ansatzes zur Glaubenskommunikation (Marburger Theologische Studien 83), Marburg 2004, S. 194.243.

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Die Bekennende Kirche hatte sich gerade Mitte der 30er Jahre um die Einheit über die konfessionellen Differenzen hinweg bemüht; mehrere theologiegeschichtliche Arbeiten traktierten ekklesiologische und abendmahlstheologische Themen. Hier liegt auch eine Wurzel der späteren binnenreformatorischen Übereinkünfte von Arnoldshain (1957) und Leuenberg (1973). Heinz Otten ist in den Jahren 1936/37 viel unterwegs für die Theologie, die er in den Bonner Hörsälen Wolfs und Barths kennen gelernt hatte. Es nimmt daher nicht wunder, dass seine Vorträge oft auf Aufsätzen seiner ehemaligen Lehrer fußen. Otten wirkt – wie auch andere seiner theologischen Freunde – als ›Transmissionsriemen‹ Barthschen Gedankengutes in Ostfriesland und in reformierten Kontexten. »Wieviel die ostfriesischen Reformierten gerade in der Zeit der ›Bekennenden Kirche‹ Barth verdanken, sei nur an einem kleinen Beispiel veranschaulicht: In der Gemeinde Holthusen war das Zentrum der ostfriesischen Bekenntnisgemeinschaft. Sämtliche Prediger, die damals auf der dortigen Kanzel gestanden hatten, waren auf nahe oder doch nähere Weise mit Barth verbunden: D. Niesel, Paul Humburg (der Präses der Rheinischen Bekenntnissynode, der hier einige Zeit Unterschlupf fand), Karl Immer, Pastor Middendorf [sic!] (nach seiner Ausweisung aus Schüttorf), Udo Smidt, Walter Herrenbrück (der spätere Auricher Landessuperintendent, der Barth nach dem Krieg regelmäßig seinen ›Bezirksbruderbrief‹ nach Basel sandte), Heinz Otten, Heinrich Bokeloh (der dann ins KZ kam), Dr. Berends [muß heißen: Bernds] (der sein Zeugnis mit dem Leben bezahlen mußte).305 Was man bei Barth gelernt hatte, war wahrlich keine Studierstubenbeschaulichkeit. Wie hart jede theologische Erkenntnis im Dienst der Kirche steht und stehen muß, wird in dieser Zeit offensichtlich.«306 Thema der theologischen Arbeit der BK war immer wieder die Frage nach dem Wesen der Kirche,307 die man allein auf Christus gegründet sah; da die in Christus konstituierte Beziehung Gott-Mensch allein Got305

Zu der bewegenden Geschichte Heinrich Bernds’ (1901–1945) vgl. Karl Koch, Art. Bernds, Heinrich, in: BBKL XV (1999), S. 126-128; ders., Dr. Heinrich Bernds. Wirtschaftswissenschaftler und Theologe. Ein reformiertes Schicksal aus dem Kirchenkampf, in: Sigrid Lekebusch / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Historische Horizonte. Vorträge der dritten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 5), Wuppertal 2002, S. 265–278; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 260–273. 306 Finze-Michaelsen, Barth, a.a.O., S. 116. 307 Vgl. auch K. Fischer-Hupe, Der Kirchenkampfdiskurs nach 1945, a.a.O., die darauf verweist, dass es – anders als in der katholischen Kirche – innerhalb des Protestantismus mindestens zwei wirkmächtige Richtungen der frühen Kirchenkampf-Charakterisierungen gab, nämlich neben der des vermeintlich stark geschlossenen Abwehrkampfes gegen den Nationalsozialismus auch die der Niederlage des Kirchenkampfes, in der man aber beglückende Erfahrungen als »Kirche« hatte machen können.

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tes Tun ist (Offenbarung!), kann und darf Kirche von keinen anderen Ereignissen und Mächten, Gestalten und Wahrheiten – wie BarmenMai I formuliert – affiziert sein. Im Bekenntnis zu Christus als dem alleinigen Herrn musste die Ablehnung des staatlichen Totalitätsanspruches enthalten sein. Auch Ottens Dissertation über den Prädestinationsgedanken Calvins, die 1938 erscheint, hatte das Thema ›Kirche‹ mindestens implizit zum Inhalt: Wie kann es geschehen, dass einige Menschen glauben, andere hingegen nicht, m.a.W. woher rührt die Scheidung von Kirche und ›Welt‹ und so die von Erwählten und Verworfenen,308 denn wenig umstritten war seit der Alten Kirche, dass es außerhalb der rechten Kirche kein Heil gäbe.309 Deshalb wurde der Kampf um die Kirche derart energisch geführt – wenn auch nicht so radikal in reformiert Hannover, so doch im Rheinland u.a. Otten arbeitet in seiner akademischen Qualifikationsschrift heraus, dass Calvin eine zweifache Anschauung von der Prädestination habe: Zum einen ist sie »der ewige Ratschluß Gottes in Christus für die gefallene Menschheit« als Gedanke der Soteriologie, zum anderen »ist die Prädestination der ewige Ratschluß Gottes über die Menschheit überhaupt«310 als Gedanke der Gotteslehre. Gegen die damaligen Irrlehren behauptet Otten mit Calvin, dass »die Geschichte dieses Volkes [sc. Israel] als Heilsgeschichte der Weg der 308

Otten, Prädestination, a.a.O., S. 28f. Klaus Schwarzwäller, Das Gotteslob der angefochtenen Gemeinde. Dogmatische Grundlegung der Prädestinationslehre, Neukirchen 1970, S. 5–10, sieht die klassische Prädestinationslehre metaphysisch begründet: Sie sei »abgeleitet von einem allumfassenden Ordnungsrahmen«, so dass von dort aus »jede Frage nach dem Grunde beantwortet werden konnte.« (A.a.O., S. 6.10) Deshalb trat parallel neben den Gedanken der Erwählung auch der der Verwerfung. Diese Sicht ist unterdes revidiert, wird doch die Prädestination als Teil der theologischen Seelsorge an Verfolgten gesehen. Aus der umfangreichen Literatur zum Calvin-Jahr 2009, die die alte Anschauung von Calvins Prädestinationsverständnis korrigiert, sei hier nur genannt: Christian Link, Erwählung und Prädestination, in: Martin Ernst Hirzel / Martin Sallmann (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag (Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4), Zürich 2008, S. 139–157. 309 Das stand auch im Kirchenkampf in Geltung. Im Jahr 1936 formulierte Dietrich Bonhoeffer: »Extra ecclesiam nulla salus. Die Frage nach der Kirchengemeinschaft ist die Frage nach der Heilsgemeinschaft. Die Grenzen der Kirche sind die Grenzen des Heils. Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil. Das ist die Erkenntnis, die sich der wahren Kirche von jeher aufgezwungen hat. Das ist ihr demütiges Bekenntnis. Wer die Frage nach der Bekenntniskirche von der Frage nach seinem Seelenheil trennt, begreift nicht, daß der Kampf der Bekennenden Kirche der Kampf um sein Seelenheil ist.« Dietrich Bonhoeffer, Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft, in: ders., Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, hg. von Otto Dudzus u.a. (DBW 14), München 1996, S. 655–680, hier: S. 676f. – Die Heilsnotwendigkeit der (sichtbaren) Kirche ist auch in der reformierten Tradition zu finden: vgl. Calvin, Institutio IV, 1, 4. Auch Otten erinnerte an diese altkirchliche Erkenntnis, vgl. ders., Bekenntnis, a.a.O., S. 224. 310 Otten, Prädestination, a.a.O., S. 132.

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Kirche, ja jedes Glaubenden ist«311 und dass Gott seine Wahl allerdings nicht nach solchen Maßstäben wie »äußerer Besitz und Ansehen, ... [des Menschen] rassische, völkische und religiöse Zugehörigkeit«312 treffe. Otten kritisiert, dass Calvin seine Prädestinationslehre von einem Ansatzpunkt bei der Empirie her zu formulieren, also Antworten unabhängig von der Schrift zu geben versuche. Calvin habe »das Verhältnis von Kirche und Welt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt: ErwählungVerwerfung gesehen« und könne deshalb der Frage keinen Raum geben, ob »nicht vielmehr mit der Beschlagnahmung des einen Teiles der Menschheit für Gott in der Kirche ein Anspruch Gottes über die gesamte Menschheit gegeben sei: pars pro toto.«313 Obwohl die Schrift das Verhältnis von ›verworfen‹ und ›erwählt‹ »viel beweglicher und mannigfaltiger« darstellt,314 bleibt Calvin nach Otten ein Lehrer der Schrift, denn »sein entscheidendes Anliegen bei der Darstellung der Prädestination Gottes war, Gott den Menschen groß und herrlich zu machen. Das aber ist auch das Anliegen der Schrift.«315 Barth nimmt Ottens Arbeit als Band I in die neunte Reihe der »Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus« des Münchener Christian Kaiser-Verlages auf und setzt sich im Rahmen seiner Kirchlichen Dogmatik im Band II/2 mit der Arbeit seines Schülers auseinander.316 Gerrit Herlyn weiß am Ende des Jahres 1938 zu berichten, dass durch Ottens Buch das Thema ›Prädestination‹ »mehr in unseren Gesichtskreis gerückt wurde.«317 Zur selben Zeit erscheint die Dissertation Paul Jacobs’ über »Prädestination und Verantwortung bei Calvin«. »Beide Arbeiten, die sich auf das beste ergänzen, sind unabhängig voneinander geschrieben … [Man] beginne mit dem [Buch] von Otten … nicht nur deshalb, weil bei Otten jeder Calvin-Enthusiasmus fehlt, sondern weil er die Prädestination bei Calvin in ihrem Gesamtumfang flächenhaft behandelt.«318 Nach dreißig Jahren wird Ottens Arbeit neu aufgelegt. Ottens Doktorvater schreibt in einem Geleitwort: »Es ist ganz selten, daß einer Dissertation diese Auszeichnung widerfährt, und das hat seinen Grund darin, daß diese ebenso nüchterne wie theologisch

311 312 313 314 315 316

Otten, Prädestination, a.a.O., S. 44. Otten, Prädestination, a.a.O., S. 83. Otten, Prädestination, a.a.O., S. 29. Otten, Prädestination, a.a.O., S. 135. Ebd. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/2. Die Lehre von Gott, Zweiter Halbband, Zürich 31948, S. 38.43.49.92.137.367.369. 317 In: RKZ 88 (1938), S. 460. 318 Wilhelm Boudriot, Neue Beiträge zu Calvins Lehre von der Gnadenwahl, in: RKZ 89 (1939), S. 41–45, hier: S. 42.

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bewegte, ebenso präzise wie in den gewählten Grenzen erschöpfende Studie nicht überholt worden ist.«319 Während der Bemühungen um die Drucklegung der Doktorarbeit haben Heinz Otten und seine Frau eine »herrlich glückliche Zeit … besonders schön war es, als wir uns auf den kleinen Georg freuen durften.«320 Am 24. Dezember 1937 wird dem Ehepaar Otten sein Sohn Georg geboren. Das Glück scheint vollkommen. Doch plötzlich erkrankt die Mutter schwer: Sie infiziert sich Mund und Hals an der Milch einer an Maul- und Klauenseuche erkrankten Kuh. Wochenlang hoffen die Gemeinde und ein großer Freundeskreis mit Heinz und Marie-Luise Otten auf Genesung, aber vergebens: Am 6. Februar 1938 stirbt die junge Mutter im Alter von nur 27 Jahren schließlich an einer Lungenembolie. »Nicki ist in den Jahren seit 1930 bis zu ihrem Tod mir alles gewesen, was ein Mensch und besonders eine Frau einem anderen sein kann.«321 Und plötzlich gelten für Otten dieselben Worte, die er einem zum Witwer gewordenen Freund weniger als ein Jahr zuvor geschrieben hatte: »Du weißt genau so gut wie ich, daß wir Menschen uns angesichts der Todesmacht nicht trösten können, daß wir aber gerade dann einen Gott des Trostes und einen Vater der Barmherzigkeit haben [vgl. 2. Korinther 1,3] … Gottes Wege mit den Menschen sind oft dunkel und unserer Einsicht verschlossen. Das mußt Du jetzt schmerzlich erfahren.«322 Die große Anzahl an Beileidsbriefen, die einmal mehr zeigen, wie viele Menschen sich mit den Ottens verbunden wussten, erreicht Otten nicht in Großwolde, muss er doch für einige Wochen Urlaub nehmen, den er im Hause seiner Schwiegermutter in Emden verbringt. Auch der frühere Bonner Lehrer Barth meldet sich aus Basel: Lieber Herr Pastor Otten! Viel Gedränge liess mich bis jetzt nicht dazu kommen, Ihnen zu dem Verlust, der Sie so plötzlich und so schwer getroffen hat, ein Wort zu schreiben. Sie werden es auch heute noch annehmen und es mir und uns Allen glauben, dass die Todesnachricht, die Sie uns schicken mussten, uns sehr bewegt hat. Ihre liebe Frau steht mir von Bonn her noch so deutlich vor Augen und wenn es nicht der Beginn war, so war es doch ein gutes und für Sie beide sicher schönes Stück Ihrer Verlobungs319

Ernst Wolf, Geleitwort, in: H. Otten, Prädestination (ND Neukirchen-Vluyn 1968), a.a.O., S. 6. – Ein so bekannter Calvin-Forscher wie Christian Link etwa nennt im Zusammenhang mit der unter Barths Einfluss »eingeleiteten Wende der Calvin-Forschung« drei Namen: Peter Barth, Wilhelm Niesel und Heinz Otten; vgl. Christian Link, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 55. Auch noch im Calvin-Jahr 2009 wurde der Wert dieser Untersuchung dokumentiert, vgl. Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 543. 320 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. 321 Ebd. 322 Brief Ottens an Egbert Risius, 13. Mai 1937.

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geschichte, was sich damals mitten in all dem Ernst und der Freude jener für uns Alle so gefüllten Zeit abgespielt hat. Es hat uns Alle mit grossem Schmerz erfüllt, hören zu müssen, dass das, was sich damals so fröhlich und hoffnungsvoll anbahnte, nun für dieses Leben ein so rasches Ende finden musste. Und nun werden Sie mit einer grossen Einsamkeit konfrontiert sein, in der Ihnen der erlittene Schmerz erst ganz zum Bewusstsein kommen wird. Wir denken an Sie. In dem, was Sie und uns in dieser und in all den andern Dunkelheiten dieser Zeit tröstet und aufrichtet, sind wir einig und wollen wir einig bleiben. Gott behüte Sie auf Ihrem weiteren Weg. Ich werde mich immer freuen, von Ihnen hören zu dürfen. In zwei Stunden besteige ich den Nachtschnellzug, der mich über Calais nach London, dann nach Oxford zu einem Vortrag bringen soll. Dann werde ich für 14 Tage in Aberdeen sein, um dort die zweite Hälfte der Gifford-Lectures323 zu halten. Ob ich wohl auch wieder einmal in Deutschland zu Worte kommen darf? Seien Sie herzlich gegrüsst von uns Allen – Fräulein von Kirschbaum bittet mich, Ihnen einen besondern Gruss zu sagen – und von Ihrem [gez. Karl Barth]«324 Im Laufe des Frühjahrs kehrt Otten ins Pfarramt zurück. Das »Amt mit seinen Pflichten [ist mir] eine große Hilfe gewesen. Es ist mir heute noch groß, mit welchem Takt mir die einfachen und einfältigen Menschen der Gemeinde dann begegneten, als ich Anfang März meinen Dienst wieder aufnahm – das wirkte sich bis in den Konfirmandenunterricht aus.«325 Als Otten Jahre später 1941 in einem Brief an den Kirchenrat Rückschau auf die vergangenen fünf Jahre in der Gemeinde hält, weiß er zu sagen: »Wie aber in den Tagen und Wochen des schweren Leids die Gemeinde zu mir gestanden und mein Leid mitgetragen hat, das hat mich ganz besonders mit Großwolde verbunden.«326 Noch im Jahre 1938 zieht Ottens ältere Schwester Luise zu ihrem Bruder, um den kleinen Sohn Georg zu versorgen; so kann dieser trotz des Verlustes der Mutter in geordneten familiären Verhältnissen aufwachsen. »Er hat von seiner Mutter mit den schönen großen blauen Augen auch das frohe 323

Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560 gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zollikon 1938. – In der 19. Vorlesung interpretiert Barth unter dem Titel »Der politische Gottesdienst« den Artikel 24 des Schottischen Bekenntnisses und bejaht ein Widerstandsrecht der Kirche (»tyrannidem opprimere«). 324 Brief Barths an Otten, 2. März 1938 (im Original fälschlicherweise: 1937) (KarlBarth-Archiv, Basel). 325 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. 326 Brief Ottens an KR Großwolde, 6. September 1941 (Akte Großwolde, Archiv ErK, Leer).

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Herz. Und so ist er ein ganz besonders sonniges Kind, an dem wir viel Freude hatten und haben.«327 Freunde raten ihm, sich wieder ganz der wissenschaftlichen Arbeit zuzuwenden. Aber er mag es nicht wagen: »Zur Wissenschaft zurück? Was heißt das? Die Wissenschaft lebt doch auch noch wohl außerhalb der Universität und ihr meine ich immer noch zu dienen. Und wann wird sie überhaupt nur noch außerhalb der Uni leben können?328 … Ich habe durch meine Lehrer Barth und Wolf einen solchen Respekt vor dem Wissen und Können des Hochschullehrers, daß ich genau und ohne falsche Bescheidenheit weiß, daß mein Verstand dazu nicht ausreicht.«329 Daneben ist sich Heinz Otten aber auch bewusst, dass durch seine »theologische und politische [!] Einstellung der Weg zur Universität unmöglich« ist.330 Nicht zuletzt durch die Theologie Karl Barths wurde Otten ein politischer Opponent des nationalsozialistischen Staates. Sein Wunsch wäre es nun gewesen, etwas Vergleichbares wie die bis 1937 betriebene Vikarsfortbildung wieder aufzunehmen. Dass auch daraus nichts wird, lässt ihn nicht verzagen, zumal er sich in der Rolle des Pastors gut zurechtfindet. »Es ist eine merkwürdige – oder doch nicht merkwürdige Tatsache, daß der evangelische Pastor durch den Kirchenkampf bei der Mehrheit des Volkes an Vertrauen gewonnen hat. Es sind durch die Dinge, die in Deutschland mit der Kirche geschehen, so manche Vorurteile und Verdächtigungen gegen die Pfaffen ausgeräumt worden, so daß wir in den Augen des Volkes keine Pfaffen mehr sind.«331 Unterdes gab es in der Schweiz einen Briefwechsel, der Ottens Leben eine ganz neue Richtung hätte geben können: Der Direktor des ökumenischen Seminars des »Universal Christian Council on Life and Work« in Genf, Adolf Keller, der auch den Posten eines Generalsekretärs für Außenarbeit bekleidete, teilt Barth Ende Juni 1938 mit, dass eine ansehnliche alte orthodoxe presbyterianische Fakultät in Amerika Kandi327 328

Brief Ottens an Gesine [Agena?], 21. August 1940. Es gab ab 1933 neuheidnische Polemik gegen den Bestand der konfessionellen theologischen Fakultäten in Deutschland. Staatliche Behörden versuchten zunächst die Fakultäten zu schwächen, etwa durch Nicht-Wiederbesetzung von Lehrstühlen oder durch Zusammenlegungen von Fakultäten. Seit 1937 gab es ernsthafte Sorgen um die theologischen Fakultäten, ab 1938 kann vom einem »institutionellen Überlebenskampf« gesprochen werden, vgl. Meier, Fakultäten, a.a.O., S. 436–465. Der erhöhte Druck auf die Kirchen und kirchliche und theologische Institutionen spiegelt sich auch in den 1938 und 1939 sprunghaft angestiegenen Austrittszahlen wider, vgl. für die reformierte Landeskirche: Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Lucian Hölscher unter Mitarbeit von Tillmann Bendikowski u.a., Band 1: Norden, Berlin / New York 2001, S. 322. 329 Brief Ottens an Gesine [Agena?], 21. August 1940. 330 Ebd. 331 Ebd.

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daten für die Besetzung eines theologischen Lehrstuhls suche. Wenige Tage später antwortet Barth, sich zweier seiner deutschen Schüler erinnernd: Zwar sollten gerade die tüchtigen Theologen den deutschen Kirchen nicht weggenommen werden, »doch könnten aus dem weniger beunruhigten Ostfriesland zwei Leute in Betracht kommen, die ich beide als wissenschaftlich und kirchlich tüchtig kenne: Pfarrer Lic. Alfred Göhler in Emden und Pfarrer Lic. Heinz Otten in Großwolde.«332 Soweit bis heute bekannt, haben Göhler und Otten weder etwas von diesem Vorschlag Barths erfahren noch hat es eine Kontaktaufnahme seitens ›Life and Work‹ gegeben. So ist dann auch aus dieser Möglichkeit neuer beruflicher Existenz, die in einem solchen Wechsel für Otten relativ kurz nach dem Tode seiner Frau bestanden hätte, nie Wirklichkeit geworden. Neben seinen Pflichten als Gemeindepastor und Vater versucht Otten nun weiter für die Gesamtkirche zu wirken: Er verstärkt sein Engagement im ostfriesischen Coetus, zu dessen Schriftführer er am 7. November 1938 gewählt wird,333 hält des Öfteren Vorträge auf Ältestenkonferenzen und Coetus-Versammlungen, schreibt für das reformierte Sonntagsblatt, veröffentlicht im Sommer 1938 drei Andachten und eine Rezension in der RKZ und erarbeitet einen zweiteiligen Aufsatz »Die Taufe im Neuen Testament und die Ordnung unserer Taufpraxis gemäß den Bekenntnisschriften und Ordnungen unserer reformierten Kirche«. Der erste Teil wird am 5. Februar 1939 in der RKZ abgedruckt, zur Publikation des zweiten Teiles kann es dann nicht mehr kommen, da die RKZ verboten wird.334 Auf theologischen Konferenzen trifft Heinz Otten Freunde und Lehrer. Im Jahr 1938 kommt er noch einmal mit Günther Dehn zusammen.335 Auch nimmt er den Briefkontakt zu alten Freunden aus seiner 332

Brief Barths an Keller, 5. Juli 1938 (Karl-Barth-Archiv, Basel). – Göhler hatte, möglicherweise mit Unterstützung Barths, 1930 ein Stipendium für Edinburgh erhalten, wäre also der Sprache mächtig gewesen; vgl. Brief Barths an Charlotte von Kirschbaum vom 12. September 1930, in: Barth / von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925– 1935, a.a.O., S. 153–156, hier: S. 154. 333 Coetus-Protokollbuch, 7. November 1938 (Archiv des Coetus, JaLB Emden). 334 Die Andacht vom 26. Juni 1938 über Genesis 2,1–3 hatte Otten schon als Predigt am 28. Juni 1936 in Hannover gehalten. Die Auslegungen über Johannes 11,1–4 und 5–11 vom 19. Juni bzw. 3. Juli 1938, die auch im Sonntagsblatt erschienen, sind offensichtlich ›Verarbeitungsversuche‹ des Todes seiner Frau. Der Taufaufsatz ist abgedruckt in: RKZ 89 (1939), S. 85–89. – Zum Verbot der RKZ, vgl. W. Niesel, Der Reformierte Bund, a.a.O., S. 45. 335 Brief Ottens an H. Mörchen, 21. August 1940; so auch von Hermann Klugkist Hesse für den 15. Juli 1938 festgehalten, vgl. Abrath, Subjekt, a.a.O., S. 330, vgl. S. 168. Es handelt sich dabei um eine in aller Heimlichkeit stattfindende kleine Konferenz in Utrecht mit Karl Barth. Es nahmen von Ottens Freunden teil: G. Dehn, H. Gollwitzer, B. Locher, K.G. Steck, insgesamt 15 deutsche Pfarrer. Vgl. Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1933–1939. Darstellung und Dokumentation, München 1969, S.

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Bonner Zeit wie Werner Koch, Helmut Gollwitzer336 und Fritz Schipper337 wieder auf. Otten sieht sich also um den Jahreswechsel 1938/1939 durch vielfältige Aktivitäten eingespannt und hätte wieder hoffnungsvoller ins neue Jahr schauen können, wenn es nicht den Krisenherbst 1938338 gegeben hätte. Davon offensichtlich geprägt, predigt er am 1. Januar 1939 seiner Großwolder Gemeinde: »Wir Menschen schauen in das Jahr 1939 mit Augen v[oller] Sehnsucht, mit Augen v[oller] Erwartung und mit einem Herzen v[oller] Hoffnung: Wird das Jahr 1939 für diese unsere Erwartung, Sehnsucht und Hoffnung ein Jahr der Erfüllung – diese Frage brennt in unseren Herzen und leuchtet aus unseren Augen. Es sind menschlich-irdische Hoffnungen und Erwartungen, mit denen wir dem Jahr 1939 entgegensehen! … Dürfen wir hoffen und erwarten, daß im vor uns liegenden Jahr die Kriegswolken und unheilvollen Spannungen verfliegen und eine wirkliche Verständigung der Völker eintritt? Wird das Jahr 1939 unsere Sehnsucht und Hoffnung nach einem wirklichen Frieden und einer wirklichen Verständigung der Völker Europas erfüllen? Also ein Jahr der Erfüllung, weil ein Jahr, in dem die Völker miteinander in Eintracht und Verständigungsbereitschaft leben?«339

216 (wo »August« in »Juli« zu korrigieren wäre); Ger van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität. Die evangelischen Niederlande und der deutsche Kirchenkampf 1933– 1942 (Studien zur Zeitgeschichte 24), Stuttgart 1983, S. 87f. 336 Vgl. Karte Ottens an Ch. von Kirschbaum, 6. Februar 1939 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Der umfangreiche Nachlass H. Gollwitzers, der sich im EZA Berlin befindet, enthält mutmaßlich noch zahlreiche wichtige Dokumente aus diesem Freundeskreis. 337 Vgl. Brief Ottens an Ch. von Kirschbaum, 1. Januar 1940 (Karl-Barth-Archiv, Basel). Otten schrieb an Barths Mitarbeiterin, weil der direkte Kontakt zu Barth zu gefährlich war. In diesen späten Briefen nennt Otten Barth »Herrn Alban« (nach dem Straßennamen in dessen Adresse). Barths und von Kirschbaums Briefe an Otten hat Luise Otten vernichtet, als ihr Bruder zur Wehrmacht eingezogen wurde. Im Nachlass Ottens findet sich aber noch genug ›Samisdat‹-Literatur, wie z.B. Barths berühmter Hromádka-Brief von 1938. Das Abschreiben und Weiterleiten von Briefen und anderer Kleinliteratur verbotener Autoren ist als eine Form von Resistenz zu werten, durchbricht es doch das Informationsmonopol des totalitären Staates. Entsprechend hart reagierten die Behörden, wenn bei Hausdurchsuchungen etwa Barth-Schriften gefunden wurden. 338 Vgl. zu Barths Rolle im Herbst 1938 Martin Rohkrämer, Karl Barth in der Herbstkrise 1938, in: EvTh 48 (1988), S. 521–545. Barth hatte in einem Brief an Josef Hromádka vom September 1938 den Widerstand des tschechischen Volkes gegen HitlerDeutschland auch als Kampf für die Kirche Jesu Christi bezeichnet; die 2. Vorläufige Kirchenleitung hatte angesichts der Kriegsgefahr eine Gebetsliturgie erarbeitet, die dann – nicht zuletzt von lutherischen Landesbischöfen – als defätistisch kritisiert wurde, vgl. Karl Barth, Offene Briefe 1935–1942, hg. von Diether Koch, Zürich 2001, S. 107–133; Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, a.a.O., Nr. 226–230, S. 454–461. 339 Predigt Ottens am 1. Januar 1939 über Lukas 4,16–21. Demnach war Otten dem ›Frieden‹ der Münchner Konferenz gegenüber skeptisch eingestellt.

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Große Ereignisse sind für Otten bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht nun nicht mehr festzustellen, aber in dieser Zeit zeigt sich, was das Otten-Bild seiner Zeitgenossen prägen sollte: pastoraler Dienst in der Gemeinde und Verantwortung für die ganze Kirche. Dazu zählen sowohl die Predigttätigkeit auch über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus, seine intensive seelsorgerliche Begleitung der Gemeinde durch zahlreiche Hausbesuche wie auch seine Mitarbeit in einer Agendenkommission und die gemeinsam mit seinem Amtsbruder Gerrit Herlyn unternommene Ausarbeitung eines neuen Konfirmationsformulars, welches 1939 in den Dörfern Großwolde und Ihrenerfeld eingeführt wird, in dem die Jugendlichen nicht mehr nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem erworbenen Wissen gefragt werden. Die Gültigkeit des Alten Testamentes wird ebenso betont wie die Gleichheit aller Menschen und die Exklusivität des Heilsempfanges in Jesus Christus.340 Zwar wird Otten am 8. Juni 1939 für die Südpfarrstelle der reformierten Gemeinde Wesermünde-Lehe gewählt, doch kommt es wohl wegen des Kriegsbeginns am 1. September zu keinem Wechsel mehr; dabei steht Anfang 1940 fest, dass der Emlichheimer Pastor Dietrich de Boer341 die Pfarrstelle Großwolde übernehmen soll. Zwei Jahre später wird Heinz Otten aus dem Krieg heraus den Landeskirchenrat bitten, ihn auf Grund seiner tiefen Bindungen an die Menschen in Großwolde zu belassen. Von dem früheren Verständnis für Hollwegs Position ist nun bei Otten nicht mehr viel geblieben. Hollweg hatte im Mai 1939 auf der ›Kirchenführerkonferenz‹ eine – abgeschwächte – Erklärung des Kirchenministers Hanns Kerrl unterschrieben, in der man sich nicht nur verpflichtete, das »völkisch-politische Aufbauwerk des Führers« zu unterstützen, sondern betonte, dass christliches Leben des von Gott geschaffenen Volkstums bedürfe und eine »verantwortungsbewußte Rassenpolitik« zur »Reinerhaltung« des Volkstums erforderlich sei. Der Auricher Landessuperintendent gehörte wenig später zu den wenigen ›Kirchenführern‹, die die unveränderte schärfere Fassung unterschrieben: Die nationalsozialistische Weltanschauung bestimme den deutschen Menschen und sei für den christlichen deutschen Menschen verbindlich; nur so und nur innerhalb des »Volkstums« könne sich christlicher Glaube kraftvoll entfalten.342 Für Otten hatte Hollweg damit die Kirchenge340 341

Kopie des Formulars dem Vf. von Gerrit Herlyn überlassen. Zum Schicksal de Boers vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 46f.; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 253–256. 342 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 42f.; Wever, Stumme Hunde, a.a.O., S. 277f.; Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, a.a.O., Nr. 238f., S. 470–477. – Otto Weber, von dem sich Hollweg sonst gelegentlich beraten ließ (vgl. Georg Plager, Die ev.ref. Landeskirche Hannovers und Otto Weber von 1933 bis 1945, in: ders. [Hg.], Otto Weber: Impulse und Anfragen. Beiträge des Otto-Weber-Symposiums in Emden aus

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meinschaft verlassen. Unter dem 11. September 1939 schreibt er seinem Doktorvater Ernst Wolf nach Halle: »Vielleicht haben Sie gehört, daß zusammen mit Marahrens auch unser Hollweg die ›Grundsätze‹ unterschrieben hat. Wir haben dagegen einen zahlreich unterschriebenen Protest losgelassen; aber trotzdem hat unser Landeskirchentag, der Mitte August tagte, der Unterschrift [Hollwegs] zugestimmt und Hollweg auf weitere 12 Jahre gewählt. Ich habe in dieser Angelegenheit noch einen ärgerlichen Briefwechsel mit Hollweg gehabt. Gewiß haben wir heute schon wieder andere und auch wohl dringendere Sorgen; aber es bedrückt uns alle diese Unterschrift doch sehr gerade angesichts unseres Dienstes in der gegenwärtigen Lage. Die Erwägung mag wohl müßig sein – aber ich sehe jetzt auch keine Möglichkeit mehr, in der Agendenkommission weiter mitzuarbeiten. Denn die kirchliche Gemeinschaft, die meines Glaubens immer noch vorhanden war, ist nun nicht mehr da; und wo die Theologie zu einer Theorie wird, bei der man immer auch anders kann, da ist für mich kein Raum zur theologischen Arbeit. Denn Hollweg kann die Unterschrift nur geleistet haben, indem er seine Theologie solange an den Nagel [hängte].«343 Unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens stehend, hält Otten auf einer Ältestenkonferenz im Frühjahr 1940 den Vortrag »Von den letzten Dingen«, bevor er am 6. Mai zur Wehrmacht eingezogen wird.344 Da er bei der Musterung »Augenschwäche« angibt, wird er dem Heer und nicht – wie zu erwarten gewesen wäre – der Schreibstube zugeordnet. Zunächst belegt Ottens Kompanie verschiedene Kasernen in Norddeutschland; seine Rekrutenzeit übersteht er für ihn selbst überraschend gut. Aber in Briefen schildert er seine Lage und Stimmung alles andere als kriegsbegeistert: »Man ist dem geistigen Leben radikal entzogen und die Gefahr der Verblödung und des Verstumpfens ist wirklich groß … Das ist überhaupt eine erschreckende Erfahrung meiner Militärzeit, daß der Mensch gut – vielleicht sogar besser?! – ohne das Wort Gottes leben kann … Ich nehme an, daß nach einem siegreichen Krieg die Zahl derer, die zur Kirche halten und beim Wort bleiben, erschreckend klein sein wird, selbst in unseren kirchlichen Gegenden … Grau wie die Erde ist unser Kleid, singen wir.«345 Auch seine Gedanken über den Anlaß seines einhundertsten Geburtstages (EBzrP 6), Wuppertal 2002, S. 33–54), hat hier wohl nicht zugeraten, zeigte er sich doch eher reserviert, vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 213f. 343 Brief Ottens an Wolf, 11. September 1939 (Nachlass Ernst Wolf). 344 Vgl. Brief Ottens an Ch. von Kirschbaum, 5. Mai 1940 (Karl-Barth-Archiv, Basel). 345 Brief Ottens an Wolf, 9. August 1940 (Nachlass Ernst Wolf). Fast wortgleich äußert sich Otten in einem Brief an den Landessuperintendenten Walter Hollweg, 4. Oktober

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Kriegsverlauf gibt Otten brieflich wieder: »Manchmal denke ich, daß man mit einer noch größeren Ausdehnung des Kriegsschauplatzes [rechnet] und darum all die Menschen unter den Waffen behält … ich sehe mich schon im Geist irgendwo in Asien auf Posten stehen. Zudem ist auch das nach Westen immer weiter vordrängende Rußland ein unsicherer Nachbar; wir bauen wohl nicht umsonst an einem Ostwall. Ich glaube, wenn wir mit England fertig sind, kommt die Abrechnung mit Rußland. Aber das sind alles Vermutungen. Die Stimmung unter uns Soldaten ist z.Zt. so, daß alle vom Krieg genug haben und nach Haus möchten … Aber ich glaube nicht, daß wir so schnell nach Haus kommen.«346 Während der Zeit in norddeutschen Kasernen nutzt Otten die Wochenenden, seine Freunde Fritz Schipper in Bremen und Heinz Kloppenburg (1903–1982)347 in Oldenburg zu besuchen, ebenso seinen Doktorvater (»meinen Lehrer und Freund«348) Ernst Wolf in Halle, durch den er mit den Studienfreunden Helmut Gollwitzer und Hellmut Traub Verbindung hält. Auch hatte Otten erneut Kontakt zu der Frau eines Freundes aus seiner Zeit als Studieninspektor 1933/1934 in Halle gefunden. Da der Freund – Siegfried Mörchen – gefallen war, lebte Hilde Mörchen, geb. Ott, allein mit ihren Kindern in Rathmannsdorf in Anhalt. Mit ihr wechselte Otten noch viele Briefe, verlobte sich mit ihr und plante, seinem Kind und ihren Kindern ein Aufwachsen als Familie zu ermöglichen, aber eine für Ende 1942 geplante Ferntrauung kam dann nicht mehr zustande. Während des Jahres 1941 gehört Otten den Besatzungstruppen in Frankreich an; hier verrichtet er vor allem Telefondienste. Obwohl nicht direkt ins Kriegsgeschehen verwickelt – es bleibt sogar Zeit für einen Wochenendurlaub in Paris –, »wünschen wir alle je länger je mehr das Ende des Krieges herbei. Daß wir den guten französischen Weinen, Sekten, Kognaken und Liqueuren hin und wieder gerne und tüchtig zusprechen, ist wohl auch eine Folge unserer Sehnsucht und des Überdrusses an diesem Leben. Aber der Krieg geht weiter und immer mehr 1940 (LKA Leer Generalia 40.2.38 II: Kriegsbriefe von Pastoren an den Landessuperintendenten Dr. Hollweg 1939–1945, Vol. II). 346 Brief Ottens an H. Mörchen, 15. August 1940. Otten spricht hier im Soldatenjargon. Dass er keine »Abrechnung mit Russland« wollte, erhellt aus seinen 1933 gemachten Bemerkungen zur deutschen und russischen Revolution und den nun folgenden Briefen aus dem Krieg. 347 Zu Kloppenburgs bewegter Biographie als lutherischer Barth-Schüler, Leiter der oldenburgischen BK, späterer Ökumeniker und Linksprotestant vgl. Hannelore Braun, Art. Kloppenburg, Heinrich Ferdinand Otto (genannt Heinz), in: BBKL IV (1992), S. 73–78. 348 So im Brief Ottens an Landessuperintendent Hollweg, 2. Dezember 1940 (LKA Leer Generalia 40.2.38 II: Kriegsbriefe von Pastoren an den Landessuperintendenten Dr. Hollweg 1939–1945, Vol. II).

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Länder werden davon betroffen, merkwürdigerweise immer mit der Begründung, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern.«349 Hatte Otten noch am 17. November 1941 an Wolf geschrieben, wie dankbar er sei, nicht im Osten sein zu müssen, beginnt das neue Jahr 1942 mit dem Anfang vom Ende: Durch eine tagelange Reise in Güterwaggons gelangt Otten mit weiteren Kameraden im Januar zur Ostfront. Nach schweren Gefechten bei Witebsk wird das Regiment für drei Wochen bei -30°C eingeschlossen. In einem Brief an Ernst Wolf berichtet Otten aus dieser Hölle: »Draußen fegt ein eisiger Schneesturm, hier drinnen aber ist es gemütlich warm. Ich will die Stunden der Ruhe benützen, um Ihnen ein Lebenszeichen zu schicken. Wir haben in den letzten Wochen Fürchterliches erlebt. 20 Tage waren wir von einer starken russischen Übermacht in einer kleinen Stadt östlich von Witebsk eingeschlossen. Dem Russen war es gelungen, im ersten Ansturm die halbe Stadt zu erobern, so daß wir auf einem Raum von kaum 1 qkm zusammengedrängt waren. Er besaß die günstigere Stellung, hatte auch Artillerie, während unsere schweren Waffen aus Mangel an Munition schweigen mußten. Wir hatten nur Pferdefleisch und das, was uns die Flugzeuge abwarfen. Unsere Verluste waren ganz eingefroren, ich bin bislang noch ganz wunderbar unversehrt geblieben. Am 17. [Februar] gelang es heranrückenden Truppen, eine Bresche in den Ring zu schlagen. Seitdem ist die Stadt ganz in unserer Hand und die Zufahrtsstraße ist frei. Der Russe belagert uns aber noch immer und belegt uns nachts mit Bomben. Seine Angriffe sind zwar seltener, dafür beschießt er uns aber mit Artillerie. Der Krieg hier wird mit furchtbarer Brutalität ohne jede Spur von Humanität und auch ohne jeden Idealismus geführt. Es ist ein grausiges Morden – schrecklich vor allem auch für die noch vorhandene Zivilbevölkerung. Im Zusammenhang der Kämpfe, die zu unserer Einschließung führten, ist auch unser Divisionspfarrer Brinkmann aus Hannover gefallen. Was ich auf der Fahrt und dem Marsch hierher an Land und Leute gesehen habe, ist anders, als unsere Zeitungen berichten. Haben Sie gehört, daß auch Martin Immer, Sohn des Emder [Pastor] Immer, im Osten gefallen ist? Von Harald Diem schrieb mir auch Kloppenburg. Wann wird unser Morden mal ein Ende nehmen?«350

349 350

Brief Ottens an Wolf, 14. Juni 1941 (Nachlass Ernst Wolf). Brief Ottens an Wolf, 13. März 1942 (Nachlaß Ernst Wolf). Harald Diem, Bruder des nachmaligen Tübinger Professors für Systematische Theologie und Kirchenordnung, Hermann Diem, fiel 1941. Vgl. auch Renate Brandt, Hermann Diem (1900–1975) und Harald Diem (1913–1941), in: Rainer Lächele / Jörg Thierfelder (Hg.), »Wir konnten uns nicht entziehen«. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg, Stuttgart

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Im Oktober 1942 ist Heinz Otten im Front-Urlaub in Großwolde, wo er sofort zu predigen beginnt und die Familien der Kirchengemeinde besucht. Am letzten Sonntag im Oktober legt er der Gemeinde den 93. Psalm aus: Bei allem Brausen der das lebensbedrohende Chaos symbolisierenden Wasserwogen ist Gott dennoch mächtiger. Als Lesung wählt er die Perikope von der Stillung des Sturmes aus: Jesus gebietet über Wind und Meer und erweist sich so als der Herr. Am 6. November hat sich Otten an der Grenze zurückzumelden, von wo es direkt wieder zur Front geht. Kurz vor seiner Abreise soll er einem Freunde gegenüber geäußert haben: »Die Tragik meines Lebens ist es, daß ich nun als Kulturdünger des Rosenbergschen ›Mythus des 20. Jahrhunderts‹ in der Ukraine liegen werde.«351 Seine Lage an der Front schildert Otten im letzten von ihm erhaltenen Schriftstück, einem Brief an seine Verlobte: »Heute sind wir schon wieder mal umgezogen, zwar nur auf einen benachbarten Stützpunkt, aber immerhin mit all den Unbequemlichkeiten des Umzuges. Ich bin den ganzen Tag herumgelaufen, um in diesem überfüllten Stützpunkt noch Unterkünfte für die Männer zu bekommen. Am unsympathischsten ist mir dabei, wenn ich russische Zivilisten aus ihren Wohnungen austreiben muß. Dabei wundere ich mich immer wieder, mit welcher Geduld oder besser Gleichmut die Menschen hier solche Ausweisungen über sich ergehen lassen. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht so an ihren Häusern hängen wie wir. Ist das eine Folge bolschewistischer Erziehung oder ist das die russische Seele …? Was meint man in der Heimat zu den Vorgängen in Afrika?352 Wir haben gestern leicht [?] gehöhnt, als in den Erläuterungen zum Wehrmachtsbericht von unseren erfolgreichen Operationen in N[ord]-Afrika gesprochen wurde!! Und solch Redeweise, nachdem man 3 Jahre lang über die ›erfolgreichen‹ Rückzüge der Engländer gehöhnt hat!«353 Als Ottens Verlobte diesen Brief am 5. Dezember erhält, lebt Heinz Otten schon nicht mehr. Am 26. November ist er bei Welikije Luki so schwer verwundet worden, dass er in der darauf folgenden Nacht stirbt. Am 12. Dezember hat die Familie einen letzten Brief erhalten und musste bis zum 6. Februar 1943 in Ungewissheit warten, bis die Todes-

1998, S. 481–504. – Die Stadt Witebsk ist der Geburtsort Marc Chagalls; auf zahlreichen Bildern hat er Teilansichten oder Anspielungen auf das dortige Schtetl integriert. 351 Dies ist ein nicht zu belegendes, kolportiertes Zitat in den Familien von Ottens Freunden. 352 Am 7. November 1942 hatte die Landung der Alliierten in Nordafrika begonnen. 353 Brief Ottens an H. Mörchen, 21. November 1942.

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nachricht eintraf. Dieser 6. Februar war der fünfte Todestag Marie-Luise Ottens. Während Ottens Familie in der Todesanzeige nur vom Vaterland spricht, für welches Heinz Otten gestorben sei, heißt es im Gesetzblatt von reformiert Hannover vom 13. Februar in einer Todesanzeige, die zwei Freunde noch einmal zusammen nennt: »Es starben den Tod für Führer, Volk und Vaterland: Leutnant d.R. Lic. Heinz Otten … Feldwebel Friedrich-Wilhelm Rethmeier.«354 Am 21. Februar 1943 hält P. Hermann Züchner die Trauerandacht für Otten in Großwolde über die drei Männer im Feuerofen aus dem Danielbuch; diesen Text hatte sich Otten in einem Brief an Züchner für seine Trauerandacht gewünscht. Im Frühjahr 1943 schloss sich die Kirchenleitung und die BG von reformiert Hannover dem ›Einigungswerk‹ des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm an;355 man anerkannte gemeinsam seine 13 Sätze über »Auftrag und Dienst der Kirche«, die Ostern 1943 bekannt gegeben wurden. Der ›Staatsfeind‹ Karl Barth gehörte nach dem Krieg zu den ersten Ausländern, die die ehemaligen Feinde zur Hilfe für das deutsche Volk aufriefen und die Deutschland wieder besuchten. Anlässlich »einer Tagung der Gesellschaft für evangelische Theologie in Papenburg [kommt es 1946 für Karl Barth] zu einem Wiedersehen mit vielen Freunden unter den ostfriesischen Reformierten.«356 Heinz Otten jedoch ist nicht mehr dabei. Und obwohl der ehemalige KZ-Häftling Martin Niemöller die Verantwortlichen der Kirche, die kein Auge für die nationalsozialistischen Verbrechen außerhalb der Kirche hatten, zum Rücktritt aufforderte, blieben beispielsweise Marahrens, Meiser und Hollweg im Amt, obwohl letzterer sogar ganz energisch von der BG zu einem Verzicht auf sein Amt gedrängt wurde.357 Auch in reformiert Hannover ging man, wenn 354

Abgedruckt in: Barmen. Erfahrungen und Dokumente. Ruf zur Umkehr, Ruf nach vorwärts. Ein Lese- und Arbeitsbuch für die Gemeinden der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, hg. von Hermann Schaefer und Dietrich Burggraf, Leer 1984, II/56. 355 Vgl. Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 44; Herbert, Kirchenkampf, a.a.O., S. 247ff.; Thierfelder, Einigungswerk, a.a.O., S. 265–269; Hermle/Thierfelder, Herausgefordert, a.a.O., cap. 4.9, S. 595–602. 356 Finze-Michaelsen, Barth, a.a.O., S. 117. 357 Middendorff, Kirchenkampf, a.a.O., S. 181f. A.a.O., S. 178–182, ist eine rückschauende Rede Middendorffs auf dem Landeskirchentag am 15. Oktober 1946 abgedruckt; zwei Tage später wählte der Landeskirchentag ihn zum Kirchenpräsidenten. Auf die Rede Middendorffs sei nachdrücklich verwiesen. Allerdings wird dort übergangen, dass im so genannten »Geistlichen Synodalbericht« – wohl aus der Feder Walter Herrenbrücks stammend – der Landeskirchentag ein außerordentlich tapferes und demütiges Wort zur eigenen Schuld der Landeskirche abgegeben hat, und dann auch die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnisschrift angenommen hat, vgl. Kirchliches Gesetz-

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auch nicht nahtlos, so aber doch ohne grundsätzliche Veränderungen vom ›Dritten Reich‹ in die Nachkriegszeit über. Nicht die institutionelle Kirche wurde durch die Aufnahme in die BG reformiert, sondern einige Personen der BG wurden in die kirchlichen Leitungsgremien aufgenommen. Die Zusammensetzung der Synoden änderte sich dagegen stärker. Immerhin hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von Landeskirchenvorstand und Bekenntnisgemeinschaft am 4. Februar 1946: »Der Landeskirchenvorstand steht nicht an, zuzugeben, dass er im Drang des Kampfes um den äusseren Bestand unserer Landeskirche dem nationalsozialistischen Staat gegenüber, dessen Dämonie er im Gegensatz zu[r] Bekennenden Kirche nicht in voller Klarheit und nicht früh genug erkannte, in mancher Entschliessung sich einer Formulierung bedient hat, die er auf Grund nachträglicher, besserer Erkenntnis preisgibt.«358 So wurde letztlich nochmals unterstrichen, dass man seitens der Kirchenleitung von reformiert Hannover der Auffassung war, auch im ›Dritten Reich‹– wenn auch mit zugestandenem fehlerhaften Tun – legitim Kirche gewesen zu sein. Ein grundsätzlicher Widerspruch seitens der BG unterblieb. Mit Heinz Otten verlor die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover einen heute fast vergessenen Barthschüler aus ihren Reihen; aus dem Freundeskreis mit und um Otten überlebten nur Alfred Göhler und Walter Herrenbrück. Göhler übernahm nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1950 die Leitung des ›Theologischen Arbeitskreises‹, Herrenbrück ab 1951 als Landessuperintendent die theologische Führung der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland. Für eben dieses Amt des Landessuperintendenten hatten seit Ende der dreißiger Jahre mehrere Pastoren der Bekenntnisgemeinschaft Heinz Otten ins Gespräch gebracht, da er sich im ›Kirchenkampf‹ als ein von theologischen Grundentscheidungen bestimmter Kirchenmann mit differenzierter Urteilskraft für dieses Amt empfohlen hatte. So stellte auch Johannes Immer im Protokollbuch des ostfriesischen Coetus unter dem 2. Juni 1943 fest, dass Otten »in besonderer Weise das Vertrauen und die Hochachtung des ganzen Bruderkreises genoß.«359 Und auch Peter Schumacher, auf den Otten kirchenpolitisch stets hoffte, zeigte sich betroffen: »[D]aß Heinz Otten uns genommen ist, das ist mir sehr schmerzlich. Ich habe ihn zum ersten Male in Emlichheim bei Ihnen [sc. Pastor Tuente] gesehen. Er war mir vom ersten Augenblick an so besonders sympathisch. Und dann waren und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover 10 (1946), Nr. 10, 20. Dezember 1946, S. 36f. 358 Zit. nach Lekebusch, Die evangelisch-reformierte Landeskirche, a.a.O., S. 156 (Original in: LKA Leer, Kirchenordnungen 16, IV). Zur Situation in der reformierten Landeskirche nach 1945 vgl. den Aufsatz über Walter Herrenbrück in diesem Band. 359 Coetus-Protokollbuch, 2. Juni 1943 (Archiv Coetus, JaLB Emden).

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wir in der Agenden-Kommission zusammen. Da habe ich ihn lieb gewonnen. Wie oft habe ich ihn im Wagen abgeholt! So habe ich auch einmal seine Frau kennen gelernt … Mich traf immer seine große Bescheidenheit. Er war in den Sitzungen nicht der gesprächigste. Aber was er sagte, hatte Hand und Fuß. Er war so besonnen, ein Mann mit so gutem Geschmack … Wie sehr werden wir ihn vermissen! Aber Gott der Herr hat es gut mit ihm gemeint. Er ist am Ziel. Ich habe immer vor mir das gütige Gesicht mit der an Furchen so merkwürdig reichen Stirn.«360 Walter Herrenbrück schrieb am 21. Februar 1943, also kurz nach der Todesnachricht, an den gemeinsamen Freund Rudolf Tuente in Hannover über Heinz Otten: »Die Frucht seiner Arbeit wird in seiner Gemeinde und in Ostfriesland noch lange nachwirken, und wir, die wir ihn kannten und liebten, werden das, was ihn stets besonders erfüllte, in seinem Geist und Sinn weiter zu führen haben: Den Aufbau der Gemeinden, nicht durch falschen Betrieb, sondern durch eine unermüdlich treue Verkündigung, durch Hausbesuch und durch ein sachgemäßes Amt der Kirchenleitung … Theologisch hatte er einen besonders sicheren Blick für alles Gesunde, Schriftnahe, und mit seiner systematischen Gabe hat er uns reiche Dienste erwiesen. Aber das Beste an ihm war doch die unbedingte Lauterkeit, Wärme und Liebenswertheit seines innersten Wesens. Es ist keine Phrase, wenn ich sage, daß ich ihn von ganzem Herzen lieb gehabt habe. Wir wollen gemeinsam Gott für alles danken, was er uns durch diesen teueren Bruder gegeben hat. Wenn wir von ihm sprechen, so ist der Name des Herrn, den er bezeugte, in unserer Mitte.«361 Bibliographie: Calvins Prädestinationslehre, Vortrag vor dem Coetus reformierter Prediger Ostfrieslands am 7. Juli 1937 (unveröffentlicht); Matthäus 26,1–2, Andacht in: SB 46 (1937), S. 69f.; Johannes 13,31, Andacht in: SB 46 (1937), S. 89f.; Kirche und Sekte, Vortrag vor der Ältestenkonferenz des IV. Bezirkes in reformiert Hannover am 10. Oktober 1937 (unveröffentlicht); Die Reformation und die Gegenwart (Vortrag, unveröffentlicht), 1937 (?); Calvins theologische Anschauung von der Prädestination (FGLP IX/1), München 1938 (Neudruck als: Prädestination in Calvins theologischer Lehre, Neukirchen-Vluyn 1968); Das Bekenntnis der Einheit der Kirche nach dem Heidelberger Katechismus, in: EvTh 5 (1938), S. 223–232; Rezension zu Hans Harder, Die Hungerbrüder, Heilbronn 1938, in: RKZ 88 (1938), S. 160; Vom siebenten Tage (1. Mose 2,1–3), in: RKZ 88 (1938), S. 161–164; Zur Ehre Gottes (Predigt zu Johannes 11,1–4 und 5–11), in: RKZ 88 (1938), S. 145–147.177–179; auch in: SB 48 (1939), Nr. 43/44; Nr. 45; Markus 16,3–4, Andacht in: SB 47 (1938), S. 149f.; 1. Petri 1,3, Andacht in: SB 47 (1938), S. 159f.; Christus, unser oberster Prophet und Lehrer, Andacht über Johannes 1,18 in: SB 47 (1938), S. 459f.; Matthäus 11,2–6, Andacht in: SB 47 360

Brief Schumachers an R. Tuente, 24. Februar 1943. Auch in den Festschriften für Ernst Wolf 1952 bzw. 1962 wird jeweils im Gruß- bzw. Geleitwort Ottens gedacht, in der FS 1962 auch Marie-Luise Fürbringers. 361 Brief Herrenbrücks an R. Tuente, 21. Februar 1943.

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Heinz Otten

(1938), S. 487f.; Die Taufe im Neuen Testament und die Ordnung unserer Taufpraxis gemäß den Bekenntnisschriften und Ordnungen unserer reformierten Kirche, Teil 1, in: RKZ 89 (1939), S. 85–89; Teil II (unveröffentlicht); Das königliche Amt Jesu Christi nach Epheser 1 und Kolosser 1, Vortrag vor dem Coetus reformierter Prediger Ostfrieslands am 19. Juli 1939 (unveröffentlicht); Von den letzten Dingen (Vortrag, unveröffentlicht), 1940. Literatur: Jasper-Wilhelm Gottschalk, Nachruf für Heinz Otten, in: Mitteilungsblatt der Kameradschaft »Hohentübingen«, Nr. 16 (1943?), S. 6f.; Ernst Wolf, Geleitwort, in: H. Otten, Prädestination (ND Neukirchen-Vluyn 1968), a.a.O., S. 6; Hans-Georg Ulrichs, In memoriam Heinz Otten (1909–1942), in: RKZ 130 (1989), S. 52f.; ders., Heinz Otten – sein Leben und sein Wirken. Ein Theologe im Kirchenkampf, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 93 (1989), 19. Februar 1989, S. 3; ders., Heinz Otten. Ein vergessenes Schicksal aus dem reformierten Kirchenkampf, mit zwei Briefen Karl Barths und einem Geleitwort von Landessuperintendent Walter Herrenbrück, Bovenden 1994; ders., »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig …« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: RKZ 136 (1995), S. 82–89; ders., Art. Otten, Heinz, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 290–292.

»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen« Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Karl Barth

1. Niesel als reformierter Repräsentant schlechthin Die reformierte Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts ist in vielerlei Hinsicht besonders durch Karl Barth geprägt, und zwar sowohl theologisch als auch kirchenpolitisch. Unter den Moderatoren des Reformierten Bundes,1 die legitimierte Vertreter des deutschen Reformiertentums waren, war Wilhelm Niesel (1903–1988), der von 1946 bis 1973, mithin über fast drei Jahrzehnte amtierte, besonders bedeutsam und besonders mit Barth verbunden. Ganz zu recht bezeichnet ihn ein biographisch-bibliographisches Lexikon als »Repräsentant der deutschen reformierten Kirche schlechthin«.2 Der prägende Theologe und der Repräsentant schlechthin führten einen Briefwechsel, der von Niesels Studium bei Barth 1924 bis zu Barths Todesjahr 1968 währte: eine hochinteressante Quelle zur reformierten Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts.3 2. Niesels Lebenslauf im Überblick Die beiden Briefpartner waren später eng miteinander befreundet und auf je ihre Art bedeutend. Aber während Barths Name in nahezu allen kirchengeschichtlichen Werken des 20. Jahrhunderts genannt wird, sucht man gerade in neueren Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte Niesels Name oft vergeblich, obwohl er für und in seiner Konfession so 1

Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes zu Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70 (Wiederabdruck in diesem Band). 2 Peter Noss, Art. Niesel, Wilhelm, in: BBKL VI (1993), S. 765–774, hier: S. 767; Hartmut Ruddies, Art. Niesel, Wilhelm, in: RGG4 VI (2003), S. 309f. Vgl. Karl Halaski, Wilhelm Niesel, in: RKZ 129 (1988), S. 101; Martin Breidert / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal (EBzrP 7), Wuppertal 2003. 3 Unterdes ist erschienen: Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und Hans-Georg Ulrichs, Göttingen 2015 (im Folgenden zitiert als Barth-Niesel-Briefwechsel) (Einführung, a.a.O., S. 9–29); vgl. auch Matthias Freudenberg / Hans-Georg Ulrichs, »... weil Du überhaupt zu uns gehörst.« Zur Edition des Briefwechsels zwischen Karl Barth und Wilhelm Niesel 1924–1968, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 32 (2016), Nr. 2, S. 155–171.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

bestimmend war. Deshalb wird zunächst Niesels Biographie im Überblick geboten.4 Niesel wurde am 7. Januar 1903 in Berlin geboren und katholisch getauft. Im Jahre 1918 wurde er durch Günther Dehn konfirmiert,5 der ihn in den jugendbewegten Neuwerk-Kreis und zum Studium der evangelischen Theologie brachte. Nach dem Abitur 1922 studierte Niesel zunächst zwei Semester in Berlin (u.a. bei Adolf von Harnack, der damals mit Barth über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stritt6), sodann ein Semester in Tübingen und schließlich von Oktober 1923 bis August 1925 in Göttingen bei Barth.7 Nach dem Ersten theologischen Examen vor dem Konsistorium der Mark Brandenburg lebte und arbeitete Niesel von Dezember 1926 bis zum Oktober 1928 zusammen mit Peter Barth in Madiswil (Schweiz) an der Herausgabe der Opera selecta Calvins. Seitdem und dann als alleiniger Herausgeber nach Peter Barths Tod 19408 erarbeitete er sich die Schriften Calvins und muss wohl zu Lebzeiten als einer der besten Kenner im deutschsprachigen Raum gelten. Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster promovierte ihn 1930 mit seiner Arbeit über Calvins Abendmahlslehre9 4

Vgl. aus dem im Anmerkung 2 genannten Sammelband die beiden Aufsätze Sigrid Lekebusch, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf. Eine biographische Skizze, in: Breidert/Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 15–34; Hans-Georg Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe. Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 – ein Beitrag zur Geschichte der Reformierten in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: a.a.O., S. 35–74 (Wiederabdruck in diesem Band). 5 Vgl. Günther Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München 1962, S. 311. Offenbar hatten sich die gemischt-konfessionellen Eltern unterdes entschieden, dass die Kinder evangelisch aufwachsen sollten. – Die Revolution 1918 hat Niesel sehr genau wahrgenommen und darüber Tagebuchaufzeichnungen hergestellt, die sich jetzt im Nachlass Niesel in der Johannes a Lasco Bibliothek, Emden, befinden (JaLB NL WN I,2). Der dortige Nachlass, zu dem auch große Teile des Briefwechsels BarthNiesel gehören, wurde 1997 vom Vf. geordnet. 6 Vgl. Ein Briefwechsel zwischen Karl Barth und Adolf von Harnack (1923), in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 51985 (ThB 17/1), S. 322–347. 7 Vgl. die ausführliche Arbeit von Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit (NthDuH 8), NeukirchenVluyn 1997, v.a. S. 1–86; die von Barth gehaltenen Lehrveranstaltungen während dieser Jahre, a.a.O., S. 53f. 8 Vgl. den Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Peter Barth im Universitätsarchiv/Staatsarchiv Bern, Nachlass Peter Barth II, in JaLB NL WN I,3 und im Privatbesitz von Sebastian Barth-Koenigs (CH-Huttwil). 9 Calvins Lehre vom Abendmahl (FGLP Dritte Reihe: Bd. 3), München 1930, 21935. Niesel beschäftigte sich praktisch Zeit seines Lebens mit Fragen des Abendmahls und engagierte sich 25 Jahre später in den Abendmahlsgesprächen der EKU und der Arnoldshainer Konferenz. Vgl. Bertold Klappert, Das Abendmahl als Verheißungs- und Bekenntniszeichen. Calvins Abendmahlslehre und die Interpretation Wilhelm Niesels, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 111–152.

2. Niesels Lebenslauf im Überblick

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und seiner Vorlesung über Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition.10 Nach einem Jahr im reformierten Predigerseminar in Elberfeld und einem kurzen Vikariat in Wittenberge und dem Zweiten Examen wurde Niesel 1930 als Pastor und Studieninspektor des Elberfelder Predigerseminars gewählt und somit Mitarbeiter von D. Hermann Albert Hesse, der ab Januar 1934 für den entschiedenen kirchenpolitischen Kurs des Reformierten Bundes verantwortlich war. Daneben unterrichtete Niesel gelegentlich an der Theologischen Schule Elberfeld, die von Otto Weber (1902–1966)11 geleitet wurde. Hier begann Niesel mit Vorlesungen über Calvin, deren Resultat u.a. seine Theologie Calvins12 wurde. Niesel sollte Zeit seines Lebens über Calvin forschen und einer der maßgeblichen Interpreten des Genfer Reformators und nicht zuletzt damit der reformierten Tradition im 20. Jahrhundert werden. Niesel erlebte zwölf Jahre Kirchenkampf auf Seiten der Bekennenden Kirche (BK). Bereits im Frühjahr 1933 nahm er an der Rheydter Versammlung teil, erarbeitete die Düsseldorfer und Elberfelder Thesen mit, war Gründungsmitglied des Gemeindetages unter dem Wort und des Coetus reformierter Prediger Deutschlands und natürlich Hesses Berater.13 Es wird zu fragen sein, ob Barth durch Niesel jederzeit Interna

10

In: ZZ 8 (1930), S. 511–528. – Karl Barths Promotionsrede in einem zeitgenössischen Umdruck in JaLB NL WN I,3, abgedruckt auch in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hg. von Hermann Schmidt (GA 11), Zürich 1994, S. 569–571. – Vgl. auch Jan Rohls, Schleiermachers reformiertes Erbe, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 53–77. 11 Zu Webers Zeit als Dozent in Elberfeld vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902– 1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999, cap. 2, S. 52–97; ders., »Hier gibt sich […] kund ein Handeln der reformierten Kirche Deutschlands«. Ein kurzer Abriß der Geschichte der Theologischen Schule Elberfeld unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfangsjahre 1928–1932, in: Klueting/Rohls, Reformierte Retrospektiven, a.a.O., S. 277–289. 12 München 1938, 21957, 31958, Übersetzungen ins Japanische, Englische, Ungarische. Vgl. vor allem Matthias Freudenberg, Wilhelm Niesels Calvin-Interpretation, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 75–98. – Karl Barth hat in einem späten Gespräch gemeint, Niesels Calvin-Bild sei von seiner KD bestimmt; das ist freilich bei der ersten Auflage nicht gut möglich, da 1938 nur die Bände I/1 und I/2 der KD vorlagen. Vgl. Jürgen Fangmeier, Wilhelm Niesels Calvin-Sicht und Karl Barths CalvinVorlesung. Seminarbericht, in: Hans Scholl (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 125–132, das Barth-Diktum, a.a.O., S. 126. 13 Vgl. Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994. – Die Düsseldorfer Thesen (Eine theologische Erklärung zur Gestalt der Kirche) und die Elberfelder Thesen (Forderungen zur Gestalt der Kirche) sind abgedruckt in: Karl Barth,

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erfahren und auch indirekt auf die reformierte Kirchenpolitik Einfluss nehmen konnte. An der Barmer Synode nahm Niesel als »Beobachter« teil und gehörte zu dem Ausschuss, der der Barmer Theologischen Erklärung die letztgültige Form gab. Seit Mai 1934 war er Mitglied im altpreußischen Bruderrat. Zum Herbst 1934 wechselte er als reformierter Referent zum BK-Präses Karl Koch nach Bad Oeynhausen (mit Hans Asmussen als lutherischem Pendant14) und 1935 als »Geschäftsführer« des Bruderrates der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) nach Berlin. In Berlin war er maßgeblich an den Entwicklungen in der ApU beteiligt.15 Bleibenden Einfluss sicherte sich Niesel durch seine Vorarbeiten zur Zweiten freien reformierten Synode im März 1935 in Siegen, auf der der Anstoß zur Gründung Kirchlicher Hochschulen gegeben wurde.16 Seit dem Wintersemester 1935/1936 lehrte Niesel Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Dahlem, praktisch seit dem ersten Semester im Untergrund. Wie bereits im Rheinland leitete er in Berlin-Brandenburg das Ausbildungsamt der BK. Seit 1935 wurde Niesel begleitet von seiner Frau Susanna, geb. Pfannschmidt.17 Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2013, S. 249–259 bzw. S. 265–270. 14 Hans Asmussen und Wilhelm Niesel gehören in der historischen Betrachtungsweise Seite an Seite. Völlig zurecht behandelt Eckhard Lessing »Das Problem des Konfessionalismus in der Bekennenden Kirche« dann auch mit den beiden Protagonisten Hans Asmussen und Wilhelm Niesel, vgl. Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zu Gegenwart, Band 2: 1918 bis 1945, Göttingen 2004, S. 477–485; ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte Lessing noch Gerhard Gloege neben Niesel gestellt: Eckhard Lessing, Zwischen Bekenntnis und Volkskirche. Der theologische Weg der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (1922–1953) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen (Unio und Confessio 17), Bielefeld 1992, S. 329–342. 15 In der dem EZA Berlin anvertrauten Kirchenkampf-Sammlung Niesels (EZA 619) befinden sich nahezu alle BK-Synodalerklärungen der DEK und der ApU in den verschiedenen Phasen ihrer Entstehung. Über den Kirchenkampf in der ApU hat Niesel ein quasi autobiographisches Buch vorgelegt: Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945 (AGK E 11), Göttingen 1978. – Charlotte von Kirschbaum konnte Niesel Anfang 1935 gerade auch darin einmal kritischer sehen, dass er zu den »Vielbeschäftigten[n]« gehört, die »über die Szene gehen, während« andere »redlich Arbeit leisten.« Brief Charlotte von Kirschbaums an Karl Barth vom 16. Januar 1935, in: Karl Barth / Charlotte von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, hg. von Rolf-Joachim Erler, Zürich 2008, S. 428–435, hier: S. 430f. 16 Niesels Vortrag »Kirchliche Hochschule für reformatorische Theologie« ist auch abgedruckt in: Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 171–182. Zu Siegen vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf, a.a.O., S. 222–244. 17 Zu Susanna Pfannschmidt vgl. in diesem Band den Aufsatz »Die Synode erhob sich wie ein Mann.« Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode (zuerst erschienen als: Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode. Ein Bericht von Susanna Pfannschmidt,

2. Niesels Lebenslauf im Überblick

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Anders als es Klaus Scholder in seiner historiographischen Rekonstruktion sah, waren die entscheidenden Entwicklungen des Kirchenkampfes nicht schon zur Jahreswende 1933/34 angelegt oder vorgezeichnet und mit dem Mai 1934 der – wenn auch theologische – Höhepunkt erreicht. Wie an anderen Biographien von unmittelbar Beteiligten lässt sich an Niesels Nachlässen gut aufweisen, dass der Kirchenkampf klimaktisch erlebt wurde: Zunächst die offene Propagierung des »Neuheidentums« seit 1935, sodann die Einsetzung der Kirchenausschüsse und Hanns Kerrls und schließlich die wachsende Verfolgung von Christen durch den totalitären Weltanschauungsstaat, die als immer bedrohlicher empfunden wurde. Deshalb wurde das erste Jahr der massiven Repressionen (1937) von Niesel als das schwerste aus der Sicht der BK bezeichnet. In praktisch allen Landeskirchen ist für die Jahre 1938 und 1939 ein sprunghafter Anstieg der Austrittszahlen festzustellen . Niesel war und blieb steter Gegner von kirchenleitender »Realpolitik« und von konfessioneller »innerer Emigration«. Nach einem Ausreiseverbot aus Berlin 1938 und mehreren Prozessen und Haftzeiten wurde Niesel 1941 mit Redeverbot und Ausweisung aus Berlin belegt. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom »Eisernen Wilhelm«, der so selbstverständlich ins Gestapo-Gefängnis ging wie andere Menschen zu alltäglichen Besorgungen. Von 1941 bis 1943 fand er Zuflucht als Hilfsprediger in Breslau. Danach bot die lippische Landeskirche unter Landessuperintendent Wilhelm Neuser dem ständig Bedrohten Unterschlupf als Pastor der Gemeinde Reelkirchen. Auch während der Kriegsjahre war Niesel an Planung und Organisation der BK und ihrer Synoden beteiligt. Noch vor Kriegsende begann – mit englischer Genehmigung – Niesels Einsatz für den Wiederaufbau legitimer kirchlicher Strukturen, nur kurz in Lippe, sehr bald wieder – als Vertrauensmann des Bruderrates – auf ApUEbene, sodann in der EKD, aber schließlich in erster Linie in reformierten Kontexten. Niesel zählte während des Kirchenkampfes nicht zu den »jungen Brüdern«, sondern war vielmehr als BK-Vertrauensmann der Theologiestudenten und als Dozent für sie verantwortlich. An vorderster Stelle standen wiederum Ältere. Während die einen zu jung, die anderen zu alt für neue Führungsaufgaben waren (oder verstorben), legte Niesel 1945 und danach seine Rolle als Referent und Mitarbeiter ab und avancierte in der Tat zum ersten Mann der deutschen Reformierten. Als reformierter Vertreter wurde er als einer der Sprecher des neu gebildeten Rates der EKD in Treysa berufen.18 Im Jahr 1946 wurde er zum Moderator des mitgeteilt und eingeleitet von Hans-Georg Ulrichs, in: die reformierten-upd@te 2004 / Heft 1, S. 11–19). 18 Bestallungsurkunde vom 31. August 1945 in JaLB NL WN I,1a (gez. D. [Theophil] Wurm). Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland

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Reformierten Bundes gewählt, im selben Jahr trat er die Pfarrstelle der reformierten Gemeinde in Schöller und die seit dem damit verbundene Dozentur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal an – Professuren in Mainz und Bonn schlug er in den Jahren 1946–1948 mehrfach aus; erst seit 1951 nannte er sich Professor.19 Wenn er auch anders als andere BK-Leute auf eine Hochschulkarriere verzichtete, so verabschiedete er sich dennoch nicht aus der internationalen Calvin-Szene. Niesels wissenschaftliche Verdienste wären darzustellen an den zahllosen Aufsätzen v.a. zu Calvin20, der Calvin-Bibliographie21, seiner Symbolik22 u.v.m. – diese Verdienste wurden durch fünf Ehrendoktorate anerkannt: Göttingen (1948), Aberdeen (1954), Genf (1958) und Straßburg (1964) und Debrecen. Mehrfach war er Gastprofessor im Ausland: in Schottland, Amerika und Japan. Andernorts wäre zu untersuchen, wie Niesel versucht hat, »das Erbe der BK«, »den Ertrag des Kirchenkampfes« nach 1945 umzusetzen bzw. in der kirchenleitenden Praxis anzuwenden. Hat die Erfahrung des Kirchenkampfes dann in einer neuen Staatsform innovativ gewirkt oder eventuell gar verhindert, dass aufgrund neuer Situationen auch neue theologische Antworten gegeben werden konnten? Oder entstand eine starre, strukturell konservative »Kirchenlehre«, die sich an Karl Barth als dem »Mentor« der »Dahlemiten« und an Barmen23 orientierte und definierte? Die Thesen einer bereits für den Kirchenkampf festgestellten als Vertretung des deutschen Protestantismus in der Nachkriegszeit, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ B 40), Göttingen 2004, S. 329–365. 19 Der Beschluss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 20. Juli 1951 lautete, Niesel die Dienstbezeichnung »Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal« zu verleihen. 20 Einige sind gesammelt in Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus; vgl. weiterhin die Bibliographien: ThLZ 88 (1963), S. 633f.; Karl Halaski / Walter Herrenbrück (Hg.), Kirche, Konfession, Ökumene. Festschrift für Professor D. Dr. Wilhelm Niesel, Moderator des Reformierten Bundes zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1973, S. 157–164; Noss, Art. Niesel, a.a.O., S. 767–774. Niesels Sammlung eigener Aufsätze (in vier Bänden) befindet sich in JaLB NL WN. Ein vollständiges Schriftenverzeichnis Niesels ist ein dringendes Desiderat. 21 Wilhelm Niesel, Calvin-Bibliographie 1901–1959, München 1961. 22 Wilhelm Niesel, Das Evangelium und die Kirchen. Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirchen 1953, überarbeitet 21960. 23 Wie bereits die von Niesel herausgegebenen BSKORK (1938) die Düsseldorfer Thesen von 1933 enthalten, so beginnt auch Niesels Symbolik mit der Barmer Theologischen Erklärung als Grundlegung. »Von mir ist jetzt eine Symbolik in den Druck gegangen, die von Barmen her geschrieben ist!« Brief Niesels an Barth, 21. Februar 1952 (Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 244). Vgl. auch das Schlusskapitel in Niesels Kirchenkampf-Buch, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 312–316, hier: S. 312: »Die in Barmen 1934 neu ans Licht getretene Wahrheit ...« Ähnlich auch immer wieder in Niesels »theologischem Testament« (s.u.).

2. Niesels Lebenslauf im Überblick

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»Verkirchlichung des deutschen Protestantismus«24 und einer »Prolongierung des Kirchenkampfes«25 wären an Niesels Tun zu überprüfen. Ein möglicher Vergleichspunkt sind Lebensläufe anderer »Kirchenkämpfer«, deren Autobiographien bereits ein eigener Untersuchungsgegenstand sind,26 und Niesels Verhältnis zu ihnen (etwa sein lebenslanges Pendant Hans Asmussen, oder die kirchenleitenden Reformierten Wilhelm Neuser und Walter Herrenbrück sen.27). Wie stellte sich Niesel zu theologischen Neuaufbrüchen wie etwa den Kirchenreform-Bestrebungen eines Ernst Lange? Wie äußerte sich Niesel zu politischen Fragen – ging er unkritisch mit seinem Lehrer Barth28 um und sah er das Kirchenkampf-Erbe eher darin, dass »Kirche Kirche bleiben soll«? Welche Rolle spielten Niesels historische Arbeiten in seinen konkreten Entscheidungssituationen? Lenkten sie ab von der gegenwärtigen Herausforderung oder inspirierten sie?29 Da Wilhelm Niesel jahrzehntelang unangefochten die deutschen Reformierten führte, wird bei der Rekonstruktion von Leben und Werk Niesels auch ein guter Blick auf die Geschichte der Reformierten in 24 Vgl. Joachim Mehlhausen, Kirchenkampf als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des deutschen Protestantismus nach 1933, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Tanner (Hg.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, S. 192–203.288–293; Wiederabdruck in Joachim Mehlhausen, Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie (AKG 72), Berlin u.a. 1999, S. 402–417. 25 Vgl. Kurt Meier, Neuere Konzeptionen der Kirchenkampfhistoriographie, in: ZKG 99 (1988), S. 63–86, hier: S. 65. 26 Vgl. Rüdiger Weyer, Kirche, Staat, Gesellschaft in Autobiographien des Kirchenkampfes. Mit einem Nachwort von Martin Stöhr, Waltrop 1997. Vgl. auch Kristine Fischer-Hupe, Der Kirchenkampfdiskurs nach 1945. Wie katholische und evangelische Theologen in der frühen Nachkriegszeit über den Kirchenkampf der Jahre 1933–1945 sprachen, in: KZG 15 (2002), S. 461–489. 27 Zu Herrenbrück vgl. in diesem Band den Aufsatz »Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik. 28 Niesel unterhielt im Unterschied zu einigen anderen Barth-Weggefährten persönlich enge Beziehungen auch zu Konservativen: z.B. zu Edo Osterloh, Hermann Ehlers, Paul Graf Yorck von Wartenburg (einem Bruder Peter Graf Yorcks). Es ist weiter bemerkenswert, dass in Niesels Kirchenkampf-Schilderung Hans Asmussen durchaus positiv gesehen wird, s.u. – Dem Versuch eines gesellschaftlichen Aufbruchs »1968« stand Niesel kritisch gegenüber, vgl. ders. Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 314. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Die Reformierten und »1968«: Wahrnehmungen und Wirkungen. Erste Anstöße zu einem liegen gebliebenen Thema, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 8), Wuppertal 2004, S. 183–202 (Wiederabdruck in diesem Band unter dem Titel »… dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«? Die Reformierten und »1968«). 29 Zu einigen dieser Fragen vgl. Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe, a.a.O.; Hans-Georg Ulrichs, »Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland.« Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel, in: Marco Hofheinz / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 71–100 (Wiederabdruck in diesem Band).

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Deutschland nach 1945 möglich. Auch theologisch dürfte er – durch seine Beschäftigung mit Johannes Calvin und seine Genossenschaft mit Karl Barth – typisch und wegweisend für die Reformierten in diesem Jahrhundert sein. So wird auch deutlich, dass Niesel eher Gestalter als bloßer Repräsentant der Reformierten war. Durch seine Tätigkeiten im Reformierten Weltbund und im Ökumenischen Rat der Kirchen sowie durch die Übersetzung seiner Arbeiten in viele Sprachen gehört er auch global gesehen an prominente Stelle in der reformierten Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Den genannten Arbeitsgebieten blieb Niesel über mehr als zwei Dekaden treu. Dadurch war er beteiligt an der Stuttgarter Schulderklärung, an entscheidenden Wegmarken der ersten 25 Jahre der EKD30 wie der Absetzung Hans Asmussens (s.u.), an politischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Gustav Heinemann, an den Abendmahlsdiskussionen bis nach Arnoldshain, an den kirchlichen Debatten um Wiedervereinigung, Wiederaufrüstung, Atombewaffnung und die Anerkennung der Ostgrenzen. Diese Arbeitsgebiete überschritt er aber auch durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des ÖRK und im Reformierten Weltbund (RWB). Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes die Welt bereiste. Diese Jahre waren freilich aber auch schon der Beginn einer Entfremdung zum gegenwärtigen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung 1964 wählte noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen Kirchenkämpfer zum RWB-Präsidenten, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der BK und die reformierte Tradition hinzuweisen; doch in den sechziger Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im RWB immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen.31 – Trotz geringer Quellenbasis wird auch an Niesels Frau Susanna und ihre Leistungen v.a. für die Frauenarbeit innerhalb des Reformierten Bundes erinnert werden müssen; wie ihr Mann schied sie 1973 aus der führenden Position aus.32 30

In einem Interview 1978 berichtete Martin Niemöller vom Kräfteverhältnis innerhalb des Rates der EKD: »Gegen die Stimmen von Gustav Heinemann, Wilhelm Niesel und mir (wir waren immer drei gegen acht) …«, in: JK 39 (1978), S. 252–255, hier: S. 253. 31 So lehnte der RWB-Generalsekretär Marcel Pradervand ein Vorwort Niesels zum Dokumentenband für Nairobi 1970 ab, in: JaLB 11.57.91.003 (20); nachdem Pradervand 1975 seine Geschichte des RWB geschrieben hatte, sah sich Niesel genötigt, die Jahre 1964–1970 der Darstellung durch eine Niederschrift zu ergänzen, in: JaLB 11.57.90.001. 32 Vgl. Dankesbrief an Susanna Niesel, in: RKZ 114 (1973), S. 232f.

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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Als Niesel Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber alle Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag lassen doch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil anachronistisch geworden waren. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine KirchenkampfErinnerungen33 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten.34 Vollends unzeitgemäß erscheint dann auch Niesels »theologisches Testament«, eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel »Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre«.35 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig »progressive« Positionen, dem Buch haftet aber ein repristinierender Ton an: immer wieder wird auf Schrift und Bekenntnis rekurriert. – Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 in Königsstein im Taunus gestorben. 3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–196836 Beginnend mit einer Urlaubskarte, die Niesel gemeinsam mit seinem Freund Wolfgang Trillhaas37 am 25. Juni 1924 an Barth schickt, und endend mit dem kurzen Schreiben Niesels vom 6. Mai 1968 zum 82. Geburtstag Barths umfasst der Briefwechsel 196 Briefe, Post- und Briefkarten, Telegramme etc. Nicht mitgezählt sind beigelegte Briefabschriften an Dritte. Von den 196 Schriftstücken entstammen 67 % der Feder Niesels, nämlich 133; 59 Schreiben sind von Barth an Niesel gerichtet, hinzukommen vier Schreiben Charlotte von Kirschbaums an Niesel, die sie im Auftrage Barths verfasst hat.38 Barth schreibt nur bis Ende 1927 33

Bereits 1949 gab Niesel heraus: Um Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union 1934–1943, Bielefeld 1949. – Offensichtlich sah Niesel die Arbeit einer Erinnerung an den Kirchenkampf als das wichtigste Unternehmen an, das er nach seiner Emeritierung realisieren sollte. 34 Auch historiographisch gab es in den siebziger Jahren einen Generationswechsel – mit der Umbenennung der Kirchenkampf-Kommission der EKD (vgl. auch den Wechsel von AGK zu AKiZ) und dem Erscheinen der Werke von Kurt Meier und Klaus Scholder. 35 Erschienen auch erst mit jahrelanger Verspätung 1983. 36 Der Briefwechsel wurde zusammengetragen aus den Beständen in JaLB NL WN I,3 und des Karl-Barth-Archivs, Basel. 37 Trillhaas hat in seinen Memoiren eine freundliche Würdigung Niesels hinterlassen: Wolfgang Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, S. 99f. Vgl. auch den Briefwechsel zwischen Niesel und Trillhaas (1929–1939) in JaLB NL WN I,3. 38 Wegen der geschützten Veröffentlichungsrechte der Barth-Briefe wurde in der Erstfassung dieses Beitrags noch nicht ausführlich aus ihnen zitiert. Unterdes wurden publiziert: Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel III 1930–1935 einschließlich des Briefwechsels zwischen Charlotte von Kirschbaum und Eduard Thurneysen, hg. von Caren Algner (GA 34), Zürich 2000 (vgl. dazu auch Caren Algner, Kirchliche Dogmatik

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mit der Hand, dann ist er Besitzer einer Schreibmaschine, so dass er nur noch gelegentlich (z.B. im Urlaub oder auf Reisen und bei Postkarten) handschriftliche Schreiben aufsetzt, Niesel schreibt erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Maschine. Die zahlreichen Briefe von 1926 bis 1931 lassen sich erklären durch notwendige Absprachen während der Arbeiten an der Dissertation, die relativ wenigen Briefe in den 50er/60er Jahren39 finden ihren Grund sowohl in der großen Beanspruchung durch die jeweilige Arbeit als auch durch die dann möglich gewordenen Telephonate. Von 1939 bis 1946 wird die Korrespondenz unterbrochen,40 Kontakt mit Barth als einer persona non grata wäre für den ohnehin stark gefährdeten Niesel eine zusätzliche Belastung gewesen. Den signifikanten Höhepunkt der Brieffrequenz stellen die beiden Jahre April 1933 bis zum Weggang Barths aus Deutschland im Sommer 1935 mit 63 Briefen dar. Welche Rolle hat Barth hier für Niesel – und umgekehrt: Niesel für Barth gespielt? Das wird im Folgenden aufgewiesen an den Briefen des Sommers 1933. Und: Wie wurde nach 1945 an diese Zusammenarbeit angeknüpft? Das ist zu demonstrieren an einer harten Auseinandersetzung in der neu entstandenen EKD,41 in der sich mit dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm nicht etwa »Dahlemiten«, sondern die die Mehrheit repräsentierenden Anhänger des Wurm’schen »Einigungswerkes« von 1943 durchgesetzt hatten, nämlich an der »Absetzung« Hans Asmussens im Jahre 1948, der immerhin das langjährige BK-Pendant zu Niesel war. 3.1 Sommer 1933: Vom Informant zum Akteur Der so genannte Kirchenkampf ist nur aus der historiographischen Rekonstruktion bekannt. Die umfangreichen Darstellungen, etwa die opulente Darstellung von Klaus Scholder, ordnen große Mengen an Quellenmaterial, so dass sich ein überschaubares Bild bietet. Studiert man aber Quellenmaterial,42 ahnt man, wie unüberschaubar die Wochen des Spätfrühjahrs und Sommers 1933 auch in kirchenpolitischer Hinsicht im Vollzug. Karl Barths Kampf um die Kirche im Spiegel von seiner und von Charlotte von Kirschbaums Korrespondenz mit Eduard Thurneysen 1930–1935, NeukirchenVluyn 2004); Karl Barth, Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch unter Mitarbeit von Bartolt Haase und Barbara Schenk, Zürich 2004. 39 Keine Briefe liegen aus den Jahren 1949, 1953, 1955, 1960, 1963 und 1966 vor. 40 Barth »schweigt« sogar noch länger, nämlich vom 21. August 1936 bis zum 1. April 1947, wobei Ch. von Kirschbaum bereits am 12. Juni 1946 einen Brief geschrieben hatte. 41 Im damaligen Sprachgebrauch wurde der Kirchenbund in der Regel EKiD genannt. 42 Vgl. beispielsweise meine Edition: Die Rundbriefe des Barth-Schülerkreises (Mai bis Juli 1933), in: Hellmut Traub, »Unerschrocken zur Zeit oder Unzeit«. Beobachtungen eines Predigers, Zeugen und Lehrers zur kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von Hans-Georg Ulrichs, mit Beiträgen von Gerhard Sauter und Hinrich Stoevesandt, Wuppertal 1997, S. 41–95 (zum Teil abgedruckt im Aufsatz über Heinz Otten in diesem Band).

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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waren. Es war 1933 selbst für kritische Zeitgenossen keineswegs so klar, wie sich der Staat unter NS-Regime weiterentwickeln würde43 oder dass die Deutschen Christen (DC) die evangelischen Landeskirchen im Sturm erobern könnten – davor schützte die bewahrende Kraft der Institution. Welche Optionen damals als denkbar erschienen, auf welche Personen die Reformierten setzten und wie Strategien ›angedacht‹ wurden, zeigen die Briefe Niesels und Barths. War Barth Ende der 20er Jahre noch nicht überall als der maßgebliche reformierte Theologe anerkannt, so scheint der Wechsel Barths nach Bonn im Jahre 1930 doch dessen Position enorm gestärkt zu haben. Deshalb war 1933 unter den Reformierten auch gleich die Sorge auf dem Plan, dass man Barth im Zuge der ›Gleichschaltung‹ der Hochschulen würde verlieren können – aus politischen Gründen. Barth hatte Niesel – und wohl auch anderen Reformierten – seine Briefe an Paul Tillich vom 2. April, in dem er den Willen äußert, gerade jetzt auf Grund praktisch-politischer Erwägungen auf keinen Fall aus der SPD auszutreten, und an den preußischen Kultusminister vom 4. April, in Abschrift mitgeteilt.44 Nach Niesel »würde [Zoellner] es sehr bedauern, wenn [Karl Ludwig] Schmidt45 gehen müßte, u[nd] noch mehr, wenn Sie uns genommen würden.« Bereits am 11. April war Niesel auf das Bergli gereist, »um K[arl] B[arth] zu bestimmen, aus der SPD auszutreten, weil wir ihn uns als theologischen Lehrer in Deutschland erhalten 43

Selbst in einer Erinnerung aus dem Jahr 1963 meinte Barth, dass der Nationalsozialismus 1933 »noch so ganz nett daher [kam]« und er 1934 »ungemütlich« wurde. Zu Recht zeigt sich Hermann Kalinna von einer solchen Beschreibung bestürzt, auch wenn er offenbar die flappsige mündliche Rede Barths nicht dechiffriert oder dechiffrieren will, vgl. ders., War Karl Barth »politisch einzigartig wach«? Über Versagen politischer Urteilskraft (Theologische Orientierungen 8), Berlin/Münster 2009, S. 23; Kalinnas Werk ist allerdings formal schon wenig akzeptabel und stellt eine leicht zu durchschauende »Abrechnung« mit dem Barthianismus dar. Nach einigen exemplarischen »Untersuchungen« meint er den Schluss ziehen zu können: Barth »hat sich geirrt: In der Beurteilung der politischen Lage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges; bei der Nicht-Wahrnehmung der Gefährdungen der Weimarer Republik; im Urteil über den Faschismus; in der Einschätzung des entschlossen die Macht anstrebenden Hitler; in der Blindheit für die Anzeichen des den Juden drohenden Schicksals [?!, hgu]; in der Unterschätzung der vom totalen Staat ausgehenden Gefahr für die Kirche; in der Naivität seiner Vorschläge für die Verteidigung Europas; in der fehlenden Einsicht in das Wesen des Kommunismus; in seiner Empfindungslosigkeit für die Rolle des Rechts in Kirche, Staat und Gesellschaft.« A.a.O., S. 127. 44 Die Briefe sind abgedruckt in: Karl Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 107–110.112–114. 45 Vgl. Andreas Mühling, Karl Ludwig Schmidt. »Und Wissenschaft ist unser Leben«, Berlin / New York 1997 (AKG 66); Otto Schwankl, Art. Schmidt, Karl Ludwig, in: BBKL IX (1995), S. 461–463. Vgl. auch Klaus Wengst, Theologie und Politik im Jahr 1933 – Karl Barth (1886–1968) und Karl Ludwig Schmidt (1891–1956), in: Bastian Hein u.a. (Hg.)., Gesichter der Demokratie: Porträts zu deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 37–51.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

wollten.«46 Bekanntlich wurde das SPD-Mitglied Karl Ludwig Schmidt bereits 1933 aus dem Staatsdienst »entfernt«, Barth dagegen konnte sich zwei Jahre länger in NS-Deutschland halten. Der Besuch Niesels auf dem Bergli, noch Jahrzehnte später in Erinnerung, verlief trotz allem positiv: »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen, trotzdem er die Lage in der Kirche uns erheblich trüber und ratloser schildern mußte, als wir vermuteten.«47 Mit dem Gespräch Niesels mit Barth am 11. April wird klar, dass Niesel als enger Schüler Barths eine wichtige Vermittlerrolle der Reformierten zu Barth wahrnehmen sollte,48 wohl gerade auch dann, wenn es um heikle Dinge ging, die Barth sich weniger gern von anderen hätte sagen lassen. So ist auch verständlich, warum in Niesels Briefen ab dem 9. Mai gehäuft Formulierungen wie »unsere Seite« oder einfach »wir« zu finden sind.49 Diese Unterhändlerrolle Niesels wird bestätigt durch den genannten Besuch bei Zoellner: Niesel als rechte Hand Hesses am Elberfelder Predigerseminar und ausgewiesener Kenner der reformierten Tradition mischt maßgeblich mit. Niesel wird aber auch für Barth wichtig: Bereits am 11. Mai spricht er seine Sorgen über die kirchliche Entwicklung aus: »Nach meiner bisherigen Sicht der Dinge steht Alles sehr 46

So in einem ms. Text Niesels »Karl Barth im Kirchenkampf«, o.O. o.J., in: EZA 619/16. Vgl. auch Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 73, Anm. 45. – Am 13. August 1933 wagt Niesel Barth nochmals zu fragen, »gerade im Hinblick auf den Schluß Ihrer eigenen Schrift [sc. Theologische Existenz heute!], … ob diese Sache [sc. die Zugehörigkeit zur SPD] nicht auch zum Fleisch gehört, das man um des Herrn der Kirche willen drangeben muß.« (Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 123f., hier: S. 124). Barth antwortet auf Niesels »Bericht« vom 13. August am 24. August 1933 (Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 343–347; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 125–127). 47 Barth berichtet seiner Tochter Franziska von diesem Besuch (Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 130–133, hier: S. 132), während Ch. von Kirschbaum diesbezüglich an Hellmut Traub schreibt (Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 133–135). Das Zitat a.a.O., S. 134. Vgl. auch Barths Brief an K.L. Schmidt vom 21. April 1933 (Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 159–161). 48 Noch am 15. Mai 1933 schreibt Barth an Niesel, daß ihm die Adresse von Hesse unbekannt sei; so kann er ihm einen Bekenntnisentwurf nur via Niesel zukommen lassen; Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 204f.; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 108. 49 »Sie werden gehört haben, daß von unserer Seite inzwischen allerlei Kirchenpolitisches passiert ist [gemeint ist die Rheydter Versammlung am 17. April, vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 27–31, und dass Hesse als reformierter Sachwalter für das Dreimännerkollegium bestimmt wurde, a.a.O., S. 37]. Wir würden Sie sehr gerne bald einmal über die kirchliche Lage informieren und über das, was von den Reformierten bisher geschehen ist. Wenn es Ihnen angenehm ist, würde ich zu dem Zwecke zu Ihnen kommen und Ihnen berichten.« Brief Niesels an Barth vom 9. Mai 1933, vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 200f.; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 107. – Am 17. Mai war Niesel bei Barth in Bonn. Dabei hat er »als kunstvoll untergebrachter ›Horcher an der Wand‹« einem Gespräch Barths mit dem Kirchenrechtler Johannes Heckel »beigewohnt«, vgl. Brief Barths an seinen Bruder Peter vom 18. Mai 1933, Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 208. Dort auch Barths Einschätzung: »Niesel ist sehr geschäftig.«

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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schlimm.«50 Am 1. Juni beklagt er, dass er in Bonn allein auf den reformierten Kirchenhistoriker Wilhelm Goeters als Informant angewiesen sei.51 Erbat vorher der Promovend und dann der Hesse-Assistent Niesel Termine bei Barth, so ist es nun Barth, der von Niesel zuverlässige Informationen benötigt, wofür er diesem sogar bis nach Köln, das ja eisenbahnmäßig die Mitte zwischen Bonn und Wuppertal beschreibt, entgegengefahren käme! Barth zeigt sich irritiert, dass Hesse bei der Designierung Friedrich von Bodelschwinghs zum »Reichsbischof« mitgetan hat und will endlich definitiv wissen, wer von den Reformierten eigentlich zu den DC gehört. Etwa Weber, Langenohl oder gar Goeters selbst?52 Die Unkenntnis über die DC-Zugehörigkeit ist ein guter Beleg für die Turbulenzen jener Tage.53 Besonders in kirchlich konservativen und in konfessionellen Kontexten fand der Aufruf des ehemaligen westfälischen Generalsuperintendenten Wilhelm Zoellner54 nach neuer konfessioneller Besinnung (Bekenntnis!) viel Gehör. Niesel berichtet Barth am Karfreitag, dem 14. April 1933: »Vielleicht bringt diese Zeit unsere Kirche doch noch zu guter Besinnung. Zoellner hat eben einen sehr beachtlichen Aufruf erlassen, in dem er Konfessionskirchen fordert. Heute nachm[ittag] waren Goeters u[nd] ich 2 Stunden bei ihm … Er meinte, wir müßten die Stunde ausnutzen und zunächst in Altpreußen eine luth[erische] u[nd] eine reform[ierte] Kirche schaffen, die rein verwaltungsmäßig zusammengefaßt sein dürften … Ich muß sagen, daß Zoellner mir doch großen Eindruck gemacht hat.« Dazu passt auch gut, dass Wilhelm Goeters 50

Barths Brief an Niesel vom 11. Mai 1933 in Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 200f.; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 107. 51 Abermalige Bitte Barths um Infos am 1. Juni (Barth, Briefe 1933, S. 240–242; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 109–111), 10. August (Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 315–317; a.a.O., S. 316: »damit ich den Zusammenhang nicht verliere«; BarthNiesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 121–123, hier: S. 122). 52 Vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 214; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 110. 53 Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., hat interessant beschrieben, dass und wie über vom heutigen Standpunkt aus konstatierte Grenzen doch erhebliche Kohäsionsfaktoren innerhalb des eigenen konfessionellen Lagers bestanden, die die Reformierten lange als einig erschienen ließen. 54 »Aufruf zur Sammlung der Lutheraner«, in: Chronik der Kirchenwirren. Erster Teil: Vom Aufkommen der »Deutschen Christen« 1932 bis zur Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934, hg. von Joachim Gauger, Elberfeld 1934, S. 72, auch in: Kurt Dietrich Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage 1933, Göttingen 1934, S. 140f. Zu Zoellner vgl. Werner Philipps, Wilhelm Zoellner. Mann der Kirche in Kaiserreich, Republik und Drittem Reich, Bielefeld 1985 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 6). – Dies war chronologisch die erste kirchliche Option, vgl. auch Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 8ff.; zum Einfluss auf die Reformierten vgl. Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf (BGLRK XXXVII), Neukirchen 1974, S. 47–50.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

und Hermann Albert Hesse sich als die Vertreter reformierter Belange auf dem kirchenpolitischen Parkett bewegten; beide wird man zweifelsohne als Konfessionalisten bezeichnen dürfen.55 Barth steht den Zoellnerschen Plänen entschieden ablehnend gegenüber.56 Die Reformierten dagegen erlebten in diesem Kontext zunächst, wie sich auch für das »reformierte Bewusstsein« eine Renaissance anzukündigen schien. Die »Sammlung« der unterschiedlichen Strömungen der Reformierten im Reich fand ihren starken Ausdruck in der Versammlung von Rheydt am 17. April 1933, die – nach einer immer wieder angegebenen Zahl – von 1200 Menschen besucht wurde und die den Reformierten Elan für weitere konfessionelle Selbstbestimmungen in den folgenden Wochen gab.57 Statt eines Informationsbesuches Niesels bei Barth kommt es am 4. Juni zu einer Besprechung in Niesels Privatwohnung, wo Barth die Elberfelder Thesen »Forderungen zur Gestalt der Kirche«58 entwirft, die am nächsten Tag bei Alfred de Quervain in Reinschrift gebracht werden. Nach einem langen Brief Niesels vom 21. Juni59 kommt es abends am 26. Juni zu einer Besprechung der Elberfelder und Barmer Pastoren und Kirchmeister mitsamt Hesse, Niesel, Barth und Weber.60 Nach der Designierung von Bodelschwinghs spitzte sich die Frage nach den neu zu errichtenden Strukturen immer mehr auf die Frage des neuen Reichsbischofs zu: Sollte die kirchliche Nominierung Bestand haben oder doch noch Hitlers Kandidat Ludwig Müller61 ein Bischof von staatlichen Gnaden werden? Schnell ist also die konfessionelle Bekennt55

Zu H.A. Hesse vgl. Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Bd. 2, Aurich 1997, S. 156–158; Ulrichs, Von Brandes zu Bukowski, a.a.O., S. 44–50; zu W. Goeters vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Goeters, Wilhelm Gustav, in: BBKL XXIV (2005), S. 715–719. 56 Vgl. etwa Barths Brief an Georg Merz vom 21. April 1933, Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 155–159. 57 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 27–31. 58 Vgl. Herwart Vorländer, Kirchenkampf in Elberfeld 1933–1945. Ein kritischer Beitrag zur Erforschung des Kirchenkampfes in Deutschland, Göttingen 1968 (AGK E 6), S. 38f.; vgl. ders. Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 50. 59 Vgl. Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 266f.; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 112–115. 60 Wie das gemeinsame reformierte Selbstverständnis über Differenzen hinweghalf, fasst Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 41 zusammen: »Der Kohäsionsfaktor in der Gruppe war groß genug, um die schon bestehenden Meinungsunterschiede noch zu verdrängen. So finden sich unter den Elberfelder und Düsseldorfer Thesen die Namen von Karl Barth und Otto Weber, der damals schon und noch den Deutschen Christen angehörte, Wilhelm Goeters und Wilhelm Langenohl, die als DC-Sympathisanten angesehen wurden, gemeinsam mit Wilhelm Niesel und Alfred de Quervain.« 61 Vgl. Thomas M. Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993 (AKiZ B 19). – Hermann Albert Hesse hegte in diesen Monaten durchaus Sympathien für den nachmaligen Reichsbischof Ludwig Müller, vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 43; Barth hatte dagegen für diese absonderliche Gestalt lediglich den Spottnamen »Ludwig, das Kind« übrig.

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nisfrage des Frühjahrs vergessen – und damit auch die Hoffnungen auf eine theologische Neubesinnung auf das Bekenntnis, die sich daran knüpften. Am 21. Juni schreibt Niesel, daß auch die Reformierten (einschließlich Hesse) der Gefahr erlegen seien, wie die DC »Kirchenpolitik« zu treiben, statt sich an einer grundlegenden Erneuerung der Kirche zu beteiligen. Nun aber habe man »zugleich den Krach in der Kirche u[nd] den Krach mit dem Staat. So mußte es kommen in einer Kirche, in der man die Lehre nicht ernst nimmt. Jetzt wird der Bankrott der ›Union‹ sichtbar.« Aus heutiger Perspektive ist es kaum plausibel, wie hier die Schuld für den »Krach mit dem Staat« bei kirchlichen Funktionären gesucht wird und nicht etwa bei dem Staat, der im Laufe des Frühjahrs 1933 schon mehrfach sein terroristisches Gesicht gezeigt hatte.62 Statt auch eine politische Analyse vorzunehmen, erwartet Niesel wie andere63 aus Barths Umkreis das richtungweisende Wort aus Barths Feder, das er ihm offensichtlich angekündigt hatte. Im Juli erscheint dann die »Theologische Existenz heute!« Anfang Juli wird Barth von den Reformierten nach Berlin gerufen, um Hesse für die dortigen Verhandlungen über eine Kirchenverfassung zur Seite stehen zu können. Auf der Rückreise (»Unterwegs zwischen Berlin u[nd] Hannover«) schreibt Barth am 5. Juli resigniert an Niesel, dass seine Anwesenheit wohl »keinen Wert mehr« habe. Neben »Kirchenpolitik« redet Barth von »Bischofsideologie« und »Kuhhandel«. Der besondere Groll Barths richtet sich nun gegen die kirchlichen Machtoder Realpolitiker, die lutherischen Bischöfe August Marahrens aus Hannover und Hans Meiser aus München. Resigniert – »Ich hätte heulen können gestern Nacht!« – reist Barth ab: »Es war mir wichtig und interessant, einmal in dieses ganze verstopfte Klosett hineinzusehen, aber da man mir die Instrumente ja doch nicht in die Hand giebt, um Ordnung zu schaffen, kann ich mich von dieser Stätte des Grauens nur mit verhüllten Haupt abwenden.«64 Barth und Niesel sehen zwar Hesses Weg kritisch, halten ihn aber im Vergleich zu anderen möglichen Sprechern für die Reformierten – wie etwa den Landessuperintendenten von reformiert Hannover, Walter Hollweg, oder gar Otto Weber – für das kleinere Übel. So bittet Niesel am 6. Juli darum, dass Barth »Hesse noch einen kräftigen, aufmunternden Brief schicken« solle, was Barth drei

62

Erinnert sei an die Massenverhaftungen politischer Gegner, die Errichtung von KL/KZ für kommunistische und sozialdemokratische Politiker und an den »Judenboykott« am 1. April 1933. 63 Z.B. Helmut Gollwitzer in seinem Rundbrief vom 9. Mai, in: Die Rundbriefe des Barth-Schülerkreises, a.a.O., S. 46–53, hier: S. 52. 64 Brief Barths an Niesel vom 5. Juli 1933, Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 279–281; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 116f.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

Tage später dann auch tut.65 Im Laufe des Sommers kommt es zu einem weiteren Wechsel in der Rolle und im Selbstverständnis Niesels: Er versteht sich nicht mehr als Sprachrohr der Reformierten auch gegenüber Barth, sondern als Verfechter des Barth-Kurses innerhalb reformierter Kontexte. Hatte Niesel vorher mit »uns« und »wir« die Reformierten gemeint, so benutzt er nun diese Pronomen zum Ausdruck für Gemeinsamkeiten mit Barth.66 Wen wird also wundern, was Barth unter dem 10. August seinem ehemaligen Schüler schreibt: »Lieber Herr Niesel, ich wollte Ihnen … gerne einmal ausdrücklich gesagt haben, wie sehr ich mich Ihres Daseins und Soseins in diesem Sommer gefreut habe. Er hat einem so viele schmerzliche Enttäuschungen gerade in persönlicher Hinsicht gebracht. Es ist nicht an der Zeit, sich Komplimente zu machen, aber Sie dürfen wohl hören, daß mir Ihr festes Herz und Ihr harter Kopf in dieser Gegenwart eine Freude und ein Trost ist.«67 Es gab damals wohl nicht viele Reformierte, über die sich Barth so vorbehaltlos positiv hat äußern können. Im Gegenteil: Barth sieht gerade bei den Reformierten viel Scheitern und beklagt im Oktober 1933 die »Tatsache, daß sich auch und gerade die Reformierten vielfach so schlecht geschlagen haben.«68 Der Sommer 1933 markiert eine Zäsur im Verhältnis der beiden: Hatte Niesel sich vorher um Barth bemühen müssen, zunächst in eigener Sache, dann für die Reformierten, so sucht Barth nun Informationen bei Wilhelm Niesel und wirbt um seine Gefolgschaft, da er sich bei den anderen Reformierten (einschließlich Hermann Albert Hesses) nicht sicher ist. »[Es] wäre … doch gut, wenn Sie mich [sc. vom Bahnhof] abholten, um mich noch rasch ins Bild zu setzen.«69 Niesel ist maßgeblich daran beteiligt, Barths kirchenpolitische Vorstellungen bei den Reformierten durchzusetzen. Der Theologe braucht nun den in die Kirchenpolitik involvierten jungen Bruder.70 Und aus der theologischen Gefolgschaft Niesels wird eine kirchenpolitische, deren damals nötige Vertraulichkeit auch eine persönliche Nähe wachsen lässt. 65 Abschrift des sehr weitsichtigen Briefes Barths an Hesse vom 9. Juli 1933 in JaLB NL WN I,3. Abgedruckt in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 284–289. 66 Vgl. Niesels Brief an Barth vom 3. August: »Hesse ist mit unserem Vorschlag restlos einverstanden.« Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 120f., hier: S. 120. 67 Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 315–317, hier: S. 317; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 121–123, hier: S. 123. 68 Brief K. Barths an K. Immer vom 20. Oktober 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 463–465, hier: S. 465. 69 Postkarte K. Barths an W. Niesel vom 12. Oktober 1933, in: Barth, Briefe 1933, a.a.O., S. 446f.; Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 133. 70 Dieses Verhältnis wird treffend zusammengefasst in der Beschreibung August Langs über die reformierte Synode im Januar 1934: »Karl Barth erläuterte … mündlich seine Erklärung, und Niesel zog hieraus einige Folgerungen für die praktische Durchführung.« August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg.« Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010, S. 225.

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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3.2 Sommer 1948: Niesel als Kirchenpolitiker im Sinne Barths Auch in den Jahren des kirchlichen Wiederaufbaus ab dem Frühjahr 1945 waren Sach- und Personalfragen oft schwer durchschaubar miteinander verquickt.71 Das ist leicht zu zeigen an dem Fall, der die EKD auf dem Weg zu ihrer Grundordnung 1948 stark belastete: der erzwungene Rücktritt Hans Asmussens im Sommer 1948. Von einer rein sachlichtheologischen Auseinandersetzung zu reden wäre sicherlich falsch, darin aber beinahe ebenso ausschließlich – jedenfalls von Seiten der bruderrätlichen Kräfte – einen kirchenpersonalpolitischen Schachzug zu erblicken72 oder gar einen Beleg meinen finden zu können, wie stark der barthianische ›Linksprotestantismus‹ seinerzeit war,73 wäre eine vergleichbare Vergröberung. Innerhalb der kirchlichen Gremien wurde dankbar wahrgenommen und ausgesprochen, dass Barth praktisch der erste ausländische Theologe mit einer den Deutschen zugewandten Gesinnung war.74 Diese Sicht findet sich so auch in der Nachkriegskirchengeschichtsschreibung. Es wird aber selten gefragt, warum Barth am kirchlichen Neubeginn hat teilnehmen sollen. Von welcher Kirche oder Gemeinde hatte er ein Mandat, welches kirchliche Amt von Gemeindeleitung, Verkündigung oder Lehre hatte er in Deutschland inne?75 De facto 71

Vgl. die umfassende Darstellung von Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002; vgl. auch ders., Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010. 72 So Gerhard Besier, Die Kirchenversammlung von Eisenach (1948), die Frage nach der »Entstehung einer vierten Konfession« und die Entlassung Hans Asmussens. Zugleich eine Erinnerung an den ersten Leiter der EKD-Kirchenkanzlei, in: KuD 34 (1988), S. 252–281, auch in: ders., Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1994 (HThSt 5,2), S. 57–87, hier: S. 59. 73 So Michael Inacker, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918–1959), Neukirchen-Vluyn 1994 (HThSt 8), v.a. S. 207ff. 74 Vgl. Schreiben des Bruderrates, Treysa, 6. Mai 1946 an Barth (mit den Unterschriften u.a. von Niesel, Iwand, Beckmann, Niemöller, Middendorff – und Asmussen!): »Sie haben als erster uns vom Ausland her die Hand gereicht und Worte des Trostes und der Zuversicht an uns und unser Volk gerichtet« (KBA, Basel). Zu Barths Wirken vgl. Martin Greschat, Karl Barth und die kirchliche Reorganisation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950): Widerstand – Bewährung – Orientierung. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2008 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2010, S. 243–265. 75 Theophil Wurm hatte in seiner Schrift »Die Entmündigung der Gemeinden« vom Dezember 1946 daraufhin gewiesen, dass im Gegensatz zu den synodal bestätigten Kirchenleitungen, die von »Karl Barth und seine[n] engere[n] Freunde[n]« hart kritisiert wurden, der »kampfeslustigen theologischen Sozietät in Württemberg« und den meisten BK-Bruderräten jegliche Bestätigung durch die Gemeinden fehle. Vgl. Die Protokolle

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

musste er als ein aus politischen Gründen aus dem »Dritten Reich« Verbannter gelten und konnte mit dieser moralischen Legitimation sein früheres kirchenpolitisches Wirken wieder aufnehmen. Es war der Bruderrat der Bekennenden Kirche, der Barths Teilnahme an Treysa praktisch erzwungen hatte.76 Und genau an dieser Teilnahme und an der folgenden Einflussnahme Barths brach der Streit auf: Asmussen – über dessen persönliche und theologische Fehler frühestens dann geurteilt werden dürfte, nachdem man seine außerordentlichen Verdienste um den Aufbau der BK 1933/1934 gewürdigt hat – wandte sich einem konfessionell lutherischem und liturgisch-hochkirchlichen Kurs zu, beginnend bereits in der zweiten Hälfte der 30er Jahre. Barth sah in dem, was für Asmussen von zentraler Bedeutung wurde, eine Abkehr von den wirklichen theologischen und kirchlichen Problemen. Asmussens Auseinandersetzung mit Barth war es, die ihn hat letztlich scheitern lassen.77 Er wurde im Rat schließlich als untragbar angesehen. Asmussen und Barth haben eine längere gemeinsame, hier nicht darzustellende Geschichte.78 Die ersten Treffen alter Bundesgenossen mit Barth nach der Befreiung Deutschlands waren unvergessliche Augenblicke der Freude für die Beteiligten, aber bald kristallisierten sich neue »Fronten« aus. Barths Wipkinger Vortrag vom Dezember 1938,79 die Frage nach geschichtlicher Schuld,80 scharfe Angriffe der württembergischen Kirchlich-theologischen Sozietät gegen den EKD-Ratsvorsitzenden und württembergischen Landesbischof Theophil Wurm, Barths und Niemöllers Weg von der Stuttgarter Schulderklärung 1945 zum Darm-

des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band 2: 1947/48, bearbeitet von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze, Göttingen 1997 (AKiZ A 6), S. 44 mit Anm. 104. 76 So Hans Asmussen, in: Wolfgang Lehmann, Hans Asmussen. Ein Leben für die Kirche, Göttingen 1988, S. 219. Zur Gründungsgeschichte der EKD vgl. die ausführliche Dokumentation: Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945, hg. von Gerhard Besier / Hartmut Ludwig / Jörg Thierfelder, bearb. von Michael Losch / Christoph Mehl / Hans-Georg Ulrichs (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 24), Weinheim 1995. 77 So die Einschätzung in Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989, S. 90.134. 78 Vgl. Gerhard Besier, Die Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Hans Asmussen. Ein Paradigma für die konfessionelle Problematik innerhalb des Protestantismus?, in: BThZ 6 (1988), S. 103–123; jetzt in: ders., Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, a.a.O., S. 121–142. 79 Karl Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute, in: ders., Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zollikon-Zürich 1945, S. 69–107. 80 Vgl. Michael Beintker, Karl Barth und die Frage nach der Schuld der Deutschen, in: ders. u.a. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950), a.a.O., S. 229–242. Vgl. auch Wolf-Dieter Hauschild, Die Evangelische Kirche und das Problem der deutschen Schuld, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche, a.a.O., S. 116–138.

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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städter Wort 1947 – den Niesel ohne Frage mitging81 – ließen den seit Oktober 1945 amtierenden Kanzleichef der EKD nicht mehr ruhen. Dem Flensburger Vortrag »Gehört Luther vor das Nürnberger Gericht?«82 vom Oktober 1947, der Asmussen »die bittere Feindschaft Niesels« einbrachte,83 folgten zahlreiche Briefe an kirchenpolitische Akteure und im Frühjahr 1948 (15. März) dann ein Memorandum an die Mitglieder des Rates der EKD über die von ihm initiierte Arbeit des »Detmolder Kreises« zur Sammlung von (Unions-)Lutheranern außerhalb der VELKD.84 Wegen dieses Versuches von »Geheimdiplomatie« entzog Niesel Asmussen das Vertrauen.85 Schaut man aber den Briefwechsel zwischen Barth und Niesel an, dann liegt offen zu Tage, dass Niesel hier weder allein noch aus bloßer moralischer Entrüstung so reagierte, sondern wohl auch meinte, geradezu wie ab Sommer 1933 kirchenpolitisch Barth Recht verschaffen zu müssen.86 Bereits im ersten aus der Zeit nach 1945 erhaltenen Brief Barths an Niesel vom 12. Juni 1946 (aus der Feder Charlotte von Kirschbaums) werden dem kommenden Moderator des Reformierten Bundes die Briefe Barths an Asmussen und Niemöller vom Juni 1946 mitgeteilt.87 In praktisch sämtlichen Schreiben seit dem geht es neben anderen Themen immer auch um Asmussen. Postwendend antwortet Niesel am 14. Juni und versichert Barth, dass Asmussen mit seinen Anschauungen über »Priestertum« und »Opfer« auch im EKD-Rat, dem Niesel als jüngstes Mitglied von Anbeginn an angehörte, allein sei. »Kein Mensch redet sonst davon! Da er jetzt sogar hat drucken lassen, daß das ernste, entscheidende Dinge seien, um die das Interesse der BK kreise, werde ich ihn beim nächsten Zusammentreffen stellen und ihm sagen, daß er sich einer gründlichen Täuschung hingebe. Aber er ist ja so eigenwillig«.88 Bereits ein halbes Jahr später fühlt sich Niesel bemüßigt, für Barth gegen Asmussen vorzugehen. Asmussen hatte Ende 1946 in einer »Antwort an 81

Niesel auf der Bruderratssitzung am 6./7. Juli 1947 in Darmstadt, zit. nach Inacker, Transzendenz, a.a.O., S. 205: »Was in Stuttgart gesagt ist, muß konkret werden, damit wir nicht aufs neue in den Abgrund steuern.« 82 In: Nachrichten für die evangelisch-lutherischen Geistlichen in Bayern 2 (1947), S. 123–128. 83 In: Lehmann, Asmussen, a.a.O., S. 222. 84 Wiedergegeben ist dieses theologisch durchaus krude Dokument, in dem Barth neben Bultmann, die Reformierten und die Sozietäten und Bruderräte kritisiert werden, bei Besier, Kirchenversammlung, a.a.O., S. 79–87. 85 Brief Niesels an die Mitglieder des Rates der EKD vom 30. März 1948, ZEKHN Darmstadt 62/2000b, zit. nach Besier, Kirchenversammlung, a.a.O., S. 62, Anm. 26. 86 Zu Niesels Weg nach 1945 vgl. Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe, a.a.O. 87 Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 206. Vgl. Herbert, Kirche, a.a.O., S. 356f., Anm. 69, und Nachtrag S. 381. 88 Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 207–209, hier: S. 209.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

Karl Barth«89 diesem schlicht die Fähigkeit abgesprochen, in Fragen innerhalb der deutschen Kirche (wie der Schuld- oder Dämonenfrage) mitreden zu können, rede hier doch »ein Nicht-Verstrickter aus einem nicht verstrickten Volke«,90 der zudem in Gefahr stehe, nicht mehr theologisch, sondern politisch zu reden und damit »Barmen« zu verleugnen. Karl Herbert sieht in dieser »Antwort« den »Markierungspunkt eines tragischen Weges, der ihn in all seiner Eigenwilligkeit zu immer größerer Entfremdung von den alten Freunden … und schließlich in so eine weitgehende Isolierung führte, daß er 1948 sein Amt als Präsident der Kirchenkanzlei aufgeben … mußte.«91 Daraufhin versichert Niesel Barth am 21. Januar 1947: »In der Ratssitzung werde ich mich gegen Asmussens üble Broschüre wenden, in der er Sie im Präsidial-Stil abkanzelt. Er mißbraucht fortwährend sein Amt und dessen Hilfsmittel (in diesem Fall die betr. Schriftreihe) für seine Extratouren, und wir werden damit belastet. Freilich wohl ein unheilbarer Fall. Solange er in dieser Stellung bleibt, werden wir dergleichen immer wieder erleben.«92 Was also lag näher, als eine Absetzung Asmussens zu betreiben? Niesels Hoffnung auf ein kräftiges Auftreten Barths im Sommersemester 1947 enttäuscht Barth im Brief vom 1. April: Er wolle sich auch von Asmussen und dessen Invektiven nicht verdrießen lassen, die hoffentlich zahlreichen Bonner Studenten mittels des Heidelberger Katechismus in die Theologie einzuführen.93 »Ob ich im Bruderrat je in Erscheinung treten soll? Die Sache lockt mich nicht sehr. Die zur sauersüßen Regierungs- bzw. Koalitionspartei gewordene BK ist nicht mehr mein Fall.«94 Scheint Barth hier zunächst Gelassenheit demonstrieren zu wollen, so wird abermals 89 90 91 92

Vgl. Herbert, Kirche, a.a.O., S. 91f. A.a.O., S. 91. Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 213; Herbert, Kirche, a.a.O., S. 92. Inhaltlich stellte sich Wurm hinter den Kanzleichef, vgl. Protokolle des EKD-Rates, a.a.O., Band 2, S. 43–49: Schreiben Niesels an Wurm vom 31. Januar 1947 und Antwort Wurms vom 5. Februar 1947. Niesel weist darauf hin, dass Angriffe auf Barth negative Auswirkungen für die kirchlichen Auslandskontakte haben könnten. Wurm kontert: »Will man zu Gunsten Karl Barths einen Majestätsbeleidigungsparagraphen aufstellen?« A.a.O., S. 48. 93 Zu Barths Engagement in Bonn nach Kriegsende vgl. Wolfram Kinzig, Wort Gottes in Trümmern. Karl Barth und die Evangelisch-Theologische Fakultät vor und nach dem Krieg, in: Thomas Becker (Hg.), Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im ›Dritten Reich‹ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 23–57, v.a. S. 32ff., zu Barths zweitem Gastsemester im Sommersemester 1947, a.a.O., S. 53f. In einem Brief an Niesel vom 8. August 1950 erinnert sich Barth daran: »Ich habe meine Sache wohl nicht gut gemacht, das rechte Wort nicht gefunden.«, a.a.O., S. 54. BarthNiesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 235–237, hier: S. 236. 94 Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 214–216, hier: S. 216. Dieses Zitat wurde mehrfach von Hartmut Ludwig im Zusammenhang mit dem Darmstädter Wort benutzt, z.B. in: ders., Die Entstehung des Darmstädter Wortes, Junge Kirche, Beiheft zu Heft 8/9 1977, S. 4 mit Anm. 11.

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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Niesel im Antwortschreiben am 29. April energischer: Man müsse gemeinsam mit Martin Niemöller »überlegen, wie Asmussen an die Kette zu legen oder zu ersetzen ist.«95 Nachdem sich Niemöller am 1. Oktober 1947 gegen Asmussen bei der Wahl zum hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten durchsetzen konnte, wurde der Ton noch rauher. Hermann Diems scharfem Angriff vom 18. November 1947 begegnet Asmussen mit einer gedruckten Antwort vom 1. Dezember,96 wobei es sich stets um Barths theologische und (kirchen-) politische Positionen dreht. Und nun ist Barth bereit, in Niesels Überlegungen zu einer Kaltstellung Asmussens einzusteigen. Am 21. Dezember 1947 schreibt er einen geharnischten Brief nach Schöller: »Bis zu diesem Tag habe ich mich diesem ganzen Vorgang gegenüber nicht gerührt. Sie sind der Erste, den ich nun auch nur privatim auf diese Sache anrede.« Asmussen führe immer wieder Streit gegen ihn, dabei verstünde er erstens wenig und zweitens habe er auch kaum etwas aus seinen [sc. Barths] Schriften gelesen. Es mache keinen Sinn, in eine Auseinandersetzung mit Asmussens Schrift einzutreten. Vielmehr bezieht sich Barths Anfrage auf Asmussens Stellung als Präsident der Kirchenkanzlei, worauf er sich mehrfach selber bezog. Barth will definitiv wissen, ob – wie auch immer abgeschwächt – der Rat der EKD mit Asmussen einig ginge. Falls das nicht der Fall sei, stelle er, Barth, sozusagen die »Vertrauensfrage«. Einen formellen Antrag an Wurm oder den ganzen Rat wolle er nicht richten, »weil meine juristische Legitimation dazu wahrscheinlich zweifelhaft ist … Der Sinn meines Schreibens an Sie ist also der, daß ich Ihnen diese Anfrage ›zu treuen Händen‹ und zu der Ihnen gut scheinenden Verwendung mitteile.«97 Wenige Tage nach diesem Schreiben Barths macht Niesel auf der Reise durch die Schweiz einen Zwischenhalt in Basel, wo wahrscheinlich alles besprochen wird. Das gegenseitige Vertrauen findet seinen Ausdruck nun auch in der neuen Anrede »Du«, die brieflich am 29. Dezember 1947 von Niesel an Barth zum ersten Mal belegt werden kann.98 Niesel bringt den »Fall Asmussen« sogleich auf der Januar-Sitzung 1948 im Rat der EKD zur Sprache. Am 16. Januar berichtet er Barth, dass »erstaunlicherweise darüber völlige Einmütigkeit [bestand]. Ein Mitglied sagte mir nach Schluß der Sitzung: ›Ich danke Ihnen, daß Sie diese Eiterbeule aufgestochen haben.‹ Der Rat hat beschlußmäßig festgestellt, daß der Flensburger Vortrag von Asmussen … nur dessen persön95 96 97

Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 217f., hier: S. 217. Vgl. Lehmann, Asmussen, a.a.O., S. 214. Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 219–222. – Ein Durchschlag des Schreibens geht an Gustav Heinemann. Also konnte Barth mit Heinemann, Held, Niemöller und Niesel auf ein Drittel des Rates bauen. 98 Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 222f.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

liche Meinung wiedergibt99 … Man konnte sich im Augenblick nicht entschließen, meinem weitergehenden Antrage, Asmussen seines Amtes zu entheben,100 zu entsprechen, 1. weil er selber nicht zugegen war, 2. weil man ihm den Übergang in ein anderes Amt nicht verunmöglichen wollte … und 3. weil die verfassunggebende Kirchenversammlung Ende April stattfinden soll, auf der … eine Änderung in der Leitung der Kanzlei herbeigeführt werden wird … Mehr ließ sich im Augenblick nicht erreichen, aber ich finde, es ist genug, da sich alle Mitglieder des Rates darüber einig waren, daß Asmussen nicht mehr länger Präsident der Kanzlei sein dürfe.«101 In dieser Zeit wird Barth auch mit internen Informationen von den Ratsmitgliedern Gustav Heinemann und Heinrich Held versorgt,102 eine ständige Fühlungnahme mit Martin Niemöller und Wilhelm Niesel kann angenommen werden. Aber Barth ist mit dem gefassten Beschluss gar nicht zufrieden, wie er Niesel am 24. Januar 1948 mitteilt, denn er habe »nicht nach Asmussens Skalp verlangt«, wohl »aber die Vertrauensfrage gestellt«. Enttäuscht ist Barth vom bekenntniskirchlichen Bruderrat, der sich in dieser Sache ebenfalls meinte nicht deutlicher äußern zu können; man müsse hier ja schon froh sein, dass ein Antrag Edmund Schlinks, der Hermann Diem wegen seiner Angriffe auf Wurm gerügt sehen wollte, abgelehnt worden sei. Niesel gegenüber zeigt sich Barth ganz offen auch persönlich angeschlagen, dass die kirchlichen Gremien sich nicht dazu entschließen können, seine »in der deutschen Öffentlichkeit nun immerhin sehr massiv angegriffene[.] theologische[.] und kirchliche[.] Ehre« zu verteidigen, schließlich sei er von Asmussen »angepöbelt« worden. Schon 1935 sei er in dem Prozess um die Begrenzung des Diensteides, den er auch für die BK geführt habe, von der Vorläufigen Leitung und dem Reichsbruderrat »im Stich gelassen« worden. Dass Barth hier an sehr lange zurückliegende Ereignisse erinnert, zeigt, wie sehr er sich persönlich verletzt gefühlt haben dürfte. »Dir persönlich«, so Barth weiter an Niesel, »danke ich für alles, was Du in dem von mir erwünschten, aber offenbar nicht durchzusetzenden Sinn unternommen, gesagt und getan hast. Mit unserer persönlichen Freundschaft soll also alles hier Gesagte nichts zu tun haben als dies, daß ich das alles gerade Dir nun eben so offen gesagt habe, wie man es nur einem Freunde sagt.«103 Das bereits genannte »Memorandum« Asmussens und Niesels Brief an die Ratsmitglieder im März verfestigen den Kurs, dass die Lösung des Konflikts wohl nur in einer Richtung – nämlich der Absetzung Asmus99 100 101 102 103

Vgl. Protokolle des EKD-Rates, a.a.O., Band 2, S. 361, TOP 9. Vgl. a.a.O., S. 361, Anm. 33. Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 224–226. Vgl. Brief Barths an Niesel, 24.1.1948. Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 226–228.

3. Der Barth-Niesel-Briefwechsel 1924–1968

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sens – zu suchen sein würde. Hinzu kamen Auseinandersetzungen um Asmussens Amtsführung.104 Als Niesel sich dann am 11. Mai 1948 bei Barth meldet, kann er zwar nicht dessen weitergehenden Wunsch nach einer »Vertrauensfrage« befriedigen, wohl aber in Sachen Absetzung Asmussens Vollzug melden. »Im Zusammenhang mit unserer letzten Ratssitzung ist es nun dahin gekommen, daß Asmussen uns schriftlich mitgeteilt hat, er würde vom 1. Juni an in den Urlaub gehen. Wurm hatte ihm auf unsere [sc. der EKD-Ratsmitglieder] Bitte hin eröffnet, daß dieses notwendig sei bis zu dem Zeitpunkt, wo auf Grund der neuen Verfassung die Stelle des Leiters der Kanzlei neu besetzt werden kann. Er ist natürlich schwer gekränkt und fühlt sich aufs höchste ungerecht behandelt.«105 Nach der Kirchenversammlung in Eisenach (10.– 13. Juli 1948), die die Grundordnung der EKD beschloss, erwies sich dann Asmussens »Rücktritt« gewissermaßen als Pyrrhussieg, weil mit Heinz Brunotte im April/Mai 1949 gerade kein BK-Mann, sondern ein kirchlicher Realpolitiker Leiter der Kirchenkanzlei wurde.106 Zwei Bemerkungen mögen diesen Punkt abschließen: 1. Asmussen ging seinen eigenen Weg, der originell war, aber auch einsam und voller Enttäuschungen. Im Sommer 1948 schloss Niesel einen Brief an Barth mit den Worten »Asmussen läuft weiter Amok.«107 Ein theologisches Gespräch zwischen Barth, Niesel oder den Reformierten und Asmussen fand nicht mehr statt. Wohl aber ist dokumentiert, dass immerhin Niemöller und Scharf kurz vor Asmussens Tod den persönlichen Frieden mit ihm suchten.108 Ob Niesel ihn auch gesucht hat? Immerhin beschreibt er Asmussens Rolle in seiner Darstellung des Kirchenkampfes sehr positiv – was Wunder, denn in der für diese Darstellung durchgearbeiteten eigenen Sammlung von Kirchenkampf-Dokumenten109 finden sich zahlreiche Papiere – auch humorvolle Zettel von Bekenntnissynoden –, die die enge und gute Zusammenarbeit von Asmussen und Niesel Mitte der dreißiger Jahre belegen. Bei Erscheinen der Kirchenkampf-Geschichte Niesels war Barth bereits zehn Jahre tot und Niesel dadurch wohl freier zu urteilen. 2. Auch wenn Niesel im Konflikt mit Asmussen nach 1945 teilweise in ›vorauseilendem Gehorsam‹ meinte, 104 105

Vgl. Protokolle des EKD-Rates, a.a.O., Band 2, S. 381–390. Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 230f. Lehmann, Asmussen, a.a.O., S. 216–225, gibt eine Zusammenstellung der Ereignisse und Dokumente von Asmussen von Mai 1948 wieder. Vgl. auch Herbert, Kirche, a.a.O., S. 134–136. 106 Vgl. Besier, Kirchenversammlung, a.a.O., S. 76; Protokolle des EKD-Rates, a.a.O., Band 2, S. 520 mit Anm. 12. Zu Brunotte vgl. Jens Gundlach, Heinz Brunotte 1896– 1984. Anpassung des Evangeliums an die NS-Diktatur. Eine biographische Studie, Hannover 2010. 107 Brief Niesels an Barth vom 14. Juni 1948, Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 231f., hier: S. 232. 108 Vgl. Lehmann, Asmussen, a.a.O., S. 215f. 109 EZA 619.

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»Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«

Barths Positionen verteidigen zu müssen, so lässt sich daraus nicht schließen, dass Niesel in seinen Entscheidungen völlig abhängig von Barth gewesen sei. Am 14. Juni 1948 erhält er die dringende Anfrage des Bonner Dekans, Barths früheren Lehrstuhl zu übernehmen. Niesel will sich raten lassen von Barth und den Freunden des reformierten Moderamens, ob er sich für kirchenregimentliche Aufgaben oder für die theologische Lehre entscheiden soll. Kurz zuvor hatte ein anderer bekannter Reformierter, nämlich Martin Albertz110, seine NT-Professur an der Berliner Kirchlichen Hochschule niedergelegt, um im Pfarramt und in der Superintendentur bleiben zu können. Am 18. Juni 1948 rät Barth Niesel, auf jeden Fall die Professur in Bonn zu übernehmen, um an dieser Stelle »mit Deinem strengen, soliden, vielleicht etwas trockenen, aber jedenfalls nüchternen Kopf« der Kirche nachhaltiger dienen zu können als mit kirchenregimentlichem Engagement.111 Bekanntlich ist Niesel diesem Rat seines Lehrers nicht gefolgt. Niesel suchte zwar den Rat Barths, aber er ging seinen eigenen Weg. 4. Abschluss In Wilhelm Niesels Leben spielte sein Lehrer Karl Barth eine große Rolle. Beinahe über 45 Jahre standen sie in Kontakt zueinander. Aber Barth wurde nicht zu einem psychologisch bedenklichen Übervater, weil Niesel sich von ihm emanzipieren konnte. Er tat dies freilich nicht durch Distanzierung, sondern dadurch, dass auch er begann, eine wichtige Rolle für Barth zu spielen; so wurde ein einseitiges Lehrer-SchülerVerhältnis aufgebrochen, wie am Briefwechsel des Sommers 1933 demonstriert werden konnte. Im Konflikt um Asmussen nach 1945 nahm Niesel keine vermittelnde Position mehr ein, sondern war bereit, aktiv Kirchenpolitik bzw. Personalpolitik auch im Sinne Barths zu betreiben. Im Jahre 1933 gehörte er zu den »jungen Brüdern« und konnte deshalb binnenkirchlich nicht so wirkmächtig auftreten, auch nach 1945 war er für einige Zeit noch das jüngste Mitglied des Rates der EKD, allerdings innerhalb des reformierten Lagers anerkannt und etabliert. Aus einem staatlich Verfolgten und kirchlich Marginalisierten wurde nach 1945 jemand, der in kirchlichen Gremien und in der Öffentlichkeit durchaus über Einfluss und Durchsetzungskraft verfügte. Kirchengeschichte ist mehr als die Geschichte der akademischen Theologen. Karl Barth war, trotz aller Konzentration auf die akademische Theologie, immer auch ein kirchlich hoch engagierter Zeitgenosse. 110 Vgl. Peter Noss, Martin Albertz 1883–1956. Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001. 111 Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 233f.

4. Abschluss

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So wie Barth als theologischer Lehrer für Niesel wichtig war, so war Niesel als Kirchenfunktionär für Barth wichtig, da er zunächst Einblicke und Einschätzungen übermittelte, dann aber immer mehr die Positionen Barths bzw. gemeinsame Positionen zu realisieren versuchte. So wie Barth nur der eine Part im Briefwechsel Niesel-Barth ist, so ist es auch geboten, von reformierter Kirche und Theologie des 20. Jahrhunderts mehr wahrzunehmen als den alles überragenden Theologen Barth. Erst im Zusammenspiel mit den anderen Akteuren lässt sich der so genannte »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts« historisch einzeichnen.

»Die Synode erhob sich wie ein Mann« Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode

1. Einleitung »Der Eindruck war [...] der einer starken Männerwelt«. So beschreibt eine Zeitgenossin die Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934. Wie in großen Teilen der Kirchengeschichte1 sind Frauen in der Geschichtsschreibung von »Barmen« und vom Kirchenkampf unterrepräsentiert – die einzige weibliche Delegierte in Barmen, Stephanie Mackensen von Astfeld (1894–1985) ist auch keine ausschließlich positive Identifikationsfigur, da sie bereits 1932 der NSDAP beitrat.2 Zunächst konnten Frauen seinerzeit nicht partnerschaftlich an den Vorgängen partizipieren, sondern spielten in den Familien, gerade auch als starke Partnerinnen,3 in der Organisation4 und in der Versorgung männlicher Akteure5 1 Vgl. grundsätzlich Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006. Für die neueste Kirchengeschichte liegt ein über 600 Seiten starkes Werk vor: Inge Mager (Hg.), Frauenprofile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert (Die Lutherische Kirche – Geschichten und Gestalten 22), Gütersloh 2005. Zu den Theologinnen vgl. die beiden Werke »Darum wagt es, Schwestern …« Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland (HThSt 7), Neukirchen-Vluyn 21994; Lexikon früher evangelischer Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005. Vgl. auch Esther Röhr (Hg.), Ich bin, was ich bin. Frauen neben großen Theologen und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1997. 2 Vgl. Gelebte Reformation. Barmer Theologische Erklärung, Begleitbuch zur Ausstellung, hg. von Martin Engels und Antoinette Lepper-Binnewerg im Auftrag der Evangelischen Kirche im Rheinland, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 125. 3 Als Beispiele aus dem reformierten Bereich seien genannt: zu Margarete Schneider vgl. Sigrid Lekebusch, Die Familie Paul Schneiders. Eine Ergänzung zur Familienbiographie des Predigers von Buchenwald, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 161–175; zu Menna Steen, Ehefrau Hermann Steens, eines maßgeblichen Mitglieds der Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der reformierten Landeskirche der Provinz Hannover, vgl. Susanne Brandt, Ich bin eine freie Friesentochter. Menna Steen, eine Pfarrfrau im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Leer 2003. 4 Als Beispiel: »Unter den Verhafteten befand sich auch die Sekretärin des Brandenburger Bruderrats Senta-Maria Klatt. Über das, was sie für die Bekennende Kirche … mit großer Selbstverständlichkeit und Tapferkeit geleistet hat, müsste ein besonderes Kapitel geschrieben werde.« Leider unterließ es der Verfasser der Zeilen, dieses besondere Kapitel über Senta-Maria Klatt zu schreiben. Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort.

1. Einleitung

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eine wichtige Rolle. Sodann sind ihre Taten weit weniger in die Akten eingegangen als die der Männer: Die relativ wenigen Nennungen gemaßregelter Frauen in den Fürbittlisten der Bekennenden Kirche (BK) finden sich auf anderthalb Seiten.6 Schließlich waren es bislang – mit nur wenigen Ausnahmen – Männer, die die Geschichte des Kirchenkampfes und der BK autobiographisch und historiographisch geschrieben haben, und diese waren lange Zeit von traditionellen Geschlechtervorstellungen geprägt. Es ist also kein Wunder, dass in älteren Büchern sogar die einzige weibliche Synodale von Barmen keine Erwähnung fand! Durchaus polemisch, aber zutreffend formuliert Manfred Gailus: »Symptomatischerweise fehlten bei der Heldenverehrung fast immer die Frauen, obwohl sie zu wesentlichen Teilen die Arbeit der BK mitgetragen und sowohl theologisch wie im praktischen christlichen Widerstand Bedeutendes geleistet haben.«7 Umso erstaunlicher ist es, wenn Frauengeschichtsforschung nicht einmal als Desiderat wahrgenommen wird.8 Die Bekennende Kirche im Deutschen Reich war schon auf den ersten Blick patriarchal. Leitungsgremien hießen etwa »Bruderrat«, und »[d]ie christliche Kirche« wurde nach der Barmer Theologischen Erklärung als »die Gemeinschaft von Brüdern« verstanden. Dabei sah die bekenntniskirchliche Wirklichkeit, zumal in der zweiten Hälfte der 30er

Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945 (AGK E 11), Göttingen 1978, S. 213 mit Anm. 16. – Vgl. zu Senta-Maria Klatt: Wolfgang See / Rudolf Weckerling, Frauen im Kirchenkampf. Beispiele aus der Bekennenden Kirche Berlin Brandenburg 1933 bis 1945, Berlin 1985, S. 9–21; Paul Gerhard Kunze, Senta Maria Klatt (1905–1993). Eine Frau im Widerstand gegen jede Resignation, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 62 (2000), S. 249–256. 5 Davon berichtet – nicht ohne Süffisanz – Leni Immer, Meine Jugend im Kirchenkampf, Stuttgart 1994, S. 42: »Viele Hände regten sich, um die Gäste zu versorgen. Wer mithalf, durfte bei den Beratungen zuhören.« 6 Vgl. Fürbitte. Die Listen der Bekennenden Kirche 1935–1944, bearbeitet von Gertraud Grünzinger und Felix Walter, Göttingen 1996, S. 225f. 7 Manfred Gailus, Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im »Dritten Reich«, in: ders. / Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 96–121, hier: S. 96. Vgl. auch Dagmar Herbrecht, Die mutigen Frauen des Kirchenkampfes in einer protestantischen Männergesellschaft, in: Manfred Gailus / Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 343–359; Manfred Gailus, Die mutigen Frauen in einer kirchlichen Männergesellschaft. Anmerkungen zur Frauenund Geschlechtergeschichte am Beispiel des Berliner »Kirchenkampfes«, in: Wolfgang Benz (Hg.), Selbstbehauptung und Opposition. Kirche als Ort des Widerstandes gegen staatliche Diktatur, Berlin 2003, S. 145–174. 8 Klaus Fitschen, Die Kirchen und das Dritte Reich. Überlegungen, Entwicklungen, Tendenzen und Desiderate im Bereich des Protestantismus, in: MiKiZ 6 (2012), S. 113–123.

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»Die Synode erhob sich wie ein Mann«

Jahre und erst recht während der Kriegsjahre9 anders aus: Frauen dominierten die Versammlungen. In einigen Regionen war die Beteiligung von Frauen noch stärker als in der früheren Volkskirche von vor 1933 – regionalgeschichtliche Studien belegen bis zu 80 % Frauen bei Bekenntnisveranstaltungen (etwa Bibelkreisen) und -gottesdiensten.10 »[D]ie bruderrätliche Kirchenopposition«, so wird deshalb geschlussfolgert, war eine »durch männliche Theologen geführte[.] Frauenbewegung«.11 Das führte zu einer »unkomfortable[n] Konstellation streitbarer Frauen in Kreisen der protestantischen Kirchenopposition …: Selbstverständlich stritten sie gegen den Vormarsch der nationalsozialistischen Deutschen Christen und deren ideologischen Machtanspruch auf die Kirchen; dann aber wehrten sie sich auch zugleich gegen allzu fest gefügte konservativbiblizistische Positionen im eigenen Lager, in der von männlichen Theologen, zumeist Pfarrern, geführten Kirchenopposition.«12 Nur wenige der Frauen waren Theologinnen, deren Geschichten unterdes akribisch nachgezeichnet werden. Aber es kann und soll in einer Geschichte der Frauen der BK nicht nur um die Frage des Zugangs von Frauen zum Pfarramt gehen, also um Vikarinnen, Pfarrhelferinnen oder -kandidatinnen; gewiss ist diese Entwicklung wichtig, aber eine solche Fokussierung wäre die Fortsetzung früherer Kirchengeschichtsschreibung, in der ganz überwiegend Theologen und Amtsträger thematisiert wurden.13 Nicht wenige der BK-Theologinnen wurden unmittelbar nach dem Kriegsende wieder aus dem Gemeindedienst verdrängt. Insgesamt ist sicher festzustellen: Die BK war keine emanzipatorische oder fortschrittliche Vereinigung, sondern männerdominiert und patriarchal.14

9

Vgl. Ellen Ueberschär, Zu den Geschlechterbeziehungen in der Deutschen Evangelischen Kirche während des Zweiten Weltkriegs, in: Karl-Joseph Hummel / Christoph Kösters (Hg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945, Paderborn 2007, S. 443–466. 10 Vgl. Manfred Gailus / Clemens Vollnhals, Protestantische Frauen mit viel Empathie und klugem Eigensinn. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Mit Herz und Verstand. Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassenpolitik, Göttingen 2013, S. 7–20, hier: S. 11. 11 A.a.O., S. 12. 12 A.a.O., S. 9. 13 Auf diese »Falle« einer Frauengeschichtsschreibung weist hin Ellen Ueberschär, Fürchtet Euch nicht! Frauen machen Kirche, Freiburg 2012, S. 70f. Zum Thema vgl. »Darum wagt es, Schwestern …«, a.a.O., vor allem Dagmar Herbrecht, Emanzipation oder Anpassung. Argumentationswege der Theologinnen im Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Neukirchen-Vluyn 2000. 14 Der bewegende Briefwechsel zwischen einer jungen rheinischen Vikarin und Karl Barths Lebensgefährtin dokumentiert auch ein geradezu zerstörerisches Patriarchat in bekenntniskirchlichen Pfarrhaushalten, aber ebenso Lebenslust und Experimentierfreudigkeit unter jungen »Barthianern« und »Barthianerinnen«: Günther van Norden (Hg.), Charlotte von Kirschbaum und Elisabeth Freiling. Briefwechsel von 1934 bis 1939, Göttingen 2014.

1. Einleitung

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Umso erfreulicher muss es erscheinen, dass im Folgenden ein sehr zeitnaher, authentischer Bericht einer Frau dokumentiert werden kann, die als Gemeindeglied von Martin Niemöller in Dahlem den Kirchenkampf von Anfang an und geradezu hautnah miterlebt hat. Susanna Pfannschmidt (30. Juni 1895–3. April 1989), Tochter des bekannten Bildhauers Friedrich Johann(es) (Fritz) Pfannschmidt (1864–1914), konnte Ende Mai 1934 als »Sekretärin« Niemöllers die Reise von Berlin ins Wuppertal antreten. Neben ihren Diensten für Niemöller hatte sie Gelegenheit, einige Photographien in den Pausen der Beratungen aufzunehmen, die bis heute wertvolle Bilddokumente dieser Bekenntnissynode sind. Von ihren Erlebnissen berichtete sie dann knapp eine Woche später einem Freundeskreis durch einen mehr als sechsseitigen Rundbrief, der vervielfältigt wurde und der zeitlich vor den Berichten der BK-Presse über die Bekenntnissynode geschrieben und verbreitet wurde, so dass wir es hier mit einem von den bekenntniskirchlichen Meinungsmachern einigermaßen unbeeinflussten Bericht zu tun haben. Gerade von solchen kirchengeschichtlichen »Höhepunkten« wie der Barmer Bekenntnissynode existieren geradezu stereotype und kurz gefasste Rekonstruktionen. Solche Texte wie der von Susanna Pfannschmidt müssten intensiver zur Kenntnis genommen werden. In ihm wird etwa deutlich, wie der Kirchenkampf doch als binnenkirchliches Geschehen verstanden wurde und es keine grundsätzliche Opposition zum NS-Weltanschauungsstaat gab, den man als solchen und als grundsätzlichen Unrechtsstaat noch gar nicht identifiziert hatte. Deutlich wird auch, ein wie beeindruckendes Erlebnis »Barmen« gewesen sein muss15 – es kann nicht verwundern, dass mittelbar und unmittelbar Beteiligte davon ein ganzes theologisches und kirchenpolitisches Leben lang gezehrt haben. Und nicht zuletzt sollte ein solcher Text auch unter der Perspektive der historischen Frauenforschung und der Genderforschung wahrgenommen werden. Inwieweit handelt es sich hier um einen identifizierbar von einer Frau verfassten Text, was verrät er über die damaligen 15

Geschehen und Text von »Barmen« griffen gewiss ineinander. Für Beteiligte und für viele Barmen-Rezipienten erschloss sich die Authentizität und die Wirkkraft dieser Worte für ihr Leben und Handeln in den ihnen möglichen Horizonten. Insofern sind manche kritische Bemerkungen Elke Fischers aus linguistischer Sicht wenig nachvollziehbar. Ihre Überlegungen werden dann auch in der Forschung kaum wahrgenommen oder gar fortgeführt. Vgl. Elke K. Fischer, Zur Sprache der Bekennenden Kirche (1934– 1943). Eine soziolinguistische Untersuchung (Berkeley Insights in Linguistic and Semiotics 10), New York u.a. 1993, bes. S. 113–121.179f.189f. Zur Rezeption von Barmen vgl. Manuel Schilling, Das eine Wort zwischen den Zeiten. Die Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung vom Kirchenkampf bis zum Fall der Mauer, Neukirchen-Vluyn 2004; Thomas Martin Schneider, Wem gehört Barmen? Das Gründungsdokument der Bekennenden Kirche und seine Wirkungen (Christentum und Zeitgeschichte 1), Leipzig 2017.

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»Die Synode erhob sich wie ein Mann«

Geschlechterverhältnisse und welche Geschlechterbilder werden von einer Frau in patriarchalen Kontexten konstruiert? Der Text der damals fast 39jährigen Susanna Pfannschmidt findet sich heute im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin als Teil des Nachlasses von Wilhelm Niesel.16 Niesel (7. Januar 1903–23. März 1988)17 hatte nach Erarbeitung seiner 1978 erschienenen Kirchenkampf-Erinnerungen seine umfangreiche Sammlung von Kirchenkampf-Dokumenten, wohl auf Betreiben seines Berliner Freundes Günther Harder, nach Berlin gegeben. Auch Niesel war in Barmen als reformierter Mitarbeiter18 anwesend, war er doch als Studienleiter am reformierten Predigerseminar Elberfeld die »rechte Hand« von D. Hermann Albert Hesse, der seit Anfang Januar 1934 Moderator des Reformierten Bundes war, und der nicht zuletzt eben durch Niesel einen engen Kontakt zu Karl Barth hatte.19 Niesel war – zwar nicht als Synodaler, aber als Mitglied der Theologischen Kommission – an der Endredaktion der Barmer Theologischen Erklärung beteiligt.20 Ob sich Niesel und seine spätere Frau Susanna bereits in Barmen dann nicht nur gesehen, sondern auch schon lieben gelernt haben? Jedenfalls ging Niesel kurz nach der Barmer Synode mit seinem lutherischen Mitstreiter Hans Asmussen als Referent zum Präses der altpreußischen Bekenntnissynode Karl Koch nach Bad Oeynhausen, im November des Jahres zog er als Mitarbeiter des BKBruderrats der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union nach Berlin, also in seine Heimatstadt. Spätestens dort haben sich Wilhelm 16

EZA 619/8. Vgl. Christa Stache, Das Evangelische Zentralarchiv in Berlin und seine Bestände, Berlin 1992, S. 205 mit Beschreibung des (Kirchenkampf-) Nachlasses Wilhelm Niesels. Der eigentliche Nachlass befindet sich in der Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden. 17 Vgl. Martin Breidert / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal (EBzrP 7), Wuppertal 2003. Vgl. auch die Aufsätze zu Niesel in diesem Band. 18 Da die landeskirchlichen und konfessionalistischen Reformierten anders als der Reformierte Bund an Barmen nicht teilnahmen, »dokumentierten [die Reformierten] erstmals vor den Augen der evangelischen Kirche …, dass es im reformierten Kreise zwei Gruppen gab, die offensichtlich in verschiedenen Lagern standen.« Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994, S. 158; zu den reformierten Konflikten um die Barmer Synode, a.a.O., S. 150–158. 19 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth. Zwei Beispiel aus ihrem Briefwechsel 1924–1968, in: Freudenberg, Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten, a.a.O., S. 177–196, bes. S. 185–189 (Wiederabdruck in diesem Band). 20 Wenn man sich vor Augen hält, dass Niesel später in seiner Symbolik, in seiner kleinen Dogmatik sowie in seinen Kirchenkampf-Erinnerungen stets Barmen als Orientierungspunkt und Maßstab nimmt, verwundert es, dass er sich auf nur fünf Zeilen dieser Bekenntnissynode widmet (vgl. Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 25f.), um sich ganz den Vorkommnissen in der altpreußischen Kirche zuzuwenden.

1. Einleitung

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Niesel und Susanna Pfannschmidt gefunden, wobei vielleicht sogar Martin Niemöller den ein oder anderen guten Hinweis in beide Richtungen gab. Der Bräutigam schrieb ein halbes Jahr später an seinen Bonner Lehrer: »Am Dienstag soll die Trauung sein, falls ich nicht noch im letzten Augenblick ›beschlagnahmt‹ werde. Niemöller, der Ritter ohne Furcht und Tadel, wird uns trauen und zwar vor dem ›Hochaltar‹ der Dahlemer Dorfkirche.«21 Offenbar konnten in der Bekennenden Kirche selbst so nüchterne Typen wie Wilhelm Niesel den selbstkritischen Humor lernen. Die Trauung fand dann am 14. Mai 1935 statt. Die Ehe von Susanna und Wilhelm Niesel blieb kinderlos. Susanna Niesel hat wie andere Frauen von BK-Pfarrern tapfer am Kirchenkampf teilgenommen und gewiss besondere Lasten getragen, da ihr Mann unter permanenter Bedrohung des terroristischen Staates lebte. Sie war Mitte der 30er Jahre auch Mitglied des Prüfungsamts der Bekennenden Kirche der evangelischen Kirche der Altpreußischen Union.22 In der zweiten deutschen Republik hat Susanna Niesel dann viele Jahre lang als Pfarrfrau in der reformierten Gemeinde Schöller bei Wuppertal gelebt und die Frauenarbeit des Reformierten Bundes geleitet, parallel zu ihrem als Moderator wirkenden Mann, der über ein Vierteljahrhundert maßgeblich den Weg der Reformierten in Deutschland bestimmte.23 Gemeinsam mit ihm trat sie 1973 von der ›kirchenpolitischen‹ Bühne ab,24 gemeinsam gingen sie ihren Lebensweg bis zu Ende und verstarben im Frühjahr 1988 bzw. im Frühjahr 1989 nach über 50jähriger Ehe binnen einen Jahres. Susanna und Wilhelm Niesel sind gemeinsam in Schöller beigesetzt.

21

Wilhelm Niesel an Karl Barth am 11. Mai 1935, KBA Basel, abgedruckt von Sigrid Lekebusch, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf. Eine biographische Annäherung, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 15–34, hier: S. 19 mit Anm. 21 (auch in: Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und Hans-Georg Ulrichs, Göttingen 2015, S. 177–179, hier: S. 177). – Ein halbes Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, als Niemöller schon fast zwei Jahre in Haft und KZ-Gefangenschaft verbracht hatte, hielt Niesel am 10. März 1939 einen Fürbittgottesdienst für Niemöller in Dahlem; die Predigt über Philipper 4,10–14 ist programmatisch als erster Beitrag in Niesels Sammelband abgedruckt unter dem Titel »In dem Herrn«, in: Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 9–12. 22 Vgl. Peter Noss, Martin Albertz 1883–1956. Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 247. 23 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe. Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 – ein Beitrag zur Geschichte der Reformierten in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Breidert/Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 35–74 (Wiederabdruck in diesem Band). 24 Vgl. Susanna Niesel, Die Entwicklung der Frauenarbeit im Reformierten Bund, wie sie sich mir im Rückblick auf die Jahre 1956–1972 darstellt, in: RKZ 114 (1973), S. 231f.; vgl. auch das Dankschreiben: Ein Brief zu Frau Niesels Bericht, in: a.a.O., S. 232f.

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2. Dokumentation25 [Mittwoch,] 6.6.[19]34 Manche wissen’s schon, manche aber noch nicht, welch grosses Glück ich hatte, dass ich in der vorigen Woche in Barmen an der »1. Tagung der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche«, diesem wirklich kirchengeschichtlichen Ereignis, teilnehmen durfte. Die Zeitungen haben nur ganz schattenhafte Nachrichten gebracht und bis zum Erscheinen der nächsten »Jungen Kirche«26 dauert’s noch eine Weile. Da will ich schnell etwas davon berichten, obgleich es unsagbar schwer ist, dieses heisse und grosse Erleben in Worte zu bringen und andrerseits wirklich alles zu erwähnen, was von Wichtigkeit war. Ich muß wohl kurz erwähnen, dass der Ausgangspunkt für diese Tagung der Zusammenschluß von Ulm27 war, in dem sich eine breite Front der Bekenntniskirchen zusammenfand im Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten, die Württemberg widerfahren waren. Diese Front hatte sich am 2. Mai mit einer Erklärung über die Unhaltbarkeit der Reichskirchenregierung an die Reichsregierung gewandt28 und dann am 7. Mai mit einem Wort an die Gemeinden,29 das die Leser der J.K. [Jungen Kirche] kennen. Daneben waren Ausschüsse tätig, die die rechtlichen und Verfassungsfragen zu klären suchten und ebenso eine gemeinsame theologische Linie zum Ausdruck zu bringen suchten. So war in aller Stille die Vorarbeit für diese »Nationalsynode« getan. Wenige Tage vorher erst wurden die ca. 140 Abgeordneten von ihren Einladungen erreicht,30 aus allen Landesteilen nur einige Abgesandte, unter ihnen eine einzige Frau.31 Mir selbst geschah noch 2 Tage vorher das Glück, 25 Zeitgenössische Orthographie oder stilistische Eigenwilligkeiten sind stehen geblieben, lediglich ganz offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. 26 Auf die wichtige Funktion der BK-Publizistik hatte schon hingewiesen Wilhelm Niemöller, Die Evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfes, Bielefeld 1956, S. 269–291. Vgl. Ralf Retter, Zwischen Protest und Propaganda. Die Zeitschrift »Junge Kirche« im Dritten Reich, München 2009. 27 Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934 – Barmen und Rom, geringfügig und ergänzte und korrigierte Ausgabe, Frankfurt (M.) / Berlin 1988, S. 113–118. – Die im Folgenden geschilderten Vorgänge hätten auch belegt werden können mit Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von Barmen von 1934, Neukirchen 1985. 28 Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 171f. 29 Vgl. a.a.O., S. 173–175. 30 Das Einladungsschreiben ging wohl am 22. Mai 1934, also genau eine Woche vor Beginn der Synode heraus, vgl. a.a.O., S. 181. 31 In Barmen versammelten sich »138 stimmberechtigte Abgeordnete aus 18 Landeskirchen …, 83 Pfarrer und Theologen und 55 Laien – unter ihnen eine einzige Frau, die tapfere Stephanie von Mackensen vom pommerschen Bruderrat.« Vgl. a.a.O., S. 181 (vgl. auch das Interview mit St. von Mackensen in: Das eine Wort für alle. Barmen 1934–

2. Dokumentation

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dass ich zur »Sekretärin von N[iemöller]« [ernannt wurde] und einen Ausweis erhielt, mit dem ich nachher durch alle Verhandlungspforten dringen konnte. Am Dienstag, den 29.5., spielte sich zunächst ein Vorakt in der »Bekenntnissynode der Altpreußischen Union«32 ab, die für uns Preußen auch von entscheidender Bedeutung war, weil sie mehr die Fragen des praktischen Gemeindeaufbaus berührte. Ich selbst kam jedoch erst im Laufe des Nachmittags an und erlebte nur das allerletzte Ende der Verhandlungen. Ich kann deshalb nur kurz wiedergeben, was ich von anderen weiß. Die Leitung der pr[eußischen] Synode hat ebenso wie die der deutschen und auch der westfälischen Synode Präses [Karl] KochOeynhausen, der sich an allen drei Tagen als packender, zielbewusster und klarer Führer erwies. Ihm zur Seite steht jeweils ein »Bruderrat«, 8–10 Pfarrer und Laien, die aus den verschiedenen Bekenntnisformen unserer evang[elischen] Kirche kommen.33 – Die Synode hatte es mit zwei Vorlagen zu tun: 1. Die Rechtslage der evang[elischen] Kirche der altpr[eußischen] Union, 2. Der Aufbau der Gemeinde.34 Ihre erste Lesung ließ gleich eine fühlbare Zustimmung erkennen, aber es war Grundsatz der Synode, keine Mehrheitsbeschlüsse zu fassen und keine Dinge anzunehmen, ohne sie vorher durchgesprochen zu haben und den Mitgliedern, die bei der Vorarbeit nicht zugegen sein konnten, Gelegenheit zu geben, ein Wort dazu zu sagen. Die Vorlagen gingen darum zunächst noch mal an 2 Ausschüsse, aus denen sie in geringen Teilen verändert und verbessert hervorgingen. Sie wurden am Nachm[ittag] bez[iehungs]w[eise] Abend »einmütig« angenommen; diesen Akt erlebte ich nun gerade noch mit. (Diese Beschlüsse werden in diesen Tagen auf ihre praktische Durchführung hin noch wieder durchgearbeitet und sollen in der allernächsten Zeit an die Gemeinden gelangen und damit alle Gemeindeglieder vor die Entscheidung stellen.) Als ich mir den Verhandlungssaal des Gemarker Gemeindehauses in Barmen suchte, war ich um ¼ 7 Uhr schon mit strömenden Menschen zusammengetroffen, die sich zum Eröffnungsgottesdienst in der Gemarker Kirche einfanden. Es ist ein weiter reformierter Kirchenbau mit ca. 1984. Eine Dokumentation, hg. von Hans-Ulrich Stephan, Neukirchen 1986, S. 298– 315); andere Zahlen noch in Niemöller, Handbuch, a.a.O., S. 115. Es war eine erstaunlich junge Versammlung: »Das Durchschnittsalter der Synodalen betrug nicht einmal 45 Jahre«, vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 182. – Vgl. auch die Analyse der Barmer Synodalen von Martin Greschat, Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte, in: Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 67–103. Vgl. die Biogramme aller Synodalen bei Bernd Schoppmann, Die Synodalen von Barmen, in: Gelebte Reformation, a.a.O., S. 117–131. 32 Vgl. Niesel, Die Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 26–28. 33 A.a.O., S. 26 mit Anm. 97. 34 A.a.O., S. 26f. (mit teils anderen Vortragstiteln).

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1200 Sitzplätzen. Ursprünglich hatten nur an Männer Karten ausgegeben werden sollen; dies war dann für ca. 150 Gäste durchbrochen worden, aber der Eindruck war immer noch der einer starken Männerwelt. Und dieser Gesang! Es soll ja wuppertalsch sein, dass man dort ganz anders singen kann, als wir es in Nord- und Ostdeutschland kennen, eben wirklich schönes Singen mit offenem Mund aus voller Kehle! Man meinte, die Mauern erbeben zu spüren. Der Gottesdienst wurde von Sup[erintendent Hugo] Hahn-Dresden (dem Bruder des baltischen Märtyrers, seit Monaten suspendiert) gehalten. Er predigte über das Offenbarungswort an die Gemeinde von Ephesus: »Ich habe wider Dich, dass Du die erste Liebe verlässest.« Seine Predigt war ein Zeugnis dafür, dass auch stilistisch ungewandte Predigten von einer unübertrefflichen Zündungskraft sein können. Sie gab die wesentliche Einleitung dazu, dass es sich bei dieser Tagung nicht um eine überhebliche Abgrenzung gegen »die anderen« handeln durfte, sondern um die Erkenntnis, dass die Glieder ihrer Kirche mit ihr in die Buße gestellt sind und erst von dort her ihre Aufgaben empfangen. »Gott will den Hass gegen die Nikolaiten, d[as] h[eißt] gegen alles Ungöttliche, um Christi willen, einen heimligen [sic!] Hass nicht gegen Personen, sondern gegen ihr unheiliges Wesen, und darum zugleich ein Erbarmen mit den Menschen.«35 Im Anschluß an den Gottesdienst kamen die Preussen noch einmal zusammen, und dann ging’s ins Quartier, das ich ganz weit draußen am andern Ende von Elberfeld bei der Tante einer Freundin gefunden hatte. Auf diese Weise lernte ich auf meinen Wegen wenigstens etwas Typisches von Elberf[eld]-Barmen kennen, die Schwebebahn, und von hier aus den Blick auf die sich lang zwischen den Bergen und z.T. auf sie hinaufkletternd hinziehende Stadt. Es waren strahlend sonnige Tage. Am Morgen des nächsten Tages fand man sich wieder in der Gemarker Kirche um 9 Uhr zusammen, diesmal nur die Abgeordneten und etwa ebenso viel Gäste, keine Pressevertreter, aber an einem Nebentischchen zwei Herren von der Geh[eimen]Sta[ats]po[lizei] [Gestapo], die hoffentlich recht viel Interessantes aus diesen Tagen mitgenommen haben, jedenfalls aber kaum etwas Nachteiliges an ihre Behörde zu berichten fanden. Immer wieder stand man unter dem Eindruck einer ganz seltenen Auswahl von Persönlichkeiten, die schon durch ihre Anwesenheit, und ohne, dass sie viel zu reden brauchten, wirkten, und immer wieder entdeckte man Pfarrer und Laien, die einem durch ihr gedrucktes Wort oder aus irgend einem Bericht schon richtig vertraut 35 Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 183f. Der Bibeltext war Offenbarung 2,4. Vgl. auch Hugo Hahn, Barmen, in: Barmen 1934–1984. Beiträge zur Diskussion um die Theologische Erklärung von Barmen, hg. von Rudolf Schulze, Berlin 1983, S. 18–22.

2. Dokumentation

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waren. Nur schade um all die Entdeckungen, die man schließlich nicht mehr gemacht hat! Das Eingangswort hielt Landesbischof [August] Marahrens über Hes[ekiel] 3,22–23. Auch er sprach von der großen Verantwortung, die dieser Synode gegeben ist und fand gerade aus der positiven Haltung zu Führer und Staat die Weisung, mit allem vor den Herrn zu treten.36 Die eigentliche Eröffnung der Synode hielt dann Präses Koch. Er stellte durch Frage und Gegenfrage fest, dass niemand anwesend sei, der nicht zu uns gehöre. Er sprach dann von dem großen Wagnis, als das dieses Unternehmen manchem erscheinen möchte. Er sähe es weniger darin, dass es jemandem von der Kirchenregierung nicht angenehm sein könnte, sondern in dem Anspruch, den sich diese Synode gibt, Bekenntniskirche zu sein. Es müsse auch denen, die das Vorgehen nicht nachzufühlen verständen, wie eine Vermessenheit erscheinen. Handele es sich tatsächlich um eine Verwegenheit, so müsse sie auf ein Ärgernis hinsteuern. »Ich wage zu sagen, dass unser Tun in der Verantwortung vor Gott steht.« Seit beinah einem Jahr sei nun der status confessionis gegeben. Er erinnerte an die kürzlich erschienene Erklärung der 25 [35?] Universitätsprofessoren, die hierzu ein klares Wort gefunden haben. Wer den 25.1., den Empfang beim Reichskanzler, miterlebt habe, sei beeindruckt gewesen von dem Ernst, mit dem der Kanzler von der Lage des deutschen Volkes sprach.37 An diesem Ernst habe sich heute noch nichts geändert, und daraus erwüchse auch dieser Synode ihre Verantwortung. Koch sprach mit tiefer Empörung von der Frage, die ihm kürzlich vorgelegt worden sei: ob er sich klar machte, wie viel Freude er den Feinden des Vaterlandes mit seiner Haltung bereitete und sah darin eine verfängliche Ähnlichkeit zu den Kämpfen zwischen Ludwig XIV. und den Hugenotten. »Dieses Schwere hat nicht nur eine Seite, die uns drückt, sondern hat auch eine gute Seite – sie gedachten es böse zu machen, Gott aber ... [vgl. 1. Mose 50,20] – nämlich, dass unter diesem Druck die Deutsche Evang[elische] Kirche wird, dass sich über die Grenzen konfessioneller und persönlicher Unterschiede eine Zusammengehörigkeit innerlichster Art herausbildet.« Auch die hinter der Synode stehenden Gebete empfand er als eine Verantwortung und schloss mit einem Gruß an alle Gemeinden und Bekenner daheim und gedachte besonders der Verfolgten. 36

Nur ein einziges Mal wurde in Barmen »Tribut an nationalsozialistischer Begeisterung [entrichtet]«, und zwar von dem lediglich als Gast anwesenden Hannoverschen Landesbischof August Marahrens, der bei seiner Morgenandacht »verriet …, dass er von der theologischen und kirchlichen Aufgabe dieser Synode nichts begriffen hatte.« So urteilt Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 184. 37 Vgl. a.a.O., S. 59–61. Vor allem war dieser Kanzlerempfang ein böses Spiel Hitlers, der mit einem unrechtmäßig abgehörten Telephonat Martin Niemöller in die Defensive brachte und damit die kirchliche Opposition schwächte.

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Dann hielt der zwangspensionierte P. [Hans] Asmussen-Altona das Hauptreferat über die theologische Erklärung,38 die der Synode als ihr Wort vorgelegt wurde, erarbeitet von einem dreiköpfigen Ausschuss, 2 Lutheranern und 1 Reformierten (A[smussen], [Thomas] Breit-München und Karl Barth). Seine Ausführungen wurden von allen als eine ganz große Stunde empfunden, in der man merkte, dass Lutheraner, Reformierte und Unierte einig sein konnten in dem, was hier ein lutherischer Pfarrer sagte. Dies im einzelnen auszuführen, ginge zu weit. Hierzu muß man die theologische Erklärung lesen, die allerdings in dieser Stunde noch nicht in ihrer letzten Form vorlag. Im Gegenteil, nun begann erst das eigentliche geistige Ringen. Wohl war unter dem Eindruck der A[smussen]schen Ausführungen eine Stimmung vorhanden, die gern gleich ohne Debatte die ganzen Sätze angenommen hätte. Man wusste aber trotzdem von Bedenken lutherischer Seite, die die Mitarbeit Barths bei dieser Erklärung als zu stark spürbar empfanden, und es kam bewusst noch nicht zur Abstimmung, sondern die Erklärung wurde an die einzelnen Konvente: die Lutheraner, Reformierten und Unierten zur getrennten Beratung verwiesen, und man teilte sich in diese drei Säulen auf.39 Die Reformierten haben dann aber keine eingehendere Beratung gehabt, weil sie mit dem Entwurf ja zufrieden sein konnten, die Unierten machten sich klar, dass sie, wenn das lösende Wort von der anderen Seite wider Erwarten nicht gefunden werden sollte, sich ihrerseits nicht in zwei Lager: Lutherisch und reformiert spalten wollten, sondern sich dann daran machen müssten, ihrerseits ein gemeinsames Wort zu sprechen und wenn sie für diese Arbeit die Nacht zu Hilfe nehmen müssten.40 Bei den Lutheranern ging nun der eigentliche Kampf los. Es wurde ein neuer Ausschuss gebildet, in dem zu den bisherigen noch einige weitere [Personen] hinzukamen. Die Synode stand stärkstens unter dem Eindruck dieses Ringens, auch wenn man an diesem Ausschuss nicht beteiligt war. Inzwischen wickelte sich aber auch ein gemütliches Mittagessen im Vereinshaus ab, bei dem man zum ersten Mal [Friedrich von] Bodelschwinghs Stimme zum Tischgebet hörte. Ich fand mich dazu mit den beiden Verbandsjugendpflegerinnen von Westfalen zusammen. Nachher erwischte ich grade etliche Berliner, die im Begriff waren, ihre lutherischen Sorgen in die frische Luft zu tragen und konnte mich ihnen zu einem Ausflug mit der Zahnradbahn zum »Toelleturm« und Kaffeetrinken im vornehmen Kurhotel anschließen, eine höchst vergnügliche, entspannende Stunde. Der weite Blick von dort über liebliche Höhen begleitet mich noch immer. 38 39 40

Vgl. a.a.O., S. 185. Vgl. a.a.O., S. 185f. Diese Passage hatte bereits C. Nicolaisen, Der Weg nach Barmen, a.a.O., S. 53f. mit Anm. 197, zitiert.

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Unten angelangt wurde man dann von der Verschiebung der Verhandlungen um eine Stunde empfangen¸ man hatte dabei anscheinend den Optimismus, den Abschluß der Ausschussverhandlungen abwarten zu können. In dieser nun gewonnenen Zeit konnte ich mich erstmalig als »Sekretärin« betätigen. – Um 5 Uhr fand man sich dann wieder in der Kirche zusammen. Dieser schlichte, reformierte Raum wurde einem schließlich schon ganz vertraut. Die »lutherische Beklommenheit« konnte man nun für einige Stunden vergessen, indem man ganz vorzügliche juristische Referate von Rechtsanwalt Dr. [Eberhard] Fiedler-Leipzig und Reichsgerichtsrat [Wilhelm] Flor zu hören bekam. Gleich die Einleitung von Dr. Fiedler41 war in ihrer Weitzügigkeit ungemein packend und ohne Pause folgte man seinen korrekten, tiefinnerlich begründeten und in jugendlicher Frische vorgetragenen Ausführungen. Es ist eben doch etwas Besonderes, wenn ein Laie ausführt: »Auch die Ordnung steht im Dienst der Wortverkündigung. Das ist der Kernpunkt, der für den Juristen heute immer wieder auftaucht, der immer wieder eingeschärft werden muß, denn hier geht unser Weg und der der heutigen Kirchenregierung auseinander. Und hierin liegt die Lösung und das Problem zugleich.« Und dann setzte er sich mit der Linie der Kirchenregierung ganz innerlich auseinander und fand schließlich den Satz: »Luther hat das Evangelium nicht als Deutscher empfangen, sondern als Sünder.« Und weiter: »Es gibt für den christlichen Glauben keinen Maßstab, der nicht aus der Schrift gefunden würde. Der Gedanke des Führertums wird durch das eine Wort der Schrift unmöglich gemacht: ›Einer ist euer Meister!‹ [Matthäus 23,8] Nicht umsonst sagt Luther: ›Hüte dich vor der Menschen Satzungen!‹ [vgl. EG 341,10] Niemals darf kirchliche Ordnung Selbstzweck sein, sie darf aber auch nicht weltliche Macht erringen wollen. Das ist aber die wahre Absicht der Kirchenordnung von heute. Das muss mit nackten Worten einmal gesagt werden.« Nachdem er diese Gegensätze ausgeführt hatte, betonte er aber auch, dass der bekennenden Kirche42 der Gedanke an ein Schisma fernläge. Unser Ziel ist, dass die religiösen Bekenntnisse wirklich zur Geltung kommen. Der Gehorsam gegen den Herrn der Kirche hat allein einigende Kraft. »Es geht heute in der Kirche darum, ob Christus seine Kirche bauen wird oder nicht.« (Vgl. hierzu die »Erklärung zur Rechtslage der evangelischen Kirche«.) 41 42

Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 187f. Die Kleinschreibung von »bekennender Kirche« ist kein Schreibfehler. »BK« war noch kein feststehender Terminus, sondern dem Wort »Kirche« wurde ein ihr Wesen markierendes Adjektiv hinzugefügt. Man war als »bekennende Kirche« ein Teil der einen »Kirche« und rang mit »der heutigen Kirchenregierung« der DC. Die nach Barmen folgenden Monate brachten weitere Klarheit und dann das auf der zweiten Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem im Oktober 1934 deklarierte »kirchliche Notrecht«.

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Darnach gab Reichsger[ichts]rat Flor eine Übersicht über die Entwicklung der Rechtslage in der Kirche während der letzten Monate.43 Seine Persönlichkeit wie seine tiefbewegten Ausführungen waren auch gleich eindrucksvoll. »Der Eindruck von dem Geist, in dem die jetzt gegebenen Kirchengesetze gemacht sind, ist für einen Juristen, dem es um Recht und Gerechtigkeit gehen muß, geradezu erschütternd.« Auch er fand die Verbindung von den Rechtsfragen zu den innersten Glaubensfragen. Man hörte viel, was einem aus der »Jungen Kirche« schon bekannt ist, aber auch vieles, was man in dieser Deutlichkeit doch noch nicht gesehen hatte. Vor allem ist’s auch das Geschehen um die kleinen Landeskirchen, um die nicht soviel Aufhebens gemacht wird, das oft ganz besonders erschütternd in seiner Rechtlosigkeit ist. Aber die Geh[eime] Sta[ats]po[lizei] konnte zufrieden sein, wie hier immer wieder für die Gültigkeit des Rechts im Nationalsozialismus eingetreten wurde. Aber es erklang deutlich die Stimme, dass die rechtliche Not der Kirche an einem Punkt angekommen sei, wo es bald nicht mehr weitergehe. Nach einer kurzen Aussprache wurden noch einige Anträge der Brandenburg[ischen] Synode zur Kenntnis gebracht, die sich darauf bezogen, dass man sich der »neutralen« Pfarrer (an anderer Stelle scherzhaft Dissidenten genannt!) annehmen müsse, dass ein Mitteilungsblatt der Deutsch[en] Evang[elischen] Bekenntn[is-] Kirche geschaffen werden solle, dass ein freier Central-Ausschuß der I[nneren] M[ission] zu bilden sei, und dass alle Friedensunterhandlungen mit den D[eutschen] C[hristen] nur im Einvernehmen mit dem Bruderrat zu geschehen hätten. An diesem Abend war die Synode Gast einer Unterbarmer Gemeinde, wobei dann Berichte aus allen Gauen gegeben wurden.44 Die Teilnehmer an diesem Zusammensein waren ganz erschüttert von den vielseitigen, trüben und hoffnungsvollen Schilderungen. Ganz besonders packend soll hierbei Landesbischof [Theophil] Wurm gesprochen haben, der sich im übrigen mit seinem bayrischen Kollegen [sc. Hans Meiser] von allen Äußerungen im Plenum zurückgehalten hat. – Mir selbst war der schöne Auftrag geworden, im Hause der Eltern N[iemöller]s die lutherischen Entscheidungen abzuwarten; denn man rechnete ja immer noch mit der Notwendigkeit einer unierten Arbeit, für die ich dann in der Nacht zur Verfügung gestanden hätte. Der Vater N[iemöller] ist ein Original eines 75jährigen, eben erst emeritierten Pfarrers, wie man ihn gar nicht schildern kann. Mit unermüdlicher Freude hört man seinem sprudelnden Erzählen aus seiner langen Amtstätigkeit zu, in der er mit einer seltenen Unermüdlichkeit gestanden haben muß. Als dann aber die Söhne45 ka43 44 45

Vgl. a.a.O., S. 188. Vgl. ebd. Neben Martin nahm auch Wilhelm Niemöller an der Bekenntnissynode teil. Vgl. Schoppmann, Die Synodalen von Barmen, a.a.O., S. 126f.

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men und dann ihrerseits die Unterhaltung ernst und humoristisch bestritten, war er nur Auge und Ohr für seine Prachtsöhne. Außer Mutter und Schwester war noch ein junger Kandidat dabei, der zwischendurch immer wieder mal telefonische Erkundigungen einziehen musste, wie es mit den Ausschussverhandlungen stände, bis er dann schließlich gegen 12 Uhr [sc. Mitternacht] mit der Botschaft kam: »Es ist geschafft!« Beim Zusammenfinden am nächsten Morgen in der Kirche hörte man immer wieder das selbe raunen: »Es ist geschafft!« »Es ist gut.« Und alles empfand nur Dank. In dieser Stimmung betrat [von] Bodelschwingh die Kanzel zur morgendlichen Einleitung. Er hatte das Wort Matth[äus] 11,29: »Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir«. Diese halbe Stunde war ein Höhepunkt der ganzen Tagung. Es war ihm gegeben, für diese Stunde die rechten Worte des Dankes und der Ermutigung zu geben, in einer so kraftvollen, und dabei feinen und plastischen Form, dass selbst diejenigen, die ihn öfter hören können, sagten, so hätten sie ihn noch nie gehört. Und es wurde einem deutlich, dass hier die Seele der Tagung, ja der ganzen Bewegung sprach, die das Ringen der letzten Tage und Nächte innerlichst mitgemacht hatte und von daher die rechten Worte des Dankes fand. Aber bei aller Ergriffenheit fehlte es doch auch nicht daran, dass einmal ein helles Lachen durch die Kirche ging. Es führte leider zu weit, wollte ich dies einzeln ausführen. Ich habe die Rede mitgeschrieben und auch besonders übertragen. N[iemöller] las sie gestern zum Abschluss seines offenen Abends, und obgleich es eben noch etwas besonderes ist, [von] Bo[delschwingh] in seiner Liebe und Glut zu erleben, so war die Zuhörerschaft auch in diesem Kreise sichtlich von diesen Worten angesprochen. Dann hielt Oberkirchenrat [Hans] Meinzolt-München sein Referat zu den Verfassungsfragen, und wieder war es ein tiefer Eindruck, wieviel ein Laie heute zur Lage der Kirche zu sagen hat. Es ist auch hier nur zu hoffen, dass die Gestapo ihrer Behörde davon Bericht gegeben hat, wie hier der Nachweis erbracht wurde, dass die bekennende Kirche restlos hinter der Regierung steht, indem sie für die Wahrung der im vorigen Jahr gegebenen und von ihr garantierten Verfassung [sc. der DEK] eintritt, während die Reichskirchenregierung Verfassungsbruch über Verfassungsbruch begeht. Hieraus ergab sich eine Entschließung, für die N[iemöller] sehr stark eintrat, die ein Verhandeln über Verfassungsfragen mit der gegenwärtigen Kirchenregierung ablehnt. Jetzt hatte man Asmussen erscheinen sehen und wusste, dass nun das entscheidende Wort fallen würde. Totenstille war in der Kirche, als er von dem Ehrenblatt der ersten Synode sprach, das ihr als ein Geschenk über alle konfessionellen und persönlichen Bindungen hinweg gegeben worden sei. Nur kurz sprach er zu den Veränderungen, die einem Laien z[um] T[eil] kaum aufgefallen wären. Darnach erhoben sich nur einzelne Vertreter aus den verschiedenen Bekenntniskirchen oder -gruppen

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und gaben in tiefer Bewegung ihre Zustimmung zu dieser theologischen Erklärung ab. Dann kam wohl der Höhepunkt dieser ersten Bekenntnissynode, dieser kirchengeschichtlichen Stunde: Jeder spürte, in diesem unter Mühen und Not Errungenem steckt mehr, als was die Synode leichthin angenommen hätte. Präses Koch stellte die Frage nach der Zustimmung. Die Synode erhob sich wie ein Mann. Er machte die Gegenprobe und niemand meldete sich, und ebenso bei der Frage, ob sich jemand der Stimme enthielte. Wieder erhob man sich spontan, und diese Stunde klang aus in dem Vers: »Lob, Ehr‹ und Preis sei Gott …!«46 [EG 321,3] Das vergisst man nie!! Dann Mittagessen, Abschied vom Quartier und ein letztes Zusammenkommen, diesmal im Vereinshaus, es war nicht mehr dasselbe wie an den vorherigen Tagen. Vielleicht dass darum auch das Referat von P. Georg Schulz-Barmen über den praktischen Aufbau der Gemeinde, das in diesem nüchternen Saal reichlich pathetisch wirkte, auf mich keinen tieferen Eindruck mehr machen konnte. Auch mein Mitgeschriebenes ist kümmerlich. Man kann eben nur ein bestimmtes von Erleben schaffen; bei mir hatte es geschnappt, aber scheinbar auch bei allen anderen, die ich darnach gesprochen habe. Anschließend wurde ein Grußwort verlesen, das die Synode an die Gemeinden richtet (s. Flugblatt). Noch einige Formalitäten und Bekanntmachungen, es war spät geworden. Und als letzter erhielt Landesbischof [Hans] Meiser das Wort für einen biblischen Abschluß, in dem er wieder auf die Verantwortung kam, die darin liegt, dass wir uns bekennende Kirche nennen. »Ist in uns etwas vorhanden, das diesem Anspruch gerecht wird?«47 Am Abend fanden dann an 6 Stellen von Barmen und Elberfeld in großen Räumen große Bekenntnisversammlungen von Rheinland und Westfalen statt, auf denen die Redner der Synode sprachen und gleich von dem großen Geschehen berichteten und zu denen über 15.000 Menschen aus beiden Provinzen zusammengeströmt sein sollen. Ich erlebte davon nur die endlosen Reihen von großen Autobussen in den engen Strassen, musste aber selbst meinem Koffer nachstreben, der sich selbständig noch die weitere Umgegend von Wuppertal von der Schwebebahn aus angesehen hatte, und dem ich dies nun nachmachen musste, um ihn wirklich am andern Ende der Welt zu ergattern. Dann war’s nach dem Abendbrot bald Zeit für die Bahn und für die Heimfahrt durch die Nacht, zu der sich ein ganzes Trüpplein zusammenfand, und es fehlte nicht an schönen Begegnungen bis zum letzten Auseinandergehen. Dann aber am nächsten Morgen: Wieder ins Geschirr!

46 47

Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, a.a.O., S. 189. Vgl. a.a.O., S. 190.

2. Dokumentation

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Wenn ich nach dem entscheidenden Ergebnis dieser Tage noch einmal zusammenfassend gefragt werde, so ist’s dieses: »Wir haben es erlebt, dass die Kirche noch da ist, dass sie sich neu aufmacht und neu aufbaut; dass sie nicht etwas Neues ist in Form einer neuen Organisation, etwa einer Freikirche – vielleicht standen wir vorher nahe davor –, sondern dass sie in allen ihren Ausführungen theologischer, rechtlicher und praktischer Art den Erweis gebracht hat, dass sie die allein rechtmäßige Kirche ist, und dass das andere, was da in der Reichskirchenregierung und bei den DC verkörpert ist, nicht Kirche ist.« Ob man es aus diesem Geschriebenen schon spürt, was das für das Ganze und für den Einzelnen bedeutet? Ein Ahnen wenigstens wünsche ich Jedem! Nun will ich noch kurz wiedergeben, wie N[iemöller] nach seinen gestrigen Ausführungen über Barmen die Schlüsse für die nächste Zukunft zog. Auch er bezeichnete Barmen als einen Anfang, bei dem es nun darauf ankäme, dass sich jeder klar werde, ob er rechts oder links in das Boot einsteige. Ein Einsteigen wäre jedenfalls notwendig, wenn wir nicht versinken wollten. Die näheren Bedingungen, Verpflichtungen für die Aufnahme in die B[ekennende] Kirche würden in allernächster Zeit in den Gemeinden bekannt gegeben. Eile täte not, denn für den Juli ist ja die Nationalsynode angekündigt, in der wahrscheinlich die »neue Verfassung« »einmütig« beschlossen werden würde.48 Darauf gehört die geschlossene Antwort der bekennenden Gemeinde: »Hier ist Gemeinde, ist die Kirche.« N[iemöller] zeichnete hierzu näher die Gefahr, in der wir stehen, die aus den Äußerungen des Thüringer Landesbischofs [Martin Sasse] ganz deutlich erkennbar wird: »Soll unserm Volk das Wort von Christus gepredigt werden oder eine deutsche Religion, an der unser Volk an innerer Unterernährung – lange wird es nicht dauern – zugrunde gehen wird?« In d[er] Grenzmark gibt es eine Gemeinde, die sich bereits heute mit 95 % aller ihrer wahlberechtigten Gemeindeglieder zur bekennenden Kirche gemeldet hat! Nach N[iemöller]s Ausführungen gab es gestern die Überraschung, dass auch Präses Koch zugegen war und einige prachtvolle Worte an die Versammelten richtete. Er knüpfte auch an an die Auseinandersetzung, in die wir jetzt gestellt sind und dass sie uns ein Geschenk Gottes sein müsse, der uns durch diesen Kampf tüchtig machen wolle. Große Zeiten der Kirche seien immer Leidenszeiten gewesen. Aber wenn uns die DC vorhalten wollten, dann müssten wir ihnen für diesen Kampf ja dankbar sein, so gälte doch immer noch das Wort: »Ärgernis muß kommen, aber wehe dem, durch den Ärgernis kommt.« [Matthäus 18,7] Und er zeich48

Der Verfassungsausschuss der DEK wurde erst am 6./7. Juli und am 27. Juli einberufen, die Nationalsynode trat am 9. August 1934 zusammen, vgl. a.a.O., S. 271–275. 283–287. Klaus Scholder (a.a.O., S. 285) urteilte über diese »Synode«: »Es war eine der beschämendsten Veranstaltungen, die jemals in einer evangelischen Kirche stattfanden.«

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»Die Synode erhob sich wie ein Mann«

nete das Große und Schöne dieser Zeit in der wunderbaren Verbundenheit über ganz Deutschland, dass er nun auch als ein nicht Fremder zu den Berlinern sprechen dürfte, dass es nun überall Gemeinden im Werden gäbe, die wüssten, was sie zu verteidigen hatten. »Nehmen Sie das als etwas ganz Großes, dass Sie diese Zeit der Kirchengeschichte miterleben dürfen, dass Sie mitbauen dürfen, dass Sie unserm Volk den größten Dienst tun können, der ihm überhaupt getan werden kann, denn es wird die Zeit kommen, wo unser Volk zurückgeworfen wird auf die innersten Quellen.« Das rief er den 8–900 Versammelten – der Saal war voll wie noch nie und wie er auch wirklich nicht voller sein kann, denn nun stand auch hinter den Rednern die Bühne gerammelt voll und alle Nebenräume bis hinten hin – zu, und ich ließ mir dies in Bezug auf Barmen noch einmal ganz besonders ins Herze gehen. Es ist mir ja noch immer wieder ein Wunder, dass ich dabei sein durfte!

»Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«? Die Reformierten im Herbst 1945. Ein dokumentarischer Nachtrag

1. Einleitung Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde »die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte«1 entdeckt. Damit einher ging der Abschluss der großen Werke zum Kirchenkampf von Klaus Scholder und Kurt Meier – mit einer gewissen wissenschaftsgeschichtlichen Logik: Stellte die durch den »Kirchenkampf« gewordene Konstellation die Rahmenbedingungen für den kirchlichen Wiederaufbau2 nach 1945 dar, so vermochte man nun ohne direkte persönliche Verflechtung weiterzuarbeiten: wie etwa 15 Jahre zuvor eine neue, nämlich nicht mehr autobiographische Erforschung der Geschichte der Kirche im Nationalsozialismus begann, so wurde auch jetzt mit einem Abstand von etwas mehr als einer Generation die »Nachkriegszeit« zum Forschungsgegenstand. Das Barmen-Jubiläum 1984 manifestierte zudem, dass der theologiegeschichtliche Höhepunkt des Kirchenkampfes bereits ein halbes Jahrhundert zurücklag – es gab immer weniger Zeitzeugen: auch Martin Niemöller war im März 1984 gestorben. Die Geschichte der »Reformierten im Kirchenkampf« konnte lange nicht geschrieben werden, boten sie doch ein disparates Bild. Die hervorragende Arbeit von Sigrid Lekebusch3 konnte dieses historiographi1 So lautet der Titel eines Sammelbandes einer 1985 stattgefundenen internationalen Tagung in Hüningen (Schweiz), hg. von Victor Conzemius u.a., Göttingen 1988. 2 Ich möchte auf Alternativformulierungen wie ›Neuanfang oder Restauration‹ u.ä. verzichten, bergen sie doch die Gefahr der Simplifizierung in sich. Es gab selten nur zwei Alternativen, jedenfalls für die historiographische Analyse. Kirchenpolitisch Aktiven mag sich das zuweilen anders dargestellt haben. So fragte etwa Hermann Diem mit dem Titel einer Schrift »Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche?« (1946) Das historiographische Niveau vermisst dagegen Martin Greschat, Weder Neuanfang noch Restauration. Zur Interpretation der deutschen evangelischen Kirchengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, in: ders., Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Stuttgart u.a. 1994, S. 154–179 (vgl. auch die Arbeiten Greschats in Anm. 9). 3 Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Rheinland-Verlag, Köln 1994. Die neuere Arbeit Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–

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»Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«?

sche Dunkel jedenfalls bis zu der Trennung der reformierten Landeskirchen von den freien Gruppierungen im Jahre 1936 beleuchten. Nebeneinander bestanden von Seiten der Landeskirchen der »Arbeitsausschuß der Reformierten Kirchen Deutschlands« vom 3. Juli 19364 und dann vom 10. Oktober 1939,5 von Seiten der frei organisierten Reformierten der Reformierte Bund unter Hermann Albert Hesse, der Coetus reformierter Prediger unter Karl Immer und ein reformierter Konvent der Bekenntnissynode der DEK. Zwar »versuchten beide auf eigene Wege, für die Freiheit und Selbständigkeit der Kirche und der Gemeinden zu arbeiten, die einen in immer stärkerer Konfrontation zu kirchlichen und politischen Gremien, die anderen in distanzierter Kooperationsbereitschaft zur Reichskirche, aber mit vorsichtiger Zurückhaltung zum Staat«,6 dennoch galt es nach der Kapitulation »zunächst den Versuch zu machen, die Reformierten in Deutschland wieder zu einer einheitlichen Ausrichtung und zu gemeinsamem Handeln zu bringen.«7 Eine Darstellung dieser Zeit stellt ein dringendes Desiderat für den reformierten Bereich dar. Für die evangelische Kirche liegen unterdes einige thematische Untersuchungen und Dokumentationen vor, v.a. in der soliden Reihe »Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte« – hier seien besonders die Protokolle des Rates der EKD genannt. Ein recht perspektivischer Versuch einer Gesamtdarstellung stammt von Karl Herbert, der ganz im Banne Martin Niemöllers und des Linksbarthianismus steht.8 Martin Greschat, ausgewiesener Kirchenhistoriker über fast alle Epochen seit 1937, Wuppertal 2009, bleibt hinter dem erreichten Niveau zurück und behandelt nur reformiert Hannover. Von einigem Quellenwert ist dagegen das alte Werk eines Beteiligten: Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover) (AGK 8), Göttingen 1961. Die Arbeiten, die auch Reformierte in Rheinland, Westfalen und Preußen behandeln, können hier nicht aufgelistet werden. 4 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 259ff. Die Mitglieder sind verzeichnet in: Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Verbände, Personen, Band 1: Überregionale Einrichtungen, bearb. von Heinz Boberach †, Carsten Nicolaisen und Ruth Pabst (AKiZ A 18), Göttingen 2010, S. 153f. 5 Robert Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen und Gemeinden von 1933–1950, in: KJ 77 (1950), Gütersloh 1951, S. 228–332, hier: S. 308f. 6 So das Resümee von Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 319. 7 Steiner, Weg, a.a.O., S. 313. 8 Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989. Zum Diskussionsstand seinerzeit vgl. Joachim Mehlhausen, Eine kleine Geschichte der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Erwägungen zu der Frage, warum es ein solches Buch nicht gibt, in: EvErz 42 (1990), S. 419–431. Vgl. den Überblick von Claudia Lepp, Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche, in: dies. / Kurt Nowak (Hg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001, S. 46–93.

1. Einleitung

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der Reformationszeit, hat in den zurückliegenden Jahren drei wichtige Werke über die Zeit nach 1945 vorgelegt.9 Für den ostdeutschen Bereich sei auf das Standardwerk von Rudolf Mau verwiesen.10 In einer nicht abgeschlossenen Dokumentation »Kirche nach der Kapitulation – Das Jahr 1945«11 wird der Wiederaufbau bei den Reformierten – wenn man Schriftstücke von und an Karl Barth einmal abzieht – praktisch übergangen. Reformierte scheint es nur im Rahmen der Unionskirchen gegeben zu haben, nicht jedoch als eigenständige Akteure. Dabei waren selbstverständlich auch Reformierte sofort wieder tätig, etwa Wilhelm Niesel in der altpreußischen Unionskirche oder Martin Albertz in Berlin. Beide reformierte Landeskirchen (Aurich und Detmold) konnten weiter agieren, ebenso die Gemeinden in den anderen reformierten Gebieten. Der Reformierte Bund benötigte ein Jahr, um sich neu aufzustellen, da Moderator Hermann Albert Hesse sich nach der KZ-»Haft« und seiner Zwangspensionierung krank in seine ostfriesische Heimat zurückgezogen hatte. Schnell handlungsfähig nach dem Krieg waren die reformierten Theologen des Wuppertals. Der junge reformierte Theologe Otto Weber12 hatte seit 1933 verschiedene exponierte Positionen inne, freilich nicht auf Seiten der Bekennenden Kirche (BK), sondern der Reichskirche (Deutsche Evangelische Kirche [DEK]), so etwa 1933 als Mitglied des so genannten Geistlichen Ministeriums, ab 1936 der Theologischen Kammer der DEK und ab 1940 des Geistlichen Vertrauensrat (GVR13). Auch wenn sich Weber 9 Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002; ders., Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010; ders., Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn 2010. 10 Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990) (KGiE IV/3), Leipzig 2005. – Vgl. auch den Aufsatz von Gerhard Ringshausen, Erneuerung und Neuordnung der Kirche. Die evangelische Kirche in Deutschland 1945, in: KZG 23 (2010), S. 380–411. 11 Bd. 1: Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethel, hg. v. Gerhard Besier / Jörg Thierfelder / Ralf Tyra, Stuttgart u.a. 1989; Bd. 2: Auf dem Weg nach Treysa, hg. v. den Genannten und Hartmut Ludwig, Stuttgart u.a. 1990. Der zweite Band misslang, wie Martin Greschat in einer Rezension zu recht feststellte, in: HZ 258 (1994), S. 577f. 12 Vgl. die detailreiche Studie Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999. 13 Vgl. Karl-Heinz Melzer, Der Geistliche Vertrauensrat. Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg? (AKiZ B 17), Göttingen 1991. Zwar war Weber erst ab März 1940 assoziiertes Mitglied, aber er war schon in der Planungsphase beteiligt; u.a. hatte er maßgeblich an der Geschäftsordnung mitgearbeitet. Zu Weber im Kirchenkampf vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 49–57; Melzer, Vertrauensrat, a.a.O., S. 64–66. Nicht empfohlen, aber hingewiesen sei auf Andreas Bartels, Otto Weber: Zwischen objektivistischem Wissenschaftsanspruch und ideologischer Abhängigkeit, in: Theologie im Nationalsozialismus, Fallbeispiele aus der Theologischen Fakultät Göttingen (Festschrift der Fachschaft evang[elischen] Theologie zum

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»Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«?

im Lauf der Jahre von den nationalsozialistischen Deutschen Christen (DC) weg zur kirchlichen Mitte hin bewegte, so wurde er nach einer ›stilleren‹ Phase ab 1939 kirchenpolitisch wieder aktiver und trieb eine »objektiv heillose sogenannte Kirchendiplomatie«.14 Weber war sozusagen Vordenker der späteren landeskirchlichen Position; so verfasste er 1937 für den Reformierten Kirchenausschuss ein Memorandum »über die rechte Stellung des Christen und der Kirche zum Staate«.15 Ihm war als langjährigem Mitglied der NSDAP und als jemand, der dezidiert nicht zur BK zu zählen war, später klar, dass er sich nach der Kapitulation »ganz im Hintergrund halten [muß], aus Gewissensgründen, wie sich versteht.«16 Dennoch erwog er eine weitere Arbeit des GVR und der Kanzlei der DEK.17 Als er von den Planungen zu einer ›Kirchenführerkonferenz‹ Ende August 1945 erfuhr, regte er am 24. Juli eine Zusammenkunft des Reformierten Kirchenausschusses des Jahres 1939 an.18 Dazu verfasste er im August »Reformierte Vorerwägungen zur Kirchenkonferenz von Treysa«, die als einziger relevanter Text aus dem reformierten Bereich in einer neuen Edition zur Gründung der EKD und zur Treysaer Konferenz Ende August 1945 samt ihren Vorkonferenzen publiziert wurden.19 Neben der Verselbstständigung der altpreußischen Provinzialkirchen Rheinland und Westfalen zu praktisch eigenständigen Landeskirchen, die in einer so genannten Treysaer Konvention auch festgeschrieben wurde, befasst sich Weber in den »Vorerwägungen« mit Rechtsfragen. So insistiert er darauf, dass die 1933 von den Landeskir250. Universitätsjubiläum) (Göttinger Theologenzeitung, hg. v. Fachschaftsrat), Göttingen 1987, S. 75–122. 14 So das Urteil des deutsch-christlichen Landesbischofs von Thüringen, Martin Sasse, in: Melzer, Vertrauensrat, a.a.O., S. 109, Anm. 74. – Ähnliches hätten Vertreter der bekenntniskirchlichen Reformierter sicher auch sagen können. Das nobilitiert Weber jedoch nicht als einen »Mann der Mitte«. 15 Wiedergegeben bei Bartels, Weber, a.a.O., S. 100–112; vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 194–197. 16 Weber an Brunotte, 7. Juni 1945, in: Kirche nach der Kapitulation, Bd. 1, a.a.O., Dok. 58, S. 191–193, hier: S. 192; wiedergegeben auch in von Bülow, Weber, a.a.O., S. 261f. Bereits am 25. Juni 1945 hatte sich die Auricher Kirchenleitung – doch wohl auf Hollwegs Betreiben – beim Oberpräsidenten der Provinz Hannover für Weber eingesetzt (wiedergegeben bei Bartels, Weber, a.a.O., S. 120; vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 261 mit Anm. 24). 17 Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 262. 18 Vgl. Kirche nach der Kapitulation, Bd. 2, a.a.O., Dok. 164, S. 190; von Bülow, Weber, a.a.O., S. 264f. 19 Gerhard Besier / Hartmut Ludwig / Jörg Thierfelder (Hg.), Michael Losch / Christoph Mehl / Hans-Georg Ulrichs (Bearb.), Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945. Eine Dokumentation (Schriftenreihe der PH Heidelberg 24), Weinheim 1995, Dok. 10, S. 75–82. Weber verteilte den Text vermutlich an die Mitglieder des Reformierten Kirchenausschusses. Vgl. auch von Bülow, Weber, a.a.O., S. 264–266.

1. Einleitung

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chen gegründete DEK nicht mit dem 8. Mai untergegangen sei (vgl. S. 76f.). Er möchte Rechtskontinuität, da er Bemühungen sieht, »die Existenz des deutschen Reformiertentums zu bagatellisieren, lediglich das Bestehen reformierter Landeskirchen anzuerkennen und den Umstand, daß die weitaus meisten reformierten Gemeinden sich unter der Gewalt von Unionskirchen befinden, vergessen zu machen.« (S. 77) In Verkennung der unterschiedlichen reformierten Positionen behauptet Weber, daß »[s]eit 1939 … der … Bruch in allmählicher Ausheilung begriffen [war].« (S. 78)20 Da es zwischen dem Reformierten Bund als Verein und den beiden reformierten Landeskirchen rechtliche Strukturunterschiede gäbe, sei »vorerst ein geordnetes Neben- und Miteinander« (S. 79) gefordert. »Ziel der innerreformierten Arbeit müßte die Wiedererrichtung des Reformierten Konvents« (ebd.), also eine Neuauflage des so genannten Osnabrücker Konventes vom April 1934 sein, der beide reformierten Seiten vereinigt, sich aber auf seiner zweiten Tagung im Juni 1936 in Hagen wieder aufgelöst hatte.21 Ob die von Weber angeregte Vorbesprechung stattgefunden hat, kann nicht belegt werden, Webers »Vorerwägungen« fanden nur wenig Resonanz. Reformierte trafen sich während der Tagung der Bekennenden Kirche in Frankfurt/M. vom 21. bis zum 24. August und auf der Kirchenkonferenz von Treysa vom 27. bis zum 31. August. Entscheidend ist aber, dass am direkten kirchlichen Wiederaufbau nicht bekenntniskirchliche Organe beteiligt wurden, sondern ausschließlich Vertreter der Landeskirchen. Ganz überwiegend galt: Nur soweit BK-Vertreter schon Fuß in den heimischen Kirchenleitungen hatten fassen können, waren sie in Treysa mit am Tisch. Insofern lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass der kirchliche Wiederaufbau nicht auf ›Barmen‹ oder gar auf ›Dahlem‹ gründete – wenn sich einige BK-Akteure dies auch nur allzu gerne einreden wollten –, sondern auf dem Kirchlichen Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm von 1943; Wurm selber avancierte dann auch zum ersten Ratsvorsitzenden der EKD.22

20

Weber sah allerdings sehr genau, dass analog zur Situation um den Bischof der lutherischen Landeskirche von Hannover, August Marahrens, die geleistete Unterschrift des reformierten Kirchenführers unter die nationalsozialistische Godesberger Erklärung (vgl. Steiner, Weg, a.a.O., S. 305f.; vgl. auch Middendorff, Der Kirchenkampf , a.a.O., S. 42f.) ein Hindernis für die angestrebte Zusammenarbeit aller Reformierten sein musste. Daher empfahl er »unsererseits [sic!] ein klärendes Wort« im Sinne der Marahrensschen ›Bußworte‹ vor der lutherischen Bekenntnisgemeinschaft (S. 81). 21 Vgl. Lekebusch, Die Reformierten, a.a.O., S. 124–150.173–181. Vgl. auch Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …«, a.a.O., S. 76–85. 22 Vgl. Jörg Thierfelder, Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AKiZ B 1), Göttingen 1975.

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Wie aber agierten die Reformierten im Sommer und Herbst 1945? Schon in Treysa wurde ein so genannter »Sechserausschuß« gebildet, »der die vom [Reformierten] Bund und dem reformierten Kirchenausschuß … vertretenen Reformierten zu Besprechungen über gemeinsame Aufgaben zusammenbringen sollte.«23 Hierbei blieben dann aber oppositionelle Reformierte, die den Sprung in eine Kirchenleitung noch nicht geschafft hatten, außen vor. Auf der Frankfurter Tagung der BK, die Treysa mitprägte, waren die beiden Bekenntnisgemeinschaften aus reformiert Hannover und Lippe nicht vertreten.24 Leider schweigen bisherige Veröffentlichungen darüber, wie es bei den oppositionellen Reformierten weiterging; der nächste Fixpunkt ist die Hauptversammlung des Reformierten Bundes vom 1. bis zum 3. Oktober 1946. Nicht zu unterschätzende Dienste tat Harmannus Obendiek, der gemeinsam mit einem Ausschuss die Geschäfte für den abwesenden Moderator Hermann Albert Hesse führte und der auf allen Seiten Vertrauen genug besaß, um ein Gespräch wieder in Gang zu bringen.25 Bevor während einer Moderamenssitzung am 27./28. Oktober in Detmold die großen Spannungen nicht verschwiegen werden konnten, hatte sich am 31. August und 1. September, also quasi als Auswertungstreffen zu Treysa, der Reformierte Kirchenausschuss mit Gästen ebenfalls in Detmold getroffen. Das über dieses Treffen angefertigte Ergebnisprotokoll, das nicht in der erwähnten Dokumentation »Der Kompromiß von Treysa« aufgenommen worden ist, wird im Folgenden abgedruckt.26 Dass Otto Weber hier federführend war, verwundert nicht nach seinem steten Einsatz für den landeskirchlichen Kurs im »Dritten Reich« und seinen »Vorerwägungen«. An erster Stelle kirchenpolitischen Handelns nennt er den »Deutschen Reformierten Kirchenausschuss« und damit die ›legalistischen‹ Landes23 Wilhelm Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 38–57, hier: S. 48. 24 Vgl. Martin Albertz an Hermann Albert Hesse, 8. September 1945, in: Der Kompromiß von Treysa, a.a.O., Dok. 53, S. 373–376, hier: S. 376. 25 Vgl. Robert Steiner, Harmannus Obendiek (Zeugen und Zeugnisse 2), Neukirchen 1955, S. 58; Niesel, Der Reformierte Bund, a.a.O., S. 46. Offensichtlich hat es auch Gespräche beinahe poimenischer Art mit ›belasteten‹ Brüdern gegeben, wie eine Notiz ahnen lässt, vgl. Albertz an Hesse (wie Anm. 24): Karl Barth sprach mit dem Auricher Landessuperintendenten Walter Hollweg über dessen Unterschrift unter die Godesberger Erklärung, vgl. Der Kompromiß von Treysa, a.a.O., S. 376. Zu Obendiek vgl. auch Hans-Georg Ulrichs, Art. Obendiek, Harmannus Anton, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 276–278. 26 Fundort: ÖRK, Box: Germany JCA various documents 1945–1947. Schreibmaschinenabschrift. Mit Kopf: Obtained in Göttingen, Sept. 3, 1945 from Weber. Wenn Weber nicht der eigentliche Verfasser dieses Textes sein sollte, so doch sicher der geistige Urheber. Auf diesen Text wurde schon hingewiesen in: Kirche nach der Kapitulation, Bd. 2, a.a.O., Dok. 164, S. 190, Anm. 3. Vgl. auch von Bülow, Weber, a.a.O., S. 267 mit Anm. 58.

2. Dokumentation

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kirchen und erst danach die im NS-Staat oppositionellen Reformierten. Dass Weber nach dem Ende des GVR »fortan keinen Einfluß mehr auf die Gestaltung des kirchlichen Lebens im Nachkriegsdeutschland«27 hatte, ist angesichts seiner beratenden Tätigkeit für die reformierten Kirchenleitungen ein Trugschluss. Und vollends nach seiner Wiederannahme durch Karl Barth28 war Weber wieder ein angesehener Theologe der Reformierten in Deutschland sowie ein einflussreicher Kirchen- und Universitätspolitiker. Am 9. Mai 1949, also vier Jahre nach der Befreiung Deutschlands, wurde er letztinstanzlich im Entnazifizierungsverfahren als »entlastet« eingestuft.29 2. Dokumentation Bericht über die Sitzung des Deutschen Reformierten Kirchenausschusses in Detmold am 31. August und 1. September 1945 Der Deutsche Reformierte Kirchenausschuß, durch Kirchenvertrag vom Jahre 1939 begründet,30 hat den Zweck, solange eine Deutsche Reformierte Synode nicht besteht, eine synodal legitimierte gemeinsame Vertretung der geschlossen reformierten Kirchengebilde in Deutschland zu bilden. Ihm gehören an: die Reformierte Landeskirche der Provinz Hannover, die Lippische Landeskirche, die deutsche Hugenottensynode und kooptierte Vertreter der reformierten Gemeinden in der preußischen Unionskirche sowie zwei ebenfalls kooptierte Lehrer der Kirche. Er stand bisher in seinem Verhältnis zur Deutschen Evangelischen Kirche in enger Verbindung mit dem Lutherischen Rat, zu dem er eine gewisse Parallele darstellt. Neben dem Kirchenausschuß besteht als eine organisatorisch lockere, aber innerlich recht feste Zusammenfassung reformierter Gemeinden und Einzelpersönlichkeiten der Reformierte Bund.31 Dieser gehört korporativ zu dem sog[enannten] Dahlemer Flügel der Bekennenden Kirche. Seit 1939 sind Gespräche geführt worden, um den Kirchenausschuß und den Reformierten Bund zu einer vollen Gemeinschaft der Anschauungen und des Handelns zu führen. Diese Gespräche, die in Göttingen, Barmen, Loga und Detmold stattfanden, führten 1944 soweit, daß das 27 28

Melzer, Vertrauensrat, a.a.O., S. 331. Barth erinnerte sich zwei Dekaden später im Herbst 1967 an die Erstbegegnung mit Weber nach 1945 und wie es dabei zur einer geradezu priesterlich anmutenden Vergebung (Lossagung von Schuld im Namen Jesu Christi!) durch ihn kam; dafür wurde er allerdings auch von anderen Reformierten angegriffen. Vgl. Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, S. 438. 29 Von Bülow, Weber, a.a.O., S. 296f. 30 Vgl. Anm. 5. 31 Im Original fälschlich: im Reformierten Bund.

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»Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«?

Ziel als nahezu erreicht gelten konnte. Jedoch verhinderten die Kriegsereignisse (Destruktion des Verkehrs) eine endgültige Realisierung der gefaßten Entschlüsse.32 In Detmold trat der Reformierte Kirchenausschuß zusammen mit dem derzeitigen Moderator des Reformierten Bundes, Pastor Lic. [Harmannus] Obendiek, und mit Pastor Lic. [Wilhelm] Niesel an die Aufgabe heran, die erstrebte Gemeinschaft des Wollens und Handelns konkret herbeizuführen, und zwar nun im Anschluß an die soeben beendete Kirchenkonferenz von Treysa. Der Kirchenausschuß war vollzählig mit Ausnahme des Vertreters der Hugenottengemeinden, der in Berlin wohnt und daher am Erscheinen verhindert war.33 Die Verhandlungen, die im Geiste voller brüderlicher Eintracht geführt wurden, führten zu folgenden Ergebnissen: 1.) Die Beschlüsse von Treysa werden nicht als Kompromiß34 betrachtet, sondern als eine Aufgabe, zu deren Lösung alle auf dem Boden des Bekenntnisses stehenden Kirchen verpflichtet sind. Die Reformierten wollen dazu bereitwillig mitarbeiten. 2.) Das in Treysa beschlossene »Wort an die Gemeinden«35 wird besonders begrüßt. Es wird jedoch bedauert, daß in Treysa eine eingehende Erörterung dieses »Worts« aus zeitlichen Gründen nicht möglich war. Die Besinnung darüber, wie es zu so tiefem Fall unseres Volkes und zu so schwerer Mitschuld der Kirche an diesem Fall habe kommen können, und die Beugung unter die Schuld und unter das Gericht werden als eine fortbestehende dringliche Aufgabe empfunden. Es wird die Überzeugung vertreten, daß ein Neues nur aus der Buße erwachsen kann. 3.) Die beiden reformierten Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prof. D. Dr. [Rudolf] Smend und Lic. [Wilhelm] Niesel, werden als gemeinsame Vertreter betrachtet. Es soll also nicht Prof. Smend den Kirchenausschuß oder Lic. Niesel den Reformierten Bund vertreten, sondern beide sind gemeinsam die Vertreter des reformierten Bekenntnisses in Deutschland. 4.) Den beiden Vertretern tritt ein synodal verantwortliches Gremium zur Seite, das aus 6 Mitgliedern besteht, von denen je die Hälfte durch den Kirchenausschuß und durch das Moderamen des Reformierten Bundes bestimmt werden. Als Mitglieder werden genannt: Kirchen32

Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 253f. Weber sah aber vor allem Moderator H.A. Hesse als Haupthindernis für eine Verständigung. 33 Vgl. Anm. 4. 34 Als Kompromiss hat Karl Barth die Ergebnisse von Treysa bezeichnet, zit. nach Ralf Tyra, Treysa 1945. Neue Forschungsergebnisse zur ersten deutschen Kirchenversammlung nach dem Kriege, in: KZG 2 (1989), S. 239ff., hier: S. 243. 35 Vgl. Der Kompromiß von Treysa, a.a.O., Dok. 17, S. 162–164. Hierbei handelt es sich um ein am 23. August 1945 in Frankfurt von der BK verabschiedetes Wort, das umgearbeitet am 31. August 1945 in Treysa angenommen wurde; vgl. a.a.O., Zur Textgeschichte.

2. Dokumentation

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präsident [Johannes Theodor] Horn, Landessuperintendent Lic. [Wilhelm] Neuser, Professor Dr. [Otto] Weber, Pastor Lic. [Harmannus] Obendiek, Rechtsanwalt Dr. [Karl] Mensing und ein weiteres noch nicht bestimmtes Mitglied des Moderamens. 5.) Außerdem wird Lic. Niesel eingeladen, dem Reformierten Kirchenausschuß beizutreten. Er nimmt diese Einladung an. 6.) Im Rückblick auf die nun vergangene Zeit gegenseitiger Mißverständnisse und Verschiedenheiten wird erkannt, daß dabei Bekenntnisstand und Bekenntnishaltung auf eine nicht sachgemäße Weise auseinandertraten, während sie in Wirklichkeit als polare Elemente der gleichen Wirklichkeit begriffen werden müssen. Es wird erkannt, daß infolge der gekennzeichneten Verschiedenheit der Kampf gegen den Einbruch kirchenfremder Gewalt in die Kirche auf der einen Seite defensiv, auf der anderen offensiv geführt worden ist. Es wird erkannt, daß dabei eine Verschiedenheit in der Anwendung von Röm. 13 auf den vergangenen Staat vorhanden war, dessen dämonischer Charakter36 von den Vertretern der defensiven Haltung später als von denjenigen der offensiven erkannt wurde. Es wird jedoch erkannt, daß in der Erkenntnis der Dämonie jenes Staates und ebenso in der Beurteilung der Einstellung zu ihm seit Jahren eine wachsende Übereinstimmung vorlag, daß wir uns aber alle die mangelnde Klarheit des Widerstandes gegen jene Dämonie vor Gott vorzuwerfen haben. 7.) Das Bekenntnis wird von uns nicht als Basis zur Erhebung von Ansprüchen, sondern als verpflichtende Bezeugung Christi betrachtet. Die neue Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland sollte daher nach reformierter Überzeugung nicht unter dem Gesichtspunkt möglichst großer Sicherung der einen Kirche gegen die andere, des einen Bekenntnisses gegen das andere, sondern unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen und in den Jahren der gemeinsamen Abwehr bewährten Verpflichtung der Kirchen und Bekenntnisse aufgebaut werden. Zu dieser Verpflichtung gehört ebensowohl die Achtung vor dem Bekenntnis der Bruderkirche als auch das gegenseitige Fragen und Antworten, das nicht zur Ruhe kommen darf. Die Verschiedenheit im Bekenntnis wird nicht als Vorzug, sondern als Not empfunden. Es besteht indessen auch Übereinstimmung darüber, daß die aus der Theologie des 19. Jahrhunderts erwachsenen Unionslösungen keine wirkliche Hilfe gegenüber jener Not bedeutet haben.

36 Es kann angenommen werden, daß diese Interpretation von Obendiek stammt, hatte er doch diese Sicht mehrfach während der Treysaer Verhandlungen vertreten. Verwiesen sei auch auf seine schon 15 Jahre zurückliegenden Arbeiten zur Dämonologie. – Diese Anschauung findet sich also auch auf reformierter Seite. Barth hat sich bekanntlich über Helmut Thielickes ›Dämonisierung‹ des »Dritten Reiches« lustig gemacht.

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»Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«?

8.) Die reformierten Kirchen in Deutschland möchten so bald wie möglich die brüderliche Gemeinschaft insbesondere mit den in der Presbyterian Alliance37 zusammengeschlossenen Kirchen wiederaufnehmen. Sie verkennen die Schwierigkeiten nicht, die hier bestehen könnten, glauben aber, daß der Weg einer unmittelbaren Fühlungnahme in zunächst unverbindlicher Form die vielleicht bestehenden Mißverständnisse zu beseitigen am geeignetsten wäre. Es soll daher Dr. [Willem A.] Visser ’t Hooft die Bitte vorgetragen werden, bald zu einem Besuch der reformierten Kirchen nach Deutschland zu kommen oder den Besuch einer anderen reformierten Persönlichkeit aus dem Ökumenischen Rat zu vermitteln. Der schon bisher geleisteten großen Dienste des Ökumenischen Rates wird mit Dankbarkeit gedacht. 9.) Die weiteren Beratungen der Detmolder Konferenz befaßten sich mit der Unterbringung der aus dem Osten geflüchteten Pastoren, mit der Beschaffung von Bibeln, Katechismen und anderer kirchlicher und theologischer Literatur, sowie mit der Vertretung der reformierten Theologie an den Theologischen Fakultäten. Sie ergaben in allen wesentlichen Punkten volle Einmütigkeit.

37 Gemeint ist die 1875 in London gegründete »Alliance of the Reformed Churches throughout the World holding the Presbyterian System«. Aus diesem ersten konfessionellen Weltbund entstand unter leichter Namensänderung (»Order« statt »System«) der Reformierte Weltbund. Vgl. dazu Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975; ders., Der Reformierte Weltbund (RWB), in: Karl Halaski, Die Reformierten Kirchen (Die Kirchen der Welt, Bd. 17), Stuttgart 1977, S. 15–36. Durch die Fusion von WARC und Reformed Ecumenical Council (REC) entstand im Sommer 2010 die World Communion of Reformed Churches (WCRC).

Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945

1. Vorerwägungen Weder Selbstbesinnungen oder Selbstbestimmungen der gegenwärtigen Reformierten1 noch kirchengeschichtliche Darstellungen über die Zeit nach 1945 nennen Wilhelm Niesel prominent als konfessionsgeschichtlicher Akteur, falls sein Name überhaupt auftaucht.2 Ist Niesel wie die neuere reformierte Kirchengeschichte – sogar innerhalb des eigenen konfessionellen Lagers – also eine Marginalie oder lediglich eine Fußnote wert? Wenn im Rahmen einer kleineren Studie über eine in zahlreichen Kontexten verstrickte, führende Person berichtet werden soll, sind wir zur Reduktion gezwungen. Die Jahrzehnte von 1945 bis 1973, dem Jahr des Endes der Moderatoren- und anderer kirchenpolitischer Tätigkeiten Niesels, bieten zahlreiche Themen und Fragestellungen. Interessant sind immer Anfang (vgl. 2.) und Ende (vgl. 5.), weil es sich um Zäsuren handelt, wenn die Zeit dazwischen tatsächlich als eine Epoche bezeichnet werden kann. Über die Auswahl der paradigmatisch ausgewählten Themen und Ereignisse lässt sich trefflich streiten. Einige Themen, die auch nach 1945 geradezu bestimmend für Niesel waren, werden andernorts behandelt, etwa Niesels Beschäftigung mit Johannes Calvin3 oder seine 1

Eberhard Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, nennt Niesel nur – sehr selten – als Editor. Auch das Schweizerisch geprägte, aber auch international ausgelegte Werk Matthias Krieg / Gabrielle Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbild einer Identität, Zürich 2002, rekurriert nicht auf Niesel. Berücksichtigt wurde Niesel allerdings in: Marco Hofheinz / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 71–100: Hans-Georg Ulrichs, »Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland.« Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (Wiederabdruck in diesem Band). 2 Z.B. Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002; ders., Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010; ders., Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn 2010; Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989. 3 Vgl. Matthias Freudenberg, Wilhelm Niesels Calvin-Interpretation, in: Martin Breidert / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal (EBzrP 7), Wuppertal 2003, S. 75–98 (Lit.!).

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

lebenslange Beschäftigung mit der Frage nach dem Abendmahl,4 die seinen Weg von einer historisch-theologischen Beschäftigung mit dieser Frage über seine Kirchenkampf-Erfahrungen bis zu seinem kirchenpolitischen und ökumenischen Wirken nach 1945 unter einer zunächst christologischen, dann stärker ekklesiologischen Fragestellung aufzeigt.5 Auch der Systematische Theologe, der Niesel nach 1945 war, wurde schon gewürdigt.6 In einer früheren Arbeit7 habe ich in Bezug auf Niesel darzulegen versucht, dass in dieser Gestalt des »Repräsentant[en] der deutschen reformierten Kirche schlechthin«8 auch zum Ausdruck kommt, was »reformiert« jedenfalls im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts bedeutet hat: Calvin zum theologischen Stammvater zu haben, im Kirchenkampf auf der »richtigen« Seite gestanden zu haben – das hieß allerdings post festum: auf der dahlemitischen Linie! – und Schüler oder Weggefährte Karl Barths zu sein. Da Niesel sich für die berufliche Verflechtung von Gemeindepfarramt, führender konfessionspolitische Rolle im deutschen Reformiertentum und Lehramt in kirchlicher Verantwortung entschied, scheint die Fokussierung auf den »Kirchenpolitiker« als Interpretament angemessen zu sein. An zwei Themen und Fragestellungen soll versucht werden, Wilhelm Niesels Leben und Werk nach 1945 zu würdigen: – Wie hat Niesel in Wort und Tat definiert, was »reformiert« ist? (vgl. 3.) – Wie hat Niesel versucht, das Erbe des Kirchenkampfes zu wahren? (vgl. 4.) Es wird deutlich werden, dass diese beiden Fragen kaum – und bei Niesel noch weniger – zu trennen sind. Dabei sollen im Folgenden nicht knappe und das Leben schematisierende Thesen aufgestellt werden, sondern Beispiele aus einem übervollen Lebenslauf nacherzählt werden.

4

Vgl. zum Thema auch Bertold Klappert, Das Abendmahl als Verheißungs- und Bekenntniszeichen. Calvins Abendmahlslehre und die Interpretation Wilhelm Niesels, in: Breidert/Ulrichs, Niesel, a.a.O., S. 111–152. 5 Vgl. Eckhard Lessing, Zwischen Bekenntnis und Volkskirche. Der theologische Weg der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (1922–1953) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen (Unio und Confessio 17), Bielefeld 1992, S. 336–342: Wilhelm Niesel (1903–1988). 6 Vgl. Eberhard Busch, Unsere Gemeinschaft mit Jesus Christus. Wilhelm Niesel als Dogmatiker und Ethiker, in: Breidert/Ulrichs, Niesel, a.a.O., S. 99–110. 7 Hans-Georg Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth. Zwei Beispiele aus ihrem Briefwechsel 1924–1968, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 177–196 (Wiederabdruck in diesem Band unter dem Titel »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Karl Barth). 8 Peter Noss, Art. Niesel, Wilhelm, in: BBKL VI (1993), S. 765–774, hier: S. 767.

1. Vorerwägungen

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Was die Quellenlage betrifft, ist die Aufgabe, über Niesel nach 1945 zu referieren, vergleichsweise einfach. Bei der Auswertung der Quellen für die Zeit von 1933 bis 1945 muss größte Sorgfalt darauf verwandt werden zu fragen, wer was zu welchem Zweck geschrieben hat. Was konnte zu sagen oder zu schreiben gewagt werden? Welche Funktion hatte das Geschriebene, eventuell auch unbeabsichtigt? Später Erinnertes und Niedergeschriebenes stellt ja in jedem Fall bereits eine Interpretation dar. Nach 1945 spielte das Leben dagegen schon sehr bald in einer freiheitlichen Demokratie, in der politische und Gewissensfreiheit garantiert und real waren. Und mehr noch: Vor 1945 bedrängte »Kirchenkämpfer« waren nicht selten zu erheblichem Einfluss in Kirche und Gesellschaft gelangt und waren öffentliche Personen. Was Niesel dachte und beabsichtigte, konnte er frei äußern – und das hat er auch in großem Maße getan. Es war aus seiner Perspektive sinnvoll, Maßgebliches nicht nur im geschützten Raum von Gremien zu äußern, sondern damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Alle Quellen, die hier verwertet wurden, sind auch jetzt frei zugängig: Neben Niesels Schriften9 habe ich vor allem die ab 1949 als 90. Jahrgang wieder erschienene Reformierte Kirchenzeitung (RKZ) zugrunde gelegt, den Nachlass Niesels in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, den Niesel-Barth-Briefwechsel10 und die Akten des Reformierten Bundes11 – allerdings sind die Moderamensprotokolle zumeist reine Beschlussprotokolle und geben deshalb häufig weniger »Verwertbares« her als die Jahrgänge der RKZ. Ist die Quellenlage für diesen Beitrag also auch ungleich komfortabler als für die Zeit vor 1945, so ist die Forschungssituation dagegen unbefriedigend: Zwar gibt es mittlerweile eine wachsende Literatur für die Zeit nach 1945, aber dort werden die Reformierten kaum erwähnt. An unmittelbar auf die Reformierten bezogener Literatur gibt es lediglich zwei kürzere Abrisse von Wilhelm Niesel12 und Ulrich Weiß13 zum Jahr9

Vgl. dazu die fast vollständige Bibliographie bei P. Noss, Art. Niesel, a.a.O., S. 767ff., sowie Niesels Sammlung seiner Schriften, die neben seinem vom Vf. geordneten Nachlass in der Johannes a Lasco Bibliothek, Emden, unter den Signaturen NL WN II, 3a/b sowie 11.57.42.010 (1–3) aufbewahrt werden. 10 Dieser Briefwechsel ist beschrieben in Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth, a.a.O., S. 184. – Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und Hans-Georg Ulrichs, Göttingen 2015 (im Folgenden zitiert als Barth-Niesel-Briefwechsel) (Einführung, a.a.O., S. 9–29); vgl. auch Matthias Freudenberg / Hans-Georg Ulrichs, »... weil Du überhaupt zu uns gehörst.« Zur Edition des Briefwechsels zwischen Karl Barth und Wilhelm Niesel 1924–1968, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 32 (2016), Nr. 2, S. 155–171. 11 Als Depositum im landeskirchlichen Archiv der Lippischen Landeskirche, Detmold. 12 Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrag des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 38–57, besonders S. 46ff.

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

hundert-Jubiläum des Reformierten Bundes, die umfängliche Arbeit Vicco von Bülows über Otto Weber14 sowie einige Studien aus der Feder des Verfassers. 2. Nachkriegszeit: Organisatorischer und personeller Neuaufbau und konfessionspolitische Konflikte Gleich nach Kriegsende beschäftigten sich Niesel und die Reformierten15 mit der Frage »Was ist reformiert?« Eine Antwort auf diese Frage scheint so problematisch zu sein, dass sie von der Gründung des Reformierten Bundes 1884 an unablässig gestellt wurde. Als junger »Referent« innerhalb der Bekennenden Kirche (BK) beantwortete Niesel diese Frage in der klassischen Schrift von 1934 »Was ist reformiert?« Dort lautete die Antwort: allein die Schrift, allein die göttliche Offenbarung hat Autorität, allein daran lässt sich festmachen, was und wo wahre Kirche sei. Es ginge der Konfession also letztlich nicht um etwas Eigenes, sondern um das wahre Kirche-Sein. Ging Niesel als reformierter »Referent« und Vordenker durch den Kirchenkampf,16 so stand er mit dem Frühjahr 1945 endgültig in erster Reihe: Karl Immer17 war tot, der Moderator des Reformierten Bundes Hermann Albert Hesse18 lag angeschlagen im ostfriesischen Weener, Martin Albertz19 war ganz in die Berliner Verhältnisse eingebunden,

13

Ulrich Weiß, 100 Jahre Reformierter Bund. Zielsetzung, Gründung und Weg, in: RKZ 126 (1985), S. 149–153.179–182 (allerdings klafft hier zwischen dem Kirchenkampf und dem Ende der 70er Jahre eine jahrzehntelange Lücke). 14 Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999. – Vgl. auch Georg Plasger (Hg.), Otto Weber: Impulse und Anfragen. Beiträge des Otto-Weber-Symposiums aus Anlaß seines einhundertsten Geburtstages (EBzrP 6), Wuppertal 2002. 15 Vgl. Robert Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen und Gemeinden von 1933– 1950, in: KJ 77 (1950), Gütersloh 1951, S. 228–332, bes. S. 313ff. – Dieser Aufsatz war eine Auftragsarbeit des Reformierten Bundes, nachdem die Reformierten sich im Kirchlichen Jahrbuch 1933–1944 (erschienen Gütersloh 1948) nicht genügend berücksichtigt sahen. 16 Zu den Details und der Einordnung vgl. Sigrid Lekebusch, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf. Eine biographische Annäherung, in: Breidert/Ulrichs, Niesel, a.a.O., S. 15–34. 17 Vgl. Bertold Klappert / Günther van Norden (Hg.), Tut um Gottes willen etwas Tapferes! Karl Immer im Kirchenkampf, Neukirchen-Vluyn 1989. 18 Vgl. Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 156–158; vgl. auch Hans-Georg Ulrichs, Art. Hesse, Hermann, in: RGG4, Band 3 (2001), S. 1706f. 19 Vgl. Peter Noss, Martin Albertz (1883–1956). Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001.

2. Nachkriegszeit: Organisatorischer und personeller Neuaufbau

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Harmannus Obendiek20 ging, obwohl 1945 der »starke Mann« bei den Reformierten, in die kirchlich bestimmte Lehre und verunglückte 1954 tödlich. So war es an Wilhelm Niesel, die Reformierten nach 1945 zu sammeln und ihnen quasi ein Gesicht zu verleihen. Der Beginn fand unter schwierigsten Bedingungen statt, lag das Land doch danieder. Die letzte Sitzung des Moderamens vor Kriegsende war im Juni 1944 gewesen,21 danach brachen die Kontaktmöglichkeiten größtenteils ab und waren bis in den Herbst 1945 hinein unsicher. Niesel wurde bereits vor der Befreiung Deutschlands wieder aktiv, nämlich etwa ab Mitte April im Lippischen, und nahm am 3./4. Juni bereits an der ersten Zusammenkunft bruderrätlicher Kreise im Rheinland22 teil. Niesel erinnerte sich später an diese bewegte Zeit: »Am 2.6.1945 fuhren O[skar] Hammelsbeck und W[ilhelm] Niesel in einem zurechtgemachten Auto – Benzin aus einem liegen gebliebenen deutschen Panzer – von Detmold nach Essen … und weiter nach Barmen«, wo weitere Besprechungen der Bruderräte (4. Juni) stattfanden.23 Die turbulenten Wochen des Sommers 1945 endeten für Niesel damit, dass er während der Kirchenkonferenz in Treysa im August zum jüngsten Mitglied des neuen Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD, bald aber: EKD) bestimmt wurde.24 Dort fand auch kurz zuvor bei der Tagung des Reichsbruderrates die erste Begegnung mit Karl Barth am 22. August 1945 statt. »Beim Abschied am 31. sagt er [sc. Barth] mir und Hammelsbeck: ›Ihr werdet schon wieder hochkommen!‹ Es sei etwas Schönes,

20 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Obendiek, Harmannus Anton, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 276–278. 21 Sie fand statt am 5.-6. Juni 1944 in Detmold, vgl. Protokollbuch 1939–1951, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 146 [22.25]. 22 Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945 (AGK E 11), Göttingen 1978, S. 303. – Laut Auskunft von Horst-Dieter Beck hat Niesel in seinem Exemplar die Angabe handschriftlich von Mai in Juni korrigiert. 23 Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 98, Anm. 41. 24 Vgl. Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945 – Eine Dokumentation, hg. von Gerhard Besier / Hartmut Ludwig / Jörg Thierfelder, bearb. von Michael Losch, Christoph Mehl, Hans-Georg Ulrichs (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 24), Weinheim 1995. Vgl. auch Wolf-Dieter Hauschild, Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland als Vertretung des deutschen Protestantismus in der Nachkriegszeit, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ B 40), Göttingen 2004, S. 329–365. Auch die Protokolle des Rates der EKD 1945ff. sind unterdes ediert worden. – Der junge Niesel galt sowohl im Rat der EKD als auch insgesamt im Vergleich zu den kirchenleitenden Persönlichkeiten unmittelbar nach 1945 als Ausnahmeerscheinung, da die ganz überwiegende Mehrheit wesentlich älter und mental vom Kaiserreich geprägt war, vgl. Greschat, Die evangelische Christenheit, a.a.O., S. 303.

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

wenn man beim Nullpunkt neu anfangen könne.«25 Diesen Trost hatten die Angesprochenen wohl nötig, denn die bekenntniskirchlichen Reformierten sahen sich sofort wieder in der Defensive; so stellte Schatzmeister Karl Mensing Anfang Juni 1945 schon fest: »Wir müssen natürlich ein scharfes Auge darauf haben, dass wir nicht in ein Fahrwasser der Restauration geraten.« Das drohe, »wenn man … an den Rechtszustand vom 30. Januar 1933 anknüpfen will.«26 Man wird nicht behaupten können, dass die Vertreter der Bekennenden Kirche in jenen Monaten enthusiastisch waren. Die Situation wurde etwa von Hermann Ehlers, Mitglied im Bruderrat der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU), so beschrieben: »Die Unzahl von Pastoren, auch der B.K., die heimatlos auf den Landstrassen herumziehen, die Tatsache, dass alle Leute in den intakten Kirchen in Posten hineinrutschen, die zufällig kommen, aber durchaus nicht qualifiziert sind und zum grossen Teil nicht gestanden haben, geht so nicht weiter … Ich … vermerke nur mit Erstaunen, dass der Kirchenkampf offenbar das Ergebnis hat, dass die Herren der Behörden friedlich auf ihren Posten bleiben.«27 Martin Niemöller war auch nicht optimistischer: »Der Zustand der Kirchen ist im Ganzen erschreckend, und die Restaurationsgefahr sehe ich trotz des Achtungserfolges von Treysa noch keineswegs als gebannt an. Diese Kirchenbürokratie hat ein furchtbar zähes Leben, und die Konfessionalisten sind die eigentliche crux, die uns das Leben schwer machen wird.«28 Das gilt genauso vom reformierten Lager, wo etwa Otto Weber versucht hat, neben dem Geistlichen Vertrauensrat (GVR) auch den gescheiterten Reformierten (Osnabrücker) Konvent wiederzubeleben. Am 31. August und 1. September 1945 traf sich in Detmold der 1939 begründete Deutsche Reformierte Kirchenausschuss (DRKA),29 der sich 25

Wilhelm Niesel, Karl Barth im Kirchenkampf (Typoskript), in: EZA 619/16. Zu Barths Rolle beim (Neu-) Aufbau kirchlicher Strukturen vgl. Martin Greschat, Karl Barth und die kirchliche Reorganisation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950): Widerstand – Bewährung – Orientierung. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2008 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2010, S. 243–265. 26 Brief Mensings an Obendiek, 2. Juni 1945, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 43 [17.3]. 27 Karte Ehlers (Hamburg) an Niesel (Reelkirchen), 24. Juli 1945, EZA Berlin, 619/3,1. – Zu Ehlers vgl. Andreas Meier, Hermann Ehlers. Leben in Kirche und Politik, Bonn 1991. – Eindrücklichstes Beispiel für eine solche behördliche Kontinuität ist Heinz Brunotte; vgl. Jens Gundlach, Heinz Brunotte 1896–1984. Anpassung des Evangeliums an die NS-Diktatur. Eine biographische Studie, Hannover 2010. 28 Brief Niemöllers an Susanna Niesel, 21. September 1945, EZA 619/3,2. Der Brief endet mit dem Bemerken: »… und sag Deinem Wilhelm, dass ich ihn furchtbar gern habe!« 29 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Die Reformierten im Herbst 1945. Ein dokumentarischer Nachtrag, in: RKZ 137 (1996), S. 73–77 (Wiederabdruck in diesem Band unter dem Titel »Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«? Die Reformierten im Herbst 1945. Ein

2. Nachkriegszeit: Organisatorischer und personeller Neuaufbau

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selbst zwar als lockere, aber letztlich formalkirchlich-legitime Vertretung der deutschen Reformierten innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) ansah – und nicht den zum Dahlemitischen Flügel der BK zu rechnenden Reformierten Bund. An der Detmolder Sitzung nahmen Obendiek und Niesel teil. Man raufte sich zusammen und verstand Rudolf Smend und Wilhelm Niesel als gemeinsame reformierte Vertreter im Rat der EKiD. Ein »Sechser-Ausschuss« aus beiden Lagern sollte die beiden EKD-Ratsmitglieder bei der Wahrnehmung der reformierten Interessen unterstützen.30 Im übrigen trat Niesel in den Reformierten Kirchenausschuss ein, wie auch die landeskirchlichen Reformierten ihrerseits um gute Kontakte zum Reformierten Bund bemüht waren. Es ist nicht klar, mit welcher Autorität Niesel in diesen Wochen ganz nach vorne trat. Vermutlich war es seine langjährige führende Tätigkeit in der BK der ApU, die sein Auftreten rechtfertigte, und sicherlich war es hilfreich für ihn, ein unmittelbarer Schüler Karl Barths gewesen zu sein. Der formal führende Reformierte war jedenfalls der ostfriesische Wuppertaler Harmannus Obendiek. Seit Hesses krankheitsbedingtem Abgang nach Ostfriesland – nach seiner Entlassung aus dem KZ – bestand ein geschäftsführender Ausschuss aus Harmannus Obendiek, Karl Mensing und Willy Halstenbach, der am 7. September 1945 einen ersten Rundbrief an die Gemeinden und die Einzelmitglieder schrieb. Die erste Moderamenssitzung nach der Befreiung fand vom 23. bis 25. Oktober 1945 in Detmold31 statt. Zunächst musste es darum gehen, eine Führung des Reformierten Bundes zu bestellen. Hesse war im Juni 1944 gebeten worden, seine Geschäfte vom geschäftsführenden Ausschuss erledigen zu lassen. Da nun die Umstände dieser Entscheidung nicht mehr bestanden, erklärte sich Hesse »bereit, den Moderatorposten, der während der Nazizeit ruhen musste, wieder nach Kräften auszufüllen.«32 Dagegen gab es Bedenken, u.a. von Niesel, ob Hesse vom ostfriesischen Weener aus den Reformierten Bund würde leiten können. »Die Leitung muss von Wuppertal aus geschehen, wo einige Mitglieder des Moderamens sitzen, die dauernd miteinander Fühlung haben können.«33 Es dokumentarischer Nachtrag). Vgl. Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen, a.a.O., S. 308f. Zum folgenden vgl. Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 48ff. 30 An die Gemeinden und Einzelmitglieder des Bundes! Wuppertal-Barmen, 7. September 1945, vierseitiges Rundschreiben des geschäftsführenden Ausschusses, unterzeichnet von H. Obendiek, K. Mensing und W. Halstenbach. Vgl. R. Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen, a.a.O., S. 313. 31 Das 17 Seiten umfassende Protokoll in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 146 [22.25]. 32 Protokoll der Moderamenssitzung 23.–25. Oktober 1945, a.a.O., S. 1. 33 A.a.O., S. 6f.

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kam in dieser Frage zu dem Kompromiss, dass der geschäftsführende Ausschuss weiterarbeitete, Hesse über diese Arbeit »orientiert«, der Moderator aber dann zur nächsten Sitzung einladen und sie leiten sollte.34 Die Detmolder »Versöhnung« zwischen den unterschiedlichen reformierten Lagern wurde positiv wahrgenommen, da laut Niesel »schon immer im Moderamen [des Reformierten Bundes] der Wunsch ausgesprochen worden [sei], mit den Brüdern im anderen Lager einmal ins Gespräch zu kommen.«35 Die im Kirchenkampf aufgebrochenen Spaltungen waren also rasch überwunden, aber sie schwelten teils im persönlichen Verhältnis der reformierten Kirchenpolitiker zueinander weiter. Die Vermutung liegt nahe, dass die schnelle Versöhnung geschehen konnte, weil sich die Reformierten jeglicher Provenienz in einer konfessionspolitischen Defensive wahrnahmen. Also übte man wieder den Schulterschluss. Die von Sigrid Lekebusch für die Reformierten im Kirchenkampf beschriebene binnen-reformierte Gruppendynamik wirkte ähnlich auch nach 1945. Niesel war wohl zunächst als theologischer Lehrer vorgesehen, da er jahrelang als reformierter Dozent an der im Untergrund wirkenden Berliner Bekenntnishochschule gelehrt hatte. »Das Moderamen beantragt bei der [rheinischen] Kirchenleitung, es möge die Pfarrstelle in Schöller mit Niesel besetzt werden, damit er an der Schule [sc. Hochschule Elberfeld] reformierte Systematik lesen kann und eine Wohnung hat.«36 Allerdings dauerte es, bis diese Pläne realisiert werden konnten. Zwischen den Jahren 1945/1946 war Niesel bei Barth in Basel, fast den ganzen Januar sowie September/Oktober 1946 in der Schweiz zur Kontaktaufnahme mit dem Schweizer Hilfswerk und dem Ökumenischen Rat; Probleme mit Reisebeschränkungen scheint es nicht gegeben zu haben, war Niesel offensichtlich bei den Behörden sofort als ›Widerständler‹ anerkannt und bekannt.37 Nachdem Niesel dann am 21. Juli

34 35 36

A.a.O., S. 13. A.a.O., S. 3. A.a.O., S. 8. – Vgl. Hartmut Aschermann / Wolfgang Schneider, Studium im Auftrag der Kirche. Die Anfänge der Kirchlichen Hochschule Wuppertal 1935 bis 1945 (SVRKG 83), Köln 1985, S. 259–282; Klaus Haacker, Streiflichter aus der Geschichte der Hochschule seit 1945, in: Henning Wrogemann (Hg.), Theologie in Freiheit und Verbindlichkeit. Profile der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel (Veröffentlichungen der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel NF 13), Neukirchen-Vluyn 2012, S. 65–77. – Niesel hat die KiHo als Dozent und Professor wohl nicht sehr geprägt; er war zu Wiederbeginn 1945f. wichtig als Repräsentant des altpreußischen Bruderrats, später dann als Moderator und bekannter reformierter Kirchenpolitiker. 37 Ein von Niesel ausgefüllter Fragebogen der Military Government of Germany ist vorhanden in: JaLB, NL WN I, 1a. Weitere Fragebögen hat er im Juni und Dezember 1945 in Detmold und im Frühjahr 1946 in Düsseldorf ausgefüllt, vgl. a.a.O. Ein Beschluss des Kreissonderhilfsausschusses vom 8. November 1949 der Kreisverwaltung

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1946 vom Presbyterium gewählt worden war, berief man ihn auf die Pfarrstelle Schöller.38 So war Niesels persönliche Existenz zunächst in eine klare Richtung gelenkt. Aber wie stand es um die Reformierten? Die zweite NachkriegsModeramenssitzung am 7. und 8. Mai 1946 in Detmold mit dem Moderator Hesse39 stellte offensichtlich die Weichen: Den Hauptvortrag auf der für den Herbst anvisierten Hauptversammlung sollte Niesel halten, seine Thesen wurden vorab versandt. Was Niesel äußerte, stellte mehr als nur eine unter mehreren reformierten Positionen dar. Die wegweisende Hauptversammlung fand vom 1. bis 3. Oktober 1946 in Detmold statt; die letzte war 1942 in Loga/Ostfriesland gewesen. Der alte Hesse sah zwar keine Restauration am Werke, sondern »ist der Ansicht, dass sich in Treysa die B.K. selbst aufgelöst hat und dass die E.K.i.D. einen mittleren Kurs steuert.«40 Trotz Abwesenheit wurde Niesel einstimmig zum Moderator, Pastor Locher zum Stellvertreter gewählt.41 Da die reformierten Landeskirchen dann spätestens 1947 wieder im Moderamen vertreten waren, erübrigte sich der »Reformierte Kirchenausschuss« sowie der »Sechser-Ausschuss«; die deutschen Reformierten wurden, jedenfalls in der Öffentlichkeit, vom Reformierten Bund und dessen Moderamen vertreten und vom Moderator und EKD-Ratsmitglied Niesel über Jahrzehnte repräsentiert. Niesels programmatische Rede – sie musste allerdings verlesen werden, weil er nicht nach Detmold hatte reisen können42 –, beschrieb den Beitrag der Reformierten zum kirchlichen Wiederaufbau Deutschlands als Mahnung, nicht die geschichtliche Stunde o.ä., sondern allein das »Wort« für das kirchliche Handeln als leitend anzusehen. Das biblische Zeugnis konzentriere sich dann in Jesus Christus. Deshalb sei – trotz aller Wertschätzung der reformatorischen Bekenntnisschriften – nicht mehr hinter BARMEN zurückzufallen; BARMEN ermögliche geradezu das Ende des Konfessionalismus. Praktisch hieße das für den Aufbau der Kirche, dass die Einheit Düsseldorf-Mettmann, Amt für Wiedergutmachung, anerkennt Niesel als »religiös Verfolgter«. Brief mit Datum 17. November 1949 in: a.a.O. 38 Berufungsurkunde vom 12. August 1946 mit Unterschriften von sieben Ältesten, in: JaLB, NL WN I, 1a. 39 Protokoll in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 146 [22.25]. Vgl. auch ein gedrucktes Rundschreiben »An die Gemeinden und Einzelmitglieder des Reformierten Bundes für Deutschland!«, Weener/Ems, 15. Juni 1946, unterzeichnet vom Moderator H.A. Hesse. 40 Akte Hauptversammlungen 1946–1956: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 111 [21.26], S. 88. 41 A.a.O., S. 90. 42 Wilhelm Niesel, Der Beitrag der Reformierten zum Neuaufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vortrag zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Detmold am 2. Oktober 1946, Norden 1946 (19 Seiten); Protokoll in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 111 [21.26].

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der Kirche sich nicht etwa in einem »Amt«, dem Pfarramt oder gar dem Bischofsamt – das sich aus reformierter Sicht Otto Dibelius in Preußen angemaßt hatte – widerspiegele, sondern dass der eine Auftrag und Dienst der Kirche getragen wird von der Dienstgemeinschaft aller Gläubigen, die sich in der Gemeinde versammeln. Die Leitung der Kirche läge dann bei den Ältesten und den Synoden. Niesel konnte die Geschäftsführung des Reformierten Bundes erst am 1. Januar 1947 übernehmen, nachdem die Übersiedlung nach Schöller (am Freitag, den 6. Dezember 194643) möglich geworden war. Das neugewählte Moderamen trat vom 12. bis 14. März 1947 zum ersten Mal zusammen. Auch genuin »reformierte Belange« wie die Herausgabe reformierter Bekenntnisschriften deutsch (Auftrag an Paul Jacobs), die Agende (um die sich vor allem Karl Halaski verdient gemacht hat) und der Nachdruck des Heidelberger Katechismus wurden besprochen. 1948 trat dann die »Ordnung des Reformierten Bundes«44 in Kraft: Verfasste Kirchen und Gemeinden (und damit nicht unerheblich die Pfarrer und Theologen) hatten die Macht im Bund, Einzel-Mitglieder erhielten nur je zehn Glieder eine Stimme auf den Hauptversammlungen; diese Regelung wurde aber bereits in den 50er Jahren revidiert. Natürlich herrschte große Finanznot, verschärft durch die Währungsumstellung zur DM. Große Projekte standen an: Die bekenntniskirchliche KiHo, in die die reformierte Theologische Schule dann aufging, und das reformierte Predigerseminar mussten aufgebaut werden. Dies alles geschah auch aufgrund der Selbstwahrnehmung der Reformierten als einer Konfession in der Defensive: So sprach Niesel etwa davon, dass »die lutherische Welle« auch noch über die »rheinischen Gemeinden hinweggehen« würde, wenn man nicht endlich in einem reformierten Predigerseminar reformierte Pfarrer ausbilden könne.45 Die Wiederingebrauchnahme des 43 Niesel trug im Jahr 1968 bei seinem Abschied aus dem Pfarramt nicht ohne feinen Humor Erinnerungen an den Beginn seiner Tätigkeit in Schöller vor: Aus der Geschichte der Ev.-reformierten Gemeinde Schöller von Anfang Dezember 1946 bis in die folgenden Jahre, in: Archiv der Kirchengemeinde Schöller. Vgl. auch Jürgen Fangmeier, Wilhelm Niesel und Schöller, in: RKZ 124 (1983), S. 40f. 44 Entwürfe und Stellungnahmen in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 152 [22.31]. Vgl. auch Steiner, Der Weg der reformierten Kirchen, a.a.O., S. 314f. Die Ordnung wurde am 8. Oktober 1948 von der Hauptversammlung in Frankfurt einstimmig angenommen. 45 Brief Niesels an Barth, 26. September 1946, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 210f. – Die Lutheraner wähnten sich freilich ihrerseits in der konfessionellen Defensive, was besondere Aufmerksamkeit erfordere: »Die Lutheraner waren zwar zahlenmäßig stark, aber auch nur eine Gruppe neben den Unionsvertretern und erst recht der Gruppe der Reformierten in der Zielstrebigkeit ihrer Kirchenpolitik unterlegen. Deren Präses [sic!] D. Niesel wusste stets genau, was er wollte, während die lutherischen Delegierten und Synodalen stark landeskirchlich bestimmt waren und oft ein schillerndes und wohltemperiertes Luthertum vertraten.« Walter Künneth, Lebensführungen. Der Wahrheit verpflichtet, Wuppertal 1979, S. 213.

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reformierten Predigerseminars konnte am 2. November 1949 gefeiert werden.46 Ende der 40er / Anfang der 50er Jahre gab es konfessionelle Auseinandersetzungen in der EKD, die die reformierten Ängste vor einem lutherischen Konfessionalismus anheizten: So sollte die reformierte Gemeinde Marburg lutherisch werden; in Baden gab es Auseinandersetzungen um den Bekenntnisstand; gelegentlich war eine Willkür lutherischer Pfarrer in alten reformierten Gemeinden in Rheinland und Westfalen zu beobachten; in Berliner oder Frankfurter Gemeinden drängten lutherische Vertriebene und Pfarrer hinein; theologische Lehrstühle wurden mit dezidierten Lutheranern besetzt; die Confessio Augustana sollte als gemeinsames evangelisches Bekenntnis gelten;47 man sah eine »Lutheranisierung« der Auslandsgemeinden, die bis dahin traditionell von der altpreußischen Landeskirche betreut wurden; die Gründung der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche (VELKD) wirkte geradezu als Trauma, weil man darin das BK-Erbe (vor allem die Abendmahlssynode in Halle 1937) bedroht sah48 – daher sind auch Versuche reformierterseits zu erklären, über alte BK-Strukturen die VELKD zu verhindern bzw. zu schwächen; parallel dazu liefen die Debatten um die EKDGrundordnung auf den Synoden Eisenach/Treysa 1947/1948. Nach Ende der gemeinsam erlebten Bedrückungen im Kirchenkampf, die ja fast alle kirchlichen Kräfte im »Einigungswerk« Theophil Wurms zusammenrücken ließen, waren ab Sommer 1945 wieder auch divergierende Kräfte am Werk – das hat Niesel wohl kaum wahrhaben wollen, musste es aber unter Schmerzen zur Kenntnis nehmen und wurde deshalb mit Leib und Seele »Kirchenpolitiker«. Niesels Lehrer Karl Barth bezeichnete die EKD-Gründung als »keine gesunde, vielleicht keine lebensfähige Geburt«;49 soweit ging Niesel nicht, gab Barth aber insofern 46 47

RKZ 90 (1949), S. 367–369. Dieses Ansinnen ist nach einer erneuten Diskussion im Jahr 2009 vom Rat der EKD abgelehnt worden, vgl. Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Theologie (EKD-Texte 103), Hannover 2009. 48 Das sieht Wolf-Dieter Hauschild anders, vgl. ders., Konfessionelles Selbstbewusstsein und kirchliche Identitätsangst: Zur Gründung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) im Jahre 1948, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche, a.a.O., S. 366–393; ders., Vom »Lutherrat« zur Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche, a.a.O., S. 394–411. 49 Brief Barths an Niesel, 1. April 1947, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 214– 216, hier: S. 214. – Es gibt auch mildere Beurteilungen Barths von Treysa: »Die vorläufige Lösung von Treysa hat alle Formen eines Kompromisses. Die Vorgänge in Treysa, in denen es zu dieser Regelung kam, waren nicht eben erbaulich. Es hat aber in der Kirchengeschichte sicher im Ergebnis schlechtere Kompromisse gegeben als den, den man dort schließlich gefunden hat.« Zit. nach Ralf Tyra, Treysa 1945. Neue Forschungsergebnisse zur ersten deutschen Kirchenversammlung nach dem Kriege, in: KZG

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Recht, »als wir damals die Auseinandersetzung mit dem konfessionalistischen Flügel des Luthertums hätten auf jeden Fall zu einem klaren Ziele führen müssen.«50 Wie tief die Gräben auch noch zwischen den evangelischen Konfessionen erlebt wurden, fasst Martin Greschat so zusammen: »Fremd und verständnislos standen sich … Lutheraner und Reformierte gegenüber.«51 So war Niesel, bereits bevor die ökumenische Arbeit wieder beginnen konnte, ein kirchlicher Multifunktionär, der in »die kirchenregimentlichen Ämter … ohne mein Zutun … hineingewachsen« ist.52 Freilich wird man ihm auch kein Unrecht tun mit der Vermutung, dass er diese Ämter aus voller Überzeugung ausgeübt hat. Niesel nahm an der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes (RWB) 1948 in Genf teil, wo er über den reformierten Gottesdienst vortrug. Seit 1948 gehörte er auch dem Exekutivkomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) an. Aus einem Verfolgten, der während der NS-Gewaltherrschaft häufig in Haft war, war innerhalb weniger Jahre eine kirchliche Führungsperson geworden, die frei wirken konnte, global agierte und auch an höchster Stelle Gehör fand oder jedenfalls Zugang hatte: Beim ersten Empfang des neugewählten Bundespräsidenten am 13. September 1949 überbrachte Niesel die Glückwünsche der EKD,53 Ende 1950 nahm er als EKD-Ratsmitglied selbstverständlich am Gespräch zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und EKD-Vertretern in Königswinter teil. Aber gerade Adenauer verkörperte die westdeutsche Republik, zu deren Staatspolitik man nicht zuletzt reformierterseits auf Distanz blieb. Die Reformierten nahmen wie der übrige Protestantismus in einem atemberaubenden Maß am Wohlstand der boomenden Bundesrepublik teil54 und konnten sich institutionell fest im Sozialstaat verankern. Ein entsprechend zu erwartendes eindeutiges Votum für den westlich orientierten Wohlfahrtsstaat hat man allerdings aus dem Lager der Reformierten kaum vernommen – Paul Jacobs und Joachim Staedtke waren und blieben Ausnahmen. Sie würdigten die freiheitliche Demokratie westlichen Formats und galten fortan unter den Reformierten als »konservativ«.

2 (1989), S. 239ff., hier: S. 243 (aus: Karl Barth, Die evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, Zürich 1945, S. 34f.). 50 Brief Niesels an Barth, 29. April 1947, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 217f., hier: S. 217. 51 Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, a.a.O., S. 363. 52 Brief Niesels an Barth, 14. Juni 1948, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 231f., hier: S. 232. 53 Vgl. RKZ 90 (1949), S. 312. 54 Vgl. Claudia Lepp, Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche, in: dies. / Kurt Nowak (Hg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001, S. 46–93.

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre In der RKZ spielte Niesel bis Mitte der 50er Jahre eine eher geringe Rolle; Wilhelm August Langenohl und besonders Wilhelm Kolfhaus waren wesentlich präsenter. Vor allem Karl Halaski, der, nachdem er die RKZ-Schriftleitung bald von Robert Steiner übernommen hatte, prägte die reformierte Publizistik über Jahrzehnte.55 Niesel war mit seinen konfessionspolitischen und kirchenregimentlichen Ämtern, dem Pfarramt und der theologischen Lehre vollauf ausgefüllt. Nicht zuletzt wegen seiner Präsenz auf EKD-Ebene kam man an ihm nicht mehr vorbei, wenn es um das Reformiertentum ging. Dabei hat sich Niesel als Kirchenpolitiker offensichtlich ganz bewusst und eindeutig für die reformierte Sache entschieden, denn als Sprecher für BK-Gremien traten andere Männer auf. Weiterhin existierten nach 1945 der Reichsbruderrat (Niemöller) und der Coetus, die württembergische Sozietät unter Schempp und andere Bruderschaften.56 Niesel hatte Anfragen für bedeutendere Lehrstühle, etwa Bonn – wozu Barth riet57 –, Mainz und Erlangen. Niesel entschied sich aber gegen eine akademische Karriere. Wohl treffend schrieb einer der reformierten Kirchenpolitiker, Walter Herrenbrück58, an den damaligen RKZ-Herausgeber Robert Steiner, dass »es gegenwärtig nicht zu verantworten [wäre], wenn Niesel als Moderator ausscheiden würde … Die zur Zeit spürbare und weithin in der EKD vermerkte frohe Lebendigkeit des Moderamens und dadurch des Reformierten Bundes würde sofort wieder einer gehemmten Stagnation weichen, da Niesel zur Zeit nicht zu ersetzen ist.«59 55 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen.« Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski (in diesem Band). 56 Diethard Buchstädt, Kirche für die Welt. Entstehung, Geschichte und Wirken der Kirchlichen Bruderschaften im Rheinland und in Württemberg 1945–1960 (SVRKG 131), Köln 1999 (mit nur wenigen Nennungen Niesels). 57 Vgl. Brief Barths an Niesel, 18. Juni 1948, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 233f., hier: S. 233. 58 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik (in diesem Band). 59 Brief Herrenbrücks an Steiner, 24. Juni 1949, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 600 [62.6]. – Herrenbrücks kirchenpolitische Strippenzieherei erhellt etwa aus einem Brief vom 6. Juli 1949, den er Robert Steiner schrieb: Das Verhältnis zwischen der Auricher und der rheinischen Kirchenleitung sei schlecht, auch zu den Reformierten in Düsseldorf, obwohl man sich persönlich gut verstehe. »Wahrscheinlich wird unsere Landeskirche als solche immer noch im Licht ihrer früheren Versager gesehen.« Meint der dann bald folgende Landessuperintendent nur die während des Dritten Reiches tätigen Auricher Juristen Otto Koopmann und Adolf Kramer oder auch den Landessuperintendenten Walter Hollweg?

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Es war nun nicht zuletzt Niesels Part, reformierte Apologie und gelegentlich auch Polemik zu treiben. So schleuderte er gegen einen realen oder auch nur gewitterten Konfessionalismus der Lutheraner Rufe wie »Reformiert? Jawohl, reformiert!«60 und »Lutherisch werden wir nicht«61 und fürchtete bei liturgischer Bereicherung sofort kryptokatholisierende Tendenzen, etwa im schon sprichwörtlichen Zwischenruf »Sind Kerzen heilsnotwendig?«62 oder »Zur Messe kehren wir nicht zurück!«,63 »Was wird aus dem Bischofsamt?«64 und weitere. In beinahe jeder Ausgabe der RKZ ist dieses reformierte Bellen wiedergegeben und erschien danach unter dem Titel »Wohin steuert unsere Kirche?« (Wuppertal 1950).65 Angesichts der Tatsache, dass die Reformierten im Kirchlichen Jahrbuch 1945–1948 (erschienen Gütersloh 1950) nicht erwähnt wurden, sei es notwendig, »die Stimme etwas lauter zu erheben«, so Niesel im Moderamensbericht auf der Hauptversammlung in Schüttorf 1950.66 Noch Jahre später berichtete Halaski vom kämpferischen Niesel: »Nun hat der Moderator in der ihm eigenen handfesten und manchem sehr unbequemen Art bei der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Siegen die reformierten Professoren aufgerufen, sie mögen ihre Posaune einen deutlichen Ton geben lassen«.67 Obwohl »reformiert« gerade keine auf sich selber beharrende Konfession sein sollte und man deshalb in zahlreichen Verlautbarungen jeglichen Konfessionalismus ablehnte, wirkten Niesel und die Reformierten eben doch konfessionalistisch, auch wenn man dies mit dem Anspruch einer besonderen Aufgabe der Reformierten innerhalb der evangelischen Kirche kaschierte. Natürlich ging es auch schlicht um die Behauptung reformierter Anteile auf der konfessionspolitischen Landkarte Deutschlands. Und diese Anteile und die Fortexistenz reformierter Milieus waren nicht zuletzt durch den Zuzug von lutherischen Ostflüchtlingen gefährdet. Besonders in den 60 61 62 63 64

RKZ 91 (1950), S. 147–150. RKZ 91 (1950), S. 163–166. RKZ 91 (1950), S. 179–182. Vgl. dazu eine wiedergegebene Kritik, a.a.O., S. 236f. RKZ 91 (1950), S. 195–198. RKZ 91 (1950), S. 211–214. – Weggefährten wiesen in diesem Zusammenhang auf Niesels katholische Taufe hin und versuchten seine gelegentlichen antikatholischen Affekte laienpsychologisch zu deuten. Auch andere BK-Theologen wie Martin Niemöller polemisierten in den 50er Jahren gegen die römisch-katholische Kirche, vor allem verbunden mit Äußerungen gegen die CDU und gegen die Adenauer-Regierung. 65 Vgl. Stephan Bitter, Altarkerzen oder Wort Gottes? Eine theologische Ratlosigkeit bei der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Nachkriegszeit (SVRKG, Kleine Reihe 1), Bonn 22013, S. 37f. St. Bitter weist auf die »hier und da« bestehenden »übertriebene[n] reformierte[n] Ansprüche« hin, a.a.O., S. 12. Jürgen Kampmann charakterisierte Niesels Schrift als »Paukenschlag mit verletzender Wirkung«, a.a.O., S. 37, Anm. 81; sie wurde auch schon zeitgenössisch als unbarmherzig empfunden. 66 RKZ 91 (1950), S. 361–370, hier: S. 366. 67 Karl Halaski, Die »reformierte Posaune«, in: RKZ 98 (1957), S. 2–4, hier: S. 3.

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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reformierten Gebieten des Rheinlands68 und Westfalens, in denen Niesel vor allem verkehrte, waren solche Integrationsprobleme offenkundig. Die umfängliche Arbeit des Reformierten Bundes wurde nicht zuletzt möglich durch die Finanzmittel, die reformierte Freunde aus den USA zur Verfügung stellten. So wurden von Hilfswerk-Geldern, die aus Amerika stammten, in Höhe von DM 87.750,- im Jahr 1950 nicht weniger als DM 7.720,75 für ein Auto für Niesel verwandt und Nebenkosten wie Garage, Versicherungen u.a. getragen.69 Im Jahr 1951 kamen dann DM 23.750,- »für mich« an, wie Niesel schrieb.70 Begabte junge Leute wurden mit diesen und anderen Geldern gefördert; so erhielten etwa Lothar Coenen und Elisabeth (Moltmann-) Wendel Stipendien, um ihre Promotionen abzuschließen. Von Niesels ökumenischen Kontakten profitierte auch die Basis: »Ökumene in der Küche erlebten die Teilnehmer der Bibelstunde im Osterholz [bei Schöller, wo Niesel 14tägig in der Küche eines Ältesten die Bibelstunde hielt] … Am 28. April war … Prof. Hromadka aus Prag zu Gast, der am Tage darauf in einem kleineren Kreis von ModeramensMitgliedern erklärte, dass ihn die Teilnahme an dieser Bibelstunde ganz besonders beeindruckt habe, weil die Kirche weniger in glänzenden Versammlungen als in solchen Zusammenkünften unter dem Wort ihr eigentliches Wesen und ihre Kraft erweise.«71 Bis Mitte der 50er Jahre wuchs Niesel in die Rolle des tatsächlich führenden Reformierten hinein. War er bei »Dienstantritt« als Moderator 1946 mit 43 Jahren noch recht jung, stand er Mitte der 50er Jahre inmitten des sechsten Lebensjahrzehnts. Er war nun tatsächlich der (!) Repräsentant der deutschen Reformierten. Bezeichnend schrieb nach Niesels Ehrenpromotion der Dekan der theologischen Fakultät Aberdeen an Niesel, er sei in Schottland willkommen, »weil Sie die reformierten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren.«72 68 Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989) (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 5) (SVRKG 173), Bonn 2008, S. 87–100: Vertriebene und Flüchtlinge – Nationalismus und Versöhnung. 69 LKA Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 154 [22.33]; vgl. auch Brief Mensings an Niesel, 15. August 1950, dass diese Summe von der amerikanischen Presbyterian Church stamme. 70 Brief Niesels an Mensing, 24. Juni 1951, in: a.a.O. 71 RKZ 96 (1955), S. 219. 72 RKZ 95 (1954), S. 219f. – Barth Mitte der 50er Jahre zu und über Niesel: »Sei und bleibe der ›Eiserne Wilhelm‹ als der du gross und unentbehrlich bist: so im neuen wie im alten Jahr! Ave Moderator!« Brief Barths an Niesel, 31. Dezember 1954, in: BarthNiesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 249f., hier: S. 250. – Einige Jahre später bezeichnete Barth Niesel wohl wegen seiner zahlreichen Reisen rund um den Globus als »zum WeltWilhelm Emporgestiegenen«, Karte Barths an Niesel, 13. April 1961, a.a.O., S. 266f., hier: S. 267.

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Reformiert hieß auf jeden Fall, theologischer Anhänger Barths zu sein, womit sich Otto Weber auch wieder in die erste Reihe der Reformierten hatte zurückarbeiten können. Auch die ›Barthianer‹ sahen sich wohl ständig in einer Kampfsituation, wenn doch schon ihr Schulhaupt sich derart skeptisch äußerte: »Vielleicht ist etwas dran an dem, was der Amerikaner Niebuhr mir nun wiederholt vorgeworfen hat: dass meine Art von Theologie sich faktisch für Zeiten der akuten Krisis besser eigne als für solche des Übergangs und des ruhigen Aufbaus.«73 Barths Entwicklung bzw. die Fortschreibung der Kirchlichen Dogmatik wurde natürlich sehr genau verfolgt; es war dann Otto Weber (und nicht etwa Wilhelm Niesel!), der ausführliche Exzerpte der KD-Paragraphen in der RKZ veröffentlichte.74 Die Barth-Schule hat sich – vielleicht aufgrund der theologischen Auseinandersetzungen der 20er Jahre und der kirchlichen Kämpfe der 30er Jahre – auch nach 1945 zumeist kämpferisch gegeben, sozusagen als »theologia militans«, zumal auch Karl Barth selbst sowohl in theologischen Diskursen als auch in politischen Debatten robust auszuteilen wusste. Alle diejenigen, die nicht zur eigenen »Schule« gehörten, wurden wenig differenziert wahrgenommen. Manche akademische Karriere verlief holpriger, als dies ohne die barthianische Hegemonie gewesen wäre. Im Jahre 1955 schrieb Theodor Immer in einem Appell, sich politisch hinter Barth zu stellen, mit leichter Feder über die Stellung Barths bei den Reformierten: »Wir [Reformierte] als diejenigen in Deutschland, die – theologisch gesehen – die größten Stücke von ihm [sc. Barth] halten, die ihn laufend zitieren, die seine Dogmatik im Bücherschrank nicht nur einmal im Jahre – wie die anderen Bücher –, sondern jede Woche staubputzen«.75 Innerhalb der Reformierten war man aber nur gelitten, wenn die Gefolgschaft zu Barth so weit ging, auch dessen Geschichtssicht zu teilen. Wer nicht mitzog, wurde politisch kaltgestellt; das hatte bereits in der Nachkriegszeit aufs erschütterndste der Fall Wilhelm Boudriot76 gezeigt, der eigentlich ein Fall Barth ist. Für Kriegsver73

Barth in einem Grußwort an den Coetus zu seiner Tagung am 2. Mai 1949, in: RKZ 90 (1949), S. 149–151, hier: S. 151. 74 Später zusammengestellt in Otto Weber, Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Ein einführender Bericht (1950ff.). 75 RKZ 96 (1955), S. 82. – Achim Engels allerdings ärgerte sich über Immers Appell: »Stillschweigend setzen Sie voraus, dass jeder reformierte Theologe zwangsläufig Schüler Barths sein müsste.« Die Holländer könnten ja auch anders. A.a.O., S. 119f. 76 LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 22 [12.17], enthält zahlreiche Briefe Boudriots, vom Moderator Hesse, von Niesel, dem Rektor der Universität Mainz und Barth. Zu Boudriot vgl. Karl Dienst, Der »andere« Kirchenkampf. Wilhelm Boudriot – Deutschnationale – Reformierte – Karl Barth. Eine theologie- und kirchenpolitische Biographie (Vergessene Theologen 4), Berlin 2007. Diensts frühere Arbeiten zu Boudriot: ders., Professor Werwolf? Ein Kapitel Barth-Rezeption und ihre Folgen, in: EvErz 42 (1990), S. 431–452; ders., Pfarrer Dr. Wilhelm Boudriot – ein Kämpfer für den Glau-

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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brecher konnten Kirchenführer – auch Niemöller und andere BKRepräsentanten – um Amnestie bitten, aber für den verdienstvollen und tapferen Boudriot fand sich kein wirksamer Fürsprecher! Dem NSDAPMitglied und DC-Mann Otto Weber wurde reformierterseits bereits 1945 Generalabsolution erteilt,77 dem völlig unbelasteten Boudriot – er war Mitglied im Landesbruderrat der nassau-hessischen BK und Mitglied des Moderamen des Reformierten Bundes von 1936 bis 1946 – aber nicht.78

ben. Geschichte als Erbe und Auftrag für eine reformierte Gemeinde in unserer Zeit, in: Hugenotten 64 (2000), S. 39–59; ders., Die Anfänge der Evangelisch-theologischen Fakultät in Mainz (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 7), Darmstadt/Kassel 2002 (zu Boudriot: a.a.O., S. 148–178.215–222). 77 Das ist erstaunlich, wenn man an Niesels eigene Worte denkt, die auf der Hauptversammlung 1946 laut wurden: »Es geht nicht an, dass kirchliche Amtsträger, die sich durch den Eintritt in die Partei … mit dieser schlimmen Weltanschauung eingelassen haben, weiter in der Kirche ihren Dienst tun, als wenn sie gar nichts begangen hätten … wenn es sich um Männer in führenden Stellungen handelt, werden sie in eine hintere Linie zurücktreten müssen.« Niesel, Der Beitrag der Reformierten, a.a.O., S. 7. Zu den bleibenden Reibereien zwischen Niesel und Weber s.u. – Barth erinnerte sich zwei Dekaden später im Herbst 1967 an die Fälle Weber und Boudriot; während er Weber wegen seiner »Beichte« noch in Treysa 1945 hatte verzeihen können (und zwar im Namen Jesu Christi!), dafür allerdings auch von Reformierten angegriffen worden sei, sah er bei Boudriot »keine Spur« von Buße. Vgl. Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, S. 438. Erstaunlich ist Barths mangelndes Differenzierungsvermögen. Weber war NSDAP-Mitglied und bis zum Ende des NSStaates bereit, sich einer bekenntniswidrigen Kirchenleitung zur Verfügung zu stellen, während der deutschnationale Boudriot sich zur hessischen BK gehalten hatte. Für Boudriot als Gegner des NS-Staates und Mitglied des kirchlichen Widerstandes bestand kaum Anlass, kirchlich-politisch Buße zu tun. 78 Wenn man in Erinnerung ruft, wie peinlich vom heutigen Standpunkt diverse – gerade auch politische – Fehleinschätzungen Barths waren, dann ist Barths Ablehnung Boudriots aus politischen Gründen genauso katastrophal. Barth war der abwegigen Ansicht, die Deutschnationalen seien gefährlicher als die Nazis (so in seinem Wipkinger Vortrag, vgl. Greschat, Karl Barth und die kirchliche Reorganisation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, a.a.O., S. 246f.). Barth fand später beschönigende Worte über Josef Stalin. So konnte er etwa einen Satz wie diesen sagen: »Die Politik eurer Mächtigen und ihrer geistlichen Seitenmänner [etwa Dibeliussens und Liljes] geht mir mindestens so sehr auf die Nerven wie s[einer] Z[eit] die des Adolf und der DC.« Brief Barths an Niesel, 31. Dezember 1954, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 249f., hier: S. 249. Karl Barth und der Kommunismus ist ein weites – und umstrittenes – Feld, vgl. Wolf Krötke, Karl Barth und der »Kommunismus«. Erfahrungen mit einer Theologie der Freiheit in der DDR, Zürich 2013; eine kritische Sicht bietet George Harinck, »Höchst allergisch für alle Identifikationen«. Karl Barth als Zeitgenosse in der Epoche des Kalten Krieges, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung, Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2016, S. 31–54.

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

Geschehen war Folgendes79: Wilhelm Boudriot, Offenbacher reformierter Pfarrer und gleich nach dem Krieg auf einen Lehrstuhl für reformierte Kirchengeschichte an der Universität Mainz berufener CalvinForscher und konfessionalistischer Reformierter,80 hatte zu Barths vor Kriegsende verfasstem Vortrag »Zur Genesung des deutschen Wesens« eine nicht zur Veröffentlichung bestimmte Stellungnahme verfasst, in der er zunächst dem Anliegen Barths weit entgegenkam. Trotz parteipolitischer Neutralität bezeichnete Boudriot sich darin angesichts der Barthschen Urteile über die Deutschnationalen selber als »deutschnational« und widerspricht einer Geschichtssicht, die aufgrund der angeblichen Kette von Friedrich dem Großen über Bismarck und Wilhelm II. zu Hitler von einer gewissen Kausalität der deutschen Katastrophe sprechen konnte – Barth nahm einen solchen Gedankengang, der von manchen Lutheranern im Jahre 1933 ausgesprochen wurde, im Jahre 1945 gerne polemisch auf. Boudriot wurde durch ungeklärte Umstände im »Rheinischen Merkur« aufs schwerste als politisch untragbar beschuldigt und fand in einer erschütternden Interessensmelange von Universität, die sich im Aufbau befand, der auf Umerziehung des deutschen Volkes bedachten französischen Besatzungsmacht, der BK-orientierten hessischen Kirche und Barth-ergebenen Reformierten in einem allgemein anti-preußischen Klima keine Freunde. Boudriot wurde am 18. Dezember 1946 »suspendiert«. Zunächst war man reformierterseits noch bemüht, eine Lösung zu finden, wie das neugewählte Moderamen auf seiner ersten Sitzung im März 1947 beschloss: »Herr Fritz Herrenbrück in Frankfurt und D. Hesse werden gebeten, mit Prof. Boudriot die Frage seines weiteren Dienstes brüderlich zu besprechen.«81 In der nächsten Sitzung ging man dann sozusagen aufs Ganze: »[D]as Moderamen [werde] Professor Karl Barth um eine persönliche Aussprache mit Boudriot bitten.«82 Der Fall wurde natürlich auch in der EKD und in der Öffent-

79 80

Vgl. Dienst, Der »andere« Kirchenkampf, a.a.O., S. 145–264. Vgl. auch Boudriots Einspruch gegen Niesel Ende 1933, Lekebusch, Niesel im Kirchenkampf, a.a.O., S. 26f. 81 Protokoll der Moderamenssitzung 12.–14. März 1947 (TOP 32), in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 152 [22.31]. 82 Protokoll der Moderamenssitzung 18.–19. Juni 1947 (TOP 15), in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 152 [22.31]. – Ob ein klärendes Gespräch zwischen Barth und Boudriot möglich war, nachdem Barth vom »unseligen Boudriot« zu sprechen pflegte? Vgl. Brief Barths an Niesel, 1. April 1947, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 214–216, hier: S. 215. Barth schrieb am 8. November 1947 an Boudriot: »So habe ich zu dem, was Ihnen widerfahren ist, auch nicht mit dem kleinen Finger beigetragen« (Dienst, Professor Werwolf, a.a.O., S. 444, ders., Der »andere« Kirchenkampf, a.a.O., S. 263) – dieser Satz war jenseits der Ehrlichkeit, da Barth sich außerordentlich negativ über Boudriot geäußert hatte und damit verhinderte, dass die Reformierten für ihn eintreten konnten.

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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lichkeit wahrgenommen, aber man wollte dies wohl intern regeln.83 Ende 1947 besprach man sich im Moderamen dann »wegen einer etwaigen Verwendung von Prof. Boudriot in einem archivalischen Dienst der Landeskirche [von Hessen-Nassau]. Das Moderamen ist bereit, einen befristeten Zuschuss zum Gehalt zu zahlen. Zugleich soll Prof. Boudriot gebeten werden, eine Geschichte der Reformierten Kirche in Deutschland zu schreiben.«84 Ob es die von Karl Dienst formulierte »Angst vor Karl Barth«85 war, die die Reformierten und nicht zuletzt auch Wilhelm Niesel dahin trieb, den Fall letztlich an Barth selber zu überweisen? Barth müsse Boudriot »rehabilitieren« (O-Ton Niesel!), sonst wäre ihm nicht zu helfen. Diese Rehabilitierung verweigerte Barth nicht nur, sondern schrieb in einem Brief an Boudriot, dass nach seiner Überzeugung ein mit solch deutschen Komplexen behafteter Mann wie er (sc. Boudriot) keine deutschen Studenten mehr unterrichten dürfe. Trotz einer von Martin Niemöller für den hessen-nassauischen Landesbruderrat verfassten Rehabilitierung Boudriots namens des Landesbruderrates kam es nicht zu einer Aufhebung des »Leseverbots«. Wilhelm Boudriot verstarb nach einem Herzinfarkt am 23. August 1948 in Bonn im Alter von nur 55 Jahren. Auch wenn keine medizinischen Kausalitäten hergestellt werden können: Ein Opfer der »political correctness« und »theological correctness« ist Boudriot gleichwohl geworden. Auch die Reformierten unter Niesel tragen gegenüber diesem besonderen Reformierten – wie unglücklich auch immer – eine nicht unerhebliche Mitschuld. Andere Barth-Treueschwüre wären zu nennen, etwa bei den Auseinandersetzungen zwischen Barth und Asmussen, die parallel zum Fall Boudriot liefen. Das Moderamen beschloss im Frühjahr 1947: »Das Moderamen des Reformierten Bundes bedauert es aufs Schmerzlichste, dass der Präsident der Kanzlei der EKD Pastor Hans Asmussen D.D. eine Schrift gegen Karl Barth verfasst hat, die Sachlichkeit und Brüderlichkeit vermissen lässt.«86 Dabei hat Niesel sein lutherisches Kirchenkampf-Pendant im Stillen wohl respektiert, ließ sich aber von seinem Lehrer instruieren, Asmussens Absetzung zu forcieren. Diese und andere Auseinandersetzungen müssen natürlich auch im Zusammenhang mit 83

Vgl. Asmussens Brief an Niesel, 27. September 1947: »Da der Reformierte Bund sich die Behandlung des Falles Boudriot vorbehalten hatte …«, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 174 [23.5]. 84 Protokoll der Moderamenssitzung 3.–5. Dezember 1947 (TOP 15), in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 152 [22.31]. 85 Dienst, Professor Werwolf?, a.a.O., S. 441. 86 Beschluss des Moderamens vom 14. März 1947, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 150 [22.29]. – Dazu näher Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth, a.a.O., S. 189–195. Vgl. auch Michael Beintker, Karl Barth und die Frage nach der Schuld der Deutschen, in: ders. u.a., Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950), a.a.O., S. 229–242.

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den hitzigen Debatten um das Darmstädter Wort vom Sommer 1947 und danach gesehen werden. Schmerzliche Trennungen oder jedenfalls Entfremdungen gab es auch von anderen früheren Mitstreitern, wovon jedenfalls die hier im Folgenden berichtete wohl auf Niesels – allein theologische? – Intransigenz zurückgehen dürfte: Martin Albertz, der bei den Diskussionen um das Zweite Gebot87 gegen die Hardliner vorsichtig für die Kunst votiert hatte, beklagte sich darüber, dass für Princeton und Evanston 1954 keine reformierten Delegierten aus Deutschlands Osten88 berücksichtigt würden. Das Moderamen agiere »nicht recht und nicht reformiert«, urteilte Albertz in einem Brief an Niesel und fuhr fort: »Du und ich haben nun doch wirklich über viele Jahre hindurch gut miteinander zusammengearbeitet. Seit dem ich in der Sache des zweiten Gebotes anderer Meinung bin wie Du, hast Du Dir mir gegenüber einen ironischen Ton angewöhnt. Das tut mir wirklich leid … Ich bitte Dich, laß diesen Ton fahren und die alte brüderliche Verbundenheit wieder aufleben.«89 Ob es noch zu einer persönlichen Annäherung der beiden bis zu Albertz’ Tod 1956 gekommen ist, ist nicht bekannt. Von einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Otto Weber wird später noch zu berichten sein. In den 50er Jahren gab es unter den Reformierten immer noch erhebliche, auch gruppenbildende Unterschiede, die aber nicht in offene Konflikte führten. Eine beachtenswerte, europaweit agierende Gruppe 87

Die Mehrheitsposition des Reformierten Bundes ist wiedergegeben in: Zum zweiten Gebot, in: Kundgebungen des Reformierten Bundes, hg. von Karl Halaski (Nach Gottes Wort reformiert 13), Neukirchen 1958, S. 29f. 88 Das Thema »Reformierte in der DDR« ist leider historiographisch noch nicht angegangen worden. Erste Informationen bietet Heinz Langhoff, Der Weg der Reformierten in der DDR, in: RKZ 126 (1985), S. 321–323. Es bleibt bedauerlich, dass H. Langhoff keine Autobiographie verfasst hat. – Nur wenige Hinweise enthalten die Beiträge in Eberhard Gresch (Hg.), Reformierte Gemeinden in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Vierzehn Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart (Tagungsschriften der DHG 13), Bad Karlshafen 1998. Vgl. den Aktenbestand »Beziehungen zum Reformierten Generalkonvent« in LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 247–251 [27.1–5]. 89 Brief Albertz an Niesel, 9. Februar 1954, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 150 [22.29] (vgl. auch Brief Niesels an Albertz, 3. Februar 1954, a.a.O.). – Allerdings hatte es bereits November/Dezember 1945 einen bitteren Briefwechsel zwischen Niesel und Albertz gegeben: Niesel hatte im Westen trotz funktionierender staatlicher Fakultäten für den Wiederaufbau der BK-Hochschule votiert, im Osten aber den Brüdern geraten, die staatliche Fakultät instand zu setzen und auf die kirchliche Hochschule zu verzichten. Albertz war über eine gewisse Ignoranz der westlichen Brüder sehr erbost und beklagte, dass die westlichen Reformierten die östlichen Brüder nicht als gleichberechtigt ansahen. Vgl. Brief Albertz’ an Niesel, 11. Dezember 1945, EZA 619/14, S. 176–178. Schon vorher hatte Albertz vergeblich versucht, Niesel dazu zu bewegen, seinen Sitz im altpreußischen Bruderrat an ihn abzutreten. – Noss, Albertz, a.a.O., berichtet nicht über die Konflikte mit Niesel nach 1945.

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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traf sich nach einer Tagung 1953 in Montpellier vom 30. Juli bis 7. August 1955 in Detmold zum Internationalen Reformierten Kongress (manchmal auch: Vereinigung), dessen Geschichte bis in die 30er Jahre zurückreicht90 und ein Sammelbecken der früheren »Jungreformierten«91 darstellte. Maßgeblich war der Schweizer Rudolf Grob, in Deutschland war Lothar Coenen federführend. Mehrere Artikel sind bereits im Vorfeld im Jahrgang 1955 der RKZ zu finden. Die Tagung mit 200 Teilnehmern, davon etwa 80 aus der DDR und der BRD, fand also Beachtung.92 Einer von drei Hauptrednern war Otto Weber.93 Es ging diesem Kongress um die auch in diesem Kreis umstrittene Gestaltungskraft des Glaubens in der Welt, wobei die Prägekraft des reformierten Glaubens deutlich mit konservativer Note vertreten wurde. Hier sprachen die ›Erben‹ Abraham Kuypers. Neben »der vorbehaltlosen Anerkennung der Autorität der Heiligen Schrift und der Zustimmung zu den altkirchlichen und den reformierten Bekenntnissen« wurde zu den »Bekenntnisgrundlagen des Kongresses« folgende Bestimmung hinzugenommen: »Wir hoffen getrost, dass Gott der heutigen Kirche die Gaben des Heiligen Geistes schenken wird, damit sie, der Heiligen Schrift gehorsam, auf die Fragen unserer Zeit eine Antwort geben kann, wie es die Väter im Glauben gegenüber den Fragen ihrer Zeit getan haben.«94 Weitere Tagungen fanden statt 1958 in Straßburg, 1961 in Cambridge95 und 1964 in Woudschoten-Zeist (NL).96 Dann aber versandten diese konservativen Bemühungen einer Sammlung und Neuausrichtung der Reformierten. Wir schließen diesen Abschnitt mit der Wiedergabe von Niesels Vortrag »Reformiertes Bekenntnis heute« bei der Reformierten Konferenz

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Internationaler Calvinistenkongreß 1932 London, 1934 in London, 1936 in Genf; vgl. Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf [BGLRK XXXVII], Neukirchen-Vluyn 1974, S. 43–45. 91 Vgl. Vorländer, Aufbruch und Krise, a.a.O., S. 29–45. 92 Rudolf Grob, Eindrücke von der Tagung in Detmold, in: RKZ 96 (1955), S. 384– 386; Lothar Coenen, Hintergrund und Aufgabe, in: RKZ 96 (1955), S. 386–388; ders. (Hg.), Mensch und Welt unter der Herrschaft Jesu Christi. Texte und Berichte. Detmold, 30. Juli–7. August 1955, Neviges 1955. 93 Otto Weber, Die Herrschaft Jesu Christi im Umbruch der Weltgestalt, in: RKZ 97 (1956), S. 10–16.26–31; auch als Heft 1 der Reihe Bekennen und Bekenntnis, Neukirchen 1956. Vgl. von Bülow, Otto Weber, a.a.O., S. 325. 94 Grob, Eindrücke, a.a.O., S. 386. Vgl. die Selbstdarstellung – wohl aus der Feder Lothar Coenens – »Die Internationale Reformierte Vereinigung«, in: RKZ 97 (1956), S. 127f. 95 Im Jahr 1961 konnte die RKZ diesen Kongress und seine Teilnehmer dann als »eine im wesentlichen fundamentalistisch bestimmte Vereinigung reformierter Kirchen, die dem Reformierten Weltbund zumeist fern stehen«, bezeichnen; RKZ 102 (1961), S. 395f. Allerdings entsandte der Reformierte Bund mit Heinrich Jochums auch einen offiziellen Delegierten, allerdings einen extrem konservativen. 96 Vgl. den Bericht in: RKZ 105 (1964), S. 231f.

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im Siegerland am 9. Oktober 195597: »Reformiert« hieße genauer »nach Gottes Wort reformiert«, also gelte allein das »Wort Gottes« und keine Konfession. Richtschnur sei – gemäß der auch 1933 erinnerten ersten Berner These – die 1934 bekannte erste These der Barmer Theologischen Erklärung. Die Erlösten wissen sich aber auch freigemacht zu »dankbarem Dienst an Gottes Geschöpfen« (BARMEN II). Gottes Zuspruch und Gottes Anspruch würden gelebt in der Gemeindekirche ohne jegliches weltliche »Führerprinzip«, die als solche an alle Welt, an alles Volk (BARMEN VI) gewiesen sei. Daher sei man verpflichtet »zum Dienst in der Welt auf allen Gebieten des Lebens«.98 Auch wenn keine partei-politischen Optionen möglich seien, so aber doch politische Lobby-Arbeit. Der letzte Punkt mit dieser Betonung ist letztlich die einzige Erweiterung gegenüber den Nieselschen Bestimmungen früherer Jahre und führt hinüber zum nächsten Abschnitt.99 Seine wachsende kirchenpolitische Bedeutung arrondierte Niesel dann global. Im Jahr 1954 wurde er nach einem Vortrag in Princeton in das Exekutivkomittee des Reformierten Weltbundes gewählt,100 1959 übernahm er in São Paulo101 den Vorsitz der theologischen Kommission des Reformierten Weltbundes. Dort lud er auch den Weltbund ein, 1964 nach Frankfurt zu kommen.102 Karl Halaski, damals Pfarrer in 97

Abgedruckt in: Junge Kirche 17 (1956), S. 68–73 (unter dem Titel The Confession of the Reformed Tradition Today, in: Theology and Life 2 [1959], S. 114–123; Wiederabdruck der deutschen Fassung in: Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 31–39). 98 A.a.O., S. 73. 99 Es mutet progressiv und Welt zugewandt an, wie Politisches viel Raum in der RKZ einnahm. Konservativ-moralinsauer waren dagegen andere Blicke auf die Gesellschaft: auf Alkohol, Film und »Schundliteratur«, auf gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse. Ein Beispiel: 1958 bekamen die RKZ-Leser einen Brei aus Moral und Politik gegen Illustrierten-Berichte über Soraya zu lesen. Karl Halaski, Sitte und Anstand. Ein offener Brief an den Chefredakteur des »Stern« zur »Lex Soraya«, in: RKZ 99 (1958), S. 276– 278. Antwort von Henri Nannen, a.a.O., S. 351f.; Antwort von Halaski, a.a.O., S. 452.455–457. 100 Wilhelm Niesel, The Reformed Witness and the Word of God, in: Proceedings of the seventeenth General Council of the Alliance of the Reformed Churches holding the Presbyterian Order held at Princeton, N.J., U.S.A. 1954, ed. by Marcel Pradervand, Genf 1954, S. 127–132; deutsch u.d.T. Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, in: EvTh (14) 1954, S. 578–584. Vgl. auch Robert Steiner, Das Zeugnis der Reformierten Kirchen in der Welt von heute. Bericht über die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Princeton, in: RKZ 95 (1954), S. 379–385. 101 Focko Lüpsen (Hg.), São Paulo Dokumente. Berichte und Reden auf dem reformierten Weltkongress in São Paulo, Witten 1959. 102 RKZ 100 (1959), S. 471. – Diese Einladung war vorher nicht abgesprochen worden, sondern geschah spontan, vgl. Karl Halaski, Wird es Frankfurt?, in: RKZ 101 (1960), S. 320f.; ders., 1964 – Frankfurt, in: a.a.O., S. 374–376. Vgl. auch den Beschluss des Exekutivausschusses in: a.a.O., S. 390f. – Bereits sieben Jahre früher tagte der

3. »Die reformierte Posaune«: Niesels Führungsanspruch bis in die 50er Jahre

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Gruiten, wurde nach langjähriger Tätigkeit als Schriftleiter der RKZ im Hinblick auf die Weltbund-Tagung 1964 vom Moderamen im Jahr 1960 zum hauptamtlichen Generalsekretär berufen, nachdem die Hauptversammlung in Siegen die Einrichtung dieser Stelle beschlossen hatte. Die Einladung nach Frankfurt, die Vorbereitung auf Frankfurt sowie die Durchführung der Weltbundtagung in Frankfurt war ein strategisches Meisterstück der deutschen Reformierten und besonders Karl Halaskis, das Niesels Karriere krönen sollte.103 Die Weltbund-Tagung in Frankfurt vom 3. bis 13. August 1964104 und die Jahre danach wurden zu Niesels persönlichem Höhepunkt. Im Dankschreiben an die Gratulanten nach der Wahl zum Weltbundspräsidenten leistete sich der sonst so nüchterne Niesel einige Gefühle: »Wie viele von Ihnen wissen, gehöre ich zu den Menschen, die nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen sind. Das ist auch in den Frankfurter Tagen nicht geschehen. Ich gestehe aber gerne, dass das Vertrauen, das die aus aller Welt dort versammelten Brüder und Schwestern durch die einmütige Wahl mir bezeugten, beglückend für mich war … Wie ich durch die schweren Jahre des Kirchenkampfes nur hindurchgekommen bin, weil ich wie all die anderen vom Gebet der Brüder getragen wurde, so habe ich für das, was jetzt vor mir liegt, helfendes Gedenken dringend nötig.«105 Reformiert hieß, das Kirchenkampf-Erbe zu wahren, »Öffentliche Verantwortung«, wie in Treysa erklärt, wahrzunehmen, weil – so Niesel – »es sich für eine reformierte Theologie ziemte, zu den Fragen der Ethik Lutherische Weltbund 1952 in Hannover – und wählte den Deutschen Hanns Lilje zu seinem Präsidenten. 103 Nicht alles wollte in diesem Zusammenhang gelingen: So lag etwa der Nieselsche Sammelband (unter dem für Niesel bezeichnenden Titel: Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung) nicht wie geplant bis zur Frankfurter Tagung, sondern erst Ende des Jahres 1964 vor. Vgl. RKZ 105 (1964), S. 279. 104 Frankfurt 1964. Proceedings of the Nineteenth General Council of the Alliance of the Reformed Churches throughout the World holding the Presbyterian Order held at Frankfurt-on-the-Main, Germany, from August 3–13, 1964, ed. by Marcel Pradervand, Genf 1964. Vgl. auch den RKZ-Jahrgang 1964 sowie Frankfurter Dokumente. Berichte und Reden auf der 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt/Main 1964, hg. von Focko Lüpsen, Witten 1964, und den umfangreichen Bestand LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 456–468 [51.36–48]: Reformierter Weltbund, Generalversammlung Frankfurt 1964. 105 Gedrucktes Schreiben Niesels an »Sehr geehrte Gratulanten! Liebe Freunde und Verwandte!« September 1964. – Was Niesel dann in den sechs Jahren als Weltbundpräsident schaffen wollte, hat er in seiner Rede vor der ersten Exekutivkomitee-Tagung in Baguio auf den Philippinen Mitte 1965 genannt: Wilhelm Niesel, Unser Zeugnis in der ökumenischen Bewegung heute, in: RKZ 106 (1965), S. 204–206. Das dort beschlossene Arbeitsprogramm in: RKZ 106 (1965), S. 190. – Der Reformierte Bund gratuliert seinem Moderator übrigens einigermaßen unreformiert mit einem durchaus ins Stolze abgleitenden Bild, in: RKZ 105 (1964), S. 207.

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heute Stellung zu nehmen.«106 So hat Niesel regelmäßig »Ethik« an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal gelesen.107 4. Erbe und Auftrag des Kirchenkampfes: Öffentliche Verantwortung Der Kirchenkampf hat Niesel als Person, aber auch seine theologische und kirchliche Existenz geprägt, wie sich schon anhand seiner Bibliographie leicht ausweisen ließe. In unzähligen Aufsätzen und Reden erinnerte er an die Kämpfe, »[a]ls es in jenen Jahren um Sein oder Nichtsein der Kirche in unserem Lande ging«.108 Auch wenn es historisch so generalisierend nicht zutrifft, wurden die Reformierten als die Tapferen im Kirchenkampf angesehen: sie waren es, so Martin Niemöller, »die sich weiß Gott gut geschlagen haben und den vielen ›Lutheranern‹ ein Vorbild hätten sein können«.109 Von Beginn der Tätigkeit Niesels nach 1945 an »betrachte [ich] es als meine Aufgabe, für eine Erneuerung der Kirche von den uns im Kirchenkampf geschenkten Erkenntnissen her zu wirken, insbesondere weiß ich mich heute verpflichtet, … für den Frieden unter den Völkern einzutreten.«110 Deshalb veröffentlichte er schon 1947 eine Darstellung zur Geschichte der BK,111 deshalb brachte er 1949 eine Sammlung mit den Beschlüssen der altpreußischen BK-Synoden heraus.112 So fragen wir im Folgenden danach, wie Niesel das »Erbe« des Kirchenkampfes nach 1945 fruchtbar zu machen versucht hat. Die letzte große Deutung gab er dem Kirchenkampf mit seiner Geschichte des Kirchenkampfes in der ApU, die er nach seinem Ausscheiden aus Beruf und Ämtern sogleich in Angriff nahm. Als EKD-Ratsmitglied unterschrieb Wilhelm Niesel die Stuttgarter Schuld-Erklärung vom Oktober 1945, als Bruderratsmitglied das Darmstädter Wort von 1947. Die BK existierte in unterschiedlichen Gremien weiter, auch wenn sie keine kirchenregimentlichen Funktionen mehr wahrnahm. Dahlem war sozusagen durch Treysa erledigt. »[D]ie Ver106 Wilhelm Niesel, Aufgaben reformierter Theologie heute, in: RKZ 100 (1959), S. 12– 15, hier: S. 15. Die erste Ausgabe dieses Jahrgangs befasst sich mit dem Jubiläum 100 Jahre RKZ. 107 Die unveröffentlichten Vorlesungen befinden sich im Nachlass, JaLB Emden. 108 Wilhelm Niesel, Gruß zum Unionsjubiläum [der ApU/EKU], in: RKZ 108 (1967), S. 227. 109 So Martin Niemöller in seiner Ansprache an die Teilnehmer der Bruderratssitzung, Frankfurt, 21. August 1945, in: Der Kompromiß von Treysa, a.a.O., Dok. 13, S. 142– 156, hier: S. 150. 110 Zitat aus dem Zeitungsartikel: Portraits der Heimat. Pastor D. Wilhelm Niesel, in: Beilage zum General-Anzeiger Nr. 239/1951, Freitag, den 12. Oktober 1951. 111 Wilhelm Niesel, Der Weg der Bekennenden Kirche, Zürich 1947. 112 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union 1934–1943, hg. von Wilhelm Niesel, Bielefeld 1949.

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antwortung, die von den Organen der BK heute wahrgenommen werden muß« sei, – so Niesel – darin zu sehen, dass »[d]ie Bruderräte … ihre kirchenregimentlichen Funktionen ruhen [lassen]; aber sie sind dazu aufgerufen, die Organe der offiziellen Kirchen zu beraten und innerhalb der Landeskirchen das Wächteramt wahrzunehmen.«113 Die Bekennende Kirche habe daran mitzuhelfen, dass recht bekannt wird, und zwar nicht getrennt mit den jeweils reformatorischen Bekenntnissen, sondern gemeinsam so, wie man in Barmen und mit BARMEN hatte bekennen können. Schon im ersten Nachkriegs-Heft der RKZ 1949 stand vom Schriftleiter Robert Steiner zu lesen: »Die ›Reformierte Kirchenzeitung‹ hat während des Kirchenkampfes klar und entschieden auf der Seite der Bekennenden Kirche gestanden … Wir sehen unsere Aufgabe darin, die uns in den Jahren des Kirchenkampfes geschenkten Erkenntnisse auch weiterhin für unsere Kirche nutzbar zu machen … wir [werden] auf dem uns in Barmen gewiesenen Wege der Bekennenden Kirche weiter vorwärts schreiten.«114 So bemühte man sich reformierterseits um die Rezeption von BARMEN115 und stellte fest, »dass der Reformierte Bund in der Barmer Erklärung nicht nur ein geschichtliches Ereignis sieht, sondern ihr auch heute eine uns verpflichtende Bedeutung zuerkennt.«116 BARMEN wurde also als das die ganze BK vereinende Band angesehen; dahinter verschwanden dann etwa REFORMIERT BARMEN vom Januar 1934 oder auch Dahlem. Von daher trat Niesel stets für die Einheit und das Kirche-Sein der EKD ein und lehnte die Aufsplitterung des deutschen Protestantismus in Konfessionskirchen ab.117 Mit Sorge nahm Niesel zur Kenntnis, wie die BK-Kräfte zwar in zahlreichen Kirchenleitungen vertreten waren, aber in der EKD sowie in den Verwaltungen zurückgedrängt wurden. Im Anschluss an Paul Schempp u.a. konnte man in der RKZ gar davon schreiben, dass »in aller Stille die BK sterilisiert werden kann.«118 Wie andere BK-Protagonisten versuchte Niesel, BARMEN zu aktualisieren. Im Jahr 1954 gedachte man des 20. Jahrestages der Barmer Er113

Wilhelm Niesel, Was soll aus der Bekennenden Kirche werden?, in: Amtsblatt der EKiD, Ausgabe B, 1 (1946/47), 15. März 1947, S. 37f., hier: S. 37. 114 Robert Steiner, Zum neuen Anfang, in: RKZ 90 (1949), S. 3–6, hier: S. 3. 115 Wohl als erste Landeskirche innerhalb der EKD hat die reformierte Landeskirche der Provinz Hannover im Oktober 1946 die Barmer theologische Erklärung zur verbindlichen Bekenntnisschrift erklärt. 116 Robert Steiner, Wie versteht sich der Reformierte Bund heute? Zur Hauptversammlung des Bundes in Frankfurt a.M. vom 7. bis 8. Oktober 1948, in: RKZ 90 (1949), S. 7–10, hier: S. 8. 117 So schon Wilhelm Niesel, Kirchliche Einheit und konfessionelle Bestimmtheit in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Schriftenreihe der Bekennenden Kirche 1), Stuttgart 1948. 118 RKZ 90 (1949), S. 249.

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klärung, auch der reformierten Januar-Synode, etwa in einer aktualisierenden Stellungnahme der »Freien Reformierten Synode Mittelrhein«, in der Formulierungen wie »heute wie damals«119 auftauchten. Es ging darum, die Aufgabe der »öffentlichen Verantwortung« nicht zu verleugnen. Es war offensichtlich gerade bei den Reformierten ein Lob wert, sich politisch verantwortlich zu wissen und zu Wort zu melden.120 Ein Beispiel der wohl untergründig immer bestehenden Differenzen Wilhelm Niesels zu Otto Weber kann dies demonstrieren. Man debattierte im reformierten Moderamen über die Strategie innerhalb der EKD und um die »Verlängerung des Kirchenkampfes« – auch Karl Barth konnte nach 1945 in diesem Sinne argumentieren, als ob der Kirchenkampf fortgeführt oder wiederbelebt werden müsse; gewiss wird sich Niesel in seinem Agieren von seinem Lehrer motiviert haben lassen. Der mittlerweile zum Landessuperintendenten avancierte Walter Herrenbrück schrieb aus Aurich: »Noch ein Wort zu dem Vortrag von Weber [während einer Moderamenssitzung]. Wir müssen mit der Fortführung der Aussprache vorsichtig verfahren. Es steht einiges auf dem Spiel. Sie haben mit der Ihnen eigenen Liebenswürdigkeit angedeutet, dass Sie möglicherweise die Kabinettsfrage stellen. Von Otto Weber weiß ich, dass er wiederholt schon ernsthaft mit Rücktrittsgedanken gespielt hat, und wenn er uns wirklich verlorenginge, würde wahrscheinlich auch Smend ausscheiden. Wir sollten mit diesen Extremen nicht einmal theoretisch argumentieren. Natürlich hätten wir es viel gemütlicher, wenn wir uns mit den gemeinsamen Anliegen des Reformierten Bundes nicht mehr zu plagen brauchten. Niemand von uns ist aus persönlichem Interesse im Moderamen, sondern wir tun unsere Arbeit um des Beitrages willen, den die Reformierten zum Aufbau der EKD zu leisten haben und der schlicht eine Sache des Gehorsams ist … Die Differenz zwischen Ihnen und Otto Weber sehe ich darin, dass für Sie der reformierte Beitrag eine bestimmte kirchenpolitische und allgemeinpolitische Linie einschließt. Sie halten eine Verlängerung der Situation des Kirchenkampfes für erforderlich und sehen die Kirche nur dort richtig vertreten, wo möglichst radikal der Kurs von damals heute weitergesteuert wird. Das ist ein klares Konzept, dessen innere Stärke nicht zu bestreiten ist. Otto Weber dagegen (der im übrigen ja die politische Situation genau so beurteilt wie Sie und Heinemann, nur dass er sie nicht zum status confessionis proklamiert) ist der Auffassung, dass der Reformierte Bund nun eben diesen besonderen Auftrag heute nicht mehr hat. Hinsichtlich des 119

RKZ 95 (1954), S. 83. Dazu die Auslegung von Wilhelm Wibbeling, Zur Entschließung der Freien Reformierten Synode Mittelrhein vom 4. Januar 1954, in: a.a.O., S. 168–171. Vgl. auch Berthold Eitel, Die Gefahr des Zentralismus, in: a.a.O., S. 250f. sowie einige andere Beiträge a.a.O. 120 So nennt Udo Smidt einen Jahrgang am reformierten Predigerseminar »eine in jeder Richtung – einschließlich politische Verantwortung – wache Schar«. RKZ 95 (1954), S. 77.

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Kirchenkampfes hat er ihn nachträglich in aller Form anerkannt und sein eigenes Versagen damals in einer fast selbstquälerischen Weise wieder und wieder bekannt. Er ist aber der Meinung (und ich muß ihm darin zustimmen), dass die radikal politische und kirchenpolitische Linie nicht satzungsgemäß unter dieser Aufgabe zu verstehen ist und was nunmehr … gesagt wird, liegt heute, wo wir nicht in einer spezifischen Kirchenkampfsituation sind, anderswo. Das schließt nicht aus, dass die radikale kirchenpolitische Linie im Reformierten Bund und auch im Moderamen so kräftig wie möglich verfolgt wird. Ich halte es persönlich sogar für hilfreich, dass unser Moderator selber ein bewusster Vertreter dieses radikalen Kurses ist. Wenn wir diese Freiheit nicht mehr in Anspruch nehmen und andern nicht mehr gewähren, können wir uns begraben lassen. Aber ein verbindliches Programm für den Bund und für das Moderamen dürfte es eben nicht sein.«121 Man müsse, gerade deshalb, weil auch alte BK-Bundesgenossen wie Martin Niemöller, Ernst Wilm und Heinrich Held als Unierte wohl nicht tatsächlich die Belange der Reformierten mittrügen, sich über den »Weg klar werden und ihn gemeinsam gehen, wobei Spannungen fröhlich getragen werden dürfen, wie es die Bruderschaft schon im Neuen Testament getan hat. Wir müssten dann freilich auch versuchen, einander richtig zu verstehen … unsere Brüder Weber und Smend [dürften] nicht unter dem unbefriedigenden Eindruck bleiben, dass sie im Moderamen nicht verstanden werden.« Herrenbrück gestand offen, dass er einen scharfen Brief Niesels an Smend »mit einigem Kummer gelesen habe. Nicht deswegen, weil Sie erneut Ihren Willen zur Radikalität bekundeten. Das ist Ihnen, wie ich noch einmal bezeugen darf, wirklich jederzeit abzunehmen. Aber dass Sie Smends Anliegen nur als Liebäugeln mit einer faulen Mittelmäßigkeit interpretieren, das konnte ich nicht begreifen.«122 Weber war – anders als Niesel – Realpolitiker: »So wie die EKiD faktisch aussieht, ist sie ein Kirchenbund und nicht mehr. Auch für den Fall, dass das theologische Abendmahlsgespräch zu einem consensus führen sollte, würde sich an der Struktur der EKiD meines Erachtens nichts ändern. Ich bin der Meinung, dass es nicht wohl nüchterne Haltung wäre, wenn wir unsere Intention im Blick auf die EKiD mit deren tatsächlichem Zustand und rechtlicher Struktur verwechselten.« Darin musste Niesel nun eben den Verrat am gerade von den Reformierten zu 121

Brief Herrenbrücks an Niesel 3. Oktober 1955, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 150 [22.29]. Zwei Dekaden später urteilt Niesel in der Retrospektive: Vom Bekennen der BK, das auch seinen Ausdruck in den Kanzelabkündigungen gefunden hatte, »rührt das ständige Bemühen der letzten Jahrzehnte, sich um die politischen und die gesellschaftlichen Fragen im Leben des gesamten deutschen Volkes zu kümmern. Das kommt nicht von der gesellschaftspolitischen Welle des letzten Jahrzehntes her.« Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 314. 122 Brief Herrenbrücks an Niesel 3. Oktober 1955, a.a.O.

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vertretenen BK-Erbe sehen: BARMEN hatte doch die kirchliche Gemeinschaft herbeigeführt. Was Niesel bestimmt schwer traf, war, dass dies auch reformierterseits anders gesehen werden konnte. Und dass Weber nicht allein der konfessionalistischen VELKD die Schuld an der ungeklärten Situation innerhalb der EKD gab, sondern deren Intransigenz als »durch die oft sprunghafte Heftigkeit ihrer Gegner scheinbar legitimiert« bezeichnen konnte, musste er als ziemlich hinterhältigen Angriff verstehen: Die eigenen Konfessionsfreunde paktierten mit den Konfessionsgegnern! Und: Einer, der seinerzeit nun gerade nicht auf Seiten der BK gestanden hatte, schien mit denen zu sympathisieren, die nun das BKErbe verrieten, nämlich der VELKD!123 Wie Herrenbrück plädierte auch Weber dafür, sich auf das faktisch vorhandene reformierte Kirchentum zu konzentrieren, nämlich auf die reformierten Landeskirchen. Hier werden die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven virulent: Niesel als ein Verantwortlicher in der BK der ApU, Herrenbrück als landeskirchlicher Funktionär und Weber als theologischer Lehrer, der sich sehr für die Landeskirchen hat in Dienst nehmen lassen, so wie er vor 1945 für einen legalistischen Kurs der reformierten Kirchenleitungen optiert hatte. Dennoch wurden auch immer wieder gemeinsame Ansichten identifiziert: Beim »Kampf gegen den Atomtod« konnten die uneinigen reformierten Brüder an einem Strang ziehen; politisch lag man so weit nicht auseinander. Wir finden Niesel in den politischen Auseinandersetzungen dann an der Seite Niemöllers und Heinemanns. Neben führenden Vertretern der EKD unterschrieben auch Niesel und Udo Smidt eine Erklärung gegen die Einführung der Wehrpflicht.124 Niesel war entschiedener Atomwaffengegner; dafür war er auch bereit, reformierte Gemeinschaft aufzukündigen. Einige Mitglieder des Moderamens wollten aus eigener politischer Neutralität kein Wort zur Atombewaffnung, andere hielten es für überflüssig, da es schon genügend Worte gäbe. Niesel wollte aber auch in dieser Situation aktuell »bekennen«. Man spürt die Sehnsucht, der Staatsmacht wie im Kirchenkampf die Stirn zu bieten und den christlichen Glauben nicht zum dummen Salz werden zu lassen. Das Bekennen wäre nicht sein Argument, so Herrenbrück, er wolle vielmehr »in der Linie der Barthschen Stellungnahme den Protest der Vernunft … verdichten.« Für Niesel war das ein kritischer Punkt: »Ich [sc. Herrenbrück] verstehe gut, dass Sie künftig mehr aus sich herausgehen und als Wilhelm Niesel Ihre Stimme im Kreis der Brüder laut werden lassen wollen. Wer sollte etwas dagegen einwenden können? Ich meine nur, 123 Auch von Bülow, Otto Weber, a.a.O., S. 324f., weist auf die zuletzt genannten Briefe hin und berichtet für die folgenden Jahre von Differenzen zwischen Niesel und Weber. 124 RKZ 96 (1955), S. 22: »Es gehört zum Dienst der Kirche, ihre Glieder in ihrer staatspolitischen Verantwortung zu beraten.« Zur vorauf gegangenen Erklärung und dem Widerspruch vgl. Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 41f.

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wir müssten uns vor einem gegenseitig bewahren: dass wir nicht womöglich den Reformierten Bund atomisieren. Wir beide wissen, lieber Bruder Niesel, wie schwach das Gefüge ist, das ihn hält, wie zentrifugal die Kräfte, die im Moderamen zu bändigen sind, und wie gewagt die Experimente, zu denen man uns verführen will. Zwischen Ihnen und mir ist auch nicht einfach 100 %ige Übereinstimmung … So möchte ich Sie doch bitten, bei Ihrem berechtigten Öffentlichkeitsanliegen unserer Arbeit zu gedenken und auf die schwachen Brüder Rücksicht zu nehmen. Käme es zu einer Krise im Moderamen, dann hätten ja nicht eigentlich die einen unmittelbaren Schaden davon, durch die man sich provoziert fühlt, sondern der Bund und die Gemeinden.«125 Wenn man der Anspielung Herrenbrücks auf 1. Korinther 8,1–13 nachsinnt, dann ist das ein erheblicher Vorwurf gegen Niesel. Aber hier schreibt jemand, der als Leiter einer Landeskirche Verantwortung für seine Institution in der Gesellschaft trägt, während Niesel letztlich nur Vereinsvorsitzender war, der sich ein gewisses Schwärmertum hat leisten können. Allerdings: Wer für sich ein »Wächteramt« reklamiert, muss mindestens von Zeit zu Zeit bekenntnishaft Alarm schlagen, wird doch sonst die eigene Legitimität fraglich. Wilhelm Niesel kann wohl – besonders auch in Abgrenzung zu der Majorität der politisch Konservativen unter Kirche leitenden Personen – als einer der wenigen SPD-Sympathisanten gelten.126 In der RKZ ist eine klar erkennbare politische Tendenz, wenn nicht pro Sozialdemokratie, so doch kontra Adenauer und der CDU auszumachen, vor allem in Hinblick auf die Atom-Debatte und dann auf die Bundestagswahl 1957.127 125

Brief Herrenbrücks an Niesel, 1. Juni 1957, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 150 [22.29]. 126 Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Kontinuität im Wandel. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die sog. 68er-Bewegung, in: Bernd Hey / Volkmar Wittmütz (Hg.), 1968 und die Kirchen (Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft 17), Bielefeld 2008, a.a.O., S. 35–54, hier: S. 46. Auch damit ist Niesel repräsentativ für die Reformierten nach 1945, jedenfalls wenn es nach der weniger wissenschaftlichen, sondern eher persönlichen Einschätzung Eberhard Stammlers geht, der in der veröffentlichten Meinung des Protestantismus eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Er sieht die Anhänger der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, das »lutherische Milieu« überwiegend im Lager der CDU, während die reformierten Anhänger der »Königsherrschaft Jesu Christi« im theologischen Gefolge Barths und in der politischen Anhängerschaft Gustav Heinemanns eher im Lager der SPD stünden; diese hätten dann auch ihrerseits »in einem ganz erstaunlichen Maß protestantische Traditionen in die SPD eingebracht«. Vgl. Eberhard Stammler, Politische Strömungen im deutschen Protestantismus, in: Dieter Oberndörfer u.a. (Hg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland (Ordo Politicus 25), Berlin 1985, S. 237–244, hier: S. 240. Vgl. auch Lepp, Entwicklungsetappen, a.a.O., S. 48f. 127 Woraufhin in einem Leserbrief zu lesen war: »Hierdurch teile ich Ihnen der Ordnung halber mit, dass ich per 1.10.1957 die ›Reformierte Kirchen-Zeitung‹ abbestellt

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Niesel hatte sich bereits bei der Entstehung des Darmstädter Wortes 1947 gegen die CDU positioniert. »Was von den konservativen Mächten gesagt wird, gilt für die Vergangenheit – aber es muß verstanden werden gegen die CDU«, wie spätere Kommentatoren meinen.128 Auch zehn Jahre später versuchte Niesel das Reformiertentum politisch zu positionieren. Im Tätigkeitsbericht zur Hauptversammlung 1956/1958 führte er aus: »Auch wir sind von den Fragen [sc. die Atomwaffen betreffend] umgetrieben worden, die seit Jahren die Ev[angelische] Kirche Deutschlands zu zerreißen drohen.129 Das Moderamen hat dazu geschwiegen, weil wir uns ebenso wenig einig waren wie der Rat und die Synode der EKD. Kreise von uns in Hessen und Hamburg haben ihre Stimme deutlich erhoben. Irrten sie oder taten sie das, was unseres Amtes gewesen wäre? Freunde von uns sind führend in den Bruderschaften tätig, andere wieder unter denen, die sich als ihr Widerpart sammeln. Wo steht da der Reformierte Bund? Was hat er in dieser Stunde zu sagen? Oder wollen wir absichtlich uns aus dem Streit der Geister heraushalten und uns auf die Pflege guten Vätererbes beschränken? … Es genügt nicht, auf die habe, weil mir Ihre [nicht: ihre] politische Einstellung nicht zusagt. Politische Ratschläge zu erteilen, sollten Sie besser fähigeren Köpfen überlassen; denn Ihre Leser verlangen von dieser Zeitung ganz andere Dinge.« RKZ 98 (1957), S. 421. Vgl. weitere kritische Leserstimmen im selben Jahrgang. Auch der spätere Leeraner Landessuperintendent Gerhard Nordholt erhob schwere Bedenken dagegen, dass die RKZ die parteipolitisch identifizierbaren Positionen Helmut Gollwitzers übernahm. Ders., Die Christen und die Atomwaffen, in: RKZ 98 (1957), S. 450–452. Dagegen die Anti-Kritiken von Udo Smidt und Helmut Tacke, in: a.a.O., S. 498–501 (G. Nordholt bezog am Ende der 70er Jahre eher politisch progressive Positionen). – Nach einem ideologisch zugespitzten Wahlkampf gewann Adenauer bei der Bundestagswahl im September 1957 mit der CDU/CSU die absolute Mehrheit an Mandaten, vgl. Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 73f. Der Katholik Adenauer empfand die Distanz zum politischen Protestantismus, etwa auf den Kirchentagen: »Ich bin seit geraumer Zeit empört über die Einmischung von evangelischen kirchlichen Stellen in politischen Fragen.« So in einem Brief an Bundespräsident Theodor Heuss vom 14. August 1956, zit. nach Hans-Peter Mensing, Adenauer und der Protestantismus, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Adenauer und die Kirchen (Rhöndorfer Gespräche 17), Bonn 1999, S. 43–60, hier: S. 53. 128 Vgl. Dorothee Buchhaas-Birkholz (Hg.), »Zum politischen Weg unseres Volkes«. Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945–1952, eine Dokumentation, Düsseldorf 1989, S. 100; Torsten Oppelland, Adenauers Kritiker aus dem Protestantismus, in: von Hehl, Adenauer und die Kirchen, a.a.O., S.116–148, hier: S. 128. 129 Vgl. Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954–1969. Dokumente und Kommentare, hg. von Christian Walther, München 1981; Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962 (NBST 24), Neukirchen-Vluyn 1999; Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 66–73. Aus rheinischer Perspektive vgl. Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit, a.a.O., S. 66–86: Die Debatten über Wiederbewaffnung, Kriegsdienstverweigerung und Atomrüstung. Dort wird auch an den reformierten Superintendent Heinrich Höhler (1907–1995) aus Wuppertal erinnert, der das politische Engagement ablehnte, dagegen aber selbst konservative Positionen bezog.

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Barmer Theologische Erklärung zu verweisen. Das geschieht heute von allen Seiten mit erstaunlicher Leichtigkeit; sondern es geht darum, dass wir uns erneut vor das Angesicht dessen stellen lassen, dessen befreiende und helfende Macht wir einst in Barmen erfahren haben.«130 Eine konkrete politische Aussage blieb Niesel aber schuldig. Auf dieser Linie liegt dann ein nichtssagender, an BARMEN erinnernder Konsens der Hauptversammlung in Bremerhaven 1958.131 Niesel musste als Moderator versuchen, beide Lager und die sicherlich auch vorhandene Mittelgruppe innerhalb der deutschen Reformierten zu integrieren. Die Diskussionen wurden nicht nur in Gremien geführt, sondern gingen bis auf die Gemeindebasis hinunter. So wird von einer Studienfahrt des Reformierten Predigerseminars nach Nordwestdeutschland berichtet: »Überall trat … die Spannung hervor, in welcher der Reformierte Bund lebt; sie ist häufig ein Generationenproblem. Ist der Reformierte Bund ein Verein zur Pflege des Reformiertentums oder heißt Reformiertsein: den anderen im Evangelium voraus sein?«132 Die Jüngeren waren der Überzeugung, dass ein status confessionis gegeben war.133 So fragte auch Jürgen Moltmann, der kommende Stern am reformierten Theologenhimmel, im Anschluss an die Hauptversammlung 1958 in Bremerhaven: »Ist der Reformierte Bund der Kreis, in dessen Gemeinschaft wir die Aufgaben der Kirche und des Christen in der Welt, die wir heute sehen, angreifen und bewältigen können? – Es waren vor allem die jüngeren Theologen, die sich von dieser Frage gequält fühlten und die Generation der Väter und Großväter um eine Antwort bedrängten«.134 Auch das Moderamen hatte gleich nach der Hauptversammlung bei seiner Sitzung am 8./9. Dezember 1958 darauf reagiert und beschlossen, dass »[b]ei einer seiner nächsten Sitzungen … das Moderamen mit einer Reihe von jüngeren Pfarrern 130 Wilhelm Niesel, Reformierter Bund 1956/58. Tätigkeitsbericht, in: RKZ 99 (1958), S. 428–433, hier: S. 429. – Die Bruderschaften verloren in den späten 50er Jahren in der evangelischen »Öffentlichkeit … zunehmend an Resonanz.« Vgl. Martin Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche in den 60er Jahren, in: Axel Schildt u.a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 544–581, hier: S. 548. 131 In: RKZ 99 (1958), S. 503. Anschließend wird natürlich in RKZ-Leserbriefen darüber diskutiert. 132 Ulrich Hoffmann, Mit dem Predigerseminar in Nordwestdeutschland, in: RKZ 99 (1958), S. 474–477, hier: S. 474. – Welche geistliche Arroganz steht hinter dem letzten Satz! Vgl. zu diesen Spannungen auch M. Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, a.a.O., S. 548. 133 Karl Barth hatte für die Kirchlichen Bruderschaften eine »Unterweisung der Gewissen« formuliert, deren 10. These eine Neutralität in Sachen der Atombewaffnung vom trinitarischen Bekenntnis aus verneinte. Die Rheinische und Westfälische Bruderschaft sah deshalb in einer »Anfrage« an die EKD-Synodalen den status confessionis gegeben, vgl. Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 68f. 134 Jürgen Moltmann, Was heißt »reformiert«? Einige Erinnerungen aus der Geschichte zur Ermutigung der Gegenwart, in: RKZ 100 (1959), S. 24–28, hier: S. 24.

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aus reformierten Gemeinden über die Arbeit des Bundes und die Mitarbeit der jüngeren Theologen-Generation sprechen [wird].«135 Bei der Moderamenssitzung im Sommer 1959 wurde festgehalten: »Die temperamentvollen Anfragen einer Reihe jüngerer Pastoren bei der letzten Hauptversammlung zur Arbeit des Bundes und des Moderamens hatten das Moderamen veranlasst, mehrere jüngere Pfarrer zu einem Gespräch einzuladen. Nachdem diese Gäste unter Leitung von Pastor Jürgen Goetzmann, Elberfeld, einen Tag sich selbst über ihre Gedanken ausgetauscht hatten, wurden diese am ersten Abend der Moderamenssitzung noch einmal durchgesprochen. Es zeigte sich dabei, dass der jüngeren Generation mehr Gelegenheit zur Mitarbeit und Verantwortung gegeben werden muß. Die Pastoren Dr. Coenen, Goetzmann und Steinhoff wurden gebeten, dem Moderamen praktische Vorschläge zu unterbreiten.«136 Der Ende der 50er Jahre aufkommende Generationenkonflikt sollte sich bis Anfang der 70er Jahre, also über etwa anderthalb Dekaden, hinziehen, erst dann war der Wechsel von der Kirchenkampf-Generation zu den Nachgeborenen vollzogen (s.u.). Man wird Niesel gewiss nicht vorwerfen können, dass er politischen Fragen aus dem Weg gegangen sei, weder im In- noch im Ausland. Als Vertreter der EKD redete Niesel bei der Eröffnung des »Gartens des Friedens und der Freundschaft« am 19. Juni 1955 in Lidice und erinnerte dabei an das Stuttgarter Schuldbekenntnis.137 Niesel war ab Ende 1960 in Südafrika engagiert, nahm dort an Konferenzen teil, um innerkirchlich die »Rassenfrage« klären zu helfen. Im Jahr 1962 reiste er nach Israel und hielt in Yad Washem eine Rede.138 Auch in den 60er Jahren führte Niesel zu jedwedem Anlass den Kirchenkampf an: »Zu Beginn des Sommersemesters [1960] der Kirchl[ichen] Hochschule Wuppertal-Barmen sprach Professor D. Wilhelm Niesel vor den 150 Theologiestudenten und -studentinnen. Er erinnerte an die theologische Arbeit der Bekennenden Kirche«.139 So verwundert es nicht, dass seine Zeitgenossen ihn als Kirchenkampf-Bewahrer wahrnahmen. In einer Würdigung zum 60. Geburtstag 1963 wird von Walter Herrenbrück ausgeführt: »Wilhelm Niesel gehört zum engsten Kreis der Männer, die ihre entscheidende Orientierung in den Jahren des 135

RKZ 100 (1959), S. 43. Vgl. auch a.a.O., S. 185. Laut Moderamensprotokoll vom 8./9. Dezember 1958 (in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 147 [22.26], S. 114) sollten eingeladen werden: Böddinghaus, Tacke, Schmithals, Goetzmann, Keller, Wolf-Udo Smidt, Brandes jr., Coenen, Dieter Linz, Stoodt, Beermann. 136 RKZ 100 (1959), S. 321. 137 Text abgedruckt in RKZ 96 (1955), S. 282. 138 Wilhelm Niesel, Gedenkfeier in Yad Washem am 9. November 1962, in: RKZ 103 (1962), S. 517–519. – Diese Reise »gehört zu den eindrücklichsten Erlebnissen, die ich je gehabt habe.« RKZ 105 (1964), S. 266. 139 RKZ 101 (1960), S. 241.

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Kirchenkampfes bekommen haben. Ich meine dies jetzt nicht im Sinne eines Etiketts ›Alter Kämpfer‹. Der Versuchung, aus Kreuzeszeiten nachträglich Gloriolen werden zu lassen, haben wir zwar so wenig widerstanden wie frühere Geschlechter. Wer indessen längere Zeit mit Wilhelm Niesel zu tun hat, wird gegen sie ziemlich bald immun. Niesels Prägung durch den Kirchenkampf ist in erster Linie theologischer Natur. Ich wüsste nur wenige unter uns, für die die Barmer Erklärung, insbesondere deren erste These, in einem so elementaren Sinn verpflichtend geworden wäre wie gerade für ihn … von daher wurde ihm der Kirchenkampf zu einer Art Bewährungsprobe in Permanenz … Für Wilhelm Niesel war die theologische Entscheidung von Barmen zugleich eine legitime Fortsetzung und Konkretisierung dessen, was durch die Theologie seines Lehrers Karl Barth an reformatorischer Erkenntnis des Evangeliums seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zurückgewonnen worden war. Ihm selber, von seinen Studien her mit Calvin beschäftigt, erschien es nie zweifelhaft, dass das reformatorische Zeugnis – und nun auch speziell in seiner reformierten Gestalt – zu dieser bestimmten Art des Bekennens heute führen müsste.«140 Anfang der 60er Jahre drohte allerdings auch schon ein Verlust an »Kirchenkampf-Erbe«: »Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie schmal die Basis geworden ist, auf der das Zeugnis der Bekennenden Kirche heute ruht.«141 »Wer mit Niesel durch die Jahrzehnte gewandert … ist, wird im Rückblick fast staunend gewahr, wie er schon eine Generation vorher in dieser präzisen, reifen und kompromisslosen Klarheit über Auftrag und Wesen der Kirche Jesu Christi zu sprechen vermochte. Ich würde es Leidenschaft nennen, aber es ist eine typisch Nieselsche Leidenschaft, ein Pathos ohne Pathetik, eher verhalten, mit einem an Calvins Institutio geschulten Stil. Und der Weg, den er von jenen Tagen an bis heute geführt wurde, ist auf alle Fälle ein gradliniger Weg.«142 Die Frage ist, ob ein gradliniger Weg in veränderter Zeit nicht auch eine Sackgasse sein kann. Die Situation bei den Reformierten anfangs 140

Walter Herrenbrück, Moderator Wilhelm Niesel, dem Sechzigjährigen, zum Gruß, in: RKZ 104 (1963), S. 4f., hier: S. 4. – Man wird freilich fragen dürfen, ob Niesel durch den Kirchenkampf tatsächlich nur ›theologisch‹ und nicht auch persönlich geprägt worden ist. Herrenbrück benennt hier die drei Determinanten des Nieselschen Weges: Kirchenkampf, Karl Barth, Johannes Calvin. 141 Herrenbrück, Moderator Niesel, a.a.O., S. 5. 142 Walter Herrenbrück, Gradliniger Weg. Zu Wilhelm Niesels Aufsatzband »Gemeinschaft mit Jesus Christus«, in: RKZ 106 (1965), S. 60–62, hier: S. 60. – Walter Herrenbrück bildete mit Niesel ein besonderes Leitungspaar, wie Karl Halaski im Nachruf auf Herrenbrück schrieb: »Seit 1946 war [Herrenbrück] stellvertretenden Moderator. Das Zweigespann in der Leitung des Bundes, Wilhelm Niesel und er, ergänzten sich so großartig, wie man es sich nur wünschen konnte. Einer wurde des anderen Anreger und Berater«. Karl Halaski, Dank und Gedenken an einen Prediger. Walter Herrenbrück – † 31. Juli 1978, in: RKZ 119 (1978), S. 283f., hier: S. 284.

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der 60er Jahre wird gut beschrieben anhand eines Berichts über die Hauptversammlung 1962 in Detmold: »Ist es nun dem Reformierten Bund bei seiner Tagung in Detmold geschenkt worden, ein entscheidendes Wort zu den Fragen unserer Zeit zu sagen? Er hat zwar einen Entschließungsantrag zu dem Bericht seines Moderators angenommen, in dem die Brüder gebeten werden, in der Not unserer Zeit nicht zu resignieren. Der Bund war nicht bevollmächtigt, darüber hinaus inhaltlich eine Bekenntnisentscheidung zu treffen. Wer vermöchte auch die Verantwortung dafür zu tragen? Wir wissen ja nicht einmal, ob die Lage heute reif ist, in solcher Weise zu bekennen, wie wir es in den Jahren der Verführung und Verblendung 1934 tun mussten. Aber indem wir uns um den Heidelberger Katechismus als die reifste Frucht der Reformation gesammelt haben und uns durch ihn von neuem kraftvoll in die Heilige Schrift weisen ließen, die allein unsere vorbehaltlos anzuerkennende Autorität ist, haben die Detmolder Tage in uns von neuem die Sehnsucht geweckt nach dem vollendeten Reiche Gottes«.143 Aber wer von den jungen Leuten – außer vielleicht der konservative Lothar Coenen – hat sich damals tatsächlich für den Heidelberger Katechismus interessiert? Musste es nicht als ein Ausweichmanöver begriffen werden, wenn man statt nach vorne zu schauen, wenigstens die alten Fundamente beschwört? Man ahnt hier die anhebenden Auseinandersetzungen dieses Jahrzehnts. Auf der Hauptversammlung 1968 in Bielefeld stand zwar »Evangelium und Demokratie« auf der Tagesordnung, aber es war dort ausgerechnet der milde Konservative Joachim Staedtke, der dort – anstelle des zunächst angefragten Hendrikus Berkhof – das Hauptreferat hielt. Niesel und die Reformierten waren zwar bemüht, auf die Anliegen der »68er«144 auch innerhalb der Kirche zu hören, aber man wollte sie doch nur so gering wie möglich an der eigenen Macht partizipieren lassen. Immerhin: Die Reformierten sollten »sich entschlossen hinter den Rat der EKD stellen, weil er sich laufend zu Nöten des öffentlichen Lebens geäußert hat … Wir sollten … unsere Dankbarkeit bekunden, dass er mit diesem Dienst auf der Linie der Bekennenden Kirche geblieben ist«.145 Aufgabe der Kirche sei aber die Botschaft von Jesus Christus, und was damit zusammenhängend über das öffentliche Leben gesagt werden 143 Werner Lohmeyer, Eindrücke von der Tagung des Reformierten Bundes in Detmold, in: RKZ 103 (1962), S. 442f., hier: S. 443. 144 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Die Reformierten und »1968«: Wahrnehmungen und Wirkungen. Erste Anstöße zu einem liegen gebliebenen Thema, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 8), Wuppertal 2004, S. 183–202 (Wiederabdruck in diesem Band). 145 Wilhelm Niesel, Der Dienst des Reformierten Bundes in einer gefährdeten Welt, in: RKZ 109 (1968), S. 238–243.256–257, hier: S. 240f.

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müsse, könne man aus dem Kirchenkampf lernen: »In einer Sternstunde der Kirche verdichtete sich diese Einsicht zu der Aussage, dass Jesus Christus ›Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben‹ sei und es keinen Lebensbereich gebe, der nicht der Heiligung durch ihn bedürfe … Ist das alles in unseren Gemeinden vergessen? Das wäre doch ein weltfremdes oder richtiger: gemeindefremdes Urteil!«146 Niesel erinnert an schlagende Predigten im »Dritten Reich«. »Man sage nicht: vergangene Zeiten! Sollten unsere jungen Brüder [sc. die jetzt kritisieren] nie persönlich etwas davon miterlebt haben, dass bis vor kurzem von nicht wenigen Kanzeln ständig die Atombomben fielen, wie man sagte, d.h. die atomare Aufrüstung vom Worte her angegriffen wurde?« Nach der rhetorischen Frage, ob denn die jungen »Brüder behaupten [wollten], der christliche Glaube habe es nur mit den Gegebenheiten dieser unserer Welt zu tun und greife über diese nicht hinaus«, konkretisierte Niesel diesen Vorwurf an der praktischen Aufgabenstellung der Gottesdienstgestaltung: »Meinen sie, dass es sich im Gottesdienst nur um die Erörterung gesellschaftlicher Probleme und um die Proklamation anderer Strukturen handle?«147 Mit 1968 verbanden sich für Niesel erste Anzeichen seines möglichen Abganges von der kirchenpolitischen Bühne. Niesels theologische Vaterfigur verstarb: »Während der [Moderamens-]Sitzung trifft die Nachricht vom Heimgang unseres verehrten Lehrers Professor D. Dr. Karl Barth ein, der in unserem Tagungshaus [sc. Basler Hof, Frankfurt] die Theologische Erklärung von Barmen verfasst hat. Das Moderamen ist tief bewegt. Der Moderator gedenkt des Heimgegangenen in herzlicher Dankbarkeit.«148 Die Hegemonie der Kirchenkampf-Generation endete dann erst nach 1968. Über das nach der Elberfelder Hauptversammlung 1970 zustande gekommene Moderamen heißt es: »Außer dem Moderator und dem Schatzmeister gehören dem Moderamen jetzt Männer und Frauen an, die in diesem Kreis erst verhältnismäßig kurze Zeit tätig sind und die ganz eindeutig nicht mehr die Generation des Kirchenkampfes vertreten.«149 Niesel war durchaus einig mit den jüngeren Kräften, dass der Glaube die Welt verändern solle, aber die Theologie war weitergegangen, neue globale Anstöße konnte Niesel nicht mehr integrieren und viele politische Aussagen waren ihm wohl auch zu klassenkämpferisch. Letztlich stand Niesel »1968« und den gesellschaftspolitischen Bestrebungen der Jüngeren ohne Antworten gegenüber, teils sogar hilflos, 146

Wilhelm Niesel, Worüber man sich wundern muß, in: RKZ 110 (1969), S. 138f., hier: S. 138. 147 A.a.O., S. 139. 148 Protokoll der Moderamenssitzung 9.–10. Dezember 1968, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 65. 149 RKZ 112 (1971), S. 10.

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auch wenn er sich sicherlich bemüht hat, die Anliegen der jungen Generation zu verstehen. Er hat mit Sympathie auf alle gesehen, die um des Evangeliums willen gekämpft und aktuell »bekannt« haben. Aber es musste für ihn verstörend gewesen sein, dass er selbst jetzt nicht auf der Kämpfer-Seite zu stehen kam, sondern sich auf der Seite der bekämpften Etablierten wiederfand. Hilflos wirkt deshalb sein Beharren und Wiederholen der biblischen Lehre, der reformatorischen Einsichten und der »Erträge des Kirchenkampfes«.150 Ähnlich verhielt es sich im globalen Kontext Niesels. Mit der Vorbereitung und der Durchführung der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1964 in Frankfurt erreichte Niesels kirchenpolitisches Wirken seinen Höhepunkt: Von 1964 bis 1970 war er Präsident des Reformierten Weltbundes.151 Damals kamen nicht nur im politischen Deutschland, sondern bereits vorher in der weltweiten kirchlichen Ökumene neue Themen auf die Tagesordnung, etwa die der globalen Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Niesel reiste durch Europa und um den Globus, um Tagungen des Exekutivkomitees zu leiten und um Gliedkirchen zu besuchen152 – mit Ausnahme der DDR, die ihm die Einreise verweigerte.153 Niesel hatte nach der Wahl zum Weltbundspräsidenten »sich selber als ›theologischen‹ Präsident bezeichnet.«154 Niesel verstand zweifelsohne die Kirchenpolitik und das Kirchenregiment stets unter einem theologischen Primat. Daraus ergaben sich Spannungen, wie ein US-Delegierter der Frankfurter Generalversammlung feststellte. Man müsse »zur Kenntnis nehmen, dass neue Kräfte im Reformierten 150

Etwa im Vortrag zum Reformationsfest 1970: Wilhelm Niesel, Unser Glaube in der Wirrnis unserer Zeit, in: RKZ 112 (1971), S. 2–6. 151 Vgl. dazu Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975, S. 270–288: From Frankfurt to Nairobi. – Niesel ergänzt diese Darstellung in einem dreiseitigen Typoskript, das dem Buch-Exemplar JaLB 11.57.90.001 beigelegt ist. Obwohl Pradervand Niesel als Präsident bezeichnet, »who had served the Alliance faithfully and actively since 1964« (a.a.O., S. 287), sah Niesel eben nicht gewürdigt, dass vor allem die vielen Reise-Aktivitäten nur durch die Finanzierung des deutschen Reformierten Bundes ermöglicht worden waren. Pradervand, der seit 1950 als Generalsekretär schon mehrere Präsidenten hatte kommen und gehen sehen, fühlte sich wohl durch Niesels Bemühen und seine häufige Präsenz in Genf in die Defensive gedrängt. 152 Niesel schaffte es innerhalb seiner sechsjährigen Amtszeit, 50 der seinerzeit 116 Gliedkirchen des Reformierten Weltbundes zu besuchen. Vgl. Wilhelm Niesel, Ansprache auf der 20. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes am 20. August 1970 in Nairobi, in: RKZ 111 (1970), S. 191–194, hier: S. 192. Eine von Niesel angefertigte Auflistung der Reisen befindet sich in: JaLB, NL WN I, 1b. – Über diese Reisen und die besuchten Kirchen berichtete Niesel je aktuell in der RKZ, mehrfach sind seine auf Tagungen, vor Synoden oder an Hochschulen gehaltenen Reden dort abgedruckt. 153 Vgl. RKZ 106 (1965), S. 234; RKZ 110 (1969), S. 242. 154 Walter Herrenbrück, Bericht über die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt (Schluß), in: RKZ 106 (1965), S. 40f., hier: S. 41.

4. Erbe und Auftrag des Kirchenkampfes: Öffentliche Verantwortung

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Weltbund sich energisch bemerkbar machten: Die sogenannten jungen Kirchen, besonders aus Afrika, die in Frankfurt in starker Zahl vertreten waren, Kirchen, die unter gegensätzlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen leben … Diese neuen Kräfte … sind geeignet, ›bei denen Befürchtungen zu wecken, die es vorziehen würden, wenn der Reformierte Weltbund brav calvinistisch und presbyterianisch bliebe.‹«155 Für den Reformierten Weltbund galt in jenen Jahren wohl das, was ihr Generalsekretär Marcel Pradervand in seinem Jahresbericht 1967 sagte, wo der Punkt »Probleme der Welt« ganz am Schluss unter »ferner liefen« auftaucht: »Obgleich sich der RWB nicht direkt mit politischen Fragen beschäftigt, können wir die riesigen Probleme, denen sich unsere Welt heute gegenübersieht, nicht übersehen. Wir denken besonders an das Friedensproblem, das niemanden unberührt lassen kann. Es tut uns leid, erkennen zu müssen, dass der Krieg in Vietnam trotz vieler Bemühungen weiter tobt, die Krise im Mittleren Orient immer noch nicht gelöst ist und dass in Afrika Nigeria durch einen Bürgerkrieg zerrissen wurde. Unsere Gedanken gleiten besonders zu den Mitgliedern unserer presbyterianischen Kirche in Biafra, dem Gebiet, das besonders vom Krieg betroffen ist. Wir können keine Lösung vorschlagen. Wir möchten aber die Christen und die christlichen Kirchen bitten, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um einen wahren Frieden gründen zu können zwischen Nationen und Menschen, einen Frieden in Gerechtigkeit und Sicherheit für jeden Einzelnen.«156 Kritisch sah Niesel die Politisierung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die im Juli 1968 durch die Vollversammlung des ÖRK im schwedischen Uppsala, auf der u.a. das Thema »Revolution« verhandelt wurde, zu Tage trat.157 155 156

RKZ 106 (1965), S. 10. Marcel Pradervand, Bericht des Generalsekretärs an die Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes für das Jahr 1967, in: RKZ 109 (1968), S. 61–64, hier: S. 64. 157 Einige Anmerkungen zu Uppsala in Wilhelm Niesel, Ansprache im Exekutivkomitee des Reformierten Weltbundes am 1. August 1969 in Beyrouth, in: RKZ 110 (1969), S. 162f. – Zur Bedeutung von Uppsala vgl. Reinhard Frieling, Die Aufbrüche von Uppsala 1968, in: Siegfried Hermle u.a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47), Göttingen 2007, S. 176–188; Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 117f.; Annegreth Schilling, 1968 und die Ökumene. Die Vollversammlung des ÖRK in Uppsala als Beginn einer neuen Ära?, in: Katharina Kunter / dies. (Hg.), Globalisierung der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die Entdeckung der Dritten Welt in den 1960er und 1970er Jahren (AKiZ B 58), Göttingen 2014, S. 89–119. – Uppsala stellt für einen anderen reformierten Globalplayer dagegen eine überaus positive Wegmarke dar: »Ich habe mich … an der ökumenischen Ethik orientiert, die seit der Vierten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968 im Zeichen der transformierenden Hoffnung stand, wie die Botschaft von Uppsala sie aufzeigte: ›… Beteiligt euch an der Vorwegnahme des Reiches Gottes und lasst heute schon etwas von der Neuschöpfung sichtbar werden, die Christus an seinem Tag vollenden wird.‹« Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, S. 14, vgl. auch a.a.O., S. 53–55.

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Unter der Aegide der Alten war es den Reformierten am Ende der 60er Jahre – anders als in den 50er Jahren! – weder in Deutschland noch auf der Weltebene gegeben, richtungweisende Worte zu finden und entsprechende Taten folgen zu lassen. Das Kirchenkampf-Erbe, das auch je aktuelles politisches Bekennen einschloss und in den 50er Jahren von den reformierten Kirchenkämpfern lebendig gehalten wurde, wurde in den 60er Jahren eher binnentheologisch verstanden. Jüngere Kräfte drängten mit neuen Themen und mit einer neuen Radikalität der Weltorientierung zunächst im Diskurs, dann auch in den Gremien nach vorne. 5. Abschiede aus der reformierten Kirchenpolitik Wilhelm Niesels Abschiede zogen sich von 1968 bis 1973 hin: Früher als unbedingt erforderlich verließ er 65jährig158 das Pfarramt und das Katheder159 und zog 1968 nach Königsstein in den Taunus nahe Frankfurt. Als Weltbundspräsident fungierte Niesel noch bis 1970, im Rat der EKD und als Moderator des Reformierten Bundes war er bis 1973 tätig.160 Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Niesels Positionen zwar noch respektiert waren, man ihm aber nicht mehr zutraute, Wegweisung für die Gegenwart, geschweige denn für die Zukunft zu geben. Es war die Person des tapferen Kirchenkämpfers, die sozusagen unantastbar war. Dessen Theologie allerdings und sein Frömmigkeitsund Leitungsstil waren anachronistisch geworden.161 158

Die Glückwunschtelegramme von Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger sind abgedruckt in: RKZ 109 (1968), S. 32. – So etabliert und anerkannt waren unterdes die früheren Kirchenkämpfer, dass ihnen Kanzler und Präsidenten gratulierten! 159 Nachfolger im Pfarramt und in der Dozentur wurde Jürgen Fangmeier. Über seine »Berufung« durch Niesel berichtet Fangmeier in: ders., Erlebnisse, Zeichen (III), HaanGruiten 1996 (als Typoskript gedruckt), S. 16f. 160 Wem aber die Loyalität des Multifunktionärs Niesel galt, erhellt aus einer Briefnotiz an Martin Albertz, »dass ich jedem Moderamensmitglied einen vertraulichen Bericht über die Ratssitzungen zuzustellen pflege.« Brief Niesels an Martin Albertz vom 16. Februar 1954, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 150 [22.29]. Vgl. den Aktenbestand Vertrauliche Berichte über Sitzungen des EKD-Rates, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 532 [53.21]. 161 »[D]ie führenden Kreise der Bekennenden Kirche … repräsentierten … von der Weimarer Zeit bis in die sechziger Jahre hinein weitgehend das Selbstverständnis der überzeugten evangelischen kirchlichen Kreise … auf diesem Hintergrund [tritt] der scharfe Bruch in der Folgezeit besonders plastisch hervor. Kurz zusammengefasst: Seit den zwanziger Jahren und bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte hier eine entschieden bibelzentrierte Frömmigkeit.« Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16), Leipzig 2005, S. 67. Zur Prägung und Charakterisierung der nach 1945 wirkenden Pfarrer-Generationen vgl. Dimitrij Owetschkin, Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und

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Das zeigt Niesels Eröffnungsrede in Nairobi 1970, in der er auf seine Präsidenzeit im Weltbund zurückschaute: »Vor allem lag mir daran, von den großen Taten unseres Herrn Christus in der Gegenwart zu erzählen [Acta 2,11], damit die Kunde davon an müde gewordene Christen weitergegeben würde.« Niesel erinnerte an bewegende Begegnungen mit glaubensfesten Reformierten in aller Welt. »Wie schwach kam ich mir da vor mit meinen Vorträgen und Predigten! Aber was konnte ich unseren Brüdern Besseres bringen als das Zeugnis, dass Jesus Christus wirklich die einzige Hilfe für uns und alle Menschen ist und dass sie darum auf ihrem Weg rüstig voranschreiten sollten?« Kirche müsse immer missionierende Kirche sein, auch wenn der Begriff in der Weltkirche belastet sei. »Manche halten angesichts des Elends von unzähligen Menschen Mission nur noch in der Form von Entwicklungshilfe für möglich oder in der Änderung ungerechter Strukturen in bessere.« Auch wenn deren Anliegen stimme und man deshalb durchaus Sympathien für die vorwärtstreibenden jüngeren Kräfte haben könne, müsse doch an einige grundsätzliche theologische Daten erinnert werden: »Daß der Gekreuzigte uns anspricht, deckt vom Grunde her auf, was es um den Menschen und die ganze Menschheit ist. Das Alte Testament hält uns vor Augen, dass der Mensch vom Beginn seiner Existenz an seinen Ursprung verlassen hat und dass die Völker, allen voran das zu besonderem Dienst erwählte Volk Israel, gegen ihren Schöpfer revoltiert haben.162 Darum hat er, der seiner nicht spotten lässt, das Kreuz als Zeichen seines Fluches über die ganze Schöpfung gestellt. Wer das nicht anerkennt, vermag den Menschen und unsere Welt nicht zu verstehen.« Aber die Heilsgeschichte ginge weiter: »[D]er Schöpfer hat das Fluchholz nicht auf uns, seine rebellierenden Geschöpfe, sondern auf seinen eigenen Sohn gelegt. Damit zeigt er uns seine schrankenlose Liebe«. Niesel erinnerte an die Frankfurter Weltbund-Tagung 1964, an Calvin und an religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A 48), Essen 2011. 162 Das ist eine unreformierte Vorrangstellung des usus elenchthicus. Aus gegenwärtiger konfessioneller Sicht gilt als überholt, dass Israels Signatur sein Versagen sei, vielmehr wird spätestens seit 1980 die bleibende Erwählung betont. Auch in einer frühen Veröffentlichung Niesels findet sich eine merkwürdige antijüdische Notiz: Nach dem Zitat einer Polemik Calvins gegen den Glauben der »Türken« schließt Niesel: »Hier haben wir die scharfe Absage reformierter Lehre an Türken«, wie er zutreffend wiedergibt, um allerdings aufzählend fortzufahren: eine Absage auch an »Juden und alle Freunde einer natürlichen Theologie.« Wilhelm Niesel, Was heißt reformiert?, München 1934, S. 14. Vgl. auch Niesels Entwurf für ein Wort des Rates der EKD zur »Judenfrage« für die Ratssitzung im März 1946, das zwar die politische Schuld unmissverständlich ansprach, aber auch beinhaltete, dass Christen nun – also nach dem Holocaust – vor allem die Juden zu Christus zu rufen hätten, in: Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band 1: 1945/46, bearb. von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze (AKiZ A 5), Göttingen 1995, S. 285.

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andere Väter, später auch an den Kirchenkampf-Märtyrer Paul Schneider, und wiederholt ein ihn lebenslang begleitendes Theologumenon: »Die Gemeinschaft mit Christus ist Quell für alles, was heute die Gemüter so stark bewegt und begehren lässt: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Wandlung der Verhältnisse zu einem menschenwürdigen Dasein aller. Die Aktivität hierfür müsste wirklich radikal sein, von der guten Wurzel herkommen, dem neuen Menschen Jesus Christus und unserer Gemeinschaft mit ihm! Eine bloße Veränderung von Strukturen vermag unsere Welt nicht heil zu machen, weil dadurch die Menschen nicht von innen her anders werden … Wir können allein den Herrn preisen, der uns täglich unsere Sünden vergibt und sich unser beflecktes, stümperhaftes Werk gefallen lässt.« Die Stärke der reformierten Tradition sei die lebens- und weltgestaltende Kraft gewesen: »Im Unterschied zu anderen haben unsere Väter die biblische Wahrheit betont, dass wir in Christus nicht nur die Versöhnung im Glauben annehmen dürfen, sondern auch zu dankbarem Gehorsam verpflichtet werden … Indem der Herr uns tröstet, setzt er uns zugleich in Marsch … Für uns sollte es selbstverständlich sein, dass wir für Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen haben. Andernfalls hätten wir von dem Worte, dessen Botschafter wir sein dürfen, wenig begriffen. Wir hätten den Herrn Jesus Christus … zu einer blassen, kraftlosen Gestalt gemacht.« Es gelte trotz aller menschlicher Bemühung: »Wir haben nicht die Zusage, dass wir durch unseren Einsatz die neue Welt heraufführen werden. Allem wieder aufkommenden, irreführenden Optimismus zum Trotz muß klar bezeugt werden, dass Jesus uns in die Kreuzesnachfolge berufen hat163 … Was wird aus unseren Kirchen, was aus dem neuen Weltbund in der Wirrnis unserer gefährdeten Welt werden? Wir wollen uns hier in Nairobi ganz neu aufrufen lassen, Botschafter an Christi Statt zu sein, d.h., wir wollen die Menschen nicht zu einem anderen Leben drängen, sondern von der Liebe Gottes in Christus her zu gewinnen suchen; dann dienen wir dem Sieger über alle finsteren Mächte!«164 Gewiss, bei Niesel blieb alles theo163 Und darum war der Kirchenkampf für Niesel auch geradezu eine Offenbarung – eine geschichtliche! Notiert seien noch zwei befremdliche Parallelisierungen der BK mit dem Geschick Jesu: 1) Paul Schneiders Sarg sei »mit 7 Siegeln versehen« nach Dickenschied gebracht worden. »Die Feier wurde zu einem einzigen Lobpreis Gottes über seinen Märtyrer. Während sie gehalten wurde, war am Mittelrhein ein heftiges Erdbeben zu verspüren, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr verzeichnet worden war. Gottes Zorngericht stand vor der Tür.« Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 206. Vgl. Offb. 5,1 und Mth. 27,52. 2) Der Präses der ApU-Bekenntnissynode Wolfgang Staemmler war bei der Befreiung Insasse des Gefängnisses der Stadt Hannover; er wurde von den Befreiern dort als Direktor eingesetzt und wird von Niesel als »der so Erhöhte« beschrieben; dabei hätten Staemmler und er »als Erniedrigte« im Gefängnis gesessen (a.a.O., S. 311, Anm. 86). Vgl. Phil. 2,8f. 164 Wilhelm Niesel, Ansprache auf der 20. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes am 20. August 1970 in Nairobi, in: RKZ 111 (1970), S. 191–194. Auch in:

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logisch richtig, aber diese Richtigkeiten vermittelten keine Kraft mehr für die nach Reformen drängende und manchmal auch nach Revolutionen rufende Gegenwart und eröffneten für die Jüngeren keinen kirchlichen Weg der Zukunft. Der sich als »theologischer Präsident« verstandene Niesel erhielt im amerikanischen Juristen William P. Thompson (Philadelphia) einen nichttheologischen Nachfolger, Generalsekretär Marcel Pradervand wurde durch Edmont Perret abgelöst. Karl Halaski rückte als Deutscher ins Exekutivkomitee nach, dem Niesel seit Princeton 1954 angehört hatte. Zwei andere deutsche Namen in Nairobi waren eher signifikant für den Kurswechsel: Jürgen Moltmann hielt das Einführungsreferat vor der reformierten Weltversammlung,165 stud. theol. Rolf Wischnath wurde als einer der deutschen Delegierten benannt.166 Der erste hat wie kaum ein zweiter deutscher Theologe der weltweiten Ökumene Anregungen gegeben und hat umgekehrt Anregungen aus der Ökumene in seine Theologie integriert, während der zweite geradezu paradigmatisch für die reformierte Kirchenpolitik in den 70er und 80er Jahren steht, wenngleich eher Feder führend als selbst an führender Stelle stehend.167 Bitter war es für Niesel, dass seine Dienstzeit nicht mit Versöhnung, sondern in einer Radikalisierung endete: Im Vorfeld von Nairobi hatte er versucht, die Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes im südlichen Afrika zu einer »brüderliche[n] Aussprache« zusammen zu bringen. »Da gelang es einem jungen, fanatischen, holländischen Missionar die Vollversammlung zu bewegen, das, was die zuständige Sektion zur Rassenfrage erarbeitet hatte, in eine Verurteilung der Burenkirche zu verwandeln … Die Versammlung, durch einen einzelnen aufgeputscht, Nairobi. Vereinigende Generalversammlung des Reformierten Weltbundes und des Internationalen Kongregationalistischen Rats. Autorisierter Bericht, bearb. von Karl Halaski u.a. (epd dokumentation 4), Witten u.a. 1971, S. 36–41; engl. in: Nairobi 1970. Proceedings of the Uniting General Council of the World Alliance of Reformed Churches (Presbyterian and Congregational) held at Nairobi, Kenya, August 20–30, 1970, ed. by. Marcel Pradervand and Fred Kaan, Genf 1970, S. 51–56. Ein dazu von Wilhelm Niesel verfasstes Vorwort wurde nicht für die offiziöse Publikation berücksichtigt; es befindet sich als Typoskript im Buch-Exemplar JaLB 11.57.91.003 (20). – Vgl. zu Nairobi auch Karl Halaski, Bericht über Nairobi, in: RKZ 111 (1970), S. 206f.; Manuel Gutiérrez Marin, Streiflichter aus Nairobi, in: a.a.O., S. 207–209; Karl Halaski, Erste Eindrücke in Afrika, in: a.a.O., S. 218–220. 165 Jürgen Moltmann, Gott versöhnt und macht frei, in: Nairobi, a.a.O., S. 19–31, engl. in: Nairobi 1970, a.a.O., S. 63–76. – Vgl. auch Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, S. 166. 166 Protokoll der Moderamenssitzung 3.–4. Oktober 1969, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 73. 167 Zu Wischnath vgl. Ulrichs, Die Reformierten und »1968«, a.a.O., sowie ders., Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 (Abdruck in diesem Band).

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verleugnete in einer solch’ ernsten Frage den Geist der Versöhnung.«168 Erst 1982 wurde dann vom Reformierten Bund in Deutschland das Gespräch mit der Burenkirche abgebrochen – unterdes ist sie wieder Mitglied in der Weltgemeinschaft reformierter Kirche. Der alte Weggefährte Günther Harder aus Berlin resümierte gegenüber Niesel geradezu seelsorgerlich: »Du hast … recht, dass Du daran erinnerst, wie wir jungen Kerle die Verantwortung übernehmen mussten für die ganze Kirche, einfach weil die Alten sich zumeist, wie Du richtig schreibst, versagten. Auf der anderen Seite ist es – man denkt gerade beim 70. Geburtstag daran – doch eine tolle Sache, dass wir in der Leitung der Kirche nunmehr fast 40 Jahre gestanden haben oder stehen. Wenigen Generationen wird dies zuteil. Man bemüht sich darum, Erlebtes und Erkämpftes wenigstens schriftlich niederzulegen, damit es eines Tages einmal neu erkannt und benutzt wird.«169 Wie mag Niesel diese schöne consolatio mutuum fratrum unter älteren Brüdern, sich zurückzunehmen und loszulassen von kirchlicher Macht und Agendasetting, gelesen haben? Die Kirchenkämpfer kamen an das Ende ihrer Berufstätigkeit, bei den Reformierten auf deutscher und auf globaler Ebene drängten schon länger Jüngere nach vorne. Nun kündigte sich auch noch ein Epochenwechsel in der Barth-Schule an, etwa in Friedrich Wilhelm Marquardts Dissertation. Diadochenkämpfe um das Barth-Erbe brachen aus, es bildeten sich ein linker und ein rechter Barth-Flügel – so die Wahrnehmung von Hans-Joachim Kraus170 – wenige Jahre nach Barths Tod. Niesel urteilte über Marquardts und auch Gollwitzers theo-politische Bestrebungen: »Wenn man heute Barths Theologie grundsätzlich für den Sozialismus in Anspruch zu nehmen versucht, so ist das nichts als Spinnerei. Man sollte, was man selber für richtig hält, auch selber vertreten und Karl Barth dabei aus dem Spiele lassen!«171 Die Nachfolgediskussionen um den Moderator gingen spätestens Mitte 1971 los – im Herbst 1971 war Niesel ein Vierteljahrhundert im Amt172 –, hatte Niesel doch bei seiner letzten Wahl erklärt, dass er 1974 nicht wieder kandidieren werde. Auch Generalsekretär Karl Halaski sollte 1973 in den Ruhestand treten. Das Moderamen setzte deshalb

168 169 170 171 172

So in der Nieselschen Ergänzung zu M. Pradervand, A Century of Service, a.a.O., S. 3. Brief Harders an Niesel, 31. Januar 1972, in: JaLB, NL WN I, 3. Hans-Joachim Kraus, Theologie und Sozialismus, in: RKZ 113 (1972), S. 96–100. Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 73, Anm. 45. Gerhard Nordholt, Ein seltenes Jubiläum. Wilhelm Niesel 25 Jahre Moderator, in: RKZ 112 (1971), S. 232f. Auch dort werden die drei Determinanten des Nieselschen Lebenslaufs genannt: »Kenner und Erforscher der Theologie Calvins …, zugleich Schüler Karl Barths, in der Zeit des Kirchenkampfes jahrelang an führender Stelle der Bekennenden Kirche tätig«, a.a.O., S. 232.

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einen Ausschuss ein, der die künftige Arbeit von Moderator, Generalsekretär, RKZ-Schriftleiter und andere Personalfragen klären sollte.173 Als mögliche Kandidaten wurden Lothar Coenen, Hans Helmut Eßer, Wilhelm Neuser und Johann Tibbe benannt.174 Eßer war gerade erst in den Reformierten Bund aufgenommen175 und nach der Hauptversammlung 1972 dann im Dezember ins Moderamen kooptiert worden. Im Sommer 1972 war das »Moderamen … der Meinung, dass für den Dienst des künftigen Moderators die Professoren Dr. Eßer und D. Kraus in erster Linie in Frage kommen.«176 Niesel gab seinen letzten regulären Moderamensbericht auf der Hauptversammlung 1972 in Hamburg.177 Das Thema »Gewalt und Gegengewalt« war global durch die Debatten um das Antirassismusprogramm des ÖRK und national durch den Terror der Baader-Meinhoff-Bande und den Olympia-Anschlag in München höchst aktuell.178 Hamburg war die vielleicht erste tatsächlich (und nicht nur theoretische!) politische (oder politisierte) Hauptversammlung des Reformierten Bundes, wo unrechtmäßige Inhaftierungen in Mozambique angeklagt wurden genauso wie das Abschieben von Arabern »nach den Münchner Ereignissen.« Die Hauptversammlung erklärte, »dass Menschen minderen Rechts unter uns leben, denen wir Hilfe gegenüber der administrativen Gewalt [sic!] schuldig sind … Die Gemeinden des Reformierten Bundes werden aufgefordert, sich als Anwälte dieser unterprivilegierten Menschen zu verstehen und für sie einzutreten.«179 Das war bereits die Tonlage des neuen Linksprotestantismus, der durchaus stille Sympathien für diejenigen hatte, die auch mit Waffengewalt die politischen Verhältnisse ändern wollten. Niesels Zeit ging zu Ende, aber er wollte offensichtlich erst mit 70 Jahren als Kirchenpolitiker abtreten – deshalb musste eine außerordentliche Hauptversammlung für 1973 einberufen werden. Am Ende des Jahres 1972 und Anfang 1973 finden sich einige Andachten von Wilhelm Niesel in der RKZ, was sonst selten vorkam; offensichtlich hatte er 173

Protokoll der Moderamenssitzung 17.–18. September 1971, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 100. 174 Protokoll der Moderamenssitzung 24.-25. März 1972, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 110. 175 A.a.O., S. 113. 176 Protokoll der Moderamenssitzung 22.–24. Juni 1972, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 115. 177 Wilhelm Niesel, Der Reformierte Bund 1970–1972, in: RKZ 113 (1972), S. 232–235. 178 Vgl. auch den späteren Aufsatz von Gerhard Jung, Gewalt, Terrorismus, Totalitarismus. Thesen zu einem aktuellen Thema, in: RKZ 113 (1972), S. 267–270. Vgl. Alexander Christian Widmann, Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren (AKiZ B 56), Göttingen 2013; die HV 1972 wird genannt a.a.O., S. 351, Anm. 203. 179 LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27]; vgl. RKZ 113 (1972), S. 252f.

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

sich diese Art des Abschiednehmens ausbedungen, nachdem sein Abgang seit Oktober 1972 feststand. Am 7. Januar 1973 beging Niesel seinen 70. Geburtstag. Die reformierten Kirchen dankten dem vielfältig Engagierten. In allen Bezügen »haben Sie Ihre Erfahrungen aus dem Kirchenkampf eingebracht und unter uns lebendig zu halten gewusst.«180 Aber nun begann der letzte Akt des langen Abschieds von der kirchenpolitischen Bühne: Die außerordentliche Hauptversammlung vom 29. bis 31. März 1973 in Siegen tagte unter dem Thema »Reformierte Gemeinden heute. Ihre Rolle, ihre Aufgaben und ihre Chance.« Niesel hielt nochmals Rückblick: Allein in der theologischen Erkenntnis, wie sie in BARMEN I formuliert sei, habe man als Reformierter Bund, als reformierte Gemeinden und Kirchen eine Existenzberechtigung.181 Offensichtlich wollte Niesel Eßer als seinen Nachfolger durchsetzen. Warum sonst hätte dieser das Hauptreferat auf der von ihm mitvorbereiteten Hauptversammlung 1972 gehalten,182 warum wäre er sonst derart kurzfristig ins Moderamen kooptiert worden und warum sonst wurde dieser in Siegen namentlich begrüßt: »Ebenso herzlich rufe ich Ihnen, lieber Bruder Eßer, ein herzliches Willkommen zu. Das Moderamen hat Herrn Prof. Dr. Eßer nach der Hauptversammlung [1972] den Dank für seinen dort gehaltenen Vortrag bekundet, indem es ihn danach gebeten hat, den Sitz des ausgeschiedenen Prof. Dr. [Enno] Obendiek im Moderamen einzunehmen.«183 Bei der Wahl entfielen auf Eßer dann auch 130 Stimmen, auf den aus der Hauptversammlung vorgeschlagenen Lothar Coenen 48 bei 12 Enthaltungen.184 Zeitzeugen berichten 180

Wilhelm Niesel, dem 70jährigen zum 7. Januar 1972 (muss heißen: 1973), unterschrieben von Gerhard Nordholt, Fritz Viering und Karl Halaski, in: RKZ 114 (1973), S. 2. – Vgl. auch Karl Halaski, Ein Geburtstagsempfang, a.a.O., S. 31f. – Endlich erhielt Niesel seine Festschrift: Kirche, Konfession, Ökumene. Festschrift für Professor D. Dr. Wilhelm Niesel, Moderator des Reformierten Bundes, zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Karl Halaski und Walter Herrenbrück, Neukirchen-Vluyn 1973. Bedeutende Beiträge sind dort allerdings nicht enthalten. 181 Wilhelm Niesel, Rückblick und Ausblick. Der Reformierte Bund 1946–1973, in: RKZ 114 (1973), S. 82-85. Auch Niesels Ehefrau hält Rückblick: Susanna Niesel, Die Entwicklung der Frauenarbeit im Reformierten Bund, wie sie sich mir im Rückblick auf die Jahre 1956–1972 darstellt, in: a.a.O., S. 231f. Dazu ein Dankschreiben: Ein Brief zu Frau Niesels Bericht, in: a.a.O., S. 232f. 182 Vgl. etwa Eßers Literaturliste in: RKZ 113 (1972), S. 189f. Hans Helmut Eßer, Gewalt und Gegengewalt unter der Königsherrschaft Jesu Christi, in: a.a.O., S. 245–249. 183 Niesel, Rückblick und Ausblick, a.a.O., S. 82. 184 LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 138. Lothar Coenen wechselte dann 1978 ins Kirchliche Außenamt, zunächst nach Frankfurt, dann 1986 ins Kirchenamt der EKD nach Hannover, wo er sich als Oberkirchenrat für Ökumene große Verdienste um den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung erwarb, vgl. Christoph Schmitt, Art. Coenen, Lothar, in: BBKL XXVI (2006), S. 241–243; Chr. Schmitt unterschlägt in diesem biographischen Artikel das Vierteljahrhundert, in dem Coenen in kirchenpolitischen Kontexten der Reformierten

5. Abschiede aus der reformierten Kirchenpolitik

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von einer hektischen Kandidatensuche, bei der es enttäuschende Absagen (wie etwa von Walter Kreck) gegeben habe. Auf Niesels Voten sei nicht mehr gehört worden, sie wirkten vielmehr kontraproduktiv: Niesels Vorschläge seien zumeist direkt abgelehnt worden. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es Wilhelm Niesel war, der in den zurückliegenden zwei Jahren Hans Helmut Eßer im Reformierten Bund aufgebaut hatte. So verhinderte Niesel den hochangesehenen Dr. Lothar Coenen, der theologisch dezidiert konservativ war (s. 50er Jahre) und den ebenfalls sehr angesehenen Prof. Hans-Joachim Kraus, der gerade damals politisch immer weiter nach links wanderte – erinnert sei nur an die etwas spätere Frage der DKP-Mitgliedschaft von Pfarrern und Theologen.185 In jedem Falle wurde die Veränderung im Moderamen einschließlich des Moderators als »Wachablösung« verstanden,186 auch wenn Niesel einen allgemein akzeptierten Kandidaten der »Mitte« durchzusetzen verstanden hatte. Wie schwer musste es für den Nachfolger werden, eigenes Profil zu entwickeln, wenn sein Vorgänger als »der personifizierte Reformierte Bund« (so Joachim Guhrt187) galt? Niesel musste eben in Eßer seinen geeignetsten Nachfolger sehen: ein rechtschaffener, solider Calvin-Forscher, der auch Ansehen in der EKD genoss, der Gewähr dafür zu bieten schien, dass theologische Experimente keine Heimstatt im Reformierten Bund würden finden können.188

doch dezidiert theologisch konservative Positionen verfochten hat. – Joachim Guhrt wurde auf der Hauptversammlung 1973 nahezu einstimmig zum Generalsekretär gewählt. Vgl. Joachim Guhrt, Geschichten und Geschichte. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Lebens im 20. Jahrhundert, Bad Bentheim 2000, S. 144. 185 Vgl. Hannelore Erhart, Johnny in der »Viererbande«, in: »Er ist unser Friede«. Festgabe zum 80. Geburtstag von Hans-Joachim Kraus am 17. Dezember 1998, herausgegeben im Auftrag des Moderamens des Reformierten Bundes von Peter Bukowski, Hermann Schaefer und Jörg Schmidt, Wuppertal 1998, S. 37–42. Vgl. auch Manfred Josuttis, Zwischen Fußball und Politik. Erinnerungen an die Göttinger Anfangsjahre, in: a.a.O., S. 75–79. – Stellungnahme zur Feststellung der Unvereinbarkeit von pfarramtlichem Dienst und Mitgliedschaft in der DKP bzw. anderen marxistisch-leninistischen Parteien, in: EvTh 37 (1977), S. 358–361; unterschrieben haben aus dem reformiert-barthianischen Flügel Hannelore Erhart, Hans-Joachim Kraus, Hans Theodor Goebel, Dietrich Neuhaus und Jörg Schmidt (a.a.O., S. 361). 186 Vgl. den Bericht von Karl Halaski, Wachablösung, in: RKZ 114 (1973), S. 106f.; Unsere außerordentliche Hauptversammlung in Siegen, in: a.a.O., S. 107–109; Beschlüsse in: a.a.O., S. 109f. 187 Guhrt, Geschichten und Geschichte, a.a.O., S. 146. 188 Zum Wechsel von Niesel und Eßer und zu den Amtszeiten seiner Nachfolger Eßer (1973–1982) und Kraus (1982–1990) vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70, hier: S. 56f.58–62.63–70 (wiederabgedruckt in diesem Band).

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Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe

6. Resümee Wilhelm Niesels Lebenslauf nach 1945 war »gradlinig«, er hatte – so ›Johnny‹ Kraus 1983 – »immer wieder konsequent den Kurs gehalten«, den Barth und BARMEN vorgegeben hatten.189 Niesel war »reformiert« – und reformiert war eben »Niesel«: in unerschütterlichem Schulterschluss mit Calvin, Barth und dem »Erbe« der Bekennenden Kirche, das sich der Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung der Kirche und der Überwindung des Konfessionalismus verpflichtet wusste. Man kann sich schwer entziehen, dieser Gradlinigkeit Respekt zu zollen: Für die Jahre nach 1945 haben wir uns der Aufbauleistungen und der beeindruckenden Karriere Niesels erinnert, für die 50er Jahre des Konfessionalismus und des politischen Engagements aufgrund des »Wächteramts«, für die 60er Jahre des Höhepunktes der kirchenpolitischen Karriere Niesels, aber auch des wachsenden Unverständnisses und schließlich für die beginnenden 70er Jahre des verspäteten Abschieds. Aber in einer so bewegten Zeit, wie sie die Lebensspanne Niesels umfasst, gilt die alte Weisheit: tempora mutantur et nos mutamur in illis. Das ist deskriptiv gemeint. Aber es gilt auch präskriptiv für Kirche und Theologie: Sie ändern sich durch die Zeiten und sie müssen sich ändern, um die Fähigkeit zur Gegenwartsanalyse nicht zu verlieren und um in ihrer Zeit mit ihrer ›Botschaft‹ verständlich zu bleiben. Aufgrund der lebensprägenden Erlebnisse – hier ist natürlich vor allem der Kirchenkampf190 gemeint, dem Niesel dann auch sein umfangreichstes, gleich nach der Emeritierung entstandenes Buch191 widmete – war Niesels Lebensweg auch nach 1945 gradlinig. Respektvoll kann man dies zur Kenntnis nehmen, kommt aber auch nicht umhin, hier ebenso Niesels Grenzen zu sehen. In die Zukunft weisend waren Niesels kirchenpolitische und theologische Positionen nicht mehr.192 Andere Zeiten mit erweiterten Kontexten und neuen 189 190

Kraus, Glückwunschadresse (s.u. Anm. 192), S. 39. »[J]ene schlimmen und für die Kirche doch auch guten Jahre«, wie Niesel sie bezeichnet, ders., Kämpfende Bruderschaft (Rez. zu Wilhelm Niemöller, Der Pfarrernotbund), in: RKZ 114 (1973), S. 242f. 191 Niesel, Kirche unter dem Wort, a.a.O.; vgl. die Rezension von Martin Fischer unter dem bezeichnenden Titel Authentischer Frontbericht, in: EvKomm 12 (1979), S. 732f. Niesel verstand das historische Erbe der BK wohl als dringlichste Aufgabe für seinen Ruhestand, vgl. z.B. seine Auseinandersetzung mit Hanns Liljes Memorabilia: Wilhelm Niesel, Von Barmen bis Stuttgart. Theologische Erklärung – und dann doch Schulderklärung: Der Weg der Bekennenden Kirche, in: RKZ 115 (1974), S. 138–140. 192 Niesel wird deshalb auch kaum genannt in: Michael Welker / David Willis (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben, Themen, Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998. – Die »Würdigungen« zu Niesels 75., 80., 85. Geburtstag und Nachrufe auf den am 13. März 1988 Verstorbenen lassen doch eine gewisse Skepsis an einer unzeitgemäßen Theologie und Kirchenpolitik erahnen. Hans Helmut Esser, Wilhelm Niesel 75 Jahre alt, in: RKZ 119 (1978), S. 47. – Joachim Guhrt, Ehrung für Wilhelm

6. Resümee

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Fragen verlangten neue Antworten, neue theologische Interpretationen und neue Personen. Als Niesel von 1968 bis 1973 seine Abschiede nahm, hatte er große Zeiten gehabt, aber er hatte sie auch wirklich gehabt. Bei den Reformierten in Deutschland fand eine Epoche ihr Ende. Nicht jedem langjährig Tätigen gelingt es, tatsächlich epochal zu wirken – Wilhelm Niesel war es vergönnt.

Niesel zum 80. Geburtstag, in: RKZ 124 (1983), S. 36–38; der Moderator gratuliert: Hans-Joachim Kraus, Glückwunschadresse. Wilhelm Niesel zum achtzigsten Geburtstag, in: a.a.O., S. 39f. Zum 80. Geburtstag erschien die deutsche Version der Vorlesungen 1978 in Japan, um die sich besonders Jürgen Fangmeier verdient gemacht hatte: Wilhelm Niesel, Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre, Konstanz 1983 (vgl. Wilhelm Niesel, Begegnungen mit den reformierten Kirchen in Japan, in: RKZ 119 [1978], S. 117f. Brief von Nobuo Watanabe u.d.T. Wilhelm Niesel japanisch, in: RKZ 122 [1981], S. 231. Die deutsche Version wurde ausführlich besprochen von Justus Cohen, Theologie um Gottes Ehre. Wilhelm Niesels theologisches Vermächtnis, in: RKZ 124 [1983], S. 238–240.) – Hans-Joachim Kraus, Wilhelm Niesel – 85 Jahre, in: RKZ 129 (1988), S. 6. – Todesanzeige des Moderamens für den am 13. März 1988 in Frankfurt verstorbenen Niesel, in: RKZ 129 (1988), S. 100; Karl Halaski, Wilhelm Niesel, in: a.a.O., S. 101. – Jürgen Fangmeier hielt während der akademischen Gedenkfeier am 26. Januar 1989 an der KiHo Wuppertal die Rede über Wilhelm Niesel – Lehrer, Forscher, Gubernator, Pastor, Zeuge, in: RKZ 130 (1989), S. 77–80. – Das Grab der Eheleute Niesel befindet sich in Schöller.

»Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland«1 Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel

1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformiertentums in globalen Kontexten Nur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1988 erhält Wilhelm Niesel zu seinem 85. Geburtstag einen offiziellen Geburtstagsgruß der deutschen Reformierten durch den damaligen Moderator des Reformierten Bundes Hans-Joachim Kraus: Niesel »hat uns bewusst gemacht, was ›reformiert‹ heißt: Das Wort, das Wort und nichts als das Wort!«2 Dieser Gruß spiegelt möglicherweise mehr das Selbstverständnis des Geehrten wider als die Wertschätzung, die ihm gewiss auch zukam. Natürlich haben sich die Reformierten auch unter Niesels Führung mit zahlreichen anderen Dingen beschäftigt als mit dem »Wort« allein. Auf jeden Fall lässt dieser Geburtstagsgruß aber ahnen, dass Niesel bereits zu Lebzeiten über Jahrzehnte hin als die Personifizierung des reformierten Protestantismus in Deutschland galt und in der Retrospektive als der einflussreichste Repräsentant dieser Konfession zu identifizieren ist. Durch sein ökumenisches Engagement auf globaler Ebene und seine bald führende Mitarbeit im Reformierten Weltbund (RWB), die von seiner Präsidenzeit 1964–1970 gekrönt wurde, wurde diese Einschätzung auch weltweit geteilt. Kaum jemand galt in der reformierten Weltfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als so reformiert wie Wilhelm Niesel. Bezeichnend schrieb etwa nach Niesels Ehrenpromotion 1954 der Dekan der theologischen Fakultät Aberdeen an Niesel, er sei in Schottland willkommen, »weil Sie die reformierten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren.«3 Und so wurde aus dem respektvoll in Deutschland genannten »Eisernen Wilhelm« der »Welt-Wilhelm«.4 1

So Karl Barth, in: Gespräch mit Tübinger »Stiftlern« (2. März 1964), in: Karl Barth, Gespräche 1964–1968, hg. von Eberhard Busch, Zürich 1997, S. 31–129, hier: S. 114: »Wilhelm Niesel … Ich weiß nicht, ob Ihnen der ein Begriff ist: er ist der Moderator des Reformierten Bundes, und er ist jetzt so der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland.« 2 RKZ 129 (1988), S. 6. 3 RKZ 95 (1954), S. 219f. 4 Karl Barth Mitte der 50er Jahre zu und über Niesel: »Sei und bleibe der ›Eiserne Wilhelm‹ als der du gross und unentbehrlich bist: so im neuen wie im alten Jahr! Ave Moderator!« Brief Barths an Niesel, 31. Dezember 1954, in: Karl Barth und Wilhelm

2. Biographischer Überblick

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Ohne Zweifel gehört Wilhelm Niesel also zu denen, die nicht unerheblich zur »Reformierten Identität im 20. Jahrhundert« beigetragen haben, und zwar auch unter globaler Perspektive. Niesel ist eine bemerkenswerte Figur innerhalb der neueren reformierten Kirchengeschichte, deren Weg zu kennen für die Beurteilung dieses zur Rede stehenden protestantischen Formats erhellend ist. Niesel erwarb sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten und die persönliche Nähe zu Karl Barth seine theologischen Sporen kurz vor dem und im »Dritten Reich« und sammelte kirchenpolitische Erfahrungen – freilich bis hin zu lang anhaltenden »Traumatisierungen« – während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Führend tätig und damit auch konfessionspolitisch prägend wurde Niesel trotz relativ jungen Alters gleich nach 1945, also in einer »durch einen eisernen Vorhang getrennten Welt«,5 die er – gerade wohl auch als geborener Berliner – schmerzhaft wahrnahm. Die totalitären Diktaturen und dann die in Ost und West zerrissene Welt boten ihm die Gewissheit, dass die Menschen »in der noch nicht erlösten Welt« (BARMEN V) leben und Christen eben in dieser Welt die Befreiung erfahren, indem Jesus Christus Zuspruch und Anspruch auf das ganze Leben ist (BARMEN II). 2. Biographischer Überblick6 2.1 Herkunft und theologische Ausbildung Niesel wurde am 7. Januar 1903 in Berlin geboren und katholisch getauft. Im Jahre 1918 wurde er durch Günther Dehn konfirmiert,7 der Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und HansGeorg Ulrichs, Göttingen 2015 (im Folgenden zitiert als Barth-Niesel-Briefwechsel), S. 249f., hier: S. 250. – Einige Jahre später bezeichnete Barth Niesel wohl wegen seiner zahlreichen Reisen rund um den Globus als »zum Welt-Wilhelm Emporgestiegenen«, Karte Barths an Niesel, 13. April 1961, in: a.a.O., S. 266f., hier: S. 267 5 Wilhelm Niesel, Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, in: ders., Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 40–45, hier: S. 44 (zuerst in: EvTh 14 [1954], S. 578–584). 6 Dieser Abschnitt ist eine gekürzte und bearbeitete Fassung des entsprechenden Kapitels in Hans-Georg Ulrichs, Wilhelm Niesel und Karl Barth. Zwei Beispiele aus ihrem Briefwechsel 1924–1968, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 177–196 (Wiederabdruck in diesem Band unter dem Titel »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Karl Barth 1924–1968). Vgl. den gelungenen biographischen Lexikonartikel von Peter Noss, Art. Niesel, Wilhelm, in: BBKL VI (1993), S. 765–774; vgl. auch Hartmut Ruddies, Art. Niesel, Wilhelm, in: RGG4 VI (2003), S. 309f.

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»Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland«

ihn in den jugendbewegten Neuwerk-Kreis und zum Studium der evangelischen Theologie brachte. Nach dem Abitur 1922 studierte Niesel zunächst zwei Semester in Berlin (u.a. bei Adolf von Harnack, der damals mit Barth über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stritt8), sodann ein Semester in Tübingen und schließlich von Oktober 1923 bis August 1925 in Göttingen bei Barth.9 Nach dem Ersten theologischen Examen vor dem Konsistorium der Mark Brandenburg lebte und arbeitete Niesel von Dezember 1926 bis zum Oktober 1928 zusammen mit Peter Barth in Madiswil (Schweiz) an der Herausgabe der Opera selecta Calvins. Karl Barth nannte dies das Madiswiler »Calvinlaboratorium«.10 Seitdem und dann als alleiniger Herausgeber nach Peter Barths Tod 194011 erarbeitete Niesel sich die Schriften Calvins und muss wohl zu Lebzeiten als einer der besten Calvin-Kenner im deutschsprachigen Raum gelten. Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster promovierte ihn 1930 mit einer Arbeit über Calvins Abendmahlslehre12 und einer Vorlesung über Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition.13 Doktorvater war Karl Barth.14 7

Vgl. Günther Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München 1962, S. 311. – Offenbar hatten sich die gemischt-konfessionellen Eltern unterdes entschieden, dass die Kinder evangelisch aufwachsen sollten. 8 Vgl. Ein Briefwechsel zwischen Karl Barth und Adolf von Harnack (1923), in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 51985 (ThB 17/1), S. 322–347. 9 Vgl. die ausführliche Arbeit von Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit (NthDuH 8), Neukirchen-Vluyn 1997, v.a. S. 1–86; die von Barth gehaltenen Lehrveranstaltungen während dieser Jahre, a.a.O., S. 53f. 10 Brief Barths an Niesel, 8. Mai 1928, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 62–64, hier: S. 63. 11 Vgl. den Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Peter Barth im Universitätsarchiv/Staatsarchiv Bern, Nachlass Peter Barth II, in JaLB NL WN I,3 und im Privatbesitz von Sebastian Barth-Koenigs (CH-Huttwil). 12 Calvins Lehre vom Abendmahl (FGLP Dritte Reihe: Bd. 3), München 1930, 21935. Niesel beschäftigte sich praktisch Zeit seines Lebens mit Fragen des Abendmahls und engagierte sich 25 Jahre später in den Abendmahlsgesprächen der EKU und der Arnoldshainer Konferenz. Vgl. Bertold Klappert, Das Abendmahl als Verheißungs- und Bekenntniszeichen. Calvins Abendmahlslehre und die Interpretation Wilhelm Niesels, in: Martin Breidert / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal (EBzrP 7), Wuppertal 2003, S. 111–152. 13 In: ZZ 8 (1930), S. 511–528. Zur Einordnung Schleiermachers in die reformierte Tradition vgl. Jan Rohls, Schleiermachers reformiertes Erbe, in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 53–77. 14 Karl Barths Promotionsrede in einem zeitgenössischen Umdruck in JaLB NL WN I,3, abgedruckt auch in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hg. von Hermann Schmidt (GA 11), Zürich 1994, S. 569–571.

2. Biographischer Überblick

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2.2 Kirchenkampf 15 Nach einem Jahr im reformierten Predigerseminar in Elberfeld, einem kurzen Vikariat in Wittenberge und dem Zweiten Examen wurde Niesel 1930 als Pastor und Studieninspektor des Elberfelder Predigerseminars gewählt und somit Mitarbeiter von D. Hermann Albert Hesse, der ab Januar 1934 für den entschiedenen kirchenpolitischen Kurs des Reformierten Bundes verantwortlich war.16 Daneben unterrichtete Niesel gelegentlich an der Theologischen Schule Elberfeld, die von Otto Weber (1902–1966)17 geleitet wurde. Hier begann Niesel mit Vorlesungen über Calvin, deren Resultat u.a. seine Theologie Calvins18 wurde. Niesel forschte Zeit seines Lebens über Calvin, auch wenn die späten Arbeiten kaum noch Neues boten. Niesel erlebte zwölf Jahre Kirchenkampf. Bereits im Frühjahr 1933 nahm er an der Rheydter Versammlung teil, erarbeitete die Düsseldorfer und Elberfelder Thesen mit, war Gründungsmitglied des Gemeindetages unter dem Wort und des Coetus reformierter Prediger Deutschlands und natürlich Hesses Berater.19 An der Barmer Synode nahm Niesel als »Beobachter« teil und gehörte zu dem Ausschuss, der der Barmer Theologischen Erklärung die letztgültige Form gab. Niesel konnte Barmen später »eine[.] Sternstunde der Kirche«20 nennen. Seit Mai 1934 war er Mitglied im Bruderrat der altpreußischen Bekennenden Kirche (BK). Zum Herbst 1934 wechselte er als reformierter Referent zum Präses der BK Karl Koch nach Bad Oeynhausen (mit Hans Asmussen als lutherischem Pendant21) und 1935 als »Geschäfts15

Vgl. auch Sigrid Lekebusch, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf. Eine biographische Skizze, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 15–34. 16 Vgl. Antje Donker, Art. Hesse, Hermann Albert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 156–158; Hans-Georg Ulrichs, Art. Hesse, Hermann Albert, in: RGG4 III (2000), S. 1705f. 17 Zu Webers Zeit als Dozent in Elberfeld vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902– 1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999, cap. 2, S. 52–97; ders., »Hier gibt sich […] kund ein Handeln der reformierten Kirche Deutschlands«. Ein kurzer Abriß der Geschichte der Theologischen Schule Elberfeld unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfangsjahre 1928–1932, in: Klueting/Rohls, Reformierte Retrospektiven, a.a.O., S. 277–289. 18 München 1938, 21957, 31958, Übersetzungen ins Japanische, Englische, Ungarische. Vgl. vor allem Matthias Freudenberg, Wilhelm Niesels Calvin-Interpretation, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 75–98. 19 Vgl. Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche, Köln 1994 (SVRKG 113). 20 Wilhelm Niesel, Worüber man sich wundern muß, in: RKZ 110 (1969), S. 138f., hier: S. 138. 21 Hans Asmussen und Wilhelm Niesel gehören in der historischen Betrachtungsweise Seite an Seite, auch wenn die Wege später auseinander liefen, vgl. in diesem Band den Aufsatz »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen«, a.a.O. Völlig zurecht diskutiert

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»Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland«

führer« des Bruderrates der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) nach Berlin. In Berlin war er maßgeblich an den Entwicklungen in der ApU beteiligt.22 Bleibenden Einfluss sicherte sich Niesel durch seine Vorarbeiten zur Zweiten freien reformierten Synode im März 1935 in Siegen, auf der der Anstoß zur Gründung Kirchlicher Hochschulen gegeben wurde.23 Seit dem Wintersemester 1935/1936 lehrte Niesel Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Dahlem, praktisch seit dem ersten Semester im Untergrund. Wie bereits im Rheinland leitete er in Berlin-Brandenburg das Ausbildungsamt der BK.24 Der Kirchenkampf war nicht allein eine theologische Auseinandersetzung in den Jahren 1933 und 1934, deren strittige Fragen dann mit Barmen haben geklärt werden können. Der reale und Existenz bedrohende Kampf des nationalsozialistischen Gewaltstaates gegen den christlichen Glauben führte zu wachsenden Repressionen: Zunächst die offene Propagierung des »Neuheidentums« seit 1935, sodann die Einsetzung der Kirchenausschüsse und Hanns Kerrls und schließlich die wachsende Verfolgung von Christen durch den totalitären Staat, die als immer bedrohlicher empfunden wurde. Deshalb wurde das erste Jahr der massiven Repressionen (1937) von Niesel als das schwerste aus der Sicht der BK bezeichnet. Niesel war und blieb steter Gegner von kirchenleitender »Realpolitik« und von konfessioneller »innerer Emigration«. Nach einem Ausreiseverbot aus Berlin 1938 und mehreren Prozessen und Haftzeiten Eckhard Lessing »Das Problem des Konfessionalismus in der Bekennenden Kirche« dann auch anhand der beiden Protagonisten Hans Asmussen und Wilhelm Niesel, vgl. Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zu Gegenwart, Band 2: 1918 bis 1945, Göttingen 2004, S. 477–485; ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte Lessing noch Gerhard Gloege neben Niesel gestellt: Eckhard Lessing, Zwischen Bekenntnis und Volkskirche. Der theologische Weg der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (1922–1953) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen (Unio und Confessio 17), Bielefeld 1992, S. 329–342. 22 In der dem EZA anvertrauten Kirchenkampf-Sammlung Niesels (EZA 619) befinden sich nahezu alle BK-Synodalerklärungen der DEK und der ApU in den verschiedenen Phasen ihrer Entstehung. Über den Kirchenkampf in der ApU hat Niesel ein quasiautobiographisches Buch vorgelegt: Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945, Göttingen 1978 (AGK E 11) – Charlotte von Kirschbaum konnte Niesel Anfang 1935 gerade auch darin einmal kritischer sehen, dass er zu den »Vielbeschäftigten[n]« gehört, die »über die Szene gehen, während« andere »redlich Arbeit leisten.« Brief Charlotte von Kischbaums an Karl Barth vom 16. Januar 1935, in: Karl Barth / Charlotte von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, hg. von Rolf-Joachim Erler, Zürich 2008, S. 428–435, hier: S. 430f. 23 Niesels Vortrag Kirchliche Hochschule für reformatorische Theologie ist auch abgedruckt in: Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 171–182. Zu Siegen vgl. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf, a.a.O., S. 222–244. 24 Seit 1935 wurde Niesel begleitet von seiner Frau Susanna, geb. Pfannschmidt. Vgl. zu ihr in diesem Band den Aufsatz »Die Synode erhob sich wie ein Mann.« Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode.

2. Biographischer Überblick

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wurde Niesel 1941 mit Redeverbot und Ausweisung aus Berlin belegt. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom »Eisernen Wilhelm«, der so selbstverständlich ins Gestapo-Gefängnis ging wie andere Menschen zu alltäglichen Verrichtungen. Von 1941 bis 1943 fand Niesel Zuflucht als Hilfsprediger in Breslau. Danach bot die lippische Landeskirche unter Landessuperintendent Wilhelm Neuser dem ständig Bedrohten Unterschlupf als Pastor der Gemeinde Reelkirchen. Auch während der Kriegsjahre war Niesel an Planung und Organisation der BK und ihrer Synoden beteiligt. Noch vor Kriegsende begann – mit englischer Genehmigung – Niesels Einsatz für den Wiederaufbau legitimer kirchlicher Strukturen, nur kurz in Lippe, sehr bald wieder – als Vertrauensmann des Bruderrates – auf ApU-Ebene, sodann in der EKD, aber schließlich in erster Linie in reformierten Kontexten. 2.3 Die Zeit des »Kalten Krieges« Niesel zählte während des Kirchenkampfes nicht zu den »jungen Brüdern«, sondern war vielmehr als BK-Vertrauensmann der Theologiestudenten und als Dozent für sie verantwortlich. An vorderster Stelle für die Reformierten innerhalb der BK standen Ältere: Hermann Albert Hesse, Karl Immer, Martin Albertz u.a. Während die einen zu jung, die anderen zu alt für neue Führungsaufgaben waren (oder verstorben), legte Niesel 1945 und danach seine Rolle als Referent und Mitarbeiter ab und avancierte in der Tat zum ersten Mann der deutschen Reformierten. Als reformierter Vertreter wurde er als einer der Sprecher des neu gebildeten Rates der EKD in Treysa berufen.25 Im Jahr 1946 wurde er zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt, im selben Jahr trat er die Pfarrstelle der reformierten Gemeinde in Schöller und die seit dem damit verbundene Dozentur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal an – Professuren in Mainz und Bonn schlug er in den Jahren 1946–1948 mehrfach aus.26 Wenn er auch anders als andere BK-Leute auf eine Hochschulkarriere verzichtete, so verabschiedete er sich dennoch nicht aus der Wissenschaft und der internationalen Calvin-Szene. Niesels wissenschaftliche Verdienste wären darzustellen an den zahllosen Aufsätzen v.a. zu Calvin27, der Calvin-Bibliographie28, seiner Symbolik29 u.v.m. – 25

Bestallungsurkunde vom 31. August 1945 in JaLB NL WN I,1a (gez. D. [Theophil] Wurm). Vgl. Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945, hg. von Gerhard Besier / Hartmut Ludwig / Jörg Thierfelder, bearb. von Michael Losch / Christoph Mehl / Hans-Georg Ulrichs (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 24), Weinheim 1995. 26 Erst seit 1951 führte Niesel den Titel eines Professors. Der Beschluss der Kirchenleitung der EKiR vom 20. Juli 1951 lautete, Niesel die Dienstbezeichnung »Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal« zu verleihen. 27 Einige sind gesammelt in Wilhelm Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O.; vgl. weiterhin die Bibliographien: ThLZ 88 (1963), S. 633f.; Karl Halaski / Walter

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diese Verdienste wurden durch fünf Ehrendoktorate anerkannt: Göttingen (1948), Aberdeen (1954), Genf (1958) und Straßburg (1964) und Debrecen. Mehrfach war er Gastprofessor im Ausland: in Schottland, Amerika und Japan. Niesel hat versucht, »das Erbe der BK«, »den Ertrag des Kirchenkampfes« nach 1945 umzusetzen bzw. in der kirchenleitenden Praxis anzuwenden.30 Möglicherweise hat die Erfahrung des Kirchenkampfes dann in einer neuen Staatsform weniger innovativ gewirkt als vielmehr verhindert, dass aufgrund neuer Situationen auch neue theologische Antworten gegeben werden konnten. Niesel sieht den modernen Menschen und damit auch den zeitgenössischen Christen »durch mächtige Propagandaapparate« bedrängt, sich »dem westlichen Denken oder der östlichen Ideologie zu verschreiben.«31 Als ob nicht zu unterscheiden gewesen wäre zwischen den liberalen Demokratien des Westens und den ideologischen Unrechtsstaaten des Ostens! Immer wieder spürt man bei Niesel eine gewisse Distanz zur staatlichen Macht, so dass ihm auch ein solennes Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat schwer zu fallen scheint. Bei allen möglichen Unterschieden, die Niesel freilich nicht benennt, sieht er »die Staaten« unterschiedslos als eine Größe: »Die Mächtigen der Erde, obwohl verschiedener Weltanschauung, scheinen sich in einem Punkte einig zu sein. Sie wetteifern miteinander an einer Art von Turmbau zu Babel, nur daß sie heute weniger bis in den Himmel vorzustoßen suchen, als vielmehr in die Geheimnisse der Schöpfung eindringen wollen und diese damit zu zerstören drohen.«32 Niesel orienHerrenbrück (Hg.), Kirche, Konfession, Ökumene. Festschrift für Professor D. Dr. Wilhelm Niesel, Moderator des Reformierten Bundes zum 70. Geburtstag, NeukirchenVluyn 1973, S. 157–164; Noss, Art. Niesel, a.a.O., S. 767–774. Niesels Sammlung eigener Aufsätze (in vier Bänden) befindet sich in JaLB NL WN. Ein vollständiges Schriftenverzeichnis Niesels liegt bisher nicht vor. 28 Calvin-Bibliographie 1901–1959, München 1961. 29 Das Evangelium und die Kirchen. Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirchen 1953, überarbeitet 21960. 30 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe. Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 – ein Beitrag zur Geschichte der Reformierten in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 35–74 (Wiederabdruck in diesem Band mit gekürztem Titel). 31 So im Vortrag Reformiertes Bekenntnis heute (1955), in: Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 31–39, hier: S. 32; s.u. Anm. 73. 32 So im Vortrag »Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute«, a.a.O., S. 43. Niesel bezieht sich damit auf die Gefahren eines Atomkrieges. Auch Karl Barths politische Stellungnahmen waren gelegentlich von fehlendem Differenzierungsvermögen oder politischer Voreingenommenheit geprägt. Der Ost-West-Konflikt war ja eine grundlegende Matrix für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, nicht erst seit 1945, sondern ab 1917. Darin spielten die Bezugnahmen auf das Christentum eine nicht unerhebliche Rolle. Martin Greschat pointiert: »Selbstverständlich existierten … im kapitalistischen Westen nicht die gleichen Verhältnisse wie im sozialistischen Osten.

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tierte sich theologisch, kirchenpolitisch und politisch an Karl Barth und an BARMEN.33 Die Thesen einer bereits für den Kirchenkampf festgestellten »Verkirchlichung des deutschen Protestantismus«34 und einer »Prolongierung des Kirchenkampfes«35 nach 1945 wären an Niesels Tun gut zu überprüfen. Die bereits genannten Arbeitsgebiete überschritt Niesel durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und im RWB. Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes die Welt bereiste. Diese Jahre waren freilich auch schon der Beginn einer Entfremdung zum zeitgenössischen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung 1964 wählte noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen Kirchenkämpfer zum RWB-Präsidenten, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der BK und die reformierte Tradition hinzuweisen. Doch in den sechziger Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im RWB immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen.36 Diese u.a. in einigen protestantischen Kreisen verbreitete Gleichsetzung, wobei man für eine betont enge Verbindung von Christentum und Sozialismus eintrat, relativierte permanent grundlegende Differenzen.« Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16), Leipzig 2005, S. 28. Zu Barths problematischen politischen Analysen nach 1945 vgl. George Harinck, »Höchst allergisch für alle Identifikationen«. Karl Barth als Zeitgenosse in der Epoche des Kalten Krieges, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung, Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2016, S. 31–54. 33 Wie bereits die von Niesel herausgegebenen BSKORK (1938) die Düsseldorfer Thesen von 1933 enthalten, so beginnt auch Niesels Symbolik mit der Barmer Theologischen Erklärung als Grundlegung. »Von mir ist jetzt eine Symbolik in den Druck gegangen, die von Barmen her geschrieben ist!« Brief Niesels an Barth, 21. Februar 1952, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 244. Vgl. auch das Schlusskapitel in Niesels Kirchenkampf-Buch, Kirche unter dem Wort, a.a.O., S. 312–316, hier: S. 312: »Die in Barmen 1934 neu ans Licht getretene Wahrheit ...« 34 Vgl. Joachim Mehlhausen, Kirchenkampf als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des deutschen Protestantismus nach 1933, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Tanner (Hg.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, S. 192–203.288–293. 35 Vgl. Kurt Meier, Neuere Konzeptionen der Kirchenkampfhistoriographie, in: ZKG 99 (1988), S. 63–86, hier: S. 65. 36 So lehnte der RWB-Generalsekretär Marcel Pradervand ein Vorwort Niesels zum Dokumentenband für Nairobi 1970 ab; das Typoskript dazu befindet sich in: JaLB 11.57.91.003 (20); nachdem Pradervand 1975 seine Geschichte des RWB geschrieben hatte, sah sich Niesel genötigt, die Jahre 1964–1970 der Darstellung durch eine Niederschrift zu ergänzen, in: JaLB 11.57.90.001.

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Als Niesel Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber alle Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag lassen doch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil anachronistisch geworden waren. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine KirchenkampfErinnerungen37 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten. Einigermaßen unzeitgemäß erscheint dann auch Niesels »theologisches Testament«, eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel »Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre«.38 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig »progressive« Positionen, aber dem Buch haftet ein repristinierender Ton an, indem immer wieder auf Schrift und Bekenntnis rekurriert wird. – Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 in Königsstein im Taunus gestorben und im reformierten Dörflein Schöller nahe Wuppertal beerdigt worden. 3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmuster Konfessionelle Selbstbestimmung diente bei Niesel vor allem der Frage nach dem, was denn Kirche sei. Dass Niesel später so vehement für die Abendmahlsübereinkünfte von Arnoldshain und Leuenberg und für die EKD als Kirchengemeinschaft – und nicht etwa nur als ein mehr oder minder loser Bund von Landeskirchen – eintrat, findet seinen Grund nicht zuletzt in den im Kirchenkampf erkämpften Positionen. Es ging gerade nicht um konfessionelle Quisquilien, sondern um die Existenz und das Sein der Kirche. Bereits in der ersten gewichtigen Äußerung der Reformierten im Frühjahr 1933 markieren die Düsseldorfer Thesen mit einem Zitat der Berner Thesen von 1528 die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzungen: »Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren, in demselben bleibt sie und hört nicht die Stimme eines Fremden.«39 Die bekenntniskirchlichen Reformierten verweigern sich ab dem Sommer 1933 einem konfessionell-strategischen Denken nach Machtanteilen innerhalb einer 37

Bereits 1949 gab Niesel heraus: Um Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union 1934–1943, Bielefeld 1949. – Offensichtlich sah Niesel die Arbeit einer Erinnerung an den Kirchenkampf als das wichtigste Unternehmen an, das er nach seiner Emeritierung realisieren sollte. 38 Erschienen auch erst mit jahrelanger Verspätung 1983. 39 Zit. nach Wilhelm Niesel, Der Weg der Bekennenden Kirche, hg. von der Ökumenischen Kommission für die Pastoration der Kriegsgefangenen (Genf), Zürich 1947, S. 9. Vgl. auch Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, S. 21–25.

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organisatorisch neu zu ordnenden Kirche. Sie wollen nicht Anpassung, sondern Reformation, gehen deshalb auch nicht nur auf die veränderten gesellschaftlich-politischen Verhältnisse ein, sondern greifen in ihren Argumentationen weiter in die Geschichte des Protestantismus zurück. In einem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Bekenntnissynode im Januar 1934 in Barmen40 stellt Niesel fest, dass es mit einem Bekenntnispostulat in der gegenwärtigen Lage nicht getan sei; andere Trennungen hätten sich aufgetan, reformatorisch-bibeltreue Kirche vs. Neuprotestantismus oder deutschchristliche Häresie. Deshalb gälte: »Die Namen lutherisch und reformiert sind heute [1934] zu Vokabeln geworden, die nichts sagen, wenn sie nicht erläutert werden.«41 In den Unionskirchen gab es bereits ein Miteinander von lutherisch, reformiert und uniert bekennenden Gemeinden. Und da sich über die Konfessionsgrenzen hinweg ein neues, unter Umständen sogar gemeinsames Bekennen abzuzeichnen begann, ging es um die »Kernfrage«: »Ist unsere Kirche, der wir angehören, Kirche, oder ist sie es nicht? Dürfen wir in ihr die Kirche Jesu Christi glauben oder nicht?«42 Besonders innerhalb der BK wurde um ein gemeinsames Bekennen gerungen, war es doch beispielsweise bis dahin noch nicht möglich, während der Barmer Bekenntnissynode gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Es entstanden etwa die beiden Schriften »Was heißt lutherisch?« von Hermann Sasse (München 1934, 21936) und »Was heißt reformiert?« von Wilhelm Niesel (München 1934), und weitergehend hat man sich innerhalb der Bekennenden Kirche auch um eine Klärung des Abendmahlsverständnisses bemüht, vor allem durch Helmut Gollwitzers große Studie43 und die ›Abendmahlssynode‹ in Halle 1937.44 In seiner Schrift »Was heißt reformiert?« traktiert Niesel dann auch kaum die konfessionelle Frage, sondern klärt zahlreiche grundsätzliche ekklesiologische Fragen und schreibt die oben markierten Positionen 40

Das Abschlussdokument dieser Freien reformierten Synode findet sich in Plasger/ Freudenberg, Reformierte Bekenntnisschriften, a.a.O., S. 230–238. Bereits im ersten Absatz wird der falsche Weg, der 1933 sichtbar geworden sei, begründet mit einem »die evangelische Kirche seit Jahrhunderten verwüstende[n] Irrtum«, nämlich »der Meinung, dass neben Gottes Offenbarung, Gottes Gnade und Gottes Ehre auch eine berechtigte Eigenmächtigkeit des Menschen über die Botschaft und Gestalt der Kirche … zu bestimmen habe.« A.a.O., S. 232. 41 Wilhelm Niesel, Der Weg der Kirche im Gehorsam des Glaubens, in: ders., Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 58–73, hier: S. 71. 42 Niesel, Weg der Kirche, a.a.O., S. 73. 43 Coena Domini. Die altlutherische Abendmahlslehre in ihrer Auseinandersetzung mit dem Calvinismus, dargestellt an der lutherischen Frühorthodoxie, München 1937 (Neuausgabe München 1988). Die Arbeit war eine von Karl Barth in Basel betreute Dissertation. – Vgl. auch Helmut Gollwitzer, Lutherisch, reformiert, evangelisch, in: EvTh 1 (1934), S. 307–325. 44 Gerhard Niemöller, Die Synode zu Halle 1937 (AGK 11), Göttingen 1963.

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»im heutigen Kampfe um die Kirche«45 fort. »Reformiert« im Sinne von »erneuert« bezieht sich stets auf die Kirche, nicht auf eine Konfession. Deshalb fragt Niesel nach der »Regel und Richtschnur für die Erneuerung der Kirche«: Reformiert bedeute genauer genommen »nach Gottes Wort reformiert«. Daraus folge die unbedingte Anerkenntnis des Wortes Gottes, »wie es uns in der Heiligen Schrift gesagt wird.«46 Dabei, so Niesel, »wird … deutlich, daß es sich beim Schriftwort letztlich um Christus handelt.«47 Auch das Alte Testament soll ganz christologisch gelesen werden, da es sich in beiden Testamenten um den einen Bundesgott handelt.48 In dieser Schrift wendet sich Niesel deshalb auch nicht gegen andere Konfessionen, argumentiert nicht konfessionell-polemisch,49 sondern attackiert mit scharfen Worten alle Theologie und Kirchenpolitik, die nicht steil allein bei der Offenbarung ansetzt. »Wer die Konfession als Gestalt versteht, die … entstanden ist und sich dann in der Geschichte ausbreitet, der weiß nicht, daß Konfessio immer das Bekenntnis der einen Kirche zu ihrem Herrn ist.«50 Konfessionell bedeutet bei Niesel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, bekennend zu sein, das heißt den Herrn der Kirche in dieser Welt bekennend, nicht jedoch ein kirchenpolitisches Agieren für die Stärkung der eigenen Konfession im Sinne von Denomination. Gewiss trifft die Charakterisierung Niesels von Eckhard Lessing zu: »Geist und Wirklichkeit des reformierten Bekenntnisses prägen ihn [sc. Niesel].«51 Aber ein Konfessionalist war Niesel keineswegs: »Obschon Niesel seine reformierte Herkunft nie verleugnet hat, stehen konfessionelle Rechtfertigungen nicht während des Kirchenkampfes im Vordergrund seines Interesses.«52 In Niesels Vorträgen und Schriften des Kirchenkampfes stößt man – abgesehen von den Zitaten und Anspielungen auf Johannes Calvin, den Heidelberger Katechismus (HK) und noch wenigen »reformierten Vä45

Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 5. Ähnliche Formulierungen a.a.O., passim. »Die Kirche steht ohne Unterlaß im Kampfe.« A.a.O., S. 60. 46 Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 8. 47 Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 11. 48 Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 16–21. Die Frage nach der christologischen Deutung des AT ist natürlich ein weites Feld; hier sei nur daran erinnert, dass gerade in diesen Jahren sich der BK-Theologe Wilhelm Vischer dieser Frage widmete. 49 Der Abschnitt über die Katholizität der Kirche (Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 33–37) ist freilich nicht ohne Polemik gegen die römisch-katholische Kirche. Weggenossen Niesels führten seine gewisse Gereiztheit der römischen Kirche gegenüber auf seine römisch-katholische Taufe zurück. Womit er nicht allein stand; auch Niemöller etwa polemisierte gegen die römische Kirche, v.a. im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen gegen die CDU-geführte Bundesregierung. 50 Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 29. 51 Lessing, Zwischen Bekenntnis und Volkskirche, a.a.O., S. 336; zur dargestellten Schrift Niesels vgl. a.a.O., S. 337f. 52 Lessing, Zwischen Bekenntnis und Volkskirche, a.a.O., S. 336.

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tern« wie etwa Paul Geyser – auf die Entscheidungen der Bekenntnissynoden. Besonders rekurriert Niesel aber auf Barths Werk, so etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – auf die dreifache Gestalt des Wortes Gottes aus KD I/1 (§ 4).53 Und ganz offenkundig schließt sich Niesel auch bei der Frage der konfessionellen Selbstbestimmung den Überlegungen Barths an, die dieser bereits ein Jahrzehnt zuvor als shooting-star am reformierten Theologenhimmel geäußert und mit denen dieser die etablierten Reformierten einigermaßen brüskiert haben dürfte. Gerade in dieser Zeit (1923/1925) studierte Niesel bei Barth in Göttingen, der damals auch über reformierte Bekenntnisschriften las. Zum einen ist dies Barths erster großer Auftritt vor den deutschen Reformierten während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. In diesem fulminanten Vortrag erklärt der junge Professor seinen vermutlich erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössische Antworten auf die Frage nach »reformierter Lehre« unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort »des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art«. Zu fordern sei aber gerade mit den »Vätern« die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.54 Auch Niesel kritisierte »ein romantisches Reformiertentum …, das sich in der Kultivierung mancher Formen gefällt«55 und betont: nach Gottes Wort reformiert.56 Barths wählt deshalb auch den Ansatzpunkt seines Frontalangriffs vom »die reformierte Lehre zunächst charakterisierenden Punkt« aus, nämlich dem »Schriftprinzip«.57 Dabei pocht Barth allerdings auf ein dynamisches Verständnis der Schrift-Offenbarung: Gewiss gilt das Wort Alten und Neuen Testaments, die ganze Schrift, aber doch »nie ohne das entscheidende Wort des Geistes, aus dem sie selbst stammt«.58 Und schon hier, zehn Jahre vor dem Kirchenkampf, zitiert Barth den

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Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 21f. Karl Barth, Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe (1923), in: ders. Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze, Zürich 1990, S. 202–247, hier: S. 212. Barth hat in frech-freimütiger Weise seinen Freunden von diesem Ereignis berichtet: Karl Barth, Rundbrief vom 24. September 1923, in: Karl Barth / Eduard Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930, Zürich 1974, S. 182–189. Vgl. auch Brief Barths an Thurneysen vom 25. September 1923, in: a.a.O., S. 189f.: »Mein Emdener Vortrag war die Stimme eines Predigers in der Wüste [vgl. Jes. 40,3]. Die führenden Männer des Reformierten Bundes sind gänzlich ungebrochene Leute, die sich durchaus nicht aus dem Konzept bringen ließen, sondern sich begnügten, mich über den grünen Klee zu loben und dann zu tun, als wäre nichts geschehen.« 55 Niesel, Was ist reformiert?, a.a.O., S. 43. 56 Bei Barth: »Durch Gottes Wort reformiert«; vgl. Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 227f. mit Anm. 62. 57 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 222f. 58 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 223.

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Beginn der Berner Thesen von 1528,59 der dann später in Texten der BK zitiert wird und auf den sich auch Niesel immer wieder bezieht. Barth sieht »[d]ie große Misere des modernen Protestantismus« dann in allen späteren Epochen der Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein,60 so wie auch Niesel das Verdikt über den Neuprotestantismus und alle Formen von Liberalismus aussprechen kann.61 Barth fordert quasi die Wiederentdeckung der Majestät Gottes und der daraus abzuleitenden Orientierung an dessen Gebote, die typisch reformiert »die Wendung von der Anschauung Gottes … zurück zum Leben, zum Menschen und seiner Lage« mit einschließt.62 Zum anderen: Durch Vermittlung Adolf Kellers – etwa zwei Dekaden zuvor Barths Vikarsmentor in Genf – erhält Barth den Auftrag vom Reformierten Weltbund, für den im Sommer 1925 bevorstehenden General Council in Cardiff über »Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses« nachzudenken.63 Zwei Jahre zuvor hatte Barth auf die Möglichkeit eines neuen Bekenntnisses verwiesen,64 um einer nicht an der Bibel kritisch zu messenden Erstarrung der Lehre zu wehren. Er nimmt diesen Gedanken auch jetzt nicht zurück,65 trägt aber nun ernste Bedenken gegen ein »allgemeines reformiertes Bekenntnis« vor: Einerseits sei ein – reformiertes – Bekenntnis nicht die Definition einer konfessionellen Eigenart, sondern Stimme der Una Sancta Ecclesia, andererseits könne es kein allgemeines Bekenntnis geben, da immer konkret lokal und aktuell bekannt werden müsse: »Wir, hier, jetzt – bekennen dies!«66 Diese Einsichten führten dann auch

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Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 224. Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 227. – Zwei Jahre später (s.u.) beklagt Barth das »unselige[.] pietistisch-rationalistische[.] Erbe der zwei letzten Jahrhunderte« und wird dafür scharf kritisiert (Barth, Wünschbarkeit [s.u. Fußnote 63], S. 637f. mit Anm. 108). 61 Allerdings urteilt Niesel wesentlich zurückhaltender als Barth: »Man kann in der Kirchengeschichte der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht eine fortlaufende, ununterbrochene Linie der Irrlehre konstruieren.« Wilhelm Niesel, Bekenntnis oder Berechnung, in: RKZ 83 (1933), S. 398–400, hier: S. 399. 62 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 238. 63 Unter dem genannten Titel abgedruckt in Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, a.a.O., S. 604–643. – Barth konnte nicht nach Cardiff reisen; der übersetzte Vortrag wurde gekürzt vorgelesen. Barth trug die deutsche Fassung dann am 3. Juni 1925 der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Duisburg-Meiderich vor – nach eigener Einschätzung vor 1000 Besuchern. Er berichtet davon in einem Rundbrief vom 7. Juni 1925, in: Barth/Thurneysen, Briefwechsel II 1921–1930, a.a.O., S. 327– 336, v.a. S. 331–334. 64 Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 214. 65 »Das reformierte Dogma, mit allem Ernst als solches verstanden, ist im Fluß.« Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 615. 66 Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 616. Der alten Reformierten »Bekenntnis geschah auf dem Boden der konkreten Wirklichkeit; es war Akt, Ereignis, Handlung, nicht nur

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zu der von Barth doch wohl positiv verstandenen »bunten unbekümmerten Krähwinkelei der reformierten Konfessionen«.67 Als dritten Einwand formuliert Barth die Frage, ob man wirklich um Gottes (!) willen jetzt zu bekennen habe, nicht jedoch aus kirchenpolitischen oder anderen Gründen.68 Deutlich dürfte durch die Hinweise auf diese beiden Vorträge Barths69 geworden sein, dass bei aller Hinwendung zur reformierten Tradition Niesel doch von Barth übernommen haben dürfte, dass es bei der konfessionellen Selbstbestimmung immer um die gesamte Kirche zu tun ist und dass diese Bestimmung und die Erneuerung der Kirche letztlich nicht anders als allein in Gottes Offenbarung, für die der Name Jesus Christus steht, zu begründen ist. Analog zum reformierten Verständnis der Bestimmung von »Kirche« und »Gemeinde« könnte hier formuliert als Erkenntnis Gottes in seiner Offenbarung, sondern auch und eben damit zugleich: als Demonstration wirklicher, menschlich-irdischer Gemeinschaft.« A.a.O., S. 630. 67 Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 623. – Immer wieder wird diese originelle Formulierung Barths in dem Sinne – und nicht immer fehlerfrei – zitiert, als ob Barth hier einen reformierten Provinzialismus oder eine konfessionelle Uneinheitlichkeit kritisieren wolle. Vielmehr sieht Barth hier aber bei den Reformierten »ein[en] geheimnisvolle[n] sachliche[n] Zwang« (ebd.) walten. 68 Barth, Wünschbarkeit, a.a.O., S. 634–642. – Ähnliche Skrupel mögen Barth auch 1933 bewogen haben, sich gegenüber zu raschen und zu vollmächtigen Bekenntnis-Ausrufen reserviert zu verhalten. Vgl. etwa dazu Michael Hüttenhoff, Theologische Opposition 1933. Karl Barth und die Jungreformatorische Bewegung, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, S. 424–444. 69 Vgl. Michael Weinrich, Karl Barth – ein reformierter Reformierter. Theologie für eine durch Gottes Wort zu reformierende Kirche, in: Marco Hofheinz / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 23–46; vgl. auch Matthias Freudenberg, Vielfalt und Einheit des Protestantismus. Karl Barths Stellung zur Konfessionalität, in: RKZ 138 (1997), S. 24–31 (auch in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie [Theologie: Forschung und Wissenschaft 36], Berlin 2012, S. 333–345). Auf die beiden dargestellten Barth-Vorträge geht auch näher ein Georg Plasger, »Du sollst Vater und Mutter ehren!« Karl Barth und die reformierte Tradition, in: Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935), a.a.O., S. 393–405 (vgl. zum Thema auch ders., Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000). Vgl. zur jeweiligen zeitgenössischen Wirkung der Vorträge August Lang, »Herr, weise mir deinen Weg«. Lebenserinnerungen eines reformierten Theologen, hg. von Jürgen Reuter (EBzrP 12), Wuppertal 2010, S. 164f. bzw. S. 171f. Zu Barths damaliger Haltung vgl. auch die mittlerweile publizierte Vorlesung: Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, hg. von der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung Eberhard Busch), Zürich 1998, besonders § 1: Die Bedeutung des Bekenntnisses in der reformierten Kirche; § 2: Das Schriftprinzip und seine Begründung. Vgl. auch ders., Das Schriftprinzip der reformierten Kirche, zuerst in: ZZ 3 (1925), jetzt in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, a.a.O., S. 500–544.

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werden: »Konfession« ist nicht etwa eine Teilmenge von »Kirche«, sondern sozusagen ihre notwendige Form. »Kirche« existiert nicht anders als in Form von »Konfession« und in jeder »Konfession« existiert die ganze »Kirche«.70 Nach Niesel sind »die Reformierten eine Konfession …, die keine Konfession sein [will]«, wie er wenige Jahre nach dem Kirchenkampf resümieren konnte.71 4. Orientierungspunkte: Glaubensgehorsam und Gemeinschaft mit Christus Auch und gerade nach dem Ende des Krieges steht die Arbeit des Theologen und Kirchenpolitikers Wilhelm Niesel unter der Überschrift »Reformiert? Jawohl, reformiert!«72 Anhand zweier mehrfach gehaltener Vorträge, die von Niesel selbst ausgewählt wurden, um in einem repräsentativen Sammelband wieder abgedruckt zu werden, als er mit der Wahl zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes den Zenit seines Wirkens erreicht hatte, und anhand eines Abschnitts aus seiner Konfessionskunde soll dargelegt werden, wie gradlinig Niesel frühere Positionen auch unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zum einen weiterhin vertreten konnte und wie er zum anderen sowohl ein reformiertes Charakteristikum profiliert als auch ein Theologumenon so betont, dass es geradezu als theologisches Erbe Niesels gelten kann. 4.1 Glaubensgehorsam 4.1.1 Der Grund des reformierten Aktivismus’ In seinem Vortrag Reformiertes Bekenntnis heute (1955)73 wiederholt Niesel bereits bekannte Positionen, expliziert diese jedoch in durchgehender Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung: »Reformiert« hieße genauer gefasst »nach Gottes Wort reformiert«, also gelte allein das »Wort Gottes« und keine Konfession. Richtschnur sei – gemäß der 1933 erinnerten ersten Berner These – die 1934 bekannte erste These der Bar70

Diese wichtige Schlussfolgerung hat zustimmend aufgenommen und zitiert Margit Ernst-Habib, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition (FSÖT 158), Göttingen 2017, S. 386f. 71 In: Zeichen der Zeit 5 (1951), S. 118. 72 So ein Titel in: RKZ 91 (1950), S. 147–150. 73 Gehalten vor der Comenius-Fakultät in Prag am 22. März 1955 und bei der Reformierten Konferenz im Siegerland am 9. Oktober 1955, abgedruckt in: Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 31–39; vorher in: Junge Kirche 17 (1956), S. 68–73 (u.d.T. The Confession of the Reformed Tradition Today, in: Theology and Life 2 [1959], S. 114–123).

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mer Theologischen Erklärung: »die Gegenwart Christi in seinem Wort.«74 An dieser Richtschnur müssen sich auch die daraufhin nachgeordneten Bekenntnisschriften relativieren lassen. Stärker als dies vorher in einem totalitären Staat realistisch gewesen wäre, betont Niesel nach 1945 die notwendige Kraft zur Weltgestaltung reformierten Glaubens. Die »aus den gottlosen Bindungen dieser Welt« Erlösten wüssten sich freigemacht »zu freiem, dankbarem Dienst an Gottes Geschöpfen« (BARMEN II).75 Niesel deutet das »frei« natürlich nicht auf eine gewisse Freiheit ethischen Urteilens, sondern als Freiheit zum Dienst auch für andere: Jesu Anspruch »heute zu bewähren«, kann eben nicht bedeuten, wie »man von lutherischer Seite schon wieder [!] ethische Entscheidungen dem Ermessen des Einzelnen zuschiebt [.] anstatt zum Gehorsam zu rufen.«76 Gottes Zuspruch und Gottes Anspruch würden ohne jegliches weltliche »Führerprinzip« in der Gemeindekirche gelebt, »in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt« (BARMEN III). Die »Botschaft von der freien Gnade Gottes« sei an alle Welt, »an alles Volk [auszurichten]« (BARMEN VI). Daher seien der Christ und die Kirche verpflichtet »zum Dienst in der Welt auf allen Gebieten des Lebens«.77 Auch wenn keine partei-politischen Optionen möglich seien, so doch politische Lobby-Arbeit, indem Staatsmänner und alle durch die Kirche »an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit« erinnert würden (BARMEN V). Niesel sah entsprechend zum in Anspruch nehmenden Gott den Glauben nicht zuletzt als »Gehorsam« gegen Gottes Wort.78 Dieser Dual von »Zuspruch und Anspruch« und »Glauben und Gehorsam« findet sich prononciert im Vortrag Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute (1954).79 Nach sehr ähnlichen Bezügen auf die Barmer Theologische Erklärung rekurriert Niesel hier mehr auf die Christuszentrierung und die »Dankbarkeit« des Heidelberger Katechismus: »Der viel besprochene Aktivismus der reformierten Kirchen hat nicht zuletzt darin seinen Grund, daß alle, die Christi eigen sind, ohne Bedenken und Zweifel ans Werk gehen und sich darin als Eigentum Christi und Kin74 75 76

Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 32. Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 34f. Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 35. In den 50er Jahren wurden in der Evangelischen Kirche in Deutschland die Fragen der Remilitarisierung, des Militärseelsorgevertrages und der atomaren Bewaffnung kontrovers diskutiert. 77 Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 38. 78 Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 38f. 79 Wilhelm Niesel, The Reformed Witness and the Word of God, in: Proceedings of the seventeenth General Council of the Alliance of the Reformed Churches holding the Presbyterian Order held at Princeton, N.J., U.S.A. 1954, ed. by Marcel Pradervand, Genf 1954, S. 127–132; deutsch u.d.T. Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, in: EvTh (14) 1954, S. 578–584 (Wiederabdruck in: Niesel, Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 40–45, danach auch die folgenden Belege).

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der Gottes erweisen können.«80 Niesel nennt die in Ost und West getrennte Welt und die Massenvernichtungswaffen. »[D]en »Mächten der Finsternis« möge man durch »festen Widerstand« nicht unterliegen.81 4.1.2 Prophetische Gesellschaftskritik als Überforderung? Hatte sich Niesel während des Kirchenkampfes an Barths Überlegungen gehalten, dass es sich bei der Bestimmung der je eigenen confessio um das richtige Bekenntnis der – einen – Kirche handelte und damit um das je aktuelle Bekennen, das sich alleine auf die Schrift zu beziehen habe, so schrieb Niesel diese Position auch nach 1945 fort und geriet damit nolens volens selbst in eine gewisse Kirchenkampf-Orthodoxie: Bei späteren Bestimmungen des Reformierten setzte er BARMEN als normativ voraus. Die von ihm mit einer gewissen Selbstverständlichkeit genannten »Väter« aus der reformierten Tradition wurden je länger je abständiger. Niesel meinte damit nicht die Pluralität der reformierten Tradition, sondern lediglich diejenigen Väter, die aus seiner Perspektive mit Johannes Calvin zusammen zu denken waren. So las Niesel sowohl den Heidelberger Katechismus als auch Karl Barth fast ganz von Calvin her82 – andere reformierte Stimmen fanden nahezu kein Gehör, höchstens einige Außenseiter oder solche, die gegen aufgeklärt-liberal-moderne Theologien ins Felde geführt werden konnten, etwa Hermann Friedrich Kohlbrügge oder Paul Geyser. Niesel hatte mit dieser schroffen Theologie gute Erfahrungen im »Dritten Reich« gemacht, schaute zurück auf die »Zeit, die das Führerprinzip proklamierte«, auf eine Zeit des Abwehrkampfes, »als Christus … sich an uns lebendig erwies.«83 Diese für Niesel geschichtlich verifizierte und erfahrene Offenbarungstheologie hatte sich als Grundlage für einen klaren Widerspruch gegen häretische Theologien bewährt. Dieser Widerspruch konnte, musste allerdings 80 81

Niesel, Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, a.a.O., S. 43. Niesel, Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, a.a.O., S. 45. Vgl. HK 127! 82 Karl Barth hat in einem späten Gespräch gemeint, Niesels Calvin-Bild sei von seiner KD bestimmt; das ist freilich bei der ersten Auflage nicht gut möglich, da 1938 nur die Bände I/1 und I/2 der KD vorlagen. Vgl. Jürgen Fangmeier, Wilhelm Niesels CalvinSicht und Karl Barths Calvin-Vorlesung. Seminarbericht, in: Hans Scholl (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen 1995, S. 125–132; das Barth-Diktum, a.a.O., S. 126 (Gespräch mit Wuppertaler Studenten [1. Juli 1966, unter der Leitung Jürgen Fangmeiers], in: Barth, Gespräche 1964–1968, a.a.O., S. 472–521, hier: S. 489f.). 83 Niesel, Reformiertes Bekenntnis heute, a.a.O., S. 36. Allerdings bemerkt Niesel auch Probleme in der Geschichte der BK, etwa die Flucht »in ein Ghetto«, um »dort selbstgenügsam einen frommen Kultus [zu] pflegen«, vgl. a.a.O., S. 38. Freilich war dies keine Gefahr Niesels und seiner Weggefährten innerhalb der BK, sondern die einzelner lutherischer BK-Vertreter, etwa auch Hans Asmussens. Insofern liegt hier keine Selbstkritik Niesels vor, sondern eine gegen andere gerichtete Polemik.

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nicht auch automatisch zu einem Widerspruch gegen das NS-Regime führen, wie in der historischen Analyse auch festgestellt werden muss. Aber es war doch mindestens ein Unbehagen gegen die Grundlagen des totalitären Weltanschauungsstaates zu spüren. So war für Niesel der »Kirchenkampf« geradezu die idealtypische Situation der wahren Kirche. Mit diesem Bekenntnisgestus gestaltete Niesel auch seine Kirchenpolitik während des »Kalten Krieges«, denn »das Zeugnis der Bekennenden Kirche [hat] sich in all den Jahren bis auf den heutigen Tag [sc. Mai 1964, also genau 30 Jahre nach Barmen] als befreiendes Wort bewährt«.84 »Zeugnis« ist eine religiöse Kategorie und spielt im Zusammenhang mit der BK sicherlich nicht unabsichtlich auf das griechische ›martyrein‹ an: das mit dem Leben und der Lebenshingabe bezeugte und bewahrheitete Bekennen zu Jesus Christus als dem Herrn. Dass Niesel als Erbe der reformierten Tradition und der BK nun die »Heiligung« zentral sieht oder dass er dies als »Glaubensgehorsam« bestimmt, ist nicht problematisch. Bereits sein Vortrag auf der Freien reformierten Synode in Barmen im Januar 1934 trug diese Konsequenz im Titel: Der Weg der Kirche im Gehorsam des Glaubens.85 Niesel steht damit theologisch und kirchenpolitisch in gut-reformierter Tradition. Auch Niesels theologischer Lehrer Barth hatte »Glaube und Gehorsam« in seinen Vorträgen und den ersten dogmatischen Entwürfen der 20er Jahre positiv als reformiertes Charakteristikum benannt.86 Ebenso hatte Niesels kirchenpolitischer Ziehvater Hermann Albert Hesse gar ganze Jahre unter das Motto Gehorsam des Glaubens stellen können.87 Problematisch scheint dagegen, dass erstens der Begriff »Gehorsam« durchaus anachronistisch klingt. Wie soll dieser Begriff mit seinen Konnotationen ein Leitbegriff der theologisch-ethischen Meinungsbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder im dritten Jahrtausend sein können? Sachlich problematischer scheint zweitens die missverständliche Deutung, als ob einfach alle zu entscheidenden Fragen des praktischen Lebens aus dem Glauben abzuleiten wären, quasi ohne Bruch, so dass in einem permanenten Prozess des Bekennens sich zwangsläufig die Frage des status confessionis ebenso ständig stellt.88 Konfessionskundlich werden die Reformierten durchaus positiv charaktisiert, was 84 Wilhelm Niesel, Nachwort, in: ders., Gemeinschaft mit Christus, a.a.O., S. 198. – Der komplette zweite Abschnitt des Buches steht unter dem Rubrum Die Gemeinde im Gehorsam des Glaubens. 85 Abgedruckt in: ders., Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 58–73. 86 Vgl. Barth, Reformierte Lehre, a.a.O., S. 239–243, bes. S. 240 mit Anm. 87. 87 In: Reformiertes Jahrbuch 1925/26, hg. vom Reformierten Bund, Elberfeld o.J., S. 33f. 88 Vgl. Frederic Spotts, Kirchen und Politik in Deutschland, Stuttgart 1976 (amerikanisch 1973), S. 108, der von einer »politische[n] Zwangsjacke« spricht, in die evangelische Christen in der Orientierung an Karl Barth und an westdeutsche Barthianer gesteckt worden seien.

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ihre Wahrnehmung des »Wächteramtes« anlangt, allerdings: »Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Argument erweist sich … als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander«.89 Ethisches Urteilen muss unabdingbar die zu beurteilende Situation zunächst wahrnehmen und interpretieren. »Da sich in ethischen Urteilen ein normatives Element mit empirischer Situationseinschätzung verbindet, sind sie nicht … linear aus theologischen Prämissen zu deduzieren.«90 Damit wird auch hinter Barths Rede von der »schnurgeraden« Herleitung ethisch-politischer Positionen ein Fragezeichen gesetzt, die er in seinen Schriften »Rechtfertigung und Recht« und »Christengemeinde und Bürgergemeinde« und anderenorts dargestellt und ausgeführt hatte. Bei aller »Orthodoxie« fällt bei Niesel allerdings auch ein überraschender dynamischer Zug auf, der dann eine der großen Innovationen der reformierten Theologie und darüber hinaus werden sollte. Der typisch reformierte Zug zu den Taten aus dem Glauben wird nicht etwa nur rechtfertigungstheologisch und daraus abgeleitet über den tertius usus legis erklärt, sondern eschatologisch: »[U]nser unvollkommener täglicher Dienst [ist] eingeordnet … in die neue Schöpfung, die der wiederkommende Herr heraufführen wird. Weil das geschehen wird, weil der wiederkommende Christus der gequälten Menschheit die Erlösung bringen wird, können wir heute nicht nur voller Zuversicht zur vergebenden Gnade Gottes unser Tagwerk tun, sondern auch voller Freude auf die Vollendung in Christus.«91 Wer denkt bei einer solchen theologischen Begründungsumkehrung nicht sofort an Jürgen Moltmann? Moltmann und Niesel haben interessante Berührungspunkte gehabt. So erinnert sich Moltmann über die gemeinsam mit Niesel an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal verlebte Zeit, dass er selbst zunächst vor allem theologiegeschichtliche Vorlesungen hielt – entsprechend der Themen seiner akademischen Qualifikationsarbeiten –, um sich nach einigen Jahren auch der aktuellen Debatte zuzuwenden: »1963/64 trug ich dann meine Theologie der Hoffnung in Wuppertal und zugleich in Bonn vor … Wilhelm Niesel ermahnte mich, er sei hier [sc. in Wuppertal] der Vertreter für die reformierte Theologie, ich solle mich auf die Theologiegeschichte beschränken.«92 Niesel war möglicherweise auch wegen des universitären Erfolgs des jungen Kollegen etwas indig89

Walter Schöpsdau, Reformiertes Profil in der Gesellschaft, in: ders., Angenommenes Leben. Beiträge zu Ethik, Philosophie und Ökumene, hg. von Martin Schuck (Bensheimer Hefte 104), Göttingen 2005, S. 80–98 (zuerst erschienen in: Pfälzisches Pfarrerblatt 93 [2003], S. 71–80), hier: S. 94. 90 Schöpsdau, Reformiertes Profil, a.a.O., S. 96 91 Niesel, Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der Welt von heute, a.a.O., S. 44. 92 Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, S. 81.

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niert. Interessanter ist jedoch, dass der ältere Kollege diese theologische Neukonzeption Moltmanns als reformiert identifizieren konnte. Ob Niesel mehr als andere gesehen hat, dass Moltmanns mutiger Entwurf auch auf dem Hintergrund von dessen theologiegeschichtlichen Studien zu sehen ist, in denen er sich nicht zuletzt der reformierten Föderaltheologie gewidmet hatte?93 Auch weiterhin begleitete Wilhelm Niesel den fast eine Generation jüngeren Jürgen Moltmann durchaus wohlwollend: »Niesel blieb mir gleichwohl wohlgesonnen, auch wenn ich ihm nicht astrein aus reformiertem Holz geschnitzt erschien.«94 4.2 Communio cum Christo95 4.2.1 Das »durchtönende« Gesamtthema Die Behauptung scheint kaum übertrieben zu sein, dass die »Gemeinschaft mit Jesus Christus« nicht nur alle Beiträge des Nieselschen Sammelbandes als »Gesamtthema« durchtöne,96 sondern als die theologische Grundorientierung des reformierten Theologen Niesel gelten kann. Durch seine zahlreichen Studien zur Theologiegeschichte der Reformierten gewappnet, verfasst Niesel ein Lehrbuch der Symbolik nach seinen Vorlesungen an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.97 Das erste 93

Moltmann ist dann Zeit seines Lebens ein »[V]erehrer der Föderaltheologie« geblieben, vgl. Moltmann, Weiter Raum, a.a.O., S. 293. – Im Rückblick müssten es die deutschen Reformierten bedauern, dass sie sich so wenig mit Moltmann identifizieren konnten, weil sie neben aller ökumenischen Gesinnung Moltmanns dessen tief sitzende reformierte »Seele« nicht wahrnahmen. Zu Moltmann als innovativem Repräsentanten des reformierten Protestantismus in globaler Perspektive vgl. Marco Hofheinz, Reformierte als reformierende Theologie. Der Beitrag des reformierten Theologen Jürgen Moltmann (*1926) zum jüdisch-christlichen und interreligiösen Dialog, in: ders. / Zeindler, Reformierte Theologie weltweit, a.a.O., S. 293–324. 94 Moltmann, Weiter Raum, a.a.O., S. 81. – Dankbar hat sich Moltmann seinerseits an Niesel erinnert: Der Eindruck, dass Niesel hart und bärbeißig gewesen sei, »ist … falsch: Wer immer seine Gastlichkeit im Pfarrhaus von Schöller genießen durfte, fand in seiner Frau und ihm selbst zart besaitete und empfindsame Menschen mit großem Einfühlungsvermögen und mit der Ausstrahlung gelassener Leidenschaft.« Niesel sei für ihn »eine der großen, charaktervollen Persönlichkeiten in der Evangelischen Kirche und der evangelischen Theologie. Er musste nicht konsensfähig sein, wie viele Theologen heute gerne sein möchten, um von allen geliebt zu werden. Er war dissensfähig und darum mit allen Ecken und Kanten ein Zeuge der Wahrheit, die befreit.« Mehr von dieser »souveränen Freiheit« sei auch gegenwärtig wünschenswert. Jürgen Moltmann, Erinnerungen an Wilhelm Niesel, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 13f., hier: S. 14. 95 Vgl. Eberhard Busch, Unsere Gemeinschaft mit Jesus Christus. Wilhelm Niesel als Dogmatiker und Ethiker, in: Breidert/Ulrichs, Wilhelm Niesel, a.a.O., S. 99–110. 96 Wilhelm Niesel, Nachwort, in: ders., Gemeinschaft mit Christus, a.a.O., S. 198. 97 Die erste Auflage von Das Evangelium und die Kirchen. Ein Lehrbuch der Symbolik erschien 1953, eine zweite 1960. – Vgl. die zeitgenössische Rezension von Jan Remmers Weerda (in: RKZ 94 [1953], S. 531–534), der in dieser Symbolik »eine eigentümliche Mischung von Polemik und Kritik« (a.a.O., S. 532) sieht.

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Kapitel über die Kirchen der Reformation stellt er unter die Überschrift »Gemeinschaft mit Christus« und nennt diese »[d]as grundlegende Bekenntnis der Reformierten«.98 Niesel sieht hier – wie auch an anderen Stellen – Calvin und den Heidelberger Katechismus ganz einig. Jesus Christus hat nicht allein durch sein Leiden und Sterben gewirkt, sondern wirkt auch gegenwärtig als der Herr dieser Welt. Er ist den Seinen nahe und gewährt seine Gemeinschaft. Damit können keine »frommen Dreistigkeiten«99 eines Gerhard Tersteegen und anderer Mystiker gemeint sein. Vielmehr müssten alle gegenwärtigen Gnadengaben als Christi Werk verstanden werden, wodurch die Glaubenden mit ihm Gemeinschaft haben. Nicht zuletzt für die Abendmahlslehre ist dies entscheidend. Christus selbst ist Gabe und Geber des Abendmahls; seine – wie auch immer genau zu fassende – reale Gegenwart konstituiert das Abendmahl als Sakrament. Die communio cum Christo blieb für Niesel ein ihn lebenslang begleitendes Theologumenon. Angesichts der von ihm diagnostizierten Stimmungslage gerade in der Ökumene am Ende seiner kirchenpolitischen Karriere führte er beinahe verzweifelt aus: »Die Gemeinschaft mit Christus ist Quell für alles, was heute [sc. 1970] die Gemüter so stark bewegt und begehren lässt: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Wandlung der Verhältnisse zu einem menschenwürdigen Dasein aller. Die Aktivität hierfür müsste wirklich radikal sein, von der guten Wurzel herkommen, dem neuen Menschen Jesus Christus und unserer Gemeinschaft mit ihm! Eine bloße Veränderung von Strukturen100 vermag unsere Welt nicht heil zu machen, weil dadurch die Menschen nicht von innen her anders werden.«101 Wären die Menschen aber durch die Gemeinschaft 98

Niesel, Das Evangelium und die Kirchen, a.a.O., S. 148–153. – Niesel steht natürlich nicht allein mit diesem theologischen Lehrstück. Mit Wilhelm Kolfhaus hat ein älterer Repräsentant reformierter Theologie, gleichwohl zeitgleich mit Niesel, die communio cum Christo als zentralen Bestandteil calvinisch-reformierter Theologie herausgearbeitet, vgl. Wilhelm Kolfhaus, Christusgemeinschaft bei Johannes Calvin (BGLRK III), Neukirchen 1939. 99 Wilhelm Niesel, Unsere Gemeinschaft mit Jesus Christus nach dem Heidelberger Katechismus (1963), in: ders., Gemeinschaft mit Jesus Christus, a.a.O., S. 13–22, hier: S. 16. 100 Diese Forderung wurde auf der ÖRK-Versammlung in Uppsala 1968 laut. 101 Wilhelm Niesel, Ansprache auf der 20. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes am 20. August 1970 in Nairobi, in: RKZ 111 (1970), S. 191–194, auch in: Nairobi. Vereinigende Generalversammlung des Reformierten Weltbundes und des Internationalen Kongregationalistischen Rats. Autorisierter Bericht, bearb. von Karl Halaski u.a. (epd dokumentation 4), Witten/Frankfurt/Berlin 1971, S. 36–41; engl. in: Nairobi 1970. Proceedings of the Uniting General Council of the World Alliance of Reformed Churches (Presbyterian and Congregational) held at Nairobi, Kenya, August 20–30, 1970, ed. by. Marcel Pradervand and Fred Kaan, Genf 1970, S. 51–56. Ein dazu von Wilhelm Niesel verfasstes Vorwort wurde nicht für die offiziöse Publikation berücksichtigt; es befindet sich als Typoskript im Buch-Exemplar JaLB 11.57.91.003 (20), vgl. bereits Anm. 36. – Vgl. zu Nairobi auch Karl Halaski, Bericht über Nairobi, in: RKZ

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mit Christus von innen her verändert, könne es keinen anderen Weg mehr als den des »Glaubensgehorsams« geben. 4.2.2 Wichtiger als ein theologisches Prinzip: die Person Jesu Christi Sowohl in seiner Symbolik als auch im Aufsatz zum Jubiläum des Heidelberger Katechismus im Jahr 1963 findet sich eine Kritik bzw. eine Relativierung der Rechtfertigungslehre durch Wilhelm Niesel. Dieses Lehrstück ist natürlich grundlegend wichtig, darf aber nicht als theologisches Prinzip verstanden werden. Anders als Luthers Kleiner Katechismus behandelt gerade auch der Heidelberger Katechismus »die Grundlehre der Reformation von der Rechtfertigung des Sünders aus lauter Gnaden«. »Aber er versteift sich nicht darauf. Das ist in der reformatorischen Theologie mitunter geschehen. Wo die Rechtfertigungslehre als das ein und alles der Christenheit proklamiert wurde, übersah man, daß sie nur Ausdruck der Christusbotschaft des Neuen Testaments ist. Christus ist unser ein und alles; und er ist reicher für uns als eine einzelne derartige Lehre es zu umschreiben vermag.«102 Wer die Rechtfertigungslehre als alleiniges theologisches Prinzip versteht, gelangt notwendig zu einem eingeschränkten Verständnis des Bekenntnisses, nämlich zur aus Niesels Perspektive abwegigen Ansicht, als ob Bekennen darin bestünde, theologische Richtigkeiten zu benennen – das war die Gefahr eines orthodoxen Luthertums spätestens seit 1580. Nach Niesel geht es aber im christlichen Glauben um eine lebendige Person: Jesus Christus.103 Das hat Konsequenzen für den Glaubens- und Lebensstil. Nicht allein theologische Positionen müssen Jesus Christus entsprechen, sondern das ganze Leben. Eine Rechtfertigung des Faktischen kann es dann nicht geben: das, was ist, muss nicht vernünftig sein. Niesel und seine Weggefährten hegten deshalb Skepsis gegenüber Schöpfungsordnungen, die durch die begrenzte und getrübte Erkenntnisfähigkeit des Menschen 111 (1970), S. 206f.; Manuel Gutiérrez Marin, Streiflichter aus Nairobi, in: a.a.O., S. 207–209; Karl Halaski, Erste Eindrücke in Afrika, in: a.a.O., S. 218–220. 102 Niesel, Unsere Gemeinschaft mit Jesus Christus nach dem Heidelberger Katechismus, a.a.O., S. 19; vgl. dazu auch den Abschnitt über »Rechtfertigung und Heiligung« in der Symbolik: Niesel, Das Evangelium und die Kirchen, a.a.O., S. 156–164. Eckhard Lessing identifiziert als ein theologisches Problem innerhalb der BK (und ihrer »Erben«), »dass Niesel die Rechtfertigungslehre nur bedingt als zentralen theologischen Topos betrachtet.« Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie, Band 2: 1918–1945, a.a.O., S. 483–485: Wilhelm Niesel, hier: S. 484. 103 Ganz in diesem Sinne beantwortete auch Karl Barth im Jahr 1963 die Frage: »Was haben Sie gegen den lutherischen Ansatz, die gesamte Dogmatik von einer Rechtfertigungslehre her aufzubauen?«, in: Gespräch mit rheinischen Jugendpfarrern (4. November 1963), in: Karl Barth, Gespräche 1963, hg. von Eberhard Busch, Zürich 2005, S. 235–333, hier: S. 257–264. Vgl. auch schon KD IV,1, S. 588: Wir bedürften »einer größeren Freiheit … als die, die uns erlaubt wäre, wenn wir uns … nur im Rahmen der reformatorischen Rechtfertigungslehre bewegen dürften.«

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ohnehin unklar bleiben. Aber auch ein quietistischer Lebensstil ist nicht möglich. Die Reformierten präferieren das Prophetische. Diese Kategorie der Gemeinschaft mit Christus findet eine aktuelle Erwähnung: »Christliche Ethik hat ihre Identität in Christusgemeinschaft und der Nachfolge Christi, um in ihr ›die bessere Gerechtigkeit‹ (Mt 5,20) sichtbar werden zu lassen, aber sie findet ihre Relevanz in den Problemen und Nöten ihrer Zeit.«104 Ein zweites Mal stoßen wir überraschend auf eine Berührung Niesels mit Jürgen Moltmann – überraschend deshalb, weil der ältere für ein konfessionell-konservatives Reformiertentum steht, der jüngere dagegen für ein innovatives Format dieser protestantischen Spielart. Auch Moltmann kann eine sich selbst genügsame Rechtfertigungslehre kritisieren, da »Rechtfertigung« allein auf den Täter blickt und auf dessen Zurechtbringung in einer jenseitigen Welt. Gemeinschaft mit Christus bedeutet aber weiter zurück und weiter nach vorn zu schauen, als alleine den Vorgang der Rechtfertigung eines Individuums zu fokussieren, nämlich Christus als den alleinigen Grund zu sehen und im Glaubensgehorsam bereits hier das Leben zu gestalten, mit Christus auf der Seite der Opfer zu stehen, weil Christus selbst Opfer wurde.105 Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass die Reformierten bei den Aufgeregtheiten im Zusammenhang mit der Rechtfertigungserklärung zwischen römischer Weltkirche und dem Lutherischen Weltbund kurz vor der Jahrtausendwende kaum zu vernehmen waren. Gewiss sind sie treue Anhänger paulinisch-augustinischer Theologie einschließlich der Rechtfertigungslehre, aber gerade deshalb sind sie mit dieser Theologie auch weiter fortgeschritten und verstehen die Rechtfertigung nicht absolut, sondern in einem vitalen Verhältnis zum Leben und also zur Heiligung und Weltgestaltung.106 104 105 106

Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, S. 252. Moltmann, Ethik der Hoffnung, a.a.O., S. 210. Es könnte für diesen Aufsatz noch die Kontrollfrage gestellt werden, ob die Frage nach dem, was denn »reformiert« sei, in den 50er Jahren in Deutschland anders als bei Niesel beantwortet wurde. Zwei Beiträge seien hier lediglich erwähnt: 1. Otto Weber, den Niesel nicht wirklich schätzte – wohl weil er Webers gravierende Verirrungen im »Dritten Reich« nicht gar so schnell ad acta legen konnte –, beantwortete die Frage Was heißt heute »reformiert«? (1955, abgedruckt in: ders., Die Treue Gottes in der Geschichte der Kirche. Gesammelte Aufsätze II [BGLRK XXIX], Neukirchen-Vluyn 1968, S. 147– 161) im ersten Teil theologisch ganz ähnlich wie Niesel, erwähnt dann aber noch den Charakter der reformierten Kirche als »Gemeindekirche« und den Impetus zum Dienst an der Welt. Den Aspekt der persönlichen Glaubensentscheidung scheint Weber doch eher aus einem anderen frömmigkeitlichen Traditionsstrang zu beziehen. Zur theologiegeschichtlichen Positionierung O. Webers vgl. Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Band 3: 1945–1965, Göttingen 2009, S. 137–143. 2. Im Jahr 1959 legt Jürgen Moltmann »wenige[.] aphoristische[.] Bemerkungen« zur Frage Was heißt »reformiert«? vor (abgedruckt in RKZ 100 [1959], S. 24–28). Vgl. dazu Hofheinz, Reformierte als reformierende Theologie, a.a.O., S. 302f.

5. Niesels Name und der Name, der über alle Namen ist

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5. Niesels Name und der Name, der über alle Namen ist Wilhelm Niesel gehört gegenwärtig nicht zu den bekannten Personen der jüngeren Theologie- und Kirchengeschichte Deutschlands. Weder ein bedeutsames noch ein einheitliches Werk hat er hinterlassen, so dass sein theologisches Œuvre nicht wirklich überragend ist, auch wenn eine umfangreiche Bibliographie vorliegt.107 Er hat keine »Schule« gebildet, es gibt keine Theologen von Rang, die sich unmittelbar als seine Schüler verstünden. In der Kirche wurde ihm zu Lebzeiten keine herzliche Sympathie entgegengebracht, eher Respekt und manchmal wohl auch Furcht, weil er derart unnachgiebig war: intransigent in der von ihm vertretenen Glaubenslehre, unnachgiebig im von ihm geforderten Glaubensgehorsam. Die Zeitläufte haben ihn aber an vordere kirchen- und konfessionspolitische Plätze getragen. Diese Einschätzung soll weder seine Begabungen noch seine Leistungen mindern, ihn aber doch historisch kontextualisieren und relativieren. Hier sollte an Wilhelm Niesel erinnert und seine Bedeutung für die reformierte Identität im 20. Jahrhundert auch in globalen Bezügen identifiziert werden. Bei ihm hatten Theologie und Kirchenpolitik – beides Funktionen der Kirche – einen Grund, eine Ausrichtung und ein Ziel. Der christliche Glaube als Glaube an Jesus Christus kann nicht anders als bei allem, was im Glauben getan wird, »Zeugnis« sein und »Zeugnis« geben (vgl. 1. Korinther 9,16). In der reformierten Tradition entdeckte Niesel dafür für sich gute Grundlagen, in der für ihn zeitgenössischen Theologie Karl Barths sah er das entscheidende Interpretationsformat und im Kirchenkampf machte er die prägenden Erfahrungen seines Lebens. Wenn es nach Wilhelm Niesels zu vermutendem eigenen Willen ginge, dann wird er für seinen Namen und für seine Person wohl nur ernsthaft eine Bedeutung erhofft haben, nämlich dass sein Leben Zeugnis sein dürfte für den einen Namen, der über alle Namen ist: Jesus Christus.

107

Niesel bezeichnete sich einmal gegenüber Barth, der immer wieder nach wenigen Jahren einen umfangreichen KD-Band vorlegen konnte, als »ein[en] Mann knapper Rede«; Brief Niesels an Barth, 5. Mai 1951, in: Barth-Niesel-Briefwechsel, a.a.O., S. 240f., hier: S. 241.

»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen« Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski

In den konfessionsgeschichtlichen Erzählungen werden überwiegend diejenigen Akteure in Erinnerung gerufen, die mit einer gewissen Vollmacht und Unerschrockenheit aufzutreten und sich zu exponieren verstanden. Dabei kann die Leistung derjenigen leicht unterschätzt werden, die zwar vorsichtiger, aber gleichwohl beharrlich gewirkt haben. Karl Halaski war ein musisch und literarisch hoch gebildeter Mensch, »ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«, wie ein Mentor ihn treffend beschrieb (s.u.). Von seinem Auftreten und wohl auch von seinem Selbstverständnis her entsprach er eher nicht dem Typ eines intransigenten Konfessionalisten, und doch wirkte er im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts für die deutschen Reformierten in außerordentlicher Weise: Als Schriftleiter der Reformierten Kirchenzeitung (RKZ) nahm er sensibel die Lebensäußerungen seiner Konfession wahr und prägte sie wiederum durch seine journalistische Arbeit als teilnehmender Beobachter der Zeitläufte und als Interpret der theologischen Tradition. Als erster Generalsekretär des Reformierten Bundes zeichnete er mit verantwortlich für die organisatorischen Hochzeiten dieses Vereins und trug mit seiner feinsinnigen Bildung stark zur Fortschreibung reformierter Liturgie bei. Die nach seinem Tod im Jahr 1996 angemahnten und angekündigten größeren Würdigungen seines Lebens und seiner Leistungen blieben indes aus. Dabei ist seine Biographie nicht nur repräsentativ für einen reformierten Theologen des vergangenen Jahrhunderts, sondern stellt auch ein wichtiges Mosaiksteinchen für die Geschichte der deutschen Reformierten im 20. Jahrhundert dar. Im Folgenden wird ein Lebenslauf skizziert und Halaskis Beitrag zu den genannten Arbeitsbereichen umrissen.

1. Karl Halaskis Lebenslauf (bis 1951)

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1. Karl Halaskis Lebenslauf (bis 1951)1 1.1 Herkunft und Jugend Karl Ludwig August Halaski wurde als erstes Kind der Eheleute Anton Halaski (1878–1961) und seiner Frau Käthe, geb. Korn (1882–1918) am 9. November 1908 in Graudenz (Provinz Westpreußen) geboren, das seinerzeit noch zum deutschen Reich gehörte und nach dem Erstem Weltkrieg im polnischen Korridor lag (heute: Grudziądz). Die konfessionell gemischte Stadt mit einer kleinen jüdischen Gemeinde stellte als mittelgroße Stadt ein regionales Zentrum dar. »Reiche Kinderjahre« verlebte er dort mit einem jüngeren Bruder und einer Schwester. »1919 starb mir meine Mutter, an der ich sehr gehangen habe.« Die Mutter erlag 36jährig einer durch Grippe verursachten Lungenentzündung. »Im selben Jahre«, also im Alter von 10 Jahren, »kam ich zum ersten Male in den Wandervogel.«2 Nachdem Graudenz auf Grund des Versailler Vertrages mit dem 10. Januar 1920 polnisch geworden war, ging der Vater mit den Kindern 1920 nach Lübeck. Der Vater heiratete ein zweites Mal; aus dieser Ehe entstammten zwei weitere Kinder. Karl Halaski besuchte das Lübecker Reform-Realgymnasium Johanneum (»nach Frankfurter System«). Am 5. April 1925 wurde er in der lutherischen St. Petri-Kirche konfirmiert. In Lübeck wurde er auch Mitglied des Schüler-Bibelkränzchens (BK).3 »Diese Lübecker B.K.ler-Zeit ist neben dem Wandervogel für mich besonders bestimmend gewesen.« Der BK gehörte nach Halaskis Ein1

Den biographischen Ausführungen liegt – vor allem für die Zeit bis zum Dienstantritt als Generalsekretär 1960 – die Personalakte der rheinischen Landeskirche zu Grunde: LKA Düsseldorf, Personalakte, Bestand 1 OB 009, H 323 (im Folgenden als PA zitiert). Vgl. auch Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 4), Bielefeld 1980, S. 177, Nr. 2246; Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer im Rheinland von der Reformation bis zur Gegenwart, Band 2: E–J (SVRKG 175), Bonn 2013, S. 281, Nr. 4650. Karl Halaski hat autobiographische Typoskripte über den Kirchenkampf und über bekannte Theologen im Familienbesitz hinterlassen, von denen Kopien in kirchlichen Archiven und bei Privatpersonen existieren. Sie werden im Folgenden, da ohne Paginierung, lediglich zitiert als: Halaski, Autobiographie Kirchenkampf bzw. Autobiographie Theologen. Vgl. auch Anm. 50. 2 Aus dem Lebenslauf zur Examens-Meldung, 3. März 1932, in: PA. 3 Vgl. Eberhard Warns u.a. (Hg.), Evangelische Schülerarbeit in 100 Jahren 1883– 1983, Wuppertal 1983. Die Geschichte der Schülerbibelarbeit muss auch im Zusammenhang mit der Arbeit der Studenten gesehen werden, vgl. den Klassiker Karl Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Die Geschichte der Deutschen Christlichen StudentenVereinigung (DCSV), Hamburg 1964, wo sich S. 24f. Bezüge zu den Schülerbibelkreisen finden. Auf S. 249 stellt Kupisch in Anm. 2 fest: »Eine historische Monographie der deutschen Schülerbibelkreise gibt es noch nicht. Sie ist bei der Verstreutheit des Materials auch schwer herzustellen gewesen und heute, nach den großen Verlusten durch den letzten Krieg, wahrscheinlich fast unmöglich«.

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

schätzung zur Jugendbewegung.4 »Ferienlager, grosse Fahrten, Freizeiten und nicht zuletzt unser Gemeinschaftsleben in seiner besonderen Form haben mich bestimmt.« In diesen Kontexten, die auch Begegnungen mit dem Religiösen Sozialismus ermöglichten und wo man das Image pflegte, eine antimodernistische Avantgarde zu sein, fiel dann auch die Entscheidung für das Theologiestudium.5 Als Primaner hatte er – und mit ihm wohl weitere aus diesem Kreis – Barths Römerbrief, wahrscheinlich in der Fassung von 1922, gelesen.6 Als Abiturient trat Halaski vom BK zum Neuwerk über, das vor Ort vom Lübecker Jugendpfarrer angeführt wurde.7 Einige Eindrücke erhielt Halaski, der ja Mitglied der Lübeckischen evangelisch-lutherischen Landeskirche war, auch durch die kleine reformierte Gemeinde Lübeck und deren Pastor Otto A. Bode, der von 1904 bis 1943 in Lübeck amtierte und später ein prominenter Vertreter der Bekennenden Kirche (BK) wurde.8 Trotz seines distanzierten und spröden Auftretens war es Bode gelungen, eine große Gottesdienstgemeinde anzusprechen; unter Gymnasiasten galt er als »Geheimtipp«.9 Ein pfarramtliches Zeugnis von Bode beschreibt Halaski als außerordentlich zuverlässig, musisch und sprachlich begabt, tief schürfend und nachfragend.10 Nach einer Jugend, geprägt von Gottesdiensten, kirchlichem Engagement, Chorarbeit, Laienspiel und Volkstanz bestand Halaski das Abitur zu Ostern 1928 mit der Note »gut«.11 4

Zu den Auseinandersetzungen über die inhaltliche Ausrichtung des BK, der Pflege der Tradition und der Nähe und Distanz zur Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg vgl. zeitgenössisch Leopold Cordier, Evangelische Jugendkunde, Band 2: Die evangelische Jugend und ihre Bünde. Eine geschichtliche Einführung, Schwerin 1926, S. 657–662. 5 Vgl. Karl Halaski, Wort – Bruderschaft – Gemeinde, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 67 (1978), S. 48–51, hier: S. 48. – Die Herausgeber hatten bei Freunden und Autoren der Zeitschrift die Frage gestellt »Was wird oder was bleibt mir wichtig in Kirche und Theologie?« Immerhin 22 Antworten wurden zugesandt und dann auch im Heft abgedruckt. Halaski erinnert sich hier also an über ein halbes Jahrhundert Zurückliegendes. 6 Vgl. Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Karl Barth. 7 Hier tritt eine erste Parallele zu Wilhelm Niesel auf, mit dem er ab 1950 so eng zusammenarbeiten sollte: Auch Niesel hatte durch Günther Dehn Kontakte zur Neuwerk-Bewegung. 8 Halaski erinnerte sich Jahrzehnte später, dass die Lübecker Gemeinde nach der Inflation von 1923 praktisch bankrott war und deshalb 1927 von der reformierten Landeskirche aufgenommen wurde, vgl. Karl Halaski, Die Gemeinschaft mit den reformierten Kirchen und Gemeinden in Deutschland, in: Elwin Lomberg u.a. (Bearb.), Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982, S. 451–455, hier: S. 451. 9 Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. 10 Pfarramtliches Zeugnis, Lübeck 14. März 1932, in: PA. 11 Das Zeugnis vom 6. März 1928 weist überwiegend »genügend« aus, nur Religion, Musikgeschichte und Singen wurden mit »sehr gut« gewertet.

1. Karl Halaskis Lebenslauf (bis 1951)

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1.2 Studium (1928–1932) Bereits zum Sommersemester 1928 nahm Halaski das Studium in Münster auf12 und setzte es ab 1929 in Marburg,13 ab 1930 wiederum in Münster14 und schließlich ab 1931 in Berlin fort. Stipendien vom Staat, von der Kirche und von einer Stiftung ermöglichten ihm die Finanzierung des Studiums. Münster15 hatte er als ersten Studienort gewählt, weil sich dort die »Studentische Freischar« befand, in der sich auch die Lübecker Neuwerk-Freunde trafen, die ihre Geselligkeit etwa mit Volkstanzabenden pflegten. Dass sich die Neuwerk-Freunde in Münster sammelten, wird kein Zufall gewesen sein, wirkte dort doch seit 1926 Wilhelm Stählin als Professor für Praktische Theologie – Stählin stand an der Spitze des »Bundes deutscher Jugendvereine«. Zu Stählin und dessen Familie unterhielten die »Akademischen Freischärler« offenbar auch private Kontakte.16 Für diese jungen Vertreter einer antimodernistischen Avantgarde war aber genauso Karl Barth interessant, der die zeitgenössische Theologie radikal in Frage stellte und sich in der Rolle des Antipoden zur »modernen Theologie« gefiel. Wilhelm Neuser beschrieb Halaskis Münsteraner Lehrer so: »Barth war ein schwieriger Kollege … Menschlich gesehen freundlich und humorvoll, theologisch aber aggressiv und kompromisslos«.17 Theologiehistorisch sind Stählin und Barth eher nicht nahe beieinander einzuzeichnen, für Zeitgenossen stellte sich das aber anders dar. Auch die Jugendbewegung war auf Barth aufmerksam geworden,18 auch die »Freischärler« wollten ihn hören. Halaski erinnert sich nicht nur an die sehr gut besuchten Vorlesungen, sondern ebenso daran, dass unter

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Am Ende des Sommersemesters 1928 legte er das Hebraicum in Münster ab. Vor dem dritten Semester bestand Halaski in Marburg am 24. April 1929 das Graecum. Die Wahl fiel aus finanziellen Gründen auf Münster, da Halaski sich das teurere Bonn, in das Barth unterdes gewechselt war, nicht leisten konnte. – Im Sommer 1930 hospitierte er im Religionsunterricht in Lübeck. 15 Zur Fakultät in Münster vgl. Wilhelm H. Neuser (Hg.), Die evangelisch-theologische Fakultät Münster 1914–1989 (Unio und Confessio 15), Bielefeld 1991. – Über die Zeit vor 1933: Manfred Jacobs, Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Münster 1914–1933, in: Neuser, Fakultät, a.a.O., S. 42–71. 16 Vgl. Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. Davon berichtet auch Wilhelm Stählin, Via Vitae. Lebenserinnerungen, Kassel 1968, S. 202 et passim. 17 Wilhelm H. Neuser, Karl Barth in Münster 1925–1930 (ThSt 130), Zürich 1985, S. 11. Auch Stählin, Via Vitae, a.a.O., S. 220f., berichtet vom schwierigen Kollegen Barth. 18 Vgl. etwa Else Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927, S. 302f.: »In den letzten Jahren ist … ein neues reformatorisches Christentum herangereift, in dessen Bejahung die evangelische Jugend der verschiedenen Kreise einander allmählich nahekommt. Es wird beeinflußt durch Dostojewski und Kierkegaard und durch die neue theologische Richtung Barths und Gogartens.«

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den Hörern »auch eine ganze Reihe von Frauen« waren.19 Laut des Studienbuches besuchte er im Sommersemester 1928 und im Wintersemester 1928/29 die Ethik-Vorlesung bei Karl Barth20 und bestand die mündliche Prüfung mit 1–2. Im Wintersemester 1928/29 hörte er zudem die Erklärung des Jakobusbriefes bei Barth.21 Auch wenn Wilhelm Niesel als erster Doktorand im Januar 1930 in Münster promoviert wurde, werden sich Niesel und Halaski hier noch nicht kennen gelernt haben, zumal der Altersunterschied immerhin fünf Jahre betrug, also praktisch eine ganze Studiendauer. Etwas pathetisch formulierte Niesel später für die frühen Barth-Hörer: »Keiner von den jungen Theologen, die in den zwanziger Jahren in den Hörsälen von Karl Barth und anderen Vertretern der neuen theologischen Bewegung saßen, ahnte, wie bald das, was dort alle aufhören ließ und packte, stärkste Gegenwartsbedeutung erhalten würde. Was in den Hörsälen und Seminaren eingeübt wurde, mußte bald im offenen Kampfe bewährt werden.«22 Weniger kämpferisch und nicht polemisch – offenbar doch beides eher Retrospektiven – erinnerte sich Halaski: »Barth las durchaus alter akademischer Tradition folgend aus seinem Konzept vor. Doch er tat das mit großem Elan, ab und an durch freie Extempora unterbrochen mit jener ›Schweizer Stimme‹, die selbst den mit anderen abrechnenden Schärfen etwas Freundlichkeit verlieh … Den Fluß der Vorlesung konnte Barth unterbrechen, um zu aktuellen oder persönlichen Dingen eine Anmerkung zu machen.«23 Gerne erinnerte sich Halaski auch an die »Offenen Abende«, die Barth in seinem Haus an der Himmelreichstraße anbot. »Bei Barth war das Haus dann immer gerammelt voll … Frau Barth war eine charmante Gastgeberin … Es wurde viel gelacht und vor allem am Semester-Schluss-Abend wurde viel Allotria getrieben«, nicht zuletzt witzelte man über kirchliche Führungsgestalten wie Otto Dibelius24, oder man hörte Mozart-Schallplatten. Auch wenn Halaski durchaus in den Bann Barths gezogen war, besaß er dennoch die innere Freiheit, auch andere Theologen zu hören und wertzuschätzen,25 in Marburg, wo er schnell als »Barthianer« galt, etwa 19 20

Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Karl Barth. Karl Barth, Ethik I, Vorlesung Münster 1928 und Bonn 1930, hg. von Dietrich Braun (GA 2), Zürich 1973; ders., Ethik II, Vorlesung Münster 1928/29 und Bonn 1930/31, hg. von Dietrich Braun (GA 10), Zürich 1978. 21 Karl Barth, Erklärungen des Epheser- und des Jakobusbriefes 1919–1929, hg. von Jörg-Michael Bohnet (GA 46), Zürich 2009. 22 Vgl. Wilhelm Niesel, Das Evangelium und die Kirchen. Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirchen 1953, S. 4. 23 Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Karl Barth. 24 Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Karl Barth. Vgl. auch dass., Abschnitt über Otto Dibelius. 25 »Wert und Bedeutung anderer Professoren [dürften nicht] geschmälert werden«; Halaski, Wort – Bruderschaft – Gemeinde, a.a.O., S. 48.

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Rudolf Bultmann, den er als eher distanziert beschreibt.26 Nach einem Barth-Vortrag im Wintersemester 1929/30 hatte Bultmann den Bonner Kollegen und Interessierte zu sich nach Hause eingeladen, u.a. auch Halaski, der sich »[z]wischen den beiden pfeiferauchenden Koryphäen sitzend« wiederfand.27 Spätestens seit diesem Abend wusste Barth etwas mit dem Namen Halaski anzufangen. Vor allem aber war Halaski in den Marburger Monaten Hans von Soden verbunden, der ihn »öfters nach der Verlesung fragte, ob ich ihn auf seinem Nachhauseweg begleiten könne. Ich wurde dann immer nach meiner Meinung zu dem eben Gehörten gefragt, habe in diesen Gesprächen unendlich viel gelernt und bin von Soden dafür unendlich dankbar.«28 Rückblickend stellte Halaski fest: »Den grossen Antrieb zum Studium verdanke ich Herrn Prof. D. Karl Barth, bei dem ich die Richtung für mein Studium empfing. Daneben wohl am meisten zu danken habe ich Herrn Prof. D. Freiherrn von Soden und Herrn Prof. D. Stählin. Philosophie studierte ich besonders bei den Herren Prof. Dr. Scholz in Münster und Dr. G[erhard] Krüger in Marburg.« Allerdings seien im Lebenslauf zur Examensmeldung nur äußere Daten mitzuteilen gewesen. »Was an Zweifel, Misserfolg und Anfechtung mir meinen Weg erst bereitete, das kann und darf ich nicht sagen.«29 Zur Finanzierung seiner Examensvorbereitung, die er teils auch bei seinen Eltern in Lübeck verbrachte, wirkte Halaski bis Ostern 1932 als Hauslehrer in Charlottenhof (Kreis Landsberg/Warthe) und übernahm – vermittelt durch Wilhelm Stählin – Predigtvertretungen für den dortigen Pfarrer Stockmann sowie »Kulturarbeit im Stahlhelm«. In dieser Zeit erschien auch ein »Weihnachtsspiel« aus seiner Feder im ChristianKaiser-Verlag.30 Das Erste theologische Examen im Oktober 1932 zeigte ihn als einen durchaus eigenwilligen Theologen, der vor den älteren Herren des Konsistoriums nicht nur zu gefallen wusste.31 Das als eben so »bestanden« bewertete Examen dürfte Halaski wohl enttäuscht haben. 26 27 28 29 30

Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Rudolf Bultmann. Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Karl Barth. Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Rudolf Bultmann. Brief Halaskis an das Konsistorium Münster, 10. März 1932, in: PA. Karl Halaski, Volkstümliche Feste und Feiern, Volkssingen und Kirchensingen (Heft 4), München 1932. – In den jugendbewegten Gruppen waren »Spielscharen«, die das »Laienspiel« pflegten und gerne auch »Mysterien« aufführten, weit verbreitet. Dass die begabteren Mitglieder dann auch selbst zur Feder griffen, verwundert nicht. 31 Die schriftlichen Arbeiten, innerhalb von drei Monaten zu bearbeiten, waren »Die Stellung des Neuen Testaments zum Volkstum« (Bewertung »gut«: »Eine originelle, aber nicht selten auch eigenwillige Auseinandersetzung mit der Themafrage.«), eine Predigt über Matthäus 12,46–50 (»ergeht sich in Wiederholungen«, »überspitzt in dem Gedanken: Jesus reißt die alten Ordnungen ein.« – als lediglich »bestanden« bewertet) und eine Katechese über Matthäus 5,4 (»im ganzen gut«). Vom 5.–7. Oktober 1932 fanden die

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1.3 Vikariat und beginnender Kirchenkampf Bereits vor dem Examen hatte Halaski wegen der vier Semester in Münster seinen Übertritt in die westfälische Kirche vollzogen, zumal »die meisten meiner theologischen Freunde entweder bereits im Dienste der Westphälischen Kirche [stehen] oder sich doch später ihr zur Verfügung stellen« werden.32 Sein Lehrvikariat leistete er in Dortmund (1. November 1932 – 31. Juli 1933), in Hamm (1. Mai – 15. Juni 1934) und in Bochum (1. September – 31. Dezember 1934) ab und besuchte das Predigerseminar in Düsseldorf (8. Mai 1933 – 30. April 1934). Die auffällig kurze Zeit in Hamm schuldet sich einem kirchenpolitischen Konflikt (s.u.). In Dortmund wurde Halaski einem Sammelvikariat zugeordnet. Hier erlebte er auch den Beginn des »Dritten Reiches«. Die Vikare waren in einem Haus der Inneren Mission untergebracht, »hatten gemeinsam Unterricht bei Pastoren der Stadt, machten einige Praxisversuche im Haus der Inneren Mission und beim zentralen Gemeindeamt, um die Verwaltung der Gemeinden kennen zu lernen und waren jeder einem Pfarrer als dessen Vikar zugeteilt.«33 Schon in seinen ersten pastoralen Versuchen zeigte sich Halaski als bemerkenswert weltoffen. In einem Vikariatsbericht vom April 1933 wird ihm bescheinigt, dass »seine besondere Begabung im Umgang mit Menschen, die religiös kritisch veranlagt sind«, lägen. Allerdings bestünde die Gefahr, dass er auf Grund seiner Begabungen zu kritisch aufträte und zu wenig das Positive der kirchlichen Tradition sähe. Halaski kümmerte sich intensiv um Arbeitslose. Diesem Milieu war er zugetan, da er »seit Schülertagen vom Religiösen Sozialismus sehr stark beeinflußt worden war.«34 Auch der Studiendirektor des reformierten Predigerseminar in Elberfeld, Hermann Albert Hesse, hatte wohl auf Grund der konfessionellen Zuordnung von Halaski einen Bericht zu verfassen: »Halaski ist ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen, gewandt in seinem Auftreten und allseitig weltoffen.« »Man merkt, wie er in der Gegenwartswelt, aber auch in der Gegenwartsliteratur lebt.« Hesse tadelte jedoch, dass Halaski seine Predigten durch diese »Zeitaufgeschlossenheit« zu sehr bestimmen ließe.35 Es Prüfungen in Münster statt, zwei Klausuren und acht mündliche Prüfungen, wobei AT nur als »nicht richtig bestanden« galt. Als Gesamturteil wurde am 7. Oktober 1932 in Münster »bestanden« festgelegt. 32 Brief Halaskis an das Konsistorium Münster, 10. März 1932, in: PA. 33 Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. 34 Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. 35 Der erstgenannte Bericht vom 4. April 1933 und der Bericht Hesses über den Kandidaten Karl Halaski vom 3. Mai 1934, also aus der Hochzeit des Kirchenkampfes wenige Wochen vor der Barmer Synode (und am Ende der Zeit im Predigerseminar), befinden sich in der PA. – Halaskis Predigten 1929–1978 werden im landeskirchlichen Archiv Düsseldorf aufbewahrt (7 NL 110: Sammlung Karl Halaski).

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scheint, dass Vertreter der Bekennenden Kirche zwar aktuell, aber nicht kontextuell sein wollten. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen resümierte Halaski an zahlreichen Stellen, dass die Einstellungen der Pfarrer und anderer Gemeindeglieder sowie Gruppenzuordnungen noch lange, mindestens bis ins Jahr 1935, im Fluss und uneindeutig gewesen wären. Auch die Vikare waren überwiegend politisch konservativ, ja rechts, aber nicht nationalsozialistisch. In der entstehenden Bekennenden Kirche agierten manche junge Kollegen als Boten und Informanten. Die altpreußischen Kirchenprovinzen unterhielten zwar je ihre eigenen Predigerseminare, man war jedoch darauf bedacht, dass auch Kandidaten anderer Provinzen aufgenommen wurden. Halaski war froh, »im Frühjahr 1933 in das damals wohl modernste der altpreußischen Predigerseminare nach Düsseldorf« aufgenommen worden zu sein.36 Besonders eindrücklich blieb ihm eine Studienreise in die nahen Niederlande, wo er nicht nur einen konservativen Calvinismus in den Gastfamilien und an der Vrije Universiteit Amsterdam kennen lernte, sondern auch viele Sympathiebekundungen für Hitler hörte. Zwei herausragende Begegnungen krönten diese Studienreise: Zum einen trafen die Kandidaten den niederländischen Ministerpräsidenten Hendrik Colijn (1869–1944, Ministerpräsident 1925/1926 und 1933–1939) von der Antirevolutionären Partei Abraham Kuypers, und zum anderen begegneten sie am Ende ihrer Reise dann auch noch dem exilierten Kaiser Wilhelm II. in Doorn. Der Ex-Monarch hatte geruht, die jungen Männer an seiner Morgenandacht teilnehmen zu lassen. Sein kümmerlicher Auftritt ließ diese indes eher erschrecken. Im Anschluss wandte er sich mit einer »Anrede an uns«, was Halaski als ein »noch bedrückenderes Erlebnis« in Erinnerung blieb: Wilhelm II. sah sich weiterhin als preußischer König, da er formal nur als Kaiser abgedankt hatte, und präsentierte sich den jungen Theologen als deren »Bischof«.37 Aus dem Predigerseminar entlassen wechselte Halaski Anfang Mai 1934 nach Hamm, wo er jedoch sofort mit deutsch-christlichen Kollegen und Vorgesetzten in Konflikt geriet. Durch eine »Kindergottesdiensthelferin« war er dort für die BK geworben worden und gehörte ihr seitdem an.38 Noch Ende des Monats fuhr Halaski mit weiteren Mitgliedern der BK aus Hamm zur Barmer Bekenntnissynode, wo man in den Kirchen und Versammlungsstätten keinen Platz mehr fand, sondern einen Gottesdienst durch Außenübertragung auf der Straße mitfeierte.39 36 37 38 39

Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. – Wilhelm Niesel war Mitarbeiter H.A. Hesses in Barmen. Hier gab es also einen weiteren biographischen Berührungspunkt zwischen Niesel und Halaski, allerdings werden sie sich wohl kaum getroffen haben.

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

Dieser Tag hinterließ einen tiefen Eindruck bei Karl Halaski. »Barmen« blieb ihm eine lebenslange Orientierung. Die Predigt eines deutschchristlichen Pfarrers, der sich auf einer Propagandatour auch in Hamm aufhielt, erzürnte Halaski so sehr, dass er unmittelbar nach dem Gottesdienst in die Sakristei stürmte und dort Rechenschaft über die Predigt forderte. Diese verbale Auseinandersetzung führte bereits am nächsten Tag zur Absetzung Halaskis, die seinem Dienstherrn am Telephon mitgeteilt wurde. Beratungen mit Vertretern der BK ermutigten Halaski, ein Gespräch mit dem deutschchristlichen Bischof Bruno Adler in Münster zu suchen. Bei dieser Gelegenheit verwies Halaski auf die »kirchenpolitische Lage« als Hintergrund seiner Disziplinierung, während das Konsistorium hier lediglich eine »Verwaltungsmaßnahme« erkennen wollte. Halaski wurde daraufhin zum 1. September 1934 dem in der Berufsschule Bochum tätigen Pfarrer Hans Theodor Volkenborn (1904–1981) zugeordnet, der sich seiner freundlich annahm, »sein taktvolles Benehmen« rühmte und über die Hammer Episode zu dem Schluss kam: »Seine urplötzliche Abberufung … geschah ohne sachlichen Grund.«40 Die Frage, die sich in »zerstörten Landeskirchen« und besonders in Westfalen stellte, lautete, ob im Konsistorium noch eine rechtmäßige Behörde gesehen werden konnte. In Westfalen bestand insofern eine besondere Situation des Kirchenkampfes, als dass mit Karl Koch ein BK-Repräsentant Präses der Synode war und die Mehrheit der Landessynode zur BK gehörte. Der ab Herbst 1933 vom Reichsbischof eingesetzte Bruno Adler und sein »Bistum« hatten ihren Sitz in Münster. Im März 1934 weigerte sich die Synode, der Selbstauflösung zuzustimmen, womit eine Gleichschaltung von Landes- und Reichskirche hätte ermöglicht werden sollen. Daraufhin verließen die Deutschen Christen (DC) die Synode, während die BK-Mehrheit sich zur rechtmäßigen Synode erklärte.41 Karl Halaski hat offiziell mit dem Konsistorium verkehrt und dort seine Prüfungen abgelegt,42 allerdings geschah dies versehentlich, da er nicht rechtzeitig über die Einrichtung von BK-Prüfungsbehörden informiert worden war. »So habe ich mein Zweites Theologisches Examen vor der falschen Prüfungskommission gemacht.«43 Freilich behielt er 40 41

Brief Volkenborns an das Konsistorium Münster vom 23. Februar 1935, in: PA. Vgl. Peter Noss, Die Kirchenprovinz Westfalen 1933 bis 1945, in: Manfred Gailus / Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 223–262; Bernd Hey, Die Kirchenprovinz Westfalen 1933–1945 (BWKG 2), Bielefeld 1975. 42 Wilhelm H. Neuser, Die Teilnahme der Professoren aus Münster an den kirchlichen Prüfungen – ein Stück westfälischer Kirchenkampf, in: Leonore Wenschkewitz / Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKiZ B 18), Göttingen 1993, S. 317–345. 43 Halaski, Autobiographie Kirchenkampf.

1. Karl Halaskis Lebenslauf (bis 1951)

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seinen Kurs bei, den er in einer »Ergänzung zum Lebenslauf« anlässlich der Meldung zum Zweiten theologischen Examen so ausführte: »[M]eine Liebe zur Kirche, bei aller kritischen Einstellung zu ihren Schwächen, ist mir gewachsen und die Bereitschaft zum Dienst für meine Kirche. Dabei verband sich für mich auf mannigfaltige Weise das völkische Erleben dieser Jahre mit den Gedanken, die mir die Jugendbewegung schon früher mitgegeben hatte … in mir selbst [prägte sich] die Art reformierten Bekenntnisstandes immer mehr aus … So gehöre ich meiner ganzen Einstellung nach zu den ›Bekennenden Gemeinden‹ – für deren Ziele ich innerlich und äußerlich freudig eingetreten bin und weiter eintreten werde –, ohne dass ich deshalb eine ›Kirchenpolitik‹ mitmachen möchte. Die brüderliche und nahe Begegnung mit jüngeren ›Deutschen Christen‹ während meiner Seminarzeit, die offene Aussprache mit ihnen über alle uns als junge Menschen dabei bewegenden Fragen hat in mir die Gewissheit geschaffen, dass wir Jungen nach anderen Zielen streben müssen im Kampf für unsere Kirche als nach Machtpositionen oder der alleinigen Geltung unserer Theologie. Ich habe so manchmal nicht ohne Scham und ohne Zorn die Entwicklung unserer Kirche in der letzten Zeit mit angesehen, [habe] mich von allen Aktionen ferngehalten …, die allein ›kirchenpolitischen‹ Charakter haben könnten, … weil ich nicht durch mein Handeln die Verwirrung mit vergrößern wollte … In dem möglichen Gedanken einer Freikirche sehe ich gegenwärtig eine politische Unmöglichkeit …, auch wenn vielleicht eine Freikirche besser die ›Bekennenden‹ zusammenfassen könnte.« Halaski erinnerte »eine ziemlich eingehende Auseinandersetzung mit den Strömungen des ›DeutschGlaubens‹« im Predigerseminar.44 Die beginnenden Bedrängungen der Juden und kirchliche und staatliche Verfolgungen von Vikaren und Pfarrern nahm er zunächst noch als irgendwie übereifrige Übergriffe wahr. Sein Mentor Volkenborn gab folgende Einschätzung gegenüber dem Konsistorium: »Seine [sc. Halaskis] kirchenpolitische Haltung scheint mir unklar. Unter ›bekennender Gemeinde‹ will er nicht etwa nur die Gruppen in der angeblichen ›Bekenntnissynode‹ verstehen, sondern alle Kreise unserer Kirche, die in heutiger Zeit das Evangelium durch Wort und Tat ›bekennen‹. Andrerseits steht er aber innerlich bei der kirchlichen Opposition, ohne sich jedoch ihr äußerlich angeschlossen zu haben und ohne, wie er in längeren Aussprachen mir gegenüber immer wieder betonte, ›kirchenpolitisch‹ sein zu wollen. Seine Haltung ist z.T. zu erklären aus seiner ausgesprochen reformierten Frömmigkeitsform, die im Gemeinde- und Kirchenaufbau des reinen Calvinismus eine Verpflichtung sieht.«45

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Schreiben Halaskis an das Konsistorium vom 10. September 1934, in: PA. Schreiben Volkenborns an das Konsistorium vom 19. September 1934, in: PA.

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

Im Winter 1934/1935 wohnte Karl Halaski erneut bei seinen Eltern, um sich für das Examen zu rüsten. Am 6. April 1935 bestand er die Zweite theologische Prüfung in Münster mit »gut«46 – eine wesentliche Steigerung zum Ergebnis des Ersten Examens. 1.4 Pfarrstelle in Wittgenstein und Kriegs- und Nachkriegszeit Nach dem Examen erledigte Halaski Hilfsdienste in Datteln (1. Mai – 31. November 1935) und war dort vor allem an der Berufsschule tätig. Nach einigen Monaten bemühte er sich selbst um die Pfarrstelle Wunderthausen,47 da er von der Vakanz und einer baldigen Besetzung erfahren hatte. Seinen Wunsch, dorthin wechseln zu dürfen, begründete er auch damit, dass dort der Heidelberger Katechismus gelte.48 Es überrascht, dass ein so umfassend gebildeter junger Mann aus Lübeck sich mehr oder minder freiwillig in die engen Täler des Wittgensteiner Landes versetzen lässt, um dort einer materiell armen Gemeinde zu dienen. Nach Absetzung des Vorgängers durch den DC-Bischof wurde die Gemeinde zunächst jeweils sehr kurzfristig von zahlreichen Vertretungskräften versorgt. Die neue Besetzung musste also nun vor allem auch die Lage vor Ort befrieden. Nach seiner Meldung überschlugen sich für Halaski die Ereignisse: Fünf Wochen später wohnte er Anfang Dezember bereits in Wunderthausen, wurde weitere zwei Wochen später ordiniert und heiratete nach weiteren sieben Wochen: Am 31. Januar 1936 vermählten sich Karl Halaski und Irmgard Stender.49 Dem Paar wurden drei Kinder geboren (1936, 1939, 1950), wobei die alttestamentlichjüdische Namengebung für die erste Tochter Ruth im Jahre 1936 durchaus bemerkenswert ist. Ab Mai 1936 war Halaski als entsandter Hilfsprediger für Wunderthausen-Diedenshausen zuständig, wurde allerdings erst zum 1. Juli 1943 46 Als wissenschaftliche Hausarbeit wurde vom Prüfungsamt gestellt »Sinn und Grenze des Führerprinzips in einer an das lutherische Bekenntnis gebundenen evangelischen Kirche«, die »im ganzen gut« gewertet wurde. Am 24. März 1935 hielt Halaski seine Examenspredigt in der reformierten Gemeinde Lübeck, und ging dann vom 3.–6. April 1935 in die Prüfungen. Das Fach AT absolvierte er jetzt mit »bestanden«, Pädagogik/Katechetik sowie Homiletik mit »vorzüglich«. In der Religionspädagogik lag ein selbstgewählter Schwerpunkt während des Vikariats: In den Jahren 1934/1935 ging Halaski zweimal ein Vierteljahr lang für eine »religions-industriepädagogische Ausbildung« in die Berufsschule Bochum. 47 Vgl. 100 Jahre Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde Wunderthausen-Diedenshausen, o.O. 1991, dort ein eigener Beitrag von Halaski S. 49–53: Karl Halaski. Pastor von 1935 bis 1951; Jens Murken, Die evangelischen Gemeinden in Westfalen, Teil 2: Ibbenbüren bis Zurstraße, Bielefeld 2009 (Schriften des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche von Westfalen 12), s.v. Wunderthausen. 48 Brief Halaskis an das Konsistorium Münster vom 23. Oktober 1935, in: PA. 49 Sie war am 15. Juli 1914 geboren und in Lübeck wohnhaft; die beiden hatten sich über Weihnachten 1933 in Halaskis Heimatstadt kennen gelernt.

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zum Pfarrer der Kirchengemeinde Wunderthausen ernannt. Besonders über diese Jahre im Gemeindepfarramt machte sich Karl Halaski die nicht zur Veröffentlichung bestimmten autobiographischen Notizen,50 in denen er vor allem das einfache Leben der dörflichen Gemeinde und ihrer Menschen beschrieb und auch von Konflikten mit lokalen NSFunktionsträgern berichtete. Als besonders tapfer sah er seine Predigtpraxis im Rückblick nicht an, aber die Fürbittenlisten für verfolgte Pfarrer der BK wurden im Gottesdienst genauso verlesen51 wie auch deren Verlautbarungen. Die Kollekte wurde nicht ans Konsistorium, sondern an die BK-»Behörden« abgeführt. Entsprechend wurde die Gemeinde auch von der BK visitiert.52 In seinen Reflexionen aus dem Jahr 1978 erinnerte sich Halaski besonders der Herausforderung durch die sonntägliche Predigt: Die »Vergangenheit [des Textes] war historisch-kritisch aufzuarbeiten, sein Gegenwartsbezug – hoffentlich – hermeneutisch zu erfragen. Schnell zeigte sich, daß die Stimmen der Väter und Brüder, aber auch die der Abseitsstehenden wie der Gegner zum notwendigen Kontext gehörten.«53 Man erlebte aber auch so etwas wie eine Unmittelbarkeit der biblischen Botschaft: »Die Aktualität des Wortes brauchte weder gesucht noch konstruiert zu werden. Selbst in der Schriftlesung innerhalb der Liturgie aktualisierte sich das Wort in einer Weise, die Freund und Feind aufhorchen ließ.«54 Halaski wurde zu einer – später amnestierten – Geldstrafe wegen »Kanzelmißbrauchs« – er hatte einen Kirchenaustritt öffentlich im Gottesdienst bekannt gegeben – verurteilt und musste eine Verwarnung auf Einlieferung ins KZ unterschreiben.55 Weiterhin gehörte er erkennbar der Bekennenden Kirche an. An einer Arbeitstagung im Oktober 1936 in Barmen-Gemarke, die anstelle einer geplanten dritten Freien reformierten Synode durchgeführt wurde, nahm auch Halaski teil.56 In diesen bekenntniskirchlichen Kontexten 50

Leider kam ein Exemplar doch zum Druck, bedauerlicher Weise ohne wissenschaftliche Aufarbeitung und ohne Kenntlichmachung der Originaltexte Halaskis: Andreas Kroh, Karl Halaski: Pfarrer in Wunderthausen-Diedenshausen. Ein Beitrag zur Frage der Bedeutung des reformierten Erbes für die Bekennende Kirche in Wittgenstein, Bad Berleburg 2009. Dieses »Werk« ist nicht zitierbar. 51 Vgl. Fürbitte. Die Listen der Bekennenden Kirche 1935–1944, bearbeitet von Gertraud Grünzinger und Felix Walter, Göttingen 1996. 52 Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. 53 Halaski, Wort – Bruderschaft – Gemeinde, a.a.O., S. 49. 54 Halaski, Wort – Bruderschaft – Gemeinde, a.a.O., S. 49. 55 LKA Düsseldorf, Seelsorge rheinischer Pfarrer an Kriegsgefangenen im Ausland G-H, Nr. 17. Vgl. Kriegsgefangenenseelsorge im Zweiten Weltkrieg. Ergebnisse einer Umfrage, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche im Rheinland und deren Ausschuß für kirchliche Zeitgeschichte von Günther van Norden, bearbeitet von Monika Albel, Düsseldorf 1992, über Halaski: a.a.O., S. 49f. 56 Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Verbände – Personen, Bd. 1: Überregionale Einrichtungen. Bearbeitet von Heinz Boberach †, Carsten Nicolaisen und Ruth Pabst (AKiZ A 18), Göttingen 2010, S. 147–151, hier: S. 148.

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erlebte Halaski »Bruderschaft«: »Sie war einfach da, erprobt und bewährt zwischen Alten und Jungen, ohne Rangunterschiede und ohne die Würde der Würdigen anzutasten oder auf die Unbedarftheit der Unerfahrenen herabzusehen«. Hier erlebte er zum ersten Mal, was ihn theologisch sein Leben lang begleiten sollte: die Freiheit, die befreiende Bindung an den von Jesus Christus seiner Kirche gegebenen Auftrag. Und trotz aller Anstrengungen und Bedrängnisse verlebten er, seine Frau und seine altersgleichen Kollegen gute Zeiten jungen Lebens: »[Wir haben] viel miteinander gelacht … und [sind] fröhlich gewesen … So arg uns die Lage der Kirche und die politische Entwicklung unseres Volkes bedrückte, so blieben wir doch junge Menschen, die jede Möglichkeit zu fröhlicher Geselligkeit und allerlei Schabernack ausnutzten. Wir alle, so kurz vor oder hinter den Dreißig, waren zumeist verheiratet. Es kamen Kinder, die uns zu gegenseitigen Patenschaften führten, … es gab die vielen Besuche in den Pfarrhäusern.«57 Aber dieses private Glück währte nur wenige Jahre. Karl Halaski wurde am 6. Mai 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Nach einer Ausbildung in Kassel wechselte er im Sommer 1941 zur Marine: Zunächst als Sanitätsgefreiter in Horumersiel (Oldenburg), dann ab Februar 1942 als Sanitätsmaat (= Unteroffizier der Marine), ab Sommer 1943 als Leutnant der Marineartillerie. Zum 1. Dezember 1944 wurde Halaski zum Marine-Artellerie-Oberleutnant befördert, der in der Marine-Kaserne stationiert war und bis zum Juli 1944 als Adjutant des Admirals Siegfried Engel (1892–1976) wirkte. Nach Selbstauskunft galt in seinen Kreisen das Motto: »In diesem Orlog tue ich nur, was ich muß, melde mich aber zu nichts.«58 Bei Kriegsende soll er sich um die Rettung von Stadt und Kaserne am 22. April 1945 verdient gemacht haben. Er »habe … z.T. mit Wissen des Admirals, z.T. ohne dieses die kampflose Übergabe Buxtehudes vorbereitet und durchgeführt.«59 Jahrzehnte später erwuchsen 2003/2004 im Zusammenhang mit der Errichtung eines Denkmals heftige Auseinandersetzungen über diesen historischen Vorfall, der historiographisch nicht unumstritten ist.60 Gegen den Admiral und einen beteiligten Kapitän wurden gravierende Vorwürfe wegen zuvor begangener Kriegsverbrechen laut, so dass der 2003 enthüllte Gedenkstein nach wenigen Wochen wieder demontiert wurde. Gegen Halaski und 57 58

Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. Brief Halaski an van Norden vom 27. Dezember 1987, in: LKA Düsseldorf, Seelsorge rheinischer Pfarrer an Kriegsgefangenen im Ausland G-H, Nr. 17. Vgl. auch Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. 59 Ebd. – Halaski sandte 1988 einen Bericht über die friedliche Übergabe an die Stadt Buxtehude, der zwar nicht von der Stadt, wohl aber Jahre später vom Buxtehuder Tageblatt (3. Juni 2000) veröffentlicht wurde. 60 Aus englischer Sicht: Nicholas Rankin, Ian Fleming's Commandos. The Story of 30 Assault Unit in WWII, London 2011.

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den vierten Beteiligten lagen zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Beschuldigungen vor. Während Halaski in englischer Gefangenschaft in Sicherheit war, wurde seine Frau, die Teile der Gemeindearbeit hatte übernehmen müssen, bei den letzten Kämpfen in Wunderthausen Ende März 1945 von einem Geschoß in die Schulter getroffen. Das von abrückenden SS-Truppen »verteidigte« Pfarrhaus wurde in den Kampfhandlungen beschädigt.61 Das Dorf wurde von Amerikanern befreit, die dann auch das Pfarrhaus vorübergehend als »headquarter« beschlagnahmten. Nachdem Halaski die Zeit von April bis September 1945 in englischer Gefangenschaft in Belgien in drei Lagern verbracht und dort gepredigt, Seelsorge getrieben und in Gesprächskreisen den Kriegsgefangenen Orientierung zu geben versucht hatte,62 konnte er bereits am 3. September 1945 wieder heimkehren. Sofort nahm er den Pfarrdienst in Wunderthausen wieder auf.63 Durch die Gemeinde fühlte er sich in einem guten Sinne relativiert und getragen.64 Wie wertgeschätzt er als evangelischer Pfarrer war, zeigt sich etwa daran, dass er von 1947 bis 1951 als Parteiloser im Kreistag Wittgenstein vertreten war. Die Integration zahlreicher Vertriebener war eine der Herausforderungen auf lokaler und regionaler Ebene. 1.5 Mitarbeit im Reformierten Bund nach 1945 und Wechsel nach Gruiten Schnell nach dem Krieg übernahm Karl Halaski, vor Ort Sprecher der BK-Pastoren, auch überregionale Dienste, etwa Visitationsreisen zu den Berlin-Brandenburgischen Reformierten unter der Leitung von Martin Albertz65 oder – nach einer durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) organisierten und finanzierten Erholungsfreizeit in Arnheim/NL im Sommer 1949 – im Herbst 1949 Quasi-Visitationsreisen für den Reformierten Bund im Rheinland, wo nicht zuletzt wegen der Lutheraner unter den Vertriebenen das konfessionelle Profil mancher Gemeinde bedroht schien. Für diese Aufgabe wurde er auf Bitte von Wilhelm Niesel, der seit 1946 als Moderator des Reformierten Bundes wirkte, vom Gemeindedienst in Westfalen freigestellt. Unzufrieden nahm Halaski nach 1945 wahr, dass sich die Bekennende Kirche auf allen Ebenen nicht durchsetzen konnte, sondern dass das Modell der herkömmlichen Volkskirche fortgeschrieben werden 61 62 63 64 65

Aus einer Aktennotiz des Konsistoriums, vom 28. Mai 1945, in: PA. Vgl. Kriegsgefangenenseelsorge, a.a.O. Brief Halaskis an das Konsistorium vom 10. Oktober 1945, in: PA. Vgl. Halaski, Wort – Bruderschaft – Gemeinde, a.a.O., S. 50f. Peter Noss, Martin Albertz 1883–1956. Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 540. Zur Verbindung Halaskis zu Albertz vgl. auch den Abschnitt 4: Karl Halaski als reformierter Liturgiker.

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sollte.66 Halaski nahm an den beiden ersten Synoden der entstehenden westfälischen Landeskirche teil. Im Jahr 1950 wurde in Wunderthausen noch die dritte Tochter geboren. Im Jahr darauf zog die Familie im Herbst 1951 nach Gruiten, wo Halaski am 1. Advent, dem 2. Dezember 1951, als Pfarrer eingeführt wurde.67 Obwohl Gruiten nur unweit südlich von Schöller liegt, wo Wilhelm Niesel ein kleines Pfarramt bekleidete und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal lehrte, war diese Pfarrwahl nicht von Niesel forciert worden. Vielmehr war Halaski auf Grund der langen Bitten des Gruitener Kirchmeisters und des Superintendenten Hans (eigentlich: Johannes) Himmelbach in diese rheinische Gemeinde gekommen. Auch in den folgenden Jahren bestanden praktisch keine privaten Kontakte zum Ehepaar Wilhelm und Susanna Niesel in der Nachbargemeinde. Eng befreundet war Halaski dagegen mit Walter Herrenbrück (1910–1978), der von 1951 bis 1963 als Landessuperintendent der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland wirkte.68 2. Schriftleiter der Reformierten Kirchenzeitung (1951–1973) und reformierter Publizist Es ist kaum vorstellbar, dass für die Pfarrstelle Gruiten nicht auch eine neue große Herausforderung sprach: Das Moderamen des Reformierten Bundes hatte am 15./16. Januar 1951 dem Vorschlag des Schriftleiters der Reformierten Kirchenzeitung Robert Steiner (1901–1982) zugestimmt, den Wunderthausener Pfarrer Karl Halaski zum neuen Schriftleiter zu bestimmen.69 Bislang war Halaski an zweiter Stelle als CoSchriftleiter genannt worden (»in Verbindung mit«). Dieser neuen Aufgabe konnte er in der Nähe von Wuppertal, dem Epizentrum der deutschen Reformierten, natürlich wesentlich besser nachkommen als in der südwestfälischen Provinz. Die Geschichte der sehr verspäteten Wiederzulassung der RKZ nach dem Zweiten Weltkrieg ist bemerkenswert.70 Die Bemühungen um eine Lizenz begannen bereits im Jahr 1945. So hoffte man bei der ersten 66 67

Halaski, Autobiographie Kirchenkampf. LKA Düsseldorf: Acta II betr. die Pfarrstelle in der evang[elischen] Gemeinde zu Gruiten reformiert 5, Nr. 183 Pf.A. – Die Gemeinde hatte damals etwa 1700 Glieder. 68 Im Nachlass Herrenbrück (Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-reformierten Kirche, Leer) befindet sich ein intensiver und äußerst umfangreicher Briefwechsel zwischen Herrenbrück und Halaski. 69 Vgl. RKZ 92 (1951), S. 56. Ab Nr. 4 vom 15. Februar 1951 zeichnete Halaski alleine verantwortlich. 70 Vgl. die betreffenden Akten des Bestandes in LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 597–602 [62.3–8].

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Moderamenssitzung nach der Befreiung auf eine Genehmigung bis Weihnachten 1945. Aber selbst eine Befürwortung der RKZ und des designierten Schriftleiters Robert Steiner durch den Wuppertaler Oberstadtdirektor vom 23. Mai 1946 fruchteten nichts. Im Jahr 1947 fehlte neben der Lizenz71 dann auch noch das Papier, so dass sogar das kleinere Format der »Mitteilungen des Reformierten Bundes« bedroht war. Die Reformierten wandten sich unter anderem an Axel Springer, ob er bei der Papierbeschaffung behilflich sein könnte. Die RKZ konnte schließlich erst wieder zum 1. Januar 1949 erscheinen, obwohl sie im Dritten Reich und vor allem ab Januar 1934 eindeutig auf der Seite der Bekennenden Kirche gestanden hatte. Mit dem ersten Heft 1949 begann der 90. Jahrgang. Als Schriftleiter fungierte zunächst erneut Robert Steiner, Pfarrer in Barmen, der die RKZ bis zum Verbot im Februar 193972 betreut hatte. Der Lizenzträger war seinerzeit Pastor Walter Herrenbrück aus dem ostfriesischen Dörfchen Tergast, der auch im Moderamen des Reformierten Bundes saß. Zunächst erschien die RKZ im Umfang á 8 Seiten zweimal monatlich und wurde in Wuppertal-Wichlinghausen gedruckt, ab der Nr. 1 des 93. Jahrganges (1952) erschien die RKZ im Neukirchener Verlag, bis ihr Erscheinen im Jahr 2000 mit dem 141. Jahrgang eingestellt wurde. Die Auflage betrug zunächst 1000, wobei der einkalkulierte Fehlbetrag zwischen Verlag und Reformiertem Bund geteilt wurde. Nach interner Kritik an Steiner in den Jahren 1949 und 1950 wurde also Karl Halaski ab 1951 Schriftleiter der RKZ. Steiner schrieb gleichwohl weiterhin gewichtige Beiträge und wurde auch im Impressum mit aufgeführt. Aus welchen Gründen Steiner genau abgelöst wurde, ist nicht aktenkundig. Er war damals erst 50 Jahre alt, war von 1936–1954 Mitglied des Moderamen, mithin 1946 wiedergewählt worden. Vielleicht brauchte man jemand, der die Wuppertaler Begrenzungen etwas leichter zu überschreiten in der Lage war, zumal die RKZ zu Beginn eher ein Gemeindeblatt des Wuppertals war und diesem Jahrzehnte lang besonders verbunden blieb.73 Möglicherweise sollte die RKZ auch pro71

Wilhelm Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 38–57, hier: S. 45. 72 Damit wurde die RKZ mehr als zwei Jahre vor den meisten anderen kirchlichen Zeitschriften verboten. Im Juni 1941 begründeten die Behörden ein nahezu flächendeckendes Verbot mit »kriegswirtschaftlichen Gründen«. 73 In einer Notiz noch als stellvertretender Schriftleiter regte Halaski im ersten Heft 1951, S. 22–24, einen »Gedankenaustausch in der RKZ« an. Leider gäbe es anders als in der weltlichen Presse in Kirchenblättern keine Leserzuschriften u.a. So bestünde die Gefahr, dass die Blätter zu einseitig würden. »Dabei sind die Wenigsten von uns bereit, sich auf irgend eine Generallinie festlegen zu lassen.« (S. 23) Wenige Nummern später werden erste Leserbriefe veröffentlicht.

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fessioneller aufgestellt werden, wofür auch der baldige Wechsel zum Neukirchener Verlag spricht. Jedenfalls war die evangelische Publizistik um 1950 ein vitales und zukunftsträchtiges Arbeitsgebiet für die Kirchen und ihre Organisationen, wie überhaupt für das 20. Jahrhundert.74 Die Kirchenpresse war in den 50er Jahren ein diskutiertes, virulentes Thema, weil einerseits allgemein – sei es weltanschaulich gebundene oder freie und damit auch kommerzielle – Presse ein gesellschaftliches, auch boomendes Thema war, und weil andererseits für die Volkskirche und für diejenigen, die sich in der Tradition der Bekennenden Kirche verstanden, eine freie Presse ein erfahrungsbezogen wichtiges Thema war, war doch die kirchliche Presse in den 30er Jahren stark behindert und schließlich vom NS-Unrechtsstaat verboten worden.75 Man wollte also auf jeden Fall mit einer eigenen Presse eine Unabhängigkeit vom Staat erhalten und sah sich auch genötigt, sich in dieser wachsenden Branche und in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu behaupten.76 Halaski wähnte sich mehreren Fronten gegenüber. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik »[entwickelte sich] [z]um bevorzugten Auffangbecken nationalsozialistischer Starjournalisten … die protestantische Presse, allen voran Christ und Welt.«77 Wie die evangelische Publizistik in den 74

»Christliche Pressearbeit wurde im 20. Jahrhundert … immer mehr zu einem zentralen Element Kirchen leitender Arbeit.« Hartmut Lehmann, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte des Christentums im 20. Jahrhundert. Ein Essay, in: Katharina Kunter / Jens Holger Schjørring (Hg.), Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert (AKiZ B 54), Göttingen 2011, S. 27–41, hier: S. 38f. Vgl. Hans Hafenbrack, Geschichte des Evangelischen Pressedienstes. Evangelische Pressearbeit von 1848 bis 1981 (Evangelische Presseforschung 5), Bielefeld 2004. 75 Vgl. Focko Lüpsen, Der Weg der kirchlichen Pressearbeit von 1933 bis 1950, in: KJ 76 (1949), S. 415–454. 76 Vgl. auch Gottfried Mehnert, Evangelische Presse. Geschichte und Erscheinungsbild von der Reformation bis zur Gegenwart (Evangelische Presseforschung 4), Bielefeld 1983; Roland Rosenstock, Evangelische Presse im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002; Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989) (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 5) (SVRKG 173), Bonn 2008, S. 119–132: Der Öffentlichkeitsauftrag und das Pressewesen; Frank Bösch / Lucian Hölscher (Hg.), Kirchen, Medien, Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945 (Geschichte der Religion in der Neuzeit 2), Göttingen 2009; Nicolai Hannig, Die Religion in der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945–1980 (Geschichte der Religion in der Neuzeit 3), Göttingen 2010. In neueren Untersuchungen finden kirchliche Publikumszeitschriften verstärkt Beachtung; bezeichnenderweise wird die RKZ höchstens in Fußnoten so erwähnt, dass es sie auch noch gab – und damit auch den reformierten Protestantismus. Aber es scheint sich aus der Perspektive der Wissenschaftler offenbar nicht zu lohnen, die RKZ auszuwerten – oder den Wissenschaftlern erscheint sie nicht als Teil des mainstream-Protestantismus, sondern als ein irgendwie lediglich randständiges Phänomen. 77 Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 137.

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50er/60er Jahren von politisch und theologisch konservativen Theologen und Politikern geprägt war, zeigte sich auch am Beispiel des Kronberger Kreises,78 wo man geradezu unbarthianisch und antireformiert agierte. Entsprechend sensibel nahm Halaski die konfessionell lutherisch und zumeist konservative evangelische Presse wahr. Es kann nicht verwundern, dass mit Halaskis Dienstantritt die RKZ noch stärker barthianisch geprägt wurde. Gleich im ersten Jahr fragte Halaski – noch aus Wunderthausen – bei seinem früheren akademischen Lehrer Barth an, ob er Passagen aus der KIRCHLICHEN DOGMATIK in der RKZ abdrucken dürfe,79 was dann auch in den Folgejahren geschieht. Barths weiteres Reden und Agieren fand stets Raum in der RKZ,80 ebenso dessen direkte Schüler, etwa Otto Weber mit seinen umfangreichen Zusammenfassungen der erscheinenden Bände der KIRCHLICHEN DOGMATIK. Barths Geburtstage wurden gebührend gefeiert, der 65. im Mai 195181 wie dann der 70. im Mai 1956 gar mit einer Sondernummer, der 75.82 sowie der 80. mit einem Editorial.83 Halaski verstand sich als ein Barth nahestehender Theologe. Auch bei einem der eher seltenen Auftritte Barths in Deutschland, im März 1951 in Herborn, war er zugegen. Halaski war dann auch eingeladen, sich an der Festschrift zu Barths 70. Geburtstag 1956 zu beteiligen und sich so als einer der weltweiten »Barthianer« zu präsentieren. In seinem Beitrag legte Halaski über seine Tätigkeit, genauer über Begründung und Wesen kirchlicher Publizistik Rechenschaft ab.84 Dies war insofern ein gewagtes Unternehmen, als dass Barth ein Vierteljahrhundert zuvor gerade auch mit der evangelischen Presse eine Agentin eines falschen Selbstbewusstseins der Kirche identifiziert und angegriffen hatte.85 Halaski wies vehement eine Argumentation zurück, die in der Presse eine »andere Kanzel« (S. 536) sehen 78 Vgl. Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 2), München 1999, S. 261–271. 79 Brief Halaskis an Barth vom 10. August 1951, in: Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9351.535. 80 In Bibliographie Karl Barth 2/1, Veröffentlichungen über Karl Barth, Teil 1: A–Z, S. 569–572, Zürich 1992, Nr. 13144–13163 sind zahlreiche Beiträge (v.a. Rezensionen) Halaskis aufgeführt. 81 Karl Halaski, Brief an Karl Barth, in: RKZ 92 (1951), S. 175f. 82 Karl Halaski, Nachbetrachtungen zu den Jubiläumsartikeln für einen Fünfundsiebzigjährigen, in: RKZ 102 (1961), S. 226–228. 83 Karl Halaski, Karl Barth, in: RKZ 107 (1966), S. 93. 84 Karl Halaski, Aufgaben evangelischer Presse, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, S. 536–544. – Belege sind als Seitenangaben oben im Text angegeben. 85 Dies geschah nicht zuletzt in Barths bekannter polemischer Schrift »Quousque tandem« (1930), vgl. Hafenbrack, Geschichte des Evangelischen Pressedienstes, a.a.O., S. 177–180.

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wollte, wie es etwa der einflussreiche württembergische Pressepfarrer Kurt Hutten (1901–1979)86 tat und damit den mainstream markierte. Vielmehr versuchte Halaski die Weltlichkeit der – auch kirchlichen – Presse, die Zeit- und Kontextgebundenheit wertzuschätzen. Die Argumentation, auf Grund der Inkarnation sei alles Weltliche irgendwie göttlich geworden, sei genauso allgemein und also nicht hinreichend wie die, die alles kirchliche Handeln unter einem Oberbegriff »Verkündigung« subsummieren wollte (S. 537). Die kirchliche Presse biete Informationen über das, »was die Glieder der Gemeinde voneinander, was sie von der Welt und was diese von der Gemeinde erfahren und wissen sollen.« (S. 538) Als »Kind der Zeit« sei sie immer auch schon abhängig gewesen – und deshalb veränderbar – von den jeweiligen technischen Mitteln und vom jeweiligen geistigen Klima (S. 538). So »betreibt sie ein weltliches Geschäft, das sich in nichts von dem anderer Presseerzeugnisse unterscheidet.« (S. 539) Der »eigentliche Ausgangspunkt« der evangelischen Presse (S. 536), in dem auch ihre Freiheit noch festzumachen sein wird, sei die eine Orientierung an Jesus Christus, sei sein mandatum, dass die Kirche von ihm zu reden hat. Die Nachrichten orientieren sich und lassen sich ihr Sein »von der in der Kirche geglaubten, bezeugten und erfahrenen Aktualität des Wortes Gottes« (S. 539) geben. Als unmittelbar einsichtig schilderte Halaski dies im Kirchenkampf.87 Es sei damals um die Information darüber gegangen, »wie das bezeugte Evangelium seine Wirkung tat, wie es Widerstand fand und leistete«, also »ganz schlicht die Wahrheit an den Tag zu bringen und darum Ereignisse innerhalb der Welt in das Licht der Wahrheit Gottes zu stellen.« (S. 539) In der Freiheit einer Bindung allein an Gottes Wort wäre »die Kirche im eigentlichen Sinne«, nicht jedoch eine Kirchenleitung o.ä. Auftraggeberin der Pressearbeit gewesen (S. 540). Halaski verklärte jedoch nicht den Kirchenkampf, sondern wußte, dass das, was »in einer Kampfzeit unter ihren besonderen Umständen erforderlich ist, … in anderen Zeiten nicht ohne weiteres das Modell zu geben [braucht].« (S. 540) Kirchliche Presse ist kirchliche Presse nicht dadurch, dass sie im Auftrag einer Kirchenleitung erscheint. »Wo aber die evangelische Presse von der Kirchenleitung abhängig gemacht wird, steht sie in Gefahr, ihre Gebundenheit an das Wort mit der an die organisierte Kirche zu verwechseln« (S. 540). Halaski betonte dagegen die Objektivität der Nach86

Vgl. Kurt Hutten, Die Presse als Kanzel? Verkündigung in der Publizistik 1938– 1967, Stuttgart 1967. Auch der starke Mann im epd, Focko Lüpsen, vertrat diese Position: »[D]ie kirchliche Presse … [ist] ihrem ureigensten Wesen nach Wortverkündigung …, Verkündigung von der Kanzel des gedruckten Wortes … Die kirchliche Presse ist der verlängerte Arm der Kirche in der Wortverkündigung.« Zit. nach Hafenbrack, Geschichte des Evangelischen Pressedienstes, a.a.O., S. 436, vgl. auch S. 437. 87 Halaski nannte mehrfach gleichsam als Vorbild Karl Immer – auch in seiner Autobiographie Kirchenkampf.

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richten – was eben auch »Niederlagen und Fehlschläge[.], … Uneinigkeit und Hader in den eigenen Reihen« der Kirche einschließt (S. 541) wie auch ideologische Voreingenommenheiten ausschließt, etwa einen generellen Kurs gegen die Ostblockstaaten (S. 542).88 Ganz besonderes Gewicht maß Halaski der Freiheit bei. Diese »Pressefreiheit« ist zunächst die Freiheit des Schriftleiters (S. 540f.), der sich weder von seinem Auftraggeber – das waren zu Beginn der 50er stärker als heute noch Parteien, Gewerkschaften u.a. – noch wegen des kommerziellen Erfolges vom Leser abhängig machen lassen solle, dann aber auch die zu gewährende Freiheit des Lesers, der nicht zum »Objekt« der Presse gemacht werden dürfe. Da es nicht den »Normleser« gäbe, könne es auch »keine uniforme Presse« geben, vielmehr sei ein »Nebeneinander von [mehreren] Blättern … notwendig« (S. 543). Diese Ausführungen standen mit ihrer christologischen Begründung und ihrer impliziten Kirchenkritik im Wirkungskreis von Karl Barth. Besonders markant ist vor allem die Bezugnahme auf BARMEN VI, wo gerade in der Bindung an Gottes Wort die Freiheit der kirchlichen Akteure verankert wird. Nicht zu übersehen ist freilich, dass auch Halaski zur Mitte der 50er Jahre mit konservativ-kulturkritischer Attitüde die Kirche eher in der gesamtgesellschaftlichen Defensive sah (S. 544). Diese Position Halaskis, der auch Mitglied im Vorstand des 1951 gegründeten Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Presse war, erschien als so pointiert, dass er neben Kurt Hutten ein Hauptreferat auf dem Deutschen Evangelischen Pressetag im Sommer 1958 in Stuttgart zu halten hatte, das sich der Frage »Kann die Presse Kanzel sein?« stellte. Inhaltlich wiederholte Halaski hier bei einem sehr ähnlichen Aufbau seine Darlegungen von vor zwei Jahren, betonte noch stärker den genannten Zusammenhang von Freiheit und Bindung, benannte aber deutlicher als zuvor als drei wichtige, althergebrachte Aufgaben der Presse mit den modernen Begriffen »Information«, »Konfirmation« (in der Apologie auch als »Kritik«) und »Diskussion«.89 In der kirchlichen Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik war Halaski ein erkennbarer reformierter Repräsentant, oder wie es eine Würdigung zum 70. Geburtstag später sagen sollte: »Karl Halaski gehört … zu den Großen unter den kirchlich-engagierten Publizisten.« Das Deutsche Pfarrerblatt sah ihn in der Reihe bekannter Publizisten wie Focko Lüpsen, Kurt 88

Das wird Halaski wohl nicht zuletzt gegen die Berichterstattung von Christ und Welt gesagt haben. 89 Karl Halaski, Die Presse ist nicht Kanzel, in: Die Kirche und ihre Presse, im Auftrag des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Presse hg. von Eberhard Stammler, München 1959, S. 34–47, hier: S. 39 et passim. Darin auch Kurt Hutten, Die Presse ist auch Kanzel, a.a.O., S. 48–60, wiederabgedruckt u.d.T. Die Presse kann auch »Kanzel« sein, in: ders., Die Presse als Kanzel?, a.a.O., S. 303–312.

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Hutten, Günter Heidtmann und Hanns Lilje90, mit denen freilich auch in den 70er Jahren eine Generation dieses kirchlichen Handlungsfeldes abtrat. Als Schriftleiter der RKZ, die als wichtige Klammer zwischen den divergenten reformierten Milieus in Deutschland fungierte, prägte Halaski direkt und indirekt, unmittelbar und mittelbar das reformierte Selbstverständnis und das Erscheinungsbild der Reformierten mit.91 Bereits benannt war die barthianische Anmutung der RKZ, genannt werden muss ebenso die theologische Prägung durch den Heidelberger Katechismus bereits vor dem Jubiläumsjahr 1963. So zeichnete er mit verantwortlich für einige Katechismus-Freizeiten für Erwachsene – namentlich für Theologiestudenten –, die in den 50er Jahren stattfanden. Halaski selbst unternahm es, den HEIDELBERGER einmal komplett in der RKZ auszulegen.92 Einerseits trat er theologisch eher moderat auf und war offen auch anderen Kulturäußerungen wie den Künsten gegenüber. Andererseits verstand er als konfessioneller Journalist durchaus auch zu attackieren. Beispielhaft sei erinnert an die Auseinandersetzungen um den Bekenntnisstand in Baden,93 aber auch den anderer Landeskirchen, wo sich Reformierte in der Defensive wähnten, oder um die Besetzung von Lehrstühlen, wo er etwa im Falle Bonns die Berücksichtigung konfessioneller Belange einforderte.94 Neben der RKZ gab Halaski bis 1967 die Schriftenreihe »Nach Gottes Wort reformiert« heraus (Hefte 5 bis 18), in der auch »Kundgebungen des Reformierten Bundes« (Heft 13, 1958) publiziert wurden. Dort erschienen Texte und Stellungnahmen, die er mit geprägt haben dürfte.

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Hans Weissgerber, Schärfe statt Profillosigkeit. Gedanken zur kirchlichen Publizistik, in: DtPfrBl 78 (1978), S. 460–462, hier: S. 490. Dort werden die Genannten als die »Grand Old Men der kirchlichen Publizistik« bezeichnet. 91 Zu Otto Webers 60. Geburtstag erschien eine RKZ-Sonderausgabe zum Thema »reformiert«: RKZ 103 (1962), Nr. 11 vom 1. Juni 1962. 92 Erschienen in RKZ 104 (1963) bis 113 (1972). 93 Vgl. Karl Halaski, Fragen an Baden, in: RKZ 95 (1954), S. 450–453. – Hayo Büsing, Der Streit um die Präambel in der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden. Die Auseinandersetzung über den Bekenntnisstand nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Hermann Erbacher (Hg.), Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte der Evangelischen Landeskirche in Baden. Preisarbeiten anläßlich des Barmenjubiläums 1984 (VVKGB 39), Karlsruhe 1989, S. 227–273; Wiederabdruck des Textes von Halaski a.a.O., S. 308–312. Im Archiv des Reformierten Bundes existiert eine Akte »Reformierte Gemeinden in Baden 1946–1960« über einzelne Kirchenmitglieder, Pfarrer und Gemeinden, bei denen es konfessionell rumorte (Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Nr. 287 [32.22]). 94 Karl Halaski, Praktische Theologie in Bonn, in: RKZ 102 (1961), S. 66–69. Dekan Erich Dinkler (1909–1981) wies dieses Ansinnen am 8. März 1961 brieflich scharf zurück, vgl. Heiner Faulenbach, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte seit 1945, Göttingen 2009, S. 144.

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Durch diese kontinuierliche und prominente Präsenz95 im reformierten Milieu war er natürlich der geradezu selbstverständliche Kandidat für eine neue große, erst noch zu gestaltende Aufgabe. 3. Generalsekretär des Reformierten Bundes (1960–1973) Der als konfessionelle Gesamtvertretung für ganz Deutschland konstituierte Verein Reformierter Bund war im Vergleich zur sich als Kirche verstehenden Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) institutionell denkbar schwach aufgestellt. Der Moderator agierte ehrenamtlich – freilich in patriarchaler Freiheit gegenüber seinen Ämtern als Pfarrer und Hochschullehrer – und die Publizistik lag nebenamtlich in den Händen eines Gemeindepfarrers. Nachdem die Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Siegen 1956 bereits eine hauptamtliche Mitarbeiterstelle angeregt hatte und die Beitragszahlungen stabilisiert werden konnten, entschied das Moderamen am 14./15. März 1960 die Schaffung einer Stelle und die Berufung von Karl Halaski.96 Bereits vor der Entscheidung des Reformierten Weltbundes, die Generalversammlung im Jahr 1964 in Frankfurt abzuhalten,97 erbat das Moderamen bei der rheinischen Kirchenleitung eine Freistellung Karl Halaskis vom Gemeindepfarramt, um ihm das neu zu schaffende Amt eines Generalsekretärs anzuvertrauen, dem man auch die Vorbereitung und Organisation der Weltversammlung übertragen könne.98 Trotz großer anstehender Projekte in der Gemeinde wie dem Bau eines Gemeindezentrums und eines Pfarrhauses,99 beurlaubte die rheinische Kirche Halaski, woraufhin die Familie nach Frankfurt zog. Die Beurlaubung war bis zum 30. September 1964 befristet, aber da die Pfarrstelle Gruiten gleich wieder zum 1. Oktober 1960 zur Wiederbesetzung frei gegeben wurde, war Halaskis Rückkehr keine Option mehr. Er war seit 95

Sie wurde aber mit souveräner Bescheidenheit von Halaski gepflegt. Er veröffentlichte in der RKZ kein einziges Bild von sich in all den Jahren, auch berufliche Zäsuren oder Ehrungen blieben seinerseits unerwähnt. 96 Vgl. den Bericht in RKZ 101 (1960), S. 149. 97 Die Entscheidung wurde von Halaski gespannt verfolgt: Niesel hatte am Ende der Generalversammlung in São Paulo 1959 eine Einladung nach Deutschland (Frankfurt a.M.) ausgesprochen. Die Entscheidung sollte Anfang August 1960 während einer Exekutivkommissionssitzung in Genf fallen, nachdem eine Delegation Frankfurt und Berlin besucht hatte. Vgl. Karl Halaski, Wird es Frankfurt?, in: RKZ 101 (1960), S. 320. Unmittelbar nach der Sommerpause konnte er verkünden: ders., 1964 – Frankfurt, in: a.a.O., S. 374–376; der Beschluss der Exekutivkommission in: a.a.O., S. 390f. 98 Brief des Moderamens (gez. Niesel) an die Kirchenleitung im Rheinland vom 11. Juli 1960, in: PA. 99 Acta II betr. die Pfarrstelle in der evang[elischen] Gemeinde zu Gruiten reformiert 5, Nr. 183 Pf.A. (LKA Düsseldorf).

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dem 1. Oktober 1960 hauptamtlicher Funktionär einer kirchlichen Organisation.100 Das ist insofern bemerkenswert, weil durch fast alle Jahrzehnte seines Wirkens auch kirchenkritische Züge bei ihm zu finden sind (s.u. 5.). Halaski konnte seine Bemühungen um die RKZ intensivieren, die reformierten Gemeinden und Gebiete durch seine Besuche enger vernetzen und auch dadurch den Reformierten Bund organisatorisch konsolidieren, er war natürlich mit der Koordination und Organisation des HEIDELBERGER-Jubiläums 1963101 befasst, vor allem aber mit der Vorbereitung der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1964. Nachdem bereits die europäische Gebietsversammlung 1956 in Emden getagt hatte,102 wurde die Generalversammlung für das deutsche Reformiertentum ein konfessionsgeschichtlicher Höhepunkt des 20. Jahrhundert.103 Sie musste freilich gegen manche Bedenken von unterschiedlicher Seite – Otto Dibelius in Berlin und Martin Niemöller in Darmstadt104 – durchgesetzt werden. Halaski hatte nahezu die ganze organisatorische Last vor Ort zu schultern und klärte zahllose Dinge im Hintergrund und in aller Stille, etwa auch den Umgang mit telefonischen

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Halaskis Freund, Landessuperintendent Herrenbrück (Leer), begrüßte ihn ausführlich im neuen Amt in seinen »Bezirksbruderbriefen« (BBB 75, Oktober 1960, S. 18, LKA Leer). Die RKZ beschränkte sich auf eine kleine Notiz, dass die Gemeinden den neuen Generalsekretär nun für Gottesdienste u.a. anfordern konnten, vgl. RKZ 101 (1960), S. 426. 101 Karl Halaski (Hg.), Die Botschaft des Heidelberger Katechismus. Eine Handreichung zum 400jährigen Jubiläum des Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1963. – Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft. Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der 9. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 185– 211 (Wiederabdruck in diesem Band). 102 Vgl. Walter Hollweg (Hg.), Wir grüßen die Brüder. Zur Tagung des Reformierten Weltbundes (Östliche Sektion) vom 16. bis 21. August 1956 in Emden, Emden 1956; vgl. Karl Halaski, Die Emder Tage. Zur Tagung des Europäischen Gebietes des Reformierten Weltbundes, in: RKZ 97 (1956), S. 402–406; LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 450 [51.30]. 103 Frankfurt 1964. Proceedings of the Nineteenth General Council of the Alliance of the Reformed Churches throughout the World holding the Presbyterian Order held at Frankfurt-on-the-Main, Germany, from August 3–13, 1964, ed. by Marcel Pradervand, Genf 1964. LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 456–468 [51.36–48]. Vgl. auch den RKZ-Jahrgang 1964 sowie Frankfurter Dokumente. Berichte und Reden auf der 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt/Main 1964, hg. von Focko Lüpsen, Witten 1964. 104 Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitte über Otto Dibelius und über Martin Niemöller.

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Morddrohungen, die Josef Hromádka galten.105 Der deutsche Moderator Wilhelm Niesel wurde für die kommenden sechs Jahre zum Präsidenten des Weltbundes gewählt. Obwohl dieser stets ein persönlich äußerst reserviertes Verhältnis zu Halaski pflegte, rühmte er ihn mit der schlichten Feststellung, dass die »Organisation [dieser Generalversammlung] eine hervorragende Leistung des Generalsekretärs Halaski« gewesen sei.106 Bereits weit im Vorfeld der Frankfurter Versammlung bemühte sich Niesel um eine Verlängerung der landeskirchlichen Beurlaubung auf ein weiteres Jahr, damit Halaski sich nicht ausgerechnet unmittelbar vor der Weltversammlung Sorgen um seine berufliche Zukunft machen müsse.107 Nach einmaliger Verlängerung und Fortschreibung der rheinischen Versorgungsbezüge um ein Jahr schied Halaski zum 1. Oktober 1965 aus dem rheinischen Pfarrdienst aus und wechselte endgültig in den Dienst des Reformierten Bundes. Er habe sich, berichtete er einem Moderamensmitglied, »weiterhin in das Abenteuer meiner jetzigen Existenz begeben«.108 Ausgehend von seinen zahlreichen Korrespondenzen und den Kontakten der Weltversammlung agierte Halaski in den Jahren bis zu seiner Zurruhesetzung zunehmend auch international. Besonders im Blick – auch der RKZ – waren die Reformierten in den Niederlanden, der Schweiz, Ungarn und Siebenbürgen. Die Reformierte theologische Universität Debrecen verlieh ihm 1972 den theologischen Doktorgrad ehrenhalber. In den gesellschaftlichen Reformjahren um 1968 agierte das reformierte Establishment eher zurückhaltend, politische Debatten der zweiten Hälfte der 60er Jahre spielten keine große Rolle in den Diskursen des Reformierten Bundes.109 Globalkirchliche Aufbrüche wie Uppsala 1968 wurden eher kritisch wahrgenommen. Jüngere Mitglieder mussten nahezu erzwingen, dass mit Hannelore Jahr (später: Erhart) zum ersten Mal eine Frau ins Moderamen gewählt werden konnte. Anfang der 70er Jahre war man dann deutlicher politisiert.

105 106 107

Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Josef Hromádka. Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 50. Schreiben Niesels an das LKA Düsseldorf vom 18.Dezember 1962; Acta II betr. die Pfarrstelle in der evang[elischen] Gemeinde zu Gruiten reformiert 5, Nr. 183 Pf.A. (LKA Düsseldorf). 108 Brief Halaskis an OKR Johannes Schlingensiepen vom 11. Oktober 1965, in: PA. 109 Hans-Georg Ulrichs, Die Reformierten und »1968«: Wahrnehmungen und Wirkungen. Erste Anstöße zu einem liegen gebliebenen Thema, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 8), Wuppertal 2004, S. 183–202 (Wiederabdruck in diesem Band).

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Für den Abschied von Wilhelm Niesel als Moderator und die Wahl eines neuen Moderators wurde eigens eine Hauptversammlung einberufen, die 1973 in Siegen stattfand.110 Dort wurde auch der Generalsekretär Karl Halaski verabschiedet, der dann zum 1. Dezember 1973 in den Ruhestand eintrat. Ihm folgte Joachim Guhrt nach.111 Als Schriftleiter der RKZ wurde Halaski von Walter Herrenbrück jun. abgelöst.112 4. Reformierter Liturgiker Im Ruhestand verfolgte Halaski das Geschehen bei den deutschen Reformierten, trug einige Veröffentlichungen in der RKZ und andernorts bei. Dennoch ließ sich in der zweiten Hälfte der 70er und am Anfang der 80er Jahre, als der Reformierte Bund politisch-gesellschaftlich nach links rückte, eine gewisse Entfremdung nicht übersehen. Umso wichtiger war es, dass er seine langjährige Beschäftigung mit liturgischen Fragen weiterhin fruchtbar machen konnte. Hier war seine Expertise auch weiterhin gefragt, denn er war »fachkundig insbesondere im Bereich Gottesdienst und Liturgik – ein Wissen, das er trotz intensiver Schriftstellerei immer noch nicht zu Papier gebracht hat bzw. hat bringen können.«113 Halaskis liturgisches Wirken begann bereits Jahrzehnte zuvor. Noch als westfälischer Pfarrer in Wunderthausen war Halaski gebeten worden, die reformierten Stücke einer neuen westfälischen Agende 1948 zu bearbeiten.114 Halaski war nämlich durch sein Mitwirken an der reformierten Agende bekannt. Sie hatte bereits eine längere Geschichte aufzuweisen. In Deutschland wurde das von August Ebrard 1847 in Zürich herausgegebene »Reformierte Kirchenbuch« von Gerhard Goebel 1889 fortgeschrieben.115 Der Reformierte Bund hatte während seiner Haupt110

Zum Wechsel von Niesel zu Hans Helmut Eßer vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70 (Wiederabdruck in diesem Band), hier: S. 58f. 111 Es mutet merkwürdig an, dass Guhrt in seinen Memoiren den unmittelbaren Vorgänger Halaski mit keinem Wort erwähnt, weder seine großen Verdienste um die RKZ noch um den organisatorischen Aufbau des Reformierten Bundes und auch nicht um die Liturgie (s.u. 4.), vgl. Joachim Guhrt, Geschichten und Geschichte. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Lebens im 20. Jahrhundert, Bad Bentheim 2000. 112 Hans Helmut Eßer, Dank an Karl Halaski, in: RKZ 115 (1974), S. 53. 113 Walter Herrenbrück, Karl Halaski zum 70. Geburtstag, in: RKZ 119 (1978), Beilage Nr. 8, Dezember 1978. Hier wurden mehrere Beiträge Halaskis aus den vergangenen Jahrzehnten wiederabgedruckt. 114 Vgl. Karl Halaski, Agendennöte in Westfalen, in: RKZ 90 (1949), S. 71–74, hier: S. 71. 115 Vgl. Luca Baschera, Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818–1888). Entstehung, Gestaltung und heutige Relevanz, Zürich 2013, S. 29–33. – Die zweite Auflage

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versammlung 1938 den Auftrag erteilt, ein neues liturgisches Werk zu veranstalten. Dieses wurde dann 1941 von Ernst Wolf und Martin Albertz ediert.116 Halaski hatte darin die französischen Stücke bearbeitet und übersetzt. Zwar wird das Ebrard-Goebelsche Werk als der »einzige[.] Vorgänger« bezeichnet, aber auch scharf kritisiert: Es wurzele ganz im 19. Jahrhundert, große Teile der älteren Tradition fehlten, besonders die auf Bucer, Calvin und a Lasco zurückgehenden Werke. Das sollte revidiert werden. »Liegt das Schwergewicht bei dem Ebrardschen Buche auf dem 19. Jahrhundert, so bei uns auf dem 16. Jahrhundert.«117 Fast alles stammte aus der Zeit von vor 1740, Gebete des 19. und 20. Jahrhunderts wurden nicht mit aufgenommen,118 wohl aber die beiden Barmer Erklärungen vom Januar und Mai 1934.119 Das Agendenwerk wollte dezidiert auch als liberal verworfenen Tendenzen »einer Fehlentwicklung von etwa 200 Jahren« entgegentreten und beanspruchte für sich, sich biblisch neu orientiert zu haben.120 Es ist, trotz seiner Bemühungen um moderate sprachliche Erneuerung, ein eher konservatives und apologetisches Werk: Das Buch »will der Willkür wehren, die in den reformierten Gemeinden Deutschlands weithin herrscht. Es will gegenüber dem Einbruch lutherischer und unionistischer Formulare auf das Erbe der Väter hinweisen ... Auch muß das Vorurteil aufhören, demzufolge die Formlosigkeit das eigentliche Kennzeichen der reformierten Liturgie sei.«121 So wie die »Väter« sich gegen die römische Messe gewandt hätten, so müsse man nun »Widerstand« leisten gegen die »romantischen Repristinationen der Messe im romantischen Luthertum oder in der liturgischen Bewegung der Berneuchener und ähnlicher Gruppen.«122 Auch mit dieser konfessionell-konservativen Gedankenwelt, die innerhalb des bekenntniskirchlich orientierten Reformierten der Agende wurde dann posthum herausgegeben, nachdem Ebrards Kirchenbuch seit etwa drei Jahrzehnten in Bayern galt, vgl. a.a.O., S. 32f. Ebrard war 1847 von Zürich nach Erlangen gewechselt. – Vgl. Martin Evang, Der reformierte Gottesdienst in Deutschland, in: David Plüss u.a. (Hg.), Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektiven (Praktische Theologie im reformierten Kontext 15), Zürich 2017, S. 71–84, zu Ebrard 1847: a.a.O., S. 75–77; zu Ebrard/Goebel 1889: a.a.O., S. 77–79. 116 Kirchenbuch. Ordnungen für die Versammlungen der nach Gottes Wort reformierten Gemeinden deutscher Zunge, hg. von D. Ernst Wolf (Universitätsprofessor) und Lic. Martin Albertz (Verbi divini minister), München 1941. Die Beauftragung durch die Hauptversammlung 1938, a.a.O., S. 13. Vgl. Evang, Der reformierte Gottesdienst, a.a.O., S. 79f. 117 Kirchenbuch 1941, a.a.O., S. 12. 118 A.a.O., S. 14. 119 A.a.O., S. 297–302. 120 A.a.O., S. 12, vgl. S. 15. Vgl. auch die ausführliche »Theologische Grundlegung«, a.a.O., S. 17–42. 121 A.a.O., S. 13. 122 A.a.O., S. 18.

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Bundes und unter den Reformierten innerhalb der BK vorherrschte,123 war Karl Halaski vertraut. Sicher ließ dies nach 1945 auch eine Distanz zu seinem früheren Münsteraner Lehrer Wilhelm Stählin wachsen. Stählin gilt als einer der Begründer und Protagonisten der lutherischen liturgischen Erneuerungsbewegung im 20. Jahrhundert. »Zehn Jahre später kam auf Beschluß des Moderamens das handliche Kirchenbuch (Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde) von Karl Halaski heraus«.124 Eine Neubearbeitung des Kirchenbuches von 1941 war aus mindestens zwei Gründen nötig: zum einen war der Band 1941 unhandlich dick geraten und taugte deshalb kaum als Agende in der Hand des Liturgen, zum anderen fanden sich in den Gebeten für die Obrigkeit Formulierungen wie »Wir bitten dich auch für den Führer unseres Volkes und seine sämtlichen Ratgeber«,125 die nach dem Ende des NS-Schreckens nicht nur als opportun, sondern angesichts der Verbrechen als gänzlich verfehlt gelten mussten. Das Werk von 1951, das 1956 eine zweite Auflage erlebte, kann bis heute als Halaskis Meisterwerk gelten. Bei der Fortschreibung des liturgisch Probaten sollte einerseits eher eine »Handagende« zum praktischen Gebrauch geschaffen werden. Und zum praktischen Gebrauch gehörte andererseits, dass neben der Tradition »auch Gebete aus unserer Zeit und neue Versuche zur Gestaltung unserer Ordnungen, soweit sie sich bereits in der Gemeinde bewährt haben«, Berücksichtigung finden müssten.126 Die Gratwanderung zwischen einem »ungegenwärtigen« Traditionalismus und einem Modernismus versuche »eine echte Antwort auf das Wort Gottes, so wie wir es verstehen«. Allerdings intendierte man nicht, »den Benutzern des Buches eine bestimmte Auffassung des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Handlungen aufzunötigen.« Zwar solle »einem liturgischen Wirrwarr gesteuert werde[n]«,127 aber 123

Eher etwas hilflos wirkt die Beteuerung des Moderators Hermann Albert Hesse in seinem »Geleitwort«: »Das soll nicht bedeuten, als wollten wir nun einer Wiederauffrischung einer alten Zeit Vorschub leisten.« A.a.O., S. 15f., hier: S. 16. 124 Niesel, Der Reformierte Bund vom Kirchenkampf bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 45. – Zum Kirchenbuch von 1951 und seiner Neubearbeitung 1983 vgl. Evang, Der reformierte Gottesdienst, a.a.O., S. 81f. 125 Kirchenbuch 1941, a.a.O., S. 268, vgl. auch S. 13. 126 Kirchenbuch. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. vom Moderamen des Reformierten Bundes, Neukirchen 1951. Im Impressum steht vermerkt: »Dieses Kirchenbuch wurde erarbeitet vom liturgischen Ausschuß der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland unter der Leitung von Landessuperintendent D.Dr. Hollweg, dem liturgischen Ausschuß des Reformierten Bundes unter der Leitung von Pastor Karl Halaski und der Mitarbeit von Landessuperintendent Lic. Neuser.« 127 Dieser »Wirrwarr« wurde im Zusammenhang mit der eigenen »Zeit stärkster Bevölkerungsbewegungen« gesehen. Auf Grund starker lutherischer Zuzüge aus früheren ostdeutschen Gebieten wurden in unierten Kirchen reformierte Gemeindeprofile nivelliert (s.o. 1.5).

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man wolle »der berechtigten liturgischen Vielfalt nicht im Wege stehen«. Auch ein konstruiertes Ideal dürfe nicht »um seiner selbst willen durchgesetzt werden«. Das Werk solle so auch nicht konfessionalistisch reformiert wirken, sondern der ganzen »Gemeinschaft unter dem Wort dienen.«128 Gottesdienstgestaltung wie auch Theologie und Kirchenleitung standen für Halaski nicht im Dienst einer unhinterfragbaren Traditionspflege, sondern diese hatten die Aufgabe zu gewärtigen, das Evangelium in gegenwärtigen Kontexten zu plausibilisieren (Theologie) und authentisch auszudrücken (Liturgie). Trotz der Hegemonie der Barthschen Theologie gelang es Halaski mit der Agenden-Neubearbeitung, liturgische Freiräume zu öffnen. Gewiss war er Gefolgsmann Barths und der Bekennenden Kirche, blieb aber doch in kirchlichen Handlungsfeldern pragmatisch-liberal. In den folgenden Jahrzehnten129 hat Karl Halaski die liturgische Szene beobachtet und kritisch begleitet. Er kommentierte entstehende und veröffentlichte Agendenwerke und maß sie an dem von ihm als richtig Erkannten.130 Unübersehbar ist, wie ein Stichwort immer wiederkehrt: Freiheit. Dieses hat er vor allem gegen die nach 1945 immer wieder einmal ausbrechende Sehnsucht, zu alten Formen zurückzukehren, ins Felde geführt, etwa als die Gregorianik als die dem Evangelium und dem christlichen Gottesdienst am meisten entsprechende und nachgerade normative Musik dargestellt wurde. Sensibel nahm Halaski hier eine Klerikalisierung wahr, denn die Gregorianik sei eben Kleriker- und nicht Volksgesang. Mit CA VII131 wehrte er sich gegen eine liturgische Vereinheitlichung oder eine Hegemonie bestimmter liturgischer Ideen. Bei aller Wertschätzung alter und klassischer Musik und bei allem Respekt vor den Liturgien der »Väter« verwies Halaski auf die selbstverständlich fortlaufende Geschichte der Musik (bis hin zum besonders Anfang der 60er Jahre diskutierten Jazz im Gottesdienst) und deshalb auf die Freiheit der musikalischen Gottesdienstgestaltung: »Unser Gottesdienst ist frei«, konnte er emphatisch behaupten.132 Er forderte die eigene Konfessionsfamilie auf, bei liturgischen Tendenzen wachsam zu bleiben. Er 128 129

So im Vorwort, a.a.O. Vgl. den umfangreichen Abschnitt: Verlust der »Mitte«: Gottesdienst und Gottesdienstreform, in: Dimitrij Owetschkin, Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A 48), Essen 2011, S. 181–237. 130 Ein frühes und ein spätes Beispiel: Karl Halaski, Reformierter Gottesdienst in der Union? Zum Agendenentwurf der Evangelischen Kirche der Union (Nach Gottes Wort reformiert 9), Neukirchen 1956; ders. (Hg.), Gottesdienst. Drei Antworten auf eine Frage, Frankfurt/Main 1970. 131 »Es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden.« 132 Karl Halaski, Gregorianik – heute, in: RKZ 92 (1951), S. 169–174, hier: S. 174.

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blieb durch Jahrzehnte hindurch skeptisch: »[D]urch reichere Liturgie [kommen] keine schöneren Gottesdienste zustande«.133 Gottesdienst ist Versammlung der Gemeinde – und das seien nicht die »Gebildeten« allein, sondern vornehmlich die »schlichten Gemeindeglieder«, wie er an mehreren Stellen betont, auch um vor einer Willkür der Pfarrer zu warnen –, entsprechend müssten Formen Gemeinde gemäß sein, d.h. nicht ein Klerikergesang, sondern der Volksgesang diene Gott. Man dürfe die Sakramente – und die Liturgie – nicht kultisch und die Predigt nicht lediglich ethisch verstehen. Liturgische Freiheit sei nicht Willkür in den Formen, sondern die Freiheit, kultische Verirrungen abzuschaffen. Christus selbst wirke in der Gemeinde zum Heil, nicht der Mensch im Kult. Es könne so auch nicht um die »Bedürfnisse« von Menschen gehen, sondern um die »Anbetung im Geist und in der Wahrheit«.134 Wie Gemeinde und Gottesdienst im Wortsinn einen Raum erhalten, musste auch in den virulenten Debatten über den Kirchenbau in den 50er und 60er Jahren thematisiert werden, als zahlreiche Kirchenneubauten entstanden und das Konzept von Gemeindehäusern mit Sakralraum entwickelt wurde. Als Kunstliebhaber verfolgte Halaski solche Debatten, besuchte die Kirchenbautage und berichtete darüber in der RKZ. Dabei stritt Halaski nicht über unterschiedliche ästhetische Ideale oder Vorstellungen, wohl aber über implizite Theologien, so etwa, als Oskar Söhngen (1900–1983) über das Sakrale an sich sprechen konnte, das nur mit einem eigenen Sinn in baulicher Gestalt zu erspüren sei; jedenfalls müsse der Raum dem Geheimnisvollen und Dunklen der Gottheit entsprechen. Halaski bezweifelte, dass der Mensch in der Lage wäre, Räume zu schaffen, in denen Gott lieber wohne oder weniger gerne, in denen mehr Heiligkeit herrsche oder weniger. Statt die »oft scheußlichen Versammlungssäle« der Erweckungsbewegung oder die Gemeindehäuser der Gegenwart, in denen Gemeinde sich versammelte, um Gottes Wort zu hören, zu diskreditieren, polemisierte er lieber gegen »hohe[.] Kathedralen, in denen das Numinose hauste.«135 Halaski unterstützte Paul Tillich, der auf der Tagung für Evangelischen Kirchenbau 1961 vom »Pathos der Profanität gesprochen [hatte], welches der Protestantismus liebt.«136 Diesen Gedanken führte Halaski fort, als er sich darüber Gedanken zu machen hatte, »[w]as beim Bau reformierter Kirchen bedacht werden sollte«. Durch den Riss im Vorhang des Tempels während, ja wegen des Todes Christi sei »das Allerheiligste profa133

Karl Halaski, Thesen und Fragen zum Gottesdienst und zu seiner Gestaltung, in: RKZ 114 (1973), S. 154–158, hier: S. 154. 134 Karl Halaski, Was die Reformierten in Emden bedenken sollten, wenn sie über den Gottesdienst beraten, in: RKZ 97 (1956), S. 346f. 135 Karl Halaski, Evangelische Sakralität. Bericht über die 1. Tagung für Evangelischen Kirchenbau, in: RKZ 102 (1961), S. 280–283, hier: S. 282. 136 Ebd.

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niert«.137 Nach Christus brauche Gott keine Häuser bei Menschen, wohl aber die Gemeinde. Deren Häuser seien aber keine Heiligtümer noch enthielten sie Heiliges. »Reformierte[.] Kirchen« seien so »zu größter Sachlichkeit verpflichtet.«138 Kirchen dienten also allein dem Zweck der Gemeinde, weshalb man der Innengestaltung alle Mühe zuzuwenden habe, während das Äußere schlicht einladend sein möge. Entsprechend der liturgischen Freiheit, die Halaski vertrat, propagierte er auch keine allgemeingültigen Kirchenbaudogmen: »Das Leitbild eines ein für allemal vorbildlichen reformierten Kirchenraumes ist ein Widerspruch in sich selbst. Nach Ort, Zeit, Stil und Notwendigkeit, aber genauso nach Größe der Gemeinde und ihrer Eigenart mag es sehr unterschiedliche Lösungen des Raumproblems geben«. Es genüge, wenn der Raum eine gewisse »Würde« besäße.139 Darüber hinaus gäbe es nur wenige Punkte zu beachten, die einen entsprechenden gestalterischen Ausdruck finden müssten: Die Gemeinde versammle sich, geleitet würde sie nicht vom Pfarrer (quasi als Priester in einem hierarchischen System), sondern vom Presbyterium. Gott redet durch sein Wort, weshalb der Raum der Predigt zweckgemäß sein müsse, was aber weder eine Zentralstellung der Kanzel noch überhaupt die Notwendigkeit einer Kanzel bedeute. Die Einmaligkeit des Opfers Christi sei ernst zu nehmen, so dass der Abendmahlstisch auch nicht entfernt wie ein »Altar« gestaltet sein dürfe. Es dürfe bereits »problematisch sein, dem für ihren Vollzug benötigten Mobiliar den Namen von ›Prinzipalstücken‹ zu verleihen.«140 Die Taufe sei vor der Gemeinde vollzogen, und dafür müsse dann auch »Raum und Vorkehrung in der Mitte oder vor der versammelten Gemeinde [ge]schaffen« werden. Alles Weitere sei bescheiden zu gestalten, auch die Orgel, denn die Musik habe dienende Funktion. Im Übrigen bräuchte die Gemeinde nicht nur einen Gottesdienstraum, sondern auch weitere Räume für andere Äußerungen gemeindlichen Lebens. Für alle diese Gestaltungsaufgaben gelte: »Was und wie wir dies alles gestalten, kann und wird in der Freiheit der Kinder Gottes geschehen«.141 137 Karl Halaski, Was beim Bau reformierter Kirche bedacht werden sollte, in: Kunst und Kirche. Ökumenische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Architektur 25 (1962), S. 14f.20, hier: S. 14. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 A.a.O., S. 15. 141 A.a.O., S. 20. Ähnliche Positionen, allerdings ohne die von Halaski zugestandene »Freiheit«, bezieht auch Karl Barth, Zum Problem des protestantischen Kirchenbaus, in: Werk 8/46 (1959), S. 271 (abgedruckt auch in: André Biéler, Kirchbau und Gottesdienst, Neukirchen 1965, S. 103f. Für die Übersetzung dieses französischen Werkes hat sich offenkundig Halaski engagiert; er steuerte ein Vorwort zur deutschen Ausgabe bei, a.a.O., S. 7. Wahrscheinlich kannte Halaski also bereits die Originalausgabe: Liturgie et architecture. Le temple des chrétiens. Equisse des rapports entre la théologie du culte et la conception architecturale des églises chrétiennes, des origines à nos jours, Genf 1961). –

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

Allerdings müsste sich nicht nur möglicherweise zu kritisierendes Altes, sondern auch das neu Vorgeschlagene vor biblischen Grundsätzen verantworten. Im Jahr seiner Emeritierung mahnte Halaski realistisch: »Wer den ganzen Trubel der kirchlichen und gottesdienstlichen Neuheiten der letzten Jahrzehnte mitgemacht hat, weiß zumindest auch darum, wie viel Modisches in kürzester Zeit in die Mottenkiste gehört und leider auch dazu beiträgt, Verwirrung und Ärgernis zu bereiten«.142 Den zahlreichen Aufbrüchen in Liturgie und Unterricht um 1970 herum stand Halaski eher skeptisch gegenüber und genoss es wohl auch, dagegen »so temperamentvoll und einseitig Stellung« zu beziehen.143 Allerdings votierte er deshalb nicht für vorgeblich eindeutigere, feststehende Gottesdienstformen; vielmehr ist das Gegenteil der Fall: »Nach so viel Ordnung der Gottesdienste, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten fabriziert haben, wäre es gut, wenn wir wieder die Freiräume in den Ordnungen entdeckten.«144 Auch hier ist seine Selbstkritik einschließende Haltung deutlich: alte »Orthodoxie« solle nicht durch neue »Ideologie« ersetzt bzw. vielmehr fortgeschrieben werden. Im Jahr 1983 kam die Neubearbeitung des Kirchenbuchs von 1951 heraus, die als 3. Auflage gezählt wird; eine unveränderte 4. Auflage erschien 1990.145 Auch hier wurde es – in einem der alten Auflage eng entlehnten Vorwort – als eine Verengung liturgischer Arbeit angesehen, beschränkte man sich »auf die Pflege konfessioneller Traditionen«. In der Bindung an die Schrift werde man »frei …, unsere liturgischen Traditionen bei aller Beachtung nicht gesetzlich zu verstehen oder gar anzuwenden.« Alte Vorlagen seien verwendet, aber »nicht buchstäblich übernommen« worden. Auch diese Agende möge als Angebot und als Modell gebraucht werden, nicht als normative Vorgabe. In der zugesagEin zeitgenössisches Beispiel für einen reformierten Kirchenneubau beschreibt Otfried Hofius, Die Christuskirche Eiserfeld als Zentralbau und Gemeindekirche, in: RKZ 108 (1967), S. 164–167. Vgl. auch Barths Brief an Hofius vom 24. Januar 1967, in: Karl Barth, Briefe 1961–1968, hg. von Jürgen Fangmeier und Hinrich Stoevesandt, Zürich 1975, S. 380f. – Vgl. auch Lothar Kallmeyer, Kirchbau als Zeichen? Gedanken zur neuen Versöhnungskirche Detmold West, in: RKZ 110 (1969), S. 26–28; der Name »Versöhnungskirche« kann angesichts der Dominanz der Versöhnungslehre Karl Barths KD IV kein Zufall sein. – Neben einigen Überlegungen zum Kirchenbau in der reformierten Schweiz vgl. zum Thema aktuell Sabine Dreßler / Andreas Mertin (Hg.), Einsichten. Zur Szenografie des reformierten Protestantismus, Solingen 2017. 142 Halaski, Thesen und Fragen, a.a.O., S. 156. 143 A.a.O., S. 158. 144 A.a.O., S. 157. 145 Bearbeitet wurde diese Neuausgabe von Karl Halaski, Walter Herrenbrück (jun.), Helmut Tacke und Günter Twardella. Die altertümelnde Frakturschrift von 1951/1956 wurde 1983 durch eine moderne Type ersetzt. – Das Erscheinen der neuen »Reformierten Liturgie« im Jahr 1999 erlebte Halaski nicht mehr. Immerhin behielt man den alten Untertitel bei: »Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde«. – Vgl. Evang, Der reformierte Gottesdienst, a.a.O., S. 82–84.

4. Reformierter Liturgiker

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ten Gegenwart Jesu Christi in der versammelten Gemeinde seien »Freiheit und Grenzen für unser gottesdienstliches Tun gegeben«.146 Im Kontext der Arbeiten zur Neuauflage 1983 ist ein gerade expressionistisch anmutender Aufsatz Halaskis zu sehen, der in einer Festschrift für den neuen Moderator des Reformierten Bundes erschien.147 Diese »unordentlichen Anmerkungen« lassen sich nur schwer zusammenfassen, aber es fällt doch der durchgehend (selbst-)kritische Ton auf. Wer sich als Liturgiker beschäftige, sei zahlreichen Unwägbarkeiten und Gefährdungen ausgesetzt. Biblische Begründungen sind relativ, wie der erste Satz der »Anmerkungen« bereits erahnen lässt: »Paulus war kein guter Liturgiker.« (S. 405) Dennoch sollte man in liturgischen Begründungszusammenhängen Entsprechungen zum Worte Gottes suchen und nicht nur »Vergangenes auf[arbeiten]« (S. 406). Expertentum, auch das liturgische, neigt zur Überschätzung eigenen Tuns; auch Liturgiker müssten verstehen, dass »die Predigt wichtiger als die Liturgie« ist (S. 407).148 Auch Hymnologen könnten weit übers Ziel hinausschießen, wenn sie neben dem Gemeindegesang – reformatorisch auch gerne nach volkstümlichen Melodien – noch Klerikergesang in der Liturgie forderten. Einerseits war Halaski also befremdet über professionelle Liturgiker, die mit historischen Fündlein die Entwicklung eines gegenwärtigen Gottesdienstes behinderten, andererseits wusste er auch um die Gratwanderung zwischen solchen Traditionalisten und den Progressiven der 70er und 80er Jahre und warnte davor, den Gottesdienst als »Tummelplatz für aktionslüsterne Pastoren« zu verstehen (S. 409). Diese sollten die »Freiheit« nicht im eigenen Sinn missbrauchen, mit der allerdings völlig zu Recht Agenden immer gebraucht worden seien (S. 410). Es sei gerade auch die Freiheit der Gemeinde zu schützen, der weder von »Fachleuten« noch von »auf Neues Erpichten« eine Liturgie übergestülpt werden dürfe (S. 413). Es müsse sogar Raum sein für Spontanes, ja für Störungen. Ausgehend vom Blinden von Jericho (Markus 10,46–52) fragt Halaski: »Was würde geschehen, wenn in einem unserer wohlgeordneten Gottesdienste jemand schreien würde: ›Jesus, Du Sohn Davids, erbarme dich mein‹?« (S. 411) Und jenseits aller Ausrichtungen und Bewertungen gelte schließlich: »Die beste Liturgie ist nichts nütze, wenn 146 147

So im Vorwort zu 3. Auflage 1983, S. 8. Karl Halaski, Unordentliche Anmerkungen zur Ordnung des Gottesdienstes, in: »Wenn nicht jetzt, wann dann?« Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, hg. von Hans-Georg Geyer u.a., Neukirchen-Vluyn 1983, S. 405–413. – Folgende Belege oben im Text als Seitenangaben. 148 So hatte man sich – mutmaßlich unter der Federführung Halaskis – bei den Reformierten um praktische Orientierungen in der Predigtarbeit bemüht, etwa in einer Erklärung des Moderamens aus dem Jahr 1967 »Predigtauftrag und Predigtnot«, die als eine »Hilfe für die Amtsbrüder im Sinne einer Brücke vom Text zur Predigt« gedacht war, in: KJ 94 (1967), S. 50–52, Zitat: S. 49.

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

sie sich nicht in einem Leben dankbaren Gehorsams vor der Kirchentüre fortsetzt.« (S. 413) Das war zum Schluss nochmals ein genuin reformierter Akzent, der sich auch von der 103. Frage des Heidelberger Katechismus inspirieren lässt: Nach der Beschreibung des christlichen Gottesdienst heißt es dort »zum anderen«, dass »an allen Tagen meines Lebens« eine gottwidrige Lebensführung zu meiden sei. 5. Ruhestand Neben den Fragen des Gottesdienstes war es vor allem ein langwieriges Projekt, das Halaski von seiner Berufstätigkeit mit in den Ruhestand nahm. Für die ambitionierte konfessions-kundliche Reihe »Die Kirchen der Welt«, die im Evangelischen Verlagswerk Stuttgart erschien, hatte Paul Jacobs (1908–1968) bereits größere Teile für den Band über die reformierten Kirchen weltweit zusammengestellt, als er 1968 verstarb. Halaski übernahm das liegen gebliebene Werk und konnte es erst 1977 publizieren. Die bereits von Jacobs so gewählte divergente Darstellungsform, in der die reformierten Kirchentümer sich quasi je selbst darzustellen hatten, wurde von Halaski als sachgemäß bezeichnet. »Kirche als Kirche Jesu Christi ist zuerst Ortskirche, Gemeinde, die sich unter dem Wort Gottes versammelt. Sie ist damit zugleich Glied der universellen Kirche; die Einheit der Kirchen – auch innerhalb der eigenen Konfessionsfamilie – ist vorgegeben und bleibt zugleich Forderung nach dem wirkungskräftigen Zeugnis für die ›eine heilige, allgemeine christliche Kirche‹.«149 Bei aller Bindung an Jesus Christus, an Bibel und Bekenntnis – auch »unter verantwortlicher Würdigung der Zeugnisse der ›Väter und Brüder‹« – werde das Kirchesein kritisch kontrolliert »nach der jeweils eigenen Erkenntnis«, so dass das aktuelle Bekenntnis »vielfältig und vielgestaltig« ausgesprochen worden sei, denn »Tradition wie aktuelle Herausforderung sind in den verschiedenen Zeiten und Gebieten unterschiedlich.«150 Es müsse zudem konstatiert werden, dass man sogar mit »gemeinsame[m] Selbstverständnis« dennoch in der Praxis unterschiedliche, ja sogar »gegensätzliche Entscheidungen treffen« könne. So sei es bei allem Bemühen nicht einfach, als weltweite Reformierte »mit einer Stimme zu sprechen.«151 Die Form der Selbstdarstellungen der jeweiligen Kirchen habe auch darin eine Grenze, als »daß in einigen Beiträgen außer dem Geschriebenen das Verschwiegene mitgelesen werden müßte.« Hier wird Halaski alle reformierten Kirchen gemeint ha149 Karl Halaski, Vorwort, in: ders., (Hg.), Die Reformierten Kirchen (Die Kirchen der Welt XVII), Stuttgart 1977, S. 13f., hier: S. 13. 150 Ebd. 151 A.a.O., S. 14.

5. Ruhestand

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ben, die in unfreien gesellschaftlich-politischen Verhältnissen existierten, namentlich die reformierten Kirche des damaligen Ostblocks (ČSSR, Ungarn, Rumänien) und in Südafrika. Neben dem Vorwort stammte noch ein Nachtrag zu Jacobs’ Beitrag über Deutschland (S. 118–143) aus Halaskis Feder (S. 143–147). Hier betonte er durchaus auch als intendierte Korrektur zu Jacobs’ Darstellung, dass die deutschen Reformierten »nicht einfach als ›Calvinisten‹ zu vereinnahmen sind«, und verwies auf die theologische Eigenständigkeit des HEIDELBERGERS (S. 144), der in konfessionell strittigen Topoi »gleichsam einen neuen Weg beschreitet«. Reformierte Theologie sei deshalb weniger konfessionell bestimmt als vielmehr gesamtchristlich betrieben worden; konfessionelle Auseinandersetzungen spielten für die reformierte Theologie in Deutschland »eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle.« »Doch soll nicht beschönigt werden, daß es ausgesprochen reformierte Streithähne gegeben hat.« (S. 144) Ob ihm dabei neben den alt-reformierten Kontroverstheologen auch etwa Wilhelm Niesel und andere Zeitgenossen vor Augen standen? Es ist deutlich: Intransigente Konfessionalisten waren Halaski eher fremd. Das galt dann in den 80er Jahren wohl auch für politische Ideologen in den Reihen der Reformierten in Deutschland. Die ihm Wohlgesonnenen rühmten Halaskis Unabhängigkeit: Er könne auch gegen den Strom schwimmen, sei nicht in gängige Kategorien wie »links« und »rechts«, »progressiv« oder »konservativ« einzuordnen. Als ökumenisch Interessierter habe er einen weiten Horizont und sei »alles andere als ein provinzieller Spießer.« Und doch blieb er »in manchem altmodisch …, etwa, wenn es um die Sache des Predigens ging, um Unterricht, Seelsorge und Gemeindeaufbau, jedenfalls mißtrauisch gegenüber allen kurzatmigen, neumodischen Reformversuchen. Halaski, eigentlich nie kleinkariert, kann pingelig sein, wenn es um die Sache geht«. De facto zählte man ihn doch zu den Älteren, aber anders als andere, die sich Neuerem verschlossen, blieb Halaski bei aller Skepsis gegenüber Modernisierungen doch »fair und sachlich«.152 So war er auch im Ruhestand ein geachteter und zu Rate gezogener Mann, auch wenn er die Mehrheitsmeinungen der deutschen Reformierten in der Friedensfrage153 und im jüdisch-christlichen Dialog154 nicht zu teilen bereit war. Freilich erwiesen sich gerade diese beiden Topoi als entscheidende identity-marker der Reformierten bis zu 152 Walter Herrenbrück, Karl Halaski zum 70. Geburtstag, in: RKZ 119 (1978), Beilage Nr. 8, Dezember 1978. 153 Halaski sah in der Friedensfrage keine Bekenntnisfrage und lehnte deshalb die Erklärung eines status confessionis in der bekannten Moderamenserklärung von 1982 ab, vgl. Karl Halaski, Fragen an das Moderamen, in: RKZ 123 (1982), S. 274f. Vgl. auch Walter Herrenbrück, Karl Halaski 75, in: RKZ 124 (1983), S. 284f. 154 Vgl. Walter Herrenbrück, Ein Dankbrief an einen Verstorbenen. Erinnerungen an Karl Halaski, in: RKZ 137 (1996), S. 109–112, hier: S. 111.

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»Ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«

Halaskis Lebensende, so dass es durchaus zu Erfahrungen von Entfremdung zur eigenen Konfessionsfamilie bzw. zu deren Meinungsmachern kam. Halaski hatte wesentlich mit definiert, was man im dritten Vierteljahrhundert im kirchlichen Leben und in der kirchlichen Praxis unter »reformiert« zu verstehen hatte, und zwar sowohl intern als Schriftleiter der RKZ, als Interpret des Heidelberger Katechismus und als Generalsekretär als auch nach außen als kirchlich-theologischer Publizist. Er tat dies zeitgleich mit Wilhelm Niesel, mit dem er zahlreiche biographische Parallelen aufzuweisen hatte. Mit Halaski und Niesel standen in diesen Jahrzehnten zwei Männer an der Spitze der deutschen Reformierten, die nicht von Herkunft, sondern aus Überzeugung reformierten Bekenntnisses waren. Und doch agierten sie völlig unterschiedlich, und ihre jeweilige Ausstrahlung mutete gänzlich verschieden an: Während Niesel steif, streng und nicht eben herzlich wirkte, keinen theologisch-kirchlichen und damit auch keinen persönlichen Widerspruch zu dulden schien, wirkte Halaski feinsinnig gebildet, musisch und literarisch interessiert, persönlich gewinnend. Man könnte ihn als reformierten Kosmopoliten bezeichnen. Nicht nur die typisch barthianische Pfeife, sondern auch ein Glas Rotwein oder Hausmusik mit seiner Frau am Klavier und ihm selbst an der Querflöte, Theaterbesuche und zahlreiche Reisen waren fester Bestandteil seines bildungsbürgerlichen Lebens. Halaski konnte zwar auch konfessionell die Klingen kreuzen, tat dies jedoch eher elegant mit dem Florett. Während Niesel auf Grund seiner Theologie, die sich aus dem Erbe Johannes Calvins, der Schülerschaft Barths und den Erfahrungen des Kirchenkampfes speiste, für den »Gehorsam« des Glaubens eintrat und sich neuen Entwicklungen kaum öffnen konnte,155 konnte Halaski gerade auch mit BARMEN die »Freiheit« in der Bindung an das Evangelium und mit dem HEIDELBERGER das dankbare »Leben« betonen. Die reformierten Ideologen der 80er Jahre schrieben, wenn auch mit anderen politischen Vorzeichen, den Kurs Niesels fort. Der vielleicht politisch konservative, aber habituell liberale Halaski fand dagegen keine Nachfolger. Es wurde übersehen, wie eigenständig und damit »frei« Halaski Zeit seines Lebens geblieben war. Kirchenleitungen und einer Überschätzung von Theologie gegenüber blieb er reserviert: Von Kirchenleitung dürfe man nicht »in einer uns vom Neuen Testament her unerlaubten Weise kirchlich institutionell denken«, weshalb Halaski auch an »Karl Barths unbequemes ›Quousque tandem‹« erinnerte.156 Alle 155

Halaski erinnerte sich der regelmäßigen Geburtstagsbesuche beim Ehepaar Niesel in Königstein: »Während Niesel zu der Zeit schon mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebte, waren [Martin Niemöller] und die viel ältere Frau Niesel an allem interessiert, was heute geschah und wie es sich weiter entwickeln würde.« Halaski, Autobiographie Theologen, Abschnitt über Martin Niemöller. 156 Halaski, Die Presse ist nicht Kanzel, a.a.O., S. 42f.

5. Ruhestand

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»leitenden Funktionäre« der Kirche stünden »in Gefahr«, mit »dem öffentlichen Leben« »die Kirche als eine der großen Ordnungs- und Geistesmächte repräsentativ einzuordnen«.157 Nach Dissonanzen bei der Vorbereitung der HEIDELBERGER-Feiern 1963 mit dem Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe unkte er, darin zeige sich eben, »daß wir wohl einer Illusion folgen, wenn wir die Landeskirchen gar zu sehr in der Nähe der Kirche Jesu Christi sehen.«158 Halaski war auch irritiert von den »volkskirchlichen Pragmatiker[n], die immer so gerne machen, was den Leuten gefällt. Ob es Gott, dem Herrn, gefällt, kann dann so schön außerhalb aller Erwägungen bleiben.«159 Und was auf Kirchenleitung gemünzt war, wurde von ihm auch der Theologie ins Stammbuch geschrieben: »Richtige Theologie führt nicht zur richtigen Theorie vom Gottesdienst« – und auch nicht zwangsläufig in anderen kirchlichen Handlungsfeldern, wie sicherlich hinzugefügt werden darf.160 Der Hochbetagte trat naturgemäß immer weniger in Erscheinung. Im Jahre 1988 konnte Halaski noch »frisch und gesund« seinen 80. Geburtstag161 begehen, wie er in einem Dankschreiben mitteilte. Am 25. Januar 1996 verstarb Karl Halaski 87jährig in Frankfurt. Die Trauerfeier fand am 31. Januar 1996162 statt, dem Tag der Diamantenen Hochzeit. Halaskis Witwe überlebte ihren Mann um fast zwanzig Jahre und verstarb 2015. Das offiziöse Kirchliche Jahrbuch 1996 meldete Halaski unter den wichtigen verstorbenen Protestanten des Jahres.163 Und dennoch wurde seiner seit seinem Tod im reformierten Protestantismus kaum noch gedacht.164 Mit ihm ging sein Format einer konfessionellen reformierten Identität verloren: klassisch und zeitgenössisch gebildet, elegant und eloquent, konservativ und liberal zugleich, irenisch und doch auch konfessionell selbstbewusst, überzeugend und selbstkritisch, einnehmend und nicht abgrenzend, fromm und politisch.

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A.a.O., S. 45. Brief Halaskis an Niesel, Frankfurt 18. Januar 1963, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 345 [41.15] Heidelberger Katechismus 1947–1963. 159 Halaski, Thesen und Frage, a.a.O., S. 158. 160 Karl Halaski, Was die Reformierten in Emden bedenken sollten, wenn sie über den Gottesdienst beraten, in: RKZ 97 (1956), S. 346f., hier: S. 347. 161 Vgl. Jörg Schmidt, Karl Halaski zum 80. Geburtstag am 9. November 1988, in: RKZ 129 (1988), S. 342. 162 Vgl. die Predigt mitsamt Nachruf: Helmut Hollenstein, Nachruf auf Karl Halaski, in: RKZ 137 (1996), S. 60f. 163 KJ 123 (1996), S. 498. 164 Herrenbrück, Ein Dankbrief an einen Verstorbenen, a.a.O.

»Kirchenleitung im Anschluß an … Karl Barth« Walter Herrenbrück als reformierter Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik

1. Einleitung Die Theologie Karl Barths wirkte insbesondere innerhalb reformierter Kontexte nach 1945 hegemonial. Nach den Erfahrungen, die Reformierte während des Kirchenkampfes mit dem Resistenzpotential dieser Theologie gemacht hatten, kann dies nicht verwundern. Zahlreiche theologiegeschichtliche Studien belegen diese Vormachtstellung eindrucksvoll. Aber wie wurde mit dieser »eindeutigen« Theologie in den neuen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen, in einer pluralen Demokratie Kirche gestaltet? Welche praktische »Kirchenleitung« entsprach dieser Theologie? Was ist auf diesem Hintergrund historisch deskriptiv reformierte Kirchenleitung, was ist seinerzeit implizit reformierte Ekklesiologie? Diese Fragen sollen in den folgenden Ausführungen biographisch-exemplarisch zu beantworten versucht werden. In einer Rückschau auf die Verfassungswirklichkeit der Evangelischreformierten Kirche resümierte der seinerzeitige juristische Vizepräsident Berthold Fokken: »Der neue Landeskirchenvorstand [sc. seit 1946] unter der starken Führung von Kirchenpräsident [Friedrich] Middendorff und der theologischen Klarheit und Schärfe des späteren Landessuperintendenten D. [Walter] Herrenbrück … hoffte auf ein ganz neues Verständnis der Kirchenleitung im Anschluß an die Vorstellungen von Karl Barth.«1 Während sich der im Kirchenkampf überaus tapfere Friedrich Middendorff (1883–1973) entsprechend seiner pietistischen Prägung am Ende seiner Berufsbiographie nicht zuletzt der »Volksmission«2 zuwandte, führte der junge Walter Herrenbrück (1910–1978) mit seinen 1

Berthold Fokken, Von der Kirchengemeinde- und Synodalordnung 1882 zum Loccumer Vertrag 1955, in: Elwin Lomberg u.a. (Bearb.), Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, Weener 1982, S. 325–356, hier: S. 343. 2 Middendorff muss an der Gestaltung eines Lebens aus dem Glauben gelegen haben, dafür konnte er auch sehr unterschiedliche Tätigkeitsfelder suchen: So engagierte er sich im »Blauen Kreuz« gegen den Alkoholmissbrauch, genauso aber auch in der Deutschen Friedensunion (DFU), für die er sogar kandidierte. Zu Middendorff auch nach dem Kirchenkampf vgl. Antje Donker, Art. Middendorff, Friedrich Justus Heinrich, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 255f.; Karl Koch, Art. Middendorff, Friedrich Justus Heinrich, in: BBKL XVII (2000), S. 976–981.

2. Biographischer Überblick

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frühen ekklesiologischen Arbeiten und einer durchaus kampfeslustigen Barth’schen Theologie als Rüstzeug sein kirchenpolitisches Engagement fort und stand bald in der ersten Reihe. Mit Herrenbrück bekleidete ein unmittelbarer Barth-Schüler eines der leitenden geistlichen Ämter innerhalb des deutschen Protestantismus in der Frühphase der Bundesrepublik. Nachdem jedoch die großen theologischen Hoffnungen auf die kirchlichen Realitäten trafen, die Lust am Gestalten durch die Last am notwendigen Erhalten gedämpft wurde, schwanden die Kräfte.3 In einem singulären Akt wechselte Herrenbrück nach einer Legislaturperiode vom kirchlichen Leitungs- ins gemeindliche Pfarramt zurück.4 An Herrenbrücks Weg sind die Erwartungen, dann aber auch die Begrenzungen einer an Barth angelehnten Kirchenleitung und Kirchenpolitik zu illustrieren. Mit den von ihm herausgegebenen »Bezirksbruderbriefen« (BBB) verfügte Herrenbrück über ein wichtiges Instrument zur Kommunikation seiner Interessen und hinterließ gleichzeitig eine interessante Quelle für die reformierte Kirchengeschichte der 40er bis 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. 2. Biographischer Überblick 2.1 Herkunft und frühe Prägungen Walter Herrenbrück wurde am 3. April 1910 in Stockport (England), einem Vorort von Manchester, geboren, wo der Vater Ernst als Kaufmann die Interessen der Bayer-Werke Leverkusen vertrat.5 Nach Kriegsausbruch wurde dieser interniert und konnte England erst nach dem Kriegsende verlassen. Die Mutter wurde mit ihren drei Kindern im Sommer 1915 ausgewiesen und zog nach Elberfeld, ihrer und ihres Mannes Geburtsstadt; Mutter Herrenbrück entstammte der »Nieder3

»Diese Hochstimmung [sc. die Hoffnung auf ein ganz neues Verständnis von Kirchenleitung] verflog aber bald.« Fokken, Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 344. 4 Die kurzzeitigen gemeindlichen Tätigkeiten von Hans-Wolfgang Heidland und Johannes Friedrich nach dem Ende ihrer Bischofszeiten sind mit der tatsächlichen Rückkehr ins Pfarramt durch Walter Herrenbrück bis zu seiner Verrentung nicht vergleichbar. Erst der Rücktritt des auf Lebenszeit gewählten Oldenburger Bischofs Jan Janssen im Jahr 2017 und sein Wechsel in ein Auslandspfarramt der Seemannsmission sind mit dem Wechsel Herrenbrücks vergleichbar. 5 Diese und die weiteren Angaben nach der »Lebensbeschreibung« (Bonn, 10. Mai 1933) zur Meldung zur Ersten theologischen Prüfung, in: LKA Leer, Personalakte, Nr. 19 des Kandidatenverzeichnisses, Nr. 126 des Predigerverzeichnisses (im Folgenden: PA Herrenbrück). Diese Angaben liegen auch dem »Lebensweg« in der Predigt bei der Beerdigung Herrenbrücks zu Grunde (wohl von Gerhard Nordholt), abgedruckt in: Kirchenbote. Blatt der evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland 22 (1978), Nr. 8, August 1978, S. 1–3.

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»Kirchenleitung im Anschluß an … Karl Barth«

ländisch-reformierten Gemeinde« und brachte deren kohlbrüggianische Tradition gewiss ins Familienleben ein. Während der Gymnasialzeit, also in der ersten Hälfte der 20er Jahre, wechselte die Familie nach Opladen; der Vater war in Leverkusen bei Bayer beschäftigt. Nach einem erneuten Umzug, der auf Grund der Entstehung der I.G. Farben und der Umsiedlung von deren Verwaltung nach Frankfurt erforderlich war, besuchte Walter Herrenbrück ab 1926 ein Frankfurter Reformrealgymnasium (Wöhlerschule), das er Ostern 1928 mit dem Reifezeugnis verließ. Da der Vater Prokurist der I.G. Farbenindustrie A.G. war, wird die Familie in gut situierten Verhältnissen gelebt haben. Religiös wurde Walter Herrenbrück bereits in Opladen stark geprägt vom Schüler-Bibelkreis (SBK) und vom »Kohlbrüggianer« Wilhelm August Langenohl (1895–1969), der seit 1922 als Pfarrer in Opladen wirkte. In Frankfurt hielt sich die Familie nicht zur reformierten Gemeinde, die eher liberal geprägt war,6 sondern zur französisch-reformierten Gemeinde, wo es seit 1927 mit Josef Simsa (1863–1940) einen erweckten reformierten Pfarrer mit tschechischen bzw. mährischen Wurzeln gab, der bereits in Wien und Halle, dann aber vor allem in Barmen tätig gewesen war. Die Gemeinde stand bereits seit Frühjahr 1933 auf Seiten der Bekennenden Kirche (BK). Ernst Herrenbrück übernahm in dieser Gemeinde für viele Jahre leitende Funktionen und verfasste eine bis heute gültige Gemeindechronik.7 2.2 Studium und kirchliche Ausbildung Den Beginn des Studiums der evangelischen Theologie verbrachte Herrenbrück zum Erlernen des Hebräischen und Griechischen auf der soeben eröffneten Theologischen Schule Elberfeld, die unter der Leitung von Otto Weber (1902–1966) stand.8 Nach zwei Semestern wechselte er 6 Neben zwei anderen Pfarrern wirkte dort der bedeutende Dr. Erich Foerster (1865– 1945); er stand später ganz bei der Bekennenden Kirche, wurde als liberaler Theologe aber marginalisiert. Foerster repräsentierte geradezu das Gegenteil von Langenohl. Vgl. seine Autobiographie: Lebenserinnerungen von D. Erich Foerster (1895 bis 1945), nach seiner Handschrift von Mai und Juni 1943 neu geschrieben und mit Ergänzungen versehen von seinem Enkel Erich Schulz-Du Bois, Preetz 1996; Martin Laube, Die deutsche (reformierte) Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (Forschungen zur Reformierten Theologie 3), NeukirchenVluyn 2015, S. 33–47, hier: S. 45–47. 7 Die französisch-reformierte Gemeinde Frankfurt (Main). Ihr Bild in Vergangenheit und Gegenwart. Im Auftrage des Konsistoriums zusammengestellt und herausgegeben von Ernst Herrenbrück, Ehrenpräses, Frankfurt 1961 (Erstauflage 1954). 8 Vgl. Vicco von Bülow, »Hier gibt sich […] kund ein Handeln der reformierten Kirche Deutschlands«. Ein kurzer Abriß der Geschichte der Theologischen Schule Elberfeld unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfangsjahre 1928-1932, in: Harm Klueting /

2. Biographischer Überblick

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Ostern 1929 für drei Semester nach Tübingen; diese Semester »waren hauptsächlich den theologischen Elementarien gewidmet«, wie sich Herrenbrück erinnerte. Das Wintersemester 1930 führte ihn zu Emil Brunner nach Zürich: »Dieses Semester ist für mich besonders fruchtbar geworden. Die Brunnersche Dogmatik hat mir wesentliche Erkenntnisse vermittelt, daneben war die persönliche Berührung mit dem Lehrer von Einfluss.« Nach einem Semester in Bonn (Sommersemester 1931), in dem er zwar auch bei Karl Barth hörte, vor allem aber Neues Testament studierte, wandte er sich wiederum für ein Semester nach Zürich (Wintersemester 1931), um neben praktisch-theologischen Fächern auch Brunners Ethik zu hören. Herrenbrück beendete schließlich sein Studium in Bonn, wo er spätestens jetzt auch an Barths »offenen Abenden« teilgenommen haben dürfte, und an der Theologischen Schule Elberfeld, bis er sich im Herbst 1933 der Ersten theologischen Prüfung unterzog. Bei der Meldung zum Examen schätzte er seine Studienjahre so ein: »Im eigentlichen Sinne Spezialstudien habe ich bisher nicht aufgenommen. Dagegen war während der ganzen Studienzeit, mit Ausnahme des zweiten Zürcher Semesters, meine Teilnahme an verschiedenen Jungreformierten Arbeitsgemeinschaften für mich von Bedeutung.«9 Der junge Herrenbrück war mithin von dezidiert theologisch konservativen Reformierten geprägt worden, die zu den Jungreformierten gehörten: Wilhelm August Langenohl, Otto Weber10, Emil Brunner. Er wird durch diese Kontexte bereits während des Studiums Kontakte zu wichtigen Personen auch innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover aufgebaut haben – zum Landessuperintendenten Walter Hollweg in Aurich, zu Pastor Peter Schumacher in Uelsen u.a.11 – Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 277–289. 9 Der »Jungreformierte Kreis (Studenten)« Tübingen bedankte sich 1930 bei Karl Barth für die Publikation von »Quousque tandem«, einer äußerst kirchenkritischen Schrift; vgl. Postkarte, unterzeichnet von Paul Jacobs, Walter Herrenbrück u.a., Tübingen, 1. Februar 1930 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9330.57). Zu der Bonner Gruppe vgl. Herwart Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf [BGLRK XXXVII], Neukirchen-Vluyn 1974, S. 39f. Vgl. Vorläufige Sätze der Jungreformierten Arbeitsgemeinschaft in Bonn, in: RKZ 82 (1932), Nr. 50 (11. Dezember 1932), S. 392. An diesem Dokument wird Herrenbrück also mitgeschrieben haben. – Für die Schweiz, wo Emil Brunner eine besondere Rolle spielte, vgl. Peter Aerne, Religiöse Sozialisten, Jungreformierte und Feldprediger. Konfrontationen im Schweizer Protestantismus 1920–1950, Zürich 2006. 10 Weber und Herrenbrück haben sich ein Leben lang begleitet, vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999, s.v. Herrenbrück (S. 477). 11 Indirekt geschah dies sicher auch über Johann Nikolaus Dietzen, dem früheren Kirchenpräsidenten der Auricher Landeskirche, der nach seiner Emeritierung nach Frankfurt zog und von 1931 bis 1936 als Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde wirkte und so mit Herrenbrücks Elternhaus verbunden war.

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und er wird Freundschaften mit anderen Theologiestudenten wie Heinrich Bernds (1901–1945), Alfred Göhler (1907–1985), Werner Koch (1910–1992), Heinz Otten (1909–1942), Friedrich-Wilhelm Rethmeier (1910–1943) und Hellmut Traub (1904–1994) geschlossen haben. Immer mehr jedoch orientierte sich Walter Herrenbrück offenkundig an Karl Barth. In den Wochen nach dem Erscheinen von Barths »Theologische Existenz heute!« im Juli 1933 entwarfen Herrenbrück und Rethmeier einen mehrteiligen Text gegen die Deutschen Christen (DC) und legten diesen Entwurf, der die Diskussionen um die »Freiheit des Evangeliums« aufnahm sowie Anleihen bei den »Düsseldorfer Thesen« machte, ihrem Lehrer Barth Mitte August vor.12 Die »Freiheit des Evangeliums« bekunde sich eben auch darin, dass man Grundsätzliches der Deutschen Christen, aber auch der nationalsozialistischen Weltanschauung zurückwies. Theologische Einsicht führte zur politischen Meinungsbildung: »Gott wäre nicht Gott, wenn er irgendetwas neben sich dulden würde und könnte. So auch nicht die Werte des Volkstums, der Rasse und des Blutes … Vor Gott gibt es kein Ansehen der Person, auch nicht des arischen Menschen! Als Mensch steht er genauso dürftig und sündig vor Gott wie jeder Angehörige eines anderen Volks und einer anderen Rasse. Wer arisches Wesen zu einem besonderen Fundament in der christlichen Kirche machen will, … der treibt Abgötterei, der hat die Freiheit des Evangeliums verraten, verraten zugunsten seiner eigenen Werthaftigkeit rassischer Art.«13 Das war zwar binnenkirchlich gesprochen, nämlich im Kontext der anstehenden Einführung des »Arierparagraphen« in der Kirche, musste aber auch die Haltung zum »neuen« Staat prägen.14 Es sei nötig, als »wahre Christen« nicht mehr zuzuwarten, sondern »in diesem ernsten Augenblick der Entscheidung« eine »Front für die Freiheit des Evangeliums« zu gründen und in einen »Kampf« einzutreten, der wie alle Kämpfe auch »Tote und Verwundete« fordern könne. Karl Barth nahm den Text – bei einiger Kritik – wohlwollend zur Kenntnis, bremste die jungen Studierenden allerdings in ihrem Eifer 12 Brief (4 Seiten lang!) Herrenbrücks und Rethmeiers an Barth, Bonn, 12. August 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9333.596). 13 Zit. nach: Karl Barth, Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch unter Mitarbeit von Bartolt Haase und Barbara Schenk, Zürich 2004, S. 356. Original in Karl-BarthArchiv, Basel, Nr. 16132.1. 14 So versandten Herrenbrück und Rethmeier den vierseitigen Entwurf nicht mit ihrem ausführlichen Brief, sondern gesondert »[a]n zwei der nächstfolgenden Tage«, »da ein allzu umfangreicher Umschlag vielleicht den Verdacht der Grenzbehörden erwecken könnte, zumal die Untersuchung der Postsachen gesetzlich erlaubt ist.« A.a.O. Barth verlebte die vorlesungsfreie Zeit des Spätsommers 1933 in seiner Schweizer Heimat.

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und warnte davor, noch eine weitere kirchenpolitische »Front« aufzubauen. Vielmehr müsse der Widerstand gegen die DC zunächst »ganz in der Sphäre des Geistlich-Geistigen« gehalten werden.15 So wurde dieser Text dann auch nicht publiziert, sondern kursierte als Abschrift unter gleichgesinnten jungen Theologen. Barth gab die Gedanken des Textes wohl in seinem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Synode am 4. Januar 1934 wieder.16 In den folgenden Monaten verlor sich dieser Entwurf dann. Walter Herrenbrück meldete sich in Aurich zum Examen. Mehr als vier Jahrzehnte später erinnerte er sich: »Daß mein Weg von Frankfurt und von meiner rheinischen Heimat weg ausgerechnet nach Ostfriesland führte, hing mit der Anziehungskraft zusammen, die [Landessuperintendent Walter] Hollweg – in diesem Falle auf dem Umweg über Pastor W.A. Langenohl – ausübte. Sein Name stand für gute Theologie, humane Kirchenleitung und sachgemäße Kandidatenausbildung.«17 Nach der Ersten theologischen Prüfung, die am 5. September sowie am 10. und 11. Oktober 1933 stattfand und die mit »sehr gut« bewertet wurde, wurde Herrenbrück als Lehrvikar zu Studiendirektor Hermann Albert Hesse (1877–1957) abgeordnet und konnte so in Elberfeld wohnen bleiben. Vom Herbst (wohl November) 1933 bis Ende April 1934 unterrichtete Herrenbrück Latein und Hebräisch an der Theologischen Schule, hielt dort Andachten und erledigte »Bureauarbeiten« bei H.A. Hesse, der Anfang Januar 1934 August Lang als Moderator des Reformierten Bundes ablöste und zu den entschiedenen Vertretern der Bekennenden Kirche gehörte.18 Hesse orientierte sich immer mehr an

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Brief Barths an Herrenbrück, 30. August 1933, in: ders., Briefe 1933, a.a.O., S. 356–358. Original in Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9233.219. – Barth hat seine Kritik milde formuliert. Tatsächlich ist der Entwurf des »Aufruf!« ein Beleg dafür, dass die Kohlbrügge-Tradition hier nicht sonderlich hilfreich war: Der Ausgangspunkt wurde bei der umfassenden Sündhaftigkeit von Mensch und Welt genommen, worunter auch »Rasse« und »Zeitgeist« zu summieren seien. Konkrete Ketzereien der Deutschen Christen kommen dann nicht in den Blick. In einer dann doch merkwürdigen Trennung von Glauben und Welt wird dezidiert der Nationalsozialismus nicht kritisiert, sondern lediglich die Deutschen Christen. Der Text des »Aufruf!« ist im übrigen nicht präzise und knapp formuliert, sondern viel zu weitläufig, um tatsächlich Wirkung hätte erzielen zu können. Vgl. noch Herrenbrücks Briefe an Barth, Bonn, 20. September 1933 (Karl-BarthArchiv, Basel, Nr. 9333.690), und Elberfeld, 1. Dezember 1933 (a.a.O., Nr. 9333.987). 16 Vgl. Karl Barth, Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, hg. von Michael Beintker u.a., Zürich 2017, S. 65– 83, hier: S. 68f. mit Anm. 20. 17 Walter Herrenbrück, Walter Hollweg. Erinnerung und Dank, in: RKZ 115 (1974), S. 140–143, hier: S. 141. 18 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes zu Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von

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Barth, suchte dessen Rat, wie dies auch die Barth-Schüler taten.19 Herrenbrück berichtete dem Bonner Lehrer: »Hier in Wuppertal, wo ich als Vikar von Pastor D. Hesse an der Theologischen Schule unterrichte, macht sich je länger desto mehr viel gute Erkenntnis bemerkbar, und Ihre Schriften werden mit Freude und Dankbarkeit begrüßt. D. Hesse kämpft an der Spitze zahlreicher Männer einen unerschrockenen Kampf gegen die Verfälschung des Evangeliums und gegen alle Unwahrheit. Gott gebe, daß das nicht vergeblich ist.«20 Diese Auseinandersetzungen haben Herrenbrück, der Hesse auch bei kirchenpolitischen Reisen nach Berlin und anderswohin begleitete, gewiss nachhaltig geprägt: »So traurig alles ist, was wir täglich sehen und hören müssen, so ist es doch auch wahr, daß gerade die Not der letzten Monate uns einmal ganz praktisch gelehrt hat, was es heißt, Glied der Kirche Christi zu sein, und was es nicht heißt. Jetzt ist die Kirche namentlich für uns Studenten nicht mehr bloß ein theologischer locus …, sondern auch eine lebendige Wirklichkeit, für die wir kämpfen und, wenn es sein muß, auch leiden dürfen. Dieser Gewinn ist schon einen hohen Preis wert.«21 Ab dem 1. Mai 1934 war Herrenbrück für ein Jahr Vikar und Hausgenosse bei Pastor Peter Schumacher in Uelsen, wo es nicht ganz konfliktfrei gewesen zu sein scheint.22 In dieser Zeit wurde die Barmer Theologische Erklärung bekannt, es traten die ersten beiden Reichsbekenntnissynoden zusammen, vor allem wurde der Herbst 1934 aber für die reformierte Landeskirche von großer Bedeutung, da sich die »Bekenntnisgemeinschaft« (BG) innerhalb der Landeskirche im November bildete; ihr fühlte sich Herrenbrück sogleich verbunden und wurde deren Mitglied.23 Zunächst ist sich Herrenbrück mit anderen jungen BarthSchülern sicher, dass die Kirche und besonders die Bekennende Kirche mit Barth gehen sollte. So schreibt er Werner Koch, der seinerzeit zu Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70, hier: S. 42f.47f. (Wiederabdruck in diesem Band). 19 So fragten W. Herrenbrück, F.W. Rethmeier, Werner Koch u.a. bei Barth an, wie man sich angesichts eines Eides zu verhalten habe, der möglicherweise demnächst nicht zuletzt von den Theologiestudierenden und Kandidaten gefordert werde, da diese in die SA gezwungen würden, vgl. Brief an Karl Barth, Frankfurt, 20. März 1934 (Karl-BarthArchiv, Basel, Nr. 9334.361). 20 Brief Herrenbrücks an Barth, Elberfeld, 1. Dezember 1933 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9333.987). 21 Ebd. 22 Über diese Zeit findet sich ein Studienbericht vom 4. Dezember 1934 in PA Herrenbrück. 23 Eine Erklärung Herrenbrücks, der noch nicht ordiniert war, aber dennoch zur BG gehören wollte, als Beilage seines Briefes an Karl Barth, Uelsen, 7. November 1934 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9334.1060); hier fragt Herrenbrück auch nach der Einschätzung Barths, ob die Auricher Kirchenleitung tatsächlich nicht mehr Hüterin des Bekenntnisses sei und deshalb die Gründung der BG als legitim gelten müsse. Vgl. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 626f.

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einem von der DC-Kirche verantworteten Schulungskurs für Jugendarbeit abkommandiert war, im August 1934: »Weißt Du, dieser Mann [sc. Karl Barth] ist einfach ein Riese, eine völlig einmalige Gestalt in unserer kirchlich so dürren Zeit, ein Prophet und ein Richter, wie das Volk Gottes ihn seit der Reformationszeit nicht mehr gehabt hat. [Sc. Die Kirchenleitung in] Aurich täte gut daran, sich mit ihm zu verbünden, statt seine Weisheit immer wieder von dem doch wahrlich ausreichend kompromittierten Professor [Otto] Weber aus Göttingen zu beziehen … Leider ist die kirchenpolitische Haltung meines Chefs [sc. Walter Hollweg] sehr anfechtbar. Sie schwankt allzu sehr.« Einige Wochen später zeigt sich Herrenbrück schon etwas weniger sicher: »Vielleicht haben wir alle Unrecht. Vielleicht erweist Aurich der Kirche den besten Dienst.«24 Da hatte sich die Auricher Kirchenleitung das ›reformierte Sicherungsgesetz‹ von der deutschchristlich dominierten Nationalsynode geben lassen, das ihr in Fragen des Bekenntnisses und anderer parktischer Fragen eine Art ›Bestandsschutz‹ einräumte. Im Hause Schumachers – und von diesem wohl maßgeblich vorbereitet25 – fanden im Dezember 1934 die Beratungen zum Uelsener Protokoll26 statt, an denen Karl Barth teilnahm, um die Kirchenleitung und die Bekenntnisgemeinschaft auf einen gemeinsamen theologischen und kirchenpolitischen Kurs zu bringen. Wie Heinz Otten hatte sich auch Walter Herrenbrück darum bemüht, Barth als theologischen Repräsentanten der BK und die Auricher Kirchenleitung wieder ins Gespräch zu bringen. Herrenbrück erlebte im reformierten Kirchenkampf also hautnahe sowohl den konsequenten kirchenpolitischen Kurs Hermann Albert Hesses in Elberfeld als auch den »mittleren« Weg des Kohlbrüggianers Peter Schumacher wie auch die Strategie Walter Hollwegs mit, die kirchliche Institution zu bewahren – das letztere sollte nicht als Selbstzweck verstanden werden, sondern als Ermöglichung eines Freiraums für 24

Briefe Walter Herrenbrücks an Werner Koch vom 15. August 1934 bzw. 13. September 1934 (Nachlass Werner Koch), zit. nach Günther van Norden, Ein rheinischer Pfarrer im Kirchenkampf, oder: Finkenwalder Solidarität, in: Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Deutschsprachige Sektion, Nr. 114 / November 2016, S. 47–65, hier: S. 49, Anm. 2. 25 So erinnerte sich Herrenbrück später daran, in dieser Zeit gemeinsam mit Peter Schumacher bei Barth zu Hause in Bonn gewesen zu sein, vgl. Brief Herrenbrücks an Barth, Leer, 9. Mai 1957 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9357.337). 26 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig ...« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: RKZ 136 (1995), S. 82–89 (vgl. auch den betreffenden Exkurs im Beitrag über Heinz Otten in diesem Band); Helma Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …« Zur Lage innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933–1937, Wuppertal 2009, S. 135–141; Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, a.a.O., S. 626–637.

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den Glauben. Den Weg seines Elberfelder Lehrers Otto Webers zu den Deutschen Christen und in staatskonforme kirchliche Gremien und Funktionen hinein wird Herrenbrück entschieden ablehnt haben. Neben den Predigtdiensten und dem Konfirmandenunterricht konnte sich Herrenbrück während seiner Uelsener Zeit intensiv mit Johannes Calvin, besonders aber auch mit konservativen Reformierten wie Abraham Kuyper, Eduard Böhl und Adolph Zahn beschäftigen. Eine Frucht dieser Studien war ein theologisch signifikanter Aufsatz in der Reformierten Kirchenzeitung (RKZ) über »Gesetz und Evangelium«.27 Signifikant ist hier zunächst, wie stark und selbstverständlich Theologie als eine Funktion der Kirche in Anspruch genommen wird: Immer wieder wird »die Kirche« als Subjekt der rechten Lehre benannt. Signifikant ist sodann, dass und wie die ganze Theologie christologisch verstanden wird.28 Und signifikant ist schließlich die deutlich wahrnehmbare Kontextualität und Aktualität: Ein »Anknüpfungspunkt« wird abgelehnt, ein »Volksnomos« wird eher bespöttelt wie auch die »deutschgläubige Anthropologie«, vor allem aber wird trotz traditionell kritischer Aussagen im Zusammenhang mit dem Gesetz und den Werken von Herrenbrück ausgeführt, dass »dem Volke Israel eine Würde [eignet], deren Gott kein anderes Volk der Erden für wert gehalten hat.« (S. 266) Das war reformierte Theologie in der Gefolgschaft Karl Barths. Offenbar hegte Herrenbrück wissenschaftliche Ambitionen, wahrscheinlich angestoßen von Peter Schumacher und bestärkt vom Landessuperintendent Walter Hollweg. Im April 1935 bat Herrenbrück den Landeskirchenrat in Aurich, ihn für ein Jahr vom kirchlichen Dienst zu beurlauben, um sich auf eine Promotion vorzubereiten.29 Thema der projektierten Arbeit sollte nach einigen Erwägungen »Kohlbrügge als wissenschaftlicher und praktischer Schriftausleger« sein. Herrenbrück fragte bei Barth an, ob er die Arbeit betreuen könne, und erklärte sich sofort bereit, mit dieser Arbeit auch nach Basel zu gehen.30 Ab Mai 1935 27

Walter Herrenbrück, Gesetz und Evangelium. Eine biblisch-theologische Untersuchung, in: RKZ 85 (1935), S. 257–259.265–268. 28 Um nur zwei Spitzensätze zu zitieren: »Jesus Christus … ist …[d]em gleich, der zu Mose sagt: ›Ich bin, der ich bin; ich werde sein, der ich sein werde.‹« (S. 257) »Mose [schaute] auf dem Berge Sinai die Herrlichkeit Jesu« (S. 267). 29 Vgl. Schreiben Herrenbrücks an den Landeskirchenrat, 18. April 1935; das Gesuch wurde genehmigt vom 1. Mai 1935 an, vgl. PA Herrenbrück. – Einen gravierenden Vorwurf erhebt Jürgen Sternsdorff gegen Herrenbrück: Dieser habe im März 1935 nicht nur eine »durchaus unterwürfige Mitteilung« und eine Distanzierung von der BG an Hollweg geschickt, sondern sich angeboten, Hollweg mit »Einzelheiten« aus der reichsweiten BK zu versorgen. Vgl. Jürgen Sternsdorff, Gerrit Herlyn zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Treue zu Adolf Hitler in der Bekennenden Kirche, nach unveröffentlichten Quellen, Marburg 2015, S. 84, Anm. 233. 30 Brief Herrenbrücks an Karl Barth, Uelsen, 4. März 1934 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9334.264).

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lebte Herrenbrück zunächst bis September in Emlichheim, dann wieder in Elberfeld. Dort erfolgte die Examensvorbereitung, während der er eine Arbeitsgemeinschaft an der Theologischen Schule Elberfeld über Barths soeben erschienenes Buch »Credo« leitete.31 Seine schriftliche Hausarbeit »Die Lehre vom kirchlichen Amt in den reformierten Bekenntnisschriften«32 wurde im Jahr darauf in der von Ernst Wolf herausgegebenen bekenntniskirchlichen Zeitschrift »Evangelische Theologie« unter dem Titel »Politia spiritualis« (zu übersetzen als »Geistliche Ordnung«) veröffentlicht.33 Die Themenwahl war Mitte der 30er Jahre nicht zufällig. Bekenntniskirchliche Theologen, vor allem auch BarthSchüler, widmeten sich ekklesiologischen Themen und gingen dabei in der Regel von der theologischen Tradition – etwa den Bekenntnisschriften – aus.34 Mit diesem »Beitrag zum Verständnis reformierter Ämterlehre« wollte Herrenbrück im Kontext der entsprechenden jüngeren Untersuchungen von Lutheranern und Reformierten die Überwindung von Missverständnissen unterstützen (vgl. S. 1) und »der konfessionellen Verständigung … dienen« (S. 20); »diese Arbeit [ist] wesentlich irenischer Natur« (S. 21, Anm. 6). »In reformiertem Sinne von Kirche zu reden« (S. 2) bedeute, so Herrenbrück, von der »uneingeschränkter Herrschaft Christi« (S. 3) in ihr zu sprechen. Kirche sei immer ecclesia militans: »Sie kämpft … und streitet mit dem Fleisch, mit der Welt und mit … dem Teufel, mit der Sünde und dem Tode« (S. 3 mit einem Zitat aus der von Heinrich Bullinger verfassten Confessio Helvetica posterior). Theologie und Glaube versuchten nicht, die empirische Kirche zu deuten, sondern die Kirche als Leib Christi zu verstehen, wodurch freilich äußere Zuschreibungen wie Kirchenordnungen und Kirchenrecht nicht überflüssig würden (S. 5 mit Anm. 21). Ordnungen würden in den der Kirche nötigen »Ämtern« konkret, die von »Funktionen« zu unterscheiden seien (S. 8). Notwendig seien das Predigt- und das dem nahe stehende Lehramt sowie das von den Ältesten (zu denen auch der Prediger zu zählen sei) auszuübende Amt der »Aufsicht und Zucht« (im Zusammenhang mit dem Abendmahl, S. 9) – dabei ginge es nicht um »Menschenherrschaft in der Gemeinde« (S. 10), die immer ein corpus permixtum bleibe, sondern um die Mitteilung der der Kirche aufgetragenen 31 Karl Barth, Credo. Die Hauptprobleme der Dogmatik dargestellt im Anschluß an das Apostolische Glaubensbekenntnis. 16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Utrecht im Februar und März 1935, München 1935. – Die Widmung »1935!« nannte fünf BK-Pastoren (u.a. auch Hermann Albert Hesse) und schloss »im Gedenken an Alle, die standen, stehen und stehen werden.« 32 Die Studie liegt vor in der PA Herrenbrück. 33 Walter Herrenbrück, Politia spiritualis. Ein Beitrag zum Verständnis reformierter Ämterlehre, in: EvTh 4 (1937), S. 1–22. 34 Genannt seien beispielhaft Helmut Gollwitzer, Wilhelm Niesel, Harmannus Obendiek, Heinrich Vogel, später auch Heinz Otten.

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Botschaft. Es gäbe entsprechend als reformiertes Spezifikum drei (!) notae ecclesiae: die Predigt des Evangeliums, die Verwaltung der Sakramente und die Kirchenzucht als »censura morum et doctrinae« (S. 18f.). Dagegen sei nicht prinzipiell, wohl aber faktisch notwendig das Diakonat (S. 17). Die Erkenntnis, dass nicht Menschen, sondern Gott die Kirche regiere, könne »davor bewahren, allzu leidenschaftlich die Letztverbindlichkeit unserer Prinzipien kirchlicher Gestaltung zu betonen.« (S. 20) Auch in der »lutherische[n] Praxis mit ihrem monarchischen Prinzip« des einen Amtes der Kirche könne sich »wirkliches Gemeindeleben« (S. 21) ereignen. Trotz ekklesiologischer Differenzen gäbe es durch die Zuordnung zum Wort Gottes als der »Quelle und Norm« im Gespräch der beiden evangelischen Konfessionen über das »Amt« die Verheißung »kirchlicher Gemeinschaft« (S. 21). Althergebrachte Konfessionsdifferenzen sollten die bekenntniskirchliche Einigkeit nicht verhindern. Um diese Einheit bemühten sich junge BK-Theologen. Offenbar blieb Herrenbrück auch den Verbindungen zu den Schülerbibelkreisen treu, möglicherweise über persönliche Beziehungen zu Udo Smidt (1900–1978),35 der von 1930 bis 1934 als deren Reichswart fungierte. In einer auch deutlich gegen den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg agierenden Schriftenreihe dieses Milieus publizierte Herrenbrück seine Überlegungen zur Kirchengestaltung in popularisierter Form.36 Am 21. April 1936 bestand Herrenbrück die Zweite theologische Prüfung mit »sehr gut«. Zwei glänzende Examina wiesen ihn als einen überdurchschnittlichen Theologen aus; eine wissenschaftliche Qualifikation in Form einer Promotion gelang ihm jedoch nicht. Möglicherweise hatte er sich, obwohl weiterhin wissenschaftlich und publizistisch tätig, auch bewusst gegen einen solchen Weg entschieden: Wenige Monate nach dem Examen heiratete er am 31. August 1936 Anna-Helene Buß, die Tochter der lutherischen Pastorenwitwe Buß aus Loga (bei Leer), und wechselte in den gemeindlichen Pfarrdienst. Dem Ehepaar wurden in den folgenden Jahren drei Söhne geboren. 2.3 Im kirchlichen Dienst 1937–1945 Herrenbrück verließ also Elberfeld, war vom 7. Mai 1936 bis 24. April 1937 Hilfsprediger in Tergast und fungierte dort nach seiner Ordination am 25. April 1937 als Pastor. Neben den pastoralen Aufgaben in diesem kleinen rechtsamisischen Dorf zwischen Leer und Emden, zu dessen Pfarrbezirk auch die sechs Kilometer entfernte Gemeinde Gandersum gehörte, fand er offenbar einige Muße auch zur theologischen 35

Vgl. Antje Donker, Art. Smidt, Udo Gerdes (1900–1978), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 1, Aurich 1993, S. 324f. 36 Walter Herrenbrück, Die geistliche Ordnung der Kirche (Schulungsblätter evangelischer Jungmannschaft 10), Hannover 1936.

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Fortbildung. So rezensierte er viel für die RKZ, vor allem systematischtheologische Arbeiten, und gehörte 1937 schon zu möglichen Kandidaten für die Schriftleitung. Für die von Wilhelm Niesel herausgegebene Sammlung der »Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der reformierten Kirche« (München 1938) bearbeitete Herrenbrück die »Confessio Helvetica posterior«37 und konnte damit seine Studie zum Zweiten Examen fruchtbar machen. In Tergast begann Herrenbrück mit seinen Auslegungen des Heidelberger Katechismus, die ihn sein Leben lang beschäftigen sollten. Nachgerade selbstverständlich war ihm die Positionierung bei der Bekennenden Kirche. Herrenbrück und seine Freunde trafen sich reihum in den Pfarrhäusern auf dem Land zu bekenntniskirchlichen theologischen Arbeitsgemeinschaften als »motorisierte BK«, wie es unter Gemeindegliedern hieß, da die jungen Pastoren Motorrad fuhren. Seit dem Jahr 1937 bildeten die Freunde Lic. Alfred Göhler, Heinz Otten, Friedrich-Wilhelm (Willi) Rethmeier, Fritz Schipper (*1910, Pastor der Oldenburgischen Kirche, vermisst an der Ostfront), Walter Herrenbrück u.a. auf diese Art einen bekenntniskirchlichen »Theologischen Arbeitskreis«. Hier wurde im kleinen Kreis Theologie getrieben und vertraulich die aktuelle kirchenpolitische Situation besprochen. Trotz theologischer Nähe zum Landessuperintendenten Hollweg wuchs das Unverständnis dieses Kreises zumeist direkter Barth-Schüler über den kirchenpolitischen Kurs der Auricher Kirchenleitung, als dessen Tiefpunkt Hollwegs Unterschrift unter der so genannten Godesberger Erklärung zu gelten hat. Hollweg hatte im Mai 1939 auf der »Kirchenführerkonferenz« eine – abgeschwächte – Erklärung des Kirchenministers Hanns Kerrl unterschrieben, in der man sich nicht nur verpflichtete, das »völkisch-politische Aufbauwerk des Führers« zu unterstützen, sondern betonte, dass christliches Leben des von Gott geschaffenen Volkstums bedürfe und eine »verantwortungsbewußte Rassenpolitik« zur »Reinerhaltung« des Volkstums erforderlich sei. Hollweg gehörte wenig später zu den wenigen ›Kirchenführern‹, die die unveränderte schärfere Fassung unterschrieben: Die nationalsozialistische Weltanschauung bestimme den deutschen Menschen und sei für den christlichen deutschen Menschen verbindlich; nur so und nur innerhalb des »Volkstums« könne sich christlicher Glaube kraftvoll entfalten.38 Spätestens an diesem Punkt 37 Ein Vorwort Herrenbrücks zu diesem Bekenntnis in: BSORK, S. 219f. Es sei bedauerlich, dass sie »noch nicht Gegenstand eingehender Untersuchung gewesen« sei, läge doch in der Confessio »eine wahrhaft klassische Darstellung reformierter Theologie« vor. – Diese Confessio spielte bereits in Herrenbrücks Beitrag über die »Politia spiritualis« (s.o.) eine herausragende Rolle. 38 Vgl. Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (damals: Evangelisch-refor-

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bestanden für die jungen Brüder keine Kooperationsmöglichkeiten mehr mit einer derart korrumpierten Kirchenleitung. Nach 1945 hatten Hollweg und Herrenbrück solche grundlegenden Differenzen aufzuarbeiten. Bereits ab 1939 musste der junge Vater Walter Herrenbrück Kriegsdienst leisten. Nach seiner Ausbildung war er für anderthalb Jahre in Dänemark stationiert, danach mehrere Jahre in Odessa am Schwarzen Meer, wo er überwiegend mit Bürotätigkeiten betraut war. Während des Rückzuges verlebte er einige Wochen in Debrecen, wo er an der reformierten Fakultät noch den bis dahin jüngsten Band der KD lesen konnte.39 Briefe Herrenbrücks als Soldat und aus der kurzen Gefangenschaft an die Gemeinde wurden vermutlich im Pfarrhaus abgeschrieben, vervielfältigt und in der Gemeinde verteilt. Herrenbrück überlebte den Krieg im Rang eines Feldwebels. Aus seinem Freundeskreis fielen jedoch Otten, Rethmeier und Schipper. 2.4 Im kirchlichen Dienst 1945–1951 Herrenbrück kehrte noch im Jahr 1945 in den Gemeindepfarrdienst ins ostfriesische Tergast zurück. Er stellte sich sofort auch für überparochiale und -regionale Dienste zur Verfügung und half mit, kirchliche Strukturen wieder funktionsfähig zu machen. Von August 1946 bis August 1950 war er Superintendent (bzw. Vorsitzender des Bezirkskirchenrates) des III. Bezirks der reformierten Landeskirche und wurde als erst 36jähriger auf der ersten Landessynode im Oktober 1946 als ehrenamtliches Mitglied in den Landeskirchenrat gewählt. Landessuperintendent Hollweg, der 1939 für weitere zwölf Jahre – also bis 1951 – gewählt worden war, stand trotz scharfer Kritik etwa Friedrich Middendorffs in der Synode nicht zur Disposition.40 Trotz derselben theologischen Wurzeln waren Hollweg und Herrenbrück im Kirchenkampf unterschiedliche Wege gegangen, und dies hing gewiss nicht zuletzt damit zusammen, dass Herrenbrück ein Barth-Schüler geworden war, während Hollweg sich dezidiert nicht als »Barthianer« verstehen konnte. Dennoch sind sich beide offenkundig relativ rasch wieder näher gekommen, allerdings überließ Hollweg bereits jetzt mehr und mehr Herrenbrück die »Richtlinienkompetenz« für den Kurs der Landeskirche, vielleicht nicht im Auricher Konsistorium, wohl aber wahrnehmbar in der kirchlichen Öffentlichkeit und nicht zuletzt in der Pfarrerschaft der Landeskirche. mierte Landeskirche der Provinz Hannover) (AGK 8), Göttingen 1961, S. 42f.; Wever, »Wir wären ja sonst stumme Hunde gewesen …«, a.a.O., S. 277f.; Siegfried Hermle / Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, Nr. 238f., S. 470–477. 39 KD II/1 war 1940 erschienen. Barth-Schriften waren unterdes in Deutschland verboten. 40 Vgl. die Rede Middendorffs auf der Landessynode 1946, in: Middendorff, Der Kirchenkampf in einer reformierten Kirche, a.a.O., S. 178–182 (Dok. 29).

2. Biographischer Überblick

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Während der ersten Hauptversammlung des Reformierten Bundes vom 1. bis 3. Oktober 1946 in Detmold wurde Walter Herrenbrück ins Moderamen gewählt und begleitete den von 1946 bis 1973 als Moderator fungierenden Wilhelm Niesel in zunehmend kritischer Distanz. Treu stand er dagegen zu seinem Lehrer Karl Barth, den er nicht allein in theologischen, sondern auch in politischen Auseinandersetzungen zu verteidigen gewillt war.41 Herrenbrück übernahm in diesen Jahren auch publizistische Verantwortung, etwa für die Reformierte Kirchenzeitung und kurzzeitig für die bekenntniskirchliche Zeitschrift Junge Kirche in deren Herausgeberkreis, wo er zwischen den »Lagern« zu vermitteln versuchte;42 möglicherweise führten Meinungsverschiedenheiten mit »radikalen« BK-Vertretern dazu, dass Herrenbrück aus diesem Gremium bald wieder ausschied. Über mehrere Jahre war Herrenbrück Lizenzträger der Buchhandlung des Neukirchener Erziehungsvereins und danach VerlagsMitarbeiter. Im Jahr 1949 sollte Herrenbrück wieder nach Elberfeld wechseln, um die Leitung des reformierten Predigerseminars zu übernehmen, aber auf Drängen des Landeskirchenvorstands verblieb er in der reformierten Landeskirche, doch wohl mit der Perspektive, bald ein leitendes Amt anvertraut zu bekommen.43 Zunächst aber übernahm Herrenbrück im August 1950 ein Pfarramt in Leer. 41 Es gab einen regen Briefwechsel zwischen Barth und Herrenbrück, der sich nach Dienstantritt als Landessuperintendent 1951 nochmals intensivierte, der freilich nicht selten über Charlotte von Kirschbaum geführt wurde. Gelegentlich profitierte auch Barth von dem musikalisch und literarisch beschlagenen Herrenbrück; dieser brachte Barth etwa auch mit Peter Adenauer, einem Sohn des Bundeskanzlers, in Kontakt. Herrenbrück versicherte nahezu in jedem Brief Barth seine Dankbarkeit, seine Zuneigung, ja die Liebe eines Schülers zum Lehrer (»Was mich persönlich betrifft, so kann ich nicht anders, als mich wie ein Kind freuen, dass ich zu Ihren Füssen habe Theologie studieren dürfen und dass ich das Wort Gottes in der uns von Ihnen vollmächtig bezeugten theologischen Existenz verkündigen darf.« Brief Herrenbrücks an Barth, Aurich, 7. Mai 1952 [Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9352.260]). Barth ließ Herrenbrück im Mai 1946 alle drei bis dahin erschienenen KD-Bände zustellen. Als Barth im Juli 1946 seinen Vortrag »Christengemeinde und Bürgergemeinde« auch in Papenburg (etwa 40 Kilometer von Tergast entfernt) hielt, konnte Herrenbrück seinen Lehrer nach gut einem Jahrzehnt wiedersehen. Im Rückblick geradezu legendär verklärt wurden ganz frühe »Begegnungen«, etwa als der Schüler Herrenbrück während einer Fährüberfahrt nach Baltrum im August 1925 von einem Jugendleiter auf den mitreisenden berühmten Professor aufmerksam gemacht wurde (vgl. Brief Herrenbrücks an Barth, Aurich, 7. Mai 1955 [Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 93355.266]) oder auch Barths Vortrag über Jakobus 2 bei einer theologischen Veranstaltung 1927/1928 des Reformierten Bundes, bei der auch Herrenbrück anwesend war. 42 Etwa bei einer Auseinandersetzung zwischen Hermann Ehlers und Hans Joachim Iwand, vgl. Andreas Meier, Hermann Ehlers. Leben in Kirche und Politik, Bonn 1991, S. 303–305. 43 Die Leitung des reformierten Predigerseminars übernahm 1951 dann Herrenbrücks Freund Udo Smidt, der später Landessuperintendent in Detmold werden sollte.

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2.5 Landessuperintendent 1951–1963 Von Hollweg in den Jahren nach 1945 mehr als nur geduldet, von der Mehrheit innerhalb der kirchenleitenden Gremien und der Landessynode zu Beginn der Bundesrepublik gewollt, trat Walter Herrenbrück dann an die Spitze der landeskirchlichen Verantwortung. Ab dem 1. November 1951 führte er – im jungen Alter von 41 Jahren! – das Amt des Landessuperintendenten und hatte Hollweg damit aus dem Amt gedrängt (s.u. 3.2–3.4). Herrenbrück verstärkte in den Folgejahren sein kirchenpolitisches Engagement nicht nur in der reformierten Szene, wo er seit 1954 als stellvertretender Moderator des Reformierten Bundes wirkte, sondern auch auf Bundesebene innerhalb der EKD, etwa als einer der leitenden Geistlichen in der Kirchenkonferenz. Ein besonderer Höhepunkt seiner Amtszeit war sicherlich der Richtung weisende Loccumer Vertrag 1955 zwischen den evangelischen Landeskirchen und dem Land Niedersachsen. Dahingegen musste er seine wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten einschränken, versah aber in den Jahren von 1958 bis 1963 einen Lehrauftrag für reformierte Glaubenslehre an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg. Herrenbrück fand für sein Wirken viel Anerkennung. Die theologische Fakultät der Universität Göttingen promovierte ihn 1956 zum Ehrendoktor, die Ostfriesische Landschaft würdigte mit der Verleihung des »Indigenats« seine Verdienste um den Wiederaufbau historischer Kirchen und um die sichergestellte Versorgung der Gemeinden. Vor dem Dienstantritt Herrenbrücks als Landessuperintendent und ebenso danach gab es erhebliche Probleme innerhalb der Landeskirche. Streit erhob sich über die zu lasch gehandhabte »Entnazifizierung« und über manche Voten, die diese überhaupt ablehnten, es schwelten Personalkonflikte mit schwierigen oder eigenwilligen Charakteren, mit alkoholkranken Kollegen oder auch mit einfach nur als notorischen Querulanten wahrgenommenen Pfarrern. Überschattet wurde die Amtszeit des Landessuperintendenten Herrenbrück von schweren Krisen, die durch laut werdende Kritik am Verhalten des jeweiligen Juristen entstanden. Sowohl Anfang als auch am Ende der 50er Jahre entbrannten Auseinandersetzungen um Vizepräsident Berthold Fokken, dem man etwa ungenauen Umgang mit Geldern vorwarf. Diese Vorwürfe wurden allesamt überprüft und vollständig zurückgewiesen. Der Vorwurf wurde Anfang der 50er nicht zuletzt durch den von 1937 bis 1945 amtierenden Vizepräsidenten i.R. Adolf Kramer durch interne Schreiben erhoben. Gegen Kramer lief seinerzeit ein Entnazifizierungsverfahren, bei dem die Landeskirche – vergeblich – auf eine Verurteilung hoffte; Kramer wurde in die Gruppe V (»Entlastete«) eingestuft, obwohl er Mitglied der NSDAP gewesen war. Die Bekenntnisgemeinschaft hatte er durch die Verwaltung energisch bekämpft.

2. Biographischer Überblick

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Nach längerem schwelendem Konflikt geriet auch Fokkens Nachfolger Hans Gerhard Dan 1962 wegen vermeintlich konsistorialen Gebärdens unter Beschuss.44 Im Frühjahr 1962 eröffnete Herrenbrück dann den Leitungsgremien, dass er, erst 52 Jahre alt, keine zweite Amtszeit anstrebe: »Der Landeskirchenvorstand nimmt diese Nachricht mit tiefer Bewegung entgegen«.45 Herrenbrück bemühte sich sogleich um eine Pfarrstelle und wurde am 2. September 1962 in Hannover gewählt, dort allerdings erst mehr als ein Jahr später am 10. November 1963 als Pastor eingeführt. Dieser Wechsel war insofern auch familiengeschichtlich bewegend, weil im Frühjahr 1963 der 1939 geborene Walter Herrenbrück jun. die Erste theologische Prüfung bestanden hatte und nach seiner praktisch-theologischen Ausbildung ebenfalls in den Gemeindepfarrdienst trat. Später folgte er seinem Vater auch im Amt des Landessuperintendenten, nachdem Dr. Gerhard Nordholt (1920–1994) dieses Amt für zwei Perioden bis zum Jahre 1987 innegehabt hatte. Mit Nordholt setzte sich nach Herrenbrück nicht nur wiederum ein erstaunlich junger, sondern ein ebenso bemerkenswert konservativer Theologe bei der Wahl 1963 durch. Auch im Vorfeld dieser LandessuperintendentenWahl herrschte eine angespannte Stimmung, allerdings richtete sich diese weder gegen Nordholt noch gegen dessen Gegenkandidaten Gerrit Herlyn (1909–1992), sondern gegen das Procedere, das von Kritikern als wenig transparent moniert wurde. 2.6 Pfarramt und Ruhestand 1963–1978 In der reformierten Gemeinde Hannover fand Herrenbrück eine lebendige und im Wachstum begriffene Gemeindearbeit vor, an der er sich mit drei Kollegen und deren Frauen intensiv beteiligen konnte.46 Er hatte absichtsvoll »eine große und anstrengende Gemeinde« gewählt, »um vor echte, neue Aufgaben gestellt zu werden … Dort ist wirklich etwas zu tun«.47 Wie intensiv etwa der Konfirmandenunterricht vorbereitet und gestaltet wurde, zeigt sich an einem erhaltenen, umfangreichen Typoskript von »Unterrichtsbriefen«.48 Herrenbrück erlebte in diesen 44 45

Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 372.377–379. Vgl. Protokoll der Sitzung des LKV, 11. April 1962, TOP 24, Verlesung des Brief des LS vom 24. März 1962, in: PA Herrenbrück. 46 Vgl. Frauke Geyken, 300 Jahre Evangelisch-reformierte Kirchengemeinde Hannover 1703–2003. Festschrift zum Jubiläum, Hannover 2003, v.a. S. 132–146 (über die Jahre 1960–1978). 47 Brief Herrenbrücks an Barth, Leer, 26. Oktober 1963 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9363.821). Mit diesem Brief verabschiedete sich Herrenbrück aus seinem Kirche leitenden Amt von seinem Lehrer. 48 Walter Herrenbrück, Gott und Gottes Volk. Unterrichtsbriefe für Konfirmanden, Hannover 1969–1970, 360 Blätter (Typoskript), Erstes Halbjahr, Nr. 1 bis 15: Altes Testament. Zweites Halbjahr, Nr. 16 bis 30: Neues Testament. Drittes Halbjahr, Nr. 31

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Jahren aber auch die frustrierende Seite des Gemeindepfarramtes, wie er seinem alten Basler Lehrer verriet: »Die Arbeit ist nicht leicht, aber ich habe mir von vornherein keine Illusionen gemacht und im Grunde genau das gefunden, was ich – nach Beendigung meiner zwölfjährigen Dienstzeit in der Landeskirche – brauchte. Daß wir nur mit einer kleinen Zahl rechnen dürfen …, hängt mit der exorbitanten Streulage der Reformierten in dieser großen Stadt zusammen … und natürlich leiden wir unser Teil an der gegenwärtigen Säkularisationsflut mit … [Wir wohnen] mitten auch im tollsten Verkehr, haben uns aber an alles gewöhnt und fühlen uns wohl. Noch keinen Tag brauchte ich zu bereuen, das ›Come back‹ (oder besser: ›Go back‹) in die Gemeindearbeit getan zu haben. Hier möchte ich für den Rest meines Dienstlebens noch einmal in der Hauptsache das tun, was Motiv und Telos Ihrer Kirchlichen Dogmatik ist: Predigen, Unterweisen und auf sonst alle mögliche Weise den Menschen mit dem Wort dienen.«49 Neben seiner Gemeindetätigkeit war Herrenbrück ein oft angefragter Gast in den reformierten Kontexten Deutschlands. Im Jahr 1975 trat Herrenbrück in den Ruhestand und siedelte mit seiner Frau nach Oldenburg um. Dort verstarb er am 31. Juli 1978.50 In einem Kondolenzschreiben würdigte der badische Landesbischof Prof. Hans-Wolfgang Heidland (1912–1992) Herrenbrück als »eine Persönlichkeit von seltenem Format«, ausgestattet mit »einer wohltuenden Güte des Herzens und einer erfrischenden Nüchternheit des Denkens, beides verbunden durch einen festen Stand auf dem Boden der Schrift«.51 Obwohl Herrenbrück damals seit 15 Jahren ohne kirchenpolitische Macht war, war ihm die persönliche Anerkennung und Wertschätzung aus dem Kreis leitender Geistlicher des deutschen Protestantismus sicher. 3. Barth und Barmen: Reformierte Kirchenleitung nach 1945 Walter Herrenbrück kann sowohl biographisch als auch theologisch als typischer »Barthianer« angesehen werden, dessen Agieren eine große Wirkung hatte, da er in kirchenleitende Positionen aufrücken konnte. bis 45: Unser Glaube (I). Viertes Halbjahr, Nr. 46 bis 60: Unser Glaube (II) (vorhanden in der Johannes a Lasco Bibliothek, Emden). 49 Brief Herrenbrücks an Barth, Hannover, 5. Januar 1965 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9365.14). Monate später klagte Herrenbrück Barth gegenüber, dass »[b]ei aller funktionierenden Kirchlichkeit … die lebendige Beziehung zum Wortgeschehen und das Wissen um communio sanctorum (masc. und neutr.!) [fehlt].« Brief Herrenbrücks an Barth, Hannover, 17. Oktober 1965 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9365.550). 50 Die Predigt bei der Beerdigung (wohl von Gerhard Nordholt) ist abgedruckt in: Kirchenbote. Blatt der evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland 22 (1978), Nr. 8, August 1978, S. 1–3. 51 Brief Heidlands an Nordholt, Karlsruhe, 8. August 1978, in: PA Herrenbrück.

3. Barth und Barmen: Reformierte Kirchenleitung nach 1945

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»Die sich Barth anschließenden Theologen treten nach dem Krieg als – wie es scheint – ziemlich fest gefügte Gruppe in Erscheinung. Ihre Merkmale sind: Anschluß an die Theologie Barths mit scharfer Kritik der natürlichen Theologie, Ablehnung des lutherischen Konfessionalismus, Gegnerschaft zu Bultmann, Abgrenzung vom Katholizismus, eine zunehmend schärfer profilierte politische Theologie. Es handelt sich ersichtlich also nicht nur um eine in bestimmten theologischen Grundanschauungen verbundene Gruppe, sondern zugleich um einen kirchlichen und politischen Faktor, und zwar von nicht unerheblicher Breitenwirkung.«52 Diese Gruppe majorisierte die Pfarrerschaft in der reformierten Landeskirche, zumal die exponierten Vertreter etwa eines pietistischerwecklichen Reformiertentums (Heinrich Oltmann) oder eines charismatisch-pfingstlerischen Formats (Carl Octavius Voget) verstorben waren und die Kohlbrügge-Schule mehr und mehr in der Barth-Gruppe aufging. Dabei orientierten sich viele nicht nur theologisch,53 sondern auch politisch an Karl Barth54 und optierten eher sozialdemokratisch, mindestens jedoch gegen die CDU-Regierung Adenauers.55 Gerade in der reformierten Landeskirche hätte sich wohl kaum ein Pfarrer in den 50er und 60er Jahren nicht als besonders von Barth geprägt bezeichnet. Die Barmer Theologische Erklärung war »die für alle ›Barthianer‹ maßgebliche Richtschnur protestantischer Kirchenpolitik.«56 Barths Vorbild beeinflusste bei nicht wenigen nicht nur die theologischen Ansichten 52

Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Band 3: 1945–1965, Göttingen 2009, S. 122. 53 Unter Federführung Herrenbrücks baten Wilhelm Goeters, Walter Kreck, Wilhelm Niesel, Wilhelm August Langenohl, Otto Weber, Paul Jacobs und Harmannus Obendiek Karl Barth, aus den umfassenden Kenntnissen der KD einen »theologischen Katechismus« zusammenzustellen, vgl. Brief der Genannten an Karl Barth, Tergast, 1. November 1948 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9348.973). Barth lehnte ab mit dem Hinweis, jeder der Unterzeichner könnte eine solche Aufgabe selbst meistern, vgl. Brief Barths, Basel, 14. Dezember 1948 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9248.325). 54 Besonders diesen Aspekt betonte Herrenbrück in einem Text »Zum 60. Geburtstag von Karl Barth«, den er für »Die Sammlung« (Göttingen) geschrieben hatte, der aber wegen einer vorübergehenden Einstellung dieser Zeitschrift nicht publiziert werden konnte. Darin referierte Herrenbrück die kleinen Schriften, die um 1945 von Barth erschienen waren (vgl. auch Karl Barth, Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zollikon-Zürich 1945). Herrenbrück sandte diesen Text an Barth (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9346.286). 55 Ein gutes Beispiel für die – auch politische – Ausrichtung der Pfarrerschaft auf eine Barth-Position: RKZ 96 (1955), S. 130; Karl Barth, Offene Briefe 1945–1968, herausgegeben von Diether Koch, Zürich 1984, S. 351–355, wo 15 Bentheimer Pfarrer sich geradezu reflexartig hinter Barth stellen zu müssen meinten. Und wie schwierig es im reformierten Kontext war, anderer Meinung als Barth zu sein, demonstriert ein Leserbrief von Superintendent Artur Dehmel (Bad Oeynhausen) zu Barths politischer Stellungnahme in RKZ 96 (1955), S. 398. 56 So in dem bekannten Spiegel-Artikel »Kunde vom unbekannten Gott«, in: Spiegel vom 23. Dezember 1959, S. 69–81, hier: S. 75. – Dieser Artikel ist wichtig als Beispiel für das Barth-Bild in den 50er Jahren.

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und politischen Positionen, sondern prägte bis ins Privatleben hinein, etwa das Rauchverhalten, die Kleidung und den Musikgeschmack; jedenfalls gab es unter reformierten Pfarrern der 50er Jahre nicht eben wenige Pfeife rauchende Mozart-Liebhaber, die Baskenmütze trugen. Herrenbrück, eher ein eigenwilliger Beethoven-Liebhaber, ließ Barth zu mehreren Geburtstagen in den 50er Jahren seinerzeit noch schwer zu beschaffende Schallplatten mit Mozarteinspielungen senden. Man war also um eine Weggenossenschaft in zahlreichen Lebensbezügen bemüht. 3.1 Herrenbrücks kirchenpolitisches Agieren 1945–1950 Walter Herrenbrück begann sofort nach 1945 den Kurs der Landeskirche inhaltlich mitzubestimmen. Mit Mitte 30 gehörte er zu der jüngeren Generation, die nur wenige theologische und kirchliche Wurzeln in den 20er Jahren und erst recht nicht mehr im Kaiserreich hatte.57 Die Kirchenleitung und die Synode hatten während des »Kirchenkampfes« verhindert, dass die reformierte Landeskirche sich eindeutig bei der Bekennenden Kirche positionierte. Herrenbrück wurde bereits 1946 Vorsitzender des Bezirkskirchentags III und Mitglied im theologischen Prüfungsausschuss, seit dem ersten Nachkriegs-Landeskirchentag (15.–17. Oktober 1946) gehörte er dem Landeskirchenrat an. Dies war offenbar möglich geworden, weil der Theologische Ausschuss der Bekenntnisgemeinschaft spätestens im Winter 1945/1946 vertrauensbildende Gespräche mit dem Landeskirchenvorstand geführt hatte. Über ein Gespräch berichtete Herrenbrück Anfang Februar 1946 Barth: »Was wir lange Jahre hindurch vergeblich erstrebt hatten, ist uns jetzt endlich ermöglicht worden: einen ehrlichen Consensus mit unserer Kirchenleitung zu finden … Besondere Verdienste um die Einigung hat sich übrigens Pastor Peter Schumacher erworben, der offenbar in einem günstigen Sinne auf den Landeskirchenvorstand, dem er als Mitglied angehört, eingewirkt hat.«58 Bereits in den ersten Heften des wieder erscheinenden Sonntagsblattes (Jahrgang 50 [1946]) schrieb Herrenbrück ausführlich über die Barmer Theologische Erklärung. Nach einem entsprechenden Beschluss des Bezirkskirchentages IV (26. Juni 1946) stellte der Bezirkskirchenrat IV einen Antrag an den Landeskirchentag, BARMEN »als maßgebende aktuelle Erklärung des Heidelberger Katechismus … verbindlich zu machen.« (1. August 1946, gez. Züchner) Zeitgleich bat der Bezirkskirchen57 Zu den unterschiedlichen Prägungen der Kohorten vgl. Dimitrij Owetschkin, Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A 48), Essen 2011. 58 Brief Herrenbrücks an Barth, z.Zt. Wesermünde-Lehre [zu Besuch bei Udo Smidt], 4. Februar 1946 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9346.131).

3. Barth und Barmen: Reformierte Kirchenleitung nach 1945

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tag Weener (30. Juli 1946) die Landessynode zu prüfen, ob BARMEN als »maßgebliche Erklärung zum Verständnis der Heiligen Schrift festgestellt werden« könne (10. August 1946, gez. Goeman).59 Derart vorbereitet lag den Synodalen als Weg weisendes Wort ein »Geistlicher Synodalbericht«60 vor, mit dem die reformierte Landeskirche ihre Kursbestimmung nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vornahm. Dies war ein heute wenig bekanntes, aber doch eindeutiges Schuldeingeständnis. Der Text stammte aus der Feder Herrenbrücks. »Auch unsere Landeskirche trägt an der Last der hinter uns liegenden Jahre. Auch sie weiß sich als ganze zu Sinnesänderung und Bekehrung gerufen. Wir sind mit daran schuld, liebe Brüder, daß das Elend dieser Jahre über uns gekommen ist. Wir alle wußten, der eine mehr, der andere weniger, um das Unrecht, das in unserem Volk geschah, und haben nicht genug getan, um es zu verhindern. Oder wußten wir nicht, daß viele unserer Brüder um des Evangeliums willen in Gefängnissen und Konzentrationslagern gehalten wurden und einige unter ihnen ihren Glauben mit dem Tode besiegeln mußten? Wußten wir nicht von den Grausamkeiten und Mißhandlungen in den besetzten Gebieten? Wußten wir nichts von der Tötung der Kranken, die als ›lebensunwert‹ bezeichnet wurden? Wußten wir nicht zum mindestens etwas von dem grausamen Vernichtungskampf gegen das Judentum? Wir haben uns gefürchtet, so zu reden und zu handeln, wie wir es um Jesu Christi willen hätten tun müssen.«61 Deshalb, so wurde weiter erklärt, habe sich die Landessynode zur Buße rufen lassen und bäte auch die Gemeinden und jedes einzelne Gemeindeglied, diesen Bußruf zu vernehmen. Als Weiterführung, ja Näherbestimmung der Annahme des Heidelberger Katechismus als Bekenntnis59

Alle Anträge und weiteres in: Protokolle der Landessynode, LKA Leer, Acta Synodalsachen, Gen. 33, 1946: Vierter ordentlicher Landeskirchentag 15.–17. Oktober 1946 in Leer. – Nicht erfolgreich war dann der Antrag, sich auch die Stuttgarter Schulderklärung zu eigen zu machen (Bezirkskirchenrat IV, 3. September 1946, gez. Züchner). Anders nach einer Auflistung Hans Asmussens, der vier Landeskirchen benennt, die die Stuttgarter Erklärung bis 1946 rezipiert hätten: Baden, Rheinland, Westfalen und die reformierte Landeskirche Hannovers, vgl. Clemens Vollnhals, Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 26), München 31990, S. 113–167, hier: S. 139 mit Anm. 122. 60 Vgl. Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für die evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover 10 (1946), Nr. 10, 20. Dezember 1946, S. 36 (im Folgenden: KGVBl.); Sonntagsblatt 1 (1946), Nr. 22, 3. November 1946, S. 156f. 61 KGVBl. 10 (1946), a.a.O., S. 36.

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schrift durch die Landessynode 193662 stellte man nun im Oktober 1946 fest: »Wir bekennen die ›Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche‹ vom 30. Mai 1934 als eine Erklärung zum rechten Verständnis des Heidelberger Katechismus, die für Lehre und Ordnung in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover verbindlich ist.« Ein ganz wesentlicher Grund für die Annahme der Barmer Theologischen Erklärung war, damit »in der Einheit des Glaubens und Bekennens zu verharren, wie sie auf der Bekenntnissynode … Ereignis geworden war.«63 BARMEN sollte den deutschen Protestantismus einen, wie man es zuvor in der Bekennenden Kirche erfahren hatte. Besonders in der Formationsphase der EKD bis zur Annahme der Grundordnung 1948 votierte die reformierte Landeskirche entsprechend auch in den EKD-Kontexten, etwa durch eine von Walter Hollweg unterzeichnete Stellungnahme vom 18. April 1947 an alle Landeskirchen: »Das Bekenntnis von Barmen eint uns in entscheidenden Lehrpunkten. Die EKD kann in der Spannung dieser Einheit mit der Verschiedenheit in anderen Lehrpunkten als Kirche leben.«64 Dabei musste man in einer sich dezidiert als »Gemeindekirche« verstehenden reformierten Landeskirche fragen, ob überhaupt ein »Recht landeskirchlicher Sonderexistenz« existierte. In einem Beitrag für »Die Stimme der Gemeinde«, einem von Herbert Mochalski herausgegebenen bekenntniskirchlichen Blatt nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem zahlreiche Beiträge gegen restaurative Tendenzen in der EKD mit starken Landeskirchen erschienen, erwog Walter Herrenbrück im Jahr 1949 »das Fragwürdige unserer landeskirchlich-konfessionellen Sonderexistenz«.65 Warum sollte es lutherische und reformierte Gemeinden als 62 Vgl. dazu Hans-Georg Ulrichs, »In Einigkeit des wahren Glaubens.« Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover, in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 131–163 (Wiederabdruck in diesem Band). 63 Auf die große Rede zur Einbringung der Barmer Theologischen Erklärung von Jan R. Weerda sei hier lediglich hingewiesen. – Statt einer Einheit durch BARMEN begründet optierten andere auch für eine konfessionelle Einheit. In Voten von P. Schumacher und J.R. Weerda (!) hieß es: »Der ref[ormierte] Bund muss Kirche werden.« Solche Aussagen knüpften wohl eher an Versuche im Frühjahr 1933 an, die Debatten und die Dynamik der Kirchenpolitik für die Etablierung einer reichsweiten reformierten Kirche bzw. eines starken reformierten Flügels innerhalb einer Reichskirche zu nutzen. 64 Zitiert n. Wolf-Dieter Hauschild, Die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis der Kirche? Der »Lutherrat« und die Konstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: ders., Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ B 40), Göttingen 2004, S. 245–294, hier: S. 274. 65 Walter Herrenbrück, Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, Typoskript, LKA Leer, Kirchenordnungen – Kirchengemeinde- und Synodalordnung, Nr. 16: Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der Ev.-ref. Landeskirche der Provinz Han-

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Nachbarn geben, »und doch beide nicht in kirchlicher Gemeinschaft«? (S. 2) Dem stünde entgegen, »was uns der Kirchenkampf an neuen Erkenntnissen über Wesen, Aufgabe und Ordnung der Kirche gemeinsam geschenkt hat.« (S. 3) Doch mächtig und durchaus zu berücksichtigen sei die geschichtliche Gestaltwerdung der Kirche, so dass es nicht verwunderte, wie in den Gliedkirchen der EKD die »Schriftwahrheit nur im eigenen Bekenntnis« anerkannt würde (S. 3). Kirchliche Neuansätze, auch der von BARMEN, schienen so »von vornherein ins Unrecht gesetzt.« (S. 3) Auch die reformierte Landeskirche sei den konfessionellen Weg gegangen – im Kirchenkampf! »Sie stand zwar nicht im Lager der deutsch-christlichen Irrlehre. Man muss es der damaligen Kirchenleitung vielmehr zugute halten, dass sie von dieser ausdrücklich und mit kräftigen Worten abgerückt ist.66 Aber sie war auch nicht bei der Bekennenden Kirche zu finden, sondern, konfessionell-reformierte Belange verfechtend, hat sie praktisch gemeinsame Sache mit der staatlichen Kirchenpolitik gemacht, in der Meinung, dass die Treue dem angestammten Bekenntnis gegenüber eine solche Praxis nicht nur erlaube, sondern geradezu gebiete.« (S. 3) Man könne deshalb auf die »jüngste Vergangenheit« nicht stolz sein, auch wenn es »an einer gesunden Opposition nicht gefehlt hat, vielmehr eine recht wackere Bekenntnisgemeinschaft auf dem Plan war, die keine Gelegenheit unbenutzt liess, der herrschenden Kirchenpartei gegenüber das Zeugnis der Bekennenden Kirche zur Geltung zu bringen.« (S. 4)67 Immerhin hätten die Wahlen und Synoden des Jahres 1946 ein deutliches bekenntniskirchliches Übergewicht gezeitigt, woraus »eine klare Wendung nach Barmen hin« gefolgt sei (S. 4). Gemäß der Erklärung der Landessynode 1946 zu BARMEN (s.o.) habe man das reformierte Bekenntnis nicht zu dem Zweck, die Schriftwahrheit mit dem eigenen Bekenntnis zu identifizieren. Vielmehr gelte: »[U]nsere konfessionelle Eigengestalt hat nur so lange eine Existenzberechtigung, als sie immer wieder durchscheinend wird zu der uns verborgen schon längst und sichtbar seit 1934 zuteil gewordenen Gemeinschaft des evangelischen Bekenntnisses hin.« (S. 5) nover. Gedruckt unter demselben Titel in: Die Stimme der Gemeinde. Monatsschrift der Bekennenden Kirche Nr. 10 (Oktober 1949), S. 12f. Wir zitieren nach dem Typoskript im Archiv. – Eigentlich war der Jurist und Vizepräsident Berthold Fokken für den Beitrag angefragt worden, der aber den Auftrag an seinen »Mitstreiter und Freund« Herrenbrück weitergab, so Fokken an Mochalski, 30. Juli 1949, a.a.O. Seit dem Landeskirchentag 1947 (26. August) hieß die Landeskirche nicht mehr »Evangelisch-reformierte Landeskirche der Provinz Hannover«, sondern »Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland«. Mit dem Ende des Landes Preußen existierte auch keine preußische Provinz Hannover mehr. 66 Dies geschah u.a. während des Landeskirchentages 1936. 67 Spätestens nach dem »Sportpalast-Skandal« im November 1933 spielten die Deutschen Christen in der reformierten Landeskirche keine Rolle mehr, sie waren also eher ein auf der Reichsebene zu bekämpfender Gegner.

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Hier könnte auch der bislang fehlende schriftlich fixierte Ausdruck dieser kirchlichen Einheit nicht irre machen, genauso wenig wie die eifernden »Konfessionalisten, … Liturgiker, … Sakramentstheoretiker« sowie die »hochkirchliche[n] Theologen« (S. 5), die auf Gemeindeebene ohnehin keine Resonanz fänden, wie Herrenbrück meinte. »Dieser wirklichen evangelischen Gemeinsamkeit, d.h. aber praktisch der Evangelischen Kirche in Deutschland, möchten wir als kleine reformierte Landeskirche dienen.« (S. 5) Reformiertes Bekenntnis sei immer schon »die besondere Hinwendung zu kirchlicher Gemeinschaft« gewesen, zumal das reformierte Bekenntnisverständnis »nicht in der fixierten Formel« zum Ziel käme; das reformierte Bekenntnis sei vielmehr die Hinwendung zur kritischen »Kraft des lebendigen Gottesgeistes«, so dass man sich »immer wieder zum Aufbruch gerufen [wisse], immer wieder davor gewarnt [sei], unsere Zelte als Festungen zu betrachten und uns in kümmerliche Isolierung einzukapseln.« (S. 5) »Dieser Zug zur Bewegung« mache es nötig, dass es »zwischendurch auch einmal etwas rauer zugeht (wie wir es vom Kirchenkampf her in Erinnerung haben).« (S. 5f.). Die EKD sei bedenklicherweise – 1949! – »so vornehm-friedlich geworden«, in ihr sei »alles festgefahren.« (S. 6) Entsprechend forsch agierten auch andere reformierte »Barthianer« innerhalb der EKD, etwa bei den Eingaben zur Grundordnung. Wie diese war Herrenbrück der Überzeugung: »Es darf in der EKD nicht still werden.« (S. 6) Dazu wolle die reformierte Landeskirche beitragen, auch wenn »die Landeskirchen … aufs Ganze gesehen brüchig gewordene Hilfskonstruktionen« seien, die sich hüten müssten, »der Sache des Evangeliums nicht mehr zu schaden als zu nutzen.« (S. 6) Ein aus theologischen Gründen und auf dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung des Kirchenkampfes institutionenkritischer Theologe68 schickte sich hier also an, quasi den Marsch durch die Institution anzutreten und institutionell kirchliche Macht auszuüben. Mit guten Gründen ist anzunehmen, dass der noch amtierende Landessuperintendent Walter Hollweg Wesen und Aufgabe reformierter Kirchenleitung und Kirchenpolitik anders als Herrenbrück umschrieben hätte. Hollweg und Herrenbrück hatten sich lange persönlich nahe gestanden69 und entstammten beide dem konservativen Reformiertentum. Mit und im Kirchenkampf waren jedoch die theologischen und kirchlichen Dissense gewachsen. Dass sie bald als 68

Kritisch und theologisch zugespitzt nahm Herrenbrück unter dem Pseudonym Lynkeus (i.e. eine Gestalt der griechischen Mythologie: »Luchsäugiger«, also besonders scharfäugig, klarsichtig) im Sonntagsblatt auch so manche volkskirchliche Anschauung aufs Korn, etwa über die Unsterblichkeit der Seele. Zahlreiche Gemeindeglieder waren davon derart verunsichert worden, dass man sogar von einer »Lynkeus-Affäre« sprach. 69 Herrenbrück hatte ergebene und persönliche Briefe aus dem Krieg an seinen Landessuperintendenten geschrieben, also auch noch, nachdem der Kurs der Kirchenleitung und Hollwegs seit 1938/1939 von den jungen BK-Theologen entschieden abgelehnt wurde.

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Gegenkandidaten aufeinander treffen sollten, wird beide auf je ihre Art persönlich geschmerzt haben. Zunächst wechselte Herrenbrück aber noch 1950 in ein städtisches Pfarramt nach Leer. 3.2 Die Wahl zum Landessuperintendenten 1951 Landessuperintendent Walter Hollweg hielt sich auf den Synoden nach 1945 auffallend zurück. Er scheint sein Amt doch irgendwie – nach geschehener Wahl durch die Synode – als der Synode gegenüber und eher konsistorial verstanden zu haben. Möglicherweise wusste er aber auch, dass er nach den Kompromittierungen durch seine kirchenpolitische Strategie während des »Dritten Reiches« nicht mehr wie zuvor derart führend auftreten konnte. Nach zwei Amtsperioden war Hollweg nicht nur bereits 24 Jahre im kirchenleitenden Amt, sondern stand 1951 auch im 68. bzw. 69. Lebensjahr. Ein Generationenwechsel schien also angezeigt zu sein. Nachdem Walter Herrenbrück seit 1946 Superintendent und nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung war und die binnenkirchliche Meinungsbildung stark mitgeprägt hatte, konnte es nicht überraschen, dass Herrenbrücks Kandidatur bei der turnusmäßigen Wahl zum Landessuperintendenten 1951 erwogen wurde. Der Landeskirchenvorstand bekräftigte während seiner Sitzung im Februar 1951, dass Udo Smidt, Pastor in Bremerhaven-Lehe, als Direktor des reformierten Predigerseminars nach Elberfeld gehen solle.70 Damit war ein anderer konsensfähiger Kandidat aus dem Rennen. Im Landeskirchenvorstand wurde zunächst Herrenbrück vorgeschlagen, von außerhalb war der Name des gebürtigen Ostfriesen Harmannus Obendiek (1894–1954) genannt worden, der vor seiner Pfarrstelle in Wuppertal im ostfriesischen Ihrhove als Pastor tätig gewesen war. Herrenbrück und andere benannten noch Alfred Göhler. »Die Angelegenheit wird eingehend erörtert … Die Kandidatur Obendiek wird für nicht durchführbar gehalten.« Wahrscheinlich wurde dieser im Rheinland und in der Ökumene für unersetzbar gehalten.71 Man war darüber hinaus der Meinung, »daß es unzweckmäßig wäre, mehrere Kandidaten zur Erörterung zu stellen.« So schlug man Herrenbrück als einzigen Kandidaten vor. »Den in dieser Sitzung nicht anwesenden Mitgliedern Hollweg, Arends, Fürst Knyphausen soll dieser Beschluß mitgeteilt werden mit der Bitte um schriftliche Stellungnahme, Herrenbrück als einzigen Kandidaten vorzuschlagen.« Damit war also 70 Niederschrift über die Sitzung des Landeskirchenvorstandes vom 19. bis 20. Februar 1951 in Aurich, in: Nachlass Herrenbrück (das Protokoll findet sich auch in den Synodalakten), TOP 4. – Die folgenden Zitate sind nach diesem Protokoll wiedergegeben, TOP 5. 71 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Art. Obendiek, Harmannus Anton, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 276–278.

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der altgediente Hollweg in seiner Abwesenheit ausgebootet worden. Es ist gut vorstellbar, dass Hollweg und wohl auch Knyphausen Monate lang versucht haben, die sich abzeichnende Entwicklung noch zu drehen. Der im Mai tagenden Synode lag ein Antrag des Bezirkskirchenrates I (Emden!) auf Verlängerung der Amtszeit von Hollweg vor. Vierzehn Tage vor der Synode verneinte der Landeskirchenvorstand die Möglichkeit einer bloßen Amtszeitverlängerung; es müsse auf zwölf Jahre gewählt werden,72 womit eine Kandidatur Hollwegs nahezu unmöglich gemacht worden war. Am dritten Tag der Synode73 (30. Mai) sollte die Wahl zum Landessuperintendenten erfolgen. Zunächst wurde ein Wahlausschuss eingesetzt, der nach einer nächtlichen Sitzung der Synode einen Bericht vorlegen konnte. Ungewöhnlich war der Ausschluss der Öffentlichkeit, das Anfertigen eines Steno-Protokolls über die Personalaussprache, das nach Einsichtnahme verbrannt werden sollte.74 In aller Freiheit erwog der Wahlausschuss in seinem umfänglichen Bericht,75 in dem zunächst »eine zum Teil auch mit Misstrauen geladene Atmosphäre« beklagt wurde (S. 1), das Für und Wider der beiden Kandidaten Hollweg und Herrenbrück. Hollweg habe mit seiner »väterliche[n] Art … das Vertrauen der gesamten Pastorenschaft erworben«. Er könne mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen auch die so unterschiedlichen Bezirke der Kirche zusammenhalten, allerdings ginge es in diesen Jahren nicht um Bestandssicherung, sondern um den noch zu findenden Weg der Landeskirche innerhalb der EKD. Möglicherweise sei hier »schon in den vergangenen Jahren manches versäumt worden«. Die lange Dienstzeit auch »in schweren Zeiten« (S. 1) habe den amtierenden Landessuperintendenten geschwächt. Da er sich den theologischen und kirchlichen Gegenwartsfragen nicht mehr so öffnen könne, »ist zu fragen, ob wir es dem bisherigen Landessuperintendenten nicht schuldig sind, ihn rechtzeitig darauf aufmerksam zu machen und damit barmherzig gegen ihn zu sein.« (S. 2) Herrenbrück wird beschrieben als ein Mann »von überragenden geistigen und theologischen Fähigkeiten und aussergewöhnlicher Arbeitskraft. Er besitzt dazu eine grosse Beweglichkeit und starke Initiative. Die letzten 5 Jahre landeskirchlicher Arbeit sind ohne ihn einfach nicht denk72 Niederschrift über die Sitzung des Landeskirchenvorstandes vom 15. Mai 1951 in Aurich, TOP 8, in: Nachlass Herrenbrück. 73 Niederschrift über die Verhandlungen des 7. ordentlichen Landeskirchentages der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland vom 28. bis 31. Mai 1951 in Aurich (als Typoskript gedruckt), in: LKA Leer. 74 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 49. Das genannte Steno-Protokoll ist nicht auffindbar und wohl tatsächlich vernichtet worden. 75 Bericht über die Sitzung des Wahlausschusses [Leitung: Pastor Hamer, Weener], o.O., o.D., in: NL Herrenbrück. Die folgenden Zitate sind oben im Text mit Seitenangaben belegt.

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bar. Die theologischen Arbeiten und Verlautbarungen der Landeskirchenleitung in den vergangenen Jahren atmen seinen Geist.« Das gelte gerade auch im Hinblick auf die EKD. Sein dezidiert konfessionelltheologisches Agieren würde die unterschiedlich geprägten Bezirke zusammen bringen können, auch wenn »er durch seine Offenheit und Gradheit, mit der er sich für das, was er als recht erkannt hat, einsetzt«, Anstoß errege. Es gäbe »manche vorhandene Abneigung gegen Pastor Herrenbrück … aus Verärgerung über eine unbequeme, aber doch sehr heilsame Ruhestörung, gerade bei den Theologen.« (S. 2) Und natürlich sei er im 42. Lebensjahr sehr jung und in Verwaltungsfragen nicht sehr erfahren – Herrenbrücks Vorgänger Hollweg und Bartels seien aber bei Dienstantritt auch 44 bzw. erst 33 Jahre alt gewesen (S. 3). Resümierend sieht der Bericht die Vorteile bei Herrenbrück liegen. »Ein Mann wie er ist eine seltene Gabe für die Kirche«. Beriefe man ihn nicht in »ein seinen Gaben entsprechendes Amt«, würde er der Landeskirche wohl verloren gehen. »Gewiss ist die Lösung Herrenbrück gegenüber der Lösung Hollweg die unbequemere, aber nach Auffassung der grossen Mehrheit des Ausschusses die im Interesse der Kirche gebotene.« Eine Amtszeitverlängerung für Hollweg für drei Jahre käme nicht in Frage, sie sei rechtlich nicht eindeutig und würde den Erfordernissen nach »einer klaren Entscheidung« nicht gerecht. Mit 10 Stimmen gegen 1 Enthaltung und 1 Nein-Stimme empfahl der Ausschuss die alleinige Kandidatur Herrenbrücks. »Pietätsgründe gegenüber unserem verehrten Landessuperintendenten [Hollweg]« dürften hier nicht gelten, »so schmerzlich uns allen die mit diesem Vorschlag verbundene Zurückstellung unseres bisherigen Landessuperintendenten war und so gerne wir ihm eine Wahlniederlage erspart sehen.« (S. 3) Nach einer mehrstündigen Aussprache in der Synode wurde zur Wahl geschritten.76 Wegen des vernichteten Steno-Protokolls wissen wir nicht, welcher Synodale Hollwegs Kandidatur beantragte und warum Hollweg selbst sehenden Auges in eine offenkundig bevorstehende Wahlniederlage ging und seine Kandidatur aufrecht erhielt. Aber mit Hollweg und Herrenbrück standen zwei »Typen« zur Wahl: der Senior gegen den Junior, der Ruhige gegen den Aktiven, der binnenkirchlich 76 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 50. Im Bericht des Sonntagsblattes heißt es: »In einer mehrstündigen Auseinandersetzung wurde alles offen ausgesprochen, was die einzelnen Landeskirchentagsmitglieder in Bezug auf die zur Wahl gestellten Personen, aber was sie auch im Blick auf die Sache der Kirche bewegte. Diese Auseinandersetzung, die streng vertraulich war, wurde wohl allen Teilnehmern zu einem beglückenden Erlebnis. Frei von persönlicher Leidenschaft wurde offen und brüderlich ausgesprochen, was jeden bewegte, und es war wohl die Meinung aller: wenn wir auch zunächst getrennt marschieren, nach der Wahl haben wir aber auch um so einmütiger zusammenzustehen.« Gerrit Herlyn, Reformierter Landeskirchentag 1951, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 55 (1951), Nr. 24, 17. Juni 1951, S. 2–5, hier: S. 4.

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agierende Konsistoriale77 gegen den auch in der EKD tätigen Kirchenpolitiker, der auf Konsens Bedachte gegen den streitbaren Theologen. Die geheime Wahl – in Anwesenheit der beiden Kandidaten – erbrachte 27 Stimmen für Herrenbrück und 14 Stimmen für Hollweg, fiel also deutlich, wenn auch längst nicht so deutlich wie im Wahlausschuss aus. Kirchenpräsident Middendorff wandte sich daraufhin an Hollweg, sprach seinen Respekt aus und die Hoffnung, »daß das gegenseitige gute Verhältnis zwischen Ihnen und Bruder Herrenbrück« weiterhin »ein gutes und freundschaftliches« bleibe. Herrenbrück nahm die Wahl an und fügte hinzu: »Der Landessuperintendent [Hollweg] und ich haben uns, als wir [sc. während der Personaldebatte] herausgeschickt wurden, ausgesprochen. Zwischen uns ist alles klar. Uns kann nichts trennen, und so erlauben Sie mir, daß ich Ihnen vor diesem Kreis hier die Hand gebe, in Ehrerbietung und Dank.«78 Danach ergriff Hollweg das Wort und hielt eine persönlich tief beeindruckende und bewegte Rede, in der er mit einiger Demut auf die 24 Amtsjahre zurückblickte und seinem Nachfolger den Segen wünschte.79 Der verstand sein Amt wohl von Anfang anders und hoffte, »dass ihm in Zukunft auch eine echte Opposition zu einer rechten Amtsführung … verhelfen möge.«80 Um den richtigen Kurs der Kirche sollte also freimütig gestritten werden können. Das war BK-Erbe statt konsistorialer Tradition. Die Kirche war mit einer solchen Vorstellung von grundsätzlich strittiger Kirchenleitung in der pluralen Demokratie der Bundesrepublik angekommen. Herrenbrück, der sein Amt zum 1. November 1951 antrat, hatte durchaus starke Mitstreiter an seiner Seite: Als Kirchenpräsident fungierte Friedrich Middendorff bis 1953, ihm folgte Pastor Wilhelm Buitkamp; als juristischer Vizepräsident prägte Berthold Fokken die rechtliche Konsolidierung der reformierten Landeskirche ab 1946,81 bis er 1958 nach Querelen seinen Abschied nehmen musste und ein Jahr später durch Hans Gerhard Dan (1906–1986, Vizepräsident 1959–1971) ersetzt wurde. Nicht zuletzt hoffte er darauf, mit der Theologie Barths und mit dessen persönlichem Ratschlag sein Amt bewältigen zu können. Als »dankbarer Schüler« schrieb er seinem Lehrer kurz nach Dienstantritt: »Sie haben einmal, ich glaube, es war in einem Brief an Hans As77 Nach der Wahl wurde im Plenum moniert, dass in der Aussprache »abfällig vom königl[ich] preuß[ischen] Generalsuperintendenten alter Prägung gesprochen wurde«, Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 53. 78 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 51. 79 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 51f. Später waren der alte Hollweg und der viel jüngere Herrenbrück »per Du«. 80 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 54. 81 Vgl. Winfried Stolz, Art. Fokken, Johannes Berthold Ulfert, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 4, Aurich 2007, S. 146–148. Herrenbrück stand Fokken auf dem Landeskirchentag 1958 bei und bedauerte, dass dieser zu Fall gebracht wurde.

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mussen, geschrieben: ›Wenn aber ein Kirchenregierungsmensch in meine Nähe kommt, so mutiert meine Stimme, und mein Herz wird unruhig in mir.‹ Ich will nicht hoffen, dass meine bescheidene Wirksamkeit jemals Veranlassung sein wird, solche Reaktionen bei Ihnen auszulösen. Der Vorsicht halber aber möchte ich Sie bitten, mir auch darin weiterhin ein Lehrer zu bleiben, dass Sie ein wenig das Auge auf mich halten und mir gegebenenfalls mit kräftigen theologischen Rippenstößen zurechthelfen, wenn Gefahr im Verzuge ist.«82 3.3 Herrenbrück als reformierter Netzwerker Walter Herrenbrück konnte sich wohl auch deshalb 1951 als Landessuperintendent durchsetzen und danach in und für seine Landeskirche viel bewirken, weil er ein ausgeprägter Netzwerker war. Er schrieb offenkundig gerne, freilich nicht nur um zu publizieren, sondern auch privat und als Amtsperson. Wissenschaftliche Arbeiten aus seiner Feder finden sich nach 1945 nicht mehr, dagegen aber zahlreiche Artikel in Publikumszeitschriften wie der Reformierten Kirchenzeitung und dem reformierten Sonntagsblatt. Der Nachlass Herrenbrücks, der sich im landeskirchlichen Archiv Leer sowie im Familienbesitz befindet, bewahrt zahlreiche ausführliche Briefe, die er als Landessuperintendent und Seelsorger auch »normalen« Gemeindegliedern schrieb, die sich an ihn gewandt hatten. Herrenbrück muss in der Gemeinde, in der Öffentlichkeit, auf allen Ebenen der Kirchenpolitik und in wissenschaftsorganisatorischen Kontexten ein begnadeter Kommunikator gewesen sein. Auch die Freundschaften, die Herrenbrück pflegte, zeigen seine Netzwerke. Das gilt für Kirchenfunktionäre wie für theologische Lehrer. Mit Karl Halaski, dem Herausgeber der RKZ seit 1951, verband ihn offenkundig eine herzliche Freundschaft.83 Beide waren umfassend klassisch gebildet. Und sie kommunizierten miteinander über eher mühevolle Arbeitsverhältnisse zu Wilhelm Neuser und Wilhelm Niesel. Vom ersten waren beide nachgerade genervt und waren dankbar, als Udo Smidt 1958 Neuser im Amt des lippischen Landessuperintendenten ablöste. Geistig auch nicht so beweglich war Wilhelm Niesel, den Herrenbrück wohl spätestens seit 1933 gekannt haben dürfte. Herrenbrück hatte bereits auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1946 ein Korreferat zu Niesel gehalten, der damals allerdings abwesend war. Gemeinsam arbeiteten sie seitdem im Moderamen des Bundes. Vielleicht 82 Brief Herrenbrücks an Barth, Aurich, 14. Januar 1952 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9352.35). 83 Im Nachlass Herrenbrück befindet sich ein intensiver und umfangreicher Briefwechsel zwischen Herrenbrück und Halaski. Halaski wird in BBB 75 (Oktober 1960), S. 18 ausführlich als Generalsekretär des Reformierten Bundes begrüßt. – Vgl. auch den Beitrag über Halaski in diesem Band.

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passten sie in ihrer Unterschiedlichkeit funktional zueinander. Walter Herrenbrück bildete mit Niesel ein besonderes Leitungspaar, wie Karl Halaski im Nachruf auf Herrenbrück schrieb: »Seit 1946 war [Herrenbrück] stellvertretender Moderator.84 Das Zweigespann in der Leitung des Bundes, Wilhelm Niesel und er, ergänzten sich so großartig, wie man es sich nur wünschen konnte. Einer wurde des anderen Anreger und Berater«.85 Das mag sich im kirchenpolitischen Rückblick so präsentiert haben, de facto hatten es Halaski und Herrenbrück mit dem strengen Niesel persönlich schwer. Halaski charakterisierte seinen Duzfreund Herrenbrück im Nachruf als den »allzeit Freundliche[n] und Verständnisvolle[n]«, als »liebenswürdig«86 – solche Zuschreibungen hätten Zeitgenossen wohl kaum mit Niesel verbunden. Bei den Freundschaften zu theologischen Lehrern wären Paul Jacobs und Heinrich Graffmann zu erinnern, vor allem muss jedoch Herrenbrücks Beziehung zu Otto Weber genannt werden. Beide kannten sich aus der Kohlbrügge-Schule und den Kontexten der Theologischen Schule Elberfeld. Die Wege trennten sich rasch, als sich Weber im Kirchenkampf völlig verirrte. Deshalb nahm Herrenbrück Webers Wandlung nach 1945 eher zurückhaltend wahr.87 Mehr und mehr wuchsen aber die Sympathien dieser beiden Männer zueinander, so dass einerseits Weber für Herrenbrück der wichtigste theologische Berater und andererseits Herrenbrück für Weber ein wichtiger Partner wurde, mit dem er eine enge Verbindung von Kirche und Theologie leben konnte. So gab es bereits 1950 gemeinsame Überlegungen zu Kurs und Strategie des Reformierten Bundes von Herrenbrück, Smidt und Weber.88 »Wie im Kuratorium des Studienhauses [Göttingen] arbeitete Weber auch sonst eng mit Walter Herrenbrück zusammen, der in Weber, der in der Theologischen Schule sein Lehrer gewesen war, den maßgeblichen theologischen Berater sah.«89 Hier entstand zwar keine Opposition zum Moderator Niesel, wohl aber ein Raum, in dem man nicht einer strengen bekenntniskirchlichen Repristinierung unterworfen war. Das wurde für die beiden immer bedeutsamer. »Die Gemeinschaft mit Herrenbrück war ihm [sc. Weber] mehr und mehr wichtig geworden, so daß dieser für die (späten) fünfziger und sechziger Jahre als sein engster Freund angesehen werden kann. Die Geschehnisse in der reformierten Landeskirche in 84

Hier scheint sich Halaski zu irren. Seit 1946 war Herrenbrück Mitglied des Moderamens. Stellvertretender Moderator wurde er als Landessuperintendent dann 1954 nach der turnusmäßigen Neuwahl des Moderamens. 85 Karl Halaski, Dank und Gedenken an einen Prediger. Walter Herrenbrück – † 31. Juli 1978, in: RKZ 119 (1978), S. 283f., hier: S. 284. 86 Halaski, Dank, a.a.O., S. 284 bzw. S. 283. 87 Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 268. 88 Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 311. 89 Von Bülow, Weber, a.a.O., S. 338.

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Nordwestdeutschland, die Herrenbrück als Landessuperintendent leitete, verfolgte Weber mit nachdrücklicher Anteilnahme. Mehrmals im Jahr trafen sich die beiden zusammen mit Paul Jacobs und Udo Smidt zum inoffiziell so genannten ›Viererausschuß‹, um reformierte Gegenwartsprobleme zu diskutieren und das gemeinsame Vorgehen abzusprechen.«90 Gewiss spielte Weber für Herrenbrück eine wichtige Rolle bei den teils harten Auseinandersetzungen um Bultmanns existentiale Interpretation der Bibel in den 50er Jahren, aber auch bei den landeskirchlichen Krisen die Juristen Berthold Fokken und Hans Gerhard Dan. Selbst am Ende von Herrenbrücks leitender Tätigkeit setzte Weber auf ihn: Der von seinen zahlreichen Ämtern ermüdete und teils auch resignierte Weber wollte 1963 doch noch im Moderamen des Reformierten Bundes verbleiben, »um zusammen mit Herrenbrück ein Gegengewicht zu Niesel, aber auch zu Smidt zu bilden, dem er [sc. Weber] ›einen gewissen lippischen Spiritualismus‹ vorwarf«.«91 Die enge Freundschaft der beiden blieb auch über 1963 hinaus erhalten. Als Weber 1966 plötzlich starb, hielt Herrenbrück den Trauergottesdienst.92 Herrenbrücks Leistung wird im Text der Urkunde zur wohl maßgeblich von Otto Weber betriebenen Ehrenpromotion 1956 gut zusammengefasst93: Herrenbrück wird dort bezeichnet als ein Mann, »qui verbi divini ministerii laboribus periculisque inter ecclesiae afflictiones fideliter peractis in regimen ecclesiasticum vocatus denuo se verbi ministrum fratrumque fratrem praebuit de ecclesiae suae habitu necnon de instructione pastorum theologica et utroque de theologia ipsa bene meritus est.« (dt. Übersetzung: der, nachdem er die Mühen des Dienstes am göttlichen Wort und die Gefahren während des Kirchenkampfes glücklich durchgestanden hatte, dann berufen in das kirchliche Leitungsamt, als Bruder der Diener des Wortes und der Brüder sich erwies und sich um den Zustand seiner Kirche und um die theologische Ausbildung und in beidem um die Theologie selbst sehr verdient gemacht hat.) Weber verstand Herrenbrück und damit möglicherweise auch ihre Freundschaft weniger darin, gemeinsam Repräsentanten eines politischkritischen Barthianismus zu sein, sondern in der gemeinsamen Herkunft aus jungreformiert-kohlbrüggianischen Kontexten. Anders ist beispielsweise Webers Vorschlag, den erzkonservativen Elberfelder Superintendenten Heinrich Höhler (1907–1995) als möglichen Kandidaten für die Nachfolge Herrenbrücks ins Spiel zu bringen,94 kaum zu erklären.

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Von Bülow, Weber, a.a.O., S. 344f. Von Bülow, Weber, a.a.O., S. 383. Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 391f. Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 331. Vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 378, Anm. 547.

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4. Die Bezirksbruderbriefe Walter Herrenbrück war ein begnadeter Kommunikator. Bereits in seinen Jahren als Superintendent fand er ein außerordentlich wirksames Medium: die »Bezirksbruderbriefe« (BBB). In ihnen sammelte er Nachrichten und gab Mitteilungen weiter, veröffentlichte Kommentare zum kirchlichen Geschehen und Aufsätze zur Theologie. Die BBB richteten sich entsprechend ihres Namens vornehmlich an die Pfarrer und Ältesten seines Kirchenbezirks.95 Sie als die Verantwortlichen in den Gemeinden galt es zu informieren, aber natürlich auch zu orientieren, oder salopp gesagt: auf Kurs zu bringen. Nicht alle Zeitschriften konnten sofort nach dem Krieg wieder erscheinen. Während das reformierte Sonntagsblatt ab 1946 wieder erschien, musste man auf die Reformierte Kirchenzeitung bis 1949 warten. Die BBB kompensierten so auch einen medialen Mangel in der Nachkriegszeit. Im Kirchenkampf hatte man aber auch die Erfahrung gemacht, dass es unabhängige, kirchliche Informationsmittel geben musste. Zwar war das totalitäre Regime nun überwunden, aber besonders die bekenntniskirchlichen Kräfte sahen in der Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft einen großen Gewinn. So mögen die BBB auch in Anlehnung an die reichsweiten Coetusbriefe Karl Immers aus Wuppertal96 und an die »grünen Briefe« Hermann Steens aus Holthusen97 entstanden sein, die als Rundschreiben vor allem für die Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der reformierten Landeskirche geschrieben worden waren. Herrenbrück wird diese Briefe aus dem Kirchenkampf gekannt haben. 4.1 Form, Zweck und Inhalte der BBB Signifikant war bereits der Auftakt: An seinem ersten Arbeitstag als Landessuperintendent am 1. November 1951 schrieb Herrenbrück den ersten BBB98 neuerer Ausgabe. In den zwölf Jahren seines Amtes sollten genau 95 Diese BBB begannen am 2. März 1947 als Nr. 1 und reichten bis zur Nr. 43 vom 16. August 1951. Diese erste Reihe von BBB liegt in einem Aktenordner im Nachlass Herrenbrück im LKA Leer vor. 96 Karl Immer, Die Briefe des Coetus 1933–1937, hg. von Joachim Beckmann, Neukirchen-Vluyn 1976. – Zu nennen sind auch noch: Briefe zur Lage der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, Dezember 1933 – Februar 1939, hg. von Joachim Beckmann, Neukirchen-Vluyn 1977; Chronik der Kirchenwirren (Gotthard-Briefe), 3 Bde, hg. von Joachim Gauger, Elberfeld 1934–1936. 97 Zu Steen vgl. Antje Donker, Art. Steen, Hermann Hilko (1899–1980), in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 344f. Die Briefe H. Steens sind bislang nicht ediert worden. 98 Die Fortführung des Namens »BBB« scheint nicht problematisiert worden zu sein, obwohl jetzt nicht mehr der Bezirk, sondern die ganze Landeskirche Adressat dieser »Bruderbriefe« war. Hier kommt wohl auch die von Herrenbrück gewünschte Stärkung der mittleren kirchlichen Ebene zum Ausdruck.

4. Die Bezirksbruderbriefe

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100 Briefe entstehen, so dass acht bis neun Briefe pro Jahr erschienen, also eine mehr oder minder monatliche Erscheinungsweise angestrebt war; die durchgezählten Jahrgänge reichen jeweils von November bis Oktober.99 Den letzten der BBB verfasste Herrenbrück im letzten Monat seiner Kirche leitenden Amtszeit. Die einzelnen BBB umfassten oft zwanzig und mehr Seiten und waren als einfache Durchschläge auf billigem Papier vervielfältigt. Oft finden sich Reflexionen, Vorträge und Aufsätze Herrenbrücks, immer wieder aber auch teils andernorts publizierte Beiträge aus den Federn anderer, die Herrenbrück entweder für so wertvoll hielt, diese unter den Lesern der BBB – zunächst waren dies lediglich die Superintendenten und die Mitglieder des Landeskirchenvorstandes – zu verbreiten, oder die er eigens für die BBB angefordert hatte. Manches wurde später auch separat gedruckt.100 Es ging in den BBB um Theologie und »kirchliches Leben«, Themenfelder kirchlichen Handelns »vorwiegend unter praktischen Gesichtspunkten« sowie um die »kirchliche Lage«.101 Die BBB sollten auch so etwas wie ein geschützter Raum sein, um theologisch und kirchlich zu experimentieren. »[D]ie BBB [verbleiben] als solche bewusst im Kladdebereich.« Beiträge könnten auch »ins Unreine« geschrieben sein.102 Die theologische Grundausrichtung stand aber nicht zur Disposition: Mit den fachlichen Beiträgen in den BBB wolle er, so Herrenbrück gegenüber Barth, die theologischen Erkenntnisse der KD »für die Pastoraltheologie der mir anvertrauten Amtsbrüder zur Auswirkung kommen lassen.«103 Im Begleitbrief 99

Die BBB liegen komplett vor im LKA Leer. Über die ersten fünf Jahrgänge gibt es Inhaltübersichten zu den Nr. 1–20, Nr. 21–34 sowie Nr. 35–42, vom 6. bis zum 12. Jahrgang liegen jährliche Inhaltsübersichten vor. 100 Prominente Beispiele sind der Briefwechsel zwischen Karl Barth und Rudolf Bultmann, den Herrenbrück vertraulich von Hellmut Traub erhalten hatte und den er dann im Herbst 1954 in den BBB wiedergab, nachdem Barth Herrenbrücks Bitte um Veröffentlichung nachgegeben hatte; im November 1955 wurde der Briefwechsel Barths mit Adolf von Harnack abgedruckt, wie Herrenbrück am 21. September 1956 bei Barth angefragt hatte (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9356.1514); Friedrich Middendorffs Kirchenkampf-Darstellung, die in den BBB Nr. 60–66 von Januar bis August 1959 erschien und dann 1961 als Buch gedruckt wurde, sowie Barths Einführung in den Heidelberger Katechismus (1938), die als Typoskript mit BBB 76 (Dezember 1960) als Anlage verschickt wurde und dann als ThSt 63 ebenfalls 1960 gedruckt vorlag – Barth konnte sich an den Vortrag gar nicht mehr erinnern: »Ich habe keine Ahnung, um was für einen Text es sich da handelt.« Antwort Barths an Herrenbrück, Basel, 30. August 1960 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9260.166). Herrenbrück hatte am 26. August 1960 um die Abdruckgenehmigung nachgefragt (a.a.O., Nr. 9360.675). Charlotte von Kirschbaum recherchierte daraufhin und fand den Text in den Unterlagen Barths. 101 So in BBB 1 (1. November 1951), S. 3. 102 BBB 16 (August 1953), S. 2. 103 Brief Herrenbrücks an Barth, Aurich, 19. Juni 1952 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9352.395). – Nahezu enthusiasmiert zeigte sich Herrenbrück von Barths Versöhnungslehre, vgl. seinen Brief an Barth, Aurich, 19. Dezember 1955 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9355.793).

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»Kirchenleitung im Anschluß an … Karl Barth«

zum letzten BBB schrieb er an Barth: »Ich darf sagen, daß es mir im cantus firmus [sc. der BBB] von Anfang an darum ging, eine bescheidene Transformatorenstelle (zwecks Gewinnung von Haushaltsstrom) im Blick auf zentrale Anliegen Ihrer Kirchlichen Dogmatik zu sein.«104 Die mit den BBB kommunizierte barthianische Theologie dürfte die Mehrheitsmeinung bei den Adressaten widergespiegelt haben. Als Beispiele guter, alter Theologie wurde immer auch einmal wieder auf Kohlbrügge und andere konservative Vertreter des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen. Bedenkenswerte Zitate wurden weitergegeben, Bücher rezensiert, aber es gab zur Unterhaltung auch eine »Preisfrage für den Urlaub«, die etwa nach einem Zitat aus einer reformatorischen Schrift fragen konnte – für die richtige Beantwortung wurden Bücherpreise vom Landessuperintendenten ausgelobt.105 Die BBB wurden dann wohl nach und nach an alle Pfarrer der Landeskirche, an Älteste und weitere Interessierte innerhalb und außerhalb der Landeskirche versandt, so dass die Auflage schließlich auf annähernd 300 stieg.106 Immer wieder schickte Herrenbrück auch einzelne Ausgaben der BBB an befreundete Personen aus Kirchenleitungen und Wissenschaft. Viele werden diese Informationen und Darlegungen dankbar zur Kenntnis genommen haben, gelegentlich wurde aber in der Pfarrerschaft auch Unverständnis für die langatmigen Ausführungen geäußert. Manche mögen die BBB zu Beginn der 60er Jahre dann als ein nicht mehr zeitgemäßes Instrument von Kirchenleitung empfunden haben. Der erste BBB am Tag des Dienstantritts enthielt grundsätzliche und programmatische Äußerungen zum kirchenleitenden Amt und zur Kirche sowie zum Zweck der BBB. »Ich war nicht umsonst mehr als 15 Jahre Pastor im praktischen Gemeindedienst und habe nicht umsonst von unsern reformierten Vätern aus der Heiligen Schrift gelernt, dass die Kirche Jesu Christi nur dort lebt, wo in der versammelten Gemeinde107 das Wort Gottes verkündigt wird, als dass ich nun nicht gern bis an mein Lebensende bei dieser Erkenntnis verbleiben möchte. Ein reformierter Landessuperintendent hat meiner Überzeugung nach vor allem die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass alle verfügbaren Kräfte der Kirche 104

Brief Herrenbrücks an Barth, Leer, 26. Oktober 1963 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9363.821). 105 Durch Losentscheid gewann 1953 ausgerechnet Karl Barth den Hauptpreis, was zu lang anhaltenden humorvollen Bemerkungen Anlass gab. 106 Vgl. BBB 100 (Oktober 1963), S. 24. Herrenbrück hatte sowohl den BBB 1 als auch den BBB 100 an Barth gesandt – und viele andere Nummern dazwischen auch. 107 Nicht nur dieser Begriff, sondern auch die Ausrichtung von Herrenbrücks Überlegungen ist mindestens mit angeregt von Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Vorträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst, Neukirchen 1949, cap. V.3.: Die Kirchenleitung, a.a.O., S. 75–89. Dieses Buch Webers war in reformierten Kreisen ungemein wirkmächtig (ND Neukirchen 1975 mit einer Einführung von Jürgen Moltmann).

4. Die Bezirksbruderbriefe

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sich immer entschlossener und immer ausschliesslicher auf das eine und zentrale Geschehen in den örtlichen Gemeinden konzentrieren … weil ich den Dienst der Verkündigung als den herrlichsten ansehe, den es auf dieser Erde je überhaupt zu tun gibt, so möchte ich mein jetzt begonnenes Amt eigentlich darin und allein darin umschrieben sehen, dass ich mich in diesem besonderen Sinne als ›Gehilfe Eurer Freude‹ [2. Korinther 1,24] betrachte.«108 Mit den BBB wolle er sich nicht »allzu programmatisch an die Öffentlichkeit« wenden, aber Herrenbrück beabsichtigte damit »zugleich zum Ausdruck [zu] bringen, welche Methode der landeskirchlichen Zusammenarbeit mir als die vorläufig zweckmässigste erscheint.« Er wolle »die synodalen Mittelinstanzen, also eben die Bezirke« (S. 1) stärken – zu groß war offenkundig der Abstand geblieben oder geworden zwischen einer Kirchenleitung im Auricher Konsistorium und den Gemeinden vor Ort. Ein solcher Vorwurf war und ist allerdings geradezu so etwas wie eine reformierte Stereotype, unter der auch Herrenbrück selbst noch leiden sollte, spätestens im Zusammenhang mit dem staatskirchenrechtlich Epoche machenden Loccumer Vertrag von 1955,109 einem »für die Kirche außerordentlich günstigen Abkommen«, das »ein vom Staat zu gewährleistende[n] Öffentlichkeitsanspruch« für die Kirchen festschrieb. Für nachfolgende Staatskirchenverträge in anderen Bundesländern kam dem Loccumer Vertrag »eine Schlüssel- und Vorbildfunktion zu.«110 Aber Herrenbrück wollte wohl auch einem reformierten Kongregationalismus gegensteuern und in eine synodale Gesamt108 109

BBB 1 (1. November 1951), S. 1. Weitere Zitate sind oben im Text belegt. Zum Loccumer Vertrag 1955, an dessen Erarbeitung auch Otto Weber mitwirkte, vgl. Fokken, Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O.; Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), In Freiheit verbunden. 50 Jahre Loccumer Vertrag, Hannover 2005, darin S. 23–55: Hans Otte, Die Entstehung des Loccumer Vertrags (wo S. 48 auf kritische Stimmen »von den Anhängern einer freikirchlich orientierten reformierten Kirche« auf dem reformierten Landeskirchentag verweist, die zu viel Staatsnähe und zu wenig Orientierung an »Gemeinde« sahen; zu diesen Opponenten gehörte auch Friedrich Middendorff, Die Gefahren des Staatsvertrags. Von einem, der Nein sagte, in: Sonntagsblatt, 8. Mai 1955 [vgl. auch RKZ 1955]); S. 57–72: Axel Freiherr von Campenhausen, Der Loccumer Vertrag – ein Leuchtturm in der Entwicklung des Staatskirchenrechts. – Enge Kontakte unterhielt Walter Herrenbrück auch zu Kurt Müller, der bei den Vernetzungen von Kirche, Politik und Universität federführend und in der staatlichen Verwaltung für den Loccumer Vertrag mitverantwortlich war, wo er wohl für eine adäquate Berücksichtigung reformierter Interessen sorgte. Müller war vorher reformierter Pfarrer in Stuttgart gewesen. Vgl. Eberhard Busch, Kurt Müller. Anwalt der Verfolgten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 226ff.; ders., Die Menschlichkeit war größer als die Angst. Erinnerung an Kurt Müller (1902–1958), in: EvTh 57 (1997), S. 495–512 110 Horst Junginger, Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne (Geschichte kompakt), Darmstadt 2017, S. 103. Junginger urteilt darüber hinaus: »Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, den Vertrag von Loccum als das wichtigste kirchenpolitische Ereignis des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert zu bezeichnen.« (Ebd.)

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verantwortung rufen: »[Ich] glaube, dass eine Tätigkeit im Bereich der Landessynode nur dann sinnvoll und fruchtbar zu gestalten ist, wenn sie bestimmt wird nicht allein von den Einzelakten der Gemeinden, sondern auch von den zusammenfassenden Akten der Bezirkskirchenverbände.« (S. 1f.) Und wie unmittelbar nach seiner Wahl bat Herrenbrück auch hier die Adressaten darum, »sich mit dem besonderen Willen zur Mitverantwortung, zur brüderlichen Kritik und vor allem zum fürbittenden Mittragen meiner Arbeit zuzuwenden.« (S. 2) »Überhaupt liegt mir daran, in diesen Briefen eine Methode des Gedankenaustausches unter uns zu entwickeln. Was in den Bezirksarbeitsgemeinschaften111 aller species an Vorschlägen und Kritik laut wird, muss irgendwo seine Auswertung finden, und ich muss die Möglichkeit haben, daraus zu lernen. Sonst bleibt es bei blosser Deklamation und Abreaktion, und das ist immer unfruchtbar. Ich bin gewissensmässig bereit, mich jeder notwendigen Kritik zu stellen« (S. 2). Walter Herrenbrück verstand sein Kirche leitendes Amt also in mehrfacher Hinsicht als relativ. Aktuelle theologische Auseinandersetzung und Anregungen nahm Herrenbrück breit auf. Mehrfach geht es seit Anfang der 50er Jahre um Bultmanns Entmythologisierung,112 was bereits im ersten BBB als dringendes Thema benannt worden war113 – ein für Barthianer insofern heikles Thema, weil sie einerseits Bultmanns Ideen theologisch ablehnten, andererseits aber nicht von den zumeist theo-politisch konservativ bis fundamentalistischen Gegnern Bultmanns 111

Auch diese Arbeitsgemeinschaften waren ein Erbe der Bekenntnisgemeinschaft während des Kirchenkampfes, vgl. oben Abschnitt 2.3. 112 Dem BBB 10 war beigelegt: Hellmut Traub, Anmerkungen und Fragen zur neutestamentlichen Hermeneutik und zum Problem der Entmythologisierung. Mit einem Geleitwort von Landessuperintendent Walter Herrenbrück, Neukirchen 1952. Noch nach Ankündigung seines Verzichts auf eine weitere Amtszeit fragte Herrenbrück im Februar 1963 bei Barth nach, wie man sich als Kirchenleitung den »Bultmanniden« gegenüber verhalten solle, vgl. Barths Antwort, in: Karl Barth, Briefe 1961–1968, hg. von Jürgen Fangmeier und Hinrich Stoevesandt, Zürich 1975, S. 157–160. Vgl. Konrad Hammann, Karl Barth und Rudolf Bultmann nach 1945, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung, Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2016, S. 263–292. 113 Auch der württembergische Landesbischof Martin Haug schrieb bereits 1951 einen Brief an seine Pfarrerschaft, in dem er vor Bultmanns Entmythologisierung als »einen Angriff auf die Substanz des Wortes« warnte, in: KJ 1951, S. 199–209, hier: S. 207. – Zu den Auseinandersetzungen um Bultmann, die den Protestantismus um und nach 1950 stark bewegten, vgl. u.a. Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010, S. 56f.; ders., Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn 2010, S. 321–328; v.a. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989) (AKiZ B 53), Göttingen 2012, cap. 4.

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vereinnahmt werden wollten. Zur Beurteilung von Dietrich Bonhoeffers Idee einer nicht-religiösen Interpretation der Bibel, die durch die Publikation seiner Briefe und Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in »Widerstand und Ergebung« (1951) öffentlich wurden und denen sich Herrenbrück in BBB Nr. 12 (Dezember 1952) gewidmet hatte, bat Herrenbrück seinen Lehrer Barth um Expertise.114 Anfang der 60er beteiligten sich die BBB an den Auseinandersetzungen um den Mainzer Neutestamentler Herbert Braun (1903–1991), der Bultmanns existentiale Interpretation zuspitzte und nur noch im historischen Jesus als Lehrer eine für den Glauben relevante Größe sah. Solche theologischen Verteidigungen haben sicherlich Barths Gefallen gefunden. Bereits nach einem Jahrgang der BBB schrieb der Basler Theologe an den Auricher Landessuperintendenten (»Lieber Herr Pastor!«): »Ich freue mich fortlaufend an der guten Art, in der Sie Ihre Amtsbrüder weiden, leiten, lehren, und wollte wohl wissen, ob irgend einer von den Herren, die mit einem silbernen Kreuz unterhalb des obersten Westenknopfes als Bischöfe in der Gegend herumlaufen, seine Sache als pastor pastorum nur halb so gut macht.«115 Herrenbrück war ein »Barthianer« auf der cathedra. Bewusst fragte er bei seinem Lehrer an, wenn es um für die Kirche entscheidende theologische Aussagen ging. Kirchenpolitik und ihre Instrumente und Medien dienten ihm auch zur Durchsetzung theologischer Positionen. Dabei orientierte sich Herrenbrück – auch als Repräsentant seiner Kohorte116 – vor allem an Barth, der mithin nicht nur durch viele 114

Vgl. Brief Herrenbrücks an Barth, Aurich, 12. Dezember 1952 (Karl-Barth-Archiv, Basel, Nr. 9352.717). Barths ausführliche Stellungnahme vom 22. Dezember 1952, die in BBB 13 im Februar 1953 wiedergegeben wurde, auch in: Barth, Offene Briefe 1945– 1968, a.a.O., S. 322–328. Dieser Brief Barths an Herrenbrück war auch in einem Sonderheft der EvTh im Sommer 1955 anlässlich des 10. Todestages von Bonhoeffer abgedruckt worden: EvTh 15 (1955), Heft 4/5: Briefwechsel Barth-Bonhoeffer, a.a.O., S. 234–243, Barths Brief an Herrenbrück (in Auszügen), a.a.O., S. 243–245. 115 Barth, Offene Briefe 1945–1968, a.a.O., S. 323. – Barth bezeichnete die reformierte Landeskirche Herrenbrück gegenüber gelegentlich als »Ihr Bistum«. 116 »Die Generation der vor dem oder während des Ersten Weltkrieges Geborenen (›Kirchenkampfgeneration‹) … dominierte die Pfarrerschaft bis in die 1960er Jahre. Die Pfarrer dieser Generation waren durch die Erfahrungen der Weimarer Republik sowie die Krise des Protestantismus und der protestantischen Theologie nach dem Ende des Staatskirchentums geprägt. Sie gestalteten teilweise die innerkirchlichen und religionspolitischen Auseinandersetzungen in der Zeit der NS-Diktatur mit. In den 1950er Jahren beteiligten sie sich am Ausbau der Gemeindearbeit mit deren volksmissionarischen Formen … Ihre kirchenpolitischen Einstellungen und Positionierungen wurden in vielerlei Hinsicht durch ihre Sozialisationserfahrungen mitbestimmt, in denen der Kirchenkampf, die Dialektische Theologie oder die Bibel- und Gemeindezentrierung eine maßgebliche Rolle spielten.« Dimitrij Owetschkin, Zwischen Glaubensvermittlung und »kritischer Sozialisationsbegleitung«. Kirchlich-sozialisatorisches Wirken evangelischer Pfarrer in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der Tauffrage (1950er–1970er Jahre), in: MEKGR 60 (2011), S. 225–246, hier: S. 232.

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Weggenossen und Schüler auf die universitäre Theologie, sondern auch auf Kirchenleitung in der Frühphase der Bundesrepublik einen erheblichen Einfluss hatte. 4.2 Überlegungen zu einer reformierten »Kirchenleitung« Reformierte Kirchenleitung – Walter Herrenbrück versuchte beides zu bestimmen und die Fragen zu beantworten, was »Kirchenleitung« sei und was »reformiert« bedeute. Nach den oben erwähnten Bemerkungen im ersten BBB und unmittelbar nach seiner Wahl zum Landessuperintendent war für Herrenbrück »Der Dienst des Kirchenregiments« explizit Thema.117 Dabei griff er auch auf seine theologiehistorischen Untersuchungen zurück (vgl. Abschnitt 2.2) und führte Überlegungen von 1949 fort, mit denen er seine Landeskirche zu positionieren versucht hatte (vgl. Abschnitt 3.1). 4.2.1 Was ist »Kirchenleitung«? Eigentliche Kirchenleitung geschieht nach Herrenbrück durch die Ältesten in den Gemeinden. Die Gemeinden seien allerdings nicht »souverän« – eine besondere reformierte Gefahr (S. 307) des Kongregationalismus –, sondern stünden vielmehr in der Gemeinschaft des Glaubens mit anderen Gemeinden zusammen. Dieser zu bekennende Glaube führe zur »Bekenntniskirche bzw. Landeskirche« (S. 305).118 Eingedenk der Voraussetzung, dass Christus als das Haupt die Kirche durch sein in der Predigt geschehendes Wort regiere, könne »Kirchenregiment« keine »Machtfunktion« sein, sondern sei »Dienst« und nicht »Amt« (S. 306). Wenn Kirchenleitung für die Gemeinschaft der bekennenden Gemeinden Dienste übernehme, könne es nicht um formale landeskirchliche »Einheit« um ihrer selbst willen gehen. Kritisch, ja ablehnend nahm Herrenbrück Mitte der 50er Jahre solches »Machtstreben« wahr, in dem manifest würde, »wie stark sich die Landeskirchen seit dem Krieg in den Vordergrund geschoben haben, wie selbstverständlich man nicht nur in Rundfunk und Presse, sondern auch sonst in der öffentlichen Meinung 117

Abgedruckt in BBB Nr. 32 (August 1955), wiedergegeben auch in: Lomberg, Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, a.a.O., S. 304–310. Obige Zitate folgen dem Wiederabdruck. – In diesem Jahr 1955 zog die reformierte Kirchenleitung auch aus dem alten Auricher Konsistorialgebäude, einem repräsentativen Palais, aus und wechselte in ein eher bescheiden und nüchtern anmutendes funktionales Verwaltungsgebäude nach Leer. Bescheiden waren auch die beiden benachbarten Dienstsitze des Landessuperintendenten und des juristischen Vizepräsidenten. Der Bau entsprach dem ekklesiologischen Selbstverständnis: Kirchenleitung war nicht Herrschaft, sondern Dienst. 118 Die reformierte »Landeskirche« war nie im strengen Sinne eine Territorialkirche, vielmehr wurden in ihr unterschiedliche Regionen der preußischen Provinz Hannover durch das gemeinsame Bekenntnis (bzw. deren Traditionen) verbunden, vgl. Ulrichs, »In Einigkeit des wahren Glaubens«, a.a.O.

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damit umgeht, daß Kirche nur insoweit etwas mitzureden hat, als sie sich in eindrucksvollen Blockbildungen und unter Zuhilfenahme der entsprechenden Repräsentanten zur Geltung bringt« (S. 307). Es ginge im »mannigfaltige[n]« »Dienst des Kirchenregiments« vielmehr darum, neben der Statuierung eines formellen gemeinsamen Bekenntnisses – und hier nannte Herrenbrück die für die reformierte Landeskirche recht jungen Entscheidungen für den Heidelberger Katechismus (1936) und die Barmer Theologische Erklärung (1946) – auch die »Tatverantwortung hinsichtlich des Bekenntnisses« (S. 308) konkret werden zu lassen, also die Gestaltung des gemeinsamen kirchlichen Lebens wie allerdings auch die »Auseinandersetzung mit ihrer kirchlich-theologischen Umwelt«, in denen eine Bekenntniskirche auf Grund des lebendigen Bekennens, das stets neu in die Entscheidung stelle, sich immer befände (S. 308). Als diesbezügliches Schlagwort führte Herrenbrück hier den »politischen Gottesdienst«119 an, bei dem leicht eine »Verwechslung von Gottes Willen mit menschlichen Wünschen« (S. 310) drohe. Herrenbrück und Weggefährten konnten »Kirche« jedenfalls weder von einem vorgeordneten »Amt« noch als vorgegebene »Institution« denken. Statt »Kirche« sprach man ganz überwiegend von »Gemeinde«. In ihr gäbe es eigentlich nur das eine Amt Jesu Christi, an dem Christus Teil gibt und das für die Gemeinde(glieder) »Dienst und … in Demut und Gehorsam zu erfüllende Pflicht« bedeute.120 Als Jesu Christi »irdisch-geschichtliche Existenzform« (KD § 62)121 muss die Gemeinde auch eine konkrete »gute Ordnung« durch die Gemeinde selbst erhalten (S. 564). Durch diese geistlich-weltliche Mischform ergeben sich »zwei die Ämterlehre ständig bedrohende Gefahren«, nämlich »der Spiritualismus und der Institutionalismus« (S. 564). Auf Grund ihrer Reserven gegen ein ekklesiologisch selbstbewusstes Luthertum und erst recht gegen ein katholisches Amtsverständnis122 erscheinen die damaligen Reformierten und Herrenbrück selber eher der ersten Gefahr zu erliegen, 119

Dies ist gewiss eine Aufnahme von Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560 gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zollikon 1938. – In der 19. Vorlesung interpretierte Barth unter dem Titel »Der politische Gottesdienst« den Artikel 24 des Schottischen Bekenntnisses. 120 Walter Herrenbrück, Gemeinde und Amt, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, S. 562–570, hier: S. 562f. Die weiteren Zitate sind oben im Text belegt. – Vgl. hierzu auch Herrenbrücks Ausführungen in seinem Aufsatz zur »politia spiritualis« von 1937 in Abschnitt 2.2. 121 Herrenbrück weist a.a.O., S. 562, auf diese 1953 erschienenen Ausführungen Barths hin (§ 62, in KD IV/1, S. 718–826). Auch Barth spricht in der »Lehre von der Kirche« (S. 718) »von der christlichen Gemeinde«, und zwar als »christologische Thematik« (a.a.O., S. 719). 122 Die Gemeinde sei nicht abhängig »von der Funktion eines ihr überlegenen Amtes« mit einem »sakramental-klerikalen Charakter«, Herrenbrück, Gemeinde, a.a.O., S. 567.

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jedenfalls »darf die Gemeinde gewiß auch für charismatische Verkündigung aller Art offen sein … Wie sollte die Kirche nicht auch mit der Möglichkeit rechnen, daß neue Prophetie in ihr erweckt und sogar durch Glossolalie der Leib Christi erbaut wird.« (S. 567). An Jesus orientiert, »der in der Zeit seines Lebens auf Erden predigend sich den Seinen mitgeteilt hat« und der »auch als der Erhöhte bis zur Vollendung dieser Weltzeit Prediger des Evangeliums ist«, hat die Gemeinde »zuerst und wesentlich [den] Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums. Das ›Predigtamt‹ ist Mitte und Beziehungspunkt aller übrigen Ämter.« (S. 566f.)123 Im Zusammenhang mit dem »Predigtereignis« spricht Herrenbrück von »dem Geheimnis der Realpräsenz Christi« (S. 567). Neben dieser kräftigen Betonung des Predigtamtes spielen seine Ausführungen über die in der reformierten Tradition aufgehobenen drei weiteren Ämter der Ältesten, Lehrer und Diakone keine eigenständige Rolle, zumal sie nach Herrenbrücks Urteil als »starres Schema« aktuell auch »als wenig geeignet« erscheinen (S. 568). Auch die Jahre in der Kirchenleitung ließen die theologischen Bedenken gegenüber diesem »Dienst« der Kirchenleitung bei manchen Reformierten nicht geringer werden. Herrenbrücks Freund Udo Smidt, unterdes Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche, schrieb an Barth: »Wie sehr gerade Walter Herrenbrück und ich in unserem fragwürdigen Amt uns dabei dankbar in Ihrer Nähe befinden, werden Sie verspüren.«124 Unbenommen von diesen theologischen Skrupeln125 mögen selbst Reformierte kirchliche Machtpositionen subjektiv auch gerne ausgefüllt haben. 4.2.2 Was ist »reformiert«? Was aber waren nach Herrenbrück die Signaturen des Reformierten? Auf einer »theologischen Rüstzeit«, veranstaltet vom Coetus reformierter 123

»Predigt in der Gemeinde, darin hat Walter Herrenbrück seine und unsere wichtigste Aufgabe gesehen.« So in der Rückschau Halaski, Dank, a.a.O., S. 283. 124 Udo Smidt an Karl Barth, 6. Dezember 1962 (Übersendung der Jubiläumsausgabe des Heidelberger Katechismus), in: LKA Detmold, LLK 224–12/1: Jubiläumsausgabe Heidelberger Katechismus 1963. 125 Im reformierten Sonntagsblatt wird anlässlich von Herrenbrücks Ausscheiden 1963 ein Anonymus zitiert: »Das höchste Amt in einer Kirche ist das des Predigers. Das Amt des Landessuperintendenten ist in gewisser Weise eine Entfremdung diesem eigentlichen Auftrag gegenüber.« G[errit] H[erlyn], Dienstwechsel, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 67 (1963), Nr. 44 vom 3. November 1963, S. 1f., hier: S. 2. A.a.O., S. 8 (im Nachrichtenteil): »Mit dem 1. November ist D. Herrenbrück aus seinem Dienst als Landessuperintendent ausgeschieden und in das höchste kirchliche Amt eines Predigers des Evangeliums zurückgekehrt.« Eine solche Aussage unterstellt freilich, dass ein Landessuperintendent während seiner Dienstzeit nicht mehr Prediger des Evangeliums sei. Dies trifft Herrenbrücks Verständnis des Kirchen leitenden Amtes nicht, vgl. 4.1.

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Prediger Ostfrieslands, der Classis reformierter Prediger der Grafschaft Bentheim und vom Landeskirchenrat, fiel vor allem der junge Rheinländer Wolfgang Scherffig mit einem radikalen Referat auf, in dem er das »Reformiertsein« nur funktional, nicht aber als ein Kirche gründendes Bekenntnis verstehen wollte und deshalb anregte, die reformierte Landeskirche möge sich der Union anschließen.126 Auf dieser Tagung versuchte Herrenbrück eine Antwort auf die Frage »Warum müssen wir heute noch reformiert sein?«127 zu geben. Traditionelle Konfessionskirchlichkeit musste für Herrenbrück so unbefriedigend bleiben wie der sich wieder etablierende Konfessionalismus innerhalb der EKD-Kontexte. Ihn störte offenbar das institutionelle Selbstbewusstsein, mit dem die Kirchen sich in der Bundesrepublik positionierten. Dagegen betonte er als »reformiert« den »unanschaulichen Sachbezug: nach Gottes Wort reformiert. Reformiert heisst demnach: ständig im Aufbruch zur Quelle begriffen sein.« (S. 1) Allerdings sei man auch im reformierten Bereich den Weg zu einer »Bekenntniskirche im rechtlichen Sinne« gegangen: »[F]ür unsern irdischen Stand als Kirche hat ein geschichtlich fixiertes Bekenntnis rechtliche Bedeutung, und damit ist dies Bekenntnis zu einer statischen Größe geworden.« (S. 2) »Reformiert« sei aber kein »Aushängeschild« oder »Firmenschild« (S. 7), sondern ein Bekenntnis zum alleinigen »Reformator« der Kirche Jesus Christus (S. 3). Herrenbrück zeigte deutlich Sympathien für »die konfessionskritische Arbeit Karl Barths« (S. 5)128 und verweigerte sich der wiederholten »Frage nach dem reformierten Selbstverständnis« (S. 5). Es ging Herrenbrück seinem Selbstverständnis nach nie darum, in der EKD »das Reformierte« an sich zu sichern; vielmehr stritt er wie andere Reformierte darum, dass die EKD sich als »Kirche« – und nicht lediglich als Bund von Kirchen – verstehen möge (S. 6), in der die Reformierten einen Auftrag hätten, nämlich »die Verkündigung des Wortes Gottes selber in ihrer Konzentration und Mannigfaltigkeit« als Basis für die gesamte kirchliche Arbeit zu betonen (S. 7). Nur in dieser Funktion gäbe es ein »Recht unsrer reformierten Sonderexistenz« (S. 7). Der junge Landessuperintendent 126

Herrenbrück berichtete in BBB 16 (August 1953), S. 1–4, darüber. Kritiker meinten, Scherffig habe einen »den Bestand unserer Kirche angreifende[n], sie mit dürren Worten zum Selbstmord aufrufende[n] Vortrag« gehalten, a.a.O., S. 1. – Der Vortrag brachte Scherffig den Vorwurf eines »reformierte[n] Defaitismus« seitens Otto Webers ein, der dann auch den Abdruck dieses Vortrag in der Evangelischen Theologie zu verhindern wusste, vgl. von Bülow, Weber, a.a.O., S. 320f. Vgl. auch Stephan Bitter, Politischer Gottesdienst. Eine Erinnerung an Pfarrer D. Wolfgang Scherffig, in: Jahrbuch für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlands 63 (2014), S. 203–224; der Bentheimer Vortrag, a.a.O., S. 220, Anm. 56. 127 Wiedergegeben ist der Vortrag als Anlage zu BBB 18 (Oktober 1953). Die obigen Zitate werden danach belegt. 128 Diese findet sich etwa in KD IV/1 (1953), § 62, S. 753–765, wo Barth die konfessionelle Zerspaltung als »Skandal« bezeichnet, vgl. a.a.O., S. 754.

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schloss hier also an Überlegungen an, die er einige Jahre zuvor als nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung geäußert hatte (vgl. 3.1). Eine halbe Legislaturperiode später wurde Herrenbrück Ende der 50er Jahre aufgefordert, für eine Zeitschrift eine Selbstdarstellung der reformierten Konfession zu verfassen.129 Auch wenn er sich hier gleich zu Beginn ebenfalls konfessionskritisch als »einen aufrichtigen Freund der Union« bezeichnete (S. 2),130 sah er nun doch stärker die Notwendigkeit einer bleibenden Existenz der eigenen Konfession innerhalb der Union,131 um dem Gesamtprotestantismus auch weiterhin profiliert dienen zu können. »Reformiert«, so führte Herrenbrück selbstbewusst und selbstkritisch aus, sei weder vom konfessionellen Ursprung, der Geschichte oder der Gegenwart bestimmbar (S. 3); dort seien vielmehr vielfältige Formen und auch Verirrungen zu konstatieren, u.a. eine falsch verstandene »Gemeinde-Souveränität« (S. 4). Die Vielfalt der Formen, die Bindung an das Wort Gottes, das Wirken des Geistes und der eschatologische Vorbehalt befreiten von einem menschlichen Dogmatismus, führten vielmehr in die Freiheit auch der Gottesdienst- und Lebensgestaltung. Dienlich dazu seien Traditionsgüter wie der Heidelberger Katechismus (S. 10f.), auch wenn bei den Reformierten von Bekenntnisschriften ein »freie[r] … Gebrauch« gemacht werde. Signaturen des reformierten Protestantismus seien die Predigt als »Gottes eigenes Wort«132 sowie der Glaubensgehorsam, der sich auch in der »manchmal Ärgernis erregende[n] Neigung vieler Reformierter zu politischer Wirksamkeit« zeige (S. 10). 4.2.3 Reformierte Kirchenleitung Resümiert man Herrenbrücks Ausführungen zu dem, was »reformierte Kirchenleitung« sein kann, was »Kirchenleitung« und was »reformiert« bedeutet, dann fällt auf, dass beides funktional gesehen wird. Beides besitzt kein Eigenrecht, sondern muss sich jeweils an Vorgegebenem messen lassen. Letztlich geht es in allem um »Jesus Christus«. Möglicherweise ist dies nicht theologisch unterkomplex gedacht, sondern vielmehr eine theologische Überhöhung. Kritisch ausgedrückt könnte in einer derartigen theologischen Zuspitzung auch so etwas wie eine Ver129

Walter Herrenbrück, Nach Gottes Wort reformiert, in: Zeitwende 30 (1959), S. 235–244 (wiedergegeben auch in BBB 65 [Juni 1959], obige Zitate nach den BBB). – Die weiteren Konfessionsdarstellungen: Hans Thimme, Vom Selbstverständnis der Unionskirchen, a.a.O., S. 305–317; Friedrich Hübner, Evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses, a.a.O., S. 378–391. 130 »Die Freiheit des wirkenden Geistes macht die Reformierten, von Calvin bis Karl Barth, zu entschiedenen Freunden einer kirchlichen Union.« (BBB 65 [Juni 1959], S. 7) 131 Die Meinung, »auf eine kirchliche Sonderexistenz überhaupt verzichten und nur noch als Sauerteig in den Unionskirchen wirken zu sollen«, ginge »aber entschieden zu weit.« (ebd.) 132 Damit rekurriert Herrenbrück nochmals auf Heinrich Bullinger (vgl. oben 2.2).

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weigerungshaltung gesehen werden, mit den Realitäten umzugehen: Kirchenleitung wird zwar irgendwie bejaht, aber eigentlich ist Christus derjenige, der die Kirche leitet, während Kirchenleitung, die durch Menschen geschieht, nur unterstützend tätig ist, dass Christus recht in den Gemeinden verkündigt wird. Reformiert-Sein wird bejaht, aber der eigentliche Reformator der Kirche ist Jesus Christus, so dass »die Kirche« sich immer wieder kritisch fragen muss, ob sie Christus- und Schriftgemäß predigt und ausgerichtet ist. So entstand eine stark theologisch begründete Ekklesiologie und eine ebensolche Konfessionalität, aber beiden mangelte es – mindestens gelegentlich – an real(historisch)er Vermittelbarkeit. Für die eigene »Kirche« und für die eigene »Konfession« als eigenständige Größen lohnte es sich nicht wirklich zu kämpfen, sondern immer wieder neu und ausschließlich um die alleinige Orientierung innerhalb von Kirche und Konfession an Jesus Christus. Institutionenlogisch müsste man sich nicht nur theologisch, sondern auch an anderen Parametern orientieren. Hier liegt wohl eine gewisse Schwäche einer zu »starken« Theologie für kirchliche Praxis vor. Gewiss war Walter Herrenbrück nicht die einzige Kirche leitende Persönlichkeit, die vom Kirchenkampf geprägt und darin von dem Resistenzpotential Barth’scher Theologie überzeugt war. Vom Kirchenkampf geprägt waren etwa auch Martin Niemöller und Ernst Wilm, von Barth überzeugt war sicherlich auch Joachim Beckmann. Sie alle, nichtReformierte, hatten aber einen stärkeren Impuls, die real vorfindliche Kirche als Institution oder auch als gesellschaftliche Organisation zu gestalten und sie innerhalb der Gesellschaft zu positionieren. Ihnen war gewiss klar, dass sie – anders als Herrenbrück in der überschaubaren und regional nicht einheitlichen reformierten Landeskirche – für größere kirchliche Gebilde die Verantwortung zu tragen hatten. Der »leitende Geistliche« Herrenbrück unterschied sich nicht nur wegen seines Alters von den alten »Kirchenführern«: August Marahrens (1875–1950) musste 1947 abtreten, Theophil Wurm (1868–1953) trat 1949 in den Ruhestand und Hans Meiser (1881–1956) agierte bis 1955. Ein krasses Gegenmodell von Person und Stil stellte Herrenbrück in jedem Fall gegenüber Otto Dibelius (1880–1967) dar, dem durchsetzungsstarken Berliner Bischof, der von 1949–1961 Ratsvorsitzender der EKD war. Herrenbrück war kein »Schwärmer«, sondern nahm in seiner Kirche Leitungsverantwortung wahr: Neben dem Loccumer Vertrag 1955 ist nicht zuletzt auch an die erneuerte Kirchenverfassung von 1959 zu erinnern, die den Versuch einer »geistlichen Kirchenordnung« aus der Feder der Kohlbrüggianer Walter Hollweg und Peter Schumacher von 1949 endgültig obsolet erschienen ließ.133 133

Fokken, Kirchengemeinde- und Synodalordnung, a.a.O., S. 344–349. – Man wird also Herrenbrück nicht vorwerfen können, dass er bewusst einen »ekklesiastischen Doke-

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Die BBB, die eine aus heutiger Sicht eher konservativ anmutende Theologie Barth’scher Prägung mit progressiven Positionsbestimmungen wie einer klaren Bejahung der Frauenordination verbinden konnten, erschienen im Oktober 1963 mit der 100. Ausgabe zum letzten Mal – am Ende verabschiedete sich Herrenbrück mit einem Zitat aus KD II/1: »Gegen die Gefahren, die unserer Verkündigung vom theologischen Existentialismus her drohen, gibt es keine zuverlässigere Abwehr«, meinte er und zitierte: »Wird Gott im Glauben Gegenstand menschlicher Erkenntnis, so muß das heißen: Er wird Gegenstand menschlicher Anschauung und menschlichen Begreifens. Daraufhin wird es möglich und notwendig, von Gott zu reden und zu hören. Wenn das nicht der Fall wäre, dann gäbe es keine Erkenntnis Gottes, dann auch keinen Glauben an ihn. Gott wäre dann nicht auf dem Plan. Man könnte sich dann nicht an ihn halten. Es könnte dann auch nicht zu ihm gebetet werden. Und wo das geleugnet würde, daß Gott Gegenstand ist, da würde mit dem Leben der Kirche Jesu Christi, das darin besteht, daß von Gott geredet und gehört wird, da würde mit dem Gebet zu Gott auch die Erkenntnis Gottes und mit der Erkenntnis auch der Glaube an ihn geleugnet.«134 Walter Herrenbrück war, wie Karl Barth meinte, nach gut einer Dekade im leitenden geistlichen Amt »kirchenregierungsmüde geworden«.135 Dass der Schwung für weitere zwölf Jahre als Landessuperintendent fehlte, hing wohl auch mit den erheblichen Auseinandersetzungen um den Vizepräsidenten Dan zusammen (s.o.). Das leitende geistliche Amt umfasste eben auch die Ebenen der alltäglichen Kirchenverwaltung und der permanenten Verantwortung. Herrenbrück habe, so Gerrit Herlyn in seinem Nachruf, »diesen Dienst als Last empfunden, die ihm zu tragen auferlegt war und wozu er ein entsagungsvolles Ja immer wieder sagen mußte. Ihn hat es bedrückt und gequält, so viel Zeit in die Verwaltung, Sitzungen, Personalangelegenheiten, Reisen, Besprechungen usw. investieren zu müssen. Er war nüchtern genug einzusehen, daß das alles auch sein mußte, aber ihm war das im Grunde zuwider. Er war zurückhaltend genug, so daß wahrscheinlich nur wenige einen entspretismus« vertreten und praktiziert habe; vor einer solchen Geringschätzung der irdisch geschichtlichen Gestalt der Kirche hatte Barth gewarnt, KD IV/1 (1953), § 62, S. 729– 731. Allerdings mögen manche der Worte und Taten Herrenbrücks in diese Richtung gewirkt haben. »[D]as credo ecclesiam schließt in sich den kritischen Vorbehalt gegenüber ihrer ganzen irdisch-geschichtlichen Gestalt, es stellt sie in Frage, es negiert sie aber nicht.« So Barth, a.a.O., S. 737. 134 BBB 100 (Oktober 1963), S. 24 zitiert KD II/1, S. 14. 135 Barth, Briefe 1961–1968, a.a.O., S. 159. – Anlässlich einer Reise besuchte Karl Barth am 10. März 1956 auch Walter Herrenbrück im neuen Verwaltungsgebäude des Landeskirchenrates in Leer. Ein Bild mit Barth und Herrenbrück ist abgedruckt in: Kirchenbote. Blatt der evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland 22 (1978), Nr. 8, August 1978, S. 1.

5. Das rasche Ende barthianischer Kirchenleitung. Ein Resümee

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chenden Seufzer aus seinem Mund und Herzen gehört haben.«136 Aber Herrenbrück war wohl nicht nur frustriert von den Zeitläuften, sondern wollte tatsächlich in den Gemeindedienst zurück. Bereits 1937, mithin ganz am Anfang seiner kirchlichen Laufbahn, hatte er formuliert, »daß [kirchliches] Amt Dienst ist, geordneter, ordinierter Dienst zwar, aber eben doch nur Dienst. Diese Einsicht allein verhilft zu einem rechten Ethos des kirchlichen Amtes.«137 Unmittelbar nach der Wahl 1951 hatte Kirchenpräsident Middendorff im Hinblick auf den soeben gewählten Herrenbrück gesagt: »Wir sind überzeugt, daß es die volle Wahrheit ist, wenn Du uns mehr als einmal versichert hast, daß Du dieses Amt nicht begehrt hast, sondern uns mehr als einmal sagtest, Dein liebster Dienst wäre der Dienst an einer Gemeinde in Predigt und Seelsorge.«138 Die eng zusammen gehörenden Aufgaben der Predigt, der Seelsorge und des Unterrichts realisierten sich am besten im Gemeindedienst.139 Deshalb verließ Herrenbrück das »Amt« des leitenden Geistlichen, um mit den Ältesten in einer Gemeinde tatsächlich Kirche zu leiten – in der Gemeinde Hannover. Man muss den Entschluss Herrenbrücks nicht heroisieren, aber zweifellos scheint hier ein pastorales Ethos auf, das nicht von ungefähr im reformierten Milieu barthianischer Prägung entstehen konnte. 5. Das rasche Ende barthianischer Kirchenleitung. Ein Resümee In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat es in protestantischen Kirchenleitungen Barthianer gegeben. Allerdings standen sie mit ihrer theologischen Existenz in einer für sie eher unmöglichen kirchlichen Funktion. Walter Herrenbrücks zwölfjährige Amtszeit als Landessuperintendent ist dafür ein guter Beleg. Nutzte die Theologie Barths in den vordergründig rein theologischen, de facto aber auch politischen Auseinandersetzungen des Kirchenkampfes, so scheint sie sich mit einem in der pluralen Volkskirche vorherrschenden Pragmatismus nicht gut vermittelt haben zu lassen. Die oppositionelle Positionierung der Reformierten gegenüber einem selbstbewussten kirchlich-konfessionellen Kurs 136

G[errit] H[erlyn], Zum Heimgang von Walter Herrenbrück, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 82 (1978), Nr. 33, 13. August 1978, S. 3. Vgl. a.a.O., S. 8 die Nachricht über den Tod des früheren Landessuperintendenten. Von solcher empfundenen, aber auch fröhlich getragenen »Last« bei Herrenbrück spricht ebenso Halaski, Dank, a.a.O., S. 284. 137 Herrenbrück, Politia spiritualis, a.a.O., S. 22, Anm. 6. 138 Niederschrift 7. LKT, a.a.O., S. 50. 139 Das hat Herrenbrück dann auch im Gemeindepfarramt in seiner theologischen Tradition reflektiert: Walter Herrenbrück, Lehren – Predigen, in: Karl Halaski / Walter Herrenbrück (Hg.), Kirche, Konfession, Ökumene. Festschrift für Professor D. Dr. Wilhelm Niesel, Neukirchen-Vluyn 1973, S. 55–63.

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lässt sich in den 20er Jahren bei den Debatten um ein preußisches Bischofsamt nachvollziehen und auch in den 30er Jahren, als Kirchenleitungen und -hierarchien sich nur allzu rasch vom Nationalsozialismus und seinen kirchlich-theologischen Helfern hatten korrumpieren lassen. Als es aber nach 1945 notwendig wurde, in einem pluralen demokratischen Rechtsstaat kirchliche Strukturen in institutioneller Form aufzubauen und zu etablieren, mussten Reformierte mit ihrem grundsätzlichen Unbehagen, ja Misstrauen gegen kirchliche Macht ins Hintertreffen geraten. Es mag sympathisch anmuten, Kirche so radikal von Gemeinde und also von unten her zu denken, nicht jedoch von Kirchenleitung, kirchlichem Amt und also von oben her, aber auch Herrenbrück ahnte hier genuin-reformierte Probleme eines missverstandenen Kongregationalismus. Als das landesherrliche Kirchenregiment bis 1918 und danach noch vielleicht für die Dauer einer Generation seine Wirkungsgeschichte einen starken institutionellen und soziologischen Rahmen abgaben, blieb diese Haltung ohne negative Konsequenzen. In der freien Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland allerdings bedeutete ekklesiologisches »Schwärmertum« – i.S. einer Überbetonung theologischer Annahmen unter Ausblendung soziologischer Gegebenheiten – sowohl einen raschen gesellschaftlichen als auch einen binnenprotestantischen Bedeutungsverlust. Reformierte marginalisierten sich und schienen sich in der Opposition in Kirche und Gesellschaft am wohlsten gefühlt zu haben, selbst wenn sie zu kirchlichem und gesellschaftlichem Ansehen und Einfluss gekommen waren. Walter Herrenbrück hat kirchengeschichtlich betrachtet wohl nur wenige institutionelle Spuren hinterlassen. Seine »Kirchenleitung im Anschluß an Karl Barth« gestaltete er in theologischer, politischer und persönlicher Verbundenheit mit seinem verehrten Lehrer. Diese hat es ihm nicht eben leichter gemacht, seinen Frieden mit den gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingtheiten der frühen Bundesrepublik zu schließen. Ob man deshalb von einem Scheitern als »Kirchenfunktionär« sprechen sollte? Herrenbrück war eine bemerkenswerte Persönlichkeit, ein kundiger Theologe und ein begnadeter Kommunikator und dadurch ein respektabler Kirchenfunktionär. Dass er den Weg zurück in das gemeindliche Pfarramt fand, zeugt nicht – nur – von seinem institutionellen Scheitern, sondern offenbart – auch – seine persönliche und theologische Größe.

Theologische Gewissheit und angefochtenes Leben Der »Radikalbarthianer« Hellmut Traub

1. Einleitung Hellmut Traub war wohl einer der schillerndsten Barth-Schüler im deutschsprachigen Raum. Der Sohn eines sowohl prominenten als auch umstrittenen Theologen des ausgehenden Kaiserreiches und der Weimarer Republik, der sich theologisch ganz vom Vater distanzierte, war musisch hochbegabt und persönlich einnehmend. Als Student erwarb er die Sympathien eines großen Freundeskreises sowie Karl Barths und dessen Gefährtin Charlotte von Kirschbaum, wurde gar deren Hausgenosse. Dass seine sexuelle Orientierung ihm gesellschaftlich gefährlich werden und kirchlich im Wege stehen musste, wussten die ihm Nahestehenden. Trotz seiner Begabungen konnte Traub akademisch nicht reüssieren und wurde doch auch ohne akademische Qualifikationen immer wieder – allerdings vergeblich – protegiert. Sicher nützten ihm dabei seine teils auch familiär vermittelten Kontakte zu Prominenten und Mächtigen: in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« wie auch in der Bundesrepublik. Von vielen Menschen geschätzt, ja geliebt, war ihm dann nach 1945 doch nicht mehr als ein reformiertes Pfarramt möglich, das ihm möglicherweise einen gewissen Halt gab – und auch der Ort seiner inkriminierten Verfehlungen wurde. 2. Herkunft Hellmut Traub wurde am 13. Juli 1904 als zweites Kind von Pfarrer Gottfried Traub und seiner Frau Elma, geb. Heinersdorff, in Dortmund geboren und wuchs dort während des letzten Friedensdezenniums des Kaiserreiches in einem Dortmunder Pfarrhaus heran. Vater Gottfried Traub (1869–1956), selber aus einem Pfarrhaus stammend, war seit 1901 Pfarrer an der Reinoldi-Kirche in der werdenden Groß- und Industriestadt Dortmund. Traub war zuständig für eine große Arbeitergemeinde, in der die Familie auch wohnte. Gottfried Traub, der später ausgesprochen nationalkonservative Töne anschlagen sollte – vor allem in den von ihm herausgegebenen »Eisernen Blättern« –, war theologisch-

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kirchlich liberal gesonnen.1 Als seinen eigenen Nachfolger an der Reinoldi-Kirche wünschte er sich Emil Fuchs, den später führenden Kopf der Religiösen Sozialisten in Deutschland. Schon früh begann Hellmut Traub, Klavier zu spielen; der ReinoldiOrganist Carl Holtschneider führte ihn in das Orgelspiel ein. Nach einer privaten Vorschule besuchte Hellmut Traub von Ostern 1914 bis Ostern 1919 das Städtische Evangelische Gymnasium Dortmund. Wegen eines Lungenblutsturzes schickten ihn seine Eltern zu einem Kuraufenthalt auf das Pädagogium nach Wyk auf Föhr, wo er bis Ostern 1921 blieb. Die beiden letzten Gymnasialjahre verbrachte er auf dem Theresiengymnasium München, wo er Ostern 1923 das Abitur ablegte. Der Umzug von Dortmund nach Solln bei München war notwendig geworden, da Gottfried Traub sich hatte gewinnen lassen, an verantwortlicher Stelle am Kapp-Putsch (März 1920) teilzunehmen, um als designierter Kultusminister bereitzustehen; danach konnte er sich in der Arbeiterstadt Dortmund nicht länger als Pfarrer halten. Gottfried Traub wurde Herausgeber der München-Augsburgischen Zeitung und bewegte sich als Nationalkonservativer auf der politischen Bühne der Weimarer Republik. Durch die Pressearbeit erlebte die Familie Traub den Hitler-Putsch am 9. November 1923 aus großer Nähe. In Solln spielte Hellmut Traub die Orgel der evangelischen Kirche, und lernte so den jungen Pfarrer Theodor Heckel (1894–1967) kennen, der ihm im Frühjahr 1933 als Aufsteiger innerhalb der kirchlichen Bürokratie im Kirchenbundesamt in Berlin gegenübertreten wird – Traub wird da schon auf der oppositionellen Seite stehen. 3. Studienwechsel Als 19jähriger begann Hellmut Traub 1923 zunächst ein Jura- und Volkswirtschaftsstudium in Berlin. Hier fand er auch Zugang zum Juniorenklub des »Herrenklubs«, einem Zirkel von konservativen Männern aus Adel und bürgerlicher Oberschicht. Durch den gesellschaftlich und politisch engagierten Vater geprägt und durch die ersten Studienjahre beeinflusst, blieb Traub Zeit seines Lebens ein eminent politischer Zeitgenosse. Doch sein Berufsweg führte ihn dann weder zur Musik noch zur Politik, sondern zur Theologie. Dorthin wies ihn sein juristi1 Gottfried Traub verteidigte 1911 den Kölner Pfarrer Carl Jatho vor dem Kirchengericht und wurde daraufhin ebenfalls suspendiert; 1918 wurden ihm aber wieder die geistlichen Rechte verliehen. – Hellmut Traub sollte später eine ganz andere Theologie vertreten; wie sehr er vom Vater beeindruckt blieb, dokumentiert sein Aufsatz zu dessen 85. Geburtstag: Hellmut Traub, Gottfried Traub – 85 Jahre, in: DtPfrBl 54 (1954), S. 4–6. – Vgl. insgesamt Willi Henrichs, Gottfried Traub (1869–1956). Liberaler Theologe und extremer Nationalprotestant (Schriften der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft 8), Waltrop 2001.

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scher Mentor Ulrich Graf Finck von Finckenstein (1899–1966). Finckenstein ermahnte ihn gelegentlich eines Gesprächs, das eigentlich dem Studium juristischer Akten galt: »Sie fliehen vor Gott! Sie sind doch ein Pfarrer!« Die Freundschaft mit Finckenstein und dessen Familie hielt ein Leben lang.2 4. Theologiestudium, kirchliche Ausbildung und Kirchenkampf Ab Ostern 1930 studierte Traub acht Semester lang Theologie, zunächst in Tübingen und dann ab 1931 in Bonn bei Karl Barth. Barth schreibt in einem Gutachten, dass Traub mit »großem Ernst« studiere und ihn eine Reife auszeichne, »mit der er sich um die angrenzenden Probleme der Politik, der Philosophie, der Ästhetik bemüht«. In Bonn gehörte Traub mit Georg Eichholz, Helmut Gollwitzer, Benjamin Locher, Heinz Otten, Fritz Schipper und Karl Gerhard Steck zu einem Barth-SchülerFreundeskreis.3 Seine Referate in den Seminaren und Sozietäten »standen erheblich über dem Niveau«; deshalb hielt Barth seinen Schüler »für einen Studenten, dessen Arbeit man mit besonders guten Hoffnungen begleiten darf.« 1932 hielt Traub in der Sozietät einen Vortrag über den »Fall Dehn«, den Barth in der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« aufnahm.4 Auch Traubs Vater war durch Zeitungsveröffentlichungen in diese Auseinandersetzung involviert. Trotz des bekannten Familiennamens und des nationalkonservativen Vaters war man vor der staatlichen Willkür im »Dritten Reich« nicht sicher, weil die Mutter als »Halbjüdin« galt. Bereits 1933 verlor Hellmuts Bruder Hans (1901–1943), ein habilitierter Zeitungs- und Filmwissenschaftler, im Herbst 1933 seine Universitätsstellen in Berlin und Greifswald.5 In den Jahren 1933/1934 wohnte Hellmut Traub in der Mansarde von Barths Wohnung im Haus Siebengebirgsstraße 18 und unterhielt offenbar besonders zu Charlotte von Kirschbaum enge Kontakte,6 ebenso wie zu Elisabeth Freiling, die auch in Barths Haus leb2

Unterdes ist eine Familiengeschichte erschienen: Günther de Bruyn, Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens, Berlin 1999. 3 Vgl. deren Rundbriefe aus dem Jahr 1933, in: Hellmut Traub, »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit«. Beobachtungen eines Predigers, Zeugen und Lehrers zur kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von Hans-Georg Ulrichs, mit Beiträgen von Gerhard Sauter und Hinrich Stoevesandt, Wuppertal 1997, S. 41–95. 4 Über diesen Artikel gibt es einen Briefwechsel zwischen Emanuel Hirsch und Traub: Hirschs Brief an Traub vom 26. August 1932 und Traubs Brief an Hirsch vom 6. September 1932 (beide im Nachlass Traub, UB Tübingen). 5 Karl Barth / Charlotte von Kirschbaum, Briefwechsel, Band 1: 1925–1935, hg. von Rolf-Joachim Erler, Zürich 2008, S. 315, Anm. 7. 6 Vgl. die zahlreichen Briefe Ch. von Kirschbaums an H. Traub in: Karl Barth, Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch unter Mitarbeit von Bartolt Haase und Barbara

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te.7 Traub begleitete seinen theologischen Lehrer auf dessen Wegen innerhalb der Bekennenden Kirche; so nahm Traub als Gast an der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 teil. Im Sommersemester 1934 wurde er vom Studium relegiert, weil er mit einigen Kommilitonen versucht hatte, die Bonner Fachschaft der Bekennenden Kirche (BK) beizuordnen. Im Spätherbst 1934 legte er vor der westfälischen BK-Prüfungskommission das Erste theologische Examen ab. Danach war er ab dem 1. Januar 1935 Vikar in Bad Honnef und sorgte sich um Charlotte von Kirschbaum besonders in den Sommerwochen 1935, als der Umzug der Familie Barth nach Basel zu organisieren war und Barth selbst auf dem »Bergli« weilte. Im Sommersemester 1936 arbeitete Traub kurzzeitig als Assistent beim vom Bonn strafversetzten Ernst Wolf in Halle, gab dort auch Schulunterricht und half in der Krankenhausseelsorge, aber bereits zum 1. August 1936 wurde er dem BK-Superintendenten Wolfgang Staemmler in Großkugel bei Halle zugeordnet. Im März 1937 folgte das Zweite theologische Examen in Barmen, also auch vor einem BK-Gremium. Nach seiner Ordination durch Otto Dibelius am 10. Mai 1937 in Berlin-Dahlem wirkte Traub als »Pfarramtskandidat« in Fürstenwalde/Spree; diese Tätigkeit wurde jedoch am 31. März 1938 durch ein Redeverbot beendet. Da er den kirchlichen Eid auf den Führer verweigerte, bestand auch keine Möglichkeit mehr, von der »offiziellen« Kirche als Pfarrer angestellt zu werden. Vom 1. April 1938 bis zum 30. April 1939 vertrat er eine BK-Pfarrstelle der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Gemeinde in Potsdam und versah dann, nach einem weiteren Redeverbot, vom 1. Mai bis zum 15. August 1939 die Leitung des preußischen BK-Predigerseminars auf dem Sigurdshof als Vertreter Dietrich Bonhoeffers, der seinerzeit in den USA weilte. Bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht am 10. Februar 1940 arbeitete Traub als Dozent des Katechetischen Seminars der Goßnermission in Berlin-Friedenau, das von Missionsinspektor Hans Lokies geleitet wurde. Im Mai verhaftete ihn die Geheime Staatspolizei und konstruierte aus einem hektographierten Brief Barths, der bei Traub gefunden wurde, und einem mehrmals gehaltenen Vortrag über den Krieg »hochverräterische« Äußerungen; daraufhin wurde Traub sofort zu einer Bautruppe eingezogen. Bis dahin hatte Traub schon mehrere Gefängnis- und KZ-Aufenthalte hinter sich: Im August 1935 verhaftet, wurde Traub in einem VerSchenk, Zürich 2004, s.v. Traub, Hellmut. Vgl. auch Caren Algner, Kirchliche Dogmatik im Vollzug. Karl Barths Kampf um die Kirche im Spiegel von seiner und von Charlotte von Kirschbaums Korrespondenz mit Eduard Thurneysen 1930–1935, NeukirchenVluyn 2004. – In den familiären Kontexten wurde Hellmut Traub oft liebevoll und ironisch zugleich »Träublein« genannt – wie auch Ernst Wolf oft als »Wölflein« bezeichnet wurde. 7 Vgl. Charlotte von Kirschbaum und Elisabeth Freiling, Briefwechsel 1934 bis 1939, hg. von Günther van Norden, Göttingen 2014.

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fahren wegen § 175 zwar freigesprochen, aber dennoch anschließend in das KZ Dachau überführt,8 wo ihm als Grund seiner Inhaftierung seine kirchliche Auslandskorrespondenz genannt wurde.9 Nach drei Monaten wurde Traub nach einer Intervention von Willem A. Visser ’t Hooft Anfang Januar entlassen.10 Im Juni 1937 verbrachte Traub wegen einer Kollektenabkündigung für die BK 14 Tage Haft in Fürstenwalde, im Juli weitere vier Wochen, schließlich wurde Traub noch zweimal für kürzere Zeit im November 1937 und im März 1939 inhaftiert. Nach der Einziehung zur Wehrmacht verweigerte Traub den Eid auf den »Führer«, obwohl sogar die BK den Eid nicht grundsätzlich abgelehnt hatte. Der Hauptmann hielt aber seine Hand über ihn. Noch bevor die Kompanie an die Front kam, wurde Traub im Februar 1942 als eine Art Abteilungsleiter der I.G. Farben nach Berlin dienstverpflichtet; später wird sich herausstellen, dass Ulrich Graf Finckenstein diese Unabkömmlichkeitsstellung für Traub erreicht hatte. Während dieser Tätigkeit gelang es Traub in Zusammenarbeit mit anderen aus den Kontexten des 1940 von der Gestapo geschlossenen »Büro Grüber«,11 gefälschte Pässe, Visa und Lebensmittelmarken für jüdische Mitbürger zu besorgen. In diesen Jahren übte Traub pfarramtliche Vertretungsdienste aus, u.a. in Berlin-Dahlem, wo sein Freund Helmut Gollwitzer den bekannten KZ-Häftling Martin Niemöller als Pfarrer vertrat.12

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Ein Bericht davon im Brief Ch. von Kirschbaums an E. Freiling, 24. Oktober 1935, in: Kirschbaum-Freiling-Briefwechsel, a.a.O., S. 48f. 9 Traub berichtete später von diesem KZ-Aufenthalt, allerdings nicht von seiner voraufgehenden Verhaftung auf Grund des Vorwurfs eines Sexualdeliktes, etwa: Hellmut Traub, Autobiographische Skizzen, in: Hellmut Traub (1904–1994), Nachlaßverzeichnis, bearb. von Iris Biesinger (Nachlassverzeichnisse der Universitätsbibliothek Tübingen 3), Wiesbaden 2003, S. 11–45, hier: S. 39. 10 Vgl. die Briefe Ch. von Kirschbaums an W.A. Visser ’t Hooft, 7. Dezember 1935 und 28. Januar 1936, in: Karl Barth / Willem Adolf Visser ’t Hooft, Briefwechsel 1930– 1968, hg. von Thomas Herwig, Zürich 2006, S. 45–48. – Angekündigt ist Rebecca Scherf, Evangelische Kirche und Konzentrationslager 1933 bis 1945 (AKiZ B 71), Göttingen 2018; dort sollen die Schicksale aller nachweisbaren evangelischen Pfarrer, Vikare etc. unter den KZ-Insassen nachgezeichnet werden. 11 Vgl. Hartmut Ludwig, An der Seite der Entrechteten und Schwachen. Zur Geschichte des Büro Pfarrer Grüber (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945, Berlin 2009. 12 Ich danke Eberhard Röhm für Hinweise im Zusammenhang mit Traubs Verhaftungen und Tätigkeiten während des Zweiten Weltkriegs, die zu einigen Korrekturen in diesem Text führten. Vgl. auch ders., Art. Hellmut Traub, in: Hartmut Ludwig / Eberhard Röhm (Hg.) in Verbindung mit Jörg Thierfelder, Evangelisch getauft – als »Juden« verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 348f.

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Während der Berliner Zeit lernten sich Hellmut Traub und Aenne Schümer (geb. 23. Dezember 1904 in Magdeburg) kennen, die damals als »Vikarin« arbeitete.13 5. Pfarrämter und Theologie nach 1945 Nach der Flucht aus dem umkämpften Berlin gelangten Traub und Schümer im Mai 1945 nach Glinde an die östliche Peripherie Hamburgs. Traub begann dort sofort mit dem pastoralen Dienst und wurde noch im Herbst 1945 von der Ev.-luth. Kirche Schleswig-Holsteins zum Pfarrer ernannt, obwohl es immer wieder Auseinandersetzungen mit Pfarrkollegen gab, die nicht zur BK gehört hatten. Ab März 1946 wurde er zusätzlich im britischen Interniertencamp Neumünster als Seelsorger für NS-Funktionäre und Kriegsverbrecher eingesetzt. Anders als der protestantische mainstream beharrte Traub dabei wenigstens auf ein Schuldeingeständnis der Insassen. Schließlich wurde Traub zum 1. Januar 1947 als 2. Pfarrer nach Hamburg-Volksdorf berufen. Am 15. Februar 1946 heirateten Hellmut Traub und Aenne Schümer. Der Ehe entstammt Sohn Andreas, der als Musikwissenschaftler das musische Erbe des Vaters weiterführen sollte. In dieser Zeit sammelte Traub auch Studierende des »Theologischen Vorlesungswerkes« in Hamburg um sich, quasi Präparanden für ein Theologiestudium. Einer von diesen war Jürgen Moltmann, der aus Krieg und Kriegsgefangenschaft kam und Traub unter den kirchlichen Dozenten als »Lichtblick« beschrieb: »Er war ein Radikalbarthianer und hatte ab 1932 in Bonn bei dem Barth der ersten beiden Bände der Kirchlichen Dogmatik studiert. Er hatte sich später in Berlin mit der Bekennenden Kirche für Verfolgte eingesetzt und dafür im KZ gelitten. Traub predigte in Volksdorf so ›senkrecht von oben‹, dass er im ›Einschlagstrichter‹ des Wortes Gottes stets ins Stammeln und Flehen verfiel und mir wie ein Aljoscha Karamasow vorkam. Er sammelte Theologiestudenten in seiner Wohnung um sich. Dort lernte ich auch seine bewundernswerte Frau Änne kennen, eine Theologin der ersten Generation. Traub gab ein Seminar über ›Heiligung bei Luther, Calvin und im Pietismus‹ und studierte mit uns die Originaltexte. Ich war gern bei ihm. Er vermittelte

13 Vgl. Matthias Schreiber, Art. Schümer, Aenne, in: BBKL IX (1995), S. 1047f.; Ilse Härter, Art. Änne Traub geb. Schümer 1904–1982, in: Lexikon früher evangelischer Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 405; dies., Widerständig, solidarisch, emanzipiert. Die BK-Theologin Aenne Schümer, in: Günther van Norden / Klaus Schmidt (Hg.), Sie schwammen gegen den Strom. Widersetzlichkeit und Verfolgung rheinischer Protestanten im »Dritten Reich«, Köln 22007, S. 66–68.

5. Pfarrämter und Theologie nach 1945

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mich zum Wintersemester 1948/49 zu seinem Freund Ernst Wolf nach Göttingen, der mir dort zu einem Studienplatz verhalf.«14 Nach nicht einmal zwei Jahren in Volksdorf verzichtete Traub im September 1948 aus persönlichen Gründen auf seine Pfarre15 und zog mit seiner Frau über Göttingen nach Stuttgart. Für ein Jahr fand er bei der Redaktion des Kittelschen Wörterbuches zum Neuen Testament eine Anstellung, ab 1954 war er dort ständig in der Redaktion beschäftigt. Bereits im November 1949 schloss er sich der reformierten Gemeinde in Stuttgart an und kam hier pastoralen Tätigkeiten nach – bis 1950 war der tapfere Kurt Müller ehrenamtlicher Pastor dieser DiasporaGemeinde, bevor er in die niedersächsische Politik wechselte. Müller war wie Traub direkter Barth-Schüler und hatte sich wie Traub an der Rettung jüdischer Mitbürger beteiligt.16 In der folgenden Zeit, die geprägt war von Auseinandersetzungen vor allem mit Paul Schempp, der Müller in den Jahren zuvor de facto vertreten hatte, versuchte Traub, die bis dahin freie Gemeinde der Evangelisch-reformierten Kirche (damals: Ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland) anzugliedern.17 Unterstützt wurde er darin von Hermann Diem und Harald Buchrucker; den einen bat die reformierte Kirchenleitung, zunächst die ephorale Aufsicht über Traub zu führen, der andere führte im März 1956 gemeinsam mit Karl Barth die entscheidenden Verhandlungen mit der Kirchenleitung in Leer, hier vor allem mit Landessuperintendent Walter Herrenbrück, der sich wie Traub der Tradition der BK und der Theologie Karl Barths verpflichtet fühlte. 1957 wurde in Stuttgart eine landeskirchliche Pfarrstelle eingerichtet. Die Auseinandersetzungen um die Gemeindeordnung zogen sich bis 1962 hin, wobei sich ein Teil der Gemeinde zurückzog. Bis zu seiner Emeritierung 1969 blieb Traub dieser Gemeinde treu, in seinem Amt stets unterstützt von seiner Frau, die die gemeindliche Diakonie leitete. In den fünfziger Jahren entstanden mehrere kleinere Arbeiten zur neutestamentlichen Hermeneutik, v.a. in Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann.18 Bultmann zeigte sich »entsetzt«19 über Traubs Arbeiten, 14 15 16

Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, S. 49. S.u. Abschnitt 7. Eberhard Busch, Die Menschlichkeit war größer als die Angst. Erinnerung an Kurt Müller (1902–1958), in: EvTh 57 (1997), S. 495–512; ders., Kurt Müller. Anwalt der Verfolgten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. 17 Vgl. ausführlich Matthias Morgenstern, Paul Schempps zweiter »Kampf um die Kirche«. Die Auseinandersetzung um die Evangelisch-Reformierte Gemeinde in Stuttgart, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 101 (2011), S. 153–183. Vgl. auch Ernst Bizer, Ein Kampf um die Kirche. Der »Fall Schempp« nach den Akten erzählt, Tübingen 1965, S. 182–193. 18 Zu den Auseinandersetzungen um Bultmann, die den Protestantismus um und nach 1950 stark bewegten, vgl. u.a. Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn 2010, S.

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was aber weder Bultmann noch Traub daran hinderte, persönlich ein gutes Verhältnis zueinander zu unterhalten,20 zumal Aenne Traub in den zwanziger Jahren bei Bultmann in Marburg studiert hatte. Bultmann wohnte 1948 für kurze Zeit beim Ehepaar Traub in Hamburg und charakterisierte Traub danach folgendermaßen: »Ein ausgezeichneter, aber unter starken Hemmungen stehender Mensch, dessen Treue gegenüber Karl Barth nur fast zu einer Art Hörigkeit gegenüber dem ›Meister‹ (so nennt er ihn selbst) wird.«21 Ein besonderes Anliegen Traubs war jedoch die Verkündigungspraxis der Kirche. Für die Reihen »Herr, tue meine Lippen auf«, »hören und fragen« und »Göttinger Predigtmeditationen« verfasste er bis 1990, mithin über vier Jahrzehnte, eine Vielzahl von Predigthilfen, deren Einfluss auf die Predigttätigkeit vieler tausend evangelischer Pfarrer in Deutschland nicht zu quantifizieren sein dürfte. Im Jahr 1954 veröffentlichte er eine kleine Rechenschaft über die Predigtvorbereitung. Durch die Friedensbewegung »Kampf dem Atomtod« engagierte sich Traub mit den ersten Ostermärschen wie viele deutsche Protestanten zivilgesellschaftlich, nahm an Konferenzen der (pro-sowjetischen) Weltfriedensbewegung teil und erneuerte die von seinem Elternhaus her bestehende Verbindung zu Albert Schweitzer. Sein Versuch, mit Renate Riemeck u.a. durch die Deutsche Friedensunion (DFU) politisch-parlamentarisch Einfluss zu gewinnen, scheiterte ähnlich wie Gustav Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Dennoch blieb Traub bis in die 60er Jahre hinein politisch aktiv. Heinemann gewann ihn dann später für eine Mitgliedschaft in der SPD. In den fünfziger Jahren reiste Traub mehrmals zu Walther Feurich und der reformierten Gemeinde nach Dresden, um die Verbindung der sächsischen Kirche zu Karl Barth aufrecht zu erhalten. Traub blieb nicht zuletzt durch die stets in der Schweiz verbrachten Sommerferien in enger Verbindung zu Karl Barth und Eduard Thurneysen. Barth empfahl ihn dann sogar für den reformierten Lehrstuhl in Erlangen, aber wegen der fehlenden akademischen Qualifikationsarbeiten konnte Traub nicht berücksichtigt werden.22 321–328; Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989) (AKiZ B 53), Göttingen 2012, cap. 4. 19 Bultmann an Barth, 11.–15. November 1952, in: Karl Barth, Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, hg. v. Bernd Jaspert, Zürich 21994, S. 167–191, hier: S. 171. 20 Vgl. den Briefwechsel zwischen Bultmann und Traub im Nachlass (UB Tübingen). 21 Brief Rudolf Bultmanns an Ernst Wolf, Marburg, 21. Juni 1948, in: Rudolf Bultmann, Briefwechsel mit Götz Harbsmeier und Ernst Wolf 1933–1976, hg. v. Werner Zager, Tübingen 2017, S. 592–595, hier: S. 594. 22 Vgl. Brief Barths an Wilhelm Niesel, 22. Juni 1964, in: Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, herausgegeben von Matthias Freudenberg und HansGeorg Ulrichs, Göttingen 2015, S. 270.

6. Ruhestand

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Durch die Freundschaft mit dem Pianisten Jürgen Uhde (1913– 1991) kam Traub zu einem Professorenzirkel der Technischen Hochschule (TH) Stuttgart, an dem Max Bense, Hans Fegers, Hans-Otto Kneser und Robert Spaemann teilnahmen. So wurde er später für lange Zeit geistlicher Mentor für einen Kreis von Studenten der evangelischen Studienstiftung Villigst. Traub war aber nicht nur Pfarrer, sondern auch mit ganzem Engagement Lehrer: Von 1957 bis 1979 unterrichtete er als Religionslehrer an der Werkhaus-Werkschule A.L. Merz in Stuttgart, von 1961 bis 1989 als Dozent für Kirchengeschichte, später auch für Neues Testament an der Evangelischen Missionsschule der Bahnauer Bruderschaft in Unterweissach. Wie stark er hier engagiert war, zeigt der umfangreiche Nachlass von Seminar- und Vorlesungsskripten. Wie weit Traubs Interessen gespannt waren, erahnt man an seinen persönlichen Kontakten: genannt seien nur die Familie von Finckenstein, Harald Buchrucker (1897–1985), der als Kunsthandwerker in Ludwigsburg tätig war, und seine Frau Käthe, der Musiker Jürgen Uhde und die Malerin Grete Csaki-Copony (1893–1990), die auf Betreiben Traubs für die reformierte (!) Gemeinde in Stuttgart Glasfenster anfertigte. 6. Ruhestand Nach seiner Emeritierung 1969 siedelten Traub und seine Frau Aenne nach Bietigheim über, wo sie einen überaus aktiven Ruhestand verlebten. Traub mischte sich in theologische und kirchenpolitische Kontroversen ein, vor allem im Umfeld der Zeitschrift »Evangelische Theologie«. Nicht selten legte er Widerspruch ein, nicht nur gegen eine aus seiner Sicht ermäßigte Christologie im Zusammenhang mit dem jüdisch-christlichen Gespräch, sondern auch gegen ›linksbarthianische‹ Positionen in den Friedensdebatten. Traub »hielt diese Politisierung des Evangeliums für einen Verrat an Barth und an der Tradition der Zeitschrift [sc. Evangelische Theologie]. Über Ernst Wolfs Sohn Uvo Andreas Wolf suggerierte er, wir sollten den Namen von Ernst Wolf aus dem Impressum tilgen und den Namen der Zeitschrift aufgeben. Traub stiftete damit etliche Unruhe unter den Herausgebern, weil man nie so recht wusste, wen er wieder angestachelte hatte und wer auf ihn hereingefallen war.« So erinnerte sich Jürgen Moltmann des alten Traub, resümierte in dieser Auseinandersetzung dann aber: »Wir haben es überstanden«.23 Am 19. September 1982 starb Aenne Traub. Hellmut Traub zog sich auch danach nicht vom kirchlichen Geschehen zurück, sondern reiste oft zu Vorträgen und unterhielt eine immense Korrespondenz. Eine 23

Moltmann, Weiter Raum, a.a.O., S. 237f.

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engere Verbindung entstand nach Bonn, wo er zweimal jährlich an einem theologischen Arbeitskreis um Elisabeth Bizer24 teilnahm. Für ihn völlig überraschend kam am 13. November 1985 die Ehrung durch die theologische Fakultät der Eberhardt-Karls-Universität Tübingen, die ihm den Titel eines Doktors der Theologie ehrenhalber verlieh. Die Auszeichnung – so die Laudatio – galt »dem Prediger, der Jesus Christus als das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben, unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit verkündigt hat; dem Zeugen, der um seiner Predigt und seines Glaubens willen Gefahren, Gefangenschaft und Leiden auf sich nahm; dem Lehrer, der seine Schüler ein Leben lang in der Heiligen Schrift unterwiesen, zum Verständnis der Geschichte der Kirche geführt und zur Predigt des Evangeliums angeleitet hat.« Im Jahr 1993 kam es zum ersten gesundheitlichen Zusammenbruch. Trotzdem hielt er noch vereinzelt Seminare für die Unterweissacher Studenten und bereitete sich auf seinen 90. Geburtstag vor, obwohl er im Frühjahr 1994 wiederholt schwer erkrankt war. Seinen Geburtstag am 13. Juli 1994 nahm er noch als ein Ereignis wahr; drei Wochen später, am 3. August, starb Hellmut Traub in Bietigheim. Wenige Tage später nahm eine große Trauergemeinde Abschied auf dem Bietigheimer Friedhof.25 7. Ein auch historiographisch verschwiegenes tragisches Moment in Traubs Leben Hellmut Traubs Leben hätte wesentlich tragischer verlaufen können. In jedem Fall müsste seine Biographie tragischer erzählt werden, als dies bislang sowohl vom Verfasser als auch von anderen getan wurde.26 Auf Traubs Biographie fiel im Frühjahr 2010 post festum ein dunkler Schatten, als der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen in den 60er Jahren bekannt wurde. Die reformierte Gemeinde Stuttgart und die Evangelisch-reformierte Kirche haben den Vorwurf umgehend öffentlich gemacht und das ihr Mögliche getan, um den Sachverhalt aufzuklären.27 24

Vgl. Ilse Härter, Art. Elisabeth Bizer geb. Aschoff, in: Lexikon früher evangelischer Theologinnen, a.a.O., S. 36. 25 Gleichwohl blieb das kommunale Gedenken Hellmut Traubs umstritten: 2008 sollte die Carl-Peters-Straße in Bietigheim in Hellmut-Traub-Straße umbenannt werden. Die Anwohner und die kommunalen Entscheider votierten dann aber 2009 für »Eisvogelweg« als neuen Straßennamen. 26 Der Verfasser kannte Traub seit seinen Studientagen Ende der 80er Jahre. Es war nahezu unmöglich, dem geistreichen Charme Traubs nicht zu erliegen. Nicht von ungefähr hatte Traub zahllose Freunde und Schüler. 27 Vgl. die ausführliche Pressemitteilung der Gemeinde vom 6. April 2010 unter www.reformiert-info.de/daten/File/Upload/doc-5399-1.pdf (Aufruf 4. April 2017).

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Hier scheint auch das Unglück auf, in die in früheren Zeiten nicht zuletzt auch in den Kirchen Menschen mit homophilen Neigungen gedrängt wurden. In der Barth-Szene war es nach 1945 hinreichend bekannt, dass ihr Partei-Mann Hellmut Traub trotz Ehe und Vaterschaft auch homophil veranlagt war und möglicherweise dies auch immer wieder zu leben wagte. Aber sowohl zu seiner Lebenszeit als auch später in der Historiographie wurde dies nur angedeutet, verschwiegen oder gar in falsche Zusammenhänge gestellt – bis in die Gegenwart.28 Es gilt natürlich genau zu unterscheiden zwischen homosexuellen Beziehungen zweier Männer und dem Missbrauch eines nicht erwachsenen Jungen durch einen Mann. Das Bewusstsein für diese klare Differenzierung war längst nicht immer gegeben, Homosexualität wurde an sich von der Öffentlichkeit als Verbrechen verstanden, Missbrauch hingegen beinahe bagatellisiert. Im August 1935 wurde Hellmut Traub verhaftet und auf Grund § 175 angeklagt. Der Paragraph war 1872 eingeführt und 1935 von den Nationalsozialisten verschärft worden.29 Traub wurde im Oktober freigesprochen; der Einspruch des Staatsanwalts blieb erfolglos. Während der Haft besuchte ihn Charlotte von Kirschbaum.30 Die Kommilitonen, denen die Kriminalisierung von Homosexualität im damaligen Rechtssystem plausibel erschien, wussten »von der Schuld, die auf Herrn T[raub] lag, in all den Jahren.«31 Offenkundig sprach man vor seiner Verhaftung nicht darüber, denn auch Barth und von Kirschbaum waren im Bilde: »K[arl] B[arth] und ich wußten seit Jahren um die besondere Schwierigkeit im Leben unseres Freundes. Wir haben ihn in einer Nähe kennen gelernt, wie das vielleicht sehr selten ist … Umso härter ist es, wenn nun aus der Vergangenheit eine Schuld sich an ihm rächen sollte, die als Schuld von ihm selbst erdrückend empfunden wird, die aber mit einem groben Vergehen im gerichtl[ichen] Sinn nur infolge einer verantwortungslosen Willkür verwechselt werden könnte.«32 Auch Freunde 28 Sowohl im aktuellen wikipedia-Eintrag über Hellmut Traub als auch in einem Zeitungsbeitrag über einen Karfreitagsgedenkgottesdienst in Dachau 2016, in dem der Kirchenhistoriker Björn Mensing an Traub erinnerte (Unerschrocken im Widerstand, in: SZ, 23. März 2016), wird das Verfahren und die Haft wg. des Vorwurfs nach § 175 so mit anderen Haftzeiten Traubs verbunden, dass der Eindruck entstehen muss, der Vorwurf sei nie tatsächlich relevant gewesen. 29 Die Nationalsozialisten schlugen also sofort mit dem verschärften § 175 zu. Mit ähnlichen Verfahren versuchte das NS-Regime ab 1936, die katholische Kirche systematisch zu schwächen (»Sittlichkeitsprozesse«), indem durch die angebliche Morallosigkeit des Klerus dessen Glaubwürdigkeit im Volk zerstört werden sollte. 30 Vgl. Brief Ch. von Kirschbaums an E. Freiling, 21. September 1935, in: Kirschbaum-Freiling-Briefwechsel, a.a.O., S. 44–46, hier: S. 44. 31 Brief E. Freilings an Ch. von Kirschbaum, 15. September 1935, in: KirschbaumFreiling-Briefwechsel, a.a.O., S. 43f., hier: S. 43. 32 Brief Ch. von Kirschbaums an E. Freiling, 2. September 1935, in: KirschbaumFreiling-Briefwechsel, a.a.O., S. 41f., hier: S. 42.

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und Förderer Traubs konnten seinerzeit nicht anders, als in dessen sexueller Orientierung eine »Schuld« zu sehen. Man konnte sie trotz Wissens ignorieren oder relativieren oder – wie etwa im konkreten Fall – exkulpieren: »Alles scheint zurückzugehen auf die Äußerung eines Jungen anläßlich des Verhörs eines bayr[ischen] Religionslehrers, der sich an ihm vergangen hatte. Der Junge nannte in diesem belastenden Zusammenhang T[raub]s Namen.«33 Der frühere Hausgenosse Barths in Bonn fand wichtige Fürsprecher, die ihre Kontakte zu Traubs Gunsten nutzen konnten. Charlotte von Kirschbaum, mit Traub befreundet seit der gemeinsamen Bonner Zeit, schrieb am 7. Dezember 1935 – nach der Verdrängung Barths vom Bonner Lehrstuhl – aus Basel einen Brief an Willem A. Visser ’t Hooft, in dem sie den internationalen Kirchenfunktionär dafür zu gewinnen suchte, sich für Traub einzusetzen.34 Hellmut Traub, so von Kirschbaum, »sitzt seit August im Gefängnis, bzw. seit 14 Tagen im Konzentrationslager zu Dachau bei München. Die Politische Polizei Bayerns hat ihn verhaften lassen, da sein Name bei einem Gerichtsverhör eines Jugendlichen in einem belastenden Zusammenhang genannt worden war. Dieser Schüler hatte sich wegen eines Vergehens lt. § 175 zu verantworten und hat in seinen Aussagen über seine Vergangenheit Vikar Traub erwähnt. Nach fast einem Vierteljahr Untersuchungshaft in München wurde eine Gerichtsverhandlung anberaumt, die trotz der in Deutschland jetzt gültigen verschärften Gesetze für dieses ganze Gebiet und trotz der dort jetzt herrschenden besonderen moralischen Aufmerksamkeit für derartige Vergehen mit dem Beschluß ›Sofortige Einstellung des Verfahrens und sofortige Entlassung des Angeklagten‹ endete. Trotzdem wurde Traub nicht freigegeben, sondern die Politische Polizei betrachtete ihn weiter als ihren ›Schutzgefangenen‹.« Nach etwa vier Wochen Haft bei der Politischen Polizei wurde Traub nach Dachau gebracht. »Karl Barth [kann] sich persönlich nicht einsetzen … für diesen ihm nahe stehenden Schüler …, da er politisch nur eine Belastung für ihn darstellen würde und tatsächlich wohl schon darstellt«. Mit Hinweis auf den gerichtlichen Freispruch sieht von Kirschbaum Traub als unschuldig an und mutmaßt wohl zu Recht, dass Traub als Vertreter des radikalen Flügels der BK in Haft gehalten werde. Offenbar gelang es Visser ’t Hooft, erfolgreich bei Heinrich Himmler, dem er zufällig einmal begegnet war, für Traub zu intervenieren.35 33 34

Ebd. Karl Barth / Willem Adolf Visser ’t Hooft, Briefwechsel 1930–1968, einschließlich des Briefwechsels von Henriette Visser ’t Hooft mit Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum, hg. von Thomas Herwig, Zürich 2006, S. 45–47. 35 Vgl. Willem A. Visser ’t Hooft, Die Welt war meine Gemeinde. Autobiographie, München 1972, S. 108f.

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Immer wieder wird von Biographen und Editoren der Hinweis gegeben, dass die Nationalsozialisten mit den sog. »Sittlichkeitsprozessen« besonders die missliebigen kirchlichen Gegner zu diskreditieren suchten und diese dann auch strafrechtlich verfolgen konnten. Der Hinweis auf diesen historischen Zusammenhang scheint das »Opfer« von jedem Verdacht zu befreien. Womöglich gab es bei Hellmut Traub Gründe für diesen Verdacht, und die nationalsozialistischen Behörden taten 1935 mit einer Verhaftung Traubs das, was vor 1933 Behörden in der Demokratie der Weimarer Republik auch getan hätten. Dass er dann allerdings nach Monaten der Gefängnishaft nach seinem Freispruch im November 1935 ins KZ Dachau überführt wurde, ist Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ohne Zweifel ist Hellmut Traub deshalb ein Opfer des weltanschaulichen Terrorstaates. Ähnlich verschleiernd wird Traubs plötzlicher Wechsel von Hamburg nach Stuttgart 1948 und sein Verzicht auf die Pfarrstelle dargestellt. Tatsächlich war Traub auch hier wegen eines Vergehens gegen den weiterhin in Geltung stehenden § 175 angeklagt worden, was auch bei der Kirchenleitung aktenkundig geworden ist. Opfer war damals ein junger Mann. Die Barth-Gruppe hat es zwar verstanden, Traub eine weitere bürgerliche Existenz zu ermöglichen, indem Traub über theologische Kontakte eine Anstellung fand und später nicht zuletzt durch Barths Eintreten bei der Auricher Kirchenleitung die neu eingerichtete landeskirchliche Pfarrstelle Stuttgart erhalten konnte. Aber es war doch offenbar sowohl in der barthianischen Kirchenleitung unter Walter Herrenbrück als auch in den entsprechenden theologisch-wissenschaftlichen Kontexten klar, dass Traub trotz aller Begabung mit keinen führenden Aufgaben würde betraut werden können. Wie ein Damoklesschwert schwebte die Gefahr über Traub, dass sich seine homosexuellen Neigung wieder ans Licht kommen könnte. Dies hatte natürlich auch Einfluss auf seine ganzen theologisch-kirchlichen Verbindungen. So liefen etwa Berufungen auf praktisch-theologische Lehrstühle genauso wie kirchliche Leitungsämter an ihm vorbei. Dass man es dagegen billigte und offenbar nicht intervenierte, wie Traub in Schulen und kirchlichen Bildungseinrichtungen tätig war, ist überraschend nicht nur vom heutigen Standpunkt aus, sondern auch mit dem aktenkundigen Wissen von damals. Tragisch ist ein Leben, das auf Grund des § 175 kriminalisiert wurde. Möglicherweise hat Traub durch seine qua Gesetz36 kriminalisierte Liebe zu Männern dann von ihm abhängige junge Männer gesucht und auch vor Personen nicht halt gemacht, die noch nicht volljährig waren (bis 36

Ein guter Freund Hellmut Traubs, Bundesjustizminister Gustav Heinemann, reformierte das völlig antiquierte Sexualstrafrecht in Deutschland. »Erst 1969 wurde die 1935 von den Nationalsozialisten verschärfte Fassung des § 175, die 1949 in das Strafgesetzbuch übernommen worden war, abgeschafft.« Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 263.

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Ende 1974: 21 Jahre). Neben der Kriminalisierung durch das staatliche Recht und die Stigmatisierung durch die Gesellschaft kam noch die Ablehnung in Kirche und Theologie als belastender Faktor für Traub hinzu. Auch bei Traubs geliebtem Lehrer Karl Barth findet sich eine Verurteilung der Homosexualität. Am Ende seiner Schöpfungslehre bezeichnete Barth die »Krankheit der sogenannten Homosexualität« als »die korrupte geistige und schließlich auch die korrupte physische Lust, in der – in einer Geschlechtsbeziehung, die keine ist, noch sein kann – der Mann im Manne, die Frau in der Frau so etwas wie den verschmähten Partner nun dennoch suchen zu müssen und finden zu können meint. Gewiß dann in flagrantem Widerspruch gegen Gottes Gebot!« Barth spricht in diesem Zusammenhang von »Inhumanität«, also von verfehltem Menschsein.37 Der so viele Jahre nach Traubs Tod aufgeworfene Missbrauchsvorwurf wiegt schwer. Von den dadurch im Jahre 2010 auch manifest gewordenen homophilen Neigungen Traubs konnte ernsthafterweise kaum jemand aus der zeitgenössischen peer-group der Barthianer überrascht gewesen sein. Der Rechtsgegenstand von § 175 ist zwar endgültig 1994 abgeschafft worden, die Sache hingegen scheint weiterhin tabu zu bleiben. Das wäre an weiteren Fällen auch aus derselben theopolitischen Gruppe zu demonstrieren, etwa bei Werner Koch (1910–1994), dessen Bisexualität allgemein bekannt war. Koch marginalisierte sich jedoch weitgehend selbst in den BK-Zirkeln und der kirchlichen Erinnerungsarbeit, indem er sich als kirchenhistorischer »Held« der BK zu inszenieren versuchte.38 Traub war hingegen viel zu gebildet und zu bescheiden, um für sich Heldentum zu reklamieren. Seine Demut war persönlich überzeugend, seine seinerzeit kriminalisierte und bis in die Gegenwart tabuisierte sexuelle Orientierung und seine möglicherweisen rechtlichen Verfehlungen deshalb besonders tragisch. Quellen: Hellmut Traub, Wenig Weitergegebenes von allzuviel Empfangenem. Erinnerungen und Gedichte (Privatdruck, o.O., 1995);39 Nachlass Traub (Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriften-Abteilung); Hellmut Traub (1904–1994), Nachlaßverzeichnis, bearb. von Iris Biesinger (Nachlassverzeichnisse der Universitätsbibliothek Tübingen 3), 37 38

KD III/4 [1951], S. 184f. Vgl. Werner Koch, ›Sollen wir K. weiter beobachten?‹ Ein Leben im Widerstand, Stuttgart 1982, S. 42. – Zu Koch vgl. Rüdiger Weyer, Art, Koch, Werner (1910–1994), in: BBKL XXIII (2004), S. 821–825; Bernd Schoppmann, Bonhoeffers unbekannte Schüler. Vikare in Finkenwalde – Pfarrer in der Rheinischen Kirche (SVRKG 182), Bonn 2013, S. 51–67; Günther van Norden, Ein rheinischer Pfarrer im Kirchenkampf, oder: Finkenwalder Solidarität, in: Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Deutschsprachige Sektion, Nr. 114, November 2016, S. 47–65. 39 Vgl. dazu Brief Hinrich Stoevesandts an Hellmut Traub, 29. August 1979, in: Hinrich Stoevesandt, Briefe aus fünf Jahrzehnten (Privatdruck zum 75. Geburtstag), o.O., 2006, S. 45–48.

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Wiesbaden 2003, darin S. 11–45: Autobiographische Skizzen, S. 47: Zeittafel; Predigerverzeichnis Nr. 182 der Ev.-ref. Kirche, Landeskirchliches Archiv Leer. Werke: Demologie und Theologie zum sogenannten Fall Dehn, in: Zwischen den Zeiten. Eine Zweimonatsschrift 10 (1932), S. 355–375; Das Danken der Kirche, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, S. 299–319; Vom überwundenen Satan, in: Jugendweg. Zeitschrift der jungen evangelischen Frauengeneration 19 (1938), S. 130–134; Um Pastor Niemöller (Leserbrief zur Berichterstattung über Niemöllers Amerikareise), in: Hamburger Freie Presse, 28. Dezember 1946; Die Zukunft der evangelischen Kirche, in: Unterwegs 1 (1947), S. 3–18; Besinnungen in: Tagesrüste 1948, Berlin (Burckhardthaus-Verlag) 1948; Die Freiheit der Christen im totalen Staat, in: Unterwegs 4 (1950), S. 258–269; Fausts Erlösung in protestantischer Sicht, in: Knittlinger Faustgespräche. Goethes Faustdichtung in den geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart, Referate auf der 3. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung am 8. und 9. September 1951 in Bretten und Knittlingen, gehalten von Wilhelm Grenzmann u.a., hg. i.A. der Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung von Günter Schulz (Volksschulblätter. Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung, Verband nordbadischer Volkshochschulen u.a.), Sommer 1951/III, S. 20–32; Gott ist Gott (Karl Barth in Herborn 3.–6. April 1951), in: Unterwegs 5 (1951), S. 106–111; Anmerkungen und Fragen zur neutestamentlichen Hermeneutik und zum Problem der Entmythologisierung. Mit einem Geleitwort von Landessuperintendent Walter Herrenbrück, Neukirchen 1952; Zur Verkündigung von dem zu verkündigenden Jesus Christus, in: Ecclesia semper reformanda. Theologische Aufsätze, Ernst Wolf zum 50. Geburtstag (Evangelische Theologie. Sonderheft), München 1952, S. 121–131; Andachten 6. Juni (1. Kor 4,1–5), 7. Juni (vv. 6–13), 8. Juni (vv. 14–21), 9. Juni (1. Kor 5,1–8), in: Theodor Jänicke (Hg.), Halt uns bei festem Glauben. Tägliche Andachten für das Markus-Jahr, 1. Halbjahr, Berlin 1952, S. 168–171; Die Botschaft des Neuen Testamentes (Sammelrezension), in: Evangelischer Literaturbeobachter März 1953, S. 172f.; Zur Konversion von Heinrich Schlier, in: DtPfrBl 53 (1953), S. 532–534; Weihnachten als das endzeitliche Ereignis. Anmerkungen zum Text der Weihnachtsgeschichte, in: RKZ 94 (1953), S. 528–530; Botschaft und Geschichte. Beiträge zur Frage des Zeugen und der Zeugen (Theologische Studien 41), Zollikon-Zürich 1954; Die Predigt von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Drei Predigten mit einleitender Rechenschaft über die Predigtvorbereitung (Theologische Existenz heute, Neue Folge 43), München 1954; Art. ›ouranos‹ k.t.l., in: ThWNT V (1954), S. 496–501.509–543; Karl Barth, in: Hans Schwerte / Wilhelm Spengler (Hg.), Denker und Deuter im heutigen Europa, Oldenburg/Oldbg. 1954, S. 259–268; Du solltest ihn kennen (über Karl Barth), in: Das junge Dorf. Eine Heftreihe für junge Menschen auf dem Land 27 (1954), Berlin/Gelnhausen 1954, Heft 6; Gottfried Traub – 85 Jahre, in: DtPfrBl 54 (1954), S. 4–6; Biblisch-Theologisches Handwörterbuch zur Lutherbibel und zu neueren Übersetzungen, hg. v. Edo Osterloh und Hans Engelland, Göttingen 1954 (Art. Anstoß, Antichrist, Arzt, Aussendung, Baum, Belial, Buchstabe, Bürgerrecht, Darstellung Jesu, Elemente, Enderwartung, Epiphanie, Ernte, Erstgeburt, Erstling, Feind, Fest, Feste, Fluch, Frucht, Gebenedeit, Gebrechen/gebrechen, Geduld, Gefängnis, Gefühl/Fühlen, Gesalbter, Gewächs, Gott, Gemeinde, Gemeindeordnung, Herabkommen, Herrschen, Himmelreich, Hoffen/Hoffnung, Hure Rahab, Loslassen, Markt, Markus, Maß, Vorbild, Waschen/ Waschungen, Weib des Pilatus, Wein, Weinstock/Reben, würdig); Weihnachtsstube ist die Welt, in: Stuttgarter Nachrichten, Süddeutsche Tageszeitung, Weihnachtsnummer 24. Dezember 1954, S. 1; Helsinki (Weltfriedenskongreß in Helsinki vom 22. bis 29. Juni 1955), in: Stimme der Gemeinde, Sonderheft August 1955, S. 3f.; Predigt heute!, in: DtPfrBl 55 (1955), S. 241f.; Crux unica spes, in: ansätze. Eine Semesterzeitschrift der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland, Nr. 3, November 1955; Theolo-

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gie und Verkündigung. Anmerkung zur theologischen Existenz Karl Barths, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, S. 124–136; Karl Barth, in: DtPfrBl 56 (1956), S. 221f.; Möglichkeit zu einem Gespräch? – Zu dem Konversionsbericht Heinrich Schliers »Bekenntnis zur Katholischen Kirche«, in: DtPfrBl 56 (1956), S. 175–177; Theologie als Apologetik?, in: DtPfrBl 57 (1957), S. 150–152; Rechenschaft, in: DtPfrBl 58 (1958), Ausgabe A, S. 561; Geistliche Musik, in: Joachim E. Berendt / Jürgen Uhde (Hg.), Prisma der gegenwärtigen Musik. Tendenzen und Probleme des zeitgenössischen Schaffens, Hamburg 1959, S. 216–232; »Die vorgesetzten Mächte«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (1959), S. 868– 872; Vorwort, in: Hören und Handeln. Festschrift für Ernst Wolf zum 60. Geburtstag, hg. von Helmut Gollwitzer und Hellmut Traub, München 1962, S. 7–11; Anmerkungen zu Herbert Brauns Referat »Die Problematik einer Theologie des Neuen Testaments«, gehalten an der Tagung des Arbeitskreises Alter Marburger im Oktober 1960 in Bethel, in: Bezirksbruderbrief [von Landessuperintendent Walter Herrenbrück sen., Leer] Nr. 98, 1963, S. 1–16; Hold ward der Gewaltige, demütig ward der Erhabene, UnionWeihnachtsbeilage 1963; Zwei Erinnerungen, in: Wolf-Dieter Zimmermann (Hg.), Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer. Ein Almanach, München 11964 (21965, 31969), S. 123–128; Theologische Bemerkungen zur Problematik eines konkreten Evangelisierens, in: Dietrich Fischinger u.a. (Hg.), Send uns dein geistlich Schwert. Beiträge zum Thema Evangelium, Kirche und Pietismus, Freundesgabe anläßlich des 65. Geburtstages von Pfarrer Max Fischer, Stuttgart 1966, S. 102–110; Karl Barth, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Portraits, Stuttgart/Olten 1966, S. 264–269; Zu Römer 9–11. Römer 9,1–5, in: RKZ 107 (1966), S. 201; Römer 9,6-29, in: a.a.O., S. 213f.; Römer 9,30–10,4, in: a.a.O., S. 225f.; Römer 10,4–21, in: a.a.O., S. 237; Römer 11,1–24, in: a.a.O., S. 249; Predigtauftrag und Predigtnot (Mitarbeit), in: RKZ 108 (1967), S. 226f.; Calvin – Der Herrscher, in: Johannes Lehmann (Hg.), Motive des Glaubens. Eine Ideengeschichte des Christentums in achtzehn Gestalten, Hamburg 1968, S. 111–117; Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht. Predigt über Hesekiel 13,1–16 von Karl Barth gehalten 1916 in Safenwil (Schweiz) (Predigt im Gespräch 3), 2. Auflage mit Erweiterungen (Diskussion Pfr. H. Traub – Prof. R. Bohren), Neukirchen-Vluyn 1968 (vgl. auch RKZ 108 [1967], Nr. 19.21); Randanmerkungen zur Begründung christlicher Anrede, in: Wort und Gemeinde. Probleme und Aufgaben der Praktischen Theologie, Eduard Thurneysen zum 80. Geburtstag, Zürich 1968, S. 283–288; »Eduard ist eben gänzlich unersetzlich«. Am 10.7. wird Eduard Thurneysen 80 Jahre alt, in: RKZ 109 (1968), S. 141f.; Große Anfrage zu »Was uns heute die Taufe bedeutet?«, in: RKZ 110 (1969), S. 3f.; In Gottes Bund gestellt (5. Mose 5,6–8), in: Horst Nitschke (Hg.), Worte zur Trauung heute gesagt. Predigten der Gegenwart, Gütersloh 1971, S. 154–158; Art. Himmel, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. III, Basel/Stuttgart 1973, S. 1127–1130; Gedenken an Eduard Thurneysen, in: RKZ 116 (1975), S. 244f.; Brief von Pfarrer Hellmut Traub in Bietigheim an [den Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof] D. [Helmut] Class vom 24. April 1976 (zur Frage ›politische Pfarrer‹), in: Junge Kirche 37 (1976), S. 274–276; Der Heidelberger Katechismus, in: Kurt Rommel (Hg.), Bekenntnisse des Glaubens. 3000 Jahre Bekenntnis von der Bibel bis zur Gegenwart, Stuttgart 1980, S. 98–112 (vorher abgedruckt im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg 1979–1980); Die Theologische Erklärung von Barmen, in: Kurt Rommel (Hg.), Bekenntnisse des Glaubens. 3000 Jahre Bekenntnis von der Bibel bis zur Gegenwart, Stuttgart 1980, S. 120–134 (vorher abgedruckt in: Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg 75 [1980], Heft 11–13); Brief vom 9. Februar 1946 an das Landeskirchenamt der evangelisch-lutherischen Kirche in Schleswig-Holstein, in: Martin Greschat (Hg.) / Christiane Baustert, Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945 (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte 4), München 1982, S. 235–238; Theologische Existenz heute –

7. Ein auch historiographisch verschwiegenes tragisches Moment in Traubs Leben

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damals?, in: Weißenseer Blätter 1983, Heft 3, S. 13f.; Das Stuttgarter Schuldbekenntnis – und was daraus wurde, in: Glaube und Lernen. Zeitschrift für theologische Urteilsbildung 1 (1986), S. 131–140; »Was wir beten sollen, wissen wir nicht«, in: Evangelische Theologie 46 (1986), S. 247–255; Dankesbrief (unveröffentlicht), wiedergegeben in: Wolfgang Schweitzer, Der Kirchenkampf (1933–1945) und das Darmstädter Wort (1947). Noch einmal zum Fall Prolingheuer, in: Junge Kirche 49 (1988), S. 613–619, hier: S. 617–619; Warum hat keiner laut geschrien? in: Glaube und Lernen. Zeitschrift für theologische Urteilsbildung 5 (1990), S. 20–37; auch in: Weißenseer Blätter 1990, Heft 5, S. 2–13; Nein, Herr Seim! in: Evangelische Theologie 52 (1992), S. 178–185; Ein Brief an meine liebe Evangelische Kirche, in: Weißenseer Blätter 1992, Heft 3, S. 2– 6 (aus Anlaß von Traubs Tod Auszüge davon nochmals in Heft 4, 1994); Das Barmer Bekenntnis von 1934, in: Bibel aktuell 51, 2. Quartal 1992, Arbeitshilfe für Bibelkreise, hg. vom Amt für missionarische Dienste der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, S. 38–41; Anfragen! – (Anmerkungen zu »Gehorsame Kooperativität. Eine theologische Disputation zwischen Dieter Kraft und Rosemarie Müller-Streisand« [Weißenseer Blätter 1992, Heft 5, S. 2–21]), in: Weißenseer Blätter 1993, Heft 2, S. 6–11; Worauf hoffen wir eigentlich?, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Rechtfertigung und Erfahrung. Für Gerhard Sauter zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1995, S. 185–207; Wenig Weitergegebenes von allzuviel Empfangenen. Erinnerungen und Gedichte (Privatdruck Dr. Andreas Traub) Bietigheim 1995; »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit«. Beobachtungen eines Predigers, Zeugen und Lehrers zur kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von Hans-Georg Ulrichs, mit Beiträgen von Gerhard Sauter und Hinrich Stoevesandt, Wuppertal 1997 (mit vollständiger Bibliographie); – unzählige Predigtmeditationen in: Georg Eichholz (Hg.), Herr, tue meine Lippen auf. Eine Predigthilfe; in: hören und fragen. Eine Predigthilfe, begründet von Georg Eichholz, hg. v. Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held; in: Göttinger Predigtmeditationen 4 (1949/50) – 44 (1989/90); in: Deutsches Pfarrerblatt. Literatur: Pfarrer Traub 75 Jahre alt, in: Freundesbrief 79. Evangelische Missionsschule der Bahnauer Bruderschaft Unterweissach, Juli 1979, S. 8f.; Stefan Winter, Hellmut Traub – ein Vertreter kirchlichen Widerstands gegen Adolf Hitler, Dinkelsbühl 1988 [gymnasiale Facharbeit, 63 Bl., unveröffentlicht]; Anna Andlauer, »Heute habe ich wach zu sein«. Hellmut Traub, Pfarrer der Bekennenden Kirche, in: aspekte 3/92, S. 25; Hartmut Ludwig, »Wie Jesus eindeutig Partei nehmen«, in: Junge Kirche 55 (1994), S. 407–410; Friedemann Merkel, Nachruf, in: GPM 49 (1994/95), Heft 3, S. 249; Reinhold Krebs, Hellmut Traub. Portrait, in: Freundesbrief 128. Evangelische Missionsschule der Bahnauer Bruderschaft Unterweissach, Februar 1995, S. 20–22; Hinrich Stoevesandt, Ein Tag im Frühjahr 1934, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), ... und über Barmen hinaus. Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. FS für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994 (AKiZ B 23), Göttingen 1995, S. 253–260; Hans-Georg Ulrichs, Hellmut Traub (1904–1994) – Eine biographische Skizze, in: Hellmut Traub, »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit« (s. Werke); ders., Art. Traub, Hellmut, in: BBKL 12 (1997), S. 424–432; Gerhard Sauter, Begegnungen mit Hellmut Traub, in: Hellmut Traub, »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit« (s. Werke), S. 9–13. – Aenne Traub, geb. Schümer, Vereinzelte Spuren (Privatdruck Dr. Andreas Traub), Bietigheim 1997; Matthias Schreiber, Art. Schümer, Aenne, in: BBKL IX (1995), S. 1047f.; Ilse Härter, Art. Änne Traub geb. Schümer 1904–1982, in: Lexikon früher evangelischer Theologinnen. Biographische Skizzen, NeukirchenVluyn 2005, S. 405. Nachlass: Hellmut Traub: Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriften-Abteilung, Signatur Mn 27.

»In fröhlichem Dienst aufgeopfert« oder Opfer patriarchaler Strukturen? Der Lebensweg einer reformierten Gemeindeschwester im 20. Jahrhundert

1. Das Missverhältnis zwischen der Wertschätzung von Gemeindeschwestern und ihrer historiographischen Beachtung – eine Problemanzeige »Am wichtigsten« für das kirchliche Leben an der Basis, so konnte man es im Dezember 1982 in der Reformierten Kirchenzeitung lesen, sei die Gemeindeschwester oder Diakonisse. Deshalb sei sie innerhalb der Kirchengemeinden auch am bekanntesten. Eine von der EKD verantwortete repräsentative Umfrage unter dem Titel »Kirche und Arbeitswelt – Bausteine zur Bestandsaufnahme eines kirchlichen Handlungsfeldes«, vorgestellt auf der EKD-Synode im November 1982 in Berlin, sollte eigentlich die tatsächliche Bedeutung und Bekanntheit der Pfarrer/innen in der »Arbeitswelt« untersuchen, aber die Arbeitnehmer brachten besonders ihre Wertschätzung der Gemeindeschwester zum Ausdruck – vor den damals noch »Kindergärtnerinnen« genannten Erzieherinnen, weit vor den abgeschlagenen Pfarramtssekretärinnen und Organisten. Die Betreuung von »Alten und Gebrechlichen« gehöre – übrigens noch vor »zeitnaher Verkündigung« und Stellungnahmen zu politischen Fragen – »zu den wichtigsten Aufgaben« der Kirche.1 Diese Wertschätzung der Gemeindeschwester zu Beginn der 80er Jahre, also während turbulenter Debatten um die »Friedensfrage« in Gesellschaft und Kirche, ist in mehrfacher Hinsicht ein erstaunliches Ergebnis: Zum einen haben in der manifesten Erinnerungskultur des Protestantismus viele Pfarrer – und unterdes auch Pfarrerinnen – ebenso wie Kantoren einen Platz gefunden, während Gemeindeschwestern bestenfalls noch in den Erzählungen von Alten und Hochbetagten in Gemeinden ihren Platz haben. Im neuesten Diakonie-Lexikon findet sich kein Lemma »Gemeindeschwester«, und im Artikel »Gemeindediakonie« muss schon genau hingeschaut werden, um die Gemeindeschwester zu finden.2 Sogar im monumentalen Werk »Frauen gestalten Diakonie« 1 Vgl. Wolfgang Kaltofen, Die Diakonissen sind am beliebtesten, in: RKZ 123 (1982), S. 310f. Abgedruckt ist die o.g. Studie in epd-dokumentation 52a/1982. 2 Vgl. Frank Otfried July, Art. Gemeindediakonie, in: Norbert Friedrich u.a., Diakonie-Lexikon, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 184–186. Auch in einem reformierten Beitrag wird die Gemeindeschwester nicht gewürdigt: Alfred Rauhaus, Gemeindediakonie, in: Arme habt ihr allezeit bei euch. Einblicke in die Geschichte der Diakonie in der Evangelisch-reformierten Kirche, hg. vom Diakonischen Werk der Evangelisch-reformierten Kirche,

1. Das Missverhältnis zwischen der Wertschätzung von Gemeindeschwestern

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finden sich keine Einträge für Gemeindeschwestern.3 Zum anderen hat das Berufsbild der Gemeindeschwester etwa ein Jahrhundert lang existiert und fand gerade in den 80er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts – trotz festgestellter öffentlicher Beliebtheit – sein Ende. Dabei war es – nicht zuletzt wg. der Aufgabenvielfalt – im Gegenüber zu den männlichen Diakonen das wesentlich erfolgreichere Modell von gemeindlicher Diakonie. Es scheint nicht übertrieben zu sein, von einem Boom diakoniegeschichtlicher Forschung zu sprechen, der sogar durch eine große Ausstellung im Deutschen Historischen Museum öffentlichkeitswirksam wurde.4 Seit etwa einer Generation entstehen zahlreiche Arbeiten, die trotz institutioneller Verbundenheit mit der verfassten Diakonie historischkritischen Standards genügen und damit die von Anfang der Inneren Mission an mitlaufende – oft eher erbauliche – »Hausgeschichtsschreibung« abgelöst haben. Die ältere Diakoniegeschichtsschreibung widmete sich vor allem den Anfangs- und Führungspersönlichkeiten, darunter durchaus auch Frauen, die neuere nicht zuletzt den großen Einrichtungen mit einem gewissen Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Zusammenhang mit den großen »Werken« kamen auch Diakonissen und Schwesterngemeinschaften in den Blick, jedoch kaum Gemeindeschwestern,5 obwohl die »Gemeindepflege« der bevorzugte Einsatzort von Diakonissen war.6 Erfreulicherweise wurden einige oralLeer 1999, S. 177–184. – Zwei kleinere Studien liegen vor mit Norbert Friedrich, Überforderte Engel? Diakonissen als Gemeindeschwestern im 19. und 20. Jahrhundert, in: Sabine Braunschweig (Hg.), Pflege. Räume, Macht und Alltag, Zürich 2006, S. 85–94; Elke Weyandt / Jochen Braselmann, Diakonissen in der Gemeindekrankenpflege. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Krankenpflege, in: Arnd Götzelmann u.a. (Hg.), Frauendiakonie und Krankenpflege. Im Gespräch mit Diakonissen in Speyer (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 37), Heidelberg 2009, S. 97–123; ein kurzer Abschnitt über Gemeindeschwestern in einer reformierten Diakoniegeschichte: Helmut Müller, Diakonisches Wesen und Leben. Verheißungen, Visionen, Erfüllungen, Hoffnungen, Erwartungen, in: Arme habt ihr allezeit bei euch, a.a.O., S. 7–148, hier: S. 89–92. 3 Adelheid M. von Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie, Band 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. Der Band versammelt Lebensbilder prominenter und führender Vertreterinnen der Diakonie. 4 Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, hg. von Ursula Röper und Carola Jüllig, Berlin 1998 (Ausstellungskatalog). 5 Vgl. etwa Ute Gause, Die Diakonisse. Veränderungen des Berufsbildes zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, in: Norbert Friedrich (Hg.), Diakonie in Gemeinschaft. Perspektiven gelingender Mutterhaus-Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 79–86; vgl. dies., Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, S. 219–254, wo es unter der Überschrift »Alltagsgeschichte als Frömmigkeitsgeschichte« um den Beruf der Diakonisse geht. 6 Laut einer Statistik aus dem Jahr 1926 gab es 28.889 Diakonissen im Kaiserswerther Verband, verteilt auf 65 Mutterhäuser, die auf 10.350 »Arbeitsfeldern« eingesetzt waren. Davon gehörten 3.872 Arbeitsfelder zur Gemeindepflege, mit Abstand folgen dann

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»In fröhlichem Dienst aufgeopfert« oder Opfer patriarchaler Strukturen?

history-Projekte durchgeführt, wie etwa in Detmold, Kaiserswerth und Speyer.7 Solche Projekte lassen diese sonst scheinbar nicht »historiablen« Frauen ihre Geschichte selbst deuten, indem sie sie – wie produktiv in der eigenen Erinnerung auch immer – erzählen. Eine Generation zuvor wurde noch mit dem – durchaus auch berechtigten – hermeneutischen Verdacht gearbeitet, Frauen seien in der Geschichte der Kirche sehr viel verantwortlicher und selbstständiger gewesen als männliche Geschichtsschreibung es zu sehen und darzustellen fähig und willens war. Dort sollten Frauen dann post festum Gerechtigkeit erfahren, indem sie zu Handelnden erklärt wurden.8 Doch wird man prüfen müssen, ob Frauen nicht tatsächlich auch zu Opfern gemacht wurden, die oft nicht selbstständig, sondern fremdbestimmt agierten, die stumm gemacht wurden und stumm blieben. In den Archiven der Mutterhäuser lagern die Personalakten, in großer Zahl in Kaiserswerth, überschaubarer etwa in Detmold, wo eine sowohl quantitative wie auch qualitative Untersuchung aller Schwesterbiographien möglich erscheint. Im Folgenden kann ein exemplarischer Bericht über den Werdegang einer Gemeindeschwester gegeben werden, da sich hier zufälligerweise die Quellenlage als ausreichend erwiesen hat – und mit ein wenig detektivische Intuition konnte man bei der Kirchengemeinde, beim Mutterhaus, bei der Landeskirche und bei »Zeitzeugen« fündig werden. An dem Lebenslauf von Antje Swart (1915–2003) lässt sich exemplarisch zeigen: der kirchliche Hintergrund und die soziale Basis diakonischer Berufstätigkeit, der historische Höhepunkt dieses mittlerweile verschwundenen Berufes, Ausbildung und Alltag von Gemeindeschwestern, Auseinandersetzungen und Überlebensstrategien der Diakonie im »Dritten Reich«, die Situation an der kirchlichen Basis für Diakonissen in der alten Bundesrepublik sowie das systembedingte Ende des Berufsbildes Gemeindeschwester nach den Veränderungen in den 70er Jahren. Heime und Krankenhäuser; vgl. Art. Diakonissen – Diakonissenhäuser, in: Handbuch für das kirchliche Amt, mit Unterstützung von Walther Buntzel hg. von Martin Schian, Leipzig 1928, S. 121f. 7 Elisabeth Sauermann u.a., »Ein guter Frauenberuf zu seiner Zeit.« Diakonissen des Detmolder Mutterhauses erzählen, hg. vom Frauengeschichtsladen Lippe e.V., Detmold 2004; – Käthe Rakete. Schwester Käthe Breiding, in: Ute Gause / Cordula Lissner (Hg.), Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft (Historisch-theologische Genderforschung 1), Leipzig 2005, S. 98– 116 (dort noch weitere dokumentierte Gespräche mit Schwestern); – Ursula Boltenhagen, Von der Gemeindeschwester zur Sozialstation. Zeitzeuginnen berichten, in: Götzelmann u.a., Frauendiakonie und Krankenpflege, a.a.O., S. 124–147. – Vgl. Cordula Lissner, Macht und Alltag im Interview. Ein Oral-History-Projekt zur Pflegegeschichte, in: Braunschweig, Pflege, a.a.O., S. 193–201. 8 Vgl. Gerta Scharffenorth / Heidi Lauterer-Pirner, Frauen in der Kirche als Problem männlicher Geschichtsschreibung. Zwei Bespiele verdrängter Geschichte, in: ThPr 22 (1987), S. 176–189, hier: S. 189 (Fazit).

2. Das Berufsbild »Gemeindeschwester« im 19. und 20. Jahrhundert

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Da Schwester Antje9 1935 ins Mutterhaus Detmold eintrat, werfen wir zunächst noch jeweils einen kurzen Blick auf die Entwicklung dieses weiblichen Berufs in der Kirche und auf die Situation der Diakonie im »Dritten Reich«, einem weltanschaulichen Terrorstaat, wie es auch beim Thema »Gemeindeschwester« deutlich wird. 2. Das Berufsbild »Gemeindeschwester« im 19. und 20. Jahrhundert Die im 19. Jahrhundert wahrgenommene Soziale Frage zeitigte die Gründung der so genannten »Inneren Mission«, deren kirchliche und soziale Basis oft – aber nicht ausschließlich – erweckliche Gruppen waren. In diesem Zusammenhang entstanden neue kirchliche Berufe, die gleichwohl nicht nur aus den Bedürfnissen der Zeit, sondern auch aus der kirchlichen Tradition begründet wurden. Dazu zählt auch die weibliche Diakonie, die einen essentiellen Teil einer »Verweiblichung« oder »Feminisierung der Kirche« (Irmtraut Götz von Olenhusen)10 darstellt. Hier tat sich für Frauen eine neue Option auf einen selbstständigen Beruf auf.11 In der zweiten Jahrhunderthälfte und darüber hinaus kam es zur Gründung großer »Mutterhäuser« wie Bethel, Kaiserswerth und auch Detmold. Die institutionelle Verselbstständigung von Kirche während des 19. Jahrhunderts spielte hier genauso eine wichtige Rolle wie der gesellschaftliche Trend zu Vereinsgründungen als Träger zivilgesellschaftlichen Engagements. Die ausbildenden und aussendenden Mutterhäuser mit männlichem Vorsteher und weiblicher Oberin stellten autoritäre, lebenslängliche quasi-elterliche Instanzen für die Schwestern dar.12 »Das Diakonissen9

Anders als bei den »großen Männern« der Geschichte ist bei den »dienstbaren« Frauen oft nicht einmal der vollständige Name bekannt. Im Folgenden wird Antje Swart dennoch auch als »Schwester Antje« bezeichnet, weil das wohl ihrem Selbstverständnis entsprochen hätte. – Auch die hier zu Grunde liegenden Dokumente und Quellen haben gelegentlich anderen Charakter als bei den »großen Männern«, wenn beispielsweise nicht akademisch sozialisierte Menschen eher unbeholfen oder offenkundig nichtselbstständig formulieren. 10 Vgl. Ute Gause, Frauen und Frömmigkeit im 19. Jahrhundert. Der Aufbruch in die Öffentlichkeit, in: PuN 24 (1998), S. 309–327; vgl. dies., Kirchengeschichte und Genderforschung, a.a.O., S. 156–181. 11 Vgl. Jutta Schmidt, »Die Frau hat ein Recht auf die Mitarbeit am Werke der Barmherzigkeit«, in: Die Macht der Nächstenliebe, a.a.O., S. 138–149. 12 Die oft langjährig tätigen und immer wieder auch als »Vater« titulierten Vorsteher sind historiographisch berücksichtigt worden, zumal sie oft noch weitere Rollen in der Kirchenpolitik spielten. Oberinnen sind nicht selten legendenumwoben. Eine Oberin wurde als Seelsorgerin beschrieben: Erika Geiger, Theresia Stählin (1839–1928), Oberin in Löhes Werk, in: Peter Zimmerling (Hg.), Evangelische Seelsorgerinnen. Biografische Skizzen, Texte und Programme, Göttingen 2005, S. 195–211. – Zumeist sind diakonische »Vater-« und »Muttergestalten« ledig oder jedenfalls nicht miteinander verheiratet. Die bekannte Ausnahme ist das Ehepaar Fliedner.

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Haus ist der Schwester ›Mutterhaus‹, dem gegenüber sie Recht u[nd] Pflichten des Kindes hat.«13 Vor Ort war die gemeindliche Diakonie oft von Vereinen getragen, zumeist geleitet von Honoratioren oder Honoratiorenfrauen in Zusammenarbeit mit dem Pfarrer. Die Arbeit der Gemeindeschwester wurde gelegentlich ergänzt durch die diakonische Arbeit der örtlichen Frauenhilfe. Seit Theodor Fliedners Tagen gehörten neben den Krankenpflegestationen Kleinkinderschulen, später auch Kindergärten und ehrenamtlich noch die Sonntagsschule bzw. der Kindergottesdienst zur gemeindlichen Diakonie. Die Gemeindediakonisse übte auch Seelsorge, sittliche Erziehung und Jugend- und Armenpflege aus. »Die Gemeindeschwester personifizierte für lange Zeit die Gemeindediakonie.«14 Sie tat ihre Arbeit hoch freiwillig und bewusst unterbezahlt und zeichnete sich durch persönliche Integrität aus. Professionelle und institutionelle Diakonie erfuhr im rasanten Ausbau des staatlichen Sozialwesens während der Weimarer Republik eine gesellschaftliche Verankerung, die noch Jahrzehnte lang andauerte. Ende der 1920er Jahre gab es wohl einen Höhepunkt der Schwesternzahlen und selbst im auseinandersetzungsreichen Jahr 1937 – vor Übernahme der Gemeindepflegestationen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) – waren die Gemeindestationen der Inneren Mission mit 32 % am stärksten vertreten, gefolgt vom Caritas-Verband mit 29 % und weit dahinter mit jeweils 17,4 % für DRK und NSV.15 Gerade in den Kriegszeiten war die kirchliche Gemeindediakonie auch für die Kommunen von großem Belang. Neben den Diakonissen arbeiteten ab 1939 die so genannten »Verbandsschwestern« – vorher »freie Hilfen« genannt – in den Einrichtungen des Mutterhauses und der Diakonie, also Pflegepersonal in normalen arbeitsrechtlichen Verhältnissen. Nach 1945 stellte der Beruf der Diakonisse vielleicht auch deshalb eine Option für Frauen dar, weil viele auf Grund des kriegsbedingten eklatanten Frauenüberschusses nicht durch Heirat in einer eigenen Familie gesellschaftlich gesichert leben konnten. So kam es nach 1945 zu einer kurzen Hochphase,16 dann sind jedoch bald nur noch wenige Frauen in die Mutterhäuser und Schwesternschaften neu eingetreten, so dass die personelle Krise, die wohl schon in den 20er Jahren angefangen 13 14

Art. Diakonissen – Diakonissenhaus, a.a.O., S. 122. Günter Ruddat / Gerhard K. Schäfer, Diakonie in der Gemeinde, in: dies. (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, S. 203–227, hier: S. 209. 15 Vgl. Birgit Breiding, Die braunen Schwestern. Ideologie, Struktur, Funktion einer nationalsozialistischen Elite (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 85), Stuttgart 1998, S. 241. 16 Vgl. Georg-Hinrich Hammer, Geschichte der Diakonie, Stuttgart 2013, S. 301. Zu den unterschiedlichen Erosionsphasen der Mutterhaus-Diakonie vgl. Rajah Scheepers, Transformationen des sozialen Protestantismus. Umbrüche in den Diakonissenmutterhäusern des Kaiserswerther Verbandes nach 1945, Stuttgart 2016.

3. Gleichschaltungsversuche und Zurückdrängung durch den NS-Staat

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hatte, nach den ersten Nachkriegsjahren rapide zunahm. Auch die NeuJustierung der Diakonie durch »Wichern zwei« (Eugen Gerstenmaier) und das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes als neue Rahmenbedingung wäre hier zu berücksichtigen: soziale Hilfe war nicht abhängig von christlicher Nächstenliebe in kirchlich-institutioneller Form, von den Möglichkeiten anderer freier Träger und von Almosen, sondern war durch einen staatlich garantierten Rechtsanspruch gesichert. Bei allem Wandel gab es »durch eine beispiellose Ausweitung sozialer Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland« auch eine »Diakonie im Wachstum«.17 Der Abwärtstrend des Berufsbildes »Diakonisse« durch sich ständig erweiternde Berufsmöglichkeiten für Frauen verstärkte sich mit den 60er Jahren gleichwohl, wobei die Säkularisierung der Gesellschaft ebenso wie die Professionalisierung der pflegerischen und (religions-) pädagogischen Arbeit eine Rolle spielten. Es kam zu einer rationalen Funktionalisierung kirchlicher Aufgaben. In den 60er Jahren »wurde … um das Recht einer ›gesellschaftlichen‹ Diakonie gerungen. Seit den 1960er Jahren wurden – angesichts der wachsenden Aufgaben – immer mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Diakonie benötigt; zugleich ging die Zahl der Diakonissen zurück.«18 Eine weitere Professionalisierung und Akademisierung der Arbeitsfelder veränderte die Mitarbeiterschaft. »Etwa zur gleichen Zeit [sc. im Laufe der 70er Jahre] verschwand mit der Gemeindeschwester die Symbolfigur der Gemeindediakonie; nun wurden Diakonie- und Sozialstationen eingerichtet.«19 Diese Gemeinden übergreifenden Diakoniestationen beschäftigten anderes Pflegepersonal. Aus »Dienst« wurde »Arbeit«. Immer stärker wurden zuvor gemeindliche Aufgaben auch auf kirchenbezirkliche Ebene verlagert, was zu einer Zentralisierung und Regionalisierung führte. Kleine basisnahe Diakonievereine erfuhren – oft auch durch Fusionen – unterdes eine Transformation zu diakonischen Unternehmen, die zwar arbeitsrechtlich derzeit noch den »dritten Weg« gehen können, wo sich aber Diakonissen als Gemeindeschwestern »alten Schlags« nicht mehr finden lassen. 3. Gleichschaltungsversuche und Zurückdrängung durch den NS-Staat Die Geschichte der Diakonie im »Dritten Reich« ist komplex und hier nicht ausführlich darzustellen.20 Pastor Constantin Frick (1877–1949), 17 Thomas Olk, Die Diakonie im westdeutschen Sozialstaat, in: Die Macht der Nächstenliebe, a.a.O., S. 274–285, Zitate: S. 276. 18 Gerhard K. Schäfer / Volker Herrmann, Geschichtliche Entwicklung der Diakonie, in: Ruddat/Schäfer, Diakonisches Kompendium, a.a.O., S. 36–67, hier: S. 65. 19 Ebd. 20 Als Einstieg vgl. Jörg Thierfelder, Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, in: Die Macht der Nächstenliebe, a.a.O., S. 224–235.

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Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses (1910–1947) und neuer Präsident des Central-Ausschusses (CA) (1934–1946), distanzierte sich zwar vom Nationalsozialismus, verhielt sich aber betont unpolitisch und kirchenpolitisch neutral und blieb auf Distanz zur Bekennenden Kirche. Evangelische Diakonie und katholische Caritas sollten im totalitären NS-Staat gleichgeschaltet werden. Dies gelang »insgesamt aufgrund ihrer Größe und des christlichen Hintergrunds der Arbeit nicht.«21 Einen gewissen Schutz bot sicher auch die Zugehörigkeit zur gesellschaftlich verwurzelten Institution Kirche. Auch die Diakonie wurde – wie andere freie kirchliche Arbeitsfelder – während des Nationalsozialismus »verkirchlicht«. Selbst die »Eingliederung« in die offizielle Deutsche Evangelische Kirche wirkte sich eher schützend aus. Die Einrichtungen der Inneren Mission lehnten es ab, NS-Schwestern aufzunehmen und auszubilden. Dagegen versuchten NS-Einrichtungen, gute Kräfte aus den kirchlichen Mutterhäusern abzuwerben und diese damit zu schwächen. Aus guten Gründen sollte das Hauptarbeitsgebiet der NS-Schwestern das der Gemeindeschwester an der kommunalen Basis werden,22 was zu Konflikten mit den institutionellen Trägern der konfessionellen Schwestern führte.23 Bereits 1933 gab es Versuche, kirchliche Gemeindeschwestern zu verdrängen.24 Kirchliche Gemeindestationen sollten übernommen werden, später vor allem in ländlichen Gebieten. Der nationalsozialistische Weltanschauungskampf wurde nicht zuletzt an der Basis geführt. Mittelfristig sollten die kirchlichen Diakonissen mit Hilfe der »Braunen Schwestern« als nicht mehr zeitgemäß erscheinen und überflüssig werden – ähnlich wie etwa bei den Kindergärtnerinnen, wo kommunale oder NSV-Kindergärten die kirchlichen Einrichtungen ersetzen sollten. Dahinter stand eine brutale Ideologie, die mittelfristig durchgesetzt werden sollte, wie es Joseph Goebbels klar benannte: »Wir gehen nicht von den einzelnen Menschen aus, wir vertreten nicht die Anschauung, man muß die Hungernden speisen, die Durstigen tränken und die Nackten kleiden – das sind für uns keine Motive. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können.«25 Es ist offen21 22 23

Schäfer/Herrmann, Geschichtliche Entwicklung, a.a.O., S. 62. Vgl. Breiding, Die braunen Schwestern, a.a.O., S. 220–246. Vgl. Breiding, Die braunen Schwestern, a.a.O., S. 232–236. – Bei Heide-Marie Lauterer, Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes (AKiZ B 22), Göttingen 1994, taucht »Gemeindeschwester« nicht einmal im Register auf; auch das Mutterhaus Detmold wird nirgends erwähnt. 24 Vgl. Breiding, Die braunen Schwestern, a.a.O., S. 233. 25 Zit. nach Theodor Strohm, Diakonie in der modernen Gesellschaft, in: Ruddat/ Schäfer, Diakonisches Kompendium, a.a.O., S. 68–87, hier: S. 77.

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kundig, dass der NS-Ansatz anti-biblisch gemeint war, die Kirchen und ihr Handeln sollten wie aus der Bildungs- und Erziehungsarbeit auch im Gesundheitswesen und in der Sozialarbeit verdrängt werden und die neuen NS-Einrichtungen sollten als Handlanger der NS-Ideologie fungieren.26 Wer sich also in die kirchliche Diakonie begab, entzog sich damit auch den Ansprüchen des totalitären Weltanschauungsstaates. Die Auseinandersetzungen begannen spätestens mit Massenvereidigungen von NS-Schwestern ab 1935, wobei man seitens des NS einen »Kampf um die deutsche Seele« führen wollte. Diese Massenvereidigungen von »Braunen Schwestern« wurden mit entsprechenden Reden und Erklärungen inszeniert und publizistisch-medial propagiert, dass dies ein neuer, eigentlich alter Beruf sei, nämlich der Volksgemeinschaft zu dienen; nur »erbgesunde« Familien bekämen Unterstützung, andere sollten sich anderswo hinwenden.27 Bald war nicht mehr zu übersehen, dass neue – auch kirchliche und freie – Schwesternstationen nur noch mit NS-Schwestern zu besetzen seien. Solche durchaus als antikirchlich verstandenen Vorkommnisse fanden Eingang in die Presse. Diese NS-Ansprüche waren also allgemein bekannt und wurden bis zur kirchlichen Basis kommuniziert, auch bei den Reformierten.28 Das reformierte Sonntagsblatt, das in den ostfriesischen Gemeinden gelesen wurde, berichtete 1935 von einigen Artikeln aus der »Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Schwestern und Pflegerinnen«, dass ein neuer »Schwesterntyp« geschaffen werden solle: die Schwester als »politischer Soldat«. Sie solle nicht karitativ und religiös motiviert sein, sondern dem »Volksganzen« dienen und sich an »Rassenlehre« und »nordischer Weltanschauung« orientieren. Dem müsse man, so die kirchliche Presse, widersprechen und den eigenen, kirchlich-diakonischen Weg gehen: »Wer meldet sich zum Schwesterndienst in Bremen oder Detmold?«29 Anders als andere kirchliche Institutionen blieb die gemeindliche Diakonie relativ stabil. Auch 1939 gab es viereinhalb Mal so viele Diakonieschwestern wie NS-Schwestern, die Caritas beschäftigte gleich fünfmal mehr: bei knapp 11.000 NS-Schwestern wirkten 46.500 in der Diakonie und 50.000 in der Caritas.30 Die 1942 erfolgte Zusammenlegung verschiedener NS-Schwesternorganisationen zum NS-Reichsbund 26 27 28 29

So waren es »braune Schwestern«, die an den Morden der »Euthanasie« beteiligt waren. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 44, 1935, S. 467. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 16, 1935, S. 178. Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 5, 1935, S. 55. – Der Apologie der kirchlichen Gemeindeschwester dienten auch Hans Balke, Der Dienst der Gemeindeschwester – eine Krone der Diakonie, in: AuKF 88 (1936), S. 5–25; Einzelberichte aus der Gegenwartsarbeit der Gemeindeschwester, in: a.a.O., S. 26–88. 30 Vgl. Breiding, Die braunen Schwestern, a.a.O., S. 176; ähnliche Größenordnungen auch bei den Stationen der Gemeindepflege, a.a.O., S. 241.

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Deutscher Schwestern und Pflegerinnen war auch ein neuerlicher Angriff auf die konfessionellen Verbünde,31 der jedoch auf Grund anderer Prioritäten in der Kriegsgesellschaft und des Endes der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit der Kapitulation im Mai 1945 erfolglos blieb. 4. Schwester Antje 4.1 Herkunft Antje Swart32 wurde am 28. Februar 1915 in Wymeer (Ostfriesland) als Tochter eines Landarbeiters in eine vielköpfige Familie hineingeboren. Ihre Vorfahren wie auch ihre erweiterte Familie waren Kolonisten und Tagelöhner, Arbeiter und selten Handwerker. Nach dem Besuch der Volksschule war sie, gerade 14jährig, als Hausmädchen (1929–1931) tätig und erhielt danach eine hauswirtschaftliche Ausbildung in einem Geschäftshaushalt (1931–1935). Den Konfirmandenunterricht – zu Grunde lag der Heidelberger Katechismus – besuchte sie teils noch bei Friedrich Hermann Johannes Groenewold (1899–1966), der im November 1930 als Pastor nach Wymeer kam, wo er bis 1948 bleiben sollte.33 »Sie nahm mit regem Interesse am Unterricht teil und gab selbständige Antworten im Gegensatz zur Mehrzahl der Konfirmandinnen.«34 Seit der Konfirmation nahm sie am Jungmädchenkreis teil. Antje, so ihr Pastor, »hat einen auf das Ewige gerichteten Sinn u[nd] den aufrichtigen Willen, mit Ernst Christin zu sein.« Sie sei eine regelmäßige Besucherin des Gottesdienstes und des Abendmahls. Mit einiger Wahrscheinlichkeit war die reformierte Gemeinde Wymeer und damit auch die Familie Swart von der Rheiderländer Erweckung sowohl vor 1910 um Pastor Carl Octavius Voget35 als auch von der Erweckung zu Beginn der 20er Jahre beeinflusst. Der Ortspfarrer beschreibt die Familie als »kirchlich« und die Mutter als »treue Christin«, ohne dass es separatistische Tendenzen gäbe – man gehöre nicht zu den örtlichen Gemeinschaftskreisen, 31 32

Vgl. Breiding, Die braunen Schwestern, a.a.O., S. 177. Die biographischen Daten sind auf Grund der Dokumente in der Personalakte zu rekonstruieren. Es liegen zwei Akten im Archiv des Diakonissen-Mutterhauses Detmold vor; beide werden verzeichnet als Mutterhaus-Buch Nr. 295: Antje Swart, Laufzeit 1934–1965 bzw. Diakonisse Antje Swart, Laufzeit 1934–1981 (im Folgenden zitiert als PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295). 33 Möglicherweise brachte Groenewold aus seiner Geburtsstadt Emden ein erweckliches Erbe mit – auch sein Bruder Claus wurde Pastor: Zwei Theologen aus der Familie eines »Telegraphendirektors« legen eine solche Prägung nahe. 34 So Friedrich Groenewold in einem Fragebogen des Diakonissenhauses Detmold für die Bewerbung von Antje Swart, 7. Januar 1935 (PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295), dort auch die anderen Zitate. 35 Vgl. in diesem Band den Aufsatz Ein reformierter Charismatiker. Der Weg Carl Octavius Vogets zwischen reformierter Tradition und pfingstlerischem Aufbruch.

4. Schwester Antje

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die »zur Heitmüllerschen Richtung [neigen]«.36 Auch sittlich konnte der Pfarrer der jungen Frau ein gutes Zeugnis ausstellen: »[I]m Gegensatz zu einem grossen Teil der weibl[ichen] Jugend« verhalte sie sich »stets taktvoll« gegenüber jungen Männern. Für die kleine Gemeinde Wymeer ist belegt, dass nach Antje Swart im Jahr 1935 auch in den Jahren 1936 und 1937 jeweils ein Mädchen nach Detmold ging, ebenfalls »aus einer wenig begüterten Familie«, und für 1938 seien zwei Mädchen aus der Gemeinde angemeldet.37 Offenbar wurde hier ein Diakonie-affines Umfeld gepflegt, in dem nicht zuletzt der Pfarrer entsprechend agierte. Damit sind bereits zwei wichtige Faktoren genannt: Eine Basis der Diakonie sind die erwecklichen Kreise und Gemeinden der Volkskirche. Und: Gerade für sozial schwache und bildungsferne Schichten, zumal für Mädchen, bot die Diakonie eine interessante Lebens- und Berufsperspektive. 4.2 Ausbildung und erste Stationen Detmold ist das einzige reformierte Mutterhaus in Deutschland.38 Durch die kirchlichen Medien, durch Predigten und Mitteilungen der Pfarrer sowie durch Inspektionsreisen von Vorsteher und/oder Oberin war das Mutterhaus in den Gemeinden bekannt.39 36

Friedrich Heitmüller (1888–1965) war freikirchlicher Pastor und von 1929 bis 1932 sogar stellvertretender Vorsitzender des Gnadauer Verbandes, grenzte sich nicht immer eindeutig von separatistischen Tendenzen ab. Auch wenn er später verfolgt wurde, hegte er doch zunächst große Sympathien für den Nationalsozialismus und äußerte sich antisemitisch. 37 Vgl. Brief des Vorsitzenden des Bezirkskirchenrats, Gerd Hesse Goeman (1895– 1982), an den Landeskirchenrat vom 30. April 1937, wo aus einem Unterstützungsgesuch von Pastor Groenewold, Wymeer, vom 26. April 1937 zitiert wird: »In einigen Wochen geht wieder ein junges Mädchen aus unserem Jungmädchenverein als Diakonissenschülerin nach Detmold. Vor 2 Jahren ging als erste aus diesem Kreis Frl. Antje Swart und vor einem Jahr Frl. Harmine Bültena. Pastor Jürges und Oberin Schwester Martha Coerper waren noch vor einigen Tagen bei uns und teilten uns mit, daß sie sehr viel Freude an beiden jungen Mädchen hätten. Nun geht Frl. Jantine Bültena, die Schwester der Harmine Bültena, in einigen Wochen auch nach Detmold … Nächsten Ostern geht noch ein junges Mädchen unseres Vereins nach Detmold und im Herbst eine nach Bremen.« In: LKA Leer 74.1.32: Vereinswesen und Anstalten: verschiedene Diakonissen-Anstalten, Vol. II (1931–1948). 38 Burkhard Meier, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold. Ein Jahrhundert in Berichten, Bildern und Dokumenten (Beiträge zur Geschichte der Diakonie in Lippe 1), Detmold 1999, darin: ders., Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold bis zum Jubiläumsjahr 1949. Vorgeschichte, Gründung, Wachstum, a.a.O., S. 13–282. Die Zeitschrift »Tabea. Mitteilungen aus dem Diakonissenhause in Detmold« (erschienen wohl 1900–1939) wäre sicher eine interessante Quelle. 39 Vgl. etwa [Wilhelm] J[ürges], »Unsere Stationsreise nach Ostfriesland« vom Januar 1936, in: Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 226 (ursprünglich in: Tabea 1936, Nr. 1, S. 2).

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Der erste Kontakt zwischen Antje Swart und dem Mutterhaus lief über den Ortspfarrer. »In meiner Gemeinde befindet sich ein junges Mädchen, das gerne Diakonisse werden möchte. Es ist ein treues, liebes Mädchen, das schon seit Jahren in unserem Jungmädchenverein ist.« Er fragt an, ob sie zum kommenden Herbst (1934) angenommen werden könne. »Nach Bremen möchte sie nicht gerne. Ich kann das verstehen. Nun hat sie sich auch schon nach Haus ›Salem‹ in Berlin-Lichtenrade gewandt … Ich kenne auch die Richtung des Hauses nicht ganz. Es scheint mir ein Mutterhaus für Gemeinschaftskreise zu sein. Ich hätte lieber, wenn sie in einem Mutterhaus unsrer reformierten Kirche bliebe.«40 Aber Detmold galt eben nicht nur als »reformiert«, sondern anders als Bremen als ein Haus, das der Bekennenden Kirche nahestand.41 Das wird auch später genau erinnert und nach 1945 daraus die Konsequenzen gezogen, eine vorgeschlagene Kollekte für das Mutterhaus in Bremen zu verweigern, und zwar mit der Begründung: »In den hinter uns liegenden Jahren des Dritten Reiches hat die Leitung der Evangelischen Diakonissenanstalt in Bremen in Verbindung mit dem Zentralausschuss der Inneren Mission, dessen Vorsitzender Herr Pastor Frick ist, eine ›Gleichschaltung‹ vorgenommen, die das Vertrauen zu dem Mutterhaus in unseren Gemeinden stark erschüttert hat. Die Schwesternstationen wurden der NSV übergeben, gerieten damit unter den Einfluss des Totalitätsanspruchs der nat[ional]soz[ialistischen] Weltanschauung und wurden unsern Gemeinden immer fremder … In erfreulichem Gegensatz zu der Haltung des Bremer Mutterhauses und eines grossen Teils seiner Schwestern stand das Detmolder Mutterhaus, dessen Schwestern in ihrer alleinigen Bindung an den Herrn Christus bleiben konnten.«42 Die Aufnahme Antje Swarts in Detmold verzögerte sich aber. Erst am 22. November 1934 schickt sie einen handschriftlichen Lebenslauf und begründet ihren Wunsch, Diakonisse zu werden: »Da ich im Glauben an den Herrn Jesus Christus stehe, möchte ich ihm dienen an den Kranken und Elenden, weil ich denke, ihm da mehr dienen zu können.«43 Hier liegt eine Anspielung auf das bekannte Wort Wilhelm Löhes vor: 40

Brief Friedrich Groenewolds an die Leitung des Diakonissenmutterhauses in Detmold, Wymeer, 27. Januar 1934, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 41 Martin Albertz / Hermann van Senden, Das Mutterhaus in Detmold – eine Herberge der Bekennenden Kirche, in: RKZ 90 (1949), S. 213–218 (Wiederabdruck in Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 207–210). 42 Der Kirchenrat Weener, Pastor Hamer, an den Landeskirchenrat vom 30. Juli 1945, in: LKA Leer 74.1.32: Vereinswesen und Anstalten: verschiedene Diakonissen-Anstalten, Vol. II (1931–1948). Der ebenfalls bekenntniskirchlich geprägte 4. Bezirk der Landeskirche votierte genauso, vgl. Brief des Vorsitzenden des 4. Bezirkskirchenrats, Pastor Hermann Züchner, an den Landeskirchenrat vom 7. September 1945, in: a.a.O. 43 Handschriftlicher Lebenslauf der Bewerberin Antje Swart, Wymeer, 22. Nov[ember] 1934, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295.

4. Schwester Antje

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»Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich dienen darf.«44 Dieser von Neuendettelsauer Schwestern kolportierte Löhe-Ausspruch wurde in erwecklichen Kontexten kolportiert und oft abgedruckt. Der Ortspfarrer könnte Antje Swart zu dieser Formulierung geraten haben. Sie wird ihre Bewerbungsunterlagen wohl kaum ganz alleine und ohne Einsicht und Billigung von Eltern und Pastor erstellt haben, zumal der Vater seine Erlaubnis für das Aufnahmegesuch der noch nicht Volljährigen erklären musste.45 So erscheint sie von den beiden patriarchalen Systemen von Kirche/Gemeinde in der Person des Pfarrers und von Familie in Person des Vaters geführt. Offenkundig wichtiger als die eigene Bewerbung Antje Swarts ist das umfangreiche Formular, mit dem der Ortsgeistliche gebeten wird, Auskünfte über die Bewerberin zu erteilen. Auch den Termin ihres Eintritts kann sie nicht selber festlegen: Am 7. Januar 1935 erhält sie die Mitteilung, dass sie eintreten darf. Da sie aber bis zum 1. Mai noch angestellt ist, wollte sie noch den Sommer zu Hause bleiben – wohl auch, um in der Nebenerwerbslandwirtschaft mitzuhelfen – und zum 1. November eintreten. Sie tritt dann aber bereits zum 1. Juli 1935 ein. Und auch das Mutterhaus nimmt schon vor Eintritt eine Deutehoheit in Anspruch: Oberin Martha Coerper trifft sich am 5. März 1935 in Ihrhove – wohl während einer Inspektionsreise – mit ihr und notiert: »Sie macht guten Eindruck, still und bescheiden, aber offenes Wesen.«46 Antje Swart lebte zunächst von Juli 193547 bis April 1936 mit anderen jungen Frauen48 im Mutterhaus und arbeitete auf der »Siechenstation«, wo etwa vier Dutzend alleinstehende Frauen zu betreuen waren. In den folgenden Jahren wurde sie auf verschiedenen Stationen und Fachabteilungen in Detmold und andernorts eingesetzt, etwa von April bis Juni 1936 im Krankenhaus in Neuenhaus bei Nordhorn. Dann war sie bis Oktober 1936 nahezu fünf Monate wieder zu Hause – auf Bitte 44

Zit. nach: Wolfgang Maaser / Gerhard K. Schäfer (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 216. 45 Diese Erlaubnis datiert vom 21. November 1934, in: PA Detmold, MutterhausBuch Nr. 295. 46 Undatierte Aktennotiz, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. Bereits im Januar 1935 ist die Oberin wieder in Ihrhove, wo zwei Schwestern Dienst tun, vgl. den o.g. Reisebericht von [Wilhelm] J[ürges] von Januar 1936. 47 Der von Vorsteher Wilhelm Jürges im Juli 1935 auf dem 36. Jahresfest erstattete Bericht ist wiedergegeben in Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 214 (zuerst in: Lippische Landes-Zeitung, 28. Juli 1935). Jürges nennt wenige Wochen nach dem Eintritt Antje Swarts den »hoffnungsvollen Nachwuchs an jungen Schwestern«. 48 Ein hübsches Bild fröhlicher »Backfische«, in: Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 206, zeigt wohl auch Antje Swart (obere Reihe, 2. v.l.).

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des Vaters, da die nierenkranke Mutter vor einer Geburt stand und noch ein weiteres Töchterchen bekam. Umgehend schrieb Oberin Martha Coerper an den Ortspastor, er möge »ein Auge auf Antje haben …, denn wir machen uns doch etwas Sorge«.49 Offenbar bestand die Befürchtung, dass sie sich von den heimatlichen Verhältnissen und dem Pflichtgefühl – oder/und dem familiären Druck, in der Familie helfen zu müssen – bewegen lassen könnte, ihren Weg in Detmold nicht weiterzugehen. Es zerrten also schon wieder zwei patriarchale Systeme an ihr: Familie und Mutterhaus. Und in der Tat rang man in den nächsten Monaten darum, dass Antje wieder zurückkehrte, vor allem, nachdem sie ihre Sachen aus Neuenhaus nach Hause hatte schicken lassen. Zudem war sie noch keine »Schwester«, so dass die Oberin um die begehrte Anwärterin kämpfen musste. Nach der Rückkehr sollte sie wohl unter besserer Beobachtung bleiben und wurde ab Mitte Oktober wieder in Detmold eingesetzt, und zwar ein Jahr lang im Landeskrankenhaus Detmold (Oktober 1936 bis Herbst 1937). Nach weiteren anderthalb Jahren im Kreiskrankenhaus Nordhorn absolvierte Antje Swart bis April 1939 den so genannten »kleinen Kurs« über vier Monate, eine Art diakonische Grundausbildung,50 und wird dann wieder nach Nordhorn geschickt, wo sie im März 1941 die Prüfung zur staatlich anerkannten Krankenpflegerin absolvierte.51 Das Leben im Mutterhaus und in der Schwesternschaft war geprägt von viel Arbeit und von klaren Reglementierungen. Der Alltag war einförmig, konnte aber auch als erfüllend erlebt werden. »In einem Diakonissen-Mutterhaus geschehen im allgemeinen keine großen Dinge, aber dennoch ist es ein bewegtes Leben, was sich hier und in dem weiteren Kreise der Schwesternschaft täglich abspielt.« Es gab wiederkehrende Höhepunkte: »Regelmäßig einmal im Monat versammeln sich hier [sc. im Festsaal des Diakonissenhauses] so viele Schwestern, wie immer sich nur frei machen können. Da wird dann entsprechend der Ankündigung im Schwesternbrief ein Abschnitt der Heiligen Schrift gründlich durchgearbeitet oder es wird ein biblisches Thema durchdacht. Mancherlei Fragen, die der Dienst mit sich gebracht hat, werden ausgesprochen und Antwort gesucht. Es hat sich gezeigt, daß diese Schwesterntage ein festes

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Brief Martha Coerpers an Friedrich Groenewold, Detmold, 1. Juli 1936, sowie ein ähnliches Bittschreiben vom 12. August 1936, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 50 April bis August 1939, vgl. Tabea. Mitteilungen aus dem Diakonissenhause in Detmold, Nr. 2, April–Juni 1939. – Dieser Kursus ist nicht immer zu Stande gekommen, so dass Anwärterinnen manchmal warten mussten. 51 Abschrift des Ausweises über die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Krankenpflege, Osnabrück, 26. März 1941, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. Die Prüfung hatte am Tag zuvor stattgefunden.

4. Schwester Antje

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Band unseres Gemeinschaft sind, das wir nicht missen möchten.«52 Ein besonderes Ereignis »war wohl unsere Gemeindeschwesternkonferenz, zu der in der Woche vor Pfingsten der größte Teil unserer Gemeindeschwestern – etwa 60 an der Zahl – gekommen war.« Die Konferenzen dauerten eine Woche lang und waren geprägt von täglichen Bibelarbeiten, Vorträgen, Praxisreflexionen und der Einführung in neue Gesetze. Die Anwesenheit der außerhalb tätigen Gemeindeschwestern belebte auch das Mutterhaus und die dort wohnenden Schwestern. Wenn Antje Swart nicht in Detmold, sondern an anderen Einsatzorten, zu Hause oder im Urlaub war, sandte sie in unregelmäßigen Abständen einen postalischen Gruß und gelegentlich auch längere Berichte an die Oberin: »Aus der lieben Heimat sende ich Ihnen herzliche Grüße. Ferien haben ist doch etwas Herrliches. Recht dankbar bin ich für die schönen Tage im Mutterhaus [sc. über Weihnachten?], aber zu Hause ist es doch auch recht schön, dort warten sie immer auf einen. Die Freude zu Hause war sehr groß, wie sie mich erblickten, es ist aber auch etwas Großes, alle mal wieder zusammen zu sein.«53 Was Antje Swart von den politischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen mitbekommen hat, muss wohl offen bleiben. Unübersehbar bot das Detmolder Mutterhaus aber der Bekennenden Kirche einen Hort für Tagungen und Sitzungen und war in konkrete Auseinandersetzungen mit dem NS-Staat verstrickt, etwa wenn es um die Entsendung von Schwestern an Orte ging, wo eine NS-Gemeindeschwesternstation errichtet werden sollte.54 Dennoch gingen wohl auch einige Detmolder Schwestern zu den NS-Schwestern über.55 In dieser Zeit – 30. September 1939, also vier Wochen nach Kriegsbeginn – musste sie eine umfangreiche »Ahnentafel« ausfüllen, also einen »Ariernachweis« erbringen. Unterschrieben wurde das ausgefüllte Formular auch vom Leiter des Detmolder Diakonissenhauses Pastor Wilhelm Jürges. Es war mit Angaben aus dem reformierten Pfarramt in Wymeer versehen worden, da die Familie Swart bis zur Urgroßelterngeneration ganz überwiegend aus diesem Dorf stammte. Von einem Widerstand gegen diese Praxis des Rassismus ist nichts bekannt, weder im Mutterhaus noch in der Gemeinde.56 52

Tabea. Mitteilungen aus dem Diakonissenhause in Detmold, Nr. 1, Januar–März 1939 (ohne Paginierung). 53 Brief Antje Swarts an Martha Coerper, Wymeer, 14. Januar 1938, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 54 Das Beispiel einer Anklage des Vorstehers im Januar 1937 bietet Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 220f., vgl. auch a.a.O., S. 246, eine Auflistung aus dem Jahr 1946 a.a.O., S. 261. 55 Vgl. die Erinnerungen von Schwester Gisela und Schwester Etta, in: Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 28.48 56 Das Formular findet sich in PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295.

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Nach dem Staatsexamen im März 1941 führte ihr Weg wieder weg von Nordhorn nach Detmold ins Landeskrankenhaus, wo sie zwei weitere Jahre bis 1943 blieb. Im Mutterhaus wird sie am 3. Dezember 1943 – also länger als nach einer sonst üblichen siebenjährigen Probezeit – vollgültig in die Schwesternschaft aufgenommen und eingesegnet. Das ihr mitgegebene Bibelwort lautete: »Führet euren Wandel, solange ihr hier wallet, mit Furcht.« (1. Petrus 1,17) Das war vorlaufend wohl als ernsthafte Mahnung zu verstehen – auch das ein Teil und Ausdruck eines patriarchalen Systems. Das abzulegende Gelübde beinhaltete, den Dienst zu tun »nach den Ordnungen unseres Diakonissenhauses in kindlichem Gehorsam und Vertrauen zu [den] Vorgesetzten«. In der Berufsordnung für die Schwestern konnte die Schwester auch als »Tochter« des Mutterhauses bezeichnet werden.57 Während Antje Swart vor der Einsegnung nur mit dem Vornamen angeredet und angeschrieben wurde, hieß sie danach »Schwester Antje«.58 Schwester Antje wurde wiederum in der Grafschaft eingesetzt und arbeitete von 1943 bis 1947 im Bentheimer Krankenhaus59 auf der Männerstation, wo sie kriegsbedingt gewiss viel Elend hat erleben müssen. Dort überstand sie auch das Kriegsende: »Es hätte viel schlimmer werden können. Ostern 1945 wird für uns unvergessen bleiben, es war doch schrecklich. Aber jetzt ist für uns alles vorbei, nur zu oft hören wir die Bomber vorüber fliegen, die viel Unheil in Bremen und Berlin anrichten.« Sie hat »Sorge für unser armes Vaterland. Täglich müssen noch [?] soviel Menschen umsonst ihr Leben lassen … Hoffentlich hat es doch bald ein Ende.«60 Die Gemeindeschwester und das Mutterhaus lebten und litten in den verschiedenen politischen Systemen, aber man gab sich selbst unpolitisch. Den Sommer 1945 verbrachte sie als »Urlaub« bei der Familie in Wymeer; die als Soldaten eingesetzten Brüder waren noch nicht wieder zu Hause eingetroffen. Dann aber tritt eine Wende in ihrem Leben ein: Hatte sie bis dahin elf Jahre lang als Krankenschwester gewirkt, sollte sie ab dem 15. Januar 1947 als Gemeindeschwester leben, zunächst für knapp zehn Jahre im 57 Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 14.16. Die o.g. Formulierung des Gelübdes galt von 1933 bis 1968, vgl. a.a.O., S. 86. 58 »Schwester« bezeichnet also ein Mitglied in der Gemeinschaft der Schwestern. Später wird dieser Begriff als Name für eine im christlichen Glauben dienende Frau dargestellt: Warum »Schwestern«?, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 36, 1956, S. 4. Hier liegt der Fokus also nicht mehr auf einer – möglicherweise katholisch anmutenden – ausgesonderten Existenzweise, sondern auf der gemeindlich-kirchlichen Funktion des Dienens. 59 Vgl. Müller, Diakonisches Wesen und Leben, a.a.O., S. 98–102. 60 Brief Antje Swarts an Martha Coerper, Bentheim, 24. April 1945, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. Die Oberin schrieb am Tag darauf, nachdem eine Botin aus der Grafschaft eingetroffen war, einen Brief an alle Schwestern in der Grafschaft Bentheim, in: Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 260f.

4. Schwester Antje

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lippischen Lage, dann ab 1956 im ostfriesischen Großwolde. Nur wenige Tage vorher schreibt die Oberin Martha am 9. Januar 1947 an Schwester Antje, dass sie nach Lage aufbrechen, aber zunächst noch ins Mutterhaus kommen solle. »Gott gebe Ihnen, daß Sie es auch in der neuen Arbeit immer besser lernen, mit stillem Wesen, geheiligten Lippen und flinken Händen und Füßen an Elenden und Armen dienen dürfen und ihnen – wie Herr Pastor es uns so oft sagt – die Liebe des Herrn Jesu andienen dürfen.« Wozu diente die ausdrückliche Bitte, still und bescheiden aus Bentheim auszuscheiden, ohne viel Aufhebens zu machen? Das »Entsendungsprinzip« war eben auch eine Machthandhabe. Die Diakonisse war nicht selbstständig, sondern war vielmehr dem Willen anderer unterworfen61 – und der unberechenbare Wechsel mit dem immer wieder neuen Eingewöhnen »war oft bitter«.62 Manche Schwestern verstanden die Situation des latenten Interessenskonfliktes zwischen Mutterhaus und Gemeinde, zwischen Oberin und Pastor für eigene Handlungsspielräume zu nutzen.63 Der geforderte und erwiesene Gehorsam gegenüber dem Mutterhaus und der Oberin – der in reformierten Kontexten natürlich auch mit dem Heidelberger Katechismus 104, der Auslegung des 5. Gebots begründet werden konnte – ließ sich auch als Freiheit gegenüber der Gemeinde und dem Pfarrer nutzen, während man gleichzeitig durch die Entfernung Freiheit gegenüber dem Mutterhaus gewann. »Ich hatte völlig freie Hand, meine Arbeit zu tun,« wie sich eine Schwester erinnerte.64 Das mag sein. Andere jedoch fügten sich und litten unter dem geforderten Gehorsam. Jedenfalls brachten die Gemeindeschwestern – etwa bei den jährlichen Konferenzen (s.o.) – den »Wind von draußen ins Haus. Gemeindeschwestern waren realistischer, standen anders im Leben als die Schwestern im Mutterhaus.«65 Ob die Oberin vielleicht auch deshalb so intensiv Inspektionsreisen unternahm? In Lage wartete Schwester Emilie auf ihre neue Mitschwester. Wie in Stationen mit mehreren Schwestern lebte man dort auch in spiritueller Gemeinschaft. Schwester Antje wurde nicht nur in der Alten- und Krankenpflege eingesetzt, sondern auch – nun selbst im besten Mütter61

Es wurde »bedingungslos Gehorsam gefordert«, wie sich Schwester Agathe erinnerte, in: Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 40. Schwester Gisela bezeichnet die »Akzeptanz des geforderten Gehorsams- bzw. Sendungsprinzips« als Teil des »persönliche[n] ›Lebenskampf[es]‹«, a.a.O., S. 44. 62 So nach der Erinnerung von Schwester Helene, in: Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 23. 63 Vgl. Norbert Friedrich, »Man wusste immer erst was, wenn man gerufen wurde«. Die Institution als Schicksal, in: Gause/Lissner, Kosmos Diakonissenmutterhaus, a.a.O., S. 275–287. 64 So nach der Erinnerung von Schwester Berta, in: Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 55. 65 So nach der Erinnerung von Schwester Luise, in: Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 61.

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alter – im Kindergottesdienst. Offenbar fiel der kleinen Frau die Arbeit aber nicht leicht; jedenfalls weisen mehrere internistische Erkrankungen möglicherweise auch auf permanente Überarbeitung hin. Das ganze Jahr 1951, also mit erst 35 Jahren, musste sie wegen Blinddarmbeschwerden und -operationen aussetzen. Während wir über Schwester Antje in den Jahren von 1947 bis 1956 in Lage wegen fehlender Quellen sonst nichts Konkretes in Erfahrung bringen können, sind ihre Jahre im heimatlichen Ostfriesland mit Hilfe der erhaltenen Dokumente gut und ausführlich zu schildern.66 4.3 Ein Vierteljahrhundert Dienst in der Gemeinde Die reformierten Gemeinden zwischen Leer und Papenburg – Ihrhove, Großwolde und Ihrenerfeld – hatten ihre gemeindliche Diakonie durch lokale Krankenpflegevereine organisiert, die vertragliche Verbindungen mit Detmold unterhielten und von dort Gemeindeschwestern zugewiesen bekamen. Zwischen den Orten bestanden Kooperationen. Der »Evangelische Gemeindepflegeverein Großwolde und Umgebung« übertrug diesen Vertrag 1942 an die Kirchengemeinde, so wie es auch in den Nachbarorten passierte – und an zahlreichen anderen Orten, in denen Detmolder Schwestern Dienst taten.67 Grund dafür waren erneute Versuche des NS-Staates und seiner Einrichtungen, kirchliche Schwestern durch NS-Schwestern zu ersetzen sowie die bislang noch in freier Trägerschaft befindlichen Pflegestationen zu verstaatlichen. Die Mutterhausleitung riet deshalb: »[D]ie Veränderung« solle »möglichst wenig in Erscheinung« treten, da man befürchte, »daß dann vielleicht die öffentlichen Zuschüsse aufhören könnten.«68 Man »verkirchlichte« also die Stationen, um deren Existenz zu sichern, weil man davon ausgehen konnte, dass der Staat eher freie vereinsmäßig konstituierte Träger als die immerhin noch mit Körperschaftsrechten ausgestattete Kirche angreifen würde. Diese rechtliche Veränderung ging schnell und still vonstatten, wie es in mehreren Schreiben heißt. Nach dem Vertrag zwischen dem Mutterhaus Detmold und der Kirchengemeinde Großwolde69 war geregelt, dass das Mutterhaus Detmold Schwestern entsendet und diese jederzeit abberufen kann. »Aufsicht und Schutz« obliegen dem »Kirchenvorstand« Großwolde, das »Amt des Beraters« übernimmt der Vor66

Vgl. im Archiv der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Großwolde (aufbewahrt im Pfarramt der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Ihrhove): Akte Schwesternstation / Soziale Dienste e.V. / Diakoniestation WOL [Westoverledingen], Laufzeit 1942–1998 (im Folgenden zitiert als Akte Schwesternstation). 67 Vgl. Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 241. 68 Brief des Diakonissenhauses Detmold an Pastor Hermann Züchner (Ihrhove), Detmold, 5. November 1942, in: Akte Schwesternstation. 69 Dies war ein vervielfältigter Mustervertrag mit Datum 5. November 1942, in: Akte Schwesternstation.

4. Schwester Antje

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sitzende des Kirchenrates, der in der Regel der Ortspfarrer ist. Die Gemeinde zahlt für diesen Dienst ein monatliches »Stationsgeld«70 nach Detmold. Nach 1945 kooperierten offenbar zunächst die unmittelbar benachbarten Schwesternstationen Großwolde und Steenfelde über die reformiert-lutherischen Konfessionsgrenzen hinweg, während der kleine Gemeindeteil Großwolderfeld von der Station der reformierten Kirchengemeinde Ihrenerfeld mitversorgt wurde. Im Jahre 1955 kamen neue Verträge aus Detmold, da an manchen Orten die alten teils bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichten, sich die Verhältnisse geändert und auch die Rechtsträger unterdes gewechselt hatten. Hier wurde noch klarer bestimmt, dass das Diakonissen-Mutterhaus die GemeindepflegeStation des Trägers führt und dass die Schwester kein unmittelbares Arbeitsverhältnis zum Stationsträger unterhält, sondern dass sie der Dienstaufsicht und der Obhut des Mutterhauses untersteht. Die Gemeinde muss für die Wohnung und für Versicherungen aufkommen.71 Während der folgenden Jahrzehnte finanzierten die Gemeinden das Stationsgeld und weitere Kosten der Stationen durch eigene Mittel, durch Kollekten sowie zunehmend durch Zuschüsse vom Landkreis und von Krankenkassen. Unterdeckungen wurden in der Regel von der Landeskirche ausgeglichen. Trotz bereits stark rückläufiger Zahlen wurde Mitte der 50er Jahre am offenbar immer weniger plausibilisierbaren Ideal der Diakonisse festgehalten – auch in Detmold, wie der Vorsteher Heinrich Bödeker es 1956 auf dem Jahresfest formuliert: Diakonissen täten den Dienst an Armen und Elenden, den Christus der Gemeinde übertragen habe, »stellvertretend für die Gemeinde«. Ein solcher Dienst könne nur in Freiheit geschehen. »Deshalb verzichtet eine Diakonisse von sich aus freiwillig auf die Ehe«, was etwas anderes wie ein katholisches »Gelübde zur Ehelosigkeit« sei. Und »[u]m frei und ohne Sorge für die Zukunft zu sein, verzichtet sie auf ihren Verdienst.72 Sie wird vom Mutterhaus in derselben Weise versorgt wie etwa die Tochter zu Hause vom Vater, das heißt, sie bekommt alles, was sie für den Unterhalt in Tagen der Gesundheit, der Krankheit und des Alters braucht. Das Mutterhaus sorgt für Erholung und bezahlt den Urlaub … Für ihre persönlichen Bedürfnisse bekommt die Diakonisse ein Taschengeld … die Grundidee [dieser Regelung] … ist, die Schwester freizuhalten von Sorgen der Nahrung und von all den Nöten und Wirren, die die Geldfragen in dieser Welt nun einmal mit sich bringen … Deshalb kann sie unbeschwert und frei

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Gelegentlich heißt es auch »Stationengeld« oder später »Gestellungsgeld«. Vertrag vom 28. Februar 1955, in: Akte Schwesternstation. Und auf ihre Rente(-nansprüche)! S.u.

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ihren Kranken dienen.«73 Dienst taten im Jahr 1956 in der Detmolder Schwesternschaft – neben 157 Verbandsschwestern – 312 Diakonissen, das Gros in den Einrichtungen wie Krankenhäusern und Heimen, dann aber auch 93 Schwestern in 73 Gemeindepflegestationen: 48 in Lippe, elf in Ostfriesland, zehn in der Grafschaft Bentheim und neun Schwestern in vier Stationen im Westfälischen. Das war mutmaßlich »der Scheitelpunkt der zahlenmäßigen Entwicklung« des Detmolder Mutterhauses.74 Der Beginn der Tätigkeit von Schwester Antje in Ostfriesland geht einher mit einer personellen Krise und mit einer organisatorischen Restrukturierung. Für die Stationen Großwolde-Steenfelde und Ihrenerfeld-Großwolderfeld sieht das Mutterhaus Detmold sich nur noch in der Lage, eine Schwester zu schicken. Dieses Gebiet wäre aber zu groß, weshalb es 1955/1956 zur Gründung der Station Großwolde-Ihrenerfeld kommt – also ohne das lutherische Steenfelde.75 Und: Eine Neubesetzung war auf Grund eines Konflikts notwendig. Der Kirchenrat (Presbyterium) der Gemeinde hatte darum gebeten, dass die beurlaubte Gemeindeschwester Erna Pavel nicht wieder zurückkehre und statt ihrer eine aus Ostfriesland stammende Gemeindeschwester entsandt würde.76 Es sei offenkundig, »daß das Vertrauen sehr gestört ist.« Wegen »Stellung und … Verhalten von Schwester Erna« sei der Kirchenrat sogar beim Landessuperintendenten vorstellig geworden. Nicht nur wegen ihrer mangelnden Plattdeutsch-Kenntnisse schien sie sich nicht mit den Ältesten und dem Pastor zu verstehen, vielmehr warf man ihr illoyales Verhalten vor: »Von dem absonderlich intimen Verhältnis Schwester Ernas zu einer Baptistenfamilie in unserem Dorf ist mit all dem noch nichts gesagt! Für den Kirchenrat und manche Gemeindeglieder ist das ein Ärgernis gewesen, da unsere Gemeinden hier ungewollt in dauerndem Kampf stehen gegen allerlei Angriffe und Machenschaften der Baptistengemeinde Ihren!« Deshalb könne man auch der Versicherung aus Detmold nicht Glauben schenken, Schwester Erna stünde loyal zu Ge73

Wiedergegeben in: Waltraud Hammelsbeck, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold in der zweiten Jahrhunderthälfte. Erinnerungen, Ereignisse, Entwicklungen, in: Meier, Diakonissenhaus Detmold (wie Anm. 38), S. 283–360, hier: S. 311. – Eine Nähe des explizit und implizit Geforderten zum Anspruch an katholische Nonnen (Armut, Gehorsam, Keuschheit) ist unverkennbar. 74 Hammelsbeck, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 342. Das wäre einige Jahre später als der Höchststand an Diakonissen in der BRD und DDR (1951). 75 Vgl. das Gründungsstatut der kirchlichen Schwesternstation Großwolde-Ihrenerfeld vom 28. Oktober 1955, in: Akte Schwesternstation. Die gemeinsame Kassenführung begann am 1. Januar 1956. – Vgl. auch die Notiz im Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 8, 1956. 76 Brief des Kirchenrates Großwolde an die Leitung des Diakonissenhauses Detmold, 4. März 1956, in: Akte Schwesternstation.

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meinde und Gemeindeleitung.77 Die Mutterhausleitung ließ viele Monate vorübergehen, während die Gemeinde durch die Anmietung einer neuen Wohnung zum 1. August versuchte, Fakten zu schaffen. Die kleine Wohnung lag in der geographischen Mitte zwischen den beiden Dörfern auf einem Bauernhof. Nach zwei Monaten Leerstand verfügte die Oberin Martha im entfernten Lippe, dass Antje Swart von Lage nach Großwolde-Ihrenerfeld wechseln müsse.78 Wenige Tage später zieht sie in ihre ostfriesische Heimat.79 Der Wechsel fiel ihr nicht leicht, hatte sie doch beinahe zehn Jahre Dienst und Leben einschließlich gravierender Krankheiten in Lage erlebt. Aber bereits nach vier Wochen berichtet sie aus Großwolde, dass sie »hier sehr nett aufgenommen« worden sei. »[E]s wird mir viel Liebe entgegen gebracht«, beide Pfarrer80 seien »nett«, es würden gute Predigten gehalten und »der Kirchenbesuch ist auch sehr gut. Die Gemeinden sind hier doch weit lebendiger wie in Lage.« Neben den krankenpflegerischen Diensten »[helfe ich] [i]n beiden Kirchen … abwechselnd im Kindergottesdienst.« Außerdem sänge sie im Kirchenchor mit.81 Aus den ersten Jahren gibt es mehrere zufriedene Briefe, auch wenn die Idee von Schwesternschaften, eine spirituelle Gemeinschaft zu bilden,82 durch Einzelschwestern kaum realisiert werden konnte – trotz des regelmäßigen Austauschs mit der benachbarten Schwester in Ihrhove und den Schwesternkonferenzen im südlichen Ostfriesland, die von der »Kreisschwester« einberufen wurden und wo auch die Oberin anwesend sein konnte. An den jährlichen Konferenzen in Detmold kann sie in den ersten Jahren kaum teilnehmen; erst in den 70er Jahren fährt sie regelmäßig nach Detmold und nimmt auch an Fortbildungskursen teil. So ist sie oft auf sich allein gestellt. Sie macht viele Krankenvisiten, wobei nicht zuletzt Insulinspritzen verabreicht werden, und wenn weniger Kranke zu versorgen sind, macht sie Haus- und Altenbesuche, kümmert sich um Schwangere und Wöchnerinnen, hält Nachtwachen und wirkt 77

So geäußert in einem Gespräch mit Martha Coerper am 14. März 1956 in Ihrhove, wiedergegeben im Brief Erich Hamers an Wilhelm Bödeker, 29. März 1956, in: Akte Schwesternstation. 78 Brief Waltraud Hammelsbecks an Antje Swart, 2. Oktober 1956, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 79 Vgl. auch die Notiz im Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 43, 1956. 80 Erich Hamer (1909–1995), Pastor in Großwolde 1951–1977; Gerrit Kemper (1913–1992), Pastor in Ihrenerfeld 1952–1978. – Zur Familie des Erstgenannten liegt jetzt vor: Heyo E. Hamer, Anmerkungen zu 300 Jahren Geschichte des ostfriesischen Pastorengeschlechts Hamer, in: Quellen und Forschungen zur ostfriesischen Familienund Wappenkunde 65 (2016), S. 33–63. 81 Brief Antje Swarts an Martha Coerper, 4. November 1956, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 82 Vgl. Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung, a.a.O., S. 203–206.

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bei Impfungen an Schulen mit. Ausweislich der Zahlen muss die Belastung immens gewesen sein.83 Die Schwester ist mithin nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch in der Fürsorge, der Sozialarbeit und der Seelsorge tätig – später auch im Kindergottesdienst. Sie war so etwas wie eine kirchliche Allrounderin und eine »Quartiermanagerin«.84 Gewiss wirkte sie mit ihrer zupackenden Fröhlichkeit auch als ein gutes Pendant zu Pastor Erich Hamer, einem nüchternen Barthianer. Die Arbeitsumstände für Schwester Antje waren denkbar mühsam. Nur wenige »Straßen« in den Dörfern des südlichen Ostfrieslands waren in den 50er Jahren befestigt, besonders in den Wintermonaten waren die Wege aufgeweicht und auch mit dem Moped nur schwer passierbar. Mit dem Moped, ab 1965 mit dem Auto auf unterdes ausgebauten Straßen war sie mobil.85 Darüber freuten sich auch ihre Eltern, zu denen sie regelmäßig sonntags nach dem Gottesdienst aufbrach und dann montags früh vom Besuch in Wymeer zurückkam. Ihren Urlaub verbrachte sie überwiegend in Wymeer, nur gelegentlich – besonders in den 70er Jahren – weilte sie in Kurhäusern im deutschsprachigen Raum. Manche junge Frau nahm sich Schwester Antje zum Vorbild und ging ins Detmolder Mutterhaus, wenn auch nicht mehr als Diakonisse, so doch ins Diakonische Jahr oder als Auszubildende. Die Gemeindeschwestern fungierten als wichtige Klammern zur kirchlichen Basis. Dazu diente etwa auch eine Gemeindefahrt nach Detmold ins Mutterhaus bereits im Sommer 1957. Neben der Oberin auf ihren Inspektionsreisen kam auch der Vorsteher und predigte in den Gemeinden, so auch in Großwolde. Das war eine wichtige »Kundenpflege«, denn es ging bei den gemeindlichen »Gestellungsgeldern« um viel Geld, um die finanzielle Grundlage nicht nur der Arbeit der aktiven Schwestern, sondern des ganzen Systems Mutterhaus. Waren die alltäglichen Belastungen bereits hoch, so kamen noch extraordinäre hinzu, wie etwa frühe Kindstode oder Suizide, von denen Schwester Antje nach Detmold berichtet. Zwar verwendet sie immer wieder Formulierungen wie »Gott wird es weisen« oder »ich vertraue, 83

Vergleichbare Zahlen aller Stationen aus dem Jahr 1948 in Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 273. Für Großwolde ist u.a. aktenkundig: 3909 Hausbesuche bei 266 Kranken (1953), 3895/256 Kranke (1965), 4621/238 Kranke (1969), 5470/203 Kranke (1972), 5472/184 Kranke (1973), 6149/161 Kranke (1976), 6718/175 Kranke (1977), 5966/170 Kranke (1978), 5041/149 Kranke (1979). 84 So Friedrich, Überforderte Engel, a.a.O., S. 90. Mehrere Generationen später nennt Käthe Rakete, a.a.O., S. 107, neben der Krankenpflege Frauenhilfe, Mütterkreis, Jugendarbeit und Kindergottesdienst. 85 Der Kirchenrat und der Pastor hatten sie zum Ablegen des Führerscheins gedrängt – wie an zahlreichen anderen Orten war die Gemeindeschwester eine der ersten Frauen mit Führerschein. Es wurden jedoch durchgängig sehr bescheidene Fahrzeuge mit Automatikgetriebe angeschafft: Schwester Antje fuhr stets den kleinsten DAF (Daffodil) – mit dem sie dann sonntagmorgens auch Kinder des Kindergottesdienstes abholte.

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dass Gott es lenkt« u.a., aber sie scheint doch nicht über den volkskirchlichen Typus hinaus besonders »fromm« gewesen zu sein. Probleme wurden wohl besprochen – mit dem Pfarrer, brieflich und später auch telephonisch mit der Oberin und dem Vorsteher –, in den Akten bleiben Probleme dagegen im Nebulösen86 – das ist nicht untypisch für eine patriarchale Praxis. Die Untergeordneten sollen ihre Last demütig tragen, Probleme werden nicht transparent und selbstbewusst bearbeitet. Auch systembedingte Konflikte blieben nicht aus, etwa auf Grund der Regelung, dass die Schwestern im Sommer über vier Wochen Vertretungsdienste leisteten, um dort zu helfen, wo es nach Einschätzung der Oberin besonders nötig war, um mit einer befreundeten Schwester zusammenzuarbeiten oder um neue Erfahrungen zu sammeln, etwa in einem Krankenhaus. Dieser Konflikt wurde quasi jährlich exerziert und damit demonstriert, wer eigentlich das »Zugriffsrecht« auf die Gemeindeschwester hatte. Im Frühsommer 1964 beschwerte sich die Gemeindeleitung, dass Schwester Antje acht Wochen – vier Wochen Vertretung und vier Wochen Urlaub – abwesend wäre. Das Mutterhaus unterschätze wohl die kräftezehrende Arbeit vor allem im Winter »in ihrem [sc. Schwester Antjes] weit ausgedehnten Landbezirk«.87 Der Streit wächst sich zu einer Krise aus. Oberin Marga Coerper bat den Kirchenrat darum, »weder in Ihren Gedanken noch im Schriftsatz von einer ›Kommandierung‹ oder ›Abkommandierung‹ zu sprechen. Wir sind eine Gemeinschaft von Christen, die miteinander bedenken, wo im Augenblick der Dienst am dringendsten ist.«88 Das sahen Kirchenrat und Pastor offenkundig etwas anders: Da Schwester Antje »sich in fröhlichem Dienst unter uns aufopfert«, mache man sich Sorgen um ihre Gesundheit. Trotz des Briefwechsels zwischen Gemeinde und Mutterhaus wurde sie »kurzfristig telegrafisch ›zur Aussprache‹ nach Detmold beordert, ohne daß der Kirchenrat einen Bescheid erhielt.« Bei einem Telephonat mit dem Gemeindepfarrer wurde versichert, dass sie sofort zurückkehre. Selbstbewusst sagte die Schwester Oberin dem Gemeindepfarrer: »Die Gemeindeschwestern brauchen keinen Vormund«.89 »Wir waren im Kirchenrat bis dahin der Meinung gewesen, mit dem Detmolder Mutter-

86 Vgl. Brief Wilhelm Bödekers an Antje Swart, 15. Oktober 1957, wo u.a. große »Nöte« genannt, aber nicht konkret benannt werden; ein Brief von Schwester Antje vom 30. Oktober 1957 ist nicht vollständig vorhanden, sondern nur Blatt 1, wo sie von Anfechtungen und Nöten geschrieben hat, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 87 Brief des Kirchenrates Großwolde (unterzeichnet Erich Hamer) an die Leitung des Diakonissenmutterhauses, 29. Mai 1964, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 88 Brief Martha Coerpers an den Kirchenrat Großwolde, 20. Juni 1964, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 89 Brief des Kirchenrates Großwolde an die Leitung des Diakonissenhauses, 9. Juli 1964, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295.

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haus90 in einem guten Partnerschaftsverhältnis zu stehen. Wir sind ja hier wie dort derselben Sache und demselben Dienst verhaftet und müßten darum anstehende Fragen und Schwierigkeiten in gutem Kontakt miteinander verhandeln und klären können. Kirchenrat hat es auch immer als seine Aufgabe angesehen, wie ein guter Pflegevater für seine Gemeindeschwester zu sorgen und ihr äußerlich und innerlich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.« Nun sei aber klar geworden, »daß die Mutterhausleitung über diese Dinge offenbar ganz anders denkt.« Bliebe die Leitung bei einer solchen Führung, gäbe es Mißstimmungen in den Gemeinden und man könne – so wurde unverhohlen angedroht – »junge Menschen zum Dienst und zur Ausbildung nach dort« nicht mehr »empfehlen«. Hier wird ein Loyalitätskonflikt zwischen zwei patriachalen Systemen deutlich, zwischen Mutterhaus und Gemeinde,91 und natürlich fungierte die Oberin als patriarchal agierender Vormund. Nur Schwester Antje selbst scheint nicht gefragt zu sein – jedenfalls ist das nicht aktenkundig geworden. Wahrscheinlich war die Oberin der Überzeugung, die Interessen der Schwestern am besten selbst formulieren und vertreten zu können. Nach mehrwöchigem Vertretungsdienst und achttägigem Erholungsurlaub – wahrscheinlich im Diakonissenmutterhaus – kehrte Schwester Antje in die Gemeinde zurück. Sie war wohl loyal zu beiden Seiten. Skrupulös trat sie der Oberin gegenüber auf: In einem Brief kurz vor Marthas Ausscheiden aus dem Amt bittet sie quasi um Verzeihung, obwohl nichts gegen sie vorlag.92 Die offiziöse Sicht über die Oberin formulierte ihre Nachfolgerin Waltraud Hammelsbeck im Jubiläumsband 1999: »Daß Schwester Martha [sc. in ihrer einzigartigen Führungsweise] in ›dominierender Weise‹ vorging, habe ich nie empfunden.« Und doch legte sie dazu: »Manche Menschen fühlten sich durch sie eingeengt und konnten, wie Pastor Jürges und Pastor Bödeker, auf die Dauer nicht neben ihr existieren und mit ihr arbeiten und leben.«93 In den Erinnerungen anderer Diakonissen klang es – bei aller Wertschätzung – durchaus schärfer, wenn vom »strengen Regiment« gesprochen wurde.94 90

Kursivierungen durch den Verfasser, um den patriarchalen Sprachgebrauch zu markieren. 91 Friedrich, Überforderte Engel, a.a.O., S. 90, weist daraufhin, dass ein Loyalitätskonflikt zwischen Pfarrer und Mutterhaus in »vielen Berichten [sc. der Gemeindeschwestern] direkt oder indirekt thematisiert wurde.« 92 Brief Antje Swarts an Martha Coerper, 22. Januar 1965, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 93 Meier, Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 311f. 94 Schwester Minna: »Regiment von Schwester Martha«, in: Sauermann, Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 20; Schwester Etta: »Unter dem strengen Regiment der Oberin Martha Coerper haben wir oft geseufzt«, in: a.a.O., S. 48. – Nur mündlich wird auch von dem Phänomen berichtet, dass Gemeindeschwestern – wohl an der autoritären

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Mitte der 60er Jahre wurde auch in den reformierten Kontexten das Berufsbild »Diakonisse« immer weniger verständlich, wie eine Detmolder Diakonissenschülerin beklagte und das Leben im Diakonissenhaus für die reformierte Öffentlichkeit darstellte.95 Man war bereits derart in die Defensive geraten, dass sogar die Nützlichkeit der Gemeindeschwestern bei der finanziellen Entlastung der Krankenkassen betont werden musste.96 In der zweiten Hälfte der 60er Jahre gerät Schwester Antje in einen neuerlichen Loyalitätskonflikt. Ihr Vater Harm starb 1967, die Mutter Harmke 1969. Um beide kümmerte sie sich pflegerisch. So muss sie im Frühjahr 1968 spontan um mehrere Wochen Beurlaubung bitten. Sie fühlt sich zwischen Familie und Gemeinde bzw. Mutterhaus hin- und hergerissen. »Ich bin recht unglücklich darüber, daß ich meine Gemeinde so im Stich lasse, aber was soll ich machen? … Es tut mir leid, daß ich die Gemeinde so schlecht versorge.«97 Und wieder verbringt sie im November 1969 mehrere Wochen bei der sterbenden Mutter, während die Kollegin aus Ihrhove sie vertritt. Sie zeigt große Skrupel, die Alten und Kranken in den Wintermonaten und die Gemeinde in der Adventszeit allein zu lassen.98 Sie fährt mehrmals in der Woche hinüber nach Großwolde, um zu arbeiten, selbst nach Nachtwachen bei der Mutter. Auch nach dem Tod ihrer Eltern sah sie sich verpflichtet, häufig nach Wymeer zu fahren, um einer kranken Schwester beizustehen. Zu den moralischen Skrupeln gesellen sich finanzielle Bedenken: Bei solchen Hierarchie partizipierend – den Kranken und Kindern gegenüber streng agierten. So wurde gelegentlich aus der »Diakonisse« im gemeindlichen Volksmund die »Hornisse«. 95 Hanna Theine, Was halten Sie vom Diakonissenhaus?, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 10f., 1960. Hier wird das Selbstbild tradiert: »Einen Außenstehenden beeindruckt vielleicht am meisten die Freudigkeit, in der der Dienst [sc. im Mutterhaus und den Krankenstationen] getan wird. Und man fragt sich, woher diese Menschen Kraft nehmen. Eine Diakonisse sagte mir einmal: ›Wir sind so dankbar, daß wir dienen dürfen.‹« – Hier liegt geprägte Sprache vor. Schwestern benutzten auf Grund ihrer Gruppenmentalität sprachliche Codices. Dazu gehört etwa das »dienen dürfen«. Selbst wenn es subjektiv als wahr empfunden wurde, bleibt es gruppenspezifisch aufoktroyiert. Ähnliches gilt wohl auch für Habituelles: Bescheidenheit und Fröhlichkeit. 96 Vgl. Wieviel Geld erspart eine Gemeindeschwester den Krankenkassen durch ihre Tätigkeit? Aus einem Rundschreiben des Diakonie-Ausschusses, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 30, 1960, S. 7f. – n.b.: Nach 1960 kam keine Diakonissen-Anwärterin mehr nach Detmold. 97 Brief Antje Swarts an Waltraud Hammelsbeck, 11. März 1968, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 98 »[I]ch wußte keinen anderen Weg, als in der Gemeinde zu bitten, mich zu beurlauben … Ich kann augenblicklich nichts anderes tun, als vorläufig hier [sc. bei der Mutter] zu bleiben.« Brief Antje Swarts an Waltraud Hammelsbeck, 4. November 1969, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. »So kann ich gar nicht anders als darum bitten, mich vorläufig noch zu beurlauben.« Brief Antje Swarts an Waltraud Hammelsbeck, 24. November 1969, in: a.a.O.

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Ausfällen wurde seitens der Gemeinden auch kein Stationsgeld ans Mutterhaus gezahlt. Die Diakonisse musste also noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen dem Mutterhaus gegenüber entwickeln. In den 70er Jahren, einem sozialtechnologischen Jahrzehnt des umfassenden Sozialstaates, in dem durch eine hochgradig organisierte »Verbandsdemokratie« ein gesellschaftlicher Ausgleich aller Gruppen angestrebt wurde, standen auch überkommene Strukturen, Rechtsverhältnisse und die Finanzierung der gemeindlichen Pflege zur Debatte. Diakonissen in einem nicht-lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverhältnis wirkten zunehmend anachronistisch. Mit den Löhnen und der Inflation stieg auch das zu zahlende Stationengeld im Laufe der 60er Jahre praktisch bis zu einem durchschnittlichen Monatslohn99 und dann rasant weiter.100 Bis 1972 wurden Abrechnungen etc. noch ehrenamtlich von einem Gemeindeglied vorgenommen. Als dies nicht mehr zu leisten war, übernahm das kirchliche Bezirksrentamt Leer diese professionalisierte Arbeit. Um Professionalisierung bemühten sich zahlreiche Akteure, weshalb die Politik neue Rahmenbedingungen zu schaffen genötigt war: Das Land Niedersachsen veröffentlichte 1977 Richtlinien zur Förderung und 1978 Empfehlungen zur Einrichtung von Sozialstationen. Die Einrichtung von größeren und kommunalen Sozial- oder Diakoniestationen101 in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war nicht unumstritten, auch bei den Reformierten gab es durchaus harte Debatten. In der zu Beginn des Jahres 1973 konstituierten Samtgemeinde Westoverledingen forcierte Pastor Lothar Knoch102 aus Ihrhove den Zusammenschluss der bislang vier selbstständigen Schwesternstationen zu einer zentralen Diakoniestation. Er begründete dies mit der Professionalisierung der Arbeit, auch mit der technischen Ausstattung, mit dem Neuansatz der Gesellschaftsdiakonie (Jürgen Moltmann), die nicht mehr patri99

Gestellungsgeld 1970: DM 860,- monatlich / durchschnittlicher Lohn etwas über DM 7.000,-/anno. 100 Gestellungsgeld 1971: DM 1.050,-, 1974 bereits DM 1.850,-, Ende der 70er Jahre um DM 2.500,-, Gestellungsgeld 1980 knapp DM 3.000,-/ durchschnittlicher Lohn etwas über DM 15.000,-/anno. Während sich die Löhne also in einem Jahrzehnt verdoppelten, stieg das Gestellungsgeld nahezu um das Vierfache und lag weit über dem Doppelten eines Durchschnittslohnes. Das war in kirchlichen Gremien kaum noch zu plausibilisieren. 101 Vgl. Friedrich, Überforderte Engel, a.a.O., S. 91f., vgl. auch Abschnitt 2. 102 Über dessen Tätigkeit gibt es einen Bericht: Diddo Wiarda, Tradition und Gegenwart. Drei Jahrzehnte Pfarrdienst in zwei ostfriesischen Gemeinden. Ein Vergleich, in: Ausblicke. Kirchliche Existenz zwischen Verkündigung und Sozialarbeit. Festschrift für Lothar E. Knoch, hg. von Achim Detmers / Habbo Knoch / Paul-Gerhardt Voget, Hamburg 1995, S. 33–42. – Der Pfarrersohn, unterdes Professor für Geschichte, nutzte die Gelegenheit, um einige interessante Überlegungen für eine Geschichte der kirchlichen Basis zu formulieren: Habbo Knoch, Kirchengeschichte (auch) als Gemeindegeschichte. Über ein doppeltes Defizit der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung , in: a.a.O., S. 139–176.

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archal, sondern demokratisch grundiert sein musste, und mit der auch in anderen Bereichen gut funktionierenden Kooperation von Kirche und Kommune.103 Am 11. April 1977 wurde die Diakoniestation Westoverledingen eröffnet, nicht mehr in einem kirchlichen Gebäude, sondern in der kommunalen Begegnungsstätte am Rathaus. – Übrigens zu einer Zeit, als viele von der Bekennenden Kirche geprägte Pfarrer in den Ruhestand eintraten. Diese flächendeckende Entwicklung wurde zeitgenössisch auch kritisch gesehen: »In Niedersachsen verschwindet eine Einrichtung aus den Dörfern und Gemeinden, die lange Zeit für die meisten evangelischen Kirchengemeinden typisch war: Die Gemeindeschwesterstation. An Stelle der freundlichen Frau mit dem weißen Häubchen, die mit Rat und Tat zur Stelle war, wenn Hilfe und Trost gebraucht wurden, tritt eine wenig fassbare Organisation: Die Sozialstation«. Ein Verlust wird beklagt: »Neben dem Pastoren stellten sie in der Öffentlichkeit die Kirche in ihrer Zuwendung zum Nächsten dar. Die Schwester vermittelte den Kontakt zwischen Pastor und Gemeindeglied, übte Seelsorge am Krankenbett und stand Sterbenden bei.« Die Gründe für den Verlust waren benennbar: Es konnten immer weniger Schwester rekrutiert werden, die Kosten waren stark angestiegen, die diakonischen Mitarbeiter/innen haben andere Ansprüche als Schwestern. Die Gründung der Sozialstationen wurde auch als ein Stück »Verstaatlichung« verstanden. Die Schattenseite der sozialstaatlichen Regelungen und der öffentlichen Finanzierung der flächendeckenden Versorgung mit ambulanter Pflege war die Ökonomisierung (»Dienstleistung statt Hilfe«).104 4.4 Das Ende: Auflösung der Zugehörigkeit zum Mutterhaus und Verrentung Die Ökonomisierung ihres Arbeitsfeldes erlebte Schwester Antje nicht mehr im aktiven Dienst, auch wenn sie noch wenige Jahre im Rahmen der 1977 gegründeten Diakoniestation in der Verbandsgemeinde arbeitete. Spätestens mit Einführung der Pflegeversicherung 1994 schwand der »Vorrang der freien Wohlfahrtspflege« und es entstand ein hart um103

[Lothar Knoch], Warum Diakoniestation?, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 20, 1978. – Von der Erfahrungen der ersten 25 Jahre einer reformierten Sozialstation berichtet Gotelind Kuhlmann, Diakonie-/Sozialstation Bovenden. Ein Rückblick auf die Jahre 1973–1998, in: Arme habt ihr allezeit bei euch, a.a.O., S. 163–167; vgl. auch Helmut Müller, Der Diakonische Dienst Schüttorf-BentheimOhne-Gildehaus gGmbH, in: a.a.O., S. 168–173. 104 Johannes Göhler, Vielen Kirchengemeinden machen die Sozialstationen Kummer. Das kirchliche Profil droht immer mehr verloren zu gehen, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 24, 1982. – Dagegen ein harscher Leserbrief von Elisabeth Voget-Overeem, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 26, 1982 (S. 8).

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kämpfter »Sozialmarkt«105 – nach den Gemeindeschwestern wurden jetzt auch kirchliche Anbieter ökonomisch bedrängt.106 Gesellschaftlicher Wandel und Veränderungen der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen ließen Transformationen von diakonischen Einrichtungen alternativlos erscheinen. Sehr viel früher hatte es bereits 1973 Überlegungen zur Problematik der Altersvorsorge der Diakonissen gegeben. Diese Vorsorge bestand aus Einzahlungen bei der Angestelltenversicherung (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile), der technischen Zusatzkasse Dortmund und dem Mutterhausfonds. Da alles vom Mutterhaus bezahlt wurde, hatte auch das Mutterhaus den Rentenanspruch, nicht die Diakonisse. Das Mutterhaus stellte dafür den Ruhesitz im Mutterhaus, Ausstattung und ein Taschengeld bereit.107 Es war typisch für die 70er Jahre, dass Althergebrachtes auf den Prüfstand kam. Die Dinge mussten ggfs. neu geregelt werden. Dass wusste auch das Mutterhaus und erbat deshalb von den Schwestern eine rechtsverbindliche Abtretung ihrer Rentenansprüche. Am 9. Mai 1976 leistete Antje Swart die Unterschrift und erklärte sich »in allen Punkten« mit der »Versorgungsordnung« des Detmolder Mutterhauses »einverstanden«.108 Schwester Antje hat wohl immer gemacht, was Eltern, Pfarrer und Oberin ihr vorgaben. In einer so langen Geschichte des immer wieder erbrachten Gehorsams wird sie 1976 eben auch nichts anders agiert haben können. Dies wurde bald relevant, als unmittelbar vor ihrem 65. Geburtstag Anfang 1980 der Antrag auf Eintritt in die Rente zugestellt wurde. Sie hatte sich schon »eigne[.] Gedanken u[nd] Pläne für den Feierabend« gemacht. Einen Tag vor ihrem Geburtstag kam seitens des Mutterhauses »der Antrag für die Rente u[nd] zugleich möchte ich unterschreiben, daß ich die Rente nicht für mich haben wollte. Ich war stutzig u[nd] konnte dies nicht unterschreiben. Habe ich es mir doch so ausgedacht, daß ich hier in Ostfriesl[an]d in der Heimat bleiben möchte. Dazu brauche ich Geld, weil ja alles viel teurer geworden ist, kann ich nicht mit 420 DM auskommen. Darum möchte ich bitten, mir so viel Geld für den Lebensunterhalt zu geben, wie ich nötig habe. Ich glaube, daß 105 106

Schäfer/Herrmann, Geschichtliche Entwicklung, a.a.O., S. 65. Das geschah auch vor Ort: Die Schwesternstation Großwolde wurde 1998 offiziell aufgelöst, nachdem sie seit 1977 in der Arbeitsgemeinschaft Diakoniestation Westoverledingen mitgewirkt hatte. Die Nachfolgeeinrichtung heißt gegenwärtig »Soziale Dienste – Diakoniestation Westoverledingen e.V.« 107 Aktennotiz eines Gesprächs des Rentamts Leer mit dem Mutterhaus, 6. November 1973, in: Akte Schwesternstation. – Es gab wohl während der ganzen 70er Jahre immer wieder rechtlich-formale Differenzen zwischen dem Mutterhaus in Detmold und der Kirchenverwaltung in Leer. 108 Das Schreiben liegt vor in PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. – Offenbar wurde dieses Schriftstück später bei der Rentenberechnung als unwirksam angesehen.

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ich nicht zuviel verlange, habe ich doch schon fast 45 J[ahre] gearbeitet … Vielleicht sind Sie traurig … daß ich Ansprüche stelle.«109 Nur zwei Tage später trifft ein Antwortschreiben der Oberin ein: »Zu der Frage der Abtretung der Rente an das Mutterhaus lesen Sie doch bitte noch einmal unsere Versorgungsordnung, mit der Sie sich mit Ihrer Unterschrift am 9.5.1976 ›in allen Punkten einverstanden‹ erklärt haben … Es ist richtig, Sie haben jahrzehntelang für das Mutterhaus gearbeitet, und das Stationsgeld für Sie ist der gemeinsamen Kasse der Diakonissen zugute gekommen. Dafür hat das Mutterhaus für Ihren Lebensunterhalt gesorgt, die Versicherungsbeiträge gezahlt und Ihnen eine Versorgung bis ans Lebensende zugesichert.« Bezeichnend für die Machtverhältnisse ist die Formulierung, Schwester Antje habe »für das Mutterhaus gearbeitet«. Bei dem sonst propagierten christlichen Idealismus, in den Bedürftigen für Christus selbst gearbeitet zu haben, ist dies überraschend – oder enthüllend. Den gewährten »Lebensunterhalt« hier zu anzuführen, nachdem die Schwester ein ganzes Leben lang in einfachsten Verhältnissen gelebt hatte, ohne einen Pfennig ansparen zu können, ist vermessen. Dass ein Arbeitgeber Rentenbeiträge zu entrichten hat, war eine der Grundlagen des bundesrepublikanischen Rentensystems – und stellte im übrigen in diesem Fall nur einen kleinen Teil des einkassierten Stationsgelds dar, selbst wenn man Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil addiert. Die Arbeit der Gemeindeschwestern war in jedem Fall ein gutes Geschäft für das Mutterhaus. Da die gemeinsame Altersvorsorge nach Ansicht der Oberin allen Schwestern zugute käme, »ist es nicht gut möglich, einer einzelnen Schwester die Rente auszuzahlen.« Deshalb möge sie doch bitte die Verzichtserklärung unterschreiben. Möglich wäre, »den Beitrag zu erhöhen …, den die Schwestern erhalten, die ihren Feierabend nicht hier bei uns verleben möchten.« Die Oberin hegte angeblich Verständnis für den Wunsch, den Feierabend in der Heimat verleben zu wollen, aber man könne »nur wünschen, daß Sie, wenn Sie noch älter werden, dort auf die Dauer nicht zu einsam werden.« Außerdem hätte sie besser an der Freizeit der Schwestern teilnehmen sollen, auch um die Belange des Mutterhauses »wieder einmal vor Augen gestellt« bekommen zu haben.110 Die Oberin wird möglicherweise auch Sorge gehabt haben, dass hier ein Präzedenzfall entstehen könnte. Wären viele andere Schwestern dem Weg Schwester Antjes gefolgt, wäre das Mutterhaus und besonders das Feierabendheim nicht mehr zu betreiben gewesen. 109

Brief Antje Swarts an Waltraud Hammelsbeck, 6. März 1980, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 110 Brief Waltraud Hammelsbecks an Antje Swart, 12. März 1980, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295.

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Auch eine Intervention des landeskirchlichen Diakoniepfarrers führte nicht zu einer Verständigungen, wohl aber zu weiteren Klärungen. Ihm wird die Detmolder Versorgungsordnung erklärt: Die Schwestern hätten sich frei entscheiden können und entschieden sich dafür, vom Mutterhaus bis ans Lebensende versorgt zu werden. Für den Fall, dass eine Schwester lieber zur Verwandtschaft zöge, gäbe es von Detmold Unterhaltshilfe, die aber geringer als die Rente sei. Wenn sie die volle Rente wolle, müsse sie austreten, womit sie allerdings ihr Gelübde bräche.111 Der Austritt aus der Schwesternschaft war natürlich in der Geschichte der Diakonissen tabuisiert und dann auch sanktioniert; in Kaiserswerth etwa galt in früheren Jahrzehnten ein strenges Umgangsverbot mit Ausgetretenen.112 In den Jahren um 1980 müssen ähnlich gelagerte Fälle häufiger vorgekommen sein. Landeskirchliche Institutionen sahen auch in der Lösung von Detmold eine Option. Man wies die Gemeinden daraufhin, dass die Gestellungsverträge gekündigt werden könnten.113 Oberin Waltraud kündigte noch einen Besuch in Großwolde an, um die Dinge zu besprechen, allerdings hatte sie mit dem Hinweis auf einen möglichen Austritt den Bogen wohl überspannt. Am 1. Mai 1981 erklärte Schwester Antje ihren Austritt aus der Gemeinschaft: »Nach langem Überlegen bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß ich aus der Mutterhausgemeinschaft ausscheiden möchte. Es ist kein leichter Weg.« Sie müsse ihre leibliche Schwester unterstützen, und das ginge nicht mit der kleinen Rente, wenn die Abzüge für das Mutterhaus fehlten. »Herzlich möchte ich danken für alle Liebe u[nd] Freude, die ich im Mutterhaus u[nd] der Gemeinschaft erfahren durfte … ich weiß, Sie werden traurig sein, es tut mir leid, wenn ich Sie betrübe, aber es geht nicht anders.«114 Natürlich war dies eine Enttäuschung für die Oberin, die gleichwohl tadelnd erklärte: »Daß Sie mit Ihrem Austritt unserer Gemeinschaft und auch unserer gemeinsamen Kasse keinen guten Dienst erweisen, wissen Sie.«115 Vielleicht lernte man aber auch aus diesem Fall, denn der Schwester Etta wurde es ermöglicht, nach ihrer Zurruhesetzung 1985 noch neun Jahre in ihrer ostfriesischen Heimat wohnen zu bleiben, bevor sie ins Feierabendheim nach Detmold wechselte.116 111

Brief des Diakonissenhauses an Konrad Poets, Pastor in Nordhorn, 14. März 1980, in: Akte Schwesternstation. 112 Vgl. Käthe Rakete, a.a.O., S. 108. 113 Brief des Diakonischen Werkes der Landeskirche an die Träger der Gemeindeschwesterstationen und Rentämter, 13. Juni 1980, in: Akte Schwesternstation. Hier ging es um die Weiterbeschäftigung bereits in der Rente befindlicher Schwestern. 114 Brief Antje Swarts an das Mutterhaus Detmold, 1. Mai 1980, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 115 Brief Waltraud Hammelsbecks an Antje Swart, 5. Mai 1981, in: PA Detmold, Mutterhaus-Buch Nr. 295. 116 Vgl. Sauermann u.a., Ein guter Frauenberuf, a.a.O., S. 50.

4. Schwester Antje

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Schwester Antje hingegen war keine Diakonisse mehr. Sie wurde noch zum 1. August 1981 als freie Schwester von der Diakoniestation in ein Angestelltenverhältnis nach BAT übernommen und »nachverrentet«.117 Zum 1. Oktober 1982 trat sie in den Ruhestand: Mit einem Gottesdienst am 29. September 1982 wurde sie verabschiedet: »Nach 26 Jahren Dienst im Zeichen der Nächstenliebe war es für alle ein nicht sehr einfacher Abschied. Aber wir gönnen ihr den wohlverdienten Ruhestand von Herzen. Wir sagen noch einmal herzlichen Dank für alle guten Taten und für jedes ermutigende Wort.« Sie verabschiedete sich im Gemeindebrief: »Dem Herrn sei Dank für alles. Er gab mir die Kraft, die Gesundheit und die Freude für den Dienst. Mein Leben war reich und schön.« Sie dankte den Gemeinden »für das Vertrauen, für alle Liebe, Fürbitte und Mittragen«; das habe dazu »beigetragen, mir das Leben leichter zu machen.«118 Während ihre Nachfolgerin sich im Mutterschaftsurlaub befand, kehrte Schwester Antje im folgenden Jahr nochmals kurz in die Gemeinde zurück. Ihren Ruhestand verlebte sie dann nicht im Detmolder Mutterhaus, sondern in der Herkunftsfamilie in Wymeer. Am Ende ihrer Berufsbiographie und zu Beginn ihres letzten Lebensabschnitts entschied sie sich also gegen die Gemeinschaft der Schwestern, die ihr wohl nach schmerzlichem Abwägen weniger wichtig als die weitere Familie war. Ihre Eltern waren tot und eigene Kinder und Enkel hatte sie nicht, aber es gab die Geschwister und deren Familien, zu denen sie zurückkehrte. Noch zwei Jahrzehnte lebte sie im Ruhestand in Wymeer und verstarb hochbetagt am 10. März 2003. Schwester Antje hatte bis dahin oft in Gehorsam gehandelt. Bei der Wahl der neuen Verrentungsart und damit beim Austritt aus der Gemeinschaft konnte sie sich auch deshalb von kirchlichen Autoritäten – sei es der landeskirchlichen Rechtsabteilung, dem Diakonischen Werk und/oder dem Pfarrer vor Ort – leiten lassen, weil das Ergebnis ihrem Wunsch entsprach, ihren Lebensabend in der Familie verleben zu können. Zu den Hintergründen dieses Wunsches gehörte wohl auch die von ihr empfundene Pflicht, der Familie zu helfen. Obsolet wurde im Laufe der 70er und 80er Jahre nicht die Arbeit, die die Gemeindeschwestern taten, sondern die Art und Weise, wie diese Arbeit organisiert war. Mindestens in diesem konkreten Fall der Schwester Antje wurde Krise und Ende durch das Prinzip »alles oder nichts« durch die Oberin selbst herbeigeführt. Offenbar war man reformunwil117

Vgl. Dienstvertrag vom 19. August 1981, mit Genehmigungsvermerk des Landeskirchenrates vom 15. Oktober 1981; Antrag auf Beteiligung an Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, Karlsruhe, zum 1. Oktober 1982; auch musste eine »Dienstanweisung« für die Gemeindeschwester geschrieben werden; alles in Akte Schwesternstation. 118 Gemeindenachrichten für die ev.-ref. Kirchengemeinden Großwolde-Ihrhove, 10. Oktober 1982. Vgl. auch den Bericht im Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 45, 1982.

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lig oder das System war schlicht nicht reformierbar, weil zu seinem Wesen ein tiefsitzender Patriarchalismus gehörte. Kirchliche Frauenverbände hatten bereits zur Jahrhundertwende den Fehler gemacht, sich von der emanzipatorischen Frauenbewegung – sei es bürgerlicher oder sei es sozialistischer Provenienz – zu distanzieren, vielmehr hielt man am Frauenbild der Unterordnung fest und stützte so patriarchale Systeme.119 Hier lag der Grund für die dann folgende grundsätzliche Unfähigkeit zu wesentlichen Änderungen. Es war also zu kurz geschlossen, wenn die Oberin Waltraud Hammelsbeck Ende der 90er Jahre zu den Gründen, »daß keine Probeschwestern mehr eingetreten sind«, zählte, »daß es heute innerhalb der Kirche so viele Möglichkeiten der Mitarbeit der Frau gibt, ohne sich in eine Lebensgemeinschaft einfügen zu müssen. Auch fällt es manchen jungen Frauen schwer, sich das Leben in einer eingeschlechtlichen Gemeinschaft vorzustellen.«120 Ob rechtzeitige Reformen mit revidierten impliziten Wertvorstellungen notwendig und möglich gewesen wären, um das Ende des Berufsbildes »Diakonisse/Gemeindeschwester« zu verhindern, wäre eine zu diskutierende Frage. 5. Schlussbemerkungen In diesem Bereich der Diakonie ist kein genuin reformiertes Spezifikum zu erkennen, etwa in Form von eigenständigen reformierten Begründungszusammenhängen vom Dienst der Diakonisse und Gemeindeschwester. Auch eine eigenständige reformierte »Kultur« diakonischer Arbeit ist hier schwerlich auszumachen. Antje Swart entstammte mild »erwecklichen« Kreisen des reformierten Protestantismus Nordwestdeutschlands und blieb ein Leben mit diesem Umfeld in Kontakt, auch wenn die Gemeinde ganz überwiegend volkskirchlich geprägt war. Gewiss hat sie sich vom Glauben motiviert »in fröhlichem Dienst aufgeopfert« und so dem »Selbstverleugnungsideal«121 der frühen Diakonie entsprochen. Ihr Leben war geprägt von Aufopferung, von Gehorsam in Gemeinschaft,122 von Disziplinierung, auch von Selbstdisziplinierung, wie sie ihr Leben geführt hat, oder kritisch gewendet: von radikaler Selbstausbeutung. Ihr Leben und Arbeiten war gelebte Frömmigkeit. Vielen Gemeindegliedern war sie eine wichtige Begleiterin, manchen ist sie zur »Mutter« im Glauben geworden. »Lobt froh den Herrn« (EG 332) war ihr Lieblingslied. In ihrem ganzen Lebensdienst für Gott ver119 120 121 122

Vgl. Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung, a.a.O., S. 203. In: Hammelsbeck, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold, a.a.O., S. 313f. Vgl. Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung, a.a.O., S. 191. Dass ein »eigener Wille« im Mutterhaus nach 1945 etwas ganz Unerhörtes war, erwähnt Käthe Rakete, a.a.O., S. 103.

5. Schlussbemerkungen

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körperte sie eben auch die »Fröhlichkeit« des Glaubens, und das ist in reformierten Kontexten zumal Nordwestdeutschlands doch bemerkenswert. Möglicherweise konnte sie ihr Leben so gestalten, wie sie es wollte. Und möglicherweise war sie mit ihrem Lebensentwurf zufrieden, vielleicht sogar glücklich. Aber es kann auch nicht übersehen werden, dass sie ebenso Opfer patriarchaler Strukturen geworden ist. Patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen gibt es auch in nicht-hierarchischen Kirchtümern. Patriarchal waren Familien, Kirchen und Verbände, an deren Systemspitzen Väter, Pfarrer, Vorsteher und Oberinnen wirkten. Das Berufsbild der Gemeindeschwester ist im deutschen Protestantismus an ein Ende gekommen. Es war Wunschdenken, wenn am Ende des vergangenen Jahrhunderts etwas anderes behauptet wurde.123 Wenn eine Generation nach Schwester Antjes Ausscheiden die Diakonie evaluiert wird, dann fehlt dieses Berufsbild.124 Die Gemeindediakonie, in denen Frauen eine herausragende Rolle einnehmen, lebt gegenwärtig von anderen Formen der Zuwendung zum Nächsten.

123

Noch kurz vor der Jahrhundertwende erschien: Theophil Stöckle, Die MutterhausDiakonie hat Zukunft. Briefe über Auftrag und Lebensform der Diakonisse, NeuhausenStuttgart 1998. 124 Ellen Eidt / Claudia Schulz (Hg.), Evaluation im Diakonat. Sozialwissenschaftliche Vermessungen diakonischer Praxis (Diakonat. Theoriekonzepte und Praxisentwicklung 4), Stuttgart 2013.

Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum 1. Einleitung »[D]as Jahr 1963, in dem sich das Erscheinen des Heidelberger Katechismus zum 400. Male jährte, war für die reformierte Theologie von großer Bedeutung«. Diese Beurteilung Vicco von Bülows soll im Folgenden verifiziert werden. Dabei wird auch konkret dargestellt, was dieser Beurteilung so selbstverständlich folgt: Dieses bedeutsame Jubiläumsjahr »erforderte entsprechende Vorbereitung.«1 Und so fragen wir: Wurde das Jubiläumsjahr 1963 tatsächlich zu einem bedeutsamen Jahr und zwar nicht nur für die reformierte Theologie, sondern für den reformierten Protestantismus in Deutschland überhaupt (capp. 3 und 4)? Wie waren – vor diesem Jahr – die Bedingungen und Vorbereitungen (cap. 2)? Und schließlich: Welche Wirkungen blieben vom HEIDELBERGERJubiläum vor mehr als einem halben Jahrhundert (cap. 5)? Die Reformierten konnten in der westdeutschen Bundesrepublik um 1960 »aus dem Vollen« schöpfen: Gesellschaft und Kirche waren stabil, allgemeiner Wohlstand hatte sich etabliert. Die Erosion der Volkskirchlichkeit und des gesellschaftlichen Einflusses der Kirchen begann hier erst zu Beginn der »langen« 60er Jahre, so dass man im Jubiläumsjahr 1963 darauf noch nicht wirklich reagierte, auch wenn der Reformbedarf bereits geahnt wurde. Mit einem Blick auf dieses Jubiläum wird ersichtlich, wie sich die Reformierten in und am Ende der Ära Adenauer während der Bonner Republik verstanden und präsentierten.2 Im Folgenden geht es vordergründig um eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zum Heidelberger Katechismus; im Hintergrund steht die Frage nach dem Selbstverständnis der Reformierten zu jener Zeit. Die Ereignisse im Vorfeld und während des Jubiläumsjahres sind gleichsam das Medium.

1 Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966). Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker (AKiZ B 34), Göttingen 1999, S. 373. 2 Soweit ich sehe, gab es in der DDR kaum eigenständige Bemühungen um den HEIDELBERGER; die Reformierten waren dort eine zu kleine Gruppe. Gelegentlich hat man Literatur und Editionen aus dem Westen übernommen. Bis 1961 (Bau der Mauer) bzw. 1969 (Gründung des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR) war der kirchliche Kontakt zwischen Ost und West selbstverständlich.

2. Vorgeschichten und Vorbereitungen

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2. Vorgeschichten und Vorbereitungen 2.1 Vorgeschichten in den reformierten Landeskirchen und im Reformierten Bund Zum Jubiläum des HEIDELBERGERs im Jahr 1963 gehören mindestens zwei »Vorgeschichten«. Zum einen sind dies die Rezeptionsgeschichten des HEIDELBERGERs im Allgemeinen und die vorangegangenen Jubiläumsfeiern im Besonderen, weil bei ihnen die konfessionsgeschichtlichen Konstellationen deutlich werden. Zum anderen sind dies die Erfahrungen der Akteure von 1963, die nicht zuletzt im »Kirchenkampf« anzusiedeln sind. Zum einen hatten sich die Feiern ein Jahrhundert zuvor, also 1863, als echte Zäsur erwiesen. Es gab in Deutschland eine neue Aufmerksamkeit für den HEIDELBERGER – und zwar nicht nur auf einem einzigen Flügel der Konfession. Als Ausdruck des internationalen Charakters des Reformiertentums wurden die niederländischen und nordamerikanischen Arbeiten und Feiern wahrgenommen. Das Jubiläum 1913 stand, wenige Jahre nach dem Calvin-Jubiläum 1909, im Zeichen konfessioneller Neu- und Selbstbestimmung, konnte aber wegen des Ersten Weltkrieges keine unmittelbare Wirkung entfalten. Bei beiden Jubiläen waren es nicht zuletzt einige große und bedeutende Gemeinden reformierter Prägung, die für Öffentlichkeit sorgten, etwa diejenigen im Wuppertal. Zu beiden Jubiläen gab es geradezu epochemachende historische Arbeiten. Gerade in den guten Jahren nach 1918 und in den schlechten Jahren nach 1932 hat man sich verstärkt um den HEIDELBERGER bemüht, ihn in der wissenschaftlichen Theologie untersucht und in der Kirche zur Geltung gebracht. Der HEIDELBERGER war innerhalb der Reformierten nach 1945 hoch angesehen. Sofort nach der Kapitulation kümmerte man sich um Drucke in extrem hohen Auflagen, wozu auch (Papier-) Spenden aus der Ökumene, die über das Hilfswerk der EKD flossen, nötig waren und wofür die guten ökumenischen Kontakte etwa Wilhelm Niesels sehr nützlich waren. Dabei konnte man sogar behaupten, dass der Unterricht mit dem Katechismus der re-education diente.3 Man beschäftigte sich historisch (Walter Hollweg) und praktisch-theologisch (Heinrich Graffmann) mit ihm, und man deutete ihn ganz 3

Brief Niesels [?] an Dr. Harcus, General Secretary of the Presbyterian Church of England (o.O., o.D.) wg. Papier für Neudruck: »Next to the Holy Scriptures this Catechism is the booklet which is most necessary for the ministerial work of our congregations. The whole ecclesiastical teaching is given according to this Catechism. You know that the instruction of the youth in Germany by the Word of God belongs to the most important tasks laid upon us, if our people shall become again healthy.« Im deutschen Original von Niesel findet sich der letzte Satz nicht – er ist möglicherweise vom Übersetzer als strategisches Argument hinzugefügt worden. LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15].

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Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft

überwiegend im Gefälle der Theologie Karl Barths4 (Wilhelm Niesel5, Karl Halaski). Barth hatte nicht zuletzt auch im HEIDELBERGER alle theologischen Loci christologisch deuten können.6 Zum anderen: Warum feierten 1963 die Akteure mit so viel Enthusiasmus? Während die Älteren die Anerkennung und rechtliche Stärkung des HEIDELBERGERs selbst erlebt oder gar mit forciert hatten, nämlich 1932/1937 in Lippe und 1936 in reformiert Hannover, wollte sich eine Gruppe Jüngerer als konfessionelle Kräfte profilieren. Vor allem waren es aber die Erinnerungen an die »Bekennende Kirche« und den »Bekenntniskampf« während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die das Selbstbild des Protestantismus prägten.7 So waren »Bekennen« und »Bekenntnis« sowohl bei vielen Älteren als auch bei diesen Jüngeren zu Beginn der 60er Jahre positiv konnotiert.8 4 Karl Barth, Einführung in den Heidelberger Katechismus (ThSt 63), Zürich 1960 (ursprünglich ein Vortrag von 1938); ders., Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, Vorlesung gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947, Zollikon-Zürich 1948. 5 Wilhelm Niesel, Karl Barth und der Heidelberger Katechismus, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zürich 1956, S. 156–163. 6 Als zeitgenössischer reformierter common sense kann gelten Heinrich Graffmann, Art. Heidelberger Katechismus, in: RGG3 III (1959), S. 127f. Hier wird auch auf Barth verwiesen; außerdem wird – im Calvin-Jubiläumsjahr 1959 – eine theologische Abhängigkeit des HEIDELBERGERs vorzugsweise von Calvin behauptet, nicht jedoch von Melanchthon und Bullinger. – Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Mit freiem Gewissen glauben und leben. Die rezeptionsgeschichtliche Pluralität und Produktivität des Heidelberger Katechismus, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 7 (2013), S. 129– 167 (Teil-Abdruck in diesem Band u.d.T. »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden.« Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert). 7 »Die Generation der vor dem oder während des Ersten Weltkrieges Geborenen (›Kirchenkampfgeneration‹) … dominierte die Pfarrerschaft bis in die 1960er Jahre. Die Pfarrer dieser Generation waren durch die Erfahrungen der Weimarer Republik sowie die Krise des Protestantismus und der protestantischen Theologie nach dem Ende des Staatskirchentums geprägt. Sie gestalteten teilweise die innerkirchlichen und religionspolitischen Auseinandersetzungen in der Zeit der NS-Diktatur mit. In den 1950er Jahren beteiligten sie sich am Ausbau der Gemeindearbeit mit deren volksmissionarischen Formen ... Ihre kirchenpolitischen Einstellungen und Positionierungen wurden in vielerlei Hinsicht durch ihre Sozialisationserfahrungen mitbestimmt, in denen der Kirchenkampf, die Dialektische Theologie oder die Bibel- und Gemeindezentrierung eine maßgebliche Rolle spielten.« Dimitrij Owetschkin, Zwischen Glaubensvermittlung und »kritischer Sozialisationsbegleitung«. Kirchlich-sozialisatorisches Wirken evangelischer Pfarrer in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der Tauffrage (1950er–1970er Jahre), in: MEKGR 60 (2011), S. 225–246, hier: S. 232. 8 Das konnte auch zu theologischen Unklarheiten führen: Dem alten »Kirchenkämpfer« Wilhelm Niesel etwa fiel es schwer, sich öffentlich von einem Fundamentalisten wie Heinrich Jochums, von Konservativen wie Heinrich Höhler oder von der »Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium« zu distanzieren. Gelegentlich erscheint es so, dass er die »Brüder im Osten« nahezu beneidete, in einer Situation des aktuellen Bekennens zu stehen.

2. Vorgeschichten und Vorbereitungen

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Und doch verlor das Wort »Bekennen« durchaus etwas von der früheren Strahlkraft, weil die Kontexte sich verändert hatten. Im Jahr 1963 ist der Zweite Weltkrieg erst 18 Jahre her, die Bundesrepublik erst 15 Jahre alt. Zwar sind arme, gefährliche Jahre noch in Erinnerung, auch wenn gesamtgesellschaftlich nicht viel darüber gesprochen wurde – weshalb im HEIDELBERGER-Jubiläumsjahr die »Fischer-Kontroverse« um die Kriegsschuld des Ersten Weltkriegs und erst recht die AuschwitzProzesse hohe Erregungswellen schlugen. Aber nach prosperierenden Jahren Westdeutschlands und Westeuropas hatten letztlich stabilisierende Transformationsprozesse bereits begonnen oder standen zu erwarten: »der Alte« Konrad Adenauer musste abgelöst werden, Kuba-Krise und Berliner Mauerbau zementierten die Ost-West-Spaltung, begleitet von gesellschaftlichen Aufbrüchen in westlichen Ländern wie etwa dem Bürgerrechtskampf in den USA. Die »langen« 60er Jahre der gesellschaftlichen Modernisierungen hatten begonnen, die man von 1958 bis etwa 1972 in drei Phasen einzuteilen pflegt. Transformationsgesellschaften brauchen neue Konzepte, nicht Beharren auf Tradiertem. Und dies ahnte man doch wohl auch bei den Reformierten. Die Situation der deutschen Reformierten zu Beginn der 60er Jahre spiegelt sich gut in einem Bericht über die Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1962 (24.–26. September) in Detmold: »Ist es nun dem Reformierten Bund bei seiner Tagung in Detmold geschenkt worden, ein entscheidendes Wort zu den Fragen unserer Zeit zu sagen? Er hat zwar einen Entschließungsantrag zu dem Bericht seines Moderators angenommen, in dem die Brüder gebeten werden, in der Not unserer Zeit nicht zu resignieren. Der Bund war nicht bevollmächtigt, darüber hinaus inhaltlich eine Bekenntnisentscheidung [sic!] zu treffen. Wer vermöchte auch die Verantwortung dafür zu tragen? Wir wissen ja nicht einmal, ob die Lage heute reif ist, in solcher Weise zu bekennen [sic!], wie wir es in den Jahren der Verführung und Verblendung 1934 tun mussten. Aber indem wir uns um den Heidelberger Katechismus als die reifste Frucht der Reformation gesammelt haben und uns durch ihn von neuem kraftvoll in die Heilige Schrift weisen ließen, die allein unsere vorbehaltlos anzuerkennende Autorität ist, haben die Detmolder Tage in uns von neuem die Sehnsucht geweckt nach dem vollendeten Reiche Gottes«.9 Nach der guten Erfahrung des konkreten Bekennens während des Kirchenkampfes ahnte man, dass allein eine richtige Theologie und 9 Werner Lohmeyer, Eindrücke von der Tagung des Reformierten Bundes in Detmold, in: RKZ 103 (1962), S. 442f., hier: S. 443. – In der Retrospektive ist die kirchliche Verunsicherung überraschend angesichts der Tatsache, dass gerade das Jahr 1963 den nominell höchsten Gottesdienst-Besuch unter den Protestanten in der Geschichte Deutschlands zeitigte: 15 % bezeichneten sich als regelmäßige Kirchgänger, vgl. Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003, S. 161–181.

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ein tapferes Bekennen unter veränderten Rahmenbedingungen eine andere oder auch gar keine Wirkung zeitigen können. Sollte statt des aktuellen »Bekennens« im »Kirchenkampf« nun doch ein Festhalten am statuarischen »Bekenntnis« vonnöten sein, auch wenn dies als besondere Treue zur Bibel erklärt wurde?10 Die Zeiten schienen zwar auch jetzt krisenhaft, aber eben unübersichtlicher und weniger eindeutig als im »Kirchenkampf« zu sein. Das musste für »Bekenntnistheologen« irritierend wirken; ihr Rekurs auf den HEIDELBERGER wirkte 1962 bereits eher hilflos, auch wenn sie noch einige Zeit kirchliche Machtpositionen besetzen sollten.11 Für die Reformierten galt jedoch relativierend: Trotz ihres bravourösen »Kirchenkampf«-Images wurden sie im deutschen Protestantismus eher marginal wahrgenommen.12 2.2 Vorbereitungen: Texteditionen und -revisionen von 1945 bis 1962 Nachdem es nach 1945 gelungen war, weitgehend flächendeckend eine Textversion des HEIDELBERGERs durchzusetzen, reagierte man in der zweiten Hälfte der 50er Jahre auf Klagen über das schwer verständliche Deutsch des Textes. Walter Herrenbrück, Landessuperintendent der Evangelisch-reformierten Landeskirche in Nordwestdeutschland, forcierte eine neue Textfassung, um »den archaisierenden Text der Lipper Ausgabe«13 zu ersetzen; er selbst wollte »einen mittleren Weg ein[.]schlagen« 10

»Sollte die heutige Verwirrung in der Theologie und die darin wurzelnde Unlust zur Verkündigung nicht auch damit zusammenhängen, daß wir den Einstieg in die Heilige Schrift, der unseren Vätern vor 400 Jahren geschenkt worden ist, nicht mehr beachten und nutzen? Würde es sich angesichts des vierhundertjährigen Jubiläums des Heidelberger nicht lohnen, sich auf die Bedeutung und den Nutzen einer Bekenntnisschrift zu besinnen?« Wilhelm Niesel, Ruf zur Sache! [aus dem Tätigkeitsbericht vor der HV des Reformierten Bundes 1962], in: ders., Gemeinschaft mit Jesus Christus. Vorträge und Voten zur Theologie, Kirche und ökumenischen Bewegung, München 1964, S. 192–197, hier: S. 196. 11 Mit Ausnahmen freilich: Der BK-Theologe und Barth-Schüler Walter Herrenbrück, der 1951 Walter Hollweg als Landessuperintendent der reformierten Landeskirche verdrängt hatte, hatte bereits 1962 seinen Amtsverzicht für 1963 erklärt. Ihm folgte der neo-konservative Gerhard Nordholt (s.u.). – Vgl. in diesem Band: »Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik. 12 Vgl. etwa Heinz Brunotte, Die Evangelische Kirche in Deutschland. Geschichte, Organisation und Gestalt der EKD (Evangelische Enzyklopädie 1), Gütersloh 1964, S. 82: »Die beiden reformierten Gliedkirchen [der EKD] zählen rund 440 000 Seelen.« A.a.O., S. 85f.: In 36 Zeilen wird die VELKD beschrieben, knapp sechs Zeilen reichen dagegen für den Reformierten Bund. 13 So in einem Schreiben Herrenbrücks an den Moderator Niesel, 11. Mai 1955, in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15]. Herrenbrück hatte bereits in einem Schreiben an Niesel, 6. Oktober 1949 (a.a.O.), die Übernahme der Lipper Textform von 1938 als »einen reaktionären Akt«, den Text selbst als ein »Museumsstück« bezeichnet, mit dem man sich »zum Gespött der Pädagogen« machen könne. Das Ganze brau-

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zwischen dem Jubiläumstext aus Lippe von 1938 und einer kompletten Neubearbeitung und hätte dafür auf eine leicht überarbeitete »Elberfelder« Ausgabe zurückgreifen wollen. Verschiedene Kommissionen tagten, u.a. eine unter der Leitung von Wilhelm August Langenohl. Nach einiger Vorbereitung »hat ein Ausschuss … einen neuen Text des Heidelberger Katechismus erarbeitet, der die theologische Substanz des Katechismus unverändert erhält, aber sprachlich eine Gestalt erhalten hat, die unseren Kindern heute verständlich ist.«14 Die 1957 zugesandten Probedrucke wurden intern in den Landeskirchen diskutiert, offenbar intensiv, denn erst 1961 erschien diese Ausgabe für den Jugendunterricht.15 Bis dahin gab es durchaus kontroverse Meinungen und einen bezeichnenden Vorfall über den neu einzurichtenden Text. In der RKZ 99 (1958) wurden zahlreiche Voten wiedergegeben, ebenso gab es zahlreiche Eingaben an die reformierten Landeskirchen und an den Reformierten Bund. Der Pfarrer der reformierten Gemeinde in Stuttgart, Hellmut Traub, begrüßte einerseits die Bemühungen um sprachliche Modernisierungen zur Klarstellung, wollte aber auch inhaltliche Korrekturen vornehmen, da an manchen Stellen »der Kat[echismus] irrt.«16 Letztlich plädierte Traub, da doch ohnehin Änderungen vorgenommen worden seien, für eine radikale Lösung: Man bleibe zunächst beim »alten« Heidelberger und nähme sich ab sofort die Zeit, um »an einem neuen Katechismus« zu arbeiten, »der der Sprache und den Einsichten entspricht, die uns gegeben sind.«17 Nach Traub hätte ein solcher Text sicherlich ganz im Gefälle von Barth und BARMEN gestanden. che Zeit, »frühestens in etwa 10 Jahren« käme man »zu einer völligen Neufassung«. Die Lippische Landessynode hatte am 8. März 1937 den Beschluss gefasst, im kirchlichen Unterricht zum ungekürzten HEIDELBERGER zurückzukehren (a.a.O.). Im Jahr 1938 wurden dann die Jubiläen »400 Jahre Reformation in Lippe« und »375 Jahre Heidelberger Katechismus« begangen und in diesem Zusammenhang auch die so langwirkende Textausgabe hergestellt. 14 Brief Niesels an die Leitung der Reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, 3. Juni 1957, in: LKA Leer 9.5.5. III. Vgl. den gedruckten Begleitbrief zum Probedruck von Wilhelm Niesel, im Juni 1957, in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15]. 15 Der Heidelberger Katechismus. Für den Jugendunterricht in evangelischen Gemeinden vereinfachte Ausgabe, hg. vom Moderamen des Reformierten Bundes für Deutschland, Neukirchen-Vluyn 11961, 31963. 16 Hellmut Traub, Kritische Fragen zum Probedruck, in: RKZ 99 (1958), S. 74–77. 100–102, hier: S. 75. Zu Traub vgl. in diesem Band: Theologische Gewissheit und angefochtenes Leben. Der »Radikalbarthianer« Hellmut Traub. 17 A.a.O., S. 102. – Auch B. Komarkowa, Der Heidelberger Katechismus im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 481–485, plädierte für eine grundsätzliche Neubearbeitung. – Anderswo beschritt man einen solch radikalen Weg: 1953 wurde im Rheinland ein Katechismusausschuss eingesetzt, der 1960 den »Entwurf« eines »Evangelischen Katechismus« (»als Manuskript gedruckt, Vorschläge zur Verbesserung erbeten«) zur Verfügung stellte; nach einem jahrelangen Konsultationsprozess erschien dieser Rheinische Katechismus 1966.

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Eine der von Traub begrüßten Änderungen betraf die Antwort auf Frage 54, wo »das ›erwählt‹ als Prädikation der Gemeinde weggenommen ist und zur Handlung Christi gemacht wurde. Damit ist eine Sachentscheidung in der Erwählungsfrage gefallen!«18 Das war kein »theologischer Betriebsunfall«, sondern innerhalb der Kommission beabsichtigt: »[E]s wird hingewiesen auf die Veränderung der Prädikation im ersten Satz in der Formulierung des P[robe]D[ruckes]. Das Prädikat ›erwählt‹ ist von der Gemeinde weggenommen und als Verbum zu Christus gezogen; es wird gefragt, ob damit nicht eine sachliche Verschiebung in der Erwählungslehre eintritt. Dem gegenüber wird darauf hingewiesen, daß auch im Original bereits der Bezug auf Christus sehr stark hergestellt ist (Daß der Son Gottes auß dem gantzen menschlichen geschlecht / jhm ein außerwelte gemein …). Wenn der lange Satz der Antwort auf Frage 54 überhaupt aufgelöst werden soll – und das ist notwendig! – dann kann es nur in der Weise geschehen, daß die Auflösung der Prädikation in diesen Nebensatz stattfindet.«19 Diese Interpretation fand offenbar eine Mehrheit in der Kommission und innerhalb der reformierten Öffentlichkeit, insofern sie sich mit der Textrevision beschäftigte. Die Altreformierten setzten 1961 eine Kommission zur Prüfung der Neufassung ein. In ihrem Bericht kam man zu dem Schluss, dass diese Fassung auch bei den Altreformierten eingeführt werden solle, falls die reformierten Landeskirchen entsprechend beschlössen, allerdings zunächst auf die Dauer von fünf Jahren und nur dann, wenn die Frage 54 geändert würde.20 In der alten Fassung war der dreieinige Gott der Erwählende, im Probedruck nun Christus: »daß der Sohn Gottes sich … eine Gemeinde zum ewigen Leben erwählt und sie versammelt …« Die altreformierte Kommission befand: »Das sind zwei Hauptgedanken der Erwählungslehre K. Barths, aber nicht die Darstellung des Heidelberger Katechismus.«21 – Interessant ist, dass orthodoxe Barthianer durchaus geneigt 18

Traub, Kritische Fragen, a.a.O., S. 76. – In den zurückliegenden 400 Jahren ist eine solche Umstellung ganz selten auch vorher schon bedacht worden, etwa bei Hero Sibersma (Leeuwaarden 1703). Auch Eberhard Busch scheint in diese Richtung zu denken, wenn er bei Frage 54 auf Johannes 15,16 hinweist, vgl. ders., Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 189. 19 Protokoll über die Sitzungen und Beschlüsse der zweiten Kommission zur Revision des Textes des Heidelberger Katechismus (45 Seien) o.O. o.J, (vermutlich 1960), in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15], S. 24. 20 Eine zweite unabdingbare Korrekturforderung stellte Frage 71 dar: »taufet sie in den Namen« statt »auf«. 21 Bericht an die alt-ref. Synode, Wilsum, 16. November 1961 (gez. K.G. Idema), in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15]. Vgl. für diese Perspektive Barths: Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 80: Alles, was von der Gemeinde zu sagen ist, also auch die Erwählung, wird christologisch ausgeführt: »hier geschieht Alles aus der Initiative Jesu Christi. Wo Gemeinde ist, da haben wir es mit seiner Aktion zu tun, da ›sammelt, schützt und erhält‹ Gott selber.« Das Subjekt zu »erwählt« ist Gott, der aber kein

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waren, die Tradition zu revidieren, wenn sie über genügend Einfluss verfügten. Auch wenn diese Jugendausgabe in zahlreichen Gemeinden und Kirchenkreisen in den 60er Jahren benutzt wurde, setzte sich als quasi-kanonische Textgestalt mit der so genannten Jubiläumsausgabe (s.u.) eine andere Textgestalt durch. Mit dem Probedruck der Jugendausgabe war der Beginn für die Vorbereitungen des Jubiläums 1963 markiert. »Es sind noch 6 Jahre bis dahin, viel Zeit also für die Vorbereitungen«, wie Landessuperintendent Walter Herrenbrück in einem seiner »Bezirksbruderbriefe« (BBB) zur Mitte seiner Amtszeit feststellte.22 »Fraglos hat der Katechismus in den letzten Jahren an Boden gewonnen.« (S. 17) Neben größeren Feiern und zu erwartenden wissenschaftlichen Planungen ginge es vor allem darum, dass von den Pfarrern selbst der HEIDELBERGER verstärkt benutzt würde. Dazu dienten auch die Katechismus-Freizeiten, die der Reformierte Bund ab 1956 bis weit in die 60er Jahren hinein anbot. Herrenbrück schlug den Pfarrern vor, den HEIDELBERGER als »kursorische Arbeitslektüre« zu nehmen (S. 20) und »Gemeindelehrstunden« (S. 21) einzurichten. Drei Jahre später sah Herrenbrück nicht nur Begeisterung und guten Fortschritt, sondern auch »methodische[.]Skepsis, theologische[.] Bedenklichkeit und allgemeine[.] Resignation« im Umgang mit dem HEIDELBERGER. »Der Heidelberger gilt als ehrwürdiges Requisit, das man am liebsten einem Museum zur Aufbewahrung anvertrauen würde, wenn man nur wüßte, wie auf manierlichem Wege von ihm loszukommen ist.«23 Herrenbrück selbst wollte den HEIDELBERGER gar nicht loswerden, sondern begann im Hinblick auf das Jubiläum, den Katechismus erneut auswendig zu lernen und empfahl dies auch den Pfarrern, damit »wir unsern Konfirmanden auf diesem dankbaren Gebiet immer noch etwas vormachen können.« (S. 5) Das vielleicht aufwändigste Unternehmen wurde die Jubiläumsausgabe 1963 des HEIDELBERGERs, die von den reformierten Kirchenleitungen in Leer und Detmold veranstaltet wurde.24 Im Anschluss an den Text und der Einrichtung der Jubiläumsausgabe 1938 aus Lippe25 wurden Anhänge neu gestaltet: Worterklärungen und biblische Zeugnisse, Wortkonkordanz, Bibelstellenregister, eine Aufstellung über den Kateanderer als Jesus Christus sein kann. Vgl. auch KD IV/1 (1953), S. 780 mit Bezug auf die Frage 54: »die von dem Sohn Gottes … auserwählte … Gemeinde«. 22 BBB Nr. 48, August 1957, S. 16–22, hier: S. 16 (LKA Leer). Folgende Nachweise oben im Text. 23 BBB Nr. 76, Dezember 1960, S. 4 (LKA Leer). Herrenbrück verweist auf seine Ausführungen in Nr. 48, a.a.O., S. 5. 24 LLK Detmold, Landeskirche 224-12/1, Band 1–5: Jubiläumsausgabe des Heidelberger Katechismus 1963: Hier ist der komplette Schriftverkehr ab 1962 enthalten. 25 Zweifarbendruck, gesetzt in moderner Antiqua. Auch über formale Änderungen wie Type, Einrichtung und Beigaben gab es erzürnte Auseinandersetzungen, wie der Aktenbestand in Detmold zeigt.

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chismus im sonntäglichen Gottesdienst, ein Text zur Geschichte des Katechismus sowie die Texte der Synoden von Barmen im Januar und im Mai 1934.26 Selbst Karl Barth zeigte sich erfreut von dieser »wirklich stattlichen Jubiläumsausgabe«, die »sehr ingeniös und brauchbar gemacht« sei.27 Diese Ausgabe im damals modernen flexiblen Plastikeinband wurde noch mehrfach nachgedruckt, allerdings später ohne die Worterklärungen, die Konkordanz u.a. Damit lagen zwei Textvarianten vor: die vereinfachte Jugendausgabe und die – letztlich auf dem für 1938 erarbeiteten Lipper Text beruhende – Jubiläumsausgabe. Neben den Großveranstaltungen mehrerer Kooperationspartner in Heidelberg und in einigen Landeskirchen (s.u.) sollte das Katechismusjubiläum flächendeckend in den Bezirken und Gemeinden gefeiert werden. In den regionalen Zentren sollten größere Veranstaltungen mit auswärtigen Referenten stattfinden, die Gemeinden sollten einen Gottesdienst zum HEIDELBERGER feiern und »besondere örtliche Veranstaltungen durchführen.« Über einen längeren Zeitraum sollte in Bibelstunden und Gemeindekreisen der HEIDELBERGER besprochen werden. Als Zeitraum für Gedenkveranstaltungen wurde der Spätherbst 1963 empfohlen, was mit der am 15. November 1563 erschienenen dritten Auflage begründet zu werden versucht wurde.28 So erschien ein Großteil der Jubiläumsliteratur auch erst im Laufe des Jahres 1963. 2.3 Planungen in Baden und Heidelberg Komplizierter gestalteten sich die Vorbereitungen für die Großveranstaltungen in Heidelberg, mutmaßlich deshalb, weil unterschiedliche Partner mit verschiedenen Prägungen und Interessen daran beteiligt waren. Der Reformierte Bund hatte sich im Verkehr mit Baden zunächst zurückhaltend gezeigt, dann aber bald bemerkt, dass die Vorbereitungen nicht gerade zielgerichtet vorangetrieben wurden. Wilhelm Niesel, Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, hatte Ende 1960 noch 26

Vgl. Schreiben Walter Herrenbrücks an das Moderamen des Reformierten Bundes, 20. Februar 1962, in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15]. – Herrenbrück unterstützte nun die alte Lipper Textfassung. Er schrieb am 5. Januar 1962 an den Lippischen Landessuperintendenten Udo Smidt: »Du wirst Dich vielleicht wundern, warum ich quasi eine Wendung um 90 Grad vorschlage.« Neben anderen Gründen verwies er auf die »Handreichung« in den Anhängen, in: LLK Detmold, Landeskirche 224–12/1: Jubiläumsausgabe Heidelberger Katechismus 1963. 27 So laut einer Abschrift eines Schreibens Barths an Landessuperintendent Udo Smidt, 11. Dezember 1962; mit Brief vom 6. Dezember 1962 hatte Smidt Barth ein Exemplar zugesandt; beide Briefe in LLK Detmold, Landeskirche 224-12/1: Jubiläumsausgabe Heidelberger Katechismus 1963. Der Barth-Brief ist abgedruckt in: Karl Barth, Briefe 1961– 1968, hg. von Jürgen Fangmeier und Hinrich Stoevesandt (GA 6), Zürich1975, S. 106f. 28 So etwa im Rundschreiben Nr. 15 des Landeskirchenrates der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland an die Bezirkskirchenräte und Kirchenräte, 17. August 1962, in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15].

2. Vorgeschichten und Vorbereitungen

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an die Kollegen in Heidelberg geschrieben, dass »ohne allen Zweifel« der theologischen Fakultät »die Initiative überlassen« werden müsse. Er regte einen Lehrauftrag – für sich selbst? – für das Sommersemester 1963 an.29 Erst auf Rückfrage der Karlsruher Kirchenleitung gaben die Heidelberger Theologen die Auskunft: »Unsere Fakultät hat selbstverständlich die Absicht, das Jubiläum des Heidelberger Katechismus feierlich zu begehen, und denkt daran, aus diesem Anlaß einen auswärtigen Kollegen zu einem Vortrag einzuladen.«30 Allerdings waren die Wechsel im Dekanat der Heidelberger Fakultät einer verbindlichen Planung der Feier anfangs der 60er Jahre hinderlich. Parallel dazu liefen kirchliche Planungen weiter. Offenbar hatte Landesbischof Julius Bender oder Mitglieder des Evangelischen Oberkirchenrates den Freiburger Juristen Erik Wolf um einen Vortrag gebeten. Wolf sagte im November 1961 zu, »schon um dem Buch christlicher Lehre, in dem ich zuerst unterwiesen worden bin und dessen Richtschnur mein kirchliches Denken immer bestimmt hat, Reverenz zu erweisen; aber auch, um der Landeskirche zu dienen.«31 Zwischen Wolf und der Landeskirche hatte es Anfang der 50er Jahre ein erbittertes Zerwürfnis gegeben, weil der Barth nahe stehende Wolf die »Lutheranisierung« der Landeskirche nicht hatte mittragen wollen und deshalb alle kirchlichen Ehrenämter niedergelegt hatte. Wolf verstand diese Anfrage des Landesbischofs nun wohl zu Recht als Versöhnungszeichen seitens der Landeskirche, zumal Bender bei dieser Gelegenheit auch einen Besuch bei Wolf privat anbot. Mit dieser prominenten Personalentscheidung im Rücken zog die badische Kirchenleitung die Planungen für eine kirchliche Feier an sich und lud den Ratsvorsitzenden der EKD, den Berliner Bischof Kurt Scharf, ein.32 Die EKD regte an, alle Gliedkirchen einzuladen, um nicht etwa das auch reformiert geprägte Rheinland zu übergehen; Baden und der Reformierte Bund sollten gemeinsam den Reformierten Weltbund einladen, der dann seinerseits die Einladung an die betreffenden Auslandskirchen weiterleiten könne.33 Doch beharrte Bender trotz gemeinsamer Einladung auf getrennt verantworteten Veranstaltungen von Landeskirche und Reformiertem Bund.34 29 Durchschrift eines Briefes Niesels an den Dekan der Theologischen Fakultät Heidelberg, 30. Dezember 1960, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). 30 Brief Hans von Campenhausens an Bender, 27. Juli 1961, in: a.a.O. 31 Brief Wolfs an Bender, 4. November 1961, a.a.O. Der Titel des Vortrags wurde später geändert in: Ordnung der Liebe. Gottesgebot und Nächstenrecht im H[eidelberger] K[atechismus], vgl. Brief Wolfs an OKR Dr. Hans Katz, 26. August 1962, a.a.O. 32 Brief Benders an Scharf, 27. Februar 1962, a.a.O. 33 So in einem Schreiben der EKD an die badische Landeskirche, 16. April 1962, a.a.O. 34 Brief Benders an Scharf, 9. Mai 1962, a.a.O. Ebenfalls am 9. Mai 1962 schrieb Bender an Niesel, der am 24. Mai 1962 antwortet: »Wir haben von uns aus an nichts

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Als sich kurz danach herausstellte, dass die Fakultät für Ende Januar 1963 den Festvortrag und am Vorabend einen historischen Vortrag plante,35 war eine gemeinsame Veranstaltung von Universität und Kirche nicht mehr realisierbar. So plante man nun universitär und kirchlich getrennt. Die Überlegungen für die Universitätsfeier im Januar 1963 liefen auf den universitätspolitisch mächtigen Otto Weber als Festredner zu. Und so konnten sich zwei Reformierte, die sich nicht sonderlich mochten, auch in Heidelberg aus dem Weg gehen: Otto Weber und Wilhelm Niesel. Es verwundert nicht, dass sich Niesel zufrieden zeigte, wie es nun – auf Grund mangelnder Absprachen – zwei Feiern geben sollte. Karl Halaski, unterdes hauptamtlicher Generalsekretär des Reformierten Bundes, übernahm reformierterseits die Koordination und erwies sich dabei als geschickter Stratege. Das war für die Badener nicht unheikel, da es gerade der RKZ-Schriftleiter Halaski gewesen war, der nur acht Jahre zuvor eine konfessionspolitische Volte gegen die »kalte Lutheranisierung« Baden geschlagen hatte.36 Aber wie bei Erik Wolf kam es sowohl mit Halaski als auch mit den Reformierten überhaupt zu einer versöhnenden Kooperation der Badener anlässlich des HEIDELBERGER-Jubiläums 1963. Halaski unterhielt gute Kontakte ins Ausland, etwa in die USA, in die Niederlande und in die Schweiz und konnte von dortigen Plänen berichten.37 Um den ökumenischen Partnern die Reise zu ermöglichen, wurde die kirchliche Feier in Heidelberg letztlich auf das Trinitatis-Wochenende 8. und 9. Juni 1963 terminiert und damit mit deutlichem zeitlichen Abstand zum auch international belegten Jubiläumsdatums 19. Januar. weiter gedacht als an einen abendlichen Vortrag zur Theologie des Heidelbergers, den ich halten sollte.« Dieser Vortrag sollte wohl am Vorabend (Samstag) stattfinden; Montag solle dann eine Fahrt vor allem für ausländische Gäste nach Neustadt, Speyer und Bretten angeboten werden. 35 Brief Claus Westermanns an Bender, 22. Juni 1962, a.a.O. – Vgl. Brief Westermanns an OKR Dr. Hans Katz als Bischofsvertreter, 17. Juli 1962. Vgl. Brief Katz’ an Herbert Krimm, der unterdes Dekan war, 19. Oktober 1962: »Leider ist es durch langes Schweigen des Dekanats der Fakultät so geworden, daß zwei Feiern stattfinden werden.« Der Senat hatte »dem Vorschlage der Theol[ogischen] Fakultät zu[gestimmt], das Jubiläum im Rahmen der Universität zu begehen.« Senatsprotokoll 19. Juni 1962, TOP 6; Aide memoire Krimms über ein Gespräch mit dem Rektor am 18. September 1962, 24. September 1962, mit Planungen, in: Universitätsarchiv Heidelberg, Generalia B-II-62a, Sonderakte: Feierlichkeiten: Jubiläum des Heidelberger Katechismus 400 Jahrfeier (1962–1973). 36 Karl Halaski, Fragen an Baden, in: RKZ 95 (1954), S. 450–453, wiederabgedruckt bei Hajo Büsing, Der Streit um die Präambel in der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden. Die Auseinandersetzungen über den Bekenntnisstand nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Hermann Erbacher (Hg.), Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte der Evangelischen Landeskirche in Baden. Preisarbeiten anläßlich des Barmenjubiläums 1984 (VVKGB 34), Karlsruhe 1989, S. 227–339, hier: S. 308–312. 37 Brief Halaskis an Katz, 17. August 1962, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965).

3. Die Feiern

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Erst Mitte November 1962, also nur zwei Monate vor dem Universitätsakt, fand ein Gespräch aller Akteure in Heidelberg statt.38 Unentschieden blieb das Bestreben der Pfälzischen Landeskirche, an den Jubiläumsfeierlichkeiten nicht lediglich als Gast, sondern als Mitveranstalterin beteiligt zu werden, auch wenn man eine eigene Feier im Casimirianum in Neustadt, das seinerzeit als »verwahrlost« bezeichnet wurde, plane.39 Politisches und kirchendiplomatisches Fingerspitzengefühl war bei den Einladungen zu beiden Feiern in Heidelberg gefragt: »Der einzuladende Personenkreis [sc. für die Universitätsfeier] ergibt sich durch die große historische und politische Bedeutung, die der Calvinismus namentlich außerhalb Deutschlands errungen hat.« Deshalb seien zur akademischen Feier einzuladen »sämtliche akademischen theologischen Ausbildungsstätten calvinistischer Prägung in Schottland, Holland, Frankreich, Schweiz, Ungarn, Polen [handschriftliche Zufügung: USA – Südafrika].« Wegen der Besucher aus den »Satellitenstaaten« der Sowjetunion solle das Auswärtige Amt verständigt werden. Es wurden schließlich 112 auswärtige Stellen eingeladen.40 Während die eingeladenen Vertreter der Kirchen aus der DDR und der ostdeutschen Theologischen Fakultäten »aus den bekannten Gründen« während der Universitätsfeier im Januar nicht in Heidelberg anwesend waren, wurde auf die Einladung von ungarisch-reformierten Pfarrern in der deutschen Emigration zur kirchlichen Feier im Juni verzichtet, da es »zu unliebsamen Begegnungen kommen könnte«,41 nämlich zwischen Ungarn und Exil-Ungarn. 3. Die Feiern 3.1 In Heidelberg 3.1.1 Die akademische Feier im Januar42 Vom 18. bis zum 20. Januar 1963 beging die Universität Heidelberg die akademische Gedenkfeier, verbunden mit einer bis zum Juni dauernden 38

Erstes gemeinsames Gespräch von Landeskirche, Reformiertem Bund, theologischer Fakultät und den benachbarten Evangelischen Dekanaten (neben Heidelberg also Mannheim, Schwetzingen, Weinheim und Neckargemünd) am 12. November 1962, a.a.O. 39 Brief OKR D. Schallers an Halaski, 15. Oktober 1962, a.a.O. 40 Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Generalia B-II-62a Sonderakte: Feierlichkeiten: Jubiläum des Heidelberger Katechismus 400 Jahrfeier (1962–1973). 41 Brief Katz’ an Pfarrer Hermann Bujard, 29. März 1963, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). 42 Programme und Einladungen sowie Presseartikel in: Universitätsarchiv Heidelberg, Rep. 7/1. Die Rhein-Neckar-Zeitung berichtete am 21. Januar 1963. Vgl. auch Katechismus-Jubiläum in Heidelberg, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 67 (1963), Nr. 6, 10. Februar 1963, S. 8.

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Ausstellung im Kurpfälzischen Museum. Gustav Adolf Benraths Vortrag über »Die Eigenart der pfälzischen Reformation und die Vorgeschichte des Heidelberger Katechismus« eröffnete am Freitagabend (18. Januar 1963) in der Heiliggeistkirche diese Feier.43 Beim akademischen Festakt am Samstagmorgen, bei dem auch der katholische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger, zahlreiche Kirche leitende Persönlichkeiten und der Generalsekretär des Reformierten Weltbundes, Marcel Pradervand, anwesend waren, sprach Otto Weber über den »Geschichtliche[n] Standort des Heidelberger Katechismus«.44 Seit diesem Vortrag ist die Charakterisierung des HEIDELBERGERs als eines »analytischen Katechismus« praktisch Allgemeingut geworden: Der Katechismus geht von einer Ausgangsfrage aus und analysiert und begründet dann das Mensch- und Christsein in einem großen Zusammenhang (vgl. S. 25). Die anthropologische Gestimmtheit führt zu einem strengen systematischen Aufbau (vgl. S. 26), unterstützt durch die »regressive Struktur« (S. 28), mit der immer wieder auf die Ausgangsfrage verwiesen wird. Allerdings: »Der Heidelberger Katechismus ist, aufs Ganze gesehen, nicht anthropologisch, sondern christologisch bestimmt.« (S. 30)45 Diese katechetischanalytische Methode ging auch in die Theologie überhaupt ein, wo es um den finis, die participatio Dei und die similitudo (S. 32) ging, wie Weber am Beispiel des HEIDELBERGER-Kommentators Bartholomäus Keckermann ausführte. Auch wenn die Theologiegeschichte über dieses Modell hinweggegangen wäre, da es in der Theologie als unzureichend empfunden wurde, »ihre Sache einerseits, als Heilgeschehen, gleichsam schon hinter sich« zu haben, und »andererseits, da die Verwirklichung des Heils nur [begonnen, unfertig] ist, erst [zu] erwarte[n]«, solle die Theologie diese Zuordnung nicht überhören, wäre doch in dieser »Spannung zwischen Geschehen-Sein und kommendem Geschehen« (S. 39) nach christlicher Perspektive auch der Mensch gestellt. Nach dieser harten theologiehistorischen Kost konnten sich die 120 Ehrengäste an Musik erfreuen und mit Essen stärken, bevor mit einem Empfang des Oberbürgermeisters die Ausstellung im Kurpfälzischen Museum eröffnet wurde46 und man abends einer Aufführung der Gluck43 44

Abgedruckt in: Heidelberger Jahrbücher 7 (1963), S. 13–32. Dieser Vortrag ist mehrfach gedruckt worden u.d.T.: Analytische Theologie, in: Heidelberger Jahrbücher 7 (1963), S. 33–42; Walter Herrenbrück / Udo Smid (Hg.), Warum wirst Du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, S. 24–39; Otto Weber, Die Treue Gottes in der Geschichte der Kirche. Gesammelte Aufsätze II (BGLRK XXIX), Neukirchen 1968, S. 131–146. 45 Zu diesem Vortrag vgl. auch von Bülow, Weber, a.a.O., S. 375f. – Ein weiterer bis zur Gegenwart reichender Beitrag Webers ist seine 1963 edierte HEIDELBERGER-Edition, Hamburg (Furche-Bücherei 218), spätere Auflagen im Gütersloher Verlagshaus. 46 Vgl. Walter Henß, Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Heidelberger Katechismus im Spiegel der Heidelberger Sammlungen, in: Ruperto-Carola. Mitteilungen der

3. Die Feiern

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Oper »Orpheus und Eurydike« im Stadttheater beiwohnte. Im »Akademische[n] Gottesdienst« am Sonntagmorgen predigte dann abschließend Prof. Hans-Wolfgang Heidland, Praktischer Theologe an der Fakultät und Direktor des Heidelberger Predigerseminars, in der Peterskirche. So weit, so schön – wenn es nicht einen derart bissigen Berichterstatter wie Karl Halaski gegeben hätte. In seinem RKZ-Beitrag47 hielt er, »der kritische Beteiligte«,48 nach kurzer Beschreibung der Üppigkeit der Feiern mit Kritik nicht zurück und schreckte auch nicht davor zurück, die Heidelberger Gelehrten zu schulmeistern: Ausgerechnet der Dekan der theologischen Fakultät Herbert Krimm habe nach Webers Vortrag vom Rang des HEIDELBERGERs im Präteritum gesprochen, so Halaski, wo es doch um ein globales Präsens ginge. Die kühle Professionalität während der Veranstaltung am Freitagabend und auch insgesamt habe verhindert, nach der gegenwärtigen Bedeutung der Reformation und des HEIDELBERGERs zu fragen, etwa für die Ökumene. Besonders unsachgemäß im Zusammenhang mit dem HEIDELBERGER sei die Trennung einer akademisch-universitären und einer noch ausstehenden kirchlichen Feier. Dass beim Festgottesdienst lutherische Formen (Altar, Kerzen, Kniebänke, Kreuzbezeichnungen) dominierten, ließ bei reformierten Auguren die Alarmglocken schrillen.49 3.1.2 Die kirchliche Feier im Juni: Heidelberg und Neustadt Am 8. und 9. Juni fanden dann die kirchlichen Feiern statt, die von den Reformierten wesentlich freundlicher, teils enthusiastisch wahrgenommen wurden. Statt Schnee und Frost wie im Januar herrschten nun in Heidelberg extrem hohe Temperaturen vor, was der Begeisterung keinen Abbruch tat. Hier sei es zur Begegnung von Gemeinde lokal und global gekommen, in der die gegenwärtige (!) Kraft des HEIDELBERGERs spürbar geworden sei, wie Karl Halaski zufrieden konstatierte.50 Alle VeranFreunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg e.V. 15. Jahrgang, Band 33, Heidelberg Juni 1963, S. 32–44. Bibliotheksrat Dr. Walter Henß von der Universitätsbibliothek war einer der Schöpfer der Ausstellung; er legte einige kleinere historische Arbeiten zum Thema vor, zusammengefasst in seiner zwanzig Jahre später publizierten Arbeit über das »konfessionspolitische Kräftespiel« zur Frühzeit des HEIDELBERGERs (Zürich 1983). 47 Karl Halaski, Akademischer Festakt für den Heidelberger Katechismus, in: RKZ 104 (1963), 15. Februar 1963, S. 47f. 48 So bezeichnet Halaski sich selbst in: RKZ 104 (1963), S. 148. 49 Ein scharfer Protestbrief (Durchschlag) von Dekan Prof. H. Krimm an Halaski vom 5. März 1963, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). Abgedruckt u.d.T. Zu unserem Bericht über die Heidelberger Universitätsfeier, in: RKZ 104 (1963), S. 81. 50 Vgl. Karl Halaski, Katechismusfeier in Heidelberg, in: RKZ 104 (1963), S. 147– 149; Große Jubiläumsfeier für den Heidelberger Katechismus, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 67 (1963), Nr. 25, 23. Juni 1963, S. 8; n.n., Do-

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staltungen seien sehr gut besucht gewesen. Wilhelm Niesel sprach am Samstagabend im überfüllten Ballsaal der Stadthalle über »Das Zeugnis von der Kraft des Heiligen Geistes im Heidelberger Katechismus«.51 Die Heiliggeistkirche war bei der Predigt des badischen Landesbischofs Julius Bender über die Frage 1 am Sonntagmorgen ebenfalls bis auf den letzten Platz gefüllt.52 Zwar habe sich die unierte Landeskirche »in jüngster Zeit weithin lutherischen Bräuchen zugewendet«,53 aber die Predigt habe ein deutliches reformatorisches Zeugnis abgelegt und sei, so Wilhelm Niesel, sehr gut gewesen.54 Diese Einschätzung aus reformierter Perspektive überrascht, stellt doch die badische Bischofspredigt ein Paradebeispiel für das Missverstehen reformierter Tradition und Theologie durch Theologen und Kirchenfunktionäre dar, denen dieser Traditionsraum fremd geblieben ist. Bender hat den HEIDELBERGER offenbar nur bis Frage 11 gelesen und verstand »Trost« einseitig poimenisch. Der Landesbischof beschäftigte sich mit der »Frage nach dem gnädigen Gott« (S. 124), mit dem »Mensch[en] in der Anfechtung« (S. 127), sah das Gesetz dem Evangelium heilsökonomisch vorgeordnet und sprach eben in dieser Reihenfolge von »Sünde und Gnade« (vgl. S. 125) – das mutet lutherisch an. Die Jubiläumsfeier in der Stadthalle am Sonntagnachmittag »war eigentlich eine Massenveranstaltung«,55 während der der Ratsvorsitzende der EKD Kurt Scharf ein Grußwort hielt und dem Reformierten Bund DM 50.000,- für den Umbau des reformierten Predigerseminars Elberfeld überreichte. Mit Erik Wolf trafen die Reformierten auf einen alten Freund aus gemeinsamen Tagen in der Bekennenden Kirche, der in kument der Vergangenheit – lebendiges Lehrbuch für heute. Zur 400-Jahrfeier des Heidelberger Katechismus, in: Kirche und Gemeinde. Evangelisches Sonntagsblatt für Baden 18 (1963), Nr. 25, 23. Juni 1963, S. 196f. Auch Walter Herrenbrück beschrieb diese Feier als überaus gelungen, vgl. BBB Nr. 96, Juni 1963, S. 24f. – Die gedruckten Programme liegen in den landeskirchlichen Archiven vor. 51 Abgedruckt in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 79–93. Diesen Vortrag hat Niesel 1963 auch an weiteren Orten in Deutschland und im Ausland gehalten. 52 Abgedruckt u.d.T. Die Predigt zur 400-Jahrfeier des Heidelberger Katechismus, in: RKZ 104 (1963), S. 157–160; auch in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 123–128 (obige Zitate nach diesem Druck). 53 So Halaski, Katechismusfeier, a.a.O., S. 149. 54 Vgl. Niesels Dankschreiben an Bender, 14. Juni 1963 (also unmittelbar nach der Rückkehr): »Wohin ich auch immer gehört habe, waren alle Teilnehmer des Lobes voll und herzlich dankbar für das Erlebte und Dargebotene.« Das mag für die Gesamtveranstaltung gelten, aber Niesel fuhr fort: »Ich darf Ihnen ganz persönlich das auch bezeugen für die Predigt, die Sie am Sonntag gehalten haben.« Das Dankschreiben von Halaski, 18. Juni 1963, erwähnte zwar die Predigt, äußerte sich aber nicht zum Inhalt und zur Güte. Beides in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). 55 Halaski, Katechismusfeier, a.a.O., S. 148.

3. Die Feiern

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seinem Vortrag nicht nur Christen, sondern der ganzen Gesellschaft eine Orientierung an Hand der Gesetzesauslegung des HEIDELBERGERs bieten wollte, nachdem er zunächst die unmittelbare Bezogenheit von Gottesgebot und Nächstenrecht, von Mosegesetz und Christusgesetz, vom gnädigen Gericht und der richtenden Gnade im sowohl theonomen als auch christonomen HEIDELBERGER (vgl. S. 99) erklärt hatte und schließlich auf die Vater-unser-Auslegung in der »Dankbarkeit« einging.56 Den eigentlichen Höhepunkt für »Gemeinde«-fixierte Reformierte stellte der »Abend der Begegnung« in einem Heidelberger Gemeindehaus dar, das mit 400 Personen ebenfalls überfüllt war. Der Abend ließ »das spürbar Atmosphärische und zunehmend Familiäre des Zusammenseins … unter der aufgeknöpften Regie von Bruder Niesel zutage« treten, wie Walter Herrenbrück mit feinsinnigem Humor bemerkte.57 Zahlreiche Personen aus der Ökumene, u.a. Marcel Pradervand, hielten Grußworte, wodurch deutlich wurde, »wieviele kirchliche Gemeinschaften sich dankbar diesem Lehrbüchlein verpflichtet wissen.«58 Eine eigenständige Veranstaltung, aber doch in Anlehnung an die kirchlichen Feiern in Heidelberg, stellte die »Jubiläumsfeier der Pfälzischen Landeskirche« in der Stiftskirche zu Neustadt am sich unmittelbar anschließenden Montag dar (10. Juni 1963). Neben der üblichen Musik und den Grußworten war es im besonderen Walter Krecks Vortrag »Rechter und falscher Respekt vor dem Bekenntnis der Väter«, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Bonner Systematiker warb für »kritischen Respekt« und unterzog auch den Katechismus einer Prüfung durch drei »allein«: Christus allein, Gott allein, der Glaube allein. Kreck resümierte: »Nicht daß wir die Väter imitieren, nicht daß wir genau dasselbe sagen oder tun, wie sie in ihrer Situation, sondern daß wir, von ihnen angeleitet, das heute vom Worte Gottes uns Gebotene als notwendig erkennen und tun, das heißt Treue zum Bekenntnis der Väter und Respekt gegenüber den Lehrern, die uns das Wort Gottes sagten.«59 Bei besserer Erkenntnis, etwa auch hinsichtlich der Bibel, gälte es, notwendige Korrekturen vorzunehmen. Das war reformiertes Bekenntnisverständnis. 56

Erik Wolf, Ordnung der Liebe. Gottesgebot und Nächstenrecht im Heidelberger Katechismus, Frankfurt a.M. 1963 (Baden übernahm 1200 Exemplare, OKR Dr. G. Wendt an Verlag Vittorio Klostermann, 12. September 1963), auch abgedruckt in: Herrenbrück/Smid, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 94–112. Die Landeskirche Badens übernahm auch 1200 Exemplare der RKZ Nr. 14 1963 zur Verteilung an »Amtsbrüder, Religionslehrer und Gemeindehelferinnen«, Brief Katz’ an Halaski, 4. Juli 1963, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). 57 Herrenbrück, in: BBB Nr. 96, a.a.O., S. 24f. 58 Halaski, Katechismusfeier, a.a.O., S. 148. 59 Abgedruckt in: RKZ 104 (1963), S. 160–164; auch in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 67–78, hier: S. 75.

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Die Heidelberger und Neustädter Tage im Juni 1963 müssen sich für die Reformierten geradezu triumphal angefühlt haben. Besonders ihr führender Repräsentant Wilhelm Niesel, der Anfang des Jahres noch seinen 60. Geburtstag mit mancherlei Ehrung hatte begehen können, eilte von Ort zu Ort, trug vor und hielt Grußwort um Grußwort. 3.2 Veranstaltungen in Gemeinden und Landeskirchen Während in Heidelberg und Baden noch weitere Tagungen zum HEIDELBERGER stattfanden,60 gab es auch anderenorts festliche Versammlungen, Vorträge und Tagungen sowie Ausstellungen etwa in solchen reformierten Hochburgen wie Detmold, aber auch in Göttingen und vielen anderen reformierten Gemeinden.61 Ebenso feierten unierte Landeskirchen, neben den bereits erwähnten Kirchen in Baden und in der Pfalz, im Jahr 1963 den HEIDELBERGER. Die rheinische Landeskirche lud zur Festversammlung am Sonntag, 28. April 1963, in die Stadthalle Wuppertal-Elberfeld ein, wo u.a. Otto Weber über »De[n] Heidelberger Katechismus in der heutigen Gemeinde« vortrug.62 Die westfälische Schwesterkirche lud dann erst am 1. November nach Siegen ein; neben Präses Ernst Wilm kam auch hier wiederum Otto Weber mit einem ähnlichen Vortrag zu Wort.63 In Herborn gedachte die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau bereits Anfang Mai des Katechismus; hier würdigte die Kirchenleitung in Person von Kirchenpräsident Martin Niemöller die reformierte Bekenntnisschrift.64 Es wundert nicht, dass in Veranstaltungen mit leitenden Geistlichen, die eine BK-Biographie hatten, häufig Ausführungen darüber zu hören waren, dass der HEIDELBERGER gerade während des »Kirchenkampfes« zur Klärung der theologischen und kirchenpolitischen Lage beigetragen 60

Etwa die Tagung der Badischen Bekenntnisgemeinschaft in Bad Herrenalb mit Vorträgen von Halaski und Jacobs zu Pfingsten 1963 sowie der badische Pfarrertag in Heidelberg im Juli. – Es gab jedoch auch kritische Stimmen aus Heidelberg: Die vorher zu beklagende Unkenntnis des HEIDELBERGERs in seiner kurpfälzischen Heimat bliebe auch nach dem Sommer 1963 bestehen. »Wir müssen doch zugeben,« schrieb ein Heidelberger Akteur und Beobachter, »daß der Personenkreis der von den erwähnten Feiern erfaßten und bewegten Menschen verhältnismäßig klein war und somit jede Breitenwirkung ausblieb, zumal – wie es in der Natur und im Sinn der Veranstalter lag – sich die meisten Vorträge … in der dünnen Luft reiner Geistigkeit bewegten.« Karlheinz Schoener, Der Heidelberger und die Heidelberger, in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 201–215, hier: S. 203. 61 Vgl. LLK Detmold, Dep. Ref. Bund, Nr. 346 [41.16], Heidelberger Katechismus 1963–1967: Darin vor allem Einladungen, Programme, Zeitungsartikel und Artikel aus Kirchenzeitungen. 62 Abgedruckt in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 129–143. Vgl. Bericht in: RKZ 104 (1963), S. 114. 63 RKZ 104 (1963), S. 262. 64 RKZ 104 (1963), S. 114. Auch im Umfeld dieser Veranstaltung sprach Otto Weber.

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habe. Dieses reformatorische Bekenntnis wurde – jedenfalls in der Retrospektive – als hilfreich im »Bekenntniskampf« empfunden. So konnten der HEIDELBERGER und BARMEN eng aufeinander bezogen werden. Zwei Beobachtungen trüben freilich die Bilanz. Zum einen: Trotz der zahlreichen Veranstaltungen, die neben historischen Würdigungen auch aktuelle Bedeutungen hervorheben sollten, wurde die Zukunftsfähigkeit des HEIDELBERGERS in Deutschland offenbar nicht als besonders hoch eingeschätzt: Auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund Ende Juli 1963 fand er – ausweislich des Dokumentenbandes – keine Resonanz. Protestantische »Zeitansage« kam 1963 ohne den HEIDELBERGER aus. Das bestätigt auch ein Blick in die zeitgenössische Publizistik: Nur wenig wurde das HEIDELBERGER-Jubiläum 1963 außerhalb der reformierten Konfessionsfamilie und der unierten Kirchen wahrgenommen. Viele theologische Zeitschriften übergingen diesen Anlass, manche brachten lediglich kleine oder bereits bekannte Beiträge aus dem erwartbaren mainstream.65 Zum anderen: Auch wenn Jubiläumsfeiern im Ausland wahrgenommen und besucht wurden,66 auch wenn Beiträge mancher nicht-deutscher Verfasser in Deutschland gedruckt wurden, spürt man von einem internationalen Interesse hier eher wenig. Dabei waren die technischmedialen Möglichkeiten so gut wie nie und die kirchendiplomatischen und wissenschaftlichen Kontakte so international wie nie zuvor. Evangelische und gerade auch reformierte Theologie und Kirche in Deutschland erlebten sich Anfang der 60er Jahre als stark, vielleicht sogar als führend. Man meinte die anderen Reformierten weltweit mehr zu prägen, als man selbst von ihnen beeinflusst wurde. Ein Jahr später (1964) kam der Reformierte Weltbund nach Deutschland und wählte Wilhelm Niesel zu seinem Präsidenten. 4. Publikationen Die Publikationen im Kontext des Jubiläums 1963 haben über ein halbes Jahrhundert quasi normativ gewirkt, nicht nur weil sie seinerzeit »state of the art« waren, sondern auch, weil anschließend die Forschung 65

In der ThLZ 88 (1963), S. 561–570, erschien Niesels Vortrag über den Heiligen Geist im HEIDELBERGER, den er in Heidelberg, Berlin, New Brunswick u.a. gehalten hat, später auch andernorts abgedruckt; in Zeichen der Zeit 17 (1963) wird S. 141–144 abgedruckt eine Textpassage aus Barth, Die christliche Lehre, a.a.O., § 2, S. 16–22. 66 The Annual Meeting des nordamerikanischen Gebietes des RWB und das Jahrestreffen des Theologischen Seminars in Lancaster/Pennsylvania tagten vom 14. bis zum 17. Januar 1963 zum HEIDELBERGER-Jubiläum, u.zw. mit Vorträgen von Hendrikus Berkhof, Eduard Schweizer u.a.; vom 29. Juli bis zum 3. August gab es im Princeton Theological Seminar eine Veranstaltung des RWB, wo Niesel mit der englischen Fassung seines Vortrages (»The Holy Spirit and the Heidelberg Catechism«) am 31. Juli die Hauptrede hielt.

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zum HEIDELBERGER stark nachließ und auf wenig Resonanz stieß. Ein differenzierender Blick auf die verschiedenen Veröffentlichungen zeigt die Situation bei den Reformierten. Eine von manchen Reformierten erhoffte neue »Theologie des HEIDELBERGERs« erschien auch 1963 nicht; immerhin sorgte Karl Halaski rechtzeitig für die Übersetzung des »commentaire pour notre temps« von André Péry.67 Mit einem kleinen, von ihm herausgegebenen Heftchen »Die Botschaft des Heidelberger Katechismus« versuchte der ohnehin rührige Halaski Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter für eine gemeindebezogene Arbeit mit dem Katechismus vorzubereiten. Das war der Dienst, den der Reformierte Bund seinem Selbstverständnis nach tun sollte.68 Erhellend ist der Blick auf und in die beiden bis heute bekannten »Handbücher«, die im Zusammenhang des Jubiläums 1963 entstanden sind. Lothar Coenen gab das »Handbuch zum Heidelberger Katechismus« heraus.69 Er war »von der Internationalen Reformierten Vereinigung«70 um eine solche Publikation gebeten worden. Der spätere Ökumeniker Lothar Coenen hatte in früheren Jahren theologisch dezidiert konservativ agiert.71 Von daher konnte man schon eine eher konservativ-calvinistische Ausrichtung erwarten. Mit dem Herausgeber und weiteren Beiträgern wie etwa dem jungen Privatdozenten Dr. Johann Friedrich Gerhard Goeters und Dr. Gerhard Nordholt waren hier nicht zuletzt Repräsentanten einer jüngeren, nicht mehr am Kirchenkampf beteiligten Theologengeneration vertreten, die theologisch und wohl auch politisch konservativ optierten. Entsprechend fiel Coenens Zeitanalyse aus: Er beklagte »die weitgehende Verschwommenheit und Unklarheit auf dem theologischen wie dem kirchlichen Feld und erst gar die … tiefgreifende Erkrankung im Verhältnis von Theologie und Kirche in

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André Péry, Der Heidelberger Katechismus. Erläuterungen zu seinen 129 Fragen und Antworten, Neukirchen-Vluyn 1963 (frz. Genf 1959). 68 Aus der Kleinliteratur sei noch genannt vom bekannten »Kirchenkämpfer« Friedrich Middendorff, nun verantwortlich für die »Volksmission« in der reformierten Landeskirche: Wer wird bestehen? (zu HK 60ff.), Neuauflage 1963 (Schüttorf 1951). 69 Das Vorwort ist Februar 1963 datiert; der Band erschien erst im Juni, mithin verspätet. – Unter der Überschrift »Gedenkband« findet sich ein projektiertes Inhaltsverzeichnis (ohne Datum) in: LLK Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 345 [41.15]. Nicht alle Beiträge konnten realisiert werden, manche Bearbeiter wurden noch ausgetauscht. 70 Vorwort, S. X. Vgl. Lothar Coenen, Der Detmolder Kongreß. Seine Vorgeschichte und Aufgabe, in: RKZ 96 (1955), S. 50–54. Vgl. auch die Selbstdarstellung – wohl aus der Feder L. Coenens – »Die Internationale Reformierte Vereinigung«, in: RKZ 97 (1956), S. 127f. Diese Gruppe wurde bereits von Zeitgenossen als fundamentalistisch eingeschätzt; die Arbeit dieser Vereinigung verlief sich in den 60er Jahren. 71 Vgl. Christoph Schmitt, Art. Coenen, Lothar, in: BBKL XXVI (2006), S. 241–243; C. Schmitt übergeht das Vierteljahrhundert, in dem Coenen theologisch konservative Positionen vertrat.

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unseren Tagen«.72 Coenen kritisierte an der kirchlichen Gegenwart, dass »die verbindliche Geltung eines Bekenntnisses für Verkündigung, Praxis und Lehre der einzelnen Amtsträger und Glieder einer Kirche zum Problem geworden ist«.73 Ähnlich negativ über die kirchliche Situation in der modernen Gesellschaft äußerte sich Gerhard Nordholt, der gleich mit zwei Beiträgen im Handbuch vertreten war: »Der Einfluß der Kirche wird von modernen Massenkommunikationsmitteln völlig überschwemmt.« Natürlich könne eine »religiös und weltanschaulich gemischte Industriegesellschaft … ohne Toleranz nicht bestehen.« Aber diese Toleranz und diese Vielstimmigkeit könnten offenbar nicht innerhalb der Kirche gelten. »Durch eine Schwemme von Christlichkeit und Verchristlichung hat [die Gemeinde] ihr Profil eingebüßt.«74 Hier verwendete Sprachbilder wie »Erkrankung« und »Schwemme« sollten Bedrohung assoziieren; man verstand sich also im Abwehr-, ja im Überlebenskampf in der modernen Gesellschaft. Bereits in den 20er Jahren hatten »Jungreformierte« als Antwort auf eine ähnliche Analyse die strikte Bindung ans kirchliche Bekenntnis propagiert. In manchen Beiträgen des Coenenschen Handbuchs findet sich pastoraltheologisches Wunschdenken, etwa wenn Gerhard Nordholt behauptete, auf Grund der Mitarbeit von »Laien« und Theologen sei der HEIDELBERGER »aus der Gemeinde hervorgegangen«.75 Eine solche Aussage ist bestenfalls Ideologie, nicht jedoch historisch zu belegen. Im Handbuch Coenens fällt neben der Internationalität der Beiträger die theologisch und gesellschaftlich konservative Grundausrichtung auf. Die in Deutschland im Zusammenhang mit dem HEIDELBERGER zu erwartenden Namen wie Karl Halaski, Walter Herrenbrück, Wilhelm Niesel oder Otto Weber sucht man in diesem Handbuch vergeblich. Es scheint, als ob sich hier eine Opposition zusammengefunden hatte: eine jüngere Generation, die jedoch konservativer votierte als die zur kirchlichen Macht gelangten Älteren, die ganz überwiegend aus bekenntniskirchlichen Kontexten stammten. Das kirchliche Establishment kam während der offiziellen Feiern zu Wort, was zwei Jahre später seinen publizistischen Niederschlag in dem 72

Lothar Coenen, Jugend- und Erwachsenenunterricht mit dem Heidelberger Katechismus, in: ders. (Hg.), Handbuch, a.a.O., S. 200–212, hier: S. 201. 73 Coenen, Jugend- und Erwachsenenunterricht, a.a.O., S. 202. 74 Gerhard Nordholt, Kirchenzucht als notwendige Funktion der Christusgemeinschaft, in: Coenen (Hg.), Handbuch, a.a.O., S. 213–227, hier: S. 225. 75 Gerhard Nordholt, Die zum Katechismus gehörende Gestalt der Gemeinde und des Gottesdienstes, in: Coenen (Hg.), Handbuch, a.a.O., S. 24–38, hier: S. 27. – Der theologische Grund für dieses Denken ist schnell identifiziert. Es handelt sich hierbei um ein wörtliches Zitat aus Barth, Christliche Lehre, a.a.O., S. 17! Darauf wies schon hin: Friedrich Winter, Confessio Augustana und Heidelberger Katechismus in vergleichender Betrachtung, Berlin 1954 (diss. Rostock 1952), S. 34, Anm. 3, der zudem auf Barths Symbolverständnis in KD I/1, S. 713 hinwies.

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von Walter Herrenbrück und Udo Smidt herausgegebenen Sammelband »Warum wirst Du ein Christ genannt?« finden sollte.76 Da wahrscheinlich die Idee zu dieser Publikation erst im Laufe des Jubiläumsjahres reifte, könnte es sich tatsächlich um so etwas wie eine Reaktion auf den Coenen-Band handeln. Dahinter stand die Frage, wem die Interpretationshoheit über die reformierte Tradition gehörte: den jungen Konservativen oder den etablierten Älteren. Nahezu alle Beiträger dieses Bandes waren in besonderer Weise Karl Barth verpflichtet, so dass die Widmung an den »Lehrer der Kirche« und den »Freund des Heidelberger Katechismus« (S. 5) nicht überrascht. Auch in diesem Band fallen negative Äußerungen auf, nicht nur über die Gesellschaft, die man als gesellschaftliche Elite zu einem Stück auch selbst verantwortlich mitgestaltet hatte, sondern grundsätzlich über Mensch und Welt der Gegenwart. Tatsächlich stellten solche Äußerungen keine »Zeitansage« dar, sondern waren bloß abstrakte Theologie oder grundsätzlicher Kulturpessimismus, denn de facto waren die Lebensumstände im Jahr 1963 im Vergleich zu früheren Zeiten geradezu atemberaubend gut, gab es doch neben wachsendem Wohlstand ein Maß an Freiheit und Demokratie, von dem Menschen früherer Generationen nur geträumt haben konnten – trotz der von manchem als lähmend empfundenen Schlussphase der Ära Adenauer.77 Otto Webers Ausführungen stellen eigentlich schon eine Denunziation des demokratischen Rechtsstaates und einer sich nach Modernisierung sehnenden Gesellschaft dar: »Schlimm sind gewiss, heute wie eh und je, die moralischen Schäden, die ein schwacher und zwiespältiger Staat nicht recht unterbinden kann, die schwache und nachlässige Eltern bei der jungen Generation fälschlich ertragen, an denen das öffentliche Bewusstsein vorübergeht, obwohl sie am Tage liegen.«78 Zwölf Jahre lang hatte Weber den NS-Unrechtsstaat unterstützt und diskreditiert nun die freiheitliche Demokratie als »schwach«, in der er selbst, auch mit seiner politisch-kirchlichen Vergangenheit, zu einem mächtigen Universitätspolitiker hatte aufsteigen können. Solche negativen Stereotypen zeigen das Unbehagen an der Gegenwart, obwohl man de facto zu Macht gekommen war, We76 Der Sammelband erschien erst Mitte September 1965. Der badische Evangelische Oberkirchenrat bestellte 350 Exemplare dieses Bandes mit der Predigt ihres Bischofs sowie den Heidelberger Vorträgen Otto Webers und Erik Wolfs für »Studenten und Kandidaten der Theologie, den Mitgliedern der Landessynode, den Mitgliedern des Kollegiums, der Bibliothek usw.« EOK an Neukirchener Verlag, 21. Juli 1965, in: LKA Karlsruhe, Generalia 7669: 400-Jahrfeier des »Heidelberger Katechismus« (1960–1965). 77 Gerade auch die Spiegel-Affäre von 1962 zeigte beides: Unzulänglichkeiten des westdeutschen Staates, aber auch, dass der öffentliche Reformdruck innerhalb der Gesellschaft bereits stärker war. Die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat funktionierten. 78 Otto Weber, Der Heidelberger Katechismus in der heutigen Gemeinde, in: Herrenbrück/Smidt, Warum wirst Du ein Christ genannt?, a.a.O., S. 129–143, hier: S. 137.

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ber universitätspolitisch oder Niesel kirchenpolitisch. Durch eine derartige Lebens-Anschauung und Gegenwartsanalyse marginalisierte man sich letztlich selbst. Eine solche negative Anthropologie, die sich gewiss nicht auf den HEIDELBERGER berufen kann, wurde dann in den Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre kritisiert und überwunden: der Mensch kann, wenn er zu Bewusstsein gekommen ist, die Verhältnisse ändern und Gutes schaffen; dazu bedarf es u.U. einerseits der Relativierung von bisherigen Konventionen und andererseits neuer orientierender Parameter. Immerhin reagierte man auf die sich verändernden Zeiten mit Realismus und Kreativität, was den praktischen Gebrauch des HEIDELBERGERs anging: »In der Gemeinde unserer Tage kann der Katechismus nicht mehr in seiner ganzen Breite und Fülle für den Unterricht verwendet werden.« Er müsse vor allem als »Anleitung zum richtigen Unterricht, aber nicht in seiner Gesamtheit [als] ein Unterrichtsbuch« benutzt werden, er müsse als orientierende Bekenntnisschrift zur Geltung gebracht werden.79 »[D]er entscheidende Platz für den Katechismus ist heute die Bibelstunde.« Die Christenlehre für Jugendliche sei verschwunden, jedoch »[d]ie Bibelstunde lebt.« Das könne dann so etwas wie ein »Konfirmandenunterricht für Erwachsene« werden.80 Hier wurde also der Versuch unternommen, den ›erwachsenenbildnerischen‹ Sinn der Katechismuspredigten früherer Generationen zu bewahren und zu transformieren, und zwar bevor die Grundgedanken, Methoden und Mittel der erst im Laufe der 60er Jahre entstehenden Erwachsenenbildung zur Verfügung standen. Ein Name und ein Thema sollen noch abschließend genannt werden. Auch wenn der alte Walter Hollweg in den beiden klassisch gewordenen Handbüchern des Jubiläumsjahres nicht zu finden ist, so hat er sich in jenen Jahren, wenn auch unabhängig vom Jubiläumsanlass, historisch am tiefsinnigsten mit dem HEIDELBERGER beschäftigt, und zwar in seinen beiden Bänden mit »neueren Untersuchungen« 1961/1968 sowie im umfangreichen Werk über den Augsburger Reichstag 1566 aus dem Jahr 1963. Hollweg hat für den mainstream bis heute schlüssig bestritten, dass Caspar Olevian neben Zacharias Ursinus geradezu als zweiter Verfasser oder Hauptredaktor des HEIDELBERGERs angesehen werden müsse. 79 Weber, Der Heidelberger Katechismus in der heutigen Gemeinde, a.a.O., S. 142. – Diese richtige Einsicht benötigte eine lange Zeit bis zur Umsetzung. Eine unfreiwillig komische Wirkungsgeschichte des Jubiläumsjahres 1963 stellen die 1998 in erster Auflage erschienenen »Anbahnungen« dar. Laut Vorwort verdankten sie ihren Ursprung dem Jubiläumsjahr 1963 – 35 Jahre später feierte das Jubiläum also noch einmal einen stillen Triumph. Besser kann die schwache Wirkungsgeschichte nach 1963 kaum demonstriert werden. 80 Weber, Der Heidelberger Katechismus in der heutigen Gemeinde, a.a.O., S. 143.

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Das ebenso wenig zu übergehende Thema ist das Selbstverhältnis der Reformierten zum römischen Katholizismus. Bereits die Entstehung des HEIDELBERGERs stand im zeitlichen Zusammenhang mit einem Konzil, das Jahrhunderte lang die römisch-katholische Kirche prägen sollte, dem Tridentinum. Das 400-Jahr-Jubiläum des HEIDELBERGERs fiel in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Beide Konzile dienten auf ihre Art der Modernisierung des Katholizismus. »Der Heidelberger Katechismus zeigt an vielen Stellen eine scharfe Abwendung von der Theologie der römischen Kirche«, wie Otto Weber meinte.81 Nicht nur die bekannte Polemik in Antwort 80 ist damit gemeint, sondern etwa auch die energische Zurückweisung von »Heiligen« in den Fragen 30, 94 und 102. Ebenso hielt die geschichtliche Erinnerung – wie das katholische Spanien im niederländischen Befreiungskampf, die niederrheinischen »Gemeinden unter dem Kreuz« oder die blutige Verfolgung der Hugenotten im katholischen Frankreich – antikatholische Reflexe im Reformiertentum lebendig. Dennoch wird es, nicht zuletzt im Zusammenhang neuer Erfahrungen einer christlichen Verbundenheit während des Nationalsozialismus in Deutschland und in den besetzten Ländern, neue Ahnungen eines gemeinsamen Zeugnisses gegeben haben, zumal der sympathische Johannes XXIII. kaum Anlass dafür gab, antikatholische Klischees bemühen zu müssen.82 Vielmehr gab es vorsichtige, aber hoffnungsvolle Annäherungen.83 Karl Barth hatte sich bereits vor seiner Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil positiv zu möglichen Änderungen im Katholizismus geäußert – und Hans Küngs Buch über Karl Barths Theologie war erst wenige Jahre alt (erschienen 1957). Ein Gespräch schien sich anzubahnen – aber war dabei Antwort 80 nicht sehr hinderlich? In dieser Situation erarbeitete Ulrich Beyer seine bekannte Studie über das Abendmahl im HEIDELBERGER, die zwar erst 1965 erschien, aber bereits im Sommersemester 1963 als Dissertation von der theologischen Fakultät Münster bei Paul Jacobs angenommen wurde.84 Nach seinen historischen Untersuchungen bot Beyer »Perspektiven der gegenwärtigen Kontroverse zwischen Abendmahl und Messe« (S. 147– 178); mit einer nicht harmonisierenden Sicht auf die unterschiedlichen Anschauungen vom Sakrament und der historischen Kontextualisierung der Frage 80 »distanziert sich diese Arbeit von der bis heute ungebrochen durchgehaltenen evangelischen Kritik an der Messe« (S. 177), 81 82

Weber, Der Heidelberger Katechismus in der heutigen Gemeinde, a.a.O., S. 131. Vgl. die herzliche Anteilnahme des RWB zum Tode Johannes XXIII., abgedruckt in: RKZ 104 (1963), S. 155. 83 Vgl. den Bericht des Ständigen Ausschusses über Römischen Katholizismus des RWB, in: Frankfurter Dokumente. Berichte und Reden auf der 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt/Main 1964, hg. von Focko Lüpsen, Witten, 1964, S. 57–62. 84 Ulrich Beyer, Abendmahl und Messe. Sinn und Recht der 80. Frage des Heidelberger Katechismus (BGLRK XIX), Neukirchen-Vluyn 1965.

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warnte aber auch davor, »das Opfer für das evangelische Abendmahl ›wiederzugewinnen‹.« (S. 178) Die Arbeit Beyers war also ein unmittelbarer Beitrag zum Jubiläum 1963 (vgl. a.a.O., S. 11) und führte 1977 zu der ebenfalls bekannten und 1994 noch einmal überarbeiteten Fußnote des Reformierten Bundes zu Frage 80.85 Da sich die Themen in der Kirchenpolitik und in der Theologie im Verlauf der 60er Jahre in eine ganz andere Richtung entwickeln sollten,86 zeitigten die literarischen Arbeiten zum Jubiläumsjahr 1963 á la longue keine bedeutende Wirkungsgeschichte, wenn gleich sie den quasikanonischen Stand bis annähernd 2012 darstellten – aber es blieb eben damit jahrzehntelang beim Stand von 1963.87 Während die kirchlich Etablierten aus dem Sammelband von Herrenbrück/Smidt bis in die 70er Jahre hinein »regierten«, insofern sie nicht wie Otto Weber und Paul Jacobs in den 60er Jahren verstarben, machten die drei jüngeren Neokonservativen des Coenen-Handbuchs noch lang anhaltende Karrieren: Zum einen wurde Coenen später als Reformierter – vielleicht unter Mitwirken des Ratsmitglieds Moderator Hans Helmut Eßer? – ins Kirchenamt der EKD geholt und bestimmte dort den ökumenischen Kurs des deutschen Protestantismus mit, zum anderen konnte Goeters in Nachfolge von Ernst Bizer den Bonner Lehrstuhl seines eigenen Vaters besetzen und maßgeblich das Reformierte innerhalb der wissenschaftliche Kirchengeschichte vertreten und definieren, und schließlich wurde Nordholt Landessuperintendent der Evangelisch-reformierten Landeskirche in Nordwestdeutschland (gewählt im Mai 1963!) und leitete sie fast ein Vierteljahrhundert bis ins Jahr 1987. Freilich: Weder Coenen noch Nordholt blieben später ihren dezidiert konservativen Positionen früherer Tage treu,88 während Goeters um eine pietistische Lesart des Reformiertentums bemüht war. 85

Was 1963 noch nicht möglich war, nämlich einen katholischen Beitrag zum HEIDELBERGER-Jubiläum einzuwerben, erschien 2013 als ganz selbstverständlich: Johanna Rahner, »… eine vermaledeite Abgötterei«? Konsens und Klarheit im ökumenischen Abendmahlsgespräch, in: Heimbucher / Schneider-Harpprecht / Siller, Zugänge, a.a.O., S. 135–142. Überraschenderweise wird hier die Untersuchung Beyers nicht erwähnt. 86 Ein Beispiel: Im Jubeljahr des HEIDELBERGERs erschien John A.T. Robinson, Honest to God, in einer Auflage von mehreren Hunderttausend auf Englisch, bereits 1963 erschienen zwei Auflagen der Übersetzung »Gott ist anders«. 87 Zwei Arbeiten vom Ende der 60er Jahre haben ihre Anstöße vielleicht noch vom Jubiläumsjahr erhalten: Wulf Metz, Necessitas satisfactionis? Eine systematische Studie zu den Fragen 12–18 des Heidelberger Katechismus und zur Theologie des Zacharias Ursinus (Studien zur Dogmengeschichte und Systematischen Theologie 26), Zürich/Stuttgart 1970 (diss. 1968 bei Joachim Staedtke, Erlangen); Erdmann K. Sturm, Der junge Zacharias Ursin. Sein Weg vom Philippismus zum Calvinismus (1534–1562) (BGLRK XXXIII), Neukirchen-Vluyn 1972 (diss. 1969 bei Wilhelm H. Neuser, Münster). 88 Selbstverständlich trug Nordholt später die Frauenordination mit, während er 1955 noch gemeint hatte, dass das Amt der öffentlichen Wortverkündigung den Männern vorbehalten sei: Gerhard Nordholt, Die Frau auf der Kanzel, in: RKZ 96 (1955), S. 31–

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5. Die ausbleibende »Wirkungsgeschichte« Entgegen der einleitend zitierten Charakterisierung Vicco von Bülows von der herausragenden Bedeutung des Jubiläumsjahres 1963 steht die Beobachtung, dass weder in einem offiziösen Jahresrückblick von Günter Heidtmann89, dem rheinischen Landespressepfarrer, noch im zwei Jahre später erschienenen »Kirchlichen Jahrbuch 1963«, das die Geschicke des deutschen Protestantismus quasi als zeitgenössische Chronik dokumentieren soll, das Jubiläumsjahr des HEIDELBERGERs überhaupt noch Erwähnung fand. Sollte der öffentliche Protestantismus übersehen haben, was den Reformierten so wichtig war? Oder waren die Reformierten nicht so wichtig und war das HEIDELBERGER-Jubiläum deshalb auch nicht so wichtig gewesen? Vom Jahr 1963 sollten, so der offizielle zeitgenössische Protestantismus, offenkundig andere »Dinge« erinnert werden. Das ist angesichts der neueren Ergebnisse kirchengeschichtlicher Forschung allerdings auch nicht verwunderlich, werden doch die 60er als besonders dynamische Zeiten beschrieben: »Ein neues Kapitel … der Kirchlichen Zeitgeschichte beginnt in den sechziger Jahren.«90 Auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche erfährt gravierende Veränderungen: »Wir haben es seit den sechziger Jahren … offenkundig mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Das im traditionellen Sinn weitgehend verbrauchte Christentum gewann vorübergehend Motivationen und Visionen von einem breit gefächerten revolutionären Marxismus.«91 »Hier vollzog sich ein klarer Traditionsabbruch, ein enormer Verlust an Relevanz alles Historischen.« »Individualisierungsschub«, »Pluralismus« und »Subjektivismus« sind die Stichworte für einen »komplexen Wertewandel«, der auch zu einer »breite[n] Abkehr von den dogmatischen Lehraussagen der Kirche« führte.92 Weder in die Jahre und zu Macht gekommene »Kirchenkämpfer« noch jüngere Konservative konnten und wollten hier den gesellschaftlichen Trends folgen. Genauso einleuchtend erscheint, dass weder größere Gruppen in der Gesellschaft noch kirchliche Kreise vorrangig eine Neuorientierung an einem 400 Jahre alten 34. Auch in friedensethischen Fragen votierte Nordholt in den 50er Jahren ganz anders als um 1980. 89 Günter Heidtmann, Was die Christenheit 1963 bewegte. Ein Rückblick zum Jahresende, u.a. abgedruckt in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden 67 (1963), Nr. 52, 29. Dezember 1963, S. 2f. Hier werden die Wirkungen der Weltkirchenkonferenz in Neu-Delhi (1961) und andere weltkirchliche Ereignisse genannt sowie politische Ereignisse wie der Mauerbau und seine kirchlichen Folgen, und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit (NS-Verbrecher-Prozesse, Rolf Hochhuths »Stellvertreter« und die Sühne-Kirche in Dachau). 90 Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16), Leipzig 2005, S. 30. 91 Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 32. 92 Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte, a.a.O., S. 33.

5. Die ausbleibende »Wirkungsgeschichte«

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Text anstreben konnten. Gewiss, gerade die Reformierten fühlten sich lediglich »relativ« an Bekenntnisschriften gebunden,93 aber auch mit dem HEIDELBERGER gelangen ihnen keine wirkmächtigen »Zeitansagen« mehr. Günther Heidtmann urteilte Ende des Jahres 1963 im Hinblick auf einige ökumenisch-weltkirchliche Tagungen: Es »zeigte sich, daß man für jahrhundertealte Lehrtraditionen nicht von heute auf morgen neue Formen der Aussage finden kann.«94 Die Veränderungen innerhalb von Kirche und Theologie, innerhalb der Gesellschaft und in der Welt waren so groß, dass entsprechend umfangreich und grundsätzlich auch eine Revision der Formate christlicher Lehre hätte sein müssen. Die Bemühungen des HEIDELBERGER-Jubiläumsjahres 1963 haben es nicht vermocht, diesem Reformbedürfnis nachzukommen. Der christliche Glaube wurde auch in der reformierten Konfessionsgemeinschaft nach 1963 immer weniger und schließlich beinahe gar nicht mehr mit den alten Lehrformeln des HEIDELBERGERs kommuniziert. Im Jubiläumsjahr 1963 wurde dem Heidelberger Katechismus innerkonfessionell gewiss eine große Bedeutsamkeit attestiert, die freilich mehr kirchlich und wissenschaftlich postuliert wurde als realhistorisch erfahrbar war. Einhundert Jahre lang hatte er seit 1863 an Bedeutung zugenommen. Doch dann kam es nach dem Jubiläumsjahr 1963 bei den volkskirchlichen Reformierten zu einem raschen und nachhaltigen Bedeutungsverlust des HEIDELBERGERs.

93

Gelegentlich wird den Bekenntnisschriften gegenüber ein erstaunliches Maß an Freiheit behauptet: »Wir sind bekenntnisgebunden, aber zugleich durch Gottes Wort frei. Wir arbeiten mit dem Heidelberger Katechismus, aber suchen zugleich nach neuen Formen des Zeugnisses und der Unterweisung«, in: Die Aufgabe des Reformierten Bundes (nach der Schüttorfer Hauptversammlung 1950), in: Karl Halaski (Hg.), Kundgebungen des Reformierten Bundes (Nach Gottes Wort reformiert 13), Neukirchen 1958, S. 11f. 94 Heidtmann, Was die Christenheit 1963 bewegte, a.a.O., S. 3.

»... dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«? Die Reformierten und »1968«

1. Einleitung Jedes fünfte Jahr begeht die bundesdeutsche Gesellschaft einerseits ein Jubiläum zur Mythen-umrankten Jahreszahl »1968«.1 Unterdes erinnert dieses historische Gedenken ein wenig an den volkskirchlichen Passageritus »Goldene Konfirmation«, mit dem lebensgeschichtlich der Eintritt in den Ruhestand gefeiert wird. Das 50jährige »Jubiläum« steht nun im Jahr 2018 an. Andererseits scheint es aber auch en vogue zu sein, den »68ern« die Schuld an sämtlichen gesellschaftlichen Problemen anzulasten: von der Kriminalität über Drogen und Abtreibungen bis hin zur »Pisa«-Katastrophe und den Skandalen des sexuellen Missbrauchs reformpädagogischen Bildungseinrichtungen. Natürlich werden die »68er« auch deshalb angegriffen, weil sie bei ihrem »Marsch durch die Institutionen« Machtpositionen auf allen politischen Ebenen besetzen konnten, von Bundesministern bis hin zum grünen Ministerpräsidenten. Von »68« geprägte und/oder inspirierte Personen erklommen auch Spitzenpositionen im deutschen Protestantismus. »1968« steht für ein über mehrere Jahre dauerndes gesellschaftliches Aufbegehren, das in vielen (west-)europäischen Ländern laut und wirksam wurde und von der damaligen Mehrheit als Umbruch, als Krise (beginnender Traditionsabbruch) oder als Chance (nachfolgende Reformen), erlebt wurde. Trotz der Gedenkfeiern dieses geschichtlichen Datums der jüngsten deutschen Geschichte und der damit verbundenen Literatur, die neben vielem Populären »1968« auch historisiert (und also 1 Vgl. Franz Schneider (Hg.), Dienstjubiläum einer Revolte. »1968« und 25 Jahre, München 21993; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (GG, Sonderheft 17), 1998; dies., Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2001; Wolfgang Kraushaar, 1968 – das Jahr, das alles verändert hat, München 1998; ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– 1977, Köln 2001; Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, München 2002; Jürgen Busche, Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin 2003; Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008 (a.a.O., S. 268–285: Die religiösen Wurzeln). – In der allgemeinhistorischen Literatur über »1968« finden sich nur wenige Hinweise auf Kirche und Theologie; viele beziehen sich auf die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin.

1. Einleitung

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relativiert), gab es lange nur wenig zum Thema »Kirche und 1968«.2 Allerdings sind die 60er und die 70er Jahre mittlerweile in den Fokus 2

Vgl. die zeitgenössische Literatur: Kirchliches Jahrbuch 95 (1968), S. 22ff.; Ad hoc: Kritische Kirche. Eine Dokumentation, hg. von Dietrich Lange, René Leudesdorff, Heinrich Constantin Rohrbach, mit einem Vorwort von Reinhard Dross und zwei Beiträgen von René Leudesdorff und Friedrich-Wilhelm Marquardt, Gelnhausen 1969; Theologiestudenten 1969. Dokumente einer revolutionären Generation, Stuttgart 1969; WolfDietrich Bukow, Das Elend der sozialistischen Opposition in der Kirche. Celler Konferenz – Theologie als Gesellschaftstheorie? (ThExH 162), München 1969; Helmut Thielicke, Kulturkritik der studentischen Rebellion, Tübingen 1969. – Vgl. auch die die Traumatisierungen spürbar werden lassenden Autobiographien von Wolfgang Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, S. 276–285; Helmut Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984, S. 400–415; dagegen mit vielen guten Erinnerungen Dorothee Sölle, Gegenwind. Erinnerungen, Hamburg 1995, passim, besonders S. 61–105; erstaunlich knapp Elisabeth MoltmannWendel, Wer die Erde nicht berührt, kann den Himmel nicht erreichen ... Autobiographie, Zürich 1997, S. 78f. Vgl. auch die Biographie eines wichtigen »68er«-Theologen: Werner Simpfendörfer, Ernst Lange. Versuch eines Porträts, Berlin 1997, S. 132–203. – Literatur (chronologisch): Rolf Hanusch, Aufstand gegen die Pastorenkirche. Welche Auswirkungen die 68er-Bewegung auf den Protestantismus hatte, in: EvKomm 31 (1998), S. 257–260; Martin Henkel, Theologen, in: Christiane Landgrebe / Jörg Plath (Hg.), ´68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon, Berlin 1998, S. 119–124; Martin Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche in den 60er Jahren, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 544–581 (vgl. die wie immer in aller Kürze souveräne Darstellung in: ders., Christentumsgeschichte II. Von der Reformation bis zur Gegenwart [Grundkurs Theologie 4], Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 282–298, direkt zu »1968«: S. 291–295); Johann Paul, Die 68er Bewegung und die evangelischen Studenten, in: MEKGR 51 (2002), S. 173–185; Jörg Herrmann, »Unsere Söhne und Töchter«. Protestantismus und RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Band 1, Hamburg 2006, S. 644–656; Siegfried Hermle u.a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in der 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47), Göttingen 2007, darin: Angela Hager, Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung, a.a.O., S. 111–130; Bernd Hey / Volkmar Wittmütz (Hg.), 1968 und die Kirchen (Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft 17), Bielefeld 2008, darin besonders: Wolf-Dieter Hauschild, Kontinuität im Wandel. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die sog. 68er-Bewegung, a.a.O., S. 35–54; Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989) (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 5), Bonn 2008, S. 215–228: ›1968‹ und der Generationswechsel; Christofer Frey, Die 68er und ihr mutmaßlicher Einfluss auf Theologie und Kirche, in: ZEE 52 (2008), S. 83–88 (und die nachfolgende Diskussion: Alexander Dietz, Konservatismus und Protestantismus. Ein Kommentar, in: a.a.O., S. 298–301; Christofer Frey, Entgegnung auf den Kommentar von Alexander Dietz, in: a.a.O., S. 302–304); Folkert Rickers / Bernd Schröder (Hg.), 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2010, darin: Siegfried Hermle, Herausforderungen für die evangelische Kirche um 1968, in: a.a.O., S. 87–107; Rolf Heinrich, Die permanente Gegenwart des Politisch-Theologischen: Neue politische Theologie der 68er, in: a.a.O., S. 134–153; Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010, S. 102–115; Heinrich Grosse / Hans Otte / Joachim Perels

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»... dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«?

der kirchlichen Zeitgeschichte gekommen, und zwar nicht zuletzt unter vergleichender oder zusammenschauender europäischer Perspektive.3 Für die Reformierten existieren bislang keine Untersuchungen über »1968«.4 Mögliche Fragen wären: Wie waren die Reformierten Ende der 60er Jahre positioniert? Wie reagierte man auf die »68er«, auf die gesellschaftlichen Veränderungen und auf neue Anstöße aus der weltweiten Ökumene? Gab es eine Option westdeutscher Reformierter für den (Staats-)Sozialismus? Weil die seit »1968« Agierenden heute noch leben, greifen wir damit natürlich bis in die Gegenwart vor; das setzt der historischen Aufarbeitung nach allen Erfahrungen der Historiographie Grenzen, weil Fragen und Antworten stark persönlich interessegeleitet sein können. Es ist schwierig, Sach- und Beziehungsebene erkenntnisleitend zu unterscheiden. Die Quellenlage für diese ersten Anstöße zum Thema ist mit der Reformierten Kirchenzeitung (RKZ)5 gut. Deren Jahrgänge von 1966 bis 1970, also vom Beginn der ersten Großen Koalition bis zu ersten OstVerträgen durch die Regierung Brandt, werden hier ausgewertet. Die RKZ berichtete einerseits von den bei den Reformierten virulenten Themen und prägte andererseits die theologische und kirchenpolitische Meinung der reformierten Leserschaft. Neben dieser wichtigen Quelle und den schriftlichen Zeugnissen und Erinnerungen der Protagonisten sind die Akten des Reformierten Bundes im landeskirchlichen Archiv Detmold von Belang.

(Hg.), Kirche in bewegten Zeiten. Proteste, Reformen und Konflikte in der hannoverschen Landeskirche nach 1968, Hannover 2011; Dimitrij Owetschkin, Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A 48), Essen 2011, S. 162–180: Kriegskinder und 68er: die Kohorte des Zweiten Weltkriegs; Sven-Daniel Gettys, Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/68), in: Klaus Fitschen u.a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre (AKiZ B 12), Göttingen 2011, S. 221–242. 3 Als Überblicke sei verweisen auf Wolf-Dieter Hauschild, Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979, in: Hermle u.a., Umbrüche, a.a.O., S. 51–90; Hugh McLeod, The 1960s and 1970s as a period of basic change, in: Katharina Kunter / Jens Holger Schjørring (Hg.), Europäisches und Globales Christentum. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert (AKiZ B 54), Göttingen 2011, S. 42–61. 4 Vgl. aber die persönlichen Erinnerungen des damals im Schuldienst tätigen, nachmaligen Generalsekretärs des Reformierten Bundes Joachim Guhrt, Geschichten und Geschichte. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Lebens im 20. Jahrhundert, Bad Bentheim 2000, S. 126–143. 5 Bis 1965 fungierte Karl Halaski praktisch als alleiniger Herausgeber; 1966 traten dann Werner Braselmann, Lothar Coenen u.a. in die Redaktion mit ein.

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2. Befindlichkeiten vor 1968 Wie definierten sich die Reformierten in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts? Wie waren sie im Jahre 1968 positioniert? Welche Personen waren meinungsbildend, welche Themen bestimmend? Im ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens (1884–1909) war es dem Reformierten Bund gelungen, sich als die konfessionspolitische Interessensvertretung der Reformierten in Deutschland zu etablieren, während die reformierten Landeskirchen engere, eigene Interessen pflegten. Weil die deutschen Reformierten als Teil einer weltweiten Konfessionsfamilie umfängliche internationale Kontakte unterhielten, zumal in den Jahren 1964–1970, werfen wir auch einen Blick auf den Reformierten Weltbund (RWB6). In den Jahrzehnten nach 1945 war Wilhelm Niesel der Reformierte schlechthin; deshalb ist er hier besonders zu beachten. Im Jahr 1968 feierte Niesel seinen 65. Geburtstag,7 und auch wenn seinerzeit »Kirchenführer« gerne bis jenseits des siebten Lebensjahrzehnts im Amte verblieben – wie Niesel, der erst 1973 sein Amt als Moderator des Reformierten Bundes aufgab –, ist dies auch damals ein Alter gewesen, in dem man seinen Ruhestand und seine Nachfolge in den Blick nahm. Immerhin trat Niesel 1968 von Kanzel und Katheder zurück: Er verließ die Gemeinde Schöller und seine Professur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und verzog nach Königstein/Taunus. In der damaligen Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland trat mit Walter Herrenbrück bereits 1963 ein Mann der Bekennenden Kirche (BK) als Landessuperintendent ab8 und fand in Gerhard Nordholt einen eher konservativen Nachfolger, der sich erst Ende der 70er Jahre einige progressiv-protestantische Positionen zu eigen machte.9 In Lippe-Detmold trat mit Fritz Viering 1970 einer der »jungen Brüder« der BK die Nachfolge von Udo Smidt an, so dass hier personell kein Bruch mit der BK-Tradition stattfand. Viering hatte 1935 sein Erstes Examen vor der Prüfungskommission der BK abgelegt, Smidt war von 1930 bis zur Auflösung 1934 Reichswart der Schülerbibelkreise, danach Pfarrer in Bremerhaven-Lehe. Es gab also auf’s Ganze gesehen keinen plötzlichen 6 Nach Fusionen 1970 und 2010 lautet der Name nunmehr Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (World Communion of Reformed Churches). 7 Die Glückwunschtelegramme von Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger sind abgedruckt in RKZ 109 (1968), 32. – Zu Niesel vgl. die betreffenden Aufsätze in diesem Band. 8 Zu Herrenbrück vgl. den Aufsatz »Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik in diesem Band. 9 Zu Nordholt vgl. Alfred Rauhaus, Art. Nordholt, Gerhard, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 2, Aurich 1997, S. 274–276.

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Traditionsbruch bei den deutschen Reformierten, sondern einen gleitenden Generationenwechsel, der sich von Anfang der 60er bis Anfang der 70er Jahre hinzog. Niesel und die ihm verbundenen Reformierten, deren Sprachrohr er als Moderator des Reformierten Bundes seit 1946 war, waren durch die Calvin-Tradition, durch die Theologie Karl Barths, dessen treue Zeitgenossen sie waren, und die Erfahrungen des Kirchenkampfes theologisch und kirchenpolitisch konfiguriert. Allerdings gehörte zum Selbstverständnis der Reformierten auch stets dazu, dass sie sich in der konfessionspolitischen Defensive sahen. Gleich nach der Befreiung Deutschlands 1945 gelang ihnen ein enormer Imagegewinn im In- und Ausland, galten sie doch generalisierend – und deshalb natürlich fälschlicherweise! – als die (!) Tapferen im Kirchenkampf.10 Waren die handelnden Personen mit diesem »Erbe« und dieser Selbstwahrnehmung in der Lage, die Herausforderungen von »1968« zu meistern? Während des Höhepunktes von Niesels Wirken, von 1964 bis 1970 als Präsident des Reformierten Weltbundes,11 kamen nicht nur im politischen Deutschland, sondern auch in der weltweiten kirchlichen Ökumene neue Themen auf die Tagesordnung, etwa die der globalen Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Niesel jedoch hatte nach der Wahl zum Weltbundspräsidenten »sich selber als ›theologischen‹ Präsident bezeichnet.«12 Nicht von ungefähr wurde die Veränderung der »Tagesordnung« vor allem wohl in den USA und bei den dortigen, eher konservativen Reformierten wahrgenommen, die bis dahin über eine gewisse Hegemonie im Reformierten Weltbund verfügten: Ein US-Delegierter der 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1964 in Frankfurt13 stellte fest, dass man »zur Kenntnis nehmen [müsse], dass 10

Gegen diese gern gepflegte generalisierende Sicht vgl. die instruktive Studie Günther van Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 71–86. 11 Vgl. dazu Marcel Pradervand, A Century of Service. A History of the World Alliance of Reformed Churches 1875–1975, Edinburgh 1975, S. 270–288: From Frankfurt to Nairobi. – Niesel ergänzt diese Darstellung in einem dreiseitigen Typoskript, das dem Buch-Exemplar JaLB 11.57.90.001 beigelegt ist. Obwohl Pradervand Niesel als Präsident bezeichnet, »who had served the Alliance faithfully and actively since 1964« (a.a.O., S. 287), sah Niesel eben nicht gewürdigt, dass vor allem die vielen Reise-Aktivitäten nur durch die Finanzierung des deutschen Reformierten Bundes ermöglicht worden waren. Pradervand, der seit 1950 als Generalsekretär schon mehrere Präsidenten hatte kommen und gehen sehen, musste sich durch Niesels Bemühen und seine häufige Anwesenheit in der Genfer Zentrale in die Defensive gedrängt fühlen. 12 Walter Herrenbrück, Bericht über die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt (Schluß), in: RKZ 106 (1965), S. 40f., hier: S. 41. 13 Vgl. Frankfurt 1964. Proceedings of the Nineteenth General Council of the Alliance of the Reformed Churches throughout the World holding the Presbyterian Order held

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neue Kräfte im Reformierten Weltbund sich energisch bemerkbar machten: Die sogenannten jungen Kirchen, besonders aus Afrika, die in Frankfurt in starker Zahl vertreten waren, Kirchen, die unter gegensätzlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen leben … Diese neuen Kräfte … sind geeignet, ›bei denen Befürchtungen zu wecken, die es vorziehen würden, wenn der Reformierte Weltbund brav calvinistisch und presbyterianisch bliebe.‹«14 Niesels langjähriger Wuppertaler Kollege Jürgen Moltmann hat solche Anstöße aufgenommen und weitergeführt und etwa die Menschenrechtsdebatte gerade auch in Deutschland mit forciert. Moltmann fand bis in die Gegenwart weltweit mehr Beachtung als bei den Reformierten in Deutschland.15 Sein theologischer Aufbruch mit der »Theologie der Hoffnung« wurde trotz seiner früheren theologiegeschichtlichen Arbeiten zur reformierten Tradition von den deutschen Reformierten nicht als ein innovatives Format »reformierter« Theologie verstanden.16 Wie aber war die Situation in Deutschland? Bereits um 1957 und in den folgenden Jahren gab es einen Generationenkonflikt bei der Debatte um die Atombewaffnung.17 Jüngere Reformierte, die nicht mehr direkt am Kirchenkampf beteiligt gewesen waren und noch nicht in Kirche leitender Verantwortung standen, sahen den status confessionis gegeben und forderten politische Konsequenzen, während bei gleicher politischer Einschätzung etwa Walter Herrenbrück und Otto Weber etwas zurückhaltender (re-)agieren wollten. Immerhin hatte auch die Atomdebatte bewirkt, dass im Gefolge der Treysaer Beschlüsse die »öffentliche Verat Frankfurt-on-the-Main, Germany, from August 3–13, 1964, ed. by Marcel Pradervand, Genf 1964. Niesels Schlusswort an die Versammlung, a.a.O., S. 201f.; Frankfurter Dokumente. Berichte und Reden auf der 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Frankfurt/Main 1964, hg. von Focko Lüpsen, Witten 1964. Vgl. auch den RKZ-Jahrgang 105 (1964) sowie die Archivalien in LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 456–468 [51.36–48]. 14 RKZ 106 (1965), S. 10. 15 Im Jahr 1976 veröffentlichte der Reformierte Weltbund »Die theologische Basis der Menschenrechte«. Vgl. Jan Milič Lochman / Jürgen Moltmann, Gottes Recht und die Menschenrechte, Neukirchen 1976; vgl. auch Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, Kapitel IV § 5: Gottes Gerechtigkeit und die Menschen- und Bürgerrechte, S. 241–253. 16 Trotz der im Ganzen wohlwollenden Rezension von Karl Halaski in: RKZ 106 (1965), Theologische Literaturbeilage zu Nr. 22, 15. November 1965, S. 3f. Der Verfasser »erweist sich … mit diesem Werk noch einmal als Schüler Otto Webers.« – Vgl. die schöne Autobiographie: Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006. 17 Vgl. Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954–1969. Dokumente und Kommentare, hg. von Christian Walther, München 1981; Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962 (NBST 24), Neukirchen-Vluyn 1999; Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 66–73.

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antwortung« der Kirche ernst genommen wurde. Eine »ohne-mich«Stimmung herrschte in bewusst protestantischen Kreisen nicht vor, sondern wurde vielmehr gerade hier beklagt. Die Situation zu Beginn der 60er Jahre ist gut beschrieben anhand einiger Ausführungen über die Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1962 (24.–26. September) in Detmold: »Ist es nun dem Reformierten Bund bei seiner Tagung in Detmold geschenkt worden, ein entscheidendes Wort zu den Fragen unserer Zeit zu sagen? Er hat zwar einen Entschließungsantrag zu dem Bericht seines Moderators angenommen, in dem die Brüder gebeten werden, in der Not unserer Zeit nicht zu resignieren. Der Bund war nicht bevollmächtigt, darüber hinaus inhaltlich eine Bekenntnisentscheidung zu treffen. Wer vermöchte auch die Verantwortung dafür zu tragen? Wir wissen ja nicht einmal, ob die Lage heute reif ist, in solcher Weise zu bekennen, wie wir es in den Jahren der Verführung und Verblendung 1934 tun mussten. Aber indem wir uns um den Heidelberger Katechismus als die reifste Frucht der Reformation gesammelt haben und uns durch ihn von neuem kraftvoll in die Heilige Schrift weisen ließen, die allein unsere vorbehaltlos anzuerkennende Autorität ist, haben die Detmolder Tage in uns von neuem die Sehnsucht geweckt nach dem vollendeten Reiche Gottes«.18 Nach der guten Erfahrung des konkreten Bekennens während des Kirchenkampfes ahnte man nun, dass richtige Theologie allein bei veränderten Rahmenbedingungen eine andere oder auch gar keine Wirkung zeitigen können. Das musste für »Bekenntnistheologen« irritierend wirken. Immerhin war man sich auf der Hauptversammlung 1964 in Göttingen (19.–21. Oktober) einig, dass die Jüngeren stärker berücksichtigt werden sollten: »Die Hauptversammlung bittet das Moderamen, seine Aufmerksamkeit besonders darauf zu richten, dass die junge Generation der Theologen ausreichend über die Arbeit und die Ziele des Bundes informiert und mehr an der Bundesarbeit beteiligt wird.«19 Auch Frauen und Nicht-Theologen drängten auf größere Anteile in den Entscheidungsprozessen. So setzte dann die Hauptversammlung in Lübeck 1966 (26.–28. September), die »bestbesuchte Hauptversammlung nach dem Kriege«,20 einen Ausschuss »Theologe-Nichttheologe« ein. Man war also zu zeitgemäßen Anpassungen bereit. Es gab aber auch mächtige kirchliche Gegenbewegungen, die den aufkommenden theologischen und auch politischen Zeitgeist klar ablehnten: Erinnert sei an die beiden 1966 gegründeten konservativen 18 Werner Lohmeyer, Eindrücke von der Tagung des Reformierten Bundes in Detmold, in: RKZ 103 (1962), S. 442f., hier: S. 443. 19 RKZ 105 (1964), S. 292. Weitere Beschlüsse finden sich a.a.O., S. 292f. 20 Vgl. RKZ 107 (1966), S. 225. – Die Beschlüsse der Hauptversammlung, a.a.O., S. 231f.

3. Reformierte Wahrnehmungen des Jahres 1968

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Gruppen der »Bekenntnisbewegung ›Kein anderes Evangelium‹«21 und der »Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher«, die die »Ostdenkschrift« der EKD ablehnte.22 3. Reformierte Wahrnehmungen des Jahres 1968 Die politischen Ereignisse waren bereits vor Jahresbeginn 1968 zugespitzt. Proteste gegen weltweites Unrecht und innenpolitische Repressionen eskalierten in Gewalt, wie die Demonstrationen gegen den Springer-Verlag, die Schah-Demonstration mit dem zu Tode gekommenen Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und dann später der Mordversuch auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 zeigen. Dabei war der Blick der Protestierenden geweitet: Neben dem Unbehagen über die verdrängte Zeit des Nationalsozialismus und der damit verbundenen innenpolitischen Stimmung waren es »die Realitäten und Probleme der Dritten Welt«, die »in das öffentliche Bewusstsein« traten.23 Der Vietnam-Krieg, das Iran-Regime, die Kämpfe in und um Israel,24 die gewaltsame Durchsetzung der Apartheid in Südafrika, die Katastrophe von Biafra evozierten den Protest gegen die USA und das westliche Wirtschaftssystem. Leitende Personen der evangelischen Landeskirchen in der DDR hatten im »Brief aus Lehnin« vom 15. Februar 1968 »[a]ls Staatsbürger eines sozialistischen Staates« ihre Aufgabe damit beschrieben, »den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.«25 Aber die Niederschlagung des Prager Frühlings desavouierte im Laufe des Jahres 21

In einem Fernsehinterview zu seinem 65. Geburtstag sagte Wilhelm Niesel, dass er dieser Bewegung theologisch nahe stünde, er dort aber nicht mitmache, weil ihm die praktischen Konsequenzen des Glaubens für die Gesellschaft fehlten. – Niesel stand damit nicht alleine da. »Eine Reihe von Kirchenleitungen äußerte sich freundlich oder doch zumindest verständnisvoll. Alles das war nur zu verständlich auf dem Hintergrund der einschneidenden Einbrüche in die traditionellen Formen und Inhalte des evangelischen Glaubens in den 60er Jahren.« Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 570f.; vgl. auch ders., Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 94–102, wo deutlicher wird, dass Kirche leitende Personen die historisch-kritische Exegese verteidigten (besonders a.a.O., S. 95). 22 Vgl. Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 568f.; ders., Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 85–90. 23 Vgl. Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 576–579. 24 Damals schon Siegward Kunath, Israel im Nahen Osten. Betrachtungen nach dem 3. israelisch-arabischen Krieg, in: RKZ 109 (1968), S. 205–206.220–221.232–233.257. 268–269; RKZ 110 (1969), S. 4–6.20–21. Der nachmalige Ephorus der Kirchlichen Hochschule Wuppertal war seinerzeit Pastor in Ostfriesland. 25 Zit. nach Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 580. – Zu diesem Brief im Zusammenhang mit einer neuen sozialistischen Verfassung der DDR und den etwaigen Missverständnissen der o.g. Formulierung vgl. Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990) (KGiE IV/3), Leipzig 2005, S. 93–96.

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»... dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«?

1968 auch die alternative Option für den real existierenden Sozialismus. Hoffnung für die Protestierenden boten die nach Freiheit strebenden Länder Afrikas und Südamerikas. Im Juli 1968 beschäftigte sich die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im schwedischen Uppsala deshalb auch mit dem Thema »Revolution«.26 Der Reformierte Weltbund war gewiss nicht unpolitisch, zumal er immer eine Gemeinschaft weltweiter Solidarität gewesen ist. Allerdings sah man dort seine politische Handlungsmöglichkeit eher auf geistlicher Ebene. So bat der RWB die Mitgliedskirchen, »für ihre Brüder in Christus in ganz Nigeria in der Fürbitte zu beten«.27 »Obgleich sich der RWB nicht direkt mit politischen Fragen beschäftigt«, so der RWB-Generalsekretär in seinem Jahresbericht für 1967, »können wir die riesigen Probleme, denen sich unsere Welt heute gegenübersieht, nicht übersehen. Wir denken besonders an das Friedensproblem, das niemanden unberührt lassen kann. Es tut uns leid, erkennen zu müssen, dass der Krieg in Vietnam trotz vieler Bemühungen weiter tobt, die Krise im Mittleren Orient immer noch nicht gelöst ist und dass in Afrika Nigeria durch einen Bürgerkrieg zerrissen wurde. Unsere Gedanken gleiten besonders zu den Mitgliedern unserer presbyterianischen Kirche in Biafra, dem Gebiet, das besonders vom Krieg betroffen ist. Wir können keine Lösung vorschlagen. Wir möchten aber die Christen und die christlichen Kirchen bitten, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um einen wahren Frieden gründen zu können zwischen Nationen und Menschen, einen Frieden in Gerechtigkeit und Sicherheit für jeden Einzelnen.«28 Solches globalkirchliche Bewusstsein wurde auch in der bundesrepublikanischen kirchlichen Öffentlichkeit kommuniziert. Die »68er« waren schnell in der deutschen kirchlichen Öffentlichkeit präsent. Davon blieben auch die Reformierten in Deutschland nicht unberührt. Die 26

Einige kritische Anmerkungen zu Uppsala in Wilhelm Niesel, Ansprache im Exekutivkomitee des Reformierten Weltbundes am 1. August 1969 in Beyrouth, in: RKZ 110 (1969), S. 162f. – Zur Bedeutung von Uppsala vgl. Reinhard Frieling, Die Aufbrüche von Uppsala 1968, in: Siegfried Hermle u.a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in der 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47), Göttingen 2007, S. 176–188; Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 117f.; Hedwig Richter, Der Protestantismus und das linksrevolutionäre Pathos. Der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf im Ost-West-Konflikt in den 1960er und 1970er Jahren, in: GuG 36 (2010), S. 408–436; Annegreth Schilling, 1968 und die Ökumene. Die Vollversammlung des ÖRK in Uppsala als Beginn einer neuen Ära?, in: Katharina Kunter / dies. (Hg.), Globalisierung der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die Entdeckung der Dritten Welt in den 1960er und 1970er Jahren (AKiZ B 58), Göttingen 2014, S. 89–119. 27 RKZ 109 (1968), S. 54. 28 Marcel Pradervand, Bericht des Generalsekretärs an die Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes für das Jahr 1967, in: RKZ 109 (1968), S. 61–64, hier: S. 64. Das Thema taucht tatsächlich nur unter »ferner liefen« auf.

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Dutschke’ske Diktion und Aktionen im APO-Stil waren für damalige Beobachter radikal – und auch mit dem heutigen Abstand erscheint manches als gravierend. Im ersten Februar-Heft 1968 der RKZ schreibt Karl Halaski unter der Überschrift »Störung des Gottesdienstes?« in seiner Herausgeber-Rubrik: »In Berlin hat es angefangen, aus Hamburg hört man nun Ähnliches.29 Studenten wollen in den Kirchen demonstrieren und diskutieren. Als ich ein junger Prediger war, gab es das schon einmal. Damals zog die SA in die Kirchen ein, und doch wage ich nicht zu sagen, das war dasselbe. Die SA wollte auch in der Kirche die ›Macht ergreifen‹. Diese Studenten meinen die ›Gesellschaft‹, die sie ablehnen, die faul ist, die nach ihrem Bilde verändert werden muß.« Es sei klar, dass die Kirche »nicht nur predigt, sondern gefragt wird und antworten muß.« Allerdings gelte es nicht, besonders diskutierfähig zu sein, sondern die Antworten des Neuen Testaments zu kennen.30 Einige Beispiele aus der RKZ mögen die unruhige, aber durchaus auch innovative Stimmung illustrieren: Die Studierenden vom Reformierten Studienhaus Göttingen starteten eine Spendenaktion, um schwerstgeschädigten Kindern aus Vietnam Operationen in Göttingen bezahlen zu können.31 Studierende der Kirchlichen Hochschule Wuppertal verteilten Flugblätter vor dem Gottesdienst der niederländisch-reformierten Gemeinde am 28. Januar 1968, in denen das gottesdienstliche Gebet für die Opfer des Vietnam-Krieges »abgewertet« wurde, wie der Vorwurf dann lautete.32 Der Konvent der Theologiestudenten in der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland erarbeitete bei seiner Frühjahrstagung auf Schloss Bentheim eine umfängliche Resolution zum Vietnam-Krieg, in dem die Amerikaner zum bedingungslosen Verlassen Vietnams aufgefordert werden.33 Die reformierte Gemeinde HamburgAltona diskutierte über ein »politisches Engagement« und ein »politi29 Die Proteste richteten sich vor allem gegen den auch in der Universitätspolitik durchaus exponierten Helmut Thielicke, vgl. ders., Zu Gast auf einem schönen Stern, a.a.O., S. 406–412. In Berlin hatten Studierende Gottesdienste des Berliner Generalsuperintendenten Hans Martin Helbich gestört, vgl. a.a.O., S. 407. Zu Thielickes spezifischer Rolle vgl. Norbert Friedrich, Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen, in: Hermle u.a., Umbrüche, a.a.O., S. 247–261. 30 Karl Halaski, Störung des Gottesdienstes?, in: RKZ 109 (1968), S. 25. 31 Wolfgang Schneider, Einsatz für den Frieden, in: RKZ 109 (1968), S. 51. 32 RKZ 109 (1968), S. 54. – Dazu dann genauer Karl Halaski, Abwertung des Gebets durch Studenten? Sowie Abdruck eines Briefes der Wuppertalerin Ilse Schellwien, in: RKZ 109 (1968), S. 95–97. Vgl. dazu Uwe Kaminski, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989) (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 5) (SVRKG 173), Bonn 2008, S. 215–228: ›1968‹ und der Generationenwechsel, hier: S. 219f. 33 RKZ 109 (1968), S. 113. Auch andernorts wurden reformierte Studierende aktiv, etwa in Zürich, wo anlässlich der 450-Jahr-Feier der Reformation die dortigen Studenten eine demokratische »Reform der Kirche« forderten. Abgedruckt in RKZ 110 (1969), S. 64.

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sches Mandat« der Gemeinde,34 in Bovenden bei Göttingen gab es ein »Gemeindeseminar Kirchenreform«.35 Der rheinische Synodale Johannes Rau (MdL) regte sogar an, die kirchliche Demokratisierung zu beschleunigen, indem in den Synoden Fraktionen gebildet werden sollten.36 Und eine Spätfolge wird es wohl gewesen sein, dass in einer Bremer Gemeinde die Sonntagsgottesdienste durch abendliche Diskussionen ersetzt wurden – worauf es allerdings zu einem Disziplinarverfahren gegen den Pfarrer kam.37 Es war klar, dass in einer solchen Situation auch die Hauptversammlung des Reformierten Bundes auf diese Situation würde eingehen müssen. Die Hauptversammlung vom 14. bis 16. Oktober in Bielefeld38 wollte diese Herausforderungen annehmen. Doch statt eines Vortrags des zunächst eingeladenen Holländers Hendrikus Berkhof – er hatte in Uppsala eine wichtige Rolle gespielt – trug der mild-konservative Erlanger Professor Joachim Staedtke Grundlegendes zum Verhältnis von »Evangelium und Demokratie«39 vor. Staedtke nahm aber nicht die aktuelle Situation 1968 als Ausgangspunkt für seine Überlegungen, sondern ging von einem Zitat aus Barths »Christengemeinde und Bürgergemeinde« aus, dass nämlich das Evangelium auch die Rechtfertigung des politischen Menschen sei. Ein bewusstes Gestalten oder gar Umgestalten der gesellschaftlichen Verhältnisse sei aufgrund der eschatologischen Implikationen nicht im Blick der neutestamentlichen Schriftsteller gewesen. 34 35 36

Vgl. RKZ 110 (1969), S. 77f. Vgl. RKZ 110 (1969), S. 110. Dagegen wandte sich bereits in seiner Herausgeber-Kolumne Karl Halaski, in: RKZ 110 (1969), S. 161, dann aber vor allem Oskar Hammelsbeck, Notwendiger Widerspruch gegen Johannes Rau, in: RKZ 110 (1969), S. 178f. Johannes Rau widerspricht in einer Leserzuschrift in RKZ 111 (1970), S. 133. – Es ist klar, dass mit diesem Vorschlag vom Kirchenkampf geprägte Theologen an traumatisierende Synoden 1933/1934 erinnert werden mussten. 37 Vgl. RKZ 113 (1972), S. 190. 38 Diese Hauptversammlung ist vollständig dokumentiert in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 113 [21.28]. – Unmittelbar zuvor hatte die EKD-Synode in Berlin getagt (6.–11. Oktober 1968). Dort wurden die Themen und Anstöße aus Uppsala aufgenommen, Helmut Gollwitzer sprach viel von »Revolution« und junge Leute (vor allem studd. theol.) bildeten eine »kritische Synode«, deren Teilnehmer am Ende der Synodentagung durch harsche Kritik auf sich aufmerksam machten, vgl. etwa: Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt. Die Synode der EKD 1968 zur Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter, hg. von Erwin Wilkens, München 1968. 39 Abgedruckt in RKZ 109 (1968), S. 250–255.262–266 (auch als Sonderdruck erschienen); auch in: Joachim Staedtke, Möglichkeiten und Grenzen politischer Theologie (ThSt 112), Zürich 1974, S. 25–49; ders., Reformation und Zeugnis der Kirche. Gesammelte Studien, hg. von Dietrich Blaufuß (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 9), Zürich 1978, S. 333–357. – J. Staedtke hat sich mehrfach zur christlichen Tradition in der westlichen Demokratie geäußert, wobei er den positiven Beitrag des Calvinismus zu betonen wusste.

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In der Bibel ginge es wohl ums Evangelium, nicht aber um Demokratie. Die Christen würden durch die neue sakramentale Einheit in der Kirche nicht der Welt entnommen, vielmehr sei im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums »hermeneutische Pflicht der Kirche, auch über die Staatsform, in der die Christengemeinde und Bürgergemeinde leben, nachzudenken.«40 Im Anschluss an Barth wird versucht, auch politische Ethik »vom Evangelium her« und christologisch Grund zu legen. Bevor es zu einer Bedingungsanalyse oder einer Gesellschaftskritik kommen kann, muss also zunächst viel theologische Arbeit geleistet werden. »Durch den Zuspruch des Evangeliums weiß er [sc. der Christ], dass die ›Struktur der Welt vergeht‹ (1. Kor. 7,31).«41 Gesellschaftliche Ordnung sei also immer relativ, und zwar relativ angesichts der Souveränität Gottes. Die verkündigende Kirche habe demnach keine absoluten Autoritäten neben Gott anzuerkennen, sondern solle innerhalb der relativen Welt an das Recht erinnern, das sich in Bestrebungen nach Frieden, Freiheit und sozialer Verpflichtung für die »politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich Schwächsten«42 und »die Gleichberechtigung aller Menschen«43 verwirkliche. Damit hatte sich Staedtke zwar gegen gesellschaftliches und wirtschaftliches Unrecht, gegen Bedrückung, Krieg und Rassismus ausgesprochen, aber dies war kein Wort, das die hiesigen Herrschenden hätte treffen können. Die christliche Gemeinde habe sich für das Wohl des Menschen einzusetzen; dafür habe sie nicht zuletzt das »Mittel« des Gebets. Vom Evangelium her sei der Demokratie bei aller Vorläufigkeit weltlicher Phänomene der Vorzug zu geben, weil die Demokratie als Staatsform durch die praktizierte Gewaltenteilung davor gefeit sei, sich selbst als totalitär oder absolut zu setzen und so Recht, Friede, Freiheit etc. ermögliche. Eine Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation oder eine Auseinandersetzung mit den Forderungen der Studentenrevolte sucht man in diesem Hauptvortrag bei den Reformierten 1968 vergebens.44 Diese so grundsätzliche Bestimmung war nicht hinreichend, um tatsächlich Wegweisung für das Leben in einer Gesellschaft im Umbruch zu geben, deshalb nicht, weil die Gegenwart gar nicht im Blick war. – Übrigens saß Verlagsdirektor Johannes Rau auf dem Podium dieser Hauptversammlung. Er war bis zu seinem Tod Mitglied des Reformierten Bundes. 40 41

Zit. nach der RKZ, a.a.O., S. 251. A.a.O., S. 254. – Zumeist wird das griechische ›schema‹ nicht mit »Struktur«, sondern mit »Wesen« oder »Gestalt« übersetzt. 42 A.a.O., S. 262. 43 A.a.O., S. 263. 44 Vgl. auch Alexander Christian Widmann, Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren (AKiZ B 56), Göttingen 2013, der S. 233 mit Anm. 33 feststellt, dass sich die Reformierten 1968 mit Stellungnahmen zurückhielten.

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Der Moderator Wilhelm Niesel wich der Diskussion etwas aus, als er bei seinem Tätigkeitsbericht auf der Hauptversammlung 1968 vor allem seine ökumenischen (d.h. weltweiten) Kontakte fokussierte.45 Allerdings ging er eingangs auf die Prager Ereignisse ein. »Ein Gutes hat die Gewaltzeit gezeitigt: Sie hat nicht nur die Menschen und Völker in dem betroffenen Lande fest zusammengeschlossen, sondern – was uns im Besonderen bewegt – die Kirchen dort zu bekennenden Kirchen werden lassen.«46 Es hat den Anschein, als ob Niesel sich nach Kampfsituationen sehnte, die die Kirche zum Bekennen zwingen – geradezu eine Art syllogismus practicus für die Echtheit der Kirche. Niesel übte dann aber scharfe Kritik am ÖRK, dem es nicht gegeben war, ein klares Wort des christlichen Bekenntnisses zu sprechen. So sieht es Niesel kurz nach Uppsala, wo deutlich bekannt worden war, dass es nicht allein um die Einheit der Kirche, sondern um die ganze Menschheit ginge. Aber Uppsala, so der Einwand des RWB-Präsidenten, habe das Gefallen-Sein der Welt nicht beachtet, es sei bloß um die Umgestaltung der Welt gegangen. »Die von uns so beklagte, bis vor wenigen Jahren im Schwange stehende Parole ›Ohne mich‹ ist erledigt. Leidenschaftlich ist unsere Jugend an allen Fragen des öffentlichen Lebens beteiligt. Sie fragt nach geistigen Werten, nach Gerechtigkeit und Frieden. Dennoch darf die Kirche sich nicht einfach auf ihre Seite schlagen. Nicht, dass wir Älteren von uns aus alles besser wüssten. Aber uns ist eine Botschaft aufgetragen, die jedermann, auch die Jugend zur Besinnung und Umkehr ruft. Die Ausrichtung dieser Botschaft setzt voraus, dass wir die Jugend ganz ernst nehmen; sonst würden wir an ihr vorbeireden. Die Welt rückt uns in Westdeutschland auch in hässlicher Weise auf den Leib. Auch da können wir nicht so tun, als ginge uns das nichts an. Ich denke an die NPD und ihre abgestandenen Ratschläge und, was noch schlimmer ist, die nicht wenigen Deutschen, die geneigt sind, ihnen zu folgen.47 Der unter uns aufgekommene Nationalismus hat uns und viele Völker schon einmal ins Unglück gestürzt. Da gilt es, den neuen Anfängen zu wehren.« Hier sei die besondere Aufgabe der reformierten Gemeinde zu handeln »wenn andere zaudern, damit dieser Ungeist nicht erneut unser Volk 45

Wilhelm Niesel, Der Dienst des Reformierten Bundes in einer gefährdeten Welt, in: RKZ 109 (1968), S. 238–243.256–257. 46 A.a.O., S. 238. 47 Die NPD hatte in einigen Bundesländern derartige Wahlerfolge erzielt, dass sie bei der Bundesversammlung am 5. März 1969 beinahe das Zünglein an der Waage dargestellt hätte. Es wäre für die internationale Reputation der BRD katastrophal gewesen, wenn der CDU-Kandidat Gerhard Schröder mit den 22 NPD-Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt worden wäre. Im dritten Wahlgang, in dem nur noch die relative Mehrheit erforderlich ist, setzte sich Niesels Weggefährte Gustav Heinemann dank liberaler Unterstützung mit 512 zu 506 Stimmen durch; vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II: Deutsche Geschichte 1933–1990, München 2000, S. 269.

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umnebele und verderbe«. Die Reformierten sollten »sich entschlossen hinter den Rat der EKD stellen, weil er sich laufend zu Nöten des öffentlichen Lebens geäußert hat … Wir sollten … unsere Dankbarkeit bekunden, dass er mit diesem Dienst auf der Linie der Bekennenden Kirche geblieben ist«.48 Kirchenpolitik und Gemeindeleitung hatte sich zu orientieren an dem, was man gemeinhin als »Erbe der Bekennenden Kirche« zu nennen pflegt. Dabei fiel den Protagonisten gar nicht auf, dass erstens Form und Inhalt dieses Erbes umstritten waren und zweitens, ob es tatsächlich unter veränderten Rahmenbedingungen einfach anwendbar blieb. In jedem Fall war man bemüht, die Hauptversammlung 1968 zu einer Reform-Hauptversammlung zu machen. In einer kurzen Retrospektive in der RKZ zu Beginn des Jahres 1969 wurde neben den Forderungen nach einem theologischen Gespräch mit Rom und den katholischen Gemeinden (Vaticanum II), nach voller Abendmahlsgemeinschaft und nach einer tatsächlichen Reform der EKD, nach der »Lösung der Frauenfrage in der Kirche« eben auch die Forderung wiedergegeben, »[d]er Reformierte Bund solle endlich innerhalb seines eigenen Bereiches mehr Raum für den echten Dialog schaffen, der wiederum Information voraussetzt. Den Mitgliedern des Bundes solle mehr Gelegenheit gegeben werden, an den Stellungnahmen und Äußerungen des Bundes verantwortlich mitzuarbeiten.« Als Kritik am Führungsstil der Alten mussten folgende Fragen verstanden werden: »Bedeutet Opposition bereits eine Krise der Brüderlichkeit? ... Wie steht es mit Recht und Unrecht der Autorität?«49 Den drohenden Reformstau hoffte man durch den personellen Wechsel im Moderamen entgehen zu können: »Die erheblichen personellen Veränderungen, denen das Moderamen in jüngster Zeit unterworfen war, sind sicherlich ein Ausdruck dessen, dass der Reformierte Bund seine Arbeit den jeweiligen Verhältnissen anpassen muß, sie zeigen aber ebenso, dass neue Impulse kritisch überprüft werden müssen.«50 Seit 1968 war mit Hannelore Erhart-Jahr zum ersten Mal eine Frau im Moderamen des Reformierten Bundes vertreten. Den Konservativen gingen gerade die personellen Anpassungen zu weit. Heinrich Jochums, evangelikal-evangelistischer Publizist und Funktionär, zeigte sich »stark bedrückt über eine ungute Entwicklung in unserem Moderamen«: »Eine Reihe der Herren und Damen, die in den letzten Jahren neu ins Moderamen gekommen sind, bewegen sich doch weithin auf einer anderen 48 49

Niesel, Der Dienst des Reformierten Bundes in einer gefährdeten Welt, a.a.O., S. 240f. n.n. (vermutlich Karl Halaski), Das Gespräch bei der Hauptversammlung, in: RKZ 110 (1969), S. 14. – Laut einer VELKD-Mitgliederbefragung votierten 30 % für den Abbau überflüssiger Autoritäten, vgl. Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 547. 50 n.n. (vermutlich Karl Halaski), Der Reformierte Bund und seine Hauptversammlung, in: RKZ 110 (1969), S. 22.

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Linie wie wir alten … Müßten wir nicht in Zukunft bei der Zuwahl zum Moderamen noch viel vorsichtiger sein? … Ich denke ja mit ganz großer Sorge an den Tag, wo Du einmal aus der Arbeit des Moderamens ausscheiden wirst. Ich habe Angst, dass dann der Kurs ein ganz anderer sein wird, da die Freunde, die mit uns einig sind, dann vielleicht sehr leicht von anderen Kräften überspielt werden.«51 Aber so rasch glitt den Alten die Macht nicht aus den Händen. Den aus dem Jahr 1968 überkommenen Vorwurf der mangelnden Information der Gemeinden und der Bundesmitglieder wies der Moderator Niesel zurück. Recht aggressiv entgegnete er im folgenden Jahr: »Eine der neuesten Forderungen ist Information. An ihr habe es bisher in den Gemeinden gefehlt. Sie müsse aber geschehen, wenn diese zu einem verantwortlichen Handeln kommen sollten. Auch in dieser Hinsicht kann man sich nur verwundern. Wie berühmt waren einst Martin Niemöllers offene Abende in Dahlem, auf denen er die Gemeinde über die aktuellen Geschehnisse unterrichtete! In wie zahllosen Gemeinden wurde in Bekenntnisstunden solche Information getrieben! Aber man wird sagen: Das ist lange her! Nun, ich habe nach dem Kriege bis zum vorigen Jahre solche Information im Männerkreis meiner Gemeinde Schöller gegeben, und zwar nicht nur im Sinne einer Faktenmitteilung, sondern einer Durchdringung und Erhellung von Tatbeständen und Strukturen. Ich kenne nicht wenige Gemeinden, wo es ebenso gehalten wird. Man fragt sich, wo die Brüder, die nach notwendiger Information rufen, eigentlich gelebt haben. Etwa ganz am Leben der konkreten Gemeinde vorbei?« Eine weitere Forderung der Jungen wies Niesel ebenfalls zurück: »Der christliche Glaube müsse nicht außerhalb, sondern in den Gegebenheiten unserer Welt eingelöst werden. Wiederum schüttele ich mein Haupt und wundere mich über einen solchen Aufruf. Ich habe in einer Zeit studiert, als das Wort Revolution noch nachwirkte, das Hermann Kutter einem auf die bloße Seelenrettung bedachten Christentum entgegengeschleudert hatte. Von der Botschaft der beiden Blumhardt gar nicht zu reden! Damals bezeugte Karl Barth in seiner Weise die allumfassende Gewalt des biblischen Wortes. In einer Sternstunde der Kirche verdichtete sich diese Einsicht zu der Aussage, dass Jesus Christus ›Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben‹ sei und es keinen Lebensbereich gebe, der nicht der Heiligung durch ihn bedürfe [Barmen II]… Ist das alles in unseren Gemeinden vergessen? Das wäre doch ein weltfremdes oder richtiger: gemeindefremdes Urteil!«52 Niesel erinnert an schlagende Predigten im »Dritten Reich«. »Man sage nicht: 51

Brief Heinrich Jochums an Wilhelm Niesel, 31. März 1969, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 35 [14.4]. 52 Wilhelm Niesel, Worüber man sich wundern muß, in: RKZ 110 (1969), S. 138f., hier: S. 138.

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vergangene Zeiten! Sollten unsere jungen Brüder nie persönlich etwas davon miterlebt haben, dass bis vor kurzem von nicht wenigen Kanzeln ständig die Atombomben fielen, wie man sagte, d.h. die atomare Aufrüstung vom Worte her angegriffen wurde?« Nach der rhetorischen Frage, ob denn die jungen »Brüder behaupten [wollen], der christliche Glaube habe es nur mit den Gegebenheiten dieser unserer Welt zu tun und greife über diese nicht hinaus«, konkretisiert Niesel diesen Vorwurf an der praktischen Aufgabenstellung der Gottesdienstgestaltung: »Meinen sie, dass es sich im Gottesdienst nur um die Erörterung gesellschaftlicher Probleme und um die Proklamation anderer Strukturen handle?«53 Auch in den Kirchen, auch bei den Reformierten trifft zu, was allgemein aus dieser Zeit zu berichten ist, nämlich »von der gereizten Spannung, dem fiebrigen, auf Veränderung drängenden Meinungsklima, das damals alle Handelnden empfanden.«54 Man ist geneigt, auch Niesel zu subsumieren unter die »Politiker und weite Teile der Öffentlichkeit, die verständnislos, nicht selten geradezu beleidigt auf die vielfach gewiß provozierend vorgetragene Kritik reagierten.«55 Man konnte freilich auch gelassener als Niesel auf die Forderungen nach mehr Partizipation reagieren, etwa wie es die nordwestdeutsche Kirchenleitung tat, die im Oktober 1970 mit der Herausgabe einer Heftreihe unter dem bezeichnenden Titel »Information – Diskussion« begann.56 Zu einer gewissen milden Altersweisheit gegenüber den »68ern« fand Niesel dann eine Dekade später 1978 bei seiner japanischen Vorlesung, als er schon jahrelang keine kirchliche »Macht« mehr innehatte: »War die Studentenrevolte, die Ende der sechziger Jahre losbrach und immer noch nachklingt, wenigstens unter unserer christlichen Jugend ein solcher Ungehorsam gegenüber dem älteren Geschlecht, wie er nach Jesu Worten [Mk 10,29] notwendig werden kann? Die Jüngeren unter uns werden geneigt sein, diese Frage zu bejahen, die Älteren werden sie abwehren mit der Bemerkung: Diese Bewegung war eine Ausgeburt unserer Zeit. Aber sollten wir nicht sorgfältiger darüber nachdenken? Wie notwendig das ist, sollten wir angesichts des Terrorismus merken, der uns heute [1978] mit Angst erfüllt. Eine seiner Wurzeln hat er zweifellos an dieser Stelle. Sind wir Älteren etwa mit dem jüngeren Geschlecht unrecht umgegangen? Haben 53 54 55 56

A.a.O., S. 139. So Elisabeth Noelle-Neumann, zit. nach Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 546. Paul, Die 68er Bewegung, a.a.O., S. 175. Bis zum August 1986 erschienen 16 Hefte mit durchaus beachtlichen Beiträgen von hoher Aktualität und Brisanz. – Die Stichworte »Diskussion« und »Information« waren geradezu Gemeingut: Neben dem Krisenbewusstsein sei in den Kirchen bemerkenswert gewesen »die insgesamt optimistische Überzeugung, mit den anstehenden Problemen durch ›Diskussion‹ und einen offenen Dialog, durch die Realisierung von Transparenz, rationaler Argumentation sowie die Mitteilung von mehr und besseren Informationen fertig werden zu können.« Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 544.

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wir die Fragen der Jungen nach einer menschlicheren Gesellschaft unwirsch abgewiesen, anstatt mit ihnen darüber zu sprechen? Haben wir sie trotz der Warnung des Apostels ›zum Zorn‹ gereizt [Kol 3,21], anstatt sie aufzuziehen in der ›Ermahnung zum Herrn‹ [Eph 6,4], ihnen und uns also zu verdeutlichen, was die Botschaft von diesem Herrn für die Aufrichtung der Gerechtigkeit in unserer Welt besagt? Mit anderen Worten: Haben wir den Jüngeren gegenüber einfach auf unserer Autorität und auf der Erhaltung der uns gewohnten Verhältnisse bestanden, ohne zu bedenken, dass diese immer wieder der Erneuerung bedürfen? Haben wir beherzigt, dass es eine absolute menschliche Autorität nicht gibt und darum auch nicht in Anspruch genommen werden darf?«57 Wenn Niesel auch sonst als kompromissloser Kirchenpolitiker beschrieben werden muss: Hier zeigt er eine erstaunlich selbstkritische Lernbereitschaft – freilich nach dem Ausscheiden aus der aktiven Kirchenpolitik. Das Stichwort bei vielen Diskussionen war »Demokratie«. Auch nach 20 Jahren Bundesrepublik Deutschland weckte dieser Begriff binnenkirchlich zumindest ambivalente Gefühle58 – und es sollte dann noch bis 1985 dauern, bis die EKD endlich ein grundlegendes ›Bekenntnis‹ zur demokratischen Staatsform ablegte.59 Die damalige Forderung nach Demokratie fungierte als Kritik an die innenpolitische Situation,60 während das Schlagwort »Frieden« mehr als Kritik an die außenpolitischen Zustände zu verstehen war. Nach einigen Kolumnen und Nachrichten, auch über die Tätigkeit der APO, entstand in der RKZ eine LeserbriefDiskussion über »Demokratie in der Kirche«.61 Mehr Demokratie sollte auch in der Kirche gewagt werden. So wurde etwa das kirchliche Arbeitsrecht in Frage gestellt und eine betriebliche Mitbestimmung in der Kirche gefordert, von den Funktionären aber mit der Begründung abge57

Wilhelm Niesel, Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre, Konstanz 1983, S. 169f. (im Zusammenhang der Auslegung des 5. Gebots). Kritischere Bemerkungen zu »1968« fanden sich dagegen noch in dem bereits 1974 abgeschlossenen Werk ders., Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945 (AGK E 11), Göttingen 1978, S. 312–316. 58 »Für den deutschen Protestantismus ist das Politische der wunde Punkt insbesondere dann, wenn es das Demokratische ist, und das nicht erst seit heute.« Jürgen Moltmann, Theologische Kritik der politischen Religion, in: Johann B. Metz / Jürgen Moltmann / Willi Oelmüller, Kirche im Prozeß der Aufklärung. Aspekte einer neuen »politischen Theologie« (Gesellschaft und Theologie, Systematische Beiträge 1), München/Mainz 1970, S. 11–51, hier: S. 12. 59 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Öffentliche Verantwortung, hg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1985. 60 Die Sozialdemokraten etwa waren seinerzeit zerrissen zwischen dem Brandtschen Wahlkampfmotto »Mehr Demokratie wagen« und dem von ihnen mitgetragenen »Radikalenerlaß« (Januar 1972). 61 Ab RKZ 110 (1969), S. 216.

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lehnt, dass Kirche eine Größe sui generis sei. Ähnlichen Motiven entsprang wohl der Versuch, innerhalb der ÖTV eine Fachgewerkschaft für Theologen zu gründen. Besonders virulent waren neue theologische Gedanken junger Theologen offensichtlich in der nordwestdeutschen Landeskirche, wo auch die Kirchenleitung Interesse an Neuerungen zeigte.62 In Lippe scheinen eher die bewahrenden Kräfte bestimmend gewesen zu sein. Kirchliche Strukturen änderten sich so rasch nicht und ließen sich auch nicht eben »erobern« – der Marsch durch die Institution Kirche verlangte von den 68ern durchaus einen langen Atem. Rascher konnte man dagegen in der so genannten kirchlichen Öffentlichkeit Einfluss gewinnen, da jüngere Journalisten und Journalistinnen den neuen Ideen eher offen und interessiert gegenüber standen oder gar selbst an diesen Neuerungen partizipierten. Auch weniger institutionell aufgestellte Organisationen wie der vereinsrechtlich organisierte Reformierte Bund boten den Vertretern – und wenigen Vertreterinnen – der 68er schneller als manche behäbige Landeskirche ein Podium. »1968« erinnerte Niesel – und gewiss nicht allein ihn – an früher Erlebtes: »Wir leben wieder in einer Zeit, in der alles in Frage gestellt wird.«63 Ist mit dem »wieder« die Krisis nach 1918 gemeint oder der beginnende Kirchenkampf 1933? Die stark gestiegenen Kirchenaustritte Ende der 60er Jahre64 ließen Niesel an die kirchenkritischen Tendenzen nach 1918 denken. War es deshalb nicht Aufgabe, gegen die »Welt« und den Zeitgeist treu bei der »Sache«, dem Bekennen des Evangeliums zu bleiben? Mit 1968 verbanden sich für Niesel aber gewiss auch erste Gedanken an seinen möglichen Abgang von der kirchenpolitischen Bühne, zumal seine theologische Vaterfigur verstarb: »Während der [Moderamens-]Sitzung trifft die Nachricht vom Heimgang unseres verehrten Lehrers Professor D. Dr. Karl Barth ein, der in unserem Tagungshaus [sc. Basler Hof, Frankfurt] die Theologische Erklärung von Barmen verfasst hat. Das Moderamen ist tief bewegt. Der Moderator gedenkt des Heimgegangenen in herzlicher Dankbarkeit.«65 Das Ende einer theologiegeschichtlichen Epoche, mit der die Reformierten besonders verbunden 62

Johannes Göhler, Der Landeskirchentag der ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland in Leer, in: RKZ 110 (1969), S. 58. 63 So Wilhelm Niesel in einem kurzen Nekrolog für Karl Barth in RKZ 110 (1969), S. 3. 64 Vgl. Greschat, Protestantismus, a.a.O., S. 547: mehr als 60.000 in 1968, 112.000 in 1969 und etwa 203.000 in 1970. 65 Protokoll der Moderamenssitzung 9.–10. Dezember 1968, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 65. Welchen Rang Barth bei den Reformierten hatte, erhellt aus einer RKZ-Notiz zu Barths 80. Geburtstag, dass Barth nämlich »nicht nur Theologe und Historiker ist, sondern auch in die Geschichte der Menschheit eingriff.« RKZ 107 (1966), S. 20. – Mit dem überraschenden Tod von Otto Weber 1966 war der Barthianismus in Deutschland ohnehin schon geschwächt.

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waren, war eindeutig markiert. Bevorstehende Paradigmenwechsel können aber Ängste bei jenen auslösen, die die Meinungsautoritäten repräsentieren. Treffend für die Reformierten weltweit und in Deutschland fasste der RWB-Generalsekretär Marcel Pradervand zusammen: »Das Jahr 1968 wird in der ganzen Welt in erster Linie als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem Autorität in Frage gestellt wurde: die Studentenunruhen im Osten und Westen, Norden und Süden; der Protest der vielen jungen Menschen, unzufrieden mit der Wohlstandsgesellschaft, in der sie leben, die nach einer Gesellschaft suchen, in der das Leben wirklich einen Sinn hat. Viele verwerfen die heutige Gesellschaft vollkommen. Auch die Kirche mit ihren veralteten Strukturen lehnen sie ab. Wir verstehen diese Einstellung, und doch sind wir davon überzeugt, dass Kritik allein nicht genügt. Glücklicherweise verstehen es viele junge Leute für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen, aber es gibt zu viele, die sich nur mit Protest zufrieden geben und die glauben, dass Anarchie eine Lösung ist. Als Christen können wir nur betonen, dass ein lebendiger Glaube … die einzige Basis für eine bessere Gesellschaft ist. Sonst fällt man schnell in vage humanitäre Bestrebungen, unfähig, die großen Probleme zu lösen.«66 4. Wirkungen von »1968« bei den Reformierten in den 70ern und 80ern Es war klar, dass ältere Funktionäre, insofern sie nicht von Anfang an und prinzipiell abwehrend gegen die Impulse und Forderungen der »Jungen« waren, zunächst jedenfalls verstehen und vermitteln wollten, auch um die jüngeren Theologen zu integrieren. Zu diesen gehörten Niesel oder Halaski. Aber auch sie wurden zunehmend skeptisch: »Überblickt man die Tendenzen, die heute von Pastoren und fortschrittlichen Kirchenleuten vertreten werden, so scheint es, heute sei es ganz selbstverständlich, dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei. Christlich leben und handeln heißt dann, links zu sein … Mir ist es zu simpel, wenn wir heute den guten Christen links suchen, wie man ihn früher nur rechts vermutete.«67 Und doch wurden die neuen, »linken« Themen auch von den Reformierten aufgenommen. Die Theologische Tagung des Reformierten Bundes im Februar 1970 stand unter dem Thema »Theologie und Soziologie«,68 an der federführend Hans-Georg Geyer 66 67 68

Ein kleiner Teil des Tätigkeitsberichts ist wiedergegeben in RKZ 110 (1969), S. 41. Karl Halaski, Links oder rechts christlich, in: RKZ 111 (1970), S. 85. Neben mehreren Beiträgen in der RKZ vor allem Hans-Georg Geyer, Einige Materialien und Überlegungen zum Thema »Theologie und Soziologie«, in: RKZ 111 (1970), S. 195–202.210–214.223–226. – Vgl. Niels Beckenbach, Bildungsmisere und Gesellschaftskritik. Die »Leitwissenschaft« Soziologie und die 1968er-Revolte, in: Folkert

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und Walter Schmithals beteiligt waren. Das war paritätisch gemeint: ein Progressiver und jemand, der das Neue kritisch hinterfragte. Die Soziologie hatte sich in den 60er Jahren immer stärker an den deutschen Hochschulen als kritische Wissenschaft etabliert; insofern war diese Themenwahl modern und gewagt. Ein anderes Schlagwort, nämlich »Freiheit«, nahm Hans-Joachim Kraus’ Referat auf dem Landeskirchentag der nordwestdeutschen Reformierten im Februar 1970 auf.69 Er erinnerte daran, dass die Kirchen die geäußerte Kritik wahrzunehmen haben, zumal gerade im 20. Jahrhundert zahlreiche Umbrüche die Kirchen auch positiv verändert hätten. Es hülfe daher auch jetzt nichts, auf ein fundamentalistisch verstandenes »Wort Gottes« und auf einen an den tradierten Bekenntnisschriften orientierten Dogmatismus zu beharren. Die »gesellschaftspolitische Bewegung« sei eben auch ein »reinigender Sturm«. »Es ist alles offen. Darum wird gerade in unseren Tagen eindeutig und klar für die Freiheit der Kirche zu plädieren sein. Weil Kirche im weiten Freiheitsraum des Reiches Gottes unterwegs ist, darum ist in der Sache, die uns heute bedrängt, keine Enge, keine Grenzziehung am Platz … Zuerst wird mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen sein, dass das Gespräch mit den radikal gesellschaftlich engagierten Theologiestudenten so früh wie möglich geführt werden muß … Die Kirche ist in den gesellschaftspolitischen Fragen zu viel schuldig geblieben; sie kann sich ungeduldige und zuvor fixierte Abgrenzungen nicht mehr leisten.«70 Allerdings gehöre es ebenso zur Freiheit der Kirche, auch den Kritischen entgegen zu treten, wenn sie die Kirche für »dem Glauben feindliche[.], den Glauben unterminierende[.] Aktionen« missbrauchen wollen.71 Trotz der Schlussmahnung war klar, wo sich »Johnny« Kraus positionieren wollte. Die Hauptversammlung 1970 (22.–25. Oktober) in Elberfeld beschloss die neue Ordnung des Reformierten Bundes: »Sie ist nach der Überzeugung des Moderamens fällig, freilich und gerade nicht darum, weil wir dem Schrei unserer Zeit nach anderen Strukturen nachkommen wollen. Uns interessiert vorweg die Sache, derentwegen wir Reformierter Bund sind. Doch manches an unserer Ordnung ist überlebt, anderes

Rickers / Bernd Schröder (Hg.), 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 56–71. 69 Hans-Joachim Kraus, Freiheit in der Kirche. Referat gehalten am 17. Februar 1970 auf dem Landeskirchentag in Bremerhaven, in: RKZ 111 (1970), S. 260–262.272–275. 70 A.a.O., S. 274. (»Es wird vorgeschlagen, dass das Moderamen auf seinen Sitzungen mit den Studenten bzw. Kandidaten der Theologie in einem der Häuser des Bundes das Gespräch sucht.« Protokoll der Moderamenssitzung 14.–15. Dezember 1970, in: LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 87). 71 A.a.O., S. 275.

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muß besser auf unseren Dienst heute bezogen werden.«72 Hier sprachen wieder eher defensiv die erprobten Funktionäre und die Mehrheit, nicht jedoch benevolente Beobachter der »68er«, wie es etwa Hans-Joachim Kraus war. Mit Hans Helmut Eßer wurde 1973 eher ein Niesel-Epigone als ein selbstständig neuer Mann reformierter Moderator.73 Der Mann, der eigentlich hätte nachfolgen müssen, kam dann erst mit einer Legislaturperiode Verspätung: Im Jahr 1982 wurde Hans-Joachim Kraus auf der Hauptversammlung in Aurich (22.–24. April) zum Moderator gewählt, aber vielleicht prägte er schon vorher die Reformierten mehr als der Moderator Eßer. Der Weg der Reformierten in Deutschland war in den 70er Jahren vor allem von (theo-)politischen Themen geprägt: von der weltweiten Diskussion um die Menschenrechte (Jürgen Moltmann u.a.)74 und dem Streit um die Apartheid75 über die Frage nach der Legitimität der Androhung des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln, der Nachrüstungsdebatte und der Erklärung des status confessionis anfangs 80er Jahre in der »Friedensfrage« (Rolf Wischnath u.a.)76 zum Verhältnis von 72

Wilhelm Niesel, Der Dienst des Reformierten Bundes in den beiden letzten Jahren, in: RKZ 111 (1970), S. 230–232. 73 Vgl. Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, hg. von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 58–62 (Wiederabdruck in diesem Band). Eßer verstarb hoch betagt im Januar 2011. 74 Vgl. Jürgen Moltmann, Der Beitrag der reformierten Kirchen zur Menschenrechtsdiskussion, in: Die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart, bearb. von Elwin Lomberg u.a., Weener 1982, S. 426– 434. Im Jahr 1976 veröffentlichte der Reformierte Weltbund »Die theologische Basis der Menschenrechte«. Vgl. Jan Milič Lochman / Jürgen Moltmann, Gottes Recht und die Menschenrechte, Neukirchen 1976. 75 Vgl. Heinz Hermann Nordholt (Hg.), Apartheid und Reformierte Kirche. Dokumente eines Konflikts, im Auftrag des Reformierten Bundes zusammengestellt, NeukirchenVluyn 1983; ders., Die Südafrikabeziehungen des Reformierten Bundes, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 155– 159; Johannes de Vries, Die Reformierten in Deutschland auf dem Weg nach Ottawa 1982, in: Hanns Lessing u.a. (Hg.), Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen dem südlichen Afrika und Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 26), Wiesbaden 2015, S. 470– 484; Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970–1990 (Geschichte und Religion in der Neuzeit 6), Göttingen 2015. 76 Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Eine Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes, Gütersloh 1982; vgl. Rolf Wischnath (Hg.), Frieden als Bekenntnisfrage. Zur Auseinandersetzung um die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche«, Gütersloh 1984; ders., Bekennen in der Friedensfrage. Eine Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung 1982, in: Maren Bienert u.a. (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Stuien zu ihrer Entste-

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Kirche und Israel in den 80er Jahren (Hans-Joachim Kraus u.a.). Die Ökologiedebatte, die theologisch ja vor allem über den 1. Glaubensartikel hätte geführt werden müssen, fand wohl aus theologischen Gründen nicht so viel Resonanz bei den eher christozentrisch ausgerichteten Reformierten,77 wenngleich etwa ein Mann wie Günter Altner in den reformierten Kontexten engagiert war. Auch wenn diese Themen gleichzeitig in den reformierten Landeskirchen diskutiert wurden, so war doch der Reformierte Bund – als eine Mitglieder-bestimmte Organisation nicht so struktur-konservativ, wie es Landeskirchen nun einmal institutionenlogisch sind – ein Forum für die unterdes in den Landeskirchen engagierten »68er«. Der Reformierte Bund reformierte sich zu einer wichtigen Plattform politisch progressiver Theologen. Aber auch der auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung 1982 gewählte Moderator Kraus78 blieb wie sein Vorgänger Eßer nur eine Periode bis 1990, als sich auf der Hauptversammlung in Siegen Peter Bukowski gegen Rolf Wischnath durchsetzen konnte – zwei Männer mit linker Biographie. Dieser stand für die politisch-theologische Gruppe um die Friedenserklärung von 1982, jener für die theologisch-politische Gruppe des christlich-jüdischen Dialogs. Dieser wurde in einer rasanten Karriere noch Generalsuperintendent von Cottbus und scheiterte aus einer Melange aus persönlichen und politischen Gründen, jener prägte als Repräsentant der Reformierten das Bild dieser Konfession um die Jahrtausendwende mindestens genauso wie Wilhelm Niesel im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts.79 hung und Geltung (reformiert! 2), Zürich 2017, S. 221–236. Vgl. auch den Aufsatz Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 in diesem Band. 77 Zum Weg der Reformierten in den 70er und 80er Jahren vgl. auch die Autobiographie des damaligen Generalsekretärs Guhrt, Geschichten und Geschichte, a.a.O., S. 144–188. 78 Vgl. auch Hannelore Erhart, Johnny in der »Viererbande«, in: »Er ist unser Friede«. Festgabe zum 80. Geburtstag von Hans-Joachim Kraus am 17. Dezember 1998, hg. im Auftrag des Moderamens des Reformierten Bundes von Peter Bukowski u.a., Wuppertal 1998, S. 37–42; Manfred Josuttis, Zwischen Fußball und Politik. Erinnerungen an die Göttinger Anfangsjahre, in: a.a.O., S. 75–79. Vgl. auch Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski, a.a.O., S. 63–70. 79 In der Erstfassung dieses Beitrages hatte ich behauptet: »Eine Führungsgestalt wie Wilhelm Niesel erwuchs den Reformierten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Vielleicht ist einerseits eine solche Führung aber auch anachronistisch, andererseits aber in der medial vermittelten Wirklichkeit spätestens seit dem Jahrhundertwechsel wieder von einigem Belang.« Heute sehe ich dies differenzierter. Über Peter Bukowski (geb. 1950), der von 1990 bis 2015 Moderator des Reformierten Bundes, innerhalb der EKD weithin anerkannter Kirchenpolitiker war und auf Weltebene als engagierter Vertreter des deutschen und mitteleuropäischen Reformiertentums fungierte, werden nachfolgende Historikergenerationen zu schreiben haben.

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Die politischen Debatten der beiden zurückliegenden Dekaden hatten offenkundig bewirkt, dass konservative Reformierte überwiegend aus den Zusammenhängen des Reformierten Bundes ausschieden und auch in der reformierten Öffentlichkeit marginalisiert wurden. Anfangs der 90er Jahre kam es zu einem schmerzlichen Bruch im main-stream der Reformierten, als nämlich zwei eher links orientierte Gruppen ihre funktionale Kooperation auflösten: Während die Vertreter der christlich-jüdischen Lobby-Gruppe einen Vergeltungsschlag auf den Irak nicht ausschlossen, der Israel mit Raketen beschossen hatte, versuchten die Interessenswahrer der Friedenserklärung von 1982 am prinzipiellen Nein zu kriegerischen Handlungen festzuhalten, auch wenn man 1982 keinen prinzipiellen Pazifismus postuliert hatte. Den Stasi-Fall von Horsta Krum hätte man zum Anlass nehmen können, sich den SozialismusAffinitäten im Reformiertentum kritisch zu stellen. Neben der internen Bewältigung des Erschreckens war man aber nicht zuletzt mit der Abwehr externer Vorwürfe beschäftigt, die aus dem politisch bürgerlichen Lager und aus evangelikalen Kreisen kamen. 5. Resümee und Fragen: Schuld politischer Fehler? Selbst wenn es unter den Reformierten keine Protagonisten der 68er gegeben haben mag, so markiert das Jahr 1968 mit seinen Auf- und Umbrüchen doch eine Zäsur auch innerhalb dieser Konfession. Mit wachsendem Abstand sind die Kontinuitäten und der längerwierige Wechsel deutlicher wahrzunehmen. Wolf-Dieter Hauschild hat dafür den Terminus der »Inkubationszeit«80 verwendet: Etwas bereits Präsentes entfaltet erst zeitverzögert seine volle Wirkung. Die Reformierten in Deutschland unter der Ägide Wilhelm Niesels, Mitte der 60er Jahre auf dem Gipfel seiner kirchenpolitischen Karriere, dann aber spätestens mit dem Ende dieses Jahrzehnts mit seinem Abschied beschäftigt, hatten sicherlich einerseits Sympathien für die engagierten und politischen jungen Leute. Dass aus Überzeugungen politische Konsequenzen zu ziehen sind, war den im Kirchenkampf bekennenden Reformierten sehr nahe. Widerstand zu leisten aus Gesinnungsgründen wurde als hehres Motiv anerkannt. Als aber deutlicher wurde, dass diese engagierten Jungen für ihre Anschauungen auch anderen, kirchenfremden »Gestalten und Wahrheiten« folgten – nicht zuletzt einer marxistischen Geschichtsund Gesellschaftsinterpretation –, und dass diese durch ihre Kritik auch Spaltungen billigend in Kauf nahmen, fühlten sich die Alten andererseits an ihre Kirchenkampf-Gegner erinnert. Man wagte sich dann bestenfalls an einige Reformen. Hilflos wirkte der Versuch der Alten, »alte« 80

Vgl. Hauschild, Kontinuität im Wandel, a.a.O., passim.

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Theologie repristinieren zu wollen – hilflos, weil die menschlichen Formulierungen von theologischen Wahrheiten nicht überzeitlich sind: So wirken dieselben Worte in einer freiheitlichen, pluralen Demokratie 1968 eben anders als in einem totalitär werdenden System 1934. Deshalb mussten also auch bei den Reformierten andere Personen mit anderen Positionen und Perspektiven die Führung übernehmen, um wieder den Anschluss an den gesellschaftlichen Diskurs zu schaffen. Der bereits in den 50er Jahren virulente Generationenkonflikt wurde erst anderthalb Dekaden später gelöst. »1968« war bei den Reformierten kein Generationenkonflikt, war aber in einen langwierigen Generationenkonflikt eingebettet. Nicht das »Politische« unterschied die Reformierten von vor und nach »1968« und dann vollends seit 1973, sondern dass es mit »1968« akzeptiert war, »links« zu sein. Die kirchlichen Proteste gegen die »Wiederaufrüstung« zu Beginn der 50er Jahre und diejenigen gegen den »Atomtod« in der zweiten Hälfte der 50er Jahre waren nicht notwendig eine »links« begründete oder konnotierte politische Option. Man wird die Frage stellen können, ob in allen Diskussionen nach »1968« der von früher gewohnte theologische Primat weiterhin Bestand hatte oder ob nicht primär politisch gedacht wurde. War dem immer behaupteten Bekenntnis zum Herrn der Kirche nicht gelegentlich der Protest gegen die herrschenden Zustände vorgeordnet? Zu fragen bleibt, wann etwa die vor 1968 nicht öffentlich mögliche Sozialismus-Affinität Johnny Kraus’ und anderer benannt und hinterfragt werden kann. Nicht »linke« Gesinnung und Positionierung waren und sind verwerflich, vielleicht nicht einmal vorübergehende Sympathien für den im Nachhinein als verbrecherisch einzuschätzenden Staatssozialismus. Unzureichend war nach 1989 der Mut, die eigenen politischen Fehler zu benennen. Und es wurden im Ost-West-Konflikt Fehler gemacht, vor allem in der Wahrnehmung dessen, was hinter dem »Eisernen Vorhang« geschah: »Der Sozialismus wurde … bei manchen reformierten Kirchen und reformierten Christen in Westeuropa weicher gezeichnet, als er eigentlich war. Die konkreten Repressalien und Einschränkungen, unter denen die Christen in Osteuropa zu leiden hatten, gerieten aus dem Blick.«81 Zu mindestens von meinungsbildenden Kirchenpolitikern und Theologen wie Hans-Joachim Kraus und Walter Kreck hätte man ein sachliches, in der Öffentlichkeit ausgesprochenes Wort erwarten dürfen. Nur unzureichend dokumentiert ist das teils 81 Katharina Kunter, Reformierte Kirchen und die Ost-West-Beziehungen im 20. Jahrhundert, in: Matthias Freudenberg / Georg Plasger (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge der 8. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 14), Neukirchen-Vluyn 2011, S. 167–178, hier: S. 173.

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skandalöse Auftreten des damaligen Moderators Hans-Joachim Kraus bei der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1988 in Nordhorn (13.–15. Oktober), als er sehr emotional die historische Rolle des Nicolae Ceauşescu würdigte, um eine Erklärung der Hauptversammlung zu verhindern, die das Terrorregime in Rumänien öffentlich anklagen wollte82 – konkreter Auslöser internationaler Proteste waren Pläne zu einer massenhaften Zwangsumsiedlung der bäuerlichen Bevölkerung. Zwei Jahre später hatte Kraus nicht die Courage, frühere Fehler einzugestehen, sondern lobte sein »Engagement« für die unterdrückten Rumänen.83 Kurz zuvor, Ende Januar 1990, hatte er sich noch Sorgen um die Zukunft des Sozialismus gemacht und darin eine kirchliche Aufgabe gesehen.84 Bei der »Aufarbeitung« von Sozialismus-Affinitäten westdeutscher Kirchenvertreter geht es nicht – oder nicht in erster Linie – um juristische Fragen, weshalb der »Freispruch« für Rolf Wischnath durch die Schmude-Kommission (s.u.) auch nicht das Ende der Diskussion sein 82 Der eingebrachte Antrag ist abgedruckt in: Die prophetische Sendung der Gemeinde. Beiträge und Berichte von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 13.–15. Oktober 1988 in Nordhorn, Bad Bentheim 1988, S. 82. Das Protokoll vermerkt nur eine »Gegenrede des Moderators, diesen Antrag nicht zu behandeln«. In der Diskussion »widerspricht [Harm Ridder] dem Moderator, dass Ceauşescu jemals eine ›Friedenstaube‹ gewesen sei. Ein rumänischer Gast sagt aus, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, auch nicht durch einen solchen [den Diktator anklagenden] Beschluß.« A.a.O., S. 88. In dem dann abgeänderten Antrag »nimmt [die Hauptversammlung] mit Betroffenheit zur Kenntnis, dass in der Volksrepublik Rumänien elementare Menschenrechte aufs Gröbste missachtet werden.« Ebd. 83 Kraus sagte in seinem »Bericht des Moderamens«: »Im Gegensatz zum Weltrat der Kirchen (1989 in Moskau) verurteilte der RWB [Reformierter Weltbund] in scharfer Form die anhaltende ›Missachtung der Bürger- und Menschenrechte in Ceauşescus Staat‹«, in: Glaubwürdiges Zeugnis der Gemeinde. Beiträge und Berichte von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 10.–12. Mai 1990 in Siegen, Bad Bentheim 1990, S. 14–23, hier: S. 15. »In besonderer Weise haben wir den Leidensweg und Befreiungskampf der Schwestern und Brüder in Rumänien begleitet. Anfang Dezember [i.e. vier Wochen nach Fall der Mauer, der Vf.] hat der Moderator im Auftrag des Moderamens ein Schreiben an den rumänischen Staatspräsidenten gerichtet und ihn aufgefordert, die Hetz- und Verfolgungskampagne gegen László Tökés einzustellen.« A.a.O., S. 17. – Auf internationaler Ebene haben tatsächlich nicht zuletzt reformierte Theolog/inn/en auf die Terrorherrschaft in Rumänien hingewiesen, freilich damit nicht immer Gehör gefunden, vgl. Heinz Joachim Held, Ökumene im Kalten Krieg, in: HeinzJürgen Joppien (Hg.), Der Ökumenische Rat der Kirchen in den Konflikten des Kalten Krieges. Kontexte, Kompromisse, Konkretionen (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 70), Frankfurt a.M. 2000, S. 21–161, besonders S. 82–94: Die Debatte über Rumänien 1988/1989, S. 86–94 über die von Kraus erwähnte Sitzung des ÖRK-Zentralausschusses im Juli 1989 in Moskau. 84 Bei einem Treffen der Konvente am 31. Januar 1990 in Hagen schlug Kraus neben der Frage nach der »Wählbarkeit von Republikanern« als zweites für die kommende Arbeit wichtige Thema vor: »Was wird aus dem Sozialismus?« Kraus, Bericht des Moderamens [1990], a.a.O., S. 22.

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kann. Verantwortlich sind nicht nur diejenigen, die in direkter Weise dem Unrechtsstaat gedient oder zugespielt haben, sondern auch diejenigen, die in politischen Prozessen falsch optiert haben. Nach Michael Beintker85 gibt es drei »Ebenen« von »historischer Aufarbeitung« von Schuld: juristisch, politisch, mental. Das ist zwar gesellschaftlich gemeint, aber übertragbar auch aufs Individuum: Von West-Verstrickung in DDRUnrecht kann nicht nur gesprochen werden, wenn etwa Stasi-Mitarbeit justitiabel bewiesen werden kann, sondern auch, wenn man politische Unterstützungsarbeit für das DDR-Regime geleistet hat, wie einige im reformierten Bereich anerkannte Theologen und erst recht auf andere Art Horsta Krum und Dieter Frielinghaus86 es getan haben. Historische Aufarbeitung sei »mental« nur heilsam als »Selbstreflexion«, behauptet Beintker. Das bedeutet aber nicht, dass nur Individuen sich zur eigenen Geschichte verhalten können. Kirchenhistoriker als Teilnehmer und Akteure der Erinnerungsgemeinschaft tragen zur kollektiven »Selbstreflexion« ihren Teil bei. Deshalb muss kirchenhistorisch und binnenkonfessionell selbstkritisch gefragt werden, wie das Wirken der Stasi-Zuträgerin Horsta Krum87 eingeschätzt und erinnert werden soll. Von 1979 bis 1990 fungierte sie als Moderatorin der Westberliner Reformierten und gehörte damit zur Kirchenleitung. Sie publizierte auch während ihrer Zeit im Moderamen des Reformierten Bundes 1982 bis 1990 im Organ des DDR-System-nahen Weißenseer Arbeitskreises, »bekannte« sich zum DDR-Sozialismus und stritt wider den westlichen »Antikom85

Michael Beintker, Was leistet Aufarbeitung der Vergangenheit? Einsichten und Erfahrungen aus deutscher Sicht, in: Sándor Fazakas / Georg Plasger (Hg.), Geschichte erinnern als Auftrag der Versöhnung. Theologische Reflexionen über Schuld und Vergebung (Forschungen zur Reformierten Theologie 5), Neukirchen-Vluyn2015, S. 1–13, hier: S. 5f. 86 Dieter Frielinghaus (*1928 in Braunschweig) ging 1957 in die DDR und wurde Pfarrer der reformierten Gemeinde Dresden, von 1975 bis 1993 war er Pfarrer in Bergholz bei Potsdam. Als Moderator der reformierten Gemeinden im Ostbereich der Berlinbrandenburgischen Kirche gehörte er von 1984 bis 1990 zu deren Kirchenleitung. Er hat – wie eine kirchliche Untersuchung ergab – Anwerbeversuchen der Stasi stets widerstanden. Frielinghaus gehörte seit jungen Jahren immer wieder sozialistischen und kommunistischen Gruppen an und ist Mitglied der DKP. – N.b. ist die Regelung, mit der sowohl Krum als auch Frielinghaus in die westliche bzw. östliche Kirchenleitung einzogen, unterdes verändert worden, vgl. Arno Schilberg, Reformierte Beiträge zum Kirchenrecht. Zugleich ein Beitrag zur Stellung der Reformierten in der Ev. Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz, in: ZevKR 52 (2007), S. 30–50. 87 Wulf Röhnert, Die Westberliner Pfarrerin Horsta Krum und die Stasi: aus der Akte »IM Helena«. Auswahl aus den in Potsdam sichergestellten Stasi-Berichten, epd-Dokumentation Nr. 16/1994. Im Jahr 2010 sah Vf. diese Akte persönlich in der Stasi-Unterlagen-Behörde ein. – Uwe-Peter Heidingsfeld, Zu kirchlichen Aspekten von SIRA, in: Kirchliches Jahrbuch 126 (1999), S. 244–254, hier: S. 246, Anm. 7; vgl. fortführend ders., Die Hauptverwaltung Aufklärung MfS: Kirchlich relevante Aspekte ihrer Tätigkeit, in: Kirchliches Jahrbuch 128 (2001), S. 294–322.

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munismus«. Verdeckte Geldzahlungen aus Landeskirchen88 und dem Reformierten Bund gingen über Horsta Krum an Reformierte in der DDR – und da die Stasi davon wusste, hätte sie die Gemeinden bzw. die Pfarrer dort unter Druck setzen können. Ob und wie das passiert ist, lässt sich bislang nicht belegen, wohl aber, dass trotz der Skrupel von Krum die Stasi sie aufforderte, solche Zahlungen weiterhin vorzunehmen. Die Stasi wird dafür Gründe in ihrer eigenen Logik gehabt haben. So kamen westdeutsche Reformierte – sicher eher nolens als volens – Interessen der DDR-Staatssicherheit nach. Zeigen die Jahre nach 1968 mit der reformierten Linksorientierung grundlegende Probleme bei den Reformierten auf? Zu fragen ist, ob sich das Problem tatsächlich mit dem »68er«-Antagonisten Walter Schmithals auf diese Formel bringen lässt: »Einmal haben viele Reformierte Probleme mit der reformatorischen 2-Reiche-Lehre … Zum anderen liebäugeln manche von ihnen mit der politischen Prophetie der alttestamentlichen Propheten.«89 Und – so wird man hinzufügen können – es gab immer mehr Reformierte mit einer linken politischen Einstellung. Wo ist das Erbe der »68er« heute? Hans-Joachim Kraus ist am 14. November 2000 verstorben.90 Sein Schüler Bertold Klappert hatte mit seinen Arbeiten zu Karl Barth, der Friedensfrage und nicht zuletzt zu den Themen des christlich-jüdischen Dialogs einigen theologischen Einfluss bei den Reformierten in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Der letzte linke Protagonist Walter Kreck ist 2002 verstorben.91 Sein Schüler Rolf Wischnath (geb. 1948)92 war schon früh in 88

Für Westfalen und Lippe ist dies namentlich belegbar (mail vom Landeskirchlichen Archiv Westfalen, gez. Jens Murken, 27. März 2010; Brief vom Archiv der Lippischen Landeskirche, gez. Maja Schneider, 11. März 2010, jeweils an den Vf.), für die Evangelisch-reformierte Kirche konnte der Name von Horsta Krum nicht nachgewiesen werden (Brief des Kirchenpräsidenten Jann Schmidt an den Vf., 22. März 2010). 89 So Walter Schmithals in einem Brief an den Verfasser vom 17. Dezember 2002. – Vgl. schon Walter Schmithals, Autoritätskrise – Glaubenskrise, in: RKZ 110 (1969), S. 150– 156; ders. Veränderung oder Reformation der Kirche, in: RKZ 114 (1973), S. 218–222. 90 Vgl. Bertold Klappert, Gottes Reich – Reich der Freiheit. Hans-Joachim Kraus (1918–2000) und sein Weg zur gesamtbiblischen Theologie, in: Theologische Beiträge 33 (2002), S. 220–231. 91 Kreck verstarb 94jährig am 15. November 2002. Vgl. Wolfram Kinzig, Walter Kreck zum Gedenken, in: ThLZ 128 (2003), S. 122f.; DtPfrBl 103 (2003), S. 152; Heiner Faulenbach, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte seit 1945, Göttingen 2009, S. 453f. – Zur theologiegeschichtlichen Positionierung Krecks vgl. Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Band 3: 1945–1965, Göttingen 2009, S. 143–147. 92 Vgl. Rolf Wischnath, Zur Freiheit befreit – in der Freiheit bestehen. Zum 70. Geburtstag Walter Krecks am 7. Juni 1978, in: RKZ 119 (1978), S. 213–216. Hier werden als die großen Gefahren für die Kirche nach Kreck’scher Lesart bezeichnet: »das kapitalistische System«, bürgerlich-konservative Gesinnung und »Antikommunismus«.

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Erscheinung getreten93 – sein Weg sei kurz nachgezeichnet, weil er als besonderes Exempel, vielleicht sogar als Repräsentant schlechthin für die politische Linksorientierung der deutschen Reformierten gelten kann. Auf der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Nairobi 1970 war Wischnath deutscher Delegierter. Einen wutentbrannten Leserbrief schleuderte er gegen einen seinerseits scharfen Beitrag von Heinrich Quistorp gegen die Sozialismusaffinität Helmut Gollwitzers und Johnny Kraus’.94 Ab Mitte der 70er Jahre äußerte er sich dann häufig in der RKZ. Als Student war Wischnath Mitglied im Sozialistischen Hochschulbund, erarbeitete als Pfarrer und Religionslehrer in Soest maßgeblich die »Leitsätze« mit, die im Vorfeld der Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Solidarische Kirche Westfalen« am 9. September 1978 in Bielefeld wichtig wurden.95 Während der Hauptversammlung im Oktober 1978 in Detmold wurde Rolf Wischnath ins Moderamen gewählt.96 Später war er einer der Initiatoren der »Krefelder Initiative«. Der »Krefelder Appell« einte die westdeutsche, mutmaßlich nicht unerheblich von der DDR beeinflusste und mit finanzierte Friedensbewegung.97 Wischnath war dann auch federführend bei der Moderamenserklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« (1982). Länger als andere hat Wischnath sich für eine sozialistische Option ausgesprochen. Als etwa der Moderator Peter Bukowski auf der Detmolder Hauptversammlung 1992 (8.–10. Oktober) über die »christliche Verantwortung im Wandel zwischen Ost und West« sprach, führte er dabei selbstkritisch aus: »Meine sozialistische Perspektive einer menschlicheren Gesellschaft war darin idealistisch, dass sie mir allzu oft den Blick verstellte für das himmelschreiende Unrecht, das im Bereich des real existierenden Sozialismus geschah. Oder schlimmer noch, dass ich jenes Unrecht irgendwie erklärte, einordnete (rationalisierte) und 93

Eine Zuschrift des Obersekundaners Rolf Wischnath an den Herausgeber, in: RKZ 107 (1966), S. 68. 94 Gez. stud. theol. Rolf Wischnath, in RKZ 114 (1973), S. 252. 95 Vgl. Wolfgang Schweitzer, Dunkle Schatten – helles Licht. Rückblick auf ein schwieriges Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 271–274. 96 LKA Detmold, Depositum Ref. Bund Nr. 160 [22.39], Protokoll der Hauptversammlung 12.–14. Oktober 1978, Detmold (auch: a.a.O., Nr. 118 [21.33]). 97 Zur Beeinflussung und Finanzierung der westdeutschen Friedensbewegung durch die DDR (Staatssicherheitsdienst, KoKo und DKP) vgl. Armin Boyens, Geteilter Friede. Anmerkungen zur Friedensbewegung in den 80er Jahren, in: KZG 8 (1995), S. 440– 509, gekürzt auch in: Heiner Timmermann (Hg.), Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert – der Fall DDR (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 79), Berlin 1996, S. 421–436. – Solche Deutungen blieben nicht unwidersprochen, sondern wurden als überlebte Interpretationen aus der Zeit des Kalten Krieges bezeichnet, zudem wurde die empirische Quellenbasis bezweifelt: Holger Nehring / Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau? Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung – eine Kritik, in: VfZ 59 (2011), S. 81–100.

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»... dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«?

eben so verharmloste.«98 Für eine solche maßvolle Selbstkritik hatte Wischnath damals wenig Verständnis. Das Protokoll über die Aussprache zum Bericht des Moderators vermerkt: »Dr. Rolf Wischnath mahnte an, dass die Frage nach einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als Alternative zum kapitalistischen System auf der Tagesordnung bleiben müsse.«99 Einen Monat später gab Wischnath, offenbar vom Moderator inspiriert, auf der EKD-Synode in Suhl zu Protokoll: »Es war unser schwerer Irrtum – und auch unsere Schuld, weil mit Ausblendung und Nichtwahrhabenwollen verbunden –, dass nicht wenige von uns, ich auch, die Meinung und Hoffnung hatten, die DDR sei, aus dem Antinazismus geboren, wenigstens ansatzweise und tendenziell ein sozialistischer Staat, gebeutelt und entstellt durch den Kalten Krieg und den Stalinismus, aber eben doch ein solcher, in dem jene grundlegenden Veränderungen geschehen seien und in dem darum wesentliche demokratische Reformen eine Chance hätten und so ein alternativer deutscher Staat möglich sei.«100 Wischnath stieg nach kurzer Zeit als Pfarrer der reformierten Bethlehemsgemeinde in Berlin unter Bischof Wolfgang Huber 1995 zum Cottbuser Generalsuperintendent auf. In den 90er Jahren hat sich Generalsuperintendent Wischnath mehrfach vehement gegen einen von ihm behaupteten reformierten Konfessionalismus gewandt; in der evangelikalen Presse wurde er dennoch zumeist als »einer der bekanntesten« bzw. »führenden reformierten Theologen« o.ä. bezeichnet.101 Achtung in allen demokratischen Kreisen erwarb sich Wischnath dann als Vorsitzender des Aktionsbündnisses gegen rechte Gewalt in Brandenburg. Die evangelikale Presse hat ihn als einen Vertreter der »68er« be-

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Peter Bukowski, Bericht des Moderators über die Arbeit des Moderamens, in: Die Wahrheit wird Euch freimachen! Beiträge und Berichte von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 8.–10. Oktober 1992 in Detmold, Wuppertal 1992, S. 43–51, hier: S. 48. Vgl. auch »Es muss uns nicht geben, aber es gibt uns.« Ein Vierteljahrhundert als Repräsentant der Reformierten in Deutschland. Peter Bukowski im Interview, in: Der Moderator, a.a.O., S. 71–111, hier: S. 80. 99 In: Die Wahrheit wird Euch freimachen [1992], a.a.O., S. 83. – Seelsorgerlicher agierte die reformierte Kirche in den Niederlanden: Verlorene Jahre? Über die Herausforderungen für das gemeinsame Kirchesein nach den eingreifenden Veränderungen in Mittel- und Osteuropa und dem Ende des Kalten Krieges, eine Handreichung der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk (Grenzgespräche 17), Neukirchen-Vluyn 1993 (nl. 1991). Katharina Kunter bezeichnet diese Schrift als »erste – und nach wie vor überzeugendste – kritische kirchliche Anfrage an das eigene Handeln in der Zeit des Kommunismus.« Kunter, Reformierte Kirchen, a.a.O., S. 178. 100 Zit. nach dem Leserbrief von Hartmut Frische, in: idea Spektrum 8/2001, S. 4. – Vgl. auch Herausforderung zum Widerspruch. Rolf Wischnath über Unbequemlichkeiten von Glaube, Politik und Kirche. Mit einem Interview von Stefan Berg, Berlin 2002, zum Sozialismus, a.a.O., S. 54–67. 101 Für seine während seines Ruhestandes ausgeübte Lehrtätigkeit an der Universität Bielefeld wurde ihm im Jahr 2008 der Titel »Professor« verliehen.

5. Resümee und Fragen: Schuld politischer Fehler?

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nannt und ihm Sympathien für den Linksradikalismus unterstellt.102 Wischnath geriet durch die Anschuldigung, ein West-IM (IM »Theologe«) der Stasi gewesen zu sein, in schwere Bedrängnis.103 Durch ein Gutachten Jürgen Schmudes wurde Wischnath schließlich entlastet. Zum 1. April 2004 trat er in den Ruhestand. »1968« und seine Wirkungen sind längst ein historisiertes Thema mit umfassender Literatur geworden, dem man sich überwiegend sachlich zuwenden kann. Die Protagonisten befinden sich im Ruhestand, stehen am Ende ihres Lebens oder sind bereits verstorben, sie selbst haben sich oft ausführlich geäußert – und manche verstanden sich auch gut in der medialen Öffentlichkeit zu inszenieren. Anders als die juristische »Aufarbeitung« von ostdeutschen Stasi-Verstrickungen ist eine Geschichte der politischen Fehler ehemaliger Kirchenfunktionäre Westdeutschlands noch nicht geschrieben, sondern derzeit noch eher Teil von politischer oder kirchlicher Polemik. Das Desiderat einer kritischen Darstellung besteht auch bei den Reformierten.

102 Eckhard Nickig, Späte Reue?, in: idea Spektrum 4/2001, S. 14f. Vgl. auch die Leserbriefe von Ako Haarbeck (5/2001, S. 5), Hermann Barth (6/2001, S. 4), Reinhard Lampe (6/2001, S. 20f.), Peter Bukowski u.a. (8/2001, S. 4f.), Jochen Borchert (9/2001, S. 4), Peter Egen (10/2001, S. 5) und weitere Zuschriften in 12/2001, S. 5; 14/2001, S. 4. 103 Auch darüber berichteten idea Spektrum und ostdeutsche Zeitungen natürlich laufend. Ein etwas reißerischer, aber die Tragik treffender Artikel ist Robert Ide, Wer warf den ersten Stein?, in: Der Tagesspiegel, Sonnabend, 8. März 2003, S. 3.

Versöhnung und Widerstand Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 »Wir glauben an den Frieden (vielleicht sogar an den Weltfrieden) und predigen ihn – aber wetteifern nicht gerade die christlichen ›Friedenskämpfer‹ aller Richtungen mit den nicht-christlichen um die Ehre, die ungemütlichsten unter allen Geschöpfen Gottes zu sein?« (Karl Barth)1

Was ist signifikant für den reformierten Protestantismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und was schreibt darüber hinaus reformierte Signaturen der ersten beiden Drittel wie konfessionelle Selbstbehauptung, theologisch-kirchenpolitische Orientierung an Karl Barth und die Theologische Erklärung von Barmen fort?2 Wohl kein anderes Ereignis war – sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung – derart identitätsbildend wie die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes zum Frieden vom Sommer 1982. Etwas überscharf beschreibt ein konfessionskundlicher Beobachter: »Dass es neben den Lutheranern auch Reformierte gibt, hat die deutsche Öffentlichkeit wahrscheinlich zum ersten Mal wahrgenommen, als in den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss Anfang der achtziger Jahre das Moderamen des Reformierten Bundes mit der Botschaft aufschreckte, dass es bei der angedrohten Aufstellung der Pershing-Raketen um Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums gehe.«3 Zehn Jahre später protestierten die Reformierten auch gegen den Golfkrieg »um unseres alleinigen Herrn Jesus Christus willen«. Das wurde zwar kaum noch wahrgenommen, zeigt aber doch, dass die Moderamenserklärung von 1982 nahezu normativ für reformierte Stellungnahmen in Fragen des Krieges wirkte. Das war auch 2002 bei einer Erklärung der Hauptversammlung im

1 Karl Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4, Fragmente aus dem Nachlaß, Vorlesungen 1959–1961, hg. von Hans-Anton Drewes und Eberhard Jüngel, Zürich 1976, S. 251f. 2 Zu dieser Charakterisierung vgl. Hans-Georg Ulrichs, »… in schwere Bedrängnis geraten«? Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert, in: Thomas K. Kuhn / Nicola Stricker (Hg.), Erinnert, verdrängt, verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 16), Neukirchen-Vluyn 2016, S. 81–98 (Wiederabdruck in diesem Band). 3 Walter Schöpsdau, Reformiertes Profil in der Gesellschaft, in: ders., Angenommenes Leben. Beiträge zu Ethik, Philosophie und Ökumene, hg. von Martin Schuck (Bensheimer Hefte 104), Göttingen 2005, S. 80–98, hier: S. 80.

5. Resümee und Schuld politischer Fehler? Versöhnung undFragen: Widerstand

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Zusammenhang mit der US-Politik nach dem 11. September,4 2003 beim Irak-Krieg5 und bei einer weiteren Erklärung zu 70 Jahre Hiroshima und Nagasaki 2015 der Fall wie auch 2017 eine neue Friedenserklärung des Moderamens diskutiert und veröffentlicht wurde, die sich dem »Erbe« der Erklärung von 1982 verpflichtet weiß.6 Es existiert also so etwas wie eine selbstverpflichtende »Friedenstradition« im reformierten Protestantismus. Auch wenn zahlreiche Akteure von damals weiterhin kirchenpolitisch und theologisch aktiv sind, scheint mit einem Abstand von mehr als 30 Jahren die Zeit gekommen, dieses Ereignis sine ira et studio kirchengeschichtlich aufzuarbeiten. Reformierter Protestantismus in der Spätphase der alten Bundesrepublik ist mithin durchaus zu exemplifizieren anhand einer kleinen Thesenreihe, die namens eines Vereinsvorstandes publiziert wurde. Sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung war und ist diese Erklärung repräsentativ »reformiert« als auch in der Art und Weise, wie Reformierte von diesem Text Gebrauch machen. Binnenkonfessionell ist ein Erinnerungsnarrativ entstanden, das sich unterdes auch vom damaligen Realgeschehen entfernen, wenn nicht gar lösen kann. Nicht nur Theologie, sondern auch Kirchenpolitik und konfessionelle Selbstvergewisserung sind tangierte Bereiche, so dass entsprechend in dieser Untersuchung weniger ein systematisch-theologisches oder (sozial-)ethisches Interesse zum Tragen kommt, sondern vielmehr eine kirchenhistorische Perspektive vorherrscht. Es geht im Folgenden also nicht um theologische Werturteile und sozialethisch-politische Bewertungen, sondern um geschichtliche Rekonstruktion und – das sei bereits hier erwähnt – um Korrekturen am konfessionellen Narrativ, mithin um einen kritischen Beitrag. Nach einigen allgemeinhistorischen Kontextualisierungen und Einschreibungen in die Geschichte des reformierten Protestantismus, die den späteren Text etwas weniger überraschend erscheinen lassen, wird zunächst der Entstehungsprozess dieser Erklärung dargestellt, sodann der Text kritisch – sowohl hinsichtlich der Vorlage als auch der darin rezipierten Theologie – beleuchtet und schließlich die Reaktionen bis 1984 nachgezeichnet. 4 Erklärung der Hauptversammlung des Reformierten Bundes zur Friedenverantwortung in der gegenwärtigen Situation, in: die reformierten.upd@te 02.2, S. 20. 5 Vgl. Hermann Schaefer, Ein reformierter Beitrag zur Friedensverantwortung?, in: die reformierten.upd@te 03.1, S. 14–16. – Nach einer vorsichtigen Kritik von Georg Plasger, Die Friedenserklärung des Reformierten Bundes 1982 – im Jahr 2003 gelesen, in: die reformierten.upd@te 03.4, S. 11f., antwortete einer der Hauptakteure von damals: Helmut Kern, Zu »vollmundig«? Eine Antwort auf Anfragen an die Friedenserklärung des Reformierten Bundes von 1982, in: die reformierten.upd@te 04.1, S. 9f. 6 Die Welt, unsere Angst und der Gott des Friedens. Ein Zwischenruf des Moderamens des Reformierten Bundes in Deutschland e.V. (als Broschüre gedruckt), Hannover 2017; auch in: »Was uns verbindet«. 70. und 71. Hauptversammlung des Reformierten Bundes vom 28. bis 30. September 2017 in Moers (epd Dokumentation 46/2017), S. 33–40.

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Versöhnung und Widerstand

1. Die Situation der Reformierten um 1980 und die weltpolitischen Spannungen Ähnlich wie gesamtgesellschaftlich endete bei den Reformierten um 1970 eine Ära. Personen wie der lang gediente Moderator Wilhelm Niesel7 und andere »Kirchenkämpfer« sowie der Generalsekretär Karl Halaski8 traten ab, Themen änderten sich, nicht zuletzt auf Grund globalkirchlicher Debatten. Die 70er Jahre entwickelten sich aber zunächst oder jedenfalls bei offiziellen Positionierungen eher zu moderat modifizierenden Jahren, weil mit Hans Helmut Eßer ein besonnener, theologisch grundsolider und binnenkirchlich orientierter Repräsentant an der Spitze der Reformierten stand,9 sekundiert von den ebenfalls moderaten Landessuperintendenten Gerhard Nordholt von den nordwestdeutschen Reformierten und Fritz Viering in Lippe-Detmold. So konnten auch konfessionell wichtige Aufgaben wie etwa die Erstellung des neuen Kirchenbuches, das dann 1983 unter der Ägide von Karl Halaski herauskam, fortgeschrieben werden. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre lassen sich jedoch politische und theologische Themen identifizieren, mit denen Reformierte ihr Profil schärfen konnten. Als zwei politische Themen können die Menschenrechte und die Ökologie (Atomkraft) benannt werden. Die Debatten um die Menschenrechte waren nicht zuletzt aus der Ökumene eingedrungen, so dass es auch nicht verwunderlich ist, dass hier der theologische global-player Jürgen Moltmann federführend war.10 Die kirchlichen Debatten über Ökologie waren nicht überdurchschnittlich reformiert geprägt, freilich konnte man mit Günter Altner einen prominenten Wissenschaftler für sich gewinnen.11 Als zwei theologische Themen können gelten: Der katholische Theologe Heinz Schütte versuchte 7 8

Vgl. die Arbeiten zu Niesel in diesem Band. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »… ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«. Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski (Abdruck in diesem Band). 9 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes, in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, hg. von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70, hier: S. 58–62 (Wiederabdruck in diesem Band). 10 Im Jahr 1976 veröffentlichte der Reformierte Weltbund »Die theologische Basis der Menschenrechte«. Vgl. Jan Milič Lochman / Jürgen Moltmann, Gottes Recht und die Menschenrechte, Neukirchen 1976. Vgl. Katharina Kunter, Reformierte Kirchen und die Ost-West-Beziehungen im 20. Jahrhundert, in: Matthias Freudenberg / Georg Plasger (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge der 8. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 14), Neukirchen-Vluyn 2011, S. 167–178, hier: S. 174–176. 11 Günter Altner (Hg.), Atomenergie, Herausforderung an die Kirchen. Texte, Kommentare, Analysen (Grenzgespräche 7), Neukirchen-Vluyn 1977. – Vgl. Michael Schüring, »Bekennen gegen den Atomstaat«. Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970–1990 (Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte NF 31), Göttingen 2015.

1. Die Situation der Reformierten um 1980 und die weltpolitischen Spannungen

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1979, mit dem Heidelberger Katechismus als einem reformatorischen Grunddokument ins Gespräch zu kommen und aufzuzeigen, dass man sich in den theologischen Grundsatzfragen bis hin zur Rechtfertigungslehre evangelisch-katholisch würde einigen können. Das jedoch zog eine harsche Ablehnung des Moderamens nach sich, worüber man dann im Konfessionskundlichen Institut der EKD in Bensheim – gelinde gesagt – einigermaßen verwundert war.12 Die Synodalerklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland zum Verhältnis von Kirche und Israel von 1980 gehört in diesen Reformkontext um 1980, diese theologische Grundsatzfrage wurde aber erst später akut – ein erstes Mal auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1982 in Aurich und dann nach Jahre langer Ausschussarbeit nahezu spaltend im Zusammenhang mit der Hauptversammlung 1990 in Siegen. Es war aber vor allem die sich schärfende Haltung zur Apartheid in Südafrika, die die Reformierten nach innen durchaus auch strittig und nach außen als mutig und eindeutig erscheinen ließ.13 Wie bei anderen der genannten Themen lernte man nicht zuletzt von den Reformierten in den Niederlanden. Auf Grund der historischen Verbindungen und der Kontakte in den Kontexten des Reformierten Weltbundes konnten die Reformierten im deutschen Protestantismus eine gewisse Expertenrolle in Sachen Südafrika für sich beanspruchen. Der Rat der EKD sah sich jahrelang durch die Kirchendiplomatie des Reformierten Bundes mit den Kirchen in Südafrika mit vertreten, wobei mit Lothar Coenen seit 1978 auch ein Reformierter der Ökumene-Abteilung des Kirchlichen Außenamtes vorstand. Was nach gewisser Stärke aussah, schwächte insofern nach innen, als dass neben einigen jüngeren progressiven Akteuren

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Kirchliches Jahrbuch 108/109 (1981/1982), Gütersloh 1985, S. 138–142. Vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden.« Der HEIDELBERGER als reformierter »Erinnerungsort« im 20. Jahrhundert (Abdruck in diesem Band). Vgl. auch Joachim Guhrt, Geschichten und Geschichte. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Lebens im 20. Jahrhundert, Bad Bentheim 2000, S. 149–151. 13 Vgl. Johannes de Vries, Die Reformierten in Deutschland auf dem Weg nach Ottawa 1982, in: Hanns Lessing u.a. (Hg.), Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen dem südlichen Afrika und Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 26), Wiesbaden 2015, S. 470– 484. Vgl. auch Heinz-Hermann Nordholt (Hg.), Apartheid und Reformierte Kirche. Dokumente eines Konflikts, im Auftrag des Reformierten Bundes zusammengestellt, Neukirchen-Vluyn 1983; ders., Die Südafrikabeziehungen des Reformierten Bundes, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 155–159. Für den westdeutschen Protestantismus vgl. Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970–1990 (Geschichte und Religion in der Neuzeit 6), Göttingen 2015.

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Versöhnung und Widerstand

der Generalsekretär Joachim Guhrt14 den radikalen Kurs betrieb, die Kontakte zur »weißen« reformierten Kirche in Südafrika zu sistieren. Moderator Eßer dagegen wollte das Gespräch mit den »weißen« Kirchen eigentlich nicht abbrechen lassen. Aber alle diese Themen wurden durch die »Friedensfrage« an Bedeutung übertroffen, die sich durch die weltpolitische Lage stellte. Das Thema war Reformierten nicht neu: Viele Theologen aus dem »barthianischen« Lager hatten bereits in den 50er Jahren die regierungskritischen Positionen geteilt. Gesellschaftlicher Widerstand auf Grund theologischer Traditionen und Diskurse – hier konnte gerade auch im konfessionellen Selbstverständnis historisch angeknüpft werden. Für viele Zeitgenossen schien sich die innenpolitische und weltpolitische Lage in den Jahren 1980 bis 1984 zuzuspitzen: Nach einigen »bleiernen Jahren« in den 70ern geriet die moderat agierende sozialliberale Koalition intern und extern unter Druck, die Sozialdemokraten waren in der Nachrüstungsdebatte innerlich zerrissen, ihr Kanzler Helmut Schmidt verlor intern zunehmend Rückhalt, die Liberalen konnten den sozialliberalen und den wirtschaftsliberalen Flügel kaum noch zusammenhalten. Die Entlassung der FDP-Minister durch Bundeskanzler Schmidt, das Ende der Regierung Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982, das Helmut Kohl mit Hilfe der FDP an die Regierung brachte und der klare Wahlsieg der bürgerlichen Regierung im März 1983 waren die Folge. Für zahlreiche eher links optierende Reformierte war dies genauso eine Anfechtung wie die unruhige weltpolitische Lage durch die Zuspitzung des Ost-West-Konflikts: Wettrüsten und NATO-Doppelbeschluss 1979, Amtsantritt der Konservativen Margaret Thatcher 1979 in Großbritannien und Ronald Reagan 1981 in den USA und mehrfacher Wechsel an der Spitze der Sowjetunion nach dem Tode Leonid Breshnews 1982. Nicht selten wurden in Texten und Predigten auch Anleihen an apokalyptische Sprachbilder gemacht. Hoffnungsvolle Zeichen der Annäherung wie der HelsinkiProzess oder die Bemühungen um die SALT-Abkommen wurden relativiert durch andere, negative Ereignisse wie die Afghanistan-Intervention der Sowjetunion 1979. Ausdruck der Blockkonfrontation war der wechselseitige Boykott der Olympischen Spiele von Moskau 1980 und Los Angeles 1984. Erst danach begann mit der »Perestroika« Michail Gorbatschows ab 1985 eine versöhnlichere Atmosphäre und schließlich das Ende des Kalten Krieges mit der Auflösung der Blöcke 1989/1990. 14

Guhrt, Geschichten und Geschichte, a.a.O.; ders., Situationsbezogenes Bekennen der Kirche. Der status confessionis am Beispiel der Südafrika-Entscheidungen des Reformierten Weltbundes [Ottawa 1982], in: »Wenn nicht jetzt, wann dann?« Aufsätze für HansJoachim Kraus zum 65. Geburtstag, hg. von Hans-Georg Geyer u.a., Neukirchen-Vluyn 1983, S. 441–452.

2. Die Diskussionen um den Frieden bei den Reformierten bis zum Frühjahr 1982

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2. Die Diskussionen um den Frieden bei den Reformierten bis zum Frühjahr 198215 Nach der Erinnerung des nachmaligen Moderators Hans-Joachim Kraus »änderte sich Anfang der achtziger Jahre die Abstimmungslage im Moderamen [durch den Eintritt v.a. junger Theologen], in deren Folge … neue Aussagen zur Friedensproblematik mehrheitsfähig wurden.«16 Während der Mai-Sitzung 1981 befasste sich das Moderamen mit der Friedensfrage.17 Propst Helmut Kern – nicht gewähltes Mitglied, sondern entsandt von der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau – trug grundsätzliche Fragen vor, die bereits zwei entscheidende Überlegungen enthielten: zum einen den Ausgangspunkt bei »Gottes Liebe zu allen Menschen«, was später mit »Versöhnung« ersetzt wird, und die Frage nach der praktischen Bedeutung des Bekenntnisses »zur Herr15

Die Aktenlage ist ausgezeichnet. Neben der umfangreichen Sammlung im Archiv des Reformierten Bundes (Depositum im Archiv der Lippischen Landeskirche, Akten und Protokolle des Moderamens 1973–1989 Nr. 160–164 [22.39–43] sowie der Sonderakten Friedenserklärung Nr. 226–229 [25.21–24]) gibt es quasi eine Doppelüberlieferung der Lippischen Landeskirche: LLK Detmold, Landeskirche 234-2 Band 20: Reformierter Bund Juni 1981 bis Jan. 1982; Band 21: Januar bis März 1982; Band 22: April bis Juni 1982; Band 23: Juli bis September 1982; Band 24: Oktober bis Dezember 1982; Band 25: Januar bis Mai 1983. Eine private Sammlung befindet sich bei Rolf Wischnath (Gütersloh); diese wurde vom Vf. nicht eingesehen. – Ambivalent ist die Quantität und Qualität der Literatur: Eine schier unübersehbare Zahl von Aufsätzen, Berichten und Erklärungen finden sich in der RKZ 1981–1984 und anderen kirchlichen Periodika sowie in zeitgenössischen Publikationen. Auch die geschichtswissenschaftliche und theologisch-kirchengeschichtliche Literatur über die Friedensbewegung ist unterdes immens. Es stehen also sehr unterschiedliche Genres zur Verfügung und diese in einer schier unübersehbaren Menge, so dass jedem Bearbeiter unvermeidbar der Vorwurf gemacht werden wird, eine subjektive Auswahl vorgenommen zu haben. – Neben den beiden Ausgaben der Moderamenserklärung (Gütersloh 11982, 21983) vgl. vor allem den umfangreichen Sammelband Rolf Wischnath (Hg.), Frieden als Bekenntnisfrage. Zur Auseinandersetzung um die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche«, Gütersloh 1984 (21984, 31985). – Der Hauptakteur hat sich nach mehr als drei Dekaden erinnert: Rolf Wischnath, Bekennen in der Friedensfrage. Eine Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung 1982, in: Maren Bienert u.a. (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung (reformiert! 2), Zürich 2017, S. 221–236. 16 Helmut Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten. Beiträge zu einem Vergleich für die Jahre 1978–1987 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 54), Berlin 1989 (diss. Universität Bonn 1987), S. 59–66, hier: S. 59. Ob diese Wiedergabe eines Gesprächs mit Kraus am 13. Oktober 1986 (vgl. a.a.O., Anm. 111f.) gänzlich zutreffend ist, lässt sich nicht verifizieren. Mitgliederlisten und -statistiken lassen dies zu Beginn der 80er Jahre nicht erkennen. Einen gewissen Stimmungswandel gab es möglicherweise durch die Moderamenswahl im Jahr 1978 – und insgesamt in der reformierten »Szene«, d.h. auch in den betreffenden Landeskirchen und in der RKZ. 17 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 161 [22.40], Protokoll des Moderamens 28.–30. Mai 1981, Meinerzhagen (Lippe).

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schaft Jesu Christi über alle Welt«.18 Der niederländische Gast Pastor J.E. van Veen (Den Haag) berichtete über den langen Prozess in den Niederlanden, der bis zum »Pastoralbrief« der Hervormden Kerk vom 22. November 1980 geführt habe. Das Protokoll gibt diese Gedanken nicht wieder, aber die niederländischen Dokumente erwähnen selbst beispielsweise folgende Marksteine, wobei kirchenpolitische, theologische und friedensethische Diskurse seit 1945 durchaus verwoben waren.19 Die Amsterdamer Weltkirchenkonferenz bekannte 1948, dass Krieg um Gottes willen nicht sein dürfe. Im 1949 erschienenen Grundlagentext »Grundlagen und Perspektiven des Bekennens« (»Fundamenten en Perspektieven van Belijden«) der Generalsynode der niederländisch-reformierten Kirche wird die durch Gott erwirkte Versöhnung der Welt festgestellt (Nr. 19).20 Neben vielen anderen Erklärungen und Synodenbeschlüssen ragt ein synodales Hirtenschreiben von 1962 hervor, dass bereits ein »Nein ohne jedes Ja« zur Anwendung von Atomwaffen ausgesprochen hatte, während man sich zum Besitz von Atomwaffen zu Abschreckungszwecken nicht eindeutig positionieren konnte. Die theologische Grundlegung der »Versöhnung« für christliches Handeln entfaltete dann der Hirtenbrief »De tussenmuur weggebroken« von 1967.21 Im Jahr 1979 kam es nach ausführlichen Debatten dann zur ausführlichen »Handreiking« und zum Pastoralbrief vom November 1980.22 Christus wird in der Handreichung/Denkschrift als derjenige identifiziert, der alle Macht habe, Kernwaffen dagegen als »gottlose Mächte – Mächte näm18 19

A.a.O., S. 7, Frage 2, vgl. Anlage 4, in: a.a.O. Vgl. etwa: Das Denken über Krieg und Frieden in der Niederländischen Reformierten Kirche seit 1945, in: Kirche und Kernbewaffnung. Materialien für ein neues Gespräch über die christliche Friedensverantwortung. Als Handreichung vorgelegt von der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk (Grenzgespräche 8), NeukirchenVluyn 1981 (41983), S. 158–165; zeitgenössische Beobachtungen in Philip P. Everts, Friedensforschung, Friedensbewegung und die Kirchen – einige Erfahrungen aus den Niederlanden, in: Hanne-Margret Birckenbach (Hg.), Friedensforschung, Kirche und kirchliche Friedensbewegungen (Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung 10), Frankfurt a.M. 1983, S. 126–138. Vgl. Beatrice de Graaf, Über die Mauer. Die DDR, die niederländischen Kirchen und die Friedensbewegung (Deutsch-niederländische Beziehungen 4), Münster 2007 (original: Over de Muur. De DDR, de Nederlandse kerken en de vredesbeweging, Amsterdam 2004), S. 116–124. 20 Lebendiges Bekennen. Die »Grundlagen und Perspektiven des Bekennens« der Generalsynode der Niederländischen Reformierten Kirche von 1949, eingeleitet und übersetzt von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 1951, 21959. 21 Dt.: Die Mauer ist abgebrochen. Zur Predigt der Versöhnung, Neukirchen-Vluyn 1968. 22 S.o. Anm. 19. Original: Kernbewapening. Handreiking van de generale synode van de Nederlandse Hervormde Kerk voor een nieuw gesprek over het vraagstuk van de kernwapens (1979). Der Pastoralbrief ist abgedruckt: a.a.O., S. 165–172, sowie in: Wort an die Gemeinden zur Kernbewaffnung. Brief, Erläuterung und Bericht. Vorgelegt von der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk (Grenzgespräche 9), Neukirchen 1982, S. 1–6.

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lich, die sich Gottes Absichten entgegenstellen.«23 Die Kirche müsse sich politisch äußern; grundlegend sei die Erkenntnis gewesen: »Was pastoral relevant ist, ist auch politisch relevant, was politisch nicht relevant ist, ist auch pastoral nicht relevant.«24 Der Pastoralbrief sieht im Rüstungswettlauf den »Glaubensgehorsam auf die Probe [ge]stellt.«25 Man verweist auf die dreißigjährige kirchliche Debatte, sieht aber durch quantitativen und qualitativen Anstieg der Atomwaffen eine neue Lage, in der man nicht schweigen könne, zumal in dieser Krise der Kultur der gegenseitigen Bedrohung »Ungehorsam gegenüber Gott und Mangel an Liebe zum Nächsten« (S. 2) zum Ausdruck käme. Bei aller Schuldverstrickung bekennten Christen jedoch Christus »als den Sieger«, dem »alle Macht im Himmel und auf Erden [gegeben]« sei. Da sei »Wirklichkeit«, die Christen ertüchtige, sich gegen andere »Mächte und Kräfte zur Wehr [zu] setzen.« (S. 3) Nicht nur die Anwendung, sondern bereits der Besitz – und eigentlich schon die Erforschung und Finanzierung – von Atomwaffen sei zu verwerfen. Deshalb fordere man seitens der Kirche auch einseitige Abrüstungsschritte. Das Moderamen beschloss, nach gründlicher Lektüre der niederländischen Dokumente (Denkschrift 1979, Brief an die Gemeinden 1980 und Erläuterung zum Brief26) wenn möglich eine eigene Stellungnahme zu erarbeiteten.27 Ein Entwurf wurde sodann im September im Moderamen (4./5. September 1981, Frankfurt, Dominikanerkloster) ausführlich diskutiert. Der Text sollte auf Grund der geäußerten Einwände und Anregungen durch Rolf Wischnath – Mitglied des Moderamens seit 1978, er hatte auch in den Niederlanden studiert – und Walter Herrenbrück – Schriftleiter der RKZ und Studiendirektor am Predigerseminar Elberfeld – redigiert werden, um danach im brieflichen Umlauf genehmigt und schließlich an die Gemeinden versandt werden.28 23 24 25

Kirche und Kernbewaffnung, a.a.O., S. 3. So auch ähnlich in: Kirche und Kernbewaffnung, a.a.O., S. 11. Zitiert nach dem Abdruck in: Wort an die Gemeinden zur Kernbewaffnung, a.a.O., S. 1–6, hier: S. 1. – In unzähligen kirchlichen und theologischen Schriften vor allem reformierter Provenienz findet sich seit dem »Bekenntnis« der Freien reformierten Synode in Barmen im Januar 1934 (»Wunder des Gehorsams«, IV/3) und der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 das Stichwort »Gehorsam« des Glaubens und ähnliche Formulierungen, auch bei Karl Barth (s.u.). Der »freie und freudige Gehorsam« als Antwort des Menschen auf Gottes Zuwendung und Gesetz findet sich auch schon bei Johannes Calvin, etwa Institutio IV,19,4–6. 26 Abgedruckt in: Wort an die Gemeinden zur Kernbewaffnung, a.a.O., S. 7–43. 27 A.a.O., S. 8. Die Moderamensmitglieder Helga Dusse, Helmut Kern, Harald Storch und Rolf Wischnath erhielten den Auftrag, zur nächsten Sitzung einen Entwurf für ein Schreiben an die Gemeinden vorzulegen. 28 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 161 [22.40], Protokoll des Moderamens 4.–5. September 1981, Frankfurt, S. 7f. – A.a.O., S. 10, wird vermerkt, dass Hans-Joachim Kraus’ Antrag auf Mitgliedschaft im Reformierten Bund angenommen wurde. Wenige Monate später wird er die Diskussion maßgeblich

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Der Brief des Moderamens, der dann auf Oktober 1981 datiert wurde,29 weist zunächst empfehlend auf die niederländischen Erklärungen hin, die in der »Vielstimmigkeit« unterschiedlicher Meinungen auch unter Christen Orientierung geben könnten: »Die Dokumente der Niederländisch-Reformierten Kirche sind provokativ und klar: Für Christen ist ein kompromißloses Nein zu Atomwaffen geboten.« (S. 64) Nach Wiedergabe der grundlegenden Aussagen erkennt man darin »auch für unsere Gemeinden alles, was für eine gründliche Beschäftigung mit dem Problem der Friedensgefährdung durch die atomare Aufrüstung notwendig ist.« (S. 65) Sodann werden daraus abgeleitet zahlreiche Fragen formuliert, die später in der Moderamenserklärung leitend werden: »Wie verträgt sich unser Bekenntnis zu Jesus Christus [ – in dem Gottes Liebe zu allen Menschen offenbar geworden sei und in dem Gott die ganze Welt mit sich versöhnt habe – ] mit den uns anerzogenen und von uns festgehaltenen Feindbildern von Menschen, denen nicht weniger als uns die Versöhnungsbotschaft gilt?« »Wie verträgt sich unser Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter der Welt, mit unserem Einverständnis zu einem atomaren ›Sicherheitssystem‹, das letzten Endes die Welt und die Menschen ins Chaos zurückzustürzen bereit ist?« (S. 66) Wie könne es sein, dass man in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes hier unterschiedlich urteilen könne? Wie könne ein »Bekenntnis zu Gottes kommendem Reich« nicht auch bedeuten so zu agieren, dass »Vorzeichen dieses Reiches sichtbar werden«? »Die christliche Gemeinde hat einen politischen Auftrag wahrzunehmen (Barmer Erklärung, These II und V);30 von der Gemeinde wird Gehorsam gegen Gottes Gebot gefordert.« (S. 67) Schließlich wird auch konkret Stellung im Ost-West-Konflikt bezogen: »Gottes Gebot mutet uns zu, … die Wahrheit zu sagen … Wie verträgt sich der Gehorsam gegen dieses Gebot mit unserem oft sehr kritischen Urteil über die Staaten im Osten Europas und unserem meist sehr unkritischen Einverständnis mit der Politik des Westens?«

prägen und an der Spitze der westdeutschen Reformierten stehen. Er war als Teilnehmer und Beobachter der Friedensbewegung bekannt, vgl. auch Hans-Joachim Kraus, Die Friedensbewegung 1981, in: EVTh 42 (1982), S. 93–108. 29 Zitiert nach dem Abdruck in: Wort an die Gemeinden zur Kernbewaffnung, a.a.O., S. 62–72. Gedruckt auch in: RKZ 122 (1981), S. 326–328. – Es gab daneben weitere Erklärungen von Landessynoden (Erklärung des Landeskirchentages der Evangelischreformierten Kirche in Nordwestdeutschland: Auftrag und Einladung zum Gespräch über den Frieden vom 30. Oktober 1981, abgedruckt in RKZ 122 [1981], S. 328f.), Synodalverbänden, Gemeinden und kirchlichen Organisationen. Auch der Konnex von »Friedensfrage« und »Bekenntnisfrage« lässt sich bereits in solchen Erklärungen finden. 30 Die Barmer Theologische Erklärung wird abgedruckt in: Wort an die Gemeinden zur Kernbewaffnung, a.a.O., S. 73–77. Damit war markiert, in welcher Tradition man sich wusste.

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Und schließlich: Wie könne man angesichts der uneingeschränkt geforderten Nächstenliebe bei »unserer Zurückhaltung, gar Weigerung [bleiben], die wir zeigen, wenn es darum geht, bei der Suche nach einem friedlichen Zusammenleben auch mit Menschen und Gruppen zusammenarbeiten, die außerhalb der Kirche stehen und unsern Glauben nicht teilen?« (S. 68) Nach den theologischen Bemerkungen treten bei den zuletzt genannten Fragen Unklarheiten auf, die auch die Moderamenserklärung und deren Erläuterungen verunklaren sollten: Wer spricht hier, wer ist mit »uns« und »wir« gemeint? Die Gemeinschaft der Moderamensmitglieder kann es nicht gewesen sein, denn zu ihr gehörten ja dezidiert linke Theologen, die positiv vom real-existierenden Sozialismus dachten und sprachen, den Westen und vor allem die »Supermacht« USA äußerst kritisch sahen und natürlich bereit waren, mit NichtChristen zu kooperieren – und dies auch schon taten. Dies war übrigens die christliche Variante der realsozialistischen Strategie, »gesellschaftliche Bündnispartner« im Kampf für den Frieden zu gewinnen – wobei es den Kommunisten weniger um tatsächliche Abrüstung als vielmehr um die Schwächung des weltpolitischen und ideologischen Feindes zu tun war. Als »Paradebeispiel« für den Erfolg dieser Unterwanderung westdeutscher politischer Initiativen kann der »Krefelder Appell« gelten. Schließlich thematisiert der Brief des Moderamens die Bekenntnisfrage. »[D]er Frieden Gottes und der Friede auf Erden sind gewiß zu unterscheiden …, [a]ber beides ist auch nicht voneinander zu trennen, weil Christus der Herr über alle Bereiche unseres Lebens ist … Darum ist der Friede auf Erden zu gestalten in Entsprechung zum Frieden Gottes«. (S. 69) Entsprechung war eine Barth’sche Kategorie zur ethischen Entscheidungsfindung. Auch in diesem Zusammenhang fragte man: »Was ist unser Bekenntnis? Und wie sieht der Glaubensgehorsam bei uns in der Bundesrepublik Deutschland aus?« (S. 70) Geht es also um das »wir« der Bürger der BRD?31 Man möchte als Christen aus dem reflexartig geäußerten Verdacht der weltpolitischen Dichotomie heraus, dass die Kritiker der einen die Sache der anderen betreiben. Man sei »nicht … eine politische Kraft unter anderen.« Man sei mit der Macht der Sünde »in der Gestalt der furchtbaren Waffen« konfrontiert, aber Jesus Christus habe die Sünde »überwunden«, sie habe »keinen Rechtsgrund mehr« (S. 71). Bis zur nächsten Moderamenssitzung im Dezember32 war die Denkschrift »Frieden wahren, fördern und erneuern« (1981) der EKD er31 Vgl. auch a.a.O., S. 71: »Von uns, den Bürgern und Christen in der Bundesrepublik Deutschland …« Der Brief wurde vom Generalsekretär auch an die Parteien im Bundestag und an den Bundesrat geschickt. 32 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 161 (Findbuch Nr. 22.40), Protokoll des Moderamens, 3.–5. Dezember 1981, Berlin-Brandenburg (sic!).

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schienen.33 Dieser mühsam errungene Kompromiss konnte nicht über das »noch« der »Heidelberger Thesen« von 195834 hinausgehen: Es wäre Christen ethisch noch möglich, Bedrohung durch Atomwaffen zur Stabilisierung des Waffengleichgewichts zwischen Ost und West zu akzeptieren. So konstatiert das Protokoll des Moderamens: »Die EKD-Denkschrift stellt einen Kontrast zu dem Brief des Moderamens dar; sie überholt den Brief keineswegs, für dessen weitere Verbreitung35 darum auch über den Kreis der reformierten Gemeinden (und den der EKD-Synodalen und Amtsstellen) hinaus gesorgt werden muß, gerade weil der Brief zum Gespräch mit der niederländischen Reformierten Kirche beiträgt«. (S. 4) Der Generalsekretär Joachim Guhrt hatte von unterschiedlichen Reaktionen auf den Brief berichtet (S. 3), zeigte sich vor allem zufrieden mit der großen Resonanz, wie etwa auch der epd ausführlich berichtet habe. Guhrt betonte die Eigenständigkeit des Moderamensbriefes gegenüber der Denkschrift, sei der Text doch vor der EKD-Erklärung fertiggestellt gewesen. Für einen führenden Reformierten jedoch begann hier am Beginn großer Auseinandersetzungen der Abschied: Der erst 60jährige Moderator Hans Helmut Eßer erklärte auf derselben Moderamenssitzung, auf der kommenden Hauptversammlung des Reformierten Bundes im April 1982 nicht erneut zu kandidieren (S. 9). Der schwelende Streit um Südafrika,36 die Kritik an der EKD-Denkschrift, die er als Ratsmitglied mit verantwortete und möglicherweise auch die »Personalie« Kraus ließen ihn das Handtuch werfen, auch wenn er berufliche Mehrbelastungen als Grund angab.37

33 34

Vgl. Kirchliches Jahrbuch 108/109 (1981/1982), a.a.O., S. 94–103. Abgedruckt in: Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954–1969. Dokumente und Kommentare, hg. von Christian Walther, München 1981, S. 142–148. 35 Eine Broschüre mit dem Brief wurde in einer Auflagenhöhe von 2000 Exemplaren gedruckt. 36 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens, 5.–6. März 1982, Bad Bentheim: Während des Winters 1981/1982 war es zu einer weiteren Eskalation durch eine Delegationsreise nach Südafrika Januar/Februar 1982 gekommen. Danach gab es die Empfehlung an die Hauptversammlung zu erklären, dass man zur Zeit nicht in der Lage sei, »das offizielle Gespräch mit der Nederduitse Gereformeerde Kerk weiterzuführen.« Bericht über die Reise der Delegation des Reformierten Bundes zu Gesprächen mit den Kirchen in Südafrika, 16. Januar bis 4. Februar 1982 (22 Seiten) und weitere Anlagen zum Thema in diesem Protokoll. Vgl. Joachim Guhrt, Gespräche in Südafrika, in: RKZ 123 (1982), S. 95f. 124f.; vgl. auch ders., Geschichten und Geschichte, a.a.O., S. 182–188. 37 Vgl. Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski, a.a.O., S. 58–62.

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3. Entstehung und Text der Erklärung des Moderamens Während des Winters 1981/1982 musste also die Hauptversammlung im April 198238 mitsamt den Neuwahlen organisiert werden – in Zeiten großer politischer Erregung. Festlicher Anlass der Hauptversammlung war das 100jährige Jubiläum der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (heute: Evangelisch-reformierte Kirche). Thematischer Höhepunkt waren, zwei Jahre nach dem rheinischen Synodalbeschluss von 1980, die Vorträge und Diskussionen zum Verhältnis von Kirche und Israel, ein Thema, mit dem sich Hans-Joachim Kraus schon seit Jahrzehnten beschäftigt hatte. Dabei kam es zu einem Eklat, als einige jüdische Gäste die Versammlung auf Grund von Bemerkungen über jüdische Exegese in Prof. Hendrikus Berkhofs Referat verließen.39 Berkhof entschuldigte sich für Unachtsamkeiten. An dem Thema »Israel und Kirche« arbeiteten die Reformierten durch Ausschüsse im Bund, in den Landeskirchen, in den Gemeinden und durch einzelne Personen intensiv während der ganzen 80er Jahre, bis es auf der Hauptversammlung in Siegen 1990 zur Annahme von nicht unumstrittenen »Leitsätzen« kam.40 Die Wahlen zum Moderamen ergaben insofern eine Überraschung, als dass der Studiendirektor des Wuppertaler Predigerseminars Walter Herrenbrück (jun.) mehr Stimmen als Hans-Joachim Kraus erzielen konnte, der als einziger Kandidat für das Moderatorenamt nominiert war (218 bzw. 208). Bei der Wahl zum Moderator erhielt Kraus zwar 205 Ja-Stimmen, aber eben auch 30 Nein-Stimmen und 14 Enthaltungen. Gewiss gab es Vorbehalte aus konservativen Kreisen und bei denen, die dem Vorgänger nahestanden. Kraus versprach in seiner Dankesrede, allen »ein brüderlicher Moderator zu sein.« Gelungen ist ihm dies wohl nur bedingt.41 Mehr als eine Fußnote ist die Notiz, dass die WestBerliner Pfarrerin Horsta Krum (geb. 1941 in Torgau) mit 120 Stimmen einen respektablen 5. Platz belegte und bis 1990 im Moderamen vertreten war – der »Fall Horsta Krum« sollte dann nach ihrer Enttarnung als Stasi-Zuträgerin zu Beginn der 90er Jahre noch für einige Unruhe sorgen. Jedenfalls war das Moderamen zwischen 1982 und 1990 38

Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll der Hauptversammlung 22.–24. April 1982 in Aurich. Eine ausführliche Berichterstattung auch in RKZ 123 (1982), S. 146–150. 39 Berkhof gab das Manuskript nicht frei, so dass in der RKZ lediglich ein »Bericht« wiedergegeben werden konnte, in: RKZ 123 (1982), S. 174–177.221–223. 40 Vgl. Wir und die Juden – Israel und die Kirche. Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen. Text und Dokumentation, herausgegeben vom Moderamen des Reformierten Bundes, Bad Bentheim o.J. (1990). Vgl. auch Guhrt, Geschichten und Geschichte, a.a.O., S. 156–158. 41 Zu Kraus als Moderator des Reformierten Bundes vgl. Ulrichs, Von Brandes bis Bukowski, a.a.O., S. 63–70.

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durch zahlreiche politisch eher links optierenden Personen geprägt – und die DDR-Staatssicherheit war auch potentiell im Bilde. Die »Friedensfrage« war während der Auricher Hauptversammlung »das heiße Eisen«. Der Moderamensbericht42 reflektierte die Resonanz auf den Brief des Moderamens vom Oktober 1981 und stellte heraus, dass mit dem bewussten Rekurs auf Barmen V im zweiten Teil die Spannungen zum staatlichen Handeln nicht wie in der EKD-Denkschrift einfach aufgelöst seien. »Ohne daß die holländischen Positionen direkt übernommen werden, gibt der Brief notwendige Impulse, die vorbildliche Intensität der Nederlandse Hervormde Kerk in der Durchdringung des Friedensthemas nachzuvollziehen.« (S. 7) Kritiker bemängelten in der Diskussion die postulierte Exklusivität eines der möglichen Standpunkte in der Friedensfrage. Der Reformierte Weltbund hatte seine Mitgliedskirchen gebeten, zur Vorbereitung auf die Generalversammlung im August 1982 in Ottawa Vorarbeiten zur Friedensthematik vorzulegen. Der juristische Kirchenrat der Lippischen Landeskirche, Herbert Ehnes, beantragte einen entsprechenden Ausschuss: »Unter Zugrundelegung der bisher vorliegenden reformierten Stellungnahmen zur Friedensfrage, insbesondere des Briefes des Moderamens des Reformierten Bundes zur Diskussion um den Frieden, erarbeitet der Ausschuß Vorschläge für die Behandlung der Friedensfrage in Ottawa … Die Ergebnisse dieser Vorbereitungsarbeit legt der Ausschuß der nächsten Moderamenssitzung vor.« (S. 56)43 Unmittelbar im Anschluss an die Hauptversammlung stellte das neu gewählte Moderamen fest: »Zur Behandlung des Themas Frieden auf der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Ottawa besteht der aus der Hauptversammlung hervorgegangene Ausschuß aus Frau Kuhn und den Herren Wischnath, Möller, Kern und Frau Valtink.«44 Der Ausschuss wird seinem Auftrag gerecht und legt dem Moderamen zu seiner nächsten Sitzung im Juni 1982 einen Text vor. Dies geschieht insofern in einem euphorischen Kontext, weil am Tag vor der Moderamenssitzung die bis dato größte Demonstration in der Bundesrepublik stattgefunden hatte: Etwa 500.000 Menschen waren auf den Rheinwiesen in Bonn-Beuel versammelt, um gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Politik des zu einem Gipfeltreffen in Bonn anwesenden US-Präsidenten Ronald Reagan zu demonstrieren. Die Friedensfrage rangiert in der Einladung zur Moderamenssitzung allerdings nur unter dem Rubrum »Berichte«, nicht unter »Beschlussvorlage«. Der Text wird 42 43 44

Auch abgedruckt in: RKZ 123 (1982), S. 191–196. Auch abgedruckt in: RKZ 123 (1982), S. 148. Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens, 21.–22. (–24.) April 1982, Aurich, S. 8. Die Mitglieder waren also: Helmut Kern, Gerda Kuhn, Ulrich Möller, Eveline Valtink, Rolf Wischnath.

3. Entstehung und Text der Erklärung des Moderamens

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als Tischvorlage 8b verteilt.45 Federführend war – wie auch das Vorwort später festhält – Rolf Wischnath, seit 1980 Pfarrer in der Evangelischreformierten Kirchengemeinde Soest, mit etwa 330 Gliedern seinerzeit die kleinste Gemeinde in der westfälischen Landeskirche. Deshalb wundert es auch nicht, dass dem Moderamen46 eine Thesenreihe vorgelegt wurde, die bereits im Presbyterium und im Gemeindebeirat der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Soest verhandelt worden war.47 »Das Papier … ist im Zusammenhang einer Soester Seminararbeit als Ergänzung des Moderamensbriefes [sc. vom Oktober 1981] entstanden … Gemäß dem Vorschlag Wischnaths diskutiert das Moderamen in einer Gesprächsrunde grundsätzliche, inhaltliche u[nd] redaktionelle Aspekte des vorgelegten Papiers.« Inhalte gibt das Protokoll nicht wieder. Der Beschluss, einen von Walter Herrenbrück formulierten Text den Thesen voranzustellen, wird später in der Druckfassung schlicht nicht vollzogen. Das Moderamen beschließt – wohl einstimmig, wie es später im Vorwort des Drucks heißen wird – Folgendes: »Das … vorgelegte Papier wird mit den besprochenen Änderungen [im Protokoll gesetzte Anmerkung: z.B. Änderung von Punkt IV in der Formulierung] in Ottawa vorgelegt und diskutiert … Das Moderamen beauftragt Wischnath und Herrenbrück, die endgültige Fassung vorzunehmen.«48 Überraschend ist 45

Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens, Protokoll Moderamen 11.–12. Juni 1982, Nürnberg. Der Text fehlt bei den Moderamensprotokollen, ist aber in der Sonderakte Friedenserklärung Nr. 226 [25.21] enthalten. – Laut Begleitbrief war der Textvorschlag allerdings bereits am 20. Mai 1982 abgeschickt worden; als Eingang ist der 29. Mai 1982 aufnotiert. – Von der Sitzung des Moderamens im Juni 1982 berichtet noch im Juli die RKZ 123 (1982), S. 172. 46 Kritiker wiesen später auf die fehlenden Mitglieder hin. Laut Protokoll waren am betreffenden Tag 16 Moderamensmitglieder anwesend, sechs fehlten entschuldigt. Generalsekretär Guhrt war ebenfalls zugegen. Das Moderamen hatte auch damals bereits 24 Mitglieder. 47 In einem Schreiben an den Superintendenten Berthold Althoff schreibt Rolf Wischnath am 28. Mai 1982, dass in diesem Gemeindeausschuss Presbyter und weitere Gemeindeglieder teilgenommen hätten, insgesamt zehn Teilnehmer. Das Presbyterium hat danach einstimmig das Papier angenommen, um es über die Kreissynode als Stellungnahme zur Hauptvorlage der Kirchenleitung in der westfälischen Landeskirche zur Diskussion zu stellen (Brief im Archiv der Evangelisch-reformierten Gemeinde Soest, dankenswerterweise von Pfr. Friedhard Fischer zur Verfügung gestellt). Dort blieb das Papier wohl »hängen« und sorgte stattdessen durch den Reformierten Bund für Furore. 48 Angesichts der Wischnath-Soester Vorlage und der Endredaktion durch Herrenbrück und Wischnath ist die Formulierung, »[a]ls Leitungsgremium … verfasste das Moderamen … eine Erklärung« eher ungenau, wie es in der Einleitung einer Sammlung mit aktuellen Bekenntnissen zu finden ist, vgl. Marco Hofheinz u.a. (Hg.), Reformiertes Bekennen heute. Bekenntnistexte der Gegenwart von Belhar bis Kappel, NeukirchenVluyn 2015, S. 99–106, hier: S. 99. An der redaktionellen Überarbeitung waren neben den beiden Genannten auch der Generalsekretär sowie Otfried Hofius und Bertold Klappert beteiligt, der nicht Mitglied des Moderamens war, vgl. die »Anmerkungen« von

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der Beschluss, dass »[d]ie deutsche Auflage … 5000 Stück betragen [soll]«, war dieser Text doch von der Hauptversammlung für die Ottawa-Delegation erbeten worden. Eine englische und französische Fassung ist vorgesehen und für eine Diskussion auf Weltebene in Ottawa sicher nützlich. Aber offenbar war eine breit angelegte Veröffentlichung anvisiert und keine nur interne Vorbereitung für den Weltbund. Allerdings schien es nicht zu eilen: »Öffentlichkeits- und Pressearbeit werden auf der nächsten Moderamenssitzung als TOP verhandelt.«49 Ende Oktober war es für eine gelassene Vorgehensweise allerdings zu spät. Offenbar gab es – bei einzelnen Moderamensmitgliedern – ein Interesse, bereits vorher massiv in die Öffentlichkeit zu gehen.50 Vergleicht man die Soester Urfassung der Thesen mit der veröffentlichten Form,51 die so nicht zur Abstimmung stand, können stilistische Änderungen wie auch geringfügige Ergänzungen und Kürzungen festgestellt werden. Die Einteilung in sieben Abschnitte ist identisch wie auch der Aufbau der einzelnen Abschnitte: theologische Aussage, Unvereinbarkeitserklärung und Selbstverpflichtung zum Handeln. Die grundlegenden Aussagen über Christus als dem Herrn der Welt und das der ganzen Welt geltende Versöhnungsgeschehen Gottes als »neue Wirklichkeit« werden aus den niederländischen und deutschen Vorlagen fortgeführt. Christus, der Versöhner, wird genannt, wie auch Gott, der Wischnath vom 12. September 1982, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]. Der junge Wuppertaler Theologieprofessor Bertold Klappert gab 1983 gemeinsam mit seinem Assistenten Ulrich Weidner heraus: Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrüstung, Neukirchen-Vluyn 1983. 49 Protokoll des Moderamens, 11.–12. Juni 1982, Nürnberg, a.a.O., S. 8f. Im RKZBericht über die Sitzung wird als Zweck des »Friedenspapiers« die Zuarbeit für die Delegierten in Ottawa genannt, allerdings auch hinzugefügt, dass es »nicht nur den Ottawa-Delegierten nützen [soll], es soll auch den Gemeinden und Einzelmitgliedern des Reformierten Bundes zugesandt und zur Verfügung gestellt werden.« RKZ 123 (1982), S. 172. Dafür jedoch wäre ein Drittel der Auflage (zunächst) auch ausreichend gewesen. 50 So gestand Horsta Krum ein: »[V]ielleicht habe ich auch den epd Berlin zu schnell über unsere Thesen informiert – nämlich genau am Erscheinungstag unserer Erklärung.« Horsta Krum, Kirchengemeinschaft nicht aufgekündigt, in: RKZ 123 (1982), S. 313f., hier: S. 314. Das Datum teilt Horsta Krum nicht mit, es war der 10. August; die epdMeldung erschien unter dem Rubrum »Berlin« in ZA epd vom 11. August 1982. Allerdings zeigt sich Horsta Krum von den scharfen Reaktionen überrascht, habe der reformierte »Standpunkt … sich durch vorherige Veröffentlichungen bereits deutlich herauskristallisiert«. 51 Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Eine Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes, Gütersloh 1982. – Wir beschränken uns hier auf die Thesen und lassen die Erläuterungen (nicht ganz) außen vor, weil es in den nachfolgenden Debatten auch vor allem um die Thesen ging. Immerhin wird in der Erläuterung zu These 1 in der redigierten Fassung ein grundlegendes reformiertes Traditionsgut aufgeführt, nämlich »dankbar zu leben«. Die Erläuterungen beginnen nach biblischen Zitaten jeweils mit »Wir glauben«.

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Schöpfer und Erhalter, der »in Treue den Bund mit uns Menschen« erneuert. Die beiden Schlussabschnitte behandeln die Wirksamkeit des Heiligen Geistes für die Gegenwart und den wiederkommenden Christus für die endzeitliche Zukunft. Eine gravierende Änderung wurde im ersten Abschnitt vorgenommen. Hieß es in der Vorlage noch: »Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Angesichts der atomaren Bedrohung ist sie sogar eine Bekenntnisfrage ersten Ranges«, so wurde daraus: »Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.« In der Erläuterung wird nach einem Hinweis auf die neue Qualität der atomaren Bewaffnung ausgeführt: »Wie im Kirchenkampf die ›Judenfrage‹ zur Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die Massenvernichtungsmittel in den status confessionis – d.h. wir sehen uns unumgänglich herausgefordert, diese Frage als eine Frage des Glaubens und des Gehorsams im Hören auf die Schrift und in der Bitte um die Leitung des Geistes klar und verbindlich zu beantworten, weil es in ihr um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.« Dieser Bekenntnisstandpunkt bedeute aber nicht, anders Denkende zu Gegnern zu erklären. Nachdrücklich müsse in der Kirche in Bekenntnisfragen aber die eine Position bezogen werden. Andersdenkende würden nicht exkommuniziert, es würde nicht mit Spaltung der Kirche gedroht, sondern die Feststellung des status confessionis sei »Einladung zum Glauben und Ruf in die verbindliche Entscheidung des Bekennens.«52 Als weitere Änderungen seien genannt: Im Abschnitt 2 heißt es neu in der Druckfassung, dass man der »neuen Wirklichkeit« der Versöhnung »durch unser ganzes Leben im Glauben und im Gehorsam entsprechen« solle. Der Abschnitt IV nimmt einige Spiegelstriche konkreter politischer Handlungsschritte zusätzlich auf. Vor allem wird gemäß der Vorgaben des Moderamens der ursprünglich kurze Abschnitt IV in ausführlicher Anlehnung an Barmen V ausgeweitet; dabei bleibt die Zuspitzung in der Formulierung »Nein ohne jedes Ja« erhalten, wie auch im nächsten Abschnitt die Kooperation mit denen, »die keine Christen sind«. Zweimal wird dem Dual »beten und arbeiten« – nämlich für den Frieden – ein »denken« zwischengestellt (Abschnitte I und VI). Überraschend ist die Textgestaltung also nicht, und man wird mit einigem Recht annehmen können, dass das in der Vorlage nicht enthaltene Stichwort »status confessionis« während der Moderamenssitzung im Juni fiel, war es doch schon in anderen Texten enthalten. Außerdem hatte der Rat der Evangelischen Kirche der Union bereits im April 1982 mit lutherischen und reformierten Vertretern in der Arnoldshainer Kon52

Das Bekenntnis zu Jesus Christus, a.a.O., S. 14f.

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ferenz über politische Meinungsäußerungen der Kirche diskutiert.53 Man riet zu einer binnenkirchlichen Vorsicht: »Der status confessionis darf nicht in jedem ernsten Konflikt und vorschnell ausgerufen werden. Dadurch wird die Meinungsbildung blockiert, die Kirche erstarrt in Fronten. In manchen Gegensätzen bedarf es der Geduld und des beharrlichen Miteinanderredens, ehe an eine letzte Entscheidung gedacht werden kann.«54 Das mag manchen Moderamensmitglied motiviert haben, mit der Option für einen status confessionis zu einer konfessionellen Profilierung der Reformierten und zu einer möglicherweise auch erwünschten Provokation innerhalb des Protestantismus beizutragen. Neben der niederländischen »Tradition« griff der Text der Moderamenserklärung vielfältig auf deutsche und deutschsprachige theologische und kirchliche Positionierungen zurück. Bereits Ende der 50er Jahre hatte der bruderrätliche Flügel im deutschen Protestantismus gegen die kompromissfähige EKD den status confessionis in Sachen der Atombewaffnung behauptet.55 Auf den Anschluss an diese Erklärung wiesen die Protagonisten der Moderamenserklärung auch hin.56 Überhaupt grundierte die Barmer Theologische Erklärung57 und die Theologie Karl Barths, 53

Vgl. Möglichkeiten und Grenzen eines politischen Zeugnisses der Kirche und ihrer Mitarbeiter. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1982. 54 Zit. nach epd-Dokumentation 50/82, S. 15. 55 Abgedruckt in: Atomwaffen und Ethik, a.a.O., S. 97f.; Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962 (NBST 24), Neukirchen-Vluyn 1999; Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005) (KGiE IV/2), Leipzig 2010, S. S. 66–73; Vgl. auch Volker Stümke, Der Streit um die Atombewaffnung im deutschen Protestantismus, in: ders. / Matthias Gillner (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert (Theologie und Frieden 42), Stuttgart 2011, S. 49–69. – Ulrich Möller war bereits 1982/1983 Akteur, vgl. etwa ders., Zum Problem des Status confessionis, in: RKZ 124 (1983), S. 122–130, auch in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 236–271. 56 Etwa Hans-Joachim Kraus in einer Erklärung im Januar 1984, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 535–537, hier: S. 536 (auch in: Kirchliches Jahrbuch 110 [1983], S. 287–289, hier: S. 288): »Wiederholt haben Mitglieder des Moderamens darauf hingewiesen, daß die Rede vom status confessionis in der Erklärung aus dem Jahr 1982 bewußt und inhaltlich nachweisbar insbesondere an die Thesen der Kirchlichen Bruderschaften zu den atomaren Massenvernichtungsmitteln aus dem Jahre 1958 anknüpft und erinnert.« Vgl. auch den Abdruck des Textes aus dem Jahr 1958 in RKZ 124 (1983), S. 245f. durch Herbert Ehnes. 57 Es gibt allerdings einen signifikanten Unterschied: Barmen V redet von »der noch nicht erlösten Welt«, in der der Staat zu agieren habe, und löst damit die Spannung zwischen Erlösung und Vollendung nicht auf; die Moderamenserklärung bezeichnet die Versöhnung als »neue Wirklichkeit« – der Vorwurf der »Schwärmerei« wurde dann auch prompt laut. – Besonders scharf wird in einer kirchenrechtlichen Dissertation behauptet, die Moderamenserklärung wäre mit der Ausrufung des status confessionis in einer politischen Frage ein eklatanter Verstoß gegen die Einsichten der Barmer Theologische Erklärung (vor allem Thesen I und VI), vgl. Götz Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der

3. Entstehung und Text der Erklärung des Moderamens

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die vor allem ab KD IV unter dem Schlagwort »Versöhnung« firmierte, diese Erklärung und ihre Vorläufer.58 Dass diese »Versöhnung« politische Konsequenzen habe müsse, war theologisches Gemeingut in bruderrätlichen Kreisen59 und wurde dann auch global kommuniziert: Jürgen Moltmanns Vortrag auf der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1970 in Nairobi ist dafür ein gutes Beispiel.60 Deshalb sieht man sich bekennend auch in einer Tradition des Widerstands, der aus einer Solidarität mit der versöhnten Welt geboten ist, »wo [der Staat] Massenvernichtungsmittel in seine Machtmittel einbezieht … [sc. und so] zu einer solchen widergöttlichen Macht wird.«61 Das war eine nachgerade ersehnte Tradition, in die man sich stellen konnte oder in der man sich selbst verstand: Tapferer und eindeutiger bekennen, theologische Grundsätze in Kirche und Welt anwenden (Versöhnung), innerhalb der Kirche Opposition sein62 und gegen widergöttliche Mächte in der Welt Widerstand leisten: Versöhnung und Widerstand. Die zum Ausdruck kommende politische Haltung war die der »Linksbarthianer« etwa von Walter Kreck63, dessen Schüler Rolf Wischnath war, vom neuen Moderator Hans-Joachim Kraus, der bereits in den 50er als Redner gegen Atomwaffen aufgetreten war, oder vom jungen Wuppertaler Professor Bertold Klappert.64 Dass die Resonanz wenige Wochen später so heftig war, verwundert angesichts einer epd-Meldung, die Generalsekretär Joachim Guhrt als Pressemeldung in den epd gab. Dort heißt es: »[D]ie Bereitstellung und Kirchen – Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht. Eine Untersuchung zum öffentlichen Wirken der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland (Ius ecclesiasticum 64), Tübingen 2000, S. 138–143.156–180. 58 Darauf wirft einen kritischen Blick Friedhelm Krüger, Ist die Friedensfrage eine Bekenntnisfrage im Sinne des »status confessionis«?, in: Norbert Ammermann (Hg.), Frieden als Gabe und Aufgabe. Beiträge zur theologischen Friedensforschung, Göttingen 2005, S. 97–116, hier: S. 101–106. 59 Vgl. etwa Wolfgang Schweitzer, Die Versöhnung in Christus und die Frage des deutschen Anspruches auf die Gebiete jenseits der Oder und Neiße, in: Junge Kirche 24 (1963), S. 718–723. 60 Jürgen Moltmann, Gott versöhnt und macht frei, in: Nairobi. Vereinigende Generalversammlung des Reformierten Weltbundes und des Internationalen Kongregationalistischen Rats, autorisierter Bericht, bearbeitet von Karl Halaski u.a., mit einer Einführung von Edmont Perret (epd-Dokumentation 4), Witten u.a. 1971, S. 19–31. 61 Das Bekenntnis zu Jesus Christus, a.a.O., S. 26 (Erläuterung zu These V). 62 Auch eine gänzlich andere Opposition in der Kirche benutzte den Terminus status confessionis, nämlich Konservativ-Evangelikale, die gegen »moderne«, also historisch-kritische Theologie und gegen die Theologie Rudolf Bultmanns agierten, v.a. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989) (AKiZ B 53), Göttingen 2012. 63 Vgl. Walter Kreck, Politische Stellungnahmen in Theologie und Kirche. Bemerkungen zu einem umstrittenen Thema, in: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, a.a.O., S. 463–471. 64 Vgl. Bertold Klappert, Der Aufstand gegen das Nichtige. K. Barths Stellungnahmen zu den Massenvernichtungsmitteln, in: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, a.a.O., S. 365–382.

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Anwendung von Massenvernichtungsmitteln … seien unvereinbar mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Dies wird in der Erklärung ›Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche‹ festgestellt, die bei der Tagung des Moderamens … in Nürnberg beraten wurde und demnächst veröffentlicht werden soll.«65 Es hätte bekannt sein können, wie sich die Reformierten alsbald würden positionieren wollen. 4. Veröffentlichung und erste Reaktionen Innerhalb weniger Wochen lag das Heft gedruckt vor, zum Ärger des Neukirchener Verlages,66 der so viel verlegerisches Herzblut in vorangegangene themenbezogene Publikationen gesteckt hatte, nun im Gütersloher Verlagshaus, noch mehr zum Ärger des EKD-Kirchenamtes, weil man erstens nicht vorab informiert worden war, zweitens der erklärte status confessionis als die Einheit der Kirche gefährdend angesehen wurde und drittens des Cover-Layouts wegen, das in dieser Erklärung eine offizielle Denkschrift der EKD vermuten ließ.67 Als maßgebliche reformierte Funktionäre auf der Generalversammlung in Ottawa weilten und noch während der bundesdeutschen Urlaubszeit erschien das Heft mit der Moderamenserklärung, möglicherweise bereits kurz zuvor der Presse zugespielt, Mitte August (11./12. August68). Das Echo war enorm, wobei die Rezeption der deutschen und der niederländischen Erklärungen in Ottawa beinahe übersehen wurde, allerdings unterließ man es dort, in Sachen der Kernbewaffnung von einem status confessionis zu sprechen – dieser wurde jedoch bezüglich der Apartheid proklamiert,69 und zwar 65 epd-Nachrichtenspiegel vom 23. Juni 1982, S. 3; zit. nach Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]. 66 Brief des Neukirchener Verlages an den Generalsekretär Joachim Guhrt, Neukirchen-Vluyn, 6. September 1982, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]. 67 Die EKD bestand bei der 2. Auflage auf einem geänderten Design, vgl. den umfangreichen Briefwechsel dazu, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]; vgl. auch Wischnath, Bekennen in der Friedensfrage, a.a.O., S. 226. 68 So erinnerte sich der Generalsekretär Ende Oktober. Am selben Tag geschah der Versand an die EKD und an die Landeskirchen. Interessanterweise bestätigte der Stuttgarter Oberkirchenrat den Empfang am 10. August, so der Generalsekretär in einer Tischvorlage für die Oktober-Sitzung des Moderamens, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens 29.– 30. Oktober 1982, Bremen, Vorlage zu TOP 17. 69 Friede und Gerechtigkeit, in: RKZ 123 (1982), S. 270f., auch in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 434–437. Allerdings war »Frieden« auch nur ein Thema neben anderen in Ottawa. Möglicherweise wurden die Entscheidungen hinsichtlich Südafrikas global stärker wahrgenommen. Der Südafrikaner Allan Boesak wurde zudem in Ottawa zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes gewählt. Vgl. auch: Ihr wer-

4. Veröffentlichung und erste Reaktionen

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fünf Jahre nachdem der Lutherische Weltbund auf seiner 6. Vollversammlung 1977 in Daressalam den status confessionis in Bezug auf die Situation in Südafrika erklärt hatte. Bevor die gedruckte Erklärung den Mitgliedern des Reformierten Bundes,70 ja sogar manchen Moderamensmitgliedern überhaupt zugestellt werden konnte, reagierte der bekannte, als eher konservativ angesehene Journalist Karl-Alfred Odin bereits am 16. August in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), eröffnete damit ein landesweites Echo, auch indem er – wahrscheinlich im Sinne der Verfasser – zuspitzte, dass der Reformierte Bund damit der Friedensdenkschrift der EKD von 1981 widerspräche.71 Im Vorwort hatte Moderator Kraus diese Interpretation vorgegeben: »Problematische ›Ausgewogenheit‹, Zweideutigkeit und Unentschlossenheit in der Evangelischen Kirche in Deutschland haben dieses Sondervotum herausgefordert.«72 Der Text sei »im Stil eines Glaubensbekenntnisses verfaßt«, so der FAZ-Kirchenredakteur. Vor allem auch die vermeintliche »Gleichstellung der Friedensfrage mit der Judenfrage« während des Nationalsozialismus bedeute »die Ansage eines geistigen Kampfes im westdeutschen Protestantismus.«73 Kraus det meine Zeugen sein. Ein Aufruf zur Selbstbesinnung an die Kirchen des Reformierten Weltbundes, Neukirchen-Vluyn 1983, 21984 (engl.: Called to Witness tot he Gospel Today, Genf 1983), zum Thema Frieden: S. 50–52. 70 Der Lippische Landessuperintendent konnte erst am 18. August 1982 den Versand der Moderamenserklärung an die PastorInnen und VikarInnen seiner Landeskirche mit einem Begleitbrief und Kopien des FAZ-Artikels vom 16. August 1982 versehen, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]. – Ein Druck der Thesen erfolgte noch Mitte Oktober in: RKZ 123 (1982), S. 271f. 71 So formulierte es auch das offiziöse Kirchliche Jahrbuch (108/109 [1981/1982], a.a.O.) direkt im Anschluss an den teilweisen Abdruck der EKD-Friedensdenkschrift: »Widerspruch kam vom Moderamen des Reformierten Bundes.« (S. 103) »Die ungewöhnliche Schärfe dieser Erklärung veranlaßten sowohl den Rat der EKD als auch die Kirchenleitung der VELKD zu einer Antwort« (S. 105). 72 Das Bekenntnis zu Jesus Christus, a.a.O., S. 4. – Kraus hatte damit die Lesart der Moderamenserklärung präjudiziert. Die die Reaktionen sammelnde epd-Dokumentation 45/82 erschien unter der Überschrift »Reformierte ›Gegendenkschrift‹ löst Kontroverse in Bekenntnisfrage aus.« Das Wort »Gegendenkschrift« benutzte auch Rolf Wischnath in seinem Begleitschreiben beim Abdruck der Erklärung in epd-Dokumentation 38a/82, S. 12f., hier: S. 12. So wurde die Moderamenserklärung auch als der »theologisch exponierteste[.] Einspruch gegen die EKD-Friedensdenkschrift« bezeichnet, Hans-Richard Reuter, Konfession und Ethik in der Friedensverantwortung der Kirchen. Eine vergleichende Studie, in: Oswald Bayer u.a., Zwei Kirchen – eine Moral?, Regensburg 1986, S. 119–167, hier: S. 128f. (zur Moderamenserklärung, a.a.O., S. 128–137); vgl. auch Wolfgang Huber / Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart u.a. 1990, S. 166–208, besonders S. 181– 186. 73 Auch abgedruckt in: RKZ 123 (1982), S. 273f. – Rolf Wischnath hält heute »die damalige Parallelisierung von Holocaust und Atomwaffen … für völlig verfehlt.« Wischnath, Bekennen in der Friedensfrage, a.a.O., S. 232f., hier: S. 233.

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hatte im Vorwort formuliert: »Die nukleare Vorbereitung des universalen Holocaust ist kein ›Adiaphoron‹«.74 In zahlreichen Medien wurde berichtet, Ähnliches wiedergegeben, so dass sich manche Kritik gar nicht auf das eigentliche inhaltliche Anliegen bezog, sondern kirchenstrategisch angelegt war. Der Ratsvorsitzende der EKD, Eduard Lohse75, schlug durch eine epd-Meldung am 20. August 1982 Alarm und sah die »kirchliche Gemeinschaft« belastet. Daraufhin wandte sich der Lippische Landessuperintendent Ako Haarbeck, der so etwas wie die reformierte Stallwache während der Abwesenheit anderer reformierter Spitzen zu halten hatte, brieflich an den Generalsekretär, der sich auf der Generalversammlung in Ottawa (17.–27. August) aufhielt: »Die Friedenerklärung des Moderamens schlägt hohe Wellen … Allerdings beißt die Diskussion sich jetzt an einer Frage fest, die wir weder beabsichtigt noch im Blick gehabt haben: Die Frage der Einheit innerhalb der EKD.«76 Haarbeck, 1980 ins Amt gekommen, trug als leitender Geistlicher eben auch gesamtkirchliche Verantwortung. Nach einer zweistündigen angespannten Diskussion mit Vertretern des Moderamens auf der Kirchenkonferenz am 16. September,77 folgte dann nach der Sitzung des Rates der EKD am 16./17. September ein Kommuniqué, in dem der Rat erklärte, den status confessionis »nicht teilen« zu können und »beschwert [zu sein] über den Umstand, daß er … nicht rechtzeitig unterrichtet worden ist.«78 Haarbeck resümierte einige Tage später kritisch: Durch die Moderamenserklärung »ist das Verhältnis des Reformierten Bundes

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Das Bekenntnis zu Jesus Christus, a.a.O., S. 4. Die Nennung der »Judenfrage«, a.a.O., S. 14 (s.o.). 75 Vgl. Eduard Lohse, Erneuern und bewahren. Evangelische Kirche 1970–1990, Göttingen 1993, S. 112–139: Die Sorge um die Erhaltung des Friedens; S. 120–124: Status confessionis? 76 Brief Ako Haarbecks an Joachim Guhrt, 26. August 1982, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, LLK 234-2 Band 23: Juli bis September 1982. 77 Lohse, Erneuern und bewahren, a.a.O., S. 121f.: »In der gesamten Zeit meiner Zugehörigkeit zu den Organen der EKD habe ich keine andere Beratung der Kirchenkonferenz erlebt, in der mit solcher Schärfe der Kritik diskutiert wurde … Zwar wurde mit dem Paukenschlag der reformierten Erklärung eine ganz starke öffentliche Wirkung erzielt, aber auch nicht wenige reformierte Christen fühlten sich befremdet über Art und Weise, in der hier vorgegangen wurde.« 78 Abgedruckt in: RKZ 123 (1982), S. 301f., auch in: Wischnath, Friedensfrage, a.a.O., S. 441f.; Kirchliches Jahrbuch 108/109 (1981/1982), a.a.O., S. 106f. Auch das Kommuniqué der Kirchenleitung der VELKD vom 10. September 1982 argumentierte in dieselbe Richtung, vgl. Wischnath, Friedensfrage, a.a.O., S. 438f.; Kirchliches Jahrbuch 108/109 (1981/1982), a.a.O., S. 105f. – Aus der Richtung kam dann auch Karl Heinz Stoll, Status confessionis. Das Bekenntnis des Glaubens zu Jesus Christus im Zeitalter der atomaren Gefahr (Kirchliche Aspekte heute 24), Hannover 1984, S. 62–75.

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zur EKD, zur Arnoldshainer Konferenz, zur EKU und zu vielen Mitgliedern in einem besorgniserregenden Ausmaß gestört worden.«79 Was der frühere Moderator Wilhelm Niesel als »heilsame Unruhe« bezeichnete, stellte sich für andere umgekehrt als beunruhigendes Unheil dar. Die seinerzeit von Walter Herrenbrück redigierte RKZ hatte im Herbst 1982 die Größe, vor allem kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Besonders schmerzhaft war intern wohl die grundlegende Ablehnung der Moderamenserklärung durch den früheren Generalsekretär Karl Halaski80 und den renommierten reformierten Kirchenhistoriker J.F. Gerhard Goeters.81 Die Reaktionen von Einzelpersonen, Gemeinden,82 Synoden und Organisationen – etwa dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU – nahmen dann nach Ende der Ferienzeit kaum noch ein Ende.83 Kritische Stimmen kamen insbesondere aus Lippe und von Altreformierten. Die politische Situation war angespannt: Nachdem die vier FDP-Minister der Bundesregierung ihrer Entlassung durch Bundeskanzler Helmut Schmidt durch Rücktritt am 17. September zuvorkamen und Schmidt kurzzeitig ein Minderheitenkabinett führte, war das zweite konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik am 1. Oktober erfolgreich: Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und stand an der Spitze einer konservativ-liberalen Regierung, die durch die Bundestagswahl am 6. März 1983 eindrucksvoll bestätigt werden sollte. Kohl postulierte nicht weniger als eine »geistig-moralische Wende«. Das war auch für linksprotestantische Reformierte ein Fanal. Der Berliner Neutestamentler Walter Schmithals nahm einen weiteren FAZ-Kommentar von Karl-Alfred Odin auf, um harsche Kritik zu üben, die sich wahrscheinlich genauso gegen die Inhalte richtete,84 auch wenn er das formale Vorgehen rügte. Odin hatte es als »ohne Beispiel in der Geschichte der Kirche« bezeichnet, falls eine solche Erklärung ohne »Zustimmung der Gemeinden« zu Stande gekommen wäre – in der Tat 79

Ako Haarbeck, Anfragen an das Moderamen (3 Seiten), 20. September 1982, Archiv der Lippischen Landeskirche, LLK 234-2 Band 23: Juli bis September 1982. 80 Karl Halaski, Fragen an das Moderamen, in: RKZ 123 (1982), S. 274f. 81 Vgl. Harm Klueting, Johann Friedrich Gerhard Goeters. Doktor und Professor der Theologie (1926–1996). Ein Porträt statt eines Nachrufes, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 91 (1997), S. 13–25, hier: S. 25. 82 Besonders harsch reagierte die Mitgliedsgemeinde Bielefeld: »Die Proklamation des Moderamens ist unevangelisch, weil sie den absoluten Wahrheitsbesitz für sich beansprucht, unbrüderlich, weil sie dem Andersdenkenden den rechten Glauben abspricht, und oberflächlich, weil sie über der Friedenssicherung andere Werte verschweigt.« Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens 29.–30. Oktober 1982, Bremen, Vorlagen zu TOP 17. 83 Es existieren drei umfangreiche Konvolute mit Reaktionen: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 227–229 [25.22–24]. 84 Vgl. die entsprechenden Aufsätze in: Walter Schmithals, Bekenntnis und Gewissen. Theologische Studien zur Ethik, zum 60. Geburtstag hg. von Hans-Eberhard Hess und Bernd Wildemann, Berlin 1983.

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waren die Erklärungen in den Niederlanden unter Einbeziehung der kirchlichen Basis85 und in einem längeren Prozess entstanden. Schmithals reklamierte »diese in der Tat unvorstellbare Verletzung des ›Gemeindeprinzips‹ … ausgerechnet durch ein reformiertes Gremium.« Er weist darauf hin, dass die Hauptversammlung lediglich den Auftrag zur Erstellung eines Beitrags für die Generalversammlung in Ottawa gegeben hätte. »Der Auftrag zu einer öffentlichen Erklärung lag nicht vor, erst recht nicht der Auftrag, ein neues Bekenntnis aufzustellen. Zu einem solchen Auftrag wäre die Hauptversammlung auch gar nicht befugt gewesen, da die Ordnung des Reformierten Bundes dessen Bekenntnisstand eindeutig festlegt. Die Mitglieder des Reformierten Bundes wurden von der ›Erklärung‹, mit der die Leitung des Reformierten Bundes also auch die eigene Ordnung verletzt, nicht weniger überrascht als die Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß die ›Erklärung‹ von einem Ausschuß vorbereitet wurde, dessen Vorlage sich wesentlich von der veröffentlichten Erklärung unterscheidet. Vor allem enthielt sie den Begriff des ›status confessionis‹ – des neuen (politischen) Bekenntnisstandes – noch gar nicht. Dieser Begriff wurde erst nach Gespräch und Abstimmung über die Vorlage eingefügt. Die Erklärung hat also in der veröffentlichten Fassung der Leitung des Reformierten Bundes gar nicht zur Abstimmung vorgelegen.«86 Wer Schmithals mit den internen Informationen aus der Juni-Sitzung versorgte, ist unklar. Auch wenn Schmithals87 mit der Behauptung, hier sei ein neues Bekenntnis entstanden und die Ordnung des Reformierten Bundes verletzt worden,88 überzieht, weist er doch auf eine Schwachstelle des Procedere 85

In den Niederlanden waren Gemeinden viel stärker in die Versöhnungsarbeit zwischen Ost und West eingebunden. Von 1979 bis 1986 ist bei den niederländisch-ostdeutschen Gemeindepartnerschaften ein Anstieg von etwa 20 auf etwa 300 (!) zu verzeichnen, vgl. Beatrice Jansen-de Graaf, Der Aufbau der offiziellen kirchlichen Gemeindekontakte zwischen den Niederlanden und der DDR 1970–1980, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 13 (2002), Münster 2003, S. 11–41, hier: S. 38. M.W. gibt es noch keine Studie zu den Gemeindepartnerschaften der reformierten Gemeinden in der DDR (zu denen in der BRD). 86 Auch abgedruckt in: RKZ 123 (1982), S. 326, zuerst erschienen in der FAZ vom 20. Oktober 1982. 87 Walter Schmithals gehörte dem Prüfungsausschuss der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland und der reformierten Professorenkonferenz an, gelegentlich publizierte er in der RKZ, vor allem Rezensionen. Er war dezidiert kein »Barthianer«, sondern entstammte der Bultmann-Schule. Von den Reformierten hatte er immer wieder das Signal erhalten, nicht sonderlich erwünscht zu sein. Als Rolf Wischnath auf der Hauptversammlung 1978 ins Moderamen gewählt wurde, belegte Schmithals den letzten (17.) Platz der sechs zu Wählenden, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Moderamensprotokolle, Nr. 160 [22.39], Protokoll der HV 12.–14. Oktober 1978, Detmold. 88 Schmithals blieb an diesem Punkt intransigent: In einem Brief an den Verfasser vom 17. Dezember 2002 beklagte er sich noch 20 Jahre später im Blick auf die Moderamens-

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hin. Diese wurde insofern korrigiert, als dass das Moderamen dann Ende Oktober die veröffentlichte Schlussfassung annahm – allerdings nicht einstimmig89 – und mit einer längeren Erklärung an die Öffentlichkeit ging.90 Auf dieser Sitzung wurden eingehend die Reaktionen gesichtet, wobei Rolf Wischnath auch hier federführend war,91 und der Generalsekretär erstellte Vorlagen. Bis dahin hatten – lediglich – fünf Einzelmitglieder des Reformierten Bundes ihren Austritt wegen der Moderamenserklärung erklärt, dagegen waren 20 Anträge auf Einzelmitgliedschaft eingetroffen. Walter Schmithals erklärte brieflich seine Mitgliedschaft »solange als ruhend …, wie sich das Moderamen selbst außerhalb der Ordnung des Reformierten Bundes stellt.« Moderator Kraus war publizistisch und durch Vorträge unermüdlich tätig, um die Moderamenserklärung zu vermitteln.92 5. Auseinandersetzungen bis zur Hauptversammlung 198493 Auch wenn die große Mehrheit im Moderamen hinter der Erklärung stand und man sehr viel positive Resonanz erhielt, hat diese Mehrheit eine weitere Diskussionen nicht verhindert, obwohl manche Voten durchaus scharf ausfielen. Im Gegenteil: So wie die RKZ die Kritiker zu Wort kommen ließ, so kümmerte man sich im Moderamen um Gespräche: vom Rat der EKD über Organisationen bis hin zu Einzelpersoerklärung 1982, dass »deren ordnungswidriges Zustandekommen und deren unmögliche Theologie noch nicht nachgearbeitet wurden.« 89 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens 29.–30. Oktober 1982, Bremen (vgl. auch RKZ 123 [1982], S. 312f.). Moderamensmitglied Albrecht kündigt seine Enthaltung in Sachfragen an, Martin »Weyerstall erklärt, er hätte der Friedenserklärung nicht zugestimmt, wenn ihm der überarbeitete Text und das Vorwort [sic!] bekannt gewesen seien.« 90 Die epd-Meldung ist abgedruckt in RKZ 123 (1982); S. 312f., auch in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 453f. – Laut Protokoll mit drei Enthaltungen angenommen. 91 Bereits mit Datum vom 12. September 1982 erstellte Wischnath »Einige vorläufige Anmerkungen zur bisherigen Kritik an der Erklärung des Moderamens«, dort auch eine tagegenaue Rekonstruktion der Redaktion und Veröffentlichung des Textes, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Friedenserklärung, Nr. 226 [25.21]. 92 Vgl. etwa Hans-Joachim Kraus, Die Atomfrage ist Bekenntnisfrage. Eine Begründung der Erklärung des Reformierten Bundes, in: FAZ Nr. 290, 15. Dezember 1982, S. 8. 93 Zur sozialethischen Diskussion vgl. zeitgenössisch Johannes Fischer, Nein ohne jedes Ja? Kritische Anfragen an die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes zur Friedensverantwortung der Kirche, in: ZThK 80 (1983), S. 352–372; Martin Honecker, Die Diskussion um den Frieden 1981–1983, in: Theologische Rundschau 49 (1984), S. 372–411; Edgar Thaidigsmann, Vermittlung oder Entscheidung. Bemerkungen zur Friedens-Denkschrift der EKD und zur Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes zur Friedendsverantwortung der Kirche, in: EvTh 47 (1987), S. 3–21.

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nen.94 Es wurde sogar ein kleiner Ausschuss mit Moderator Kraus, Generalsekretär Guhrt und Landessuperintendent Nordholt benannt, der die eintreffenden Briefe zu beantworten hatte. Nach den massiven Vorwürfen aus der EKD und von einigen Landesbischöfen war das Gespräch mit Vertretern des Rates der EKD, der VELKD, der EKU und der Arnoldshainer Konferenz am 30. und 31. Januar 1983 in Mülheim (Ruhr) besonders wichtig. Man war – laut gemeinsamer Presseerklärung – allseits um ein verstehendes Gespräch bemüht und konstatierte viel Übereinstimmung (Ablehnung von Krieg). Strittig blieben das reformierterseits ausgesprochene »Nein ohne jedes Ja!« sowie das Argument der EKD-Denkschrift, mit der Bereitstellung von Atomwaffen könne Frieden gesichert werden. Der status confessionis taucht in der gemeinsamen Erklärung nicht auf. Man konnte keine Einigung erzielen, blieb aber im Gespräch: »Die Gesprächsteilnehmer waren sich bewußt, daß die bestehenden Probleme und Differenzen nicht ohne weiteres lösbar sind. Der die Aussagen der beiden Dokumente vertiefende Dialog trug dazu bei, die verschiedenen Ansätze besser zu verstehen. Die Meinungsverschiedenheiten wurden als eine Herausforderung angesehen, an diesen Fragen weiter zu arbeiten.«95 Durch die große Resonanz, die die radikalere Position der Reformierten auf dem ganz von der Friedensfrage bestimmten Kirchentag in Hannover 1983 fand, konnte man sich bestätigt fühlen. Überlegungen zu einer außerordentlichen Hauptversammlung zur Thematisierung der »Friedensfrage«, die angedacht worden war, weil die turnusmäßige Hauptversammlung 1984 auch das 100jährige Bestehen des Reformierten Bundes zu feiern haben würde, wurden wieder verworfen. Dagegen wurde als eine Hilfe zum Gespräch mit und in den Gemeinden ein »Pastoralbrief« von Rudolf Bohren angeregt, bei der Moderamenssitzung im Juni 1983 in Kassel besprochen und bereits im Juli 94 Der streitlustige Walter Schmithals, der auch mit einem juristischen Vorgehen drohen konnte, wenn sich öffentliche Aussagen als nicht wahr herausstellen sollten, legte im Dezember ein 15seitiges Papier »Das Bekenntnis der Gemeinde und das Gewissen der Christen« vor, in: Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund, Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens 18.–19. Februar 1983, Stapelage, Vorlagen und Anlagen zu TOP 16. Schmithals’ Text wurde abgedruckt in RKZ 124 (1983), S. 73–77, vgl. auch seinen Brief an den Herausgeber Herrenbrück in a.a.O., S. 133f. – Es meldete sich ablehnend auch Elisabeth Schwarzhaupt, ebd. 95 RKZ 124 (1983), S. 59 bietet nur eine kurze Meldung, nicht jedoch die gemeinsame Presseerklärung; abgedruckt in Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 466. Vgl. Kirchliches Jahrbuch 110 (1983), S. 256–258. Der Bearbeiter Erwin Wilkens kommentiert: »Derartige Begegnungen und Erklärungen genügen nicht, es darf eben nicht ›offen bleiben‹, welche politischen Schritte sich das Moderamen vorstellt. Wenn es dazu keine Vorstellungen hat, sind solche Besprechungen sinnlos.« Konkrete Detailfragen der Friedenssicherung könne »man nicht in einer Art von ethischem Handstreich überrollen.« A.a.O., S. 258.

5. Auseinandersetzungen bis zur Hauptversammlung 1984

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publiziert.96 Von bemerkenswerten Wirkungen dieses eher enigmatischen Textes an der kirchlichen Basis wird in den Publikationen und Archivalien allerdings nicht berichtet. Ein Treffen mit der EKD (Helmut Hild, Hans von Keler, Eduard Lohse, Hartmut Löwe, Trutz Rendtorff; von reformierter Seite: Joachim Guhrt, Gerhard Nordholt, Ako Haarbeck, Rolf Wischnath) am 15. September 1983 nahm einen »sehr positive[n] Gesprächsverlauf«, zumal sich der Rat der EKD in einer Erklärung gegen weitere Atomwaffen ausgesprochen hatte,97 allerdings kam es »nicht zu einer grundsätzlichen Annäherung«.98 Ein Gespräch mit Kritikern aus Westfalen, aus Lippe und von den Altreformierten am 8. Oktober 1983 erzielte in der Sache ebenfalls keine Annäherungen.99 Angesichts der bevorstehenden »Nachrüstung« ergriff das Moderamen nochmals das Wort, um an die bleibende Friedensverantwortung zu erinnern, auch wenn die konkrete politische Auseinandersetzung verloren gegangen war. Die »Stellungnahme des Moderamens des Reformierten Bundes zur Friedensdiskussion im Herbst 1983« knüpfte an eine Erklärung der ÖRK-Vollversammlung in Vancouver 1983 an und bezeichnet Herstellung, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen als »ein Verbrechen gegen die Menschheit«100 und verwendet so einen im Hinblick auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945 geschaffenen völkerrechtlichen Straftatbestand. Diesmal wird sogar eine Warnung vor der Stationierung neuer Waffen ausgesprochen. Eine weitere »Steigerung der Rüstungspotentiale in West und Ost« wäre »eine neue Konkretion der Sünde, die wir nicht bejahen oder widerspruchslos hinnehmen dürfen.«101 Genau eine solche Steigerung der Rüstungspotentiale geschah jedoch. Am 22. November 1983 stimmte der Bundestag der Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern zu. Wenige Tage später wurde mit der Stationierung begonnen. 96

RKZ 124 (1983), S. 189f. Auch abgedruckt in der zweiten, erweiterten Auflage der Moderamenserklärung, Gütersloh 1983, S. 57–62 (der Abdruck war im Moderamen umstritten). Zur Moderamenssitzung vgl. RKZ 124 (1983), S. 200f. 97 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Friedensdiskussion im Herbst 1983, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 493–498. 98 So Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten, a.a.O., S. 64. 99 Archiv der Lippischen Landeskirche, Bestand Reformierter Bund Nr. 162 [22.41], Protokoll des Moderamens, 30. September / 1. Oktober 1983, Frankfurt; vgl. auch RKZ 124 (1983), S. 312. 100 Die ÖRK-Erklärung von Vancouver, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 482–489. Vgl. Kirchliches Jahrbuch 110 (1983), a.a.O., S. 325–327. 101 Haarbeck/Storch und Wischnath legten einen Textentwurf vor, der mit 13 Ja- und 2 Nein-Stimmen angenommen wurde. Der Text ist wiedergegeben in RKZ 124 (1983), S. 285f., in der zweiten, erweiterten Auflage der Moderamenserklärung, Gütersloh 1983, S. 63f., und in Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 517f.

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Versöhnung und Widerstand

Auch die Reformierten in der DDR ließen sich durch die Moderamenserklärung ermutigen und erklärten ihre Zustimmung.102 Ein Jahr später äußerten sie ihre »Betroffenheit« über den nächsten Schritt der Rüstungsspirale auf Seiten der Warschauer Pakt-Staaten, wenn die unmittelbar bevorstehende Stationierung neuer Systeme in Westeuropa erfolge.103 Das eigene Friedensengagement, das ja oppositionelle Meinungen aus Westdeutschland übernommen hatte, konnte dann auch als Mittel in der Kommunikation mit staatlichen Behörden benutzt werden, wie ein Glückwunschschreiben des Generalkonvents zum 35. Jubiläum der DDR zeigt.104 Bis zur nächsten Hauptversammlung vom 27. bis zum 29. September 1984 in Mönchengladbach105 lag der im Dezember vom Moderamen beschlossene Dokumentenband zur Auseinandersetzung um die Friedenserklärung vor, der allerdings im ersten Teil mit Aufsätzen keine Kritiker zu Wort kommen lässt und im zweiten Teil mit »Stellungnahmen« ganz überwiegend »Kirchenamtliches« wiedergibt. Rolf Wischnath, der seit 1981 die »Federführung« in Sachen Frieden bei den Reformierten inne hatte und sich auch in den Folgejahren nahezu monothematisch engagierte, strebte nach Eindeutigkeit. Die Hauptversammlung 1984106 machte sich dann die Friedenserklärung von 1982 sowie die Erklärungen vom 30. Oktober 1982 und vom 1. Oktober 1983 »zu eigen«, allerdings votierten mit 46 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen mehr als ein Viertel nicht für diese reformierte Positionsbestimmung.107 Der Moderator führte nochmals vor, wie stark die zurückliegenden zwei, ja eigentlich drei Jahre – wenn man vom Moderamensbrief ab Oktober 1981

102

Stellungnahme des Reformierten Generalkonvents in der DDR, 9. November 1982, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 462f. 103 Erklärung des Reformierten Generalkonvents in der DDR, 9. November 1983, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 526. 104 Dieses Schreiben, das sich in den Akten der Stasi-Unterlagen-Behörde befindet, ist als Anhang abgedruckt. 105 Im Mai davor fand das erste große Barmen-Gedenken statt, bei dem die Reformierten stark involviert waren. Vgl. Manuel Schilling, Das eine Wort zwischen den Zeiten. Die Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung vom Kirchenkampf bis zum Fall der Mauer, Neukirchen-Vluyn 2004, S. 167–214: Streit um den Frieden: von 1979 bis 1989, darin S. 175–180: Der Barmen-Rummel 1984 – Ein Überblick über das Jubiläum. 106 Ihr werdet meine Zeugen sein. Reformiertes Zeugnis in unserer Zeit. 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge und Berichte von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 27.–29. September 1984 in Mönchengladbach, Bad Bentheim 1985, darin: Protokoll der Hauptversammlung, a.a.O., S. 51–66, ein entsprechender Antrag Gisela Kittels, a.a.O., S. 55, weitere Diskussionen, a.a.O., S. 55–57, weitere Anträge zur Friedensfrage, a.a.O., S. 59f., schließlich a.a.O., S. 64 der zusammenfassende Antrag. 107 Bei anderen Abstimmungen werden etwa 200 Stimmen verzeichnet, so daß die o.g. 59 Nicht-Zustimmungen etwa 29 % ausmachen werden.

6. Resümee

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rechnet – von der Friedensdiskussion geprägt waren.108 Bei aller politischen Nähe sollten sich dann die Wege von Kraus und Wischnath trennen, da der Moderator die schärfere Form der Leitsätze zum jüdischchristlichen Verhältnis 1990 durchzusetzen verstand. Kraus trat 1990 turnusmäßig ab, Wischnath, der 1986 ins Moderamen wiedergewählt wurde und dann 1990 in der Wahl um die Nachfolge Kraus’ Peter Bukowski unterlag, blieb noch bis 1994 im Moderamen. 6. Resümee Das bis heute herrschende Selbstverständnis der Reformierten, mit der Erklärung von 1982 einen großen Wurf gelandet zu haben, steht im eklatanten Missverhältnis zu den damaligen Reaktionen und Wirkungen v.a. außerhalb des reformierten Lagers. Gewiss hat sie damals die Mehrheitsmeinung der reformierten Kirchenfunktionäre, vieler Pfarrer und Engagierter wiedergegeben und gewiss ist deshalb die bis heute fortlaufende binnenkonfessionelle Rezeption dieses Textes einsichtig, gewiss hat sie viele christliche Friedensgruppen motiviert109 und bis in den politischen Bereich gewirkt, sie bleibt aber doch ein Minderheitenvotum im deutschen Protestantismus. Auch in der Historiographie taucht dieses Wort eher weniger auf, auch in theologischen Beiträgen zu den Signaturen des Reformierten wird kaum Bezug auf 1982 genommen. Selbst wohl gesonnene Beobachter resümieren: »[D]ie Erklärung des Moderamens des [R]eformierten Bundes ist sowohl für den Kern wie für die Randsiedler der kirchlichen Friedensbewegung in ihrer theologischen Vollmundigkeit nur begrenzt nachvollziehbar. Man/frau wird normalerweise nicht die gesamte Dogmatik von der Schöpfung über den Sündenfall bis zur Erlösung und Vollendung anführen, um sein/ihr Nein zur Ent-

108

Hans-Joachim Kraus, Bericht des Moderamens, in: Ihr werdet meine Zeugen sein, a.a.O., S. 19–33, zur Moderamenserklärung, a.a.O., S. 24–30. Kraus zeigt sich darin von Kritiken nahezu unbeeindruckt. Negative Konsequenzen hielten sich allerdings auch in Grenzen: 24 Einzelmitglieder sind von 1982 bis 1984 ausgetreten, nur neun unter Bezugnahme auf die Moderamenserklärung, vgl. a.a.O., S. 20. Vgl. ders., Die Friedenserklärung des Moderamens in der Diskussion, in: 100 Jahre Reformierter Bund, a.a.O., S. 134–145. 109 Die Moderamens-Erklärung, »[verstand] sich als eine Art Gegendenkschrift zur EKDDenkschrift vom November 1981«. »Das hier ausgesprochene ›Nein ohne jedes Ja‹ wurde nachfolgend zum Bezugspunkt vieler christlicher Friedensgruppen.« Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948–1989) (Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 5) (SVRKG 173), Bonn 2008, S. 341.

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wicklung, Herstellung und Bereitstellung der Atomwaffen zu sagen.«110 Hier war man aber eben auch dem großen Lehrer Karl Barth gefolgt, der in seinen Zehn Thesen zur Frage der atomaren Bewaffnung bereits 1958 urteilte: »Ein gegenteiliger Standpunkt oder Neutralität dieser Frage gegenüber ist christlich nicht vertretbar. Beides bedeutet die Verleugnung aller drei Artikel [sic!] des christlichen Glaubens und den Bruch mit der einen, heiligen, allgemeinen Kirche«.111 Die theologische Beweisführung wollte man reformierterseits nicht schuldig bleiben und holte also mit der Versöhnungslehre und der die ganze Dreieinigkeit Gottes bedenkenden Erklärung weit aus – wie übrigens auch das im selben Jahr entstandene, aber erst 1986 endgültig approbierte BelharBekenntnis aus Südafrika.112 Vor dem im Bekenntnisfalle zu konstatierenden »Bruch« mit der Kirche, auch der real existierenden evangelischen Volkskirche in Westdeutschland, warnte vor allem das Luthertum. Hans-Jürgen Benedict hält einfachere und emotionalere Beweggründe für politische Meinungsbildungsprozesse für wahrscheinlicher. Die Charakterisierung »theologische Vollmundigkeit« trifft gut auch auf die Protagonisten der Erklärung zu.113 Deren Theologie und Politik war wenig diskursgeeignet, weil auf Grund der Vollmundigkeit, die eigentlich auch die »Laien« entmündigte, rasch die »Bekenntnisfrage« gestellt werden musste. Auch wenn die Erklärung eines status confessionis vermeintlich nicht separierend, sondern als Einladung zum Gespräch gemeint war, gab es sehr rasch nur noch ein »Nein« oder »Ja«.114 Damit war gewiss Eindeutigkeit erzielt – aber zum Preis einer fortlaufenden Marginalisierung der Reformierten in den Machtzentren des deutschen Protestan110

Hans-Jürgen Benedict, Ziviler Ungehorsam als christliche Tugend, Frankfurt a.M. 1989, S. 181–208: Nicht mehr mit Atomwaffen. Zur jüngsten Geschichte der kirchlichen Friedensbewegung, hier: S. 183. 111 Zit. nach Klappert/Weidner (Hg.), Schritte zum Frieden, a.a.O., S. 99. 112 Der Text und eine Einführung finden sich in Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, S. 267–273; Hofheinz u.a. (Hg.), Reformiertes Bekennen heute, a.a.O., S. 18–25. – Vgl. Dirk J. Smit, Das Belhar-Bekenntnis: Kontext, Hermeneutik und Folgen? Belhar im Kontext südafrikanischer Bekenntnisbildung, in: Maren Bienert u.a. (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung (reformiert! 2), Zürich 2017, S. 203–219. 113 Vgl. etwa Herausforderung zum Widerspruch. Rolf Wischnath über Unbequemlichkeiten von Glaube, Politik und Kirche. Mit einem Interview von Stefan Berg, Berlin 2002, zur Moderamenserklärung, a.a.O., S. 35–38. 114 Die für die Reformierten auch anstrengende Wirkung der Erklärung eines status confessionis (»wir haben uns diese heilsame Aufregung auch ganz schön teuer erkauft«) gesteht ein Walter Herrenbrück, Status confessionis – und kein Ende? Oder: Wunsch nach friedevollem Streit, in: Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 317–321. Krüger, Ist die Friedensfrage eine Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 110, spricht von einem »drohenden Charakter«, den »die Einladung wirklich hat«, weil man auf Dauer sich ausschließende Positionen identifiziert.

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tismus, während linke und rechte Kritiker den Kopf über den »zu« theologischen Charakter einer kirchlichen Erklärung schüttelten. Ob »die politischen und militärstrategischen Annahmen« der Moderamenserklärung der dann folgenden »geschichtlichen Entwicklung nicht standgehalten« hätten,115 ist dagegen wohl ein politisches Werturteil. Der bereits zu Beginn zitierte Konfessionskundler fragte: »Woher diese Neigung, im politischen Streit auf das vernünftige Argument noch eins draufzusatteln und die Autorität ›unseres alleinigen Herrn Jesus Christus‹ zu bemühen und den ›Status confessionis‹ auszurufen?«116 Neben den langwirkenden Traditionen des reformierten Protestantismus wie der Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung, der Wertschätzung der Gebote Gottes und damit des »Gehorsams«, muss auch auf die neueren Traditionen verwiesen werden, etwa dem »Bekenntnis«-Kampf des »Widerstandes« im Dritten Reich und vor allem der Theologie Karl Barths. Von Barth, der bereits in dem 1959 erschienenen Band IV/3 (2. Hälfte) seiner Kirchlichen Dogmatik auch die Herstellung von Kernwaffen als »Atomsünde« (S. 802) bezeichnet hatte, waren posthum 1976 Fragmente seiner Vorlesungen erschienen.117 In der »Ethik als Aufgabe der Lehre von der Versöhnung« (§ 74, S. 1– 73) spitzte Barth seine Ethik weiter als das Gebot Gottes als Versöhner zu, nachdem er bereits frühere ethische Ausführungen machte, die sich auf das Gebot Gottes (II,2) und das Gebot des Schöpfers (III,4) bezogen: »[H]ier, in der Lehre von der Versöhnung, stehen wir wie überhaupt, so auch in ethischer Hinsicht vor der Mitte, am Quellpunkt aller Wirklichkeit und Offenbarung Gottes und des Menschen, unmittelbar vor Jesus Christus, der wie der Realgrund, so auch der Erkenntnisgrund der ganzen christlichen Wahrheit und Botschaft ist.« (S. 12) Der Gedanke der Versöhnung grundierte die ganze Lebensführung: »Wo Gott als der, der die Welt in Jesus Christus mit sich selber versöhnt hat, und der dieser Welt angehörige Mensch als in Jesus Christus mit Gott Versöhnter sich gegenüberstehen, wo es um das Gebieten Gottes und um die Verantwortlichkeit des Menschen in diesem Gegenüber geht, da stehen wir gewissermaßen vor dem Modellfall alles Geschehens zwischen Gott und Mensch.« (S. 16) Hier geht es also nicht nur darum, dass die ganze Welt versöhnt ist und der Christ deshalb nicht anders agieren darf, etwa Menschen als Feinde zu betrachten und sie mit Atomwaffen zu bedrohen, sondern dass aus dem Versöhnungswerk Gottes eine verbindliche Ethik des Gehorsams des verantwortlichen Menschen gegen-

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Krüger, Ist die Friedensfrage eine Bekenntnisfrage, a.a.O., S. 114. Schöpsdau, Reformiertes Profil, a.a.O., S. 81. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4, Fragmente, a.a.O. (Belege oben im Text).

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über dem gebietenden Gott gefolgert werden muss.118 Der »Eifer um die Ehre Gottes« (§ 77) treibt die Christen, wenn sie Verhältnisse identifizieren, die dieser Ehre widersprechen, in den Widerstand: Es bleibt zwar Gottes eigenes Werk, seine Ehre durchzusetzen, dennoch wird bei aller Relativität »unser bißchen Widerstand« gefordert, auch wenn es sich »genau genommen nur immer zu erneuernde Aufbrüche zum Widerstand, um immer neue Schritte in der uns gewiesenen Richtung handeln kann.« (S. 294)119 Man wird annehmen dürfen, dass dieser Band der KD gerade auch bei den politisch interessierten Reformierten eifrig studiert worden war. Hier konnte man lesen: Versöhnung und Widerstand gehören zusammen. Allerdings konnte sich auch Barth zurückhaltend äußern, was den ›Gebrauch‹ des status confessionis anlangte. Wie 1951120 meinte er 1963 in einem Gespräch über die Frage von Atombewaffnung davor warnen zu sollen, dass Christen sich nahezu permanent in einem status confessionis befänden: »Machen Sie nicht zu heftigen Gebrauch von diesem Begriff! … Gelegentlich kann das einmal auftauchen, dass man sagt: … jetzt gibt es nur das und das! Aber das wird etwas relativ Seltenes sein … Vorsichtig umgehen mit diesem Instrument!«121 Sicher taten auch die reformierte Mentalität einer kirchlich-konfessionellen Minderheit, die sich zu profilieren und wahrgenommen zu werden sehnte, sowie die spezifischen Charaktere einiger der Protagonisten und die bei den Entscheidungsträgern vorherrschende politisch-oppositionelle Option ihre Wirkung. Man fühlte sich gut verstanden, wenn die EKD-Denkschrift von 1981 mit ihrem theologischen Ansatz beim Gebet für die Obrigkeit und die Welt als nur »diakonisch«, die Moderamenserklärung jedoch als »prophetisch« beschrieben wurde.122 Walter Schöpsdau charakterisierte die Reformierten durchaus positiv, was ihre Wahrnehmung des »Wächteramtes« anlangt, ergänzt allerdings: »Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Ar118

Zum »Gehorsam« bei Barth vgl. Martin Laube, Tätige Freiheit. Zur Aktualität des reformierten Freiheitsverständnisses, in: ZThK 109 (2012), S. 337–359, hier: S. 348–352. 119 Die anderen Dimensionen, vor allem die der Anbetung, die Barth als Tun des Gehorsams ausführt, werden dagegen kaum in den ethischen Diskursen berücksichtigt. Mit allem Widerstand richtet sich der Christ »nicht gegen die anderen Weltmenschen, mit denen er sich ja solidarisch findet und weiß, und auch nicht gegen ihre ja auch ihn bewegenden Interessen als solche«. Was aber gerne übersehen wurde, ist die Fortsetzung: »wohl aber gegen die auch diesen Bereich verpestende Entheiligung des Namens Gottes durch das auch hier herrschende Helldunkel … des Wissens und des Nichtwissens um den einen, wahren, lebendigen Gott« (Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4, Fragmente, a.a.O., S. 344). 120 Vgl. Kirchliche Dogmatik III/4 (1951), S. 81. 121 Karl Barth, Gespräche 1963, hg. von Eberhard Busch, Zürich 2005, S. 84 (beide Zitate nach einem Hinweis von Marco Hofheinz, s.u. Anm. 134, a.a.O., S. 185). 122 So lautet das erste Kapitel in Wischnath, Frieden als Bekenntnisfrage, a.a.O.: »Das prophetische Zeugnis der Kirche in der Gefahr der Anpassung«.

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gument erweist sich jedoch als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander«.123 Die Reformierten hätten eine grundsätzliche Bestimmung übersehen oder unterschätzt: »Da sich in ethischen Urteilen ein normatives Element mit empirischer Situationseinschätzung verbindet, sind sie nicht … linear aus theologischen Prämissen zu deduzieren.«124 Das wäre auch gegen Karl Barths Rede von der »schnurgeraden« Herleitung ethisch-politischer Positionen einzuwenden, die er in »Rechtfertigung und Recht« und »Christengemeinde und Bürgergemeinde« et passim dargestellt und ausgeführt hatte. Auch von reformierten Beiträgern der Debatte wurde der Begriff der »Entsprechung« verwendet, und man wies auch nicht zurück, dass es sich um einen status confessionis in einer ethischen Angelegenheit handele. Das war aber ein unterkomplexes Verständnis der eigenen Position, denn die »Versöhnung« wurde als basale theologische Kategorie verstanden: die Versöhnung als »neue Wirklichkeit«, in der die ganze Welt und alle Menschen leben. Bei von Menschen anzustrebender Arbeit für »Versöhnung« geht es also nicht um eine »Entsprechung« zu Gottes Versöhnungshandeln, sondern um eine Konsequenz aus der objektiv durch Gott bereits hergestellten Versöhnung der Welt, um einen dogmatischen Wahrheitsanspruch – Barth lehrte dann nicht nur eine apokastasis panton (jenseitige Allversöhnung), sondern quasi eine diesseitige Allversöhnung. Hier könnte sich erst recht der Vorwurf von »Schwärmerei« erheben, wenn nicht auch gesehen wird, dass Barth am »eschatologischen Vorbehalt« festgehalten hat.125 Dennoch: Der status confessionis bezog sich tatsächlich auf grundsätzliche dogmatische Entscheidungen und Lehrartikel,

123 Schöpsdau, Reformiertes Profil, a.a.O., S. 94. Die dann noch häufig wiederholte Versicherung in der Moderamenserklärung, die Erklärung des status confessionis sei als ein Gesprächsangebot zu verstehen, wurde eben weithin anders verstanden; innerhalb, vor allem aber außerhalb der reformierten Kreise empfand man den status confessionis als Gesprächsabbruch. 124 Schöpsdau, Reformiertes Profil, a.a.O., S. 96. 125 Etwa im Leitsatz zu § 77: »Christen sind Menschen, die um das schon geschehene Anheben und um die noch ausstehende Vollendung der Selbstkundgebung Gottes wissen. Als solche leiden sie« unter Gottes Unbekanntheit in der Welt. »Unterdessen eifern sie … in der Welt, in der Kirche, zuerst aber in ihrem eigenen Herzen und Leben um den Vorrang der Geltung seines Wortes.« Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4, Fragmente, a.a.O., S. 180. – Dass die reformierte Erklärung den eschatologischen Vorbehalt nicht ernst nähme und eine zu kurz geschlossene »Verknüpfung von heilsgeschichtlicher Theologie und Sozialethik« entstünde, moniert Wolfgang Vögele, Leben und Überleben. Der Lebensbegriff im Kontext der protestantischen Friedensbewegung in Deutschland, in: Stephan Schaede u.a. (Hg.), Das Leben. Historischsystematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Band 3 (Religion und Aufklärung 27), Tübingen 2016, S. 141–161, besonders S. 153–155, hier: S. 155.

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mit denen die Kirche steht oder fällt.126 Der kirchenpolitische Vorwurf, der status confessionis sei von den Reformierten in der zurückliegenden Generation ethisch verwässert worden, trifft mithin nicht zu. Auch in einem zweiten Punkt hätte man noch deutlicher argumentieren müssen, wobei man wohl konzedieren kann, dass manches Missverständnis als gewollt erscheint. Die Erklärung des Moderamens sollte nie ein neues »Bekenntnis« statuieren – so lasen manche den Titel falsch –, sondern man bezog das eine Bekenntnis zu Jesus Christus auf eine existentielle weltpolitische Frage.127 Auch die Reformierten auf Weltebene mussten das nach Ottawa klarstellen: »Der Begriff [sc. des status confessionis] bezieht sich nicht auf ein besonderes Glaubensbekenntnis reformierter Tradition, sondern auf die grundlegende Aussage ›Jesus Christus ist der Herr‹.«128 Abgeleitet wurde der Bekenntnisstand also nicht von einem statuarischen Bekenntnis der eigenen Tradition, das dann u.U. auch hätte neu gefasst werden müssen, sondern vom alle Kirchen verbindenden Bekenntnis zu Jesus Christus.129 War ein Impuls wohl auch, politisch klarer als andere zu sprechen, und war dies auch durchaus ein Vorwurf an die Reformierten, steht dem eine politikwissenschaftliche Beobachtung entgegen, die kritisch sieht, dass in der Moderamenserklärung »Punkt für Punkt Dogmatik in politische Imperative umgesetzt wurde. Man kann zugespitzt von einer Betonung der Theologie im reformierten Ansatz, von einer Hervorhebung der Politik in der lutherischen [EKD-] Denkschrift sprechen.« Das habe natürlich mit den unterschiedlichen Konzepten der lutherischen ZweiReiche-Lehre und der reformierten Vorstellung der Königsherrschaft Jesu Christi zu tun.130 Allerdings zeige sich darin die demokratietheoretische Schwäche des reformierten Ansatzes: »Unter politikwissenschaftlicher Perspektive kann die Stellungnahme des Moderamens als Theologisierung politischer Positionen gelesen werden, soweit sie unter das Be126

So formuliert es auch das Kirchliche Jahrbuch 110 (1983), a.a.O., S. 229–238, hier S. 238: »Damit werden die auf das politische Verhalten gehenden Schlußfolgerungen aus den zentralen Inhalten christlicher Verkündigung abgeleitet und mit ihnen verknüpft.« 127 Hans-Joachim Kraus im Vorwort der zweiten Auflage (1983), S. 10: »Die Thesen … sind eine ›Erklärung‹, kein Bekenntnis im klassischen Sinn.« 128 Reformierter Weltbund (Hg.), Von Ottawa nach Seoul. Ein Bericht des Reformierten Weltbundes 1982–1989, Genf 1989, S. 41. 129 Moderator Kraus sah sich veranlasst, Anfang 1984 nochmals sehr deutlich die »Näherbestimmungen« des status confessionis zu erklären, um den »Vorwürfen und Befürchtungen aus den Leitungsgremien der EKD und der VELKD« entgegen zu treten, in: Kirchliches Jahrbuch 110 (1983), a.a.O., S. 287–289. 130 Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten, a.a.O., S. 61. – Ein wenig wohlmeinender Kritiker war Eberhard Stammler, Politische Strömungen im deutschen Protestantismus, in: Dieter Oberndörfer u.a. (Hg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland (Ordo Politicus 25), Berlin 1985, S. 237–244.

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kenntnis gefasst wurden … Dieses Problem war tendenziell dem offenen Diskurs entzogen, die Sachdiskussion wurde in eine Bekenntnisfrage transformiert. Damit ging man hinter bestimmte Aspekte eines aufgeklärten Politikverständnisses und seiner Betonung der Autonomie des Politischen zurück. Die reformierte Position hat die Toleranz gegenüber Andersdenkenden nicht in Frage gestellt, doch wurde sie oft als gefährdet empfunden, wenn die theologisch begründete Absage an Massenvernichtungswaffen auf die politische Forderung nach einem ›Nein ohne jedes Ja‹ reduziert wurde«.131 Im übrigen bleibt, dass trotz ausführlicher und nach eigener Ansicht zwingender theologischer Argumentation die Moderamenserklärung ein »politische[r] Misserfolg«132 war – jedenfalls im Hinblick darauf, was politisch durchgesetzt wurde: Der NATO-Doppelbeschluss wurde von der konservativ-liberalen Regierung unter Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher in Deutschland durchgesetzt und neue Atomwaffen stationiert. In der protestantischen Öffentlichkeit erreichte die Moderamenserklärung eine überproportionale Zustimmung, wurde aber doch auf kirchlichen Leitungsebenen nicht konsensfähig. In der binnenkonfessionellen Erinnerungsarbeit wurde versucht, die theologische Bedeutung der Erklärung zu stärken und die politischen Zusammenhänge eher zu übergehen – bis hin zu der falschen Behauptung, die Stasi-Zuträgerin Horsta Krum sei damals gar nicht Mitglied des Moderamens gewesen,133 was sie aber nach der Wahl im April 1982 131

Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten, a.a.O., S. 357. 132 Martin Greschat, »Kirchliche Zeitgeschichte«. Überlegungen zu ihrer Verortung, in: ThLZ 139 (2914), S. 291–310, hier: S. 305f. 133 Leserbrief Peter Bukowskis zum Artikel »Späte Reue?« von Eckhard Nickig (idea Spektrum 4/2001, S. 14f. [auch in: die reformierten.upd@te 01.1, S. 8) sowie zu seiner Antwort auf Reinhard Lampes Leserbrief »Die Sympathien für Linksradikalismus wurden belegt« (idea Spektrum 6/2001, S. 20f.; vgl. auch die Leserbriefe von Ako Haarbeck [5/2001, S. 5], Hermann Barth [6/2001, S. 4], Jochen Borchert [9/2001, S. 4], Peter Egen [10/2001, S. 5] und weitere Zuschriften in 12/2001, S. 5; 14/2001, S. 4): »1. Die Friedenserklärung des Reformierten Bundes ›Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche‹ war das Ergebnis einer mit großem Ernst geführten theologischen Diskussion. Wer die Argumente heute noch einmal nachliest und sich die Personen vor Augen hält, die hier um die Wahrheit gerungen und sich die Friedensthesen zu eigen gemacht haben, kann den Verdacht, man habe sich von der Stasi instrumentalisieren lassen, nur als absurd empfinden. 2. Die bezüglich ihrer Stasiverstrickung enttarnte Pfarrerin Horsta Krum war zu dem Zeitpunkt, als der Beschluss zum ›status confessionis‹ zustande kam, nicht Mitglied des Moderamens. Und im übrigen war Dr. Rolf Wischnath an der Aufdeckung dieses Falles maßgeblich beteiligt. Was letzteren betrifft, sei ausdrücklich festgehalten, dass das Moderamen des Reformierten Bundes seinem langjährigen Mitglied Dr. Rolf Wischnath für seine theologischen Impulse bei der Mitarbeit an den Friedensthesen und in anderen wichtigen Entscheidungen ebenso dankbar ist, wie es sein vorbildliches und mutiges Eintreten gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nachdrücklich unterstützt.« (idea Spektrum 8/2001, S. 4f.)

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und also vor der Einbringung des Textvorschlages im Moderamen durchaus war. Trotz mehrfachen Rekurses auf die Moderamenserklärung von 1982 haben die deutschen Reformierten bislang kein weiteres Mal den status confessionis erklärt, sondern haben durchaus die Probleme erkannt, die eine solche Erklärung in kirchenpolitischen Kontexten auslösen kann.134 In unterschiedlichen Zusammenhängen erklärte man, sich in einem processus confessionis zu befinden,135 in dem man ernsthaft um eine im Glauben verantwortbare politische Position ringt – das gilt vor allem für das globale Reformiertentum in seinen Debatten im Zusammenhang der Weltversammlungen von Debrecen 1997 und Accra 2004,136 in denen es besonders um weltwirtschaftliche Ungerechtigkeiten ging. Es spricht einiges dafür, dass der bei den Reformierten so geschätzte Sachverhalt von Bekenntnis/Bekennen sehr bald noch eine andere, dringliche Dimension erschließen wird: Nicht bei ethischen Herausforderungen, sondern durch die Erosion des Christlichen in der Gesellschaft sehen sich Reformierte heute auch von einem casus confessionis herausgefordert.137 Eine Konsequenz könnte sein, dass dieser casus confessionis auch zu einem erneuerten Verständnis von Mission führen wird.

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Vgl. die grundlegenden Ausführungen bei Marco Hofheinz, Processus und/oder status confessionis? Oder: Kann die Struktur der globalen Ökonomie Anlass eines Bekenntnisses sein?, in: Bienert u.a., Neuere reformierte Bekenntnisse, a.a.O., S. 159–185 (jetzt auch in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert [Forschungen zur reformierten Theologie 8], Göttingen 2017, S. 209–235). 135 Dieser Begriff wurde m.E. eingeführt von Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 262; vgl. auch ders., Zur Friedensverantwortung der Kirche, in: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, a.a.O., S. 473–488. Zur Diskussion um den status confessionis in Sachen des Friedens im deutschen Protestantismus seit den 50er Jahren und in der Moderamenserklärung von 1982 vgl. a.a.O., S. 249–269. 136 Die Erklärungen von Debrecen und von Accra sind abgedruckt in Hofheinz, Reformiertes Bekennen heute, a.a.O., S. 130–135.136–149. 137 Dieser traditionelle Begriff wird neu rezipiert von Matthias Zeindler, Das Credo von Kappel, in: Bienert u.a., Neuere reformierte Bekenntnisse, a.a.O., S. 271–286, hier: S. 276f.

Anhang

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Anhang Grußschreiben des Reformierten Generalkonventes in der DDR anlässlich des 35. Jahrestages der Gründung der DDR138 Reformierter Generalkonvent in der Deutschen Demokratischen Republik Vorsitzender: Pfarrer Horst Greulich Stellv[ertretender] Vorsitzender: Pfarrer Jürgen Dehne 1170 Berlin Freiheit 14 3010 Magdeburg Kleine Schulstraße 6 den 4.10.[19]84 An die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik – Der Staatssekretär für Kirchenfragen – 1040 Berlin Hermann-Matern-Str. 56/57 Sehr geehrter Herr Staatssekretär Gysi!139 Am 7. Oktober dieses Jahres begeht unsere Deutsche Demokratische Republik ihren 35. Jahrestag. Dies ist für unseren Reformierten Generalkonvent, der im November 1949 als Generalkonvent der reformierten Prediger in der Deutschen Demokratischen Republik und Groß-Berlin als Zusammenschluß aller reformierten Gemeinden in der DDR gegründet wurde und nur wenige Wochen jünger ist als unsere Republik, ein so bedeutsamer Anlaß, Ihnen und Ihren Mitarbeitern unsere herzlichen Grüße und Glückwünsche zum 35. Jahrestag unserer Republik zu entbieten. Mit großer Dankbarkeit und Freude denken wir an den Empfang am 26. September 1984 zurück, den Sie dem Calvinkongreß in Berlin gewährt haben.140 Sie haben in Ihrer bedeutsamen Rede die Worte »Tole138

In: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Archiv der Zentralstelle, MfS HA XX/4, Nr. 2601. 139 Klaus Gysi (1912–1999), war von 1979 bis 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen. 140 Vgl. II. Kongress für Calvin-Forschung in Mittel- und Osteuropa vom 24. bis 26. September 1984 in Berlin, hg. von Johannes Langhoff und Joachim Rogge, als Ms. gedruckt 1985. – Unmittelbar danach tagte das Exekutivkomitee des Reformierten Weltbundes vom 13.–19. Oktober 1986 in Buckow östlich von Berlin. Es ist undenkbar, dass dieses Treffen ohne Stasi-Bespitzelung stattgefunden haben könnte.

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Versöhnung und Widerstand

ranz« und »friedliche Koexistenz« in so guter Weise aufeinander bezogen, so daß wir als Nachfahren derer, die in unser Land einwanderten, gespürt haben, wie wichtig die progressiven Traditionen durch die Zeiten hindurch bis heute sind und zu neuen Erkenntnissen und Bewährungen führen, die sich gerade auch heute im gemeinsamen Ringen um den Frieden in der Welt mit denen in unserem Staate verbinden, die aus marxistischen Voraussetzungen alles daran setzen, für Frieden und friedliche Koexistenz einzutreten. Mit unserem reformierten Friedenszeugnis finden Sie uns an der Seite aller derer, denen der Frieden das höchste und zu verteidigende Gut ist. Wir haben in Ihnen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, Ihren Vorgängern und Ihren Mitarbeitern immer wieder verständnisvolle Partner gefunden, so daß wir unseren Dienst und unser Zeugnis ganz bewußt in unserer sozialistischen Gesellschaft leisten, in der Ökumenischen Bewegung, im Reformierten Weltbund und in der Internationalen Konferenz reformierter Pfarrer in Europa mitarbeiten können. Wir danken von Herzen für diese verständnisvolle Zusammenarbeit. Wir sind sehr dankbar, daß diese Zusammenarbeit, die sich ja mit allen Kirchen begibt, am 6. März 1978 ihre Bestätigung gefunden hat und weitergeführt wird. Wir werden weiterhin mit Ihnen und allen Menschen guten Willens zum Wohl der Menschen in unserem Staat arbeiten. Wir wünschen Ihnen und Ihren Mitarbeitern von Herzen gute Gesundheit, persönliches Wohlergehen sowie gute Erfolge in Ihrem Wirken für die Christen und Marxisten in unserem Staat. Ich sage dies gern, besonders auch namens des stellvertretenden Vorsitzenden und der Konventsleitung unseres Reformierten Generalkonvents. Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr sehr ergebener [handschriftlich:] Horst Greulich

»… in schwere Bedrängnis geraten«? Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert

1. Konfessionelle Erinnerungskulturen und Erinnerungsorte »Wie Parteien und Verbände besitzen auch die Kirchen ein spezifisches kollektives Gedächtnis, dessen Inhalte tradiert werden, entfaltet, verteidigt und stets auch aktualisiert. Dieses Gedächtnis hat die Funktion, Gleichgesinnte zu verbinden, sie zu stabilisieren sowie zu mobilisieren. Es ist emotional besetzt, verfährt dementsprechend eklektisch und zielt weniger auf generelle als vielmehr spezielle eigene, also kirchlich-konfessionelle Wertvorstellungen. Fraglos existiert ein solches Verständnis der Kirchengeschichte nach wie vor in … den Konfessionen. Unbestreitbar besitzt es auch ein eigenes Gewicht, insbesondere im Blick auf seine legitimierende und Identität stiftende Funktion.«1 So umschreibt Martin Greschat das Phänomen des konfessionellen kollektiven Gedächtnisses. Anders als Greschat, der nach dieser Deskription vor einem »kirchlichkonfessionelle[n] Ghetto« in der Kirchengeschichtsschreibung warnt und diese lieber ökumenisch, europäisch oder global betreiben möchte, wage ich im Folgenden in zweifacher Hinsicht einen konfessionellen Blick: Einerseits ist das Objekt meiner Betrachtungen trotz aller Kontextberücksichtigungen konfessionell begrenzt und andererseits bin ich als wissenschaftliches Subjekt konfessionell festgelegt: Ich schreibe als reformierter Kirchenhistoriker mit an der eigenen Erinnerungskultur.2 Ich werde, nachdem ich zahlreiche Einzelstudien vorgelegt habe, eine Interpretation für die reformierte Konfessionsgeschichte des zurückliegenden Jahrhunderts vorschlagen, ein synthetisches Bild zeichnen und weiß darum, dass auch andere Interpretationen und andere Bilder möglich sind. Ich gehe dabei nicht allein der Frage nach, was gegenwärtig 1 Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Überlegungen zu ihrer Verortung, in: ThLZ 139 (2014), S. 291–310, hier: S. 298. 2 Vgl. auch die Einleitung in diesen Band, cap. 4. – Weisheitlich formuliert Jürgen Moltmann: »Wir stehen im Erinnern unserer Vergangenheit nicht neutral gegenüber. Die gegenwärtigen Interessen bestimmen auch die Filter unseres Bewusstseins, durch die wir Vergangenheiten erinnern. Die erinnerungsleitenden Interessen verändern sich mit der jeweils erfahrenen Gegenwart und der jeweils erstrebten Zukunft. Geschichte im Großen ›muss immer wieder umgeschrieben‹ werden«. Vgl. seinen titelgleichen Beitrag in: ders. (Hg.), Das Geheimnis der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Entschuldigen – Vergeben – Loslassen – Anfangen, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 83–122, hier: S. 85f.

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»… in schwere Bedrängnis geraten«?

über das 20. Jahrhundert3 erinnert wird, sondern vor allem was in bestimmten Phasen im zurückliegenden Jahrhundert jeweils aktuell erzählt und erinnert wurde und was damit das Selbstverständnis der Reformierten in Deutschland ausmachte: Was also waren Signaturen der Reformierten nach ihrem Selbstverständnis – und kritisch wäre zu fragen: Waren dies tatsächliche Signaturen? Auch wenn es banal ist: Differenzen von Selbst- und Fremdwahrnehmung können auch in der Konfessionsgeschichte nicht ausgeschlossen werden, ebenso können Intention und Funktion konfessionellen Agierens differieren. Weitere Kontrollfragen drängen sich auf: Inwieweit waren die aus den Quellen wie Akten und Publikationen zu erhebenden vorherrschenden Meinungen eben die Meinungen der Herrschenden in der eigenen Konfession? Wie kann man post festum historiographisch Gerechtigkeit walten lassen? Denn was erinnert wird, was sich als Erinnerungskultur etabliert und sich in Erinnerungsorten manifestiert, ist die Geschichte der »Sieger«.4 Wie kann erhoben werden und wie kann umgegangen werden mit dem, was – aus welchen Gründen auch immer – vergessen wurde? Und aufs Ganze geschaut: Existiert eine aktuelle Grundannahme im Blick auf diese Konfessionsgeschichte des reformierten Protestantismus in Deutschland, die nun ihrerseits Leitfragen präjudizieren könnte und möglicherweise so auch einen methodischen Zugriff nahelegt – und eben andere(s) aus dem Blick verliert? Jedenfalls ist der »Erfahrungsraum der Kirchengeschichte« (Michael Beintker) nicht objektiv vorgegeben, sondern vor unserem »Erwartungshorizont« (Reinhart Koselleck) steht ein Objekt unserer Betrachtung und insofern eine Konstruktion. Wir archivieren nicht nur, sondern aktualisieren. Das kann aber nachvollziehbar getan werden und durchaus auch in einem selbstkritischen Habitus und nicht nur zur affirmativen Selbstlegitimation, sondern – um zwei starke psychologische Begriffe zu verwenden: – neben den »Stolz« tritt die »Trauer« als leitendes Interesse. Die Zeit der sich lediglich selbst vergewissernden »Heldengeschichten« ist selbst vergangene Geschichte. Kirchen- und Konfessionsgeschichte hat weder apologetische noch polemische Funktionen, sondern neben der wissenschaftlichen Motivation tritt für das Individuum und für das Kollektiv noch ein selbstkritischer Impuls. Wir leben nicht ohne Erinnerungen, weder individuell noch kollektiv. Und diese Erinnerungen werden gepflegt. Die Erinnerungskul3

Vgl. das ungemein anregende Buch von Hartmut Lehmann, Das Christentum im 20. Jahrhundert: Fragen, Probleme, Perspektiven (KGiE IV/9), Leipzig 2012. – Theologiehistorisch zu den Reformierten im 20. Jahrhundert: Georg Plasger, Reformed Theology in Germany in the Twentieth Century, in: George Harinck / Dirk van Keulen (Hg.), Vicissitudes of reformed Theology in the Twentieth Century, Zoetermeer 2005, S. 50–68. 4 Dieter Langewiesche spricht von »Erinnerungskonkurrenz« und von »umkämpften« Erinnerungsgeschichten, vgl. ders., Erinnerungsgeschichte. Ihr Ort in der Gesellschaft und in der Historiographie, in: SZRKG 100 (2006), S. 13–30, hier: S. 15.18.

1. Konfessionelle Erinnerungskulturen und Erinnerungsorte

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tur5 kennt verschiedene Medien, offen und heimlich wirkende Narrative, medial unterstützt durch materiale Manifestationen wie Denkmäler und Gebäude oder auch durch kollektive Jubiläumsfeiern. Die historiographische Mode der Erinnerungsorte hat wohl schon ihren Zenit überschritten, konnte sich allerdings auch im Kanon der wissenschaftlichen Ansätze etablieren und kann deshalb selbst-verständlich benutzt werden. Erfreut wurde dieser neue Anstoß in unterschiedlichen Kontexten produktiv aufgenommen, dabei war der Anlass gerade auch aus Sicht der Historiographie alles andere als erfreulich. Der französische Historiker Pierre Nora stellte besorgt fest, dass in der Nation kein einheitliches Milieu mehr existierte. Ein gemeinsames Bewusstsein innerhalb der französischen Nation durch Erinnern und durch Tradition/Narration, das aktualisierende Identitätsstiftende, eine gemeinsame Erinnerungskultur verschwanden mehr und mehr. Daraufhin arbeitete Nora mit Erinnerungsorten (lieux de mémoire),6 um überhaupt noch Angebote für eine gemeinsame Nationalgeschichte machen zu können. Dieses Konzept, das unter Orte nicht nur konkret vorfindliche, sondern auch andere »topoi« wie Personen und Themen versteht, bei denen sich das Erinnern sogar vom historischen Kern lösen kann, ließ sich einigermaßen problemlos auf andere Nationen und Gruppen übertragen, also auf andere Nationalgeschichten7 und auch auf Religions- und Konfessionsgeschichten.8 Überall suchen erodierende Milieus und Gruppen nach identitätsstiftenden Angeboten. Auch die reformierten Milieus in Deutschland9 erodierten – sie hatten ohnehin auf Grund der geographischen Disparatheit immer nur im Plural existiert. Man hatte sich irgendwie immer in einer reformierten Diaspora gewähnt, wenn es auch reformierte Regionen 5

Hier wird das Wort »Erinnerungskultur« also zunächst wertfrei verwendet und nicht nahezu ausschließlich auf die Opfererinnerungen von totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts bezogen; dort hat sich dieser Begriff möglicherweise überlebt, vgl. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 22016, S. 32f. 6 Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, 7 Bände, Paris 1984–1992. 7 Für Deutschland vgl. Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001; vgl. auch dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, Bonn/München 2005. 8 Vgl. Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010. Dort will man allerdings eher das Konzept der memoria zu Grunde gelegt wissen (a.a.O., S. 11). Ein Werkstattbericht über die Anwendung von kirchlichen Erinnerungsorten im 20. Jahrhundert ist: Philipp Ebert u.a., Wo finden wir uns? Evangelische und katholische Erinnerungsorte im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 6/2012, S. 11–44. 9 In anderen Ländern gibt es reformierte Milieus, die zwar auch im Schwinden begriffen sind, aber noch existieren und deshalb eine lebendige Erinnerungskultur vorzuweisen haben. Zum Beispiel Niederlande vgl. George Harinck u.a. (Hg.), Het gereformeerde geheugen. Protestantse herinneringsculturen in Nederland, 1850–2000, Amsterdam 2009. Ein wahrer Thesaurus reformierter Erinnerungskultur der Niederlande: Willem Bouwman, Het Gereformeerdenboek, Zwolle 2009.

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»… in schwere Bedrängnis geraten«?

Verbindendes gab, etwa theologische Strömungen und gemeinsame kirchenpolitische Interessen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden einstmals reformierte Hochburgen wie der Niederrhein, das Siegerland, Wuppertal oder Emden immer weniger als Orte reformierter Milieus wahrgenommen. Erinnerungsorte sind ein zeitgemäßes Medium des Erinnerns, also so etwas wie ein »Angebot« und ein Postulat für Gruppen, die ihre Identität bewahren wollen – und im guten Fall werden solche Erinnerungsorte in historischer Betrachtung vor- und aufgefunden, denn sie haben sich selbstverständlich und allgemeinverbindlich imponiert und wurden und werden innerhalb des Milieus tradiert. Aber gewiss ist es auch möglich, Erinnerungsorte aktuell zu kreieren. Dann muss gefragt werden, wer es aus welchem Interesse heraus unternimmt, Erinnerungsorte etablieren zu wollen. Erinnerungsorte erscheinen insofern en vogue, als sie in der Regel eher eklektisch und essayistisch dargestellt werden: Aus den einzelnen Steinchen möge dann so etwas wie ein Mosaik-Gesamtbild entstehen. Es werden zwar umfangreiche Bücher über Erinnerungsorte publiziert, diese sind jedoch in aller Regel Sammelbände mit zahlreichen Einzel-Beiträgen, nach deren auch bloß selektiver Lektüre ein Gesamtbild zu erahnen sein soll. Ich möchte im Folgenden Erinnerungsorte nicht nur wie spots aufführen, sondern gehe umgekehrt von einem Stück zu analysierender Geschichte aus und versuche hier sowohl eine Charakterisierung als auch eine neue Epocheneinteilung – und dafür dienen Erinnerungsorte als Medium. Dadurch gerät explizit und implizit das Selbstverständnis der Akteure stärker in den Blick, Kontinuitäten und Diskontinuitäten könnten neu gesehen, Zäsuren anders wahrgenommen werden, freilich ohne die allgemeinhistorischen Kontexte zu ignorieren. In den drei folgenden Unter-Abschnitten werde ich jeweils für einen zeitlichen Abschnitt einen Erinnerungsort vorschlagen, den »historischen Kern« nachzeichnen, mögliche und wahrscheinliche Assoziationen und die Symbolik des Ortes erkunden sowie die Funktion im jeweils aktuellen Erinnern erörtern. Von wem oder was grenzt man sich ab? Wer waren Akteure? Wie wird aus dem Narrativ ein behaviour? Gibt es auch über Epochengrenzen hinweg Langzeitwirkungen? Die Erinnerungsorte werden also real, symbolisch und funktional dargestellt. 2. Reformierte Erinnerungsorte im 20. Jahrhundert 2.1 Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: Wuppertal – »Die Stadt auf dem Berge«. Renaissance und Selbstbehauptung einer Konfession Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte das Wuppertal als ein Epizentrum der reformierten Renaissance. Hier konnte man es sich sogar leisten, in-

2. Reformierte Erinnerungsorte im 20. Jahrhundert

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nerhalb des Reformiertentums zahlreiche Gruppen auszubilden, die allerdings oft durch erhebliche Schnittmengen verbunden blieben: landeskirchliche Reformierte mit der 1835 erkämpften Rheinisch-westfälischen Kirchenordnung, Kohlbrüggianer und »Freunde des Heidelberger Katechismus«, Reformierte in den Kontexten der Gemeinschaftsbewegung, später auch »Jungreformierte«. Weithin bekannte Gestalten des 19. Jahrhunderts im Wuppertal waren Friedrich Adolf Krummacher (1774–1837), Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868), Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) und Paul Geyser (1824–1882), die das Image des reformierten Wuppertal begründeten. Aus Elberfeld kamen entscheidende Impulse zur Gründung des Reformierten Bundes 1884, hier fand 1885 die erste Hauptversammlung des Reformierten Bundes statt, hier wurde durch Heinrich Calaminus (1842–1922) u.a. die Reformierte Kirchenzeitung (RKZ) herausgegeben. Diese Stadt stand auch für so etwas wie das »Erwachen des reformierten Bewusstseins«, das Differenzen aushielt und gleichzeitig Gemeinschaft schuf.10 In Elberfeld existierte um die Jahrhundertwende die reichsweit größte reformierte Gemeinde. Bekannte Prediger, publizistische Bemühungen und kirchliche Initiativen machten das Wuppertal weithin bekannt. Stichworte und Jahreszahlen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts illustrieren dies: Seit 1892 gab es Bemühungen um eine praktisch-theologische Ausbildungsstätte, 1904 kam es zur Einrichtung des reformierten Kandidatenstiftes, das dann 1928 als altpreußisches Predigerseminar anerkannt wurde. Ebenfalls 1928 konnte die propädeutisch arbeitende Theologische Schule in Elberfeld eröffnet werden. Die wichtigen Hauptversammlungen des Reformierten Bundes 1919 und 1934 fanden in Elberfeld bzw. in Barmen statt. Die Jubiläen 1909 (Calvin) und 1913 (Heidelberger Katechismus) wurden federführend in Elberfeld bzw. in Barmen begangen. Der Reformierte Bund veranstaltete seine Theologischen Wochen von 1925 bis 1931 in Elberfeld. Vom Wuppertal aus wurden die kirchenpolitischen »Kämpfe« geplant und ausgeführt, nicht zuletzt von Hermann Albert Hesse (1877–1957). Der so genannte »reformierte Aufbruch« in den 20er Jahren ist untrennbar mit Wuppertal verbunden.11 Wuppertal war Erinnerungsort und realer Erlebnisraum.12

10 Vgl. auch Sigrid Lekebusch, Einigkeit im Bekenntnis – Uneinigkeit im Handeln. Der Reformierte Bund im Kirchenkampf, in: Jörg Hentzschel-Fröhlings u.a. (Hg.), Gesellschaft, Region, Politik. FS für Hermann de Buhr, Heinrich Küppers und Volkmar Wittmütz, Norderstedt 2006, S. 65–76, hier: S. 67–69: Divergenz in der Theologie – Harmonie im Handeln [bis zum Jahr 1933]. Theologiehistorisch orientiert ist Georg Plasger, Safekeeping and Sifting: Observations on the German Reformed Tradition, 1900–1930, in: Journal of Reformed Theology 6 (2012), S. 143–164. 11 Vgl. Hans Helmich, Die Wuppertaler Gemeinden von 1918–1933 (SVRKG 106), Köln 1992, S. 121–126.

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»… in schwere Bedrängnis geraten«?

Die Stadt entstand 1929 durch Zusammenschluss mehrerer Städte und Orte und erhielt 1930 den Namen »Wuppertal«. Wuppertal war die stilisierte Hochburg13 einer konfessionellen Minderheit. Es existierten auch andere reformierte Hochburgen, Städte und Regionen, aber diese erlangten doch nicht eine derart überragende und übertragene Bedeutung. Das weltweit ausstrahlende Genf14 besaß in Deutschland trotz des Calvin-Jubiläums 1909 nicht den Ruf eines symbolischen Zentralortes. J.F. Gerhard Goeters sprach vom »allseits anerkannte[n] Vorort Elberfeld«,15 was ich hier zu Wuppertal erweitern möchte. Mit Wuppertal wurde »reformiert« als »Konfession« im Sinne einer Bekenntnis- und Gruppenzugehörigkeit assoziiert. Für Reformierte selbst bedeutete dieser Stadtname Stärkung der eigenen konfessionellen Identität und Positionierung im Gesamtprotestantismus. An vielen Orten und in der Fläche marginalisiert, erfuhr man sich hier als Majorität. Hier und hiermit konnte man Erfahrungen konfessioneller Marginalisierungen verarbeiten und zu Apologetik und Verteidigung übergehen, hier konnte man sich auch Polemik leisten. Die Stadt stand für konfessionelles Selbstbewusstsein und für Abwehrstärke. Eine »Stadt« hat Mauern, ist eine Schutz- und Trutzburg. Hier wehrte man ab: die anderen Konfessionen, die die Reformierten zu dominieren trachteten, aber auch unerwünschte Minderheiten in den eigenen Reihen. Gab es ohnehin nicht viele liberale Theologen unter den Reformierten – eine seltene Ausnahme war Erich Foerster (1865–1945) in Frankfurt –, in Wuppertal hätten sie gewiss keine Chance gehabt. In Wuppertal »herrscht vielfach die Mentalität vor, die Kirche lebe in einer ständigen Bedrohung«, wie Hans Helmich feststellte.16 Und darin gefasst konnte der Kirchenpolitiker Hermann Albert Hesse 1925 das konfessionelle Selbstbewusstsein

12 Zum zentralen Erlebnisraum des Protestantismus vgl. Silvio Reichelt, Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg. Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes (Refo500 Academic Studies 11), Göttingen 2013. 13 Auch Karl Barth nannte Elberfeld 1928 die »reformierte[.] … Hochburg«, so in einem Brief an Wilhelm Niesel vom 10. November 1928, in: Matthias Freudenberg / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Karl Barth und Wilhelm Niesel. Briefwechsel 1924–1968, Göttingen 2015, S. 68; noch 1954 konnte Barth »Wuppertal« in Anführungszeichen setzen und meinte damit eine bestimmte Art des reformierten Protestantismus, so im Brief vom 31. Dezember 1954, in: a.a.O., S. 249. 14 Vgl. Jan Rohls, Genf, in: Markschies/Wolf, Erinnerungsorte (wie Anm. 8), S. 44–63. 15 J.F. Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert des Reformierten Bundes, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 12–37, hier: S. 37 (auch in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von Heiner Faulenbach / Wilhelm H. Neuser [Unio und Confessio 25], Bielefeld 2006, S. 339–356). 16 Helmich, Wuppertaler Gemeinde (wie Anm. 11), S. 136.

2. Reformierte Erinnerungsorte im 20. Jahrhundert

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aussprechen: »Wir Reformierten in Deutschland sind in den letzten 150 Jahren in schwere Bedrängnis geraten.«17 »Ein feste Burg ist« – unser Bekenntnis! So haben es die Reformierten in und mit Wuppertal erlebt. So lag es nahe, diese Stadt mit einer religiösen Anspielung zu versehen: »Die Stadt auf dem Berge« (vgl. Matthäus 5,14), später nach 1945 erhielt der Standort der Kirchlichen Hochschule und des Missionshauses im Volksmund die Bezeichnung »Heiliger Berg«. Trotz reformierterseits vorgebrachte Bedenken hat sich das »Internationale Evangelische Tagungszentrum Wuppertal« (GmbH) im 21. Jahrhundert den Namen »Auf dem Heiligen Berg« gegeben. Die ironische Konnotation ist damit freilich verloren gegangen. In und mit Wuppertal verstanden sich die Reformierten als die Bedrängten, die dennoch standhaft blieben. »Wir sind die Aufrechten und beugen uns nicht«, »Wir geben unser Bekenntnis, unsere Konfession nicht preis«, »Wir kapitulieren nicht!«, das wären wohl typische Ausdrucksformen des damaligen reformierten Lebensgefühls gewesen. Mithin war es auch kein Wunder, dass eine Berufung ins Wuppertal für reformierte Theologen als große Ehre galt. Gleich vier außergewöhnliche Pastoren aus Ostfriesland nahmen den Ruf an: Hermann Albert Hesse (berufen 1916), Hermann Klugkist Hesse (1884–1949, berufen 1920), Karl Immer (1888– 1944, berufen 1927) und Harmannus Obendiek (1894–1954, berufen 1931). Nicht zuletzt Gemeindepfarrer prägten dieses Bild. Im übertragenen und im realen Sinne stand Wuppertal eben für die »Sammlung der Reformierten«.18 Durch die Kirchliche Hochschule, durch das reformierte Predigerseminar sowie durch einige bedeutende reformierte Repräsentanten wie Wilhelm Niesel (1903–1988) und Peter Bukowski (geb. 1950), durch kirchlich-konservative Funktionäre wie Superintendent Heinrich Höhler (1907–1995) und durch charismatische Prediger wie Gustav-Adolf Kriener blieb Wuppertal bis in das letzte Quartal des 20. Jahrhunderts ein herausgehobener reformierter Ort, in dem sich beispielsweise selbstverständlich die Geschäftsstelle des Reformierten Bundes befand (bis 2005). Aber Erinnerungsorte ändern sich, gerade auch dann, wenn der historische Kern und der konkrete Anhalt schwinden. Dachte man im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an Wuppertal, dann vergegenwärtigte man sich, dass das Reformiertentum trotz aller Bedrängnisse voller Kraft und Geist, bedeutsam und lebendig war – wenn reformierte Zeitgenossen mit etwas historischer Bildung heute an Wuppertal denken, werden sie angesichts des Schwunds an »reformiertem Erbe« wehmütig, auch wenn einige reformierte Institutionen und Denkmäler dort noch 17

Hermann Schürhoff-Goeters, Wilhelm Goeters (1878–1953). Aus seinem Nachlass und den Erinnerungen seiner Familie, Mönchengladbach 2007, S. 141. 18 Vgl. auch Lekebusch, Einigkeit im Bekenntnis (wie Anm. 10), S. 67.

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»… in schwere Bedrängnis geraten«?

aufzufinden sind. Aber nicht einmal mehr auf den zweiten Blick erschließt sich dem heutigen Besucher, dass Wuppertal und »reformiert« einst nahezu Synonyme waren.19 2.2 Das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts: Karl Barth – »der von Gott gesandte Lehrer«. Bekenntnis und Dogma Auch Karl Barth hat sich der Attraktivität des Wuppertaler Reformiertentum nicht entziehen können.20 Und so verknüpft sich der reformierte Erinnerungsort im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts mit dem des ersten Drittels, nämlich durch die Barmer Theologische Erklärung.21 Mit und nach der Ersten freien reformierten Synode am 3./4. Januar 1934 schwenkte der Reformierte Bund mit seinem neuen Moderator Hermann Albert Hesse ganz auf Barth-Linie ein. Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche Ende Mai 1934 wurde von Zeitgenossen und Zeitzeugen als ein »Wunder« geradezu pfingstlichen Ausmaßes erlebt und erinnert, und der Hauptverfasser hatte ohnehin seine Freude an der eigenen Legendenbildung: Während bei einem Vorbereitungstreffen die lutherischen Vertreter im Basler Hof in Frankfurt nach dem Mittagessen geschlafen hätten, habe die reformierte Kirche – sc. Barth – in anfechtungsreicher Zeit für die Kirche gewacht und dieses wichtige theologische Dokument wachsam aufs Papier geworfen. Barth galt fortan als wichtigster Lehrer in der Bekennenden Kirche und vollends nach 1945 in ganz Deutschland, ja in vielen Teilen der Welt, besonders bei Reformierten.22 Hier muss weder der »historische Kern« der überragenden Bedeutung Karl Barths, sein Werdegang noch die theologische Rezeption in Erinnerung gerufen werden.23 Zweifelsohne gehört die Barmer Theologische Erklärung aus Barths Feder zu den herausragenden und den grundsätzlichen orientierenden theologischen Dokumenten des 20. Jahrhunderts, zumal für die reformierten Konfessionsgeschwister des Hauptverfassers.24 19

Das gleiche muss auch für das frühere »Genf des Nordens« festgestellt werden. Emden war bis zur ersten deutschen Demokratie ein hervorgehobener reformierter Ort. Immerhin sind die Große Kirche mit der Johannes a Lasco-Bibliothek und die Neue Kirche im Stadtbild identifizierbar. 20 Helmich, Wuppertaler Gemeinden (wie Anm. 11), S. 129–136. 21 Zur Barmer Theologische Erklärung als Erinnerungsort vgl. Ebert u.a., Wo finden wir uns? (wie Anm. 8), S. 20–25. 22 Im niederländischen Reformiertentum gab und gibt es allerdings auch entschiedene Barth-Gegner. 23 Neben den drei großen Barth-Konferenzen in Emden (2003, 2008, 2014) mitsamt ihren Publikationen vgl. jetzt Michael Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016. 24 Vgl. auch Manuel Schilling, Das eine Wort Gottes zwischen den Zeiten. Die Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung vom Kirchenkampf bis zum Fall der Mauer, Neukirchen-Vluyn 2005.

2. Reformierte Erinnerungsorte im 20. Jahrhundert

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Barmen und Barth werden zusammen erinnert, gelegentlich nahezu synonym benutzt. Die Kirchliche Dogmatik (KD) ist ein materialisiertes Denkmal für den Erinnerungsort Karl Barth. Unvergessen bleibt für Theologengenerationen das haptische Erleben der KD-Bände und die optische Dominanz: Der hessische Pfarrerssohn Friedrich Christian Delius durfte am »Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde«, das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 am Radio im Arbeitszimmer seines Vaters erleben. Neben dem Rundfunkgerät steht ihm die KD vor Augen, die da mächtig im Regal thronte.25 Natürlich waren es Gemeindepfarrer, die für die Verbreitung der Ideen dieser rechten Lehre sorgten, aber es war doch ein akademischer Lehrer und im Anschluss daran weitere akademische Lehrer, die hier wirkten. Die KD steht für Barth als den Lehrer der Dogmatik. Hatten die Bände I/1 (München 1932) und I/2 (Zollikon/Zürich 1938) noch Startauflagen von 3.000 Exemplaren, so sanken die Bände aus den Kriegsjahren unter 1.000. Der Verkauf von Barth-Büchern war seit 1938 in Deutschland verboten. Nach 1945 starteten die Bände mit 6.000 und 7.000 Exemplaren, hinzu kamen bedeutende und mehrfache Neuauflagen der früheren Bände.26 Vermutlich erreichten die deutschsprachigen Ausgaben geschätzte 20.000 Exemplare pro Band. Hunderte – vor allem reformierte – Pfarrer und Theologen erwarteten ein Vierteljahrhundert lang die jeweils neu erscheinenden Bände und begannen sofort mit der Lektüre; wahrscheinlich noch viel mehr aber schafften die Lektüre angesichts des Alltagsgeschäfts gar nicht und waren angewiesen auf die Zusammenfassungen und Rezensionen der Bände, etwa in der RKZ. So musste die KD gar nicht gelesen werden, um dennoch zu wirken. Heute liegen zahllose Exemplare in den Antiquariaten, wo sie in der Regel für € 150,- bis 200,- zu haben sind. Zumeist wird in den Katalogen vermerkt, dass das Papier gebräunt sei. Das liegt einerseits an der Qualität des Papiers, andererseits aber auch daran, dass viele Barth-»Schüler« wie der »Meister«27 Pfeife rauchten,28 und so riecht die alte KD auch – und so riecht »reformiert«. Theologische Schülerschaft und konfessionelle Prägung lassen sich olfaktorisch identifizieren – und akustisch, denn ein anderer angeeigneter Habitus ist eine für reformierte Ohren eher schwer nachvollziehbare Beliebtheit der Musik des Katholiken Wolfgang Amadeus Mozart – ebenfalls nur durch die Gefolgschaft Barths zu erklären.29 25

Friedrich Christian Delius, Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 104. 26 Freundliche Auskünfte von Peter Zocher, Karl Barth-Archiv, Basel. 27 So nannten neben Kornelis Heiko Miskotte unzählige Schüler ihren Lehrer Barth. 28 Bultmann-Schüler bevorzugten dagegen Zigaretten. Diese beiden Schüler-Gruppen konnten sich wirklich nicht riechen. 29 Neben der bekannten Mozart-Schrift Barths von 1956 vgl. das »Zwischenspiel« bei Martin Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl

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Mit dem Erinnerungsort Barth gab es einen ständigen Rückbezug auf die »tapfere« und radikale Rolle im so genannten Kirchenkampf. Es entwickelte sich selbst bei den nicht mehr unmittelbar Beteiligten das Selbstverständnis: Wir waren damals die »Tapferen« und konnten widerstehen, weil wir die bessere Theologie hatten. Dies war ein derart erfolgreiches Narrativ, dass ein gänzlich des Konfessionalismus’ Unverdächtiger wie Hans-Ulrich Wehler zum Kirchenkampf resümieren konnte, dass »alle calvinistischen Pfarrer … zur ›Bekennenden Kirche‹ [stießen]«.30 »Konfession« bedeutete hier nicht mehr wie im Zusammenhang des Erinnerungsortes Wuppertal eine konfessionelle Bestandserhaltung und also ein »Bekenntnis«, sondern ein aktuelles »Bekennen« auf Grund der richtigen Lehre. Solches Bekennen konnte, selbst wenn es nicht intendiert war, politisch funktional, nämlich widerständig wirken. Dogmatik und Lehre waren dabei entscheidende Kriterien. Der Barthianismus ist natürlich realhistorisch nicht leicht zu quantifizieren, aber es entsteht doch für die Zeit nach 1945 der Eindruck einer durchaus machtvollen Gruppe, die über einigen Einfluss bei Lehrstuhlbesetzungen, Ehrenpromotionen und in Kirchenleitungen verfügte. »Kirchenpolitisch« konnte Barth, was Personen anging, eigenwillige Kursbestimmungen vornehmen: Man grenzte den im Kirchenkampf tapferen Wilhelm Boudriot (1892–1948) aus und bezichtigte ihn eines Deutschnationalismus, während man den durch seine nicht aufgegebene NSDAPMitgliedschaft kompromittierten Otto Weber (1902–1966) 1945 umgehend salvierte. Barth selbst hatte durch Schüler in aller Welt teils unmittelbaren, gewiss aber mittelbaren Zugriff auf akademische Karrieren und auf kirchliche Entscheidungsprozesse – und dadurch waren viele Multiplikatoren, die die Öffentlichkeit und die breite Masse prägten, ihrerseits geprägt. Gerade bei den Reformierten wurde theologisch nahezu alles barthianisch interpretiert, etwa die Jubiläen zu Calvin 1959 und zum Heidelberger Katechismus 1963. Im Gegensatz zu diesem beschriebenen Einfluss herrschte bei Barth selbst, bei seinen Schülern und in den von ihnen beeinflussten Ausbildungsorten und Kirchenleitungen das Gefühl, sich in einem permanenten Abwehrkampf zu befinden: gegen konfessionalistische Lutheraner,31 gegen die Bultmannschule, gegen ExisBarths, Neukirchen-Vluyn 2004, S. 92–97: Karl Barths Mozart-Liebe. – Eigentlich hätten sich Reformierte – neben dem lutherischen Johann Sebastian Bach – konfessionell zu Felix Mendelssohn-Bartholdy hingezogen fühlen müssen. 30 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 804. 31 Der scheiternde Hans Asmussen berichtete aus einer Gremiensitzung: »… die Reformierten waren sehr böse und zum Teil auch sehr ungezogen.« Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band 2: 1947/48, bearbeitet von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze (AKiZ A 6), Göttingen 1997, S. 122.

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tentialismus und Skeptizismus, gegen die Dibelius-Kirche und den Adenauer-Staat. Das allgemein vorherrschende kirchliche Krisenbewusstsein in den 50er/60er Jahren war bei den Reformierten nochmals binnenkirchlich potenziert. In der reformierten Szene herrschte so etwas wie ein barthianischer Habitus vor: Es wurde eine steile, damit auch eine strenge Theologie gelehrt und kommuniziert, gepredigt und darin unterwiesen; sie ließ nur wenig Spielraum für Lehre und Leben. Man konnte vollmächtig und selbstbewusst auftreten, klagte aber doch darüber, ständig auf der Hut sein zu müssen, um Gefahren für den Glauben und die Kirche abwehren zu können. Richtige Theologie stellte in eine beständige Bekenntnissituation. Gemeindeglieder mussten annehmen, dass sich ein Pfarrer und Theologe eben so zu verhalten habe. Man war theologisch im Recht, selbst wenn man die Kirchen leer predigte und an den Schülern vorbei unterrichtete – wenn sich also Theologie nicht durch kirchliche Erfolge verifizierte. Die Geschichte des Barthianismus auf Gemeindeebene und also in kirchlicher Breite wäre noch erst zu schreiben.32 Eine letzte habituelle Angleichung ist noch zu benennen: Man folgte Barth auch politisch,33 sicherlich nicht alle Barthianer und in jedem Fall – so gab es etwa durchaus Kritiker von Barths Sozialismus-Affinität oder seiner Haltung zu Ungarn 1956 –, aber man war doch geradezu reflexhaft bereit, den »Meister« zu verteidigen, wenn er von Politikern oder Medien angegangen wurde. Pfarrkonvente und kirchenpolitische Gruppierungen konnten scharfe Erklärungen pro Barth und gegen seine Gegner herausgehen lassen. Barths Ruf reichte in religiöse Sphären hinein. So konnte Hermann Albert Hesse im Kirchenkampf Barth als »Lehrer von Gottes Gnaden«34 verstehen, Kornelis Heiko Miskotte titulierte ihn bereits vor der Jahrhundertmitte als »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts«, im Jahr 1956 erklärte Heinrich Scholz, »[w]arum ich mich zu Karl Barth bekenne«.35 Sympathien für und Freundschaften zu Barth hatten also – mindestens sprachlich – Bekenntnisqualität! In unzähligen Pfarrbüros hingen Porträts von Barth. Die herrschenden Reformierten fühlten sich ihm, der

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Vf. ist in einem solchen praktizierten Barthianismus in dessen späten Auswirkungen um 1970 gemeindlich sozialisiert worden und erinnert sich freundlich an Erich Hamer (1909–1995), Pastor in Großwolde 1951–1977. 33 Vgl. auch Günther van Norden, Die Weltverantwortung der Christen neu begreifen. Karl Barth als homo politicus, Gütersloh 1997. 34 Vgl. Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche (SVRKG 113), Köln 1994, S. 105.361. 35 So der gleichnamige Aufsatz in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, S. 865–869.

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im hohen Alter noch ausrufen konnte »Ich bin ein Erzreformierter«,36 bis ans Ende eng verbunden: »Während der [Moderamens-]Sitzung [des Reformierten Bundes] trifft die Nachricht vom Heimgang unseres verehrten Lehrers Professor D.Dr. Karl Barth ein, der in unserem Tagungshaus [sc. Basler Hof, Frankfurt] die Theologische Erklärung von Barmen verfasst hat. Das Moderamen ist tief bewegt. Der Moderator gedenkt des Heimgegangenen in herzlicher Dankbarkeit.«37 Barth hat es sogar in ein – allerdings: ökumenisches – Heiligenlexikon geschafft.38 Als reformierter »Heiliger« konnte er schon längst gelten. Denkmäler sind mächtige Zeichen der Zeit, verwittern aber und werden von oben durch Vögel und von unten durch Hunde besudelt, Standbilder werden, wenn die Zeit es fordert, revolutionär vom Sockel gestürzt, Erinnerungsorte verblassen, wenn die Tradentengruppe sich ändert und dieselben Erinnerungen nicht oder nur anders aktualisiert werden (können). In einem Gespräch mit rheinischen Jugendpfarrern musste sich Barth, »der große alte Mann aus Basel«, wie er bereits 1956 in der Presse hieß, am 4. November 196339 Folgendes anhören: »Sie müssen wissen, Herr Professor, für uns sind Sie ein Stück Geschichte …, Theologiegeschichte [S. 313] … Sehen Sie, nun könnte es ja doch einfach sein, daß ein Gespräch zwischen uns gar nicht mehr möglich ist … Alle Begrifflichkeiten [sc. die Sie verwenden] … sind alle im Grunde für uns inakzeptabel – alle! … ich meine, wir sollten doch in aller Freundschaft scheiden. Eine ganze theologische Generation verdankt Ihnen ihre Existenz [S. 314] … Aber nun bedenken Sie, daß wir anders engagiert sind, daß wir zu neuen Ufern aufgebrochen sind. Ich möchte ganz gerne, daß das, was Sie getan haben, stehen bleibt als Rüstzeug der Kirche, auf das man immer wieder zurückgreifen kann. Aber ich glaube nicht, daß eine sachliche Diskussion noch möglich ist« [S. 315]. Die Abkehr von der großen Leitfigur Barth im Protestantismus und leicht phasenverschoben und abgeschwächt dann auch bei den Reformierten ließ sich nicht aufhalten. Andere Themen, auch solche, die von der weltweiten Kirche auf die Agenda gesetzt wurden, begannen die Diskurse zu bestimmen. Sicher pflegen gerade Reformierte das theologische Erbe Barths, aber das Erben setzt notwendigerweise ein Sterben voraus. Die theologi36

Interview mit Reinhard Stumm (10. September 1963), in: Karl Barth, Gespräche 1963, hg. von Eberhard Busch, Zürich 2005, S. 112. 37 Protokoll der Moderamenssitzung 9.–10. Dezember 1968, in: LKA Detmold, Dep. Ref. Bund Nr. 148 [22.27], S. 65. 38 Joachim Schäfer, Artikel Karl Barth, in: www.heiligenlexikon.de/BiographienK/ Karl_Barth.html (abgerufen am 3. März 2015). Das Lexikon ist nicht wissenschaftlich ausgewiesen. 39 Gespräch mit rheinischen Jugendpfarrern (4. November 1963), in: Barth, Gespräche 1963 (wie Anm. 36), S. 235–333. Die Zitate stammen von Fritz Heuner (jun.). Dass Theologie auch anders als bei Barth geht, zeigte sich gerade im Jahr 1963, als John A.T. Robinsons Honest to God erschien.

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sche Rezeption Barths findet gewiss immer wieder einmal einen neuen Aufschwung, aber es ist schwer nachzuzeichnen, wie Barth in die kirchliche Erinnerungskultur eingegangen ist. Anders als beim »Märtyrer« Dietrich Bonhoeffer gibt es keine Barth-Kirchen40 oder -Gemeinden, keine Kirchenfenster, die etwa Karl Barth darstellten, und nach Internetrecherchen trägt nur ein einziges evangelisches Gemeindehaus in Deutschland den Namen Karl Barths.41 Als die letzten Zeitzeugen starben, gab es immerhin noch ein philatelistisches Erinnern an Barmen (198442) und Barth (1986). Wohl funktioniert Barth weiterhin als reformierter Erinnerungsort, aber seit den 60er Jahren wird er zunehmend von anderem überlagert. Dogmatik, die richtige Lehre43 spielt keine so wesentliche Rolle mehr, Barthianer gehören spätestens seit den 60er/70er Jahren zu den eher kleineren Gruppen in der Theologiestudierendenschaft.44 2.3 Das dritte Drittel des 20. Jahrhunderts: status confessionis – Heiligung und Weltgestaltung Es war offensichtlich gerade bei den Reformierten in der alten Bundesrepublik ein Lob wert, sich politisch verantwortlich zu wissen und zu Wort zu melden, und zwar nicht erst seit der Friedensbewegung nach 1980, sondern bereits in den Anfangsjahren.45 Die Verbindung von theologischem Bekenntnis und politischer Positionierung mag eine Folge des aus reformierter Perspektive unauflösbaren Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung sein; sie fand jedenfalls in Karl Barth einen prominenten Verfechter. Weithin bekannt ist Barths Stellung40

Immerhin wurde eine Kirche auch nach Barths Vorstellungen – oder was man dafür hat halten können – erbaut: Otfried Hofius, Die Christuskirche Eiserfeld als Zentralbau und Gemeindekirche, in: RKZ 108 (1967), S. 164–167. Vgl. auch Barths Brief an Hofius vom 24. Januar 1967, in: Karl Barth, Briefe 1961–1968, hg. von Jürgen Fangmeier und Hinrich Stoevesandt, Zürich 1975, S. 380f. Vgl. die kurzen Anmerkungen von Karl Barth, Zum Problem des protestantischen Kirchenbaus, in: Werk 8/46 (1959), S. 271 (abgedruckt auch in: André Biéler, Kirchbau und Gottesdienst, Neukirchen 1965, S. 103f.). 41 Evangelische Gemeinde St. Jakob in Gernsbach (Evangelische Landeskirche in Baden). 42 Zum intensiv gefeierten Jubiläum 1984 vgl. Schilling, Das eine Wort Gottes (wie Anm. 24), S. 175–213. Das Gedenken der Jahre 1994 und 2004 war dagegen weniger aktualisierend; 2009 stand dann »Barmen« im »Schatten« des Calvin-Jubiläums. 43 Angesichts der Umformungen traditioneller Theologumena durch Barth ist es eigentlich erstaunlich, dass seine Theologie zuweilen als neo-orthodox o.ä. charakterisiert wurde und wird. Barths Selbstverständnis war dies gewiss nicht; vgl. etwa seine Bemerkung aus dem Jahr 1955: »Des Ruhmes der ›Orthodoxie‹ werden wir also von keiner Seite gewärtig sein dürfen!« Barth, KD IV/2, S. 117. 44 Vgl. Dimitrij Owetschkin, Die Suche nach dem Eigentlichen. Studien zu evangelischen Pfarrern und religiöser Sozialisation in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A 48), Essen 2011, S. 169. 45 So nennt Udo Smidt (1900–1978) einen Jahrgang am reformierten Predigerseminar »eine in jeder Richtung – einschließlich politische Verantwortung – wache Schar«. RKZ 95 (1954), S. 77.

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nahme an die Veranstalter und Teilnehmer einer Großveranstaltung am 6. März 1966 der so genannten Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«, die mit Fragen beginnt: »Seid ihr willig und bereit, eine ähnliche ›Bewegung‹ und ›Großkundgebung‹ zu starten und zu besuchen: Gegen das Begehren nach Ausrüstung der westdeutschen Armee mit Atomwaffen?« Gegen den Vietnam-Krieg? Gegen aktuelle antisemitische Straftaten? Für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, für die die kurz zuvor erschienene »Ostdenkschrift« der EKD votierte? Und Barth folgerte: »Wenn euer richtiges Bekenntnis zu dem nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift für uns gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus das in sich schließt und ausspricht, dann ist es ein rechtes, kostbares und fruchtbares Bekenntnis. Wenn es das nicht in sich schließt und ausspricht, dann ist es in seiner ganzen Richtigkeit kein rechtes, sondern ein totes, billiges, Mücken-seigendes und Kamele-verschluckendes und also pharisäisches Bekenntnis.«46 Diese Stellungnahme muss dem alten Barth wichtig gewesen sein, hat er doch selbst für eine massive Verbreitung in der linksprotestantischen Presse gesorgt. Der große Dogmatik-Lehrer und Vordenker des Bekenntnis-Kampfes früherer Tage drängte auf ein bestimmtes, nämlich aus dem Evangelium bestimmbares und also »schnurgerade« ableitbares Tun in der Welt. Auch wenn der Begriff erst später für Furore sorgen sollte: Man wähnte sich permanent im status confessionis. Mitte der 60er Jahre klagte Barth gegenüber seinem Schüler und Weggefährten Wilhelm Niesel: »Wie kann die Kirche dogmatisch eindeutig werden, wenn sie es ethisch-politisch nicht tun will?«47 Obwohl die Zeit des Dogmatikers Barth zu Ende zu gehen schien, wurde dieser Impetus Barths aufgenommen und fortgeschrieben. Das ethisch-politische Bekenntnis wurde zur Signatur des Reformierten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Trotz mitgelieferter theologischer Begründungen konnte es den Anschein haben, dass sich die »Heiligung« verselbstständigte: Auf radikale ethische Ansagen konnte man sich einigen, aber der dogmatische Konsens ging verloren oder wurde jedenfalls nicht mehr verbalisiert. In dieser ethischen Phase ging es nicht um die konfessionelle Eigenexistenz (wie im ersten Drittel des Jahrhunderts), es ging auch nicht mehr um »Lehre« (wie im zweiten Drittel), sondern um Gesellschaft und die dort notwendigen Veränderungen. In den 60er Jahren standen Themen der globalen gerechten Gesellschaft wie die »Rassenfrage«, Krieg und »Dritte Welt« auf der Agenda, in den 70ern wurden die Menschenrechte (Jürgen Moltmann), 46

Karl Barth an Adolf Grau, Basel, 16. März 1966, in: Karl Barth, Offene Briefe 1945–1968, hg. von Diether Koch, Zürich 1984, S. 519–521. Diesen politisierenden Barth rückten die »Lutherischen Monatshefte« dann gar in die Nähe der »Deutschen Christen«, vgl. RKZ 107 (1966), S. 181. 47 Karl Barth an Wilhelm Niesel, Basel, 14. August 1964, in: Barth-/Niesel-Briefwechsel (wie Anm. 13), S. 272f., hier: S. 273.

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Ökologie (Günter Altner), Apartheid, Frieden (Walter Kreck, Bertold Klappert) thematisiert, später in den 80ern mit längeren und grundsätzlichen Wirkungen »Juden und Christen«, letzteres ein Thema, um das sich reformierterseits vor allem Hans-Joachim Kraus (1918–2000) verdient gemacht hat. »Erinnert sich die Evangelische Kirche in Deutschland nur dann ihrer Reformierten, wenn diese politisch-ethisches Aufsehen erregen?« So fragte Hans Helmut Eßer (1921–2011)48 eher beunruhigt, zweieinhalb Jahre nachdem er resigniert die Leitung des Reformierten Bundes aufgegeben hatte und das Moderamen mit der Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« im Sommer 1982 für Furore gesorgt hatte, da hier doch der status confessionis proklamiert wurde.49 Gerade auch im Konzert des Gesamtprotestantismus entstand das Selbstverständnis der Reformierten, die »Progressiven«, die Radikaleren zu sein, die das politisch-gesellschaftlich Richtige sagen und tun. Überwiegend waren die meinungsführenden Reformierten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Linksprotestantismus beheimatet. Optierte man anders, gab es Probleme mit der Gruppenzugehörigkeit. Sehenden Auges nahm man dafür auch die Gefahr einer Marginalisierung im deutschen Protestantismus in Kauf, und mehr noch: man sah in einer solchen Marginalisierung sogar die Bestätigung für die Richtigkeit der eigenen Position. Gewiss agierten auch hier Gemeindepfarrer als Repräsentanten und Multiplikatoren – wie im ersten Drittel des Jahrhunderts – und akademische Lehrer als Vordenker – wie im zweiten Drittel –, die auch durch ihre Schüler Einfluss ausübten, aber nun traten nicht zuletzt Kirchenfunktionäre und Kirchenpolitiker auf, die auch um die gesellschaftliche Relevanz von Kirche rangen. Hinter den genannten politischen Positionierungen kann man theologisch anspruchsvolle Konzepte vermuten, etwa Barths Versöhnungslehre. Allerdings verschwanden theologische Zusammenhänge aus dem Bewusstsein. Von der Moderamenserklärung 1982 wird kaum jemand die Theologie erinnern, wohl aber die politische Aussage. Ähnliche Phänomene wären auch aus dem globalen reformierten Protestantismus zu berichten. Die Generalversammlungen des Reformierten Weltbundes in Ottawa 1982, in Seoul 1989 und in Debrecen 1997 kamen ohne Erklärungen eines status confessionis nicht mehr aus, auch wenn in Debrecen dann der Terminus processus confessionis verwandt wurde. Dieser Pro48 Hans Helmut Eßer, Das reformierte Zeugnis in gesamtkirchlicher Verantwortung, in: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, S. 83–95, hier: S. 83. 49 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 (Abdruck in diesem Band).

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zess wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorangetrieben und fand in Accra 2004 wohl einen Höhepunkt. Wer den Begriff status confessionis hörte, dachte und erinnerte »reformiert«, sei es mit zustimmender Freude, sei es mit einem Schaudern des Unverständnisses. Reformiertes Bekenntnis im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bedeutete sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung, sich in politisch-ethischen Grundsatzfragen rasch im status confessionis verortet zu wissen. 3. Gegenwart: Noch nicht gefundene Erinnerungsorte? Weil die reformierten Milieus schwinden und mit ihnen eine gemeinsame Erinnerungskultur, muss man sich mit pluralen und partikularen Erinnerungsphänomenen begnügen. Erinnerungsorte für zurückliegende Epochen drängen sich der Trägergruppe auf oder werden von der Forschung angeboten. Auch universitäre, objektive Wissenschaft ist nicht ohne Träger (-gruppe) denkbar, auch die Erforschung des reformierten Protestantismus ist nicht zuletzt möglich durch den gegenwärtigen reformierten Protestantismus, der seinerseits historische Selbstvergewisserung braucht,50 etwa auch durch das Bewusstwerden und Vermitteln von Erinnerungsorten. Gibt es heutige reformierte Erinnerungsorte, Orte der gegenwärtigen Selbstvergewisserung? Welche Erinnerungsorte imponieren sich dem zeitgenössischen Reformiertentum? Ein Historiker und Zeitgeschichtler kann diesem unabgeschlossenen Prozess einer Gruppe nicht vorgreifen, aber es erscheint fraglich, ob man sich innerhalb der reformierten Konfession mittlerweile noch auf Erinnerungsorte würde »einigen« können. Die drei hier vorgeschlagenen Erinnerungsorte zeichnen ja auch ihrerseits einen substantiellen Schwund nach: Wuppertal war als realer Ort greifbar und ist es bis heute, Barth war erlebbar und wirkt theologisch bis in die Gegenwart; ein status confessionis ist aber immer postuliert und umstritten und verschwindet bei Änderung der Verhältnisse, außerdem müssen sich für die Zukunft weitere ethische Konfliktfelder erst noch eröffnen, um hier wieder mit einem identitätsstiftenden status confessionis agieren zu können. Wahrscheinlich wird der zuletzt genannte Erinnerungsort status confessionis irgendwann an Plausibilität verlieren oder er hat diese bereits eingebüßt. Diejenigen, die daran ge50 Auch die Gründung der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. 1999 kam diesem Bedürfnis entgegen. Schon vorher wurde 1995 mit der Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden ein besonderer »Erinnerungsort« neu aufgestellt, nämlich ein Ort, an dem auch wissenschaftliche Erinnerungsarbeit geleistet und dargestellt werden kann.

4. Resümee

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genwärtig festhalten und ihn immer wieder einmal postulieren, ähneln doch ziemlich stark den reformierten Konfessionalisten nach 1933 und den orthodoxen Barthianern nach 1970, als sich jeweils frühere Paradigmen überlebt hatten: Man mag sich trotz eines gewissen Unbehagens nicht eingestehen, dass eine Ära vorübergegangen ist. Man wird sich neu einrichten müssen, und zwar wenn möglich mit Hilfe der fortzuschreibenden Geschichte – wenn es nicht täuscht, dann vermochten es auch die beiden Jubiläumsjahre 200951 und 201352 trotz allen Erfolges nicht, einen neuen, gruppenidentifikatorischen Erinnerungsort auszubilden. Der gegenwärtige topos der reformierten Erinnerung scheint noch nicht gefunden, bleibt ein utopos (oder gar atopos?). Keine Erinnerungsorte zu pflegen oder benennen zu können ist bereits ein Ausdruck der kollektiven Schwäche und ein Alarmsignal für eine prekäre konfessionelle Existenz. Dies wäre ein gravierender Befund für eine konfessionelle Gruppe, weil sie bei einem weiteren Verblassen der Erinnerungsgeschichte nicht mehr wird sagen können, was ihre Signaturen sind und warum ihre Fortexistenz überhaupt berechtigt oder sinnvoll ist.53 Ob professionelle Erinnerungsagenten noch gegensteuern können? Es wird in Zukunft wohl tatsächlich darum gehen, die eigene Konfessionsgeschichte nicht nur zu archivieren und also aufzuschreiben oder ihr einige Kapitel fortschreibend hinzuzufügen, sondern sie umzuschreiben,54 damit sie auch zukünftig aktualisierbar bleibt. 4. Resümee Mit den Erinnerungsorten »Wuppertal«, »Barth« und »status confessionis« konnte ein methodischer Ansatz für eine Re-Vision, für einen neuen Blick auf die reformierte Konfessionsgeschichte des 20. Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden. Nicht unveränderliche Referenzen wie der Heidelberger Katechismus o.ä. stellen gleich bleibend starke Kontinuitäten dar, sondern es scheint sich vielmehr eine bestimmte Haltung während des ganzen 20. Jahrhunderts in der Selbstwahrnehmung der Re51

Vgl. Johannes Hund, Erinnern und feiern. Das Calvin-Jubiläum im Kontext moderner Erinnerungskultur, in: VuF 57 (2012), S. 4–17. 52 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Kleines Buch mit großer Wirkung. 450 Jahre Heidelberger Katechismus: das Jubiläumsjahr 2013, in: Kirchliches Jahrbuch 140 (2013). Dokumente zum kirchlichen Zeitgeschehen, Gütersloh 2015, S. 91–109 (Wiederabdruck in diesem Band). 53 Kleinere Sondergruppen wie deutsche Hugenotten oder Waldenser mögen davon vielleicht noch nicht (so) existentiell betroffen sein. Hier gibt es spezifische Kohäsionsfaktoren. 54 Vgl. Moltmann, Das Geheimnis der Vergangenheit (wie Anm. 2). Als Bonmot vgl. die Sentenz von Samuel Butler (1835–1902): »Der Unterschied zwischen Gott und den Historikern besteht hauptsächlich darin, dass Gott die Vergangenheit nicht mehr ändern kann.«

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formierten quasi als ein »Kontinuitätsgefühl«55 durchzuhalten, was sich mit allen drei genannten Erinnerungsorten demonstrieren lässt: Man meinte sich verteidigen und gegen je eine institutionell dominante, eine falsch lehrende oder eine ungerecht handelnde Majorität ankämpfen zu müssen. Die Position der Schwäche, die objektiv gar nicht immer gegeben war, wurde zur eigenen Stärke umgemodelt, aus einem vermeintlich aufgezwungenen Stigma wurde ein konstruiertes Charisma, aus dem Minoritätsbewusstsein – pathologisierend würde von einem Komplex zu sprechen sein – wurde ein stolzes »Wir sind anders« und »Wir sind die Anderen«. »In schwere Bedrängnis geraten« – das war vor allem in der Selbstwahrnehmung so. Nach der Annahme dieses »Geschicks« kam es dann auch zu einer gewissen »Sakralisierung« der eigenen Leitideen: Wuppertal und Barth wurden in göttliche, heilige Sphären gezogen, der status confessionis wurde selbst als eine unmittelbare Konsequenz aus dem Evangelium verstanden. Auch wurde »gepilgert«: nach Wuppertal zu den weithin bekannten Predigern und zu kirchlichen Versammlungen, zu Barth unters Katheder und zu politischen Demonstrationen. Ebenso blieben Legendenbildungen nicht aus. Zu den Kohäsionskräften nach innen gesellten sich Marginalisierungstendenzen: Wer kritisierte, fand sich schnell außen vor. Möglicherweise gilt: Wer sich (extern) marginalisiert fühlt, marginalisiert selbst (intern). Entsprechend überwiegen auch im Schwund der Erinnerungskultur nach wie vor die Erinnerungen des Stolzes, die Verehrungen und die Heiligenlegenden, während negative Erinnerungsorte verdrängt werden und von den jeweils Herrschenden Verdrängtes nicht erinnert wird. Es ist hohe Zeit, eine selbstkritische56 reformierte Konfessionsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, gewiss mit »Lust und Liebe« (Heidelberger Katechismus 90), aber ohne Ausblendung der Trauer.

55 56

Langewiesche, Erinnerungsgeschichte (wie Anm. 4), S. 25. Zu einem (selbst-)kritischen protestantischen Erinnerungsmodus vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Erinnerung und Erinnerungskultur im deutschen Protestantismus, in: ZKG 119 (2008), S. 30–44, hier: S. 42–44.

Anhang

Weltgestaltung Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009

»Von mir selbst rede ich nicht gerne«, verriet er einmal. Sein »Geburtstag« 2009 hat gleichwohl viel Anlass gegeben, über diesen Mann von welthistorischer Bedeutung zu reden und sein Leben, sein Werk und seine Wirkungen zu bedenken – neu zu bedenken und nachhaltig sein Image zu ändern. 1. Das Jubiläumsjahr 2009 Johannes Calvin wurde am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon geboren. Im Jahr 2009 wurde weltweit seines 500. Geburtstags gedacht. Calvins tatsächlich weltweite Ausstrahlung macht ihn zur bedeutendsten Gestalt in der Reformationsgeschichte und zum erfolgreichsten Kirchenreformer überhaupt: Der maßgeblich auf Calvin zurückgehende reformierte Protestantismus ist verglichen mit dem Luthertum der größere Traditionsstrom des globalen Protestantismus, wenn auch bereits jetzt kleiner als die Summe der pentekostalen Phänomene. Sowohl die Minderheitensituation der Reformierten als auch das von Konfessionalisten und »Gebildeten« gepflegte negative Bild des Genfer Reformators sind ein deutscher Sonderweg. Wenn nicht alles täuscht geht mit dem CalvinJahr 2009 Calvins negatives Image einem Ende entgegen. Anders als bei früheren Gedenkjahren Johannes Calvins, in denen durch die offenbar permanent zu leistende Apologie von Seiten der Calvinisten die Fremdheit dieses großen europäischen Gelehrten zu Tage trat und sich darüber paradoxerweise weiter verfestigte, wurde das Gedenkjahr 2009 als eine Aufgabe des gesamten Protestantismus in Deutschland verstanden. Dass die Feierlichkeiten etwa in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten wesentlich origineller und lebendiger gestaltet waren, soll hier gar nicht als deutsches Manko aufgeführt werden. Vielmehr ist zu würdigen, wie sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) engagierte und Calvin ein würdiger Platz in Tradition und Gegenwart auch des deutschen Protestantismus zugewiesen wurde. Im Rahmen der zunächst als Reformations-, dann jedoch einschränkend nur noch als LutherDekade bezeichneten aktualisierenden Erinnerungsarbeit im Hinblick auf das Gedenkjahr der Reformation im Jahr 2017 kooperierte die EKD mit den konfessionellen Nachfolgern Calvins. In Deutschland bestehen

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mit der Evangelisch-reformierten Kirche und der Lippischen Landeskirche zwei – überwiegend – reformiert geprägte Landeskirchen. Die meisten reformierten Christen leben aber in den Kirchen der Union, etwa im Rheinland, in Westfalen, in Hessen und in der Pfalz. Eine kleine altreformierte Freikirche existiert im westlichen Niedersachsen. Der 1884 gegründete Reformierte Bund e.V. versteht sich als landesweiter Wahrer reformierter Belange und hat typisch reformiert für sich eine äußerst schwache institutionelle Form gewählt, nämlich die eines Vereins – allerdings trat aus kirchenpolitischen Gründen 2014 eine gleichnamige Körperschaft des öffentlichen Rechts ihm an die Seite. Die Kooperation zwischen EKD, den EKD-Gliedkirchen, den reformierten Landeskirchen und dem Reformierten Bund ermöglichte die zeitlich limitierte Anstellung eines »Calvin-Beauftragten«; diese Stelle hatte mit Dr. Achim Detmers ein ausgewiesener Calvin-Forscher der jüngeren Generation inne.1 Die an zahlreichen Orten gezeigte Wanderausstellung, das gemeinsam verantwortete Calvin-Magazin und andere Materialien stellten Johannes Calvin als Reformator von europäischem Format vor. Das Deutsche Historische Museum zeigte eine große und großartige Ausstellung über den »Calvinismus«, die vom damaligen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Pieter Balkenende als einem bekennenden Reformierten eröffnet wurde.2 Hauptredner während der zentralen Feier in Berlin am Geburtstag Calvins war der reformierte Lipper Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland – 2017 wurde er zum Bundespräsidenten gewählt. Er ist nach Gustav Heinemann und Johannes Rau bereits der dritte Reformierte in diesem Amt. 2. Johannes Calvin Wer war Johannes Calvin, was hat er dem reformierten Protestantismus mit auf den Weg gegeben und wie könnte seine aktuelle Bedeutung beschrieben werden? Geprägt vom Humanismus, in Berührung ge1

Vgl. Achim Detmers, Das Calvin-Jahr 2009 – Vorgeschichte, Ereignisse, Erfolge, Überraschungen, in: KJ 136 (2009), S. 141–174; Luther 2017 500 Jahre Reformation, Jahrbuch 2009: »Reformation und Bekenntnis«; vgl. die weiteren Rückblicke: Christoph Strohm, Medien, Themen und Ertrag des Calvin-Jubiläums 2009, in: Archiv für Reformationsgeschichte 102 (2011), S. 296–327; Johannes Hund, Erinnern und feiern. Das Calvin-Jubiläum im Kontext moderner Erinnerungskultur, in: Verkündigung und Forschung 57 (2012), S. 4–17. 2 Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, herausgegeben von Ansgar Reiss und Sabine Witt, Dresden 2009.

2. Johannes Calvin

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kommen mit Auswirkungen der lutherischen Reformation sowie enttäuscht von negativen Erfahrungen mit der altgläubigen Kirche, öffnete sich der junge glänzende Jurist Johannes Calvin spätestens Anfang der 1530er Jahre in Paris reformatorischem Gedankengut. Einige Jahre auf der Flucht, in denen er u.a. von adeligen Gönnern und Gönnerinnen gefördert seine theologischen Studien autodidaktisch vorantreiben konnte, kam er im Sommer 1536 kriegsbedingt nach Genf, wo er durch den dortigen Reformator Wilhelm Farel zum Bleiben aufgefordert wurde, um der Reformation Halt und Form zu geben. Der eher wenig draufgängerische Gelehrte hätte sich lieber seinen Studien gewidmet, zumal kurz zuvor die erste Auflage desjenigen Buches in Basel gedruckt worden war, das Calvin bis heute den Rang eines in aller Welt bedeutenden Theologen sichern sollte: Die Institutio christianae religionis. Orientierte sich diese Auflage noch an vorliegenden katechetischen Werken, so erweiterte Calvin die Institutio durch zwei weitere Auflagen in Latein und Französisch bis 1559 zu einem umfangreichen Lehrbuch der Dogmatik. Erfreulicherweise erbrachte das Calvin-Jahr 2009 eine von Matthias Freudenberg verantwortete, lesbare Neuauflage dieses Werkes nach der seit mehr als zwei Generationen benutzten Übersetzung Otto Webers.3 In Genf, das sich in einer gewissen Gemengelage von Machtinteressen anderer Territorien und Städte vorfand, versuchten Farel, Calvin und andere Prediger die Kirche neu zu ordnen. Der juristisch geschulte Exulant wollte Lehre und Ordnung der Kirche den reformatorischen Einsichten entsprechend ausrichten. Die von ihm dafür selbstverständlich beanspruchte Freiheit auch gegenüber den weltlichen Machthabern stieß durch die Interessen und überkommenen Privilegien des Stadtpatriziats an ihre Grenzen. Vorübergehend musste Calvin 1538 Genf verlassen. Wiederum konnte er seinen Wunsch nicht erfüllen, als theologischer Privatgelehrter zu leben, sondern wurde nach Straßburg gerufen, wo mit Martin Bucer der Ireniker und Ökumeniker der Reformation wirkte. In Straßburg arbeitete Calvin als Pfarrer der wachsenden französischen Flüchtlingsgemeinde und Lehrer an der Akademie. Bei Bucer lernte Calvin einiges kennen, was er später selbst weiterentwickelte, etwa die vier Formen des kirchlichen Amts oder auch den Psalmengesang. Im Jahr 1541 rief Genf den Verbannten zurück. Dieser setzte seine Arbeit in der Gemeinschaft der Genfer Geistlichkeit ruhig fort, verfasste einen neuen Katechismus und eine Kirchenordnung.4 In durchaus wechselhaften Jahren, zunehmend aber auch gesicherter konnte Calvin in der 3

Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. 4 Die wichtigsten Texten versammelt die Calvin-Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn 1994ff. (10 Bde).

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Genfer Stadtrepublik wirken. Tausende Verfolgte suchten und fanden in Genf einen sicheren Asylort vor den Verfolgungen in ihrer französischen Heimat. Calvin predigte und lehrte; so liegt beinahe von jedem Bibelbuch eine umfangreiche Auslegung aus seiner Feder vor. Im Jahr 1559 wurde die Genfer Akademie gegründet, die bald eine Europa weite Ausstrahlung haben sollte. Im Frieden, aber von der Arbeit völlig entkräftet, verabschiedete er sich von den Genfer Pfarrern und verstarb am 27. Mai 1564. Anders als Luther – und manch andere »Kirchenfürsten« – hatte Calvin weder Lust noch Interesse an der eigenen Legendenbildung. Er blieb der bescheidene, sich selbst hinter der Sache der Kirche und Theologie zurücknehmende Gelehrte. Wenige Monate nach seinem Tod war die genaue Stelle seines Grabes bereits nicht mehr bekannt. Große Pilger-, ja Wallfahrten, wie sie in den kommenden Jahren zu den deutschen Reformationsgedenkstätten geplant sind, wären seine Sache gewiss nicht gewesen. Anders als sein theologisches Leben blieb das Familienleben unerfüllt: Idelette van Buren, eine in Straßburg geehelichte wallonische Flüchtlingswitwe, verstarb ebenso wie der gemeinsame Sohn in Genf. Seine tiefe Trauer über diesen Verlust hinderte ihn freilich nicht, sich herzlich um die Kinder Idelettes aus erster Ehe sowie um eigene Familienmitglieder zu sorgen. 3. Calvinische Signaturen Da Calvin in der Wirkungsgeschichte immer wieder wegen seines gemeindeorganisatorischen und theologischen Wirkens5 angefeindet wurde, seien im Folgenden markante und wirkmächtige Positionen identifiziert. Calvin, der erst fünf Jahre vor seinem Tod das Bürgerrecht erhalten sollte und bis dahin als mehr oder minder rechtloser Ausländer in Genf lebte, hat dort keine Tyrannei errichtet, wie konfessionelle Polemik oft behauptete. Er kann gar nicht über eine entsprechende politische und juristische Macht verfügt haben. Vielmehr waren ihm Freiheit und Gewaltenteilung essentiell wichtig. Auch wenn die Parole von der »freien Kirche im freien Staat« erst im 19. Jahrhundert aufkommen sollte – katholischerseits durch Camillo di Cavour, reformierterseits durch den erzcalvinistischen Theologen und nachmaligen niederländischen Ministerpräsidenten Abraham Kuyper –, hätte sie doch gewiss Calvins Zustimmung gefunden. Calvin achtete nämlich auf die Freiheit der Kirche gegenüber den lokalen Autoritäten – womit auch einer religiösen Überhöhung des Staates gewehrt und ein funktionales Staatsverständnis eröffnet wurde – und bemühte sich binnenkirchlich um eine Relativierung von Macht. So baute er das Bucersche System der vier Formen des Am5

Vgl. Calvin-Handbuch, hg. von Herman J. Selderhuis, Tübingen 2008.

3. Calvinische Signaturen

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tes aus (Pastoren, Älteste, Lehrer, Diakone) und beteiligte auf diese Weise Laien an der Leitung einer von unten nach oben organisierten Kirche. Dem Ernstnehmen des Glaubens und damit gerade auch der Freiheit diente die oft diskreditierte Kirchenzucht. Hatten Gemeindeglieder sich offensichtlich an göttlichen Geboten vergangen, hatten diese sich vor kirchlichen Gremien zu verantworten. Wie die Akten, die in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich erst erschlossen wurden, zeigen, entstand dadurch keine Theokratie, sondern geradezu ein frühmodernes System von Mediation, indem es zu einem Täter-Opfer-Ausgleich und etwa zu einem Schutz von Frauen und Kindern vor gewissenlosen Männern und Vätern kommen sollte. Klaas Huizing, liberaler Theologe mit orthodox-calvinistischen Wurzeln, hat in seinem – manchem CalvinGralshüter als frech erscheinenden – Buch zum Calvin-Jahr die Kirchenzucht als einen wichtigen Beitrag von »Transparenz« gewürdigt.6 Zu Calvins Theologie sind bereits Bibliotheken von Interpretationen vorgelegt worden. In Deutschland waren es im vergangenen Jahrhundert nicht zuletzt Weggefährten und Schüler Karl Barths, die nahezu jedes Lehrstück christlichen Glaubens nach Calvin neu durchdacht und dargestellt haben. Auch Barth selbst hat in der ihm eigenen souveränen Freiheit calvinische Theologumena einer radikalen Neuinterpretation unterzogen (Bund, Erwählung, Versöhnung). Generell wäre zunächst festzuhalten, dass Calvin ein Format reformatorischer Theologie entwirft und er damit als einer der großen reformatorischen Denker des Gesamtprotestantismus gelten kann. Seine Theologie ist dabei geprägt von einem starken »Gottesbild«, das sich auch vom Alten Testament leiten lässt. Calvin und in seinem Gefolge der reformierte Protestantismus kennen keine funktionale Hierarchisierung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament; beide zeugen von dem einen Gott. Die besondere Liebe zum AT und die Fortführung zentraler theologischer Aussagen der jüdischen Tradition prägen die Reformierten und haben sie zu den Protagonisten des christlich-jüdischer Dialogs werden lassen. Zwei weitere konfessionelle Charakteristika sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Zum einen ging mit der Realisierung des Zweiten Gebots biblischer Zählung nicht etwa eine besondere Kunstfeindlichkeit einher – vielmehr blieben bilderstürmerische Attacken im Reformationsjahrhundert überwiegend lediglich Episode –, sondern eine Befreiung der Kunst als weltliches Unterfangen, wie sich etwa an der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zeigen ließe; im niederländischen »Goldenen Jahrhundert« wurden etwa das Stilleben und das Alltagsgenre zur malerischen Blüte gebracht. Auch einer der Begründer der modernen abstrakten Malerei, Piet Mondrian, entstammt dem Calvinismus. Zum anderen bewirkte Calvins Versuch, den Glauben im Leben wirkmächtig werden 6

Klaas Huizing, Calvin … und was vom Reformator übrig blieb, Frankfurt a.M. 2008.

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Weltgestaltung

zu lassen, ein eindringliches Nachdenken über christliche Ethik (Heiligung) und setzte so eine besondere Kraft zur Weltgestaltung frei. Entsprechend wird der Dekalog nicht – ausschließlich – zu einem den Sünder überführenden theologischen Instrument degradiert, sondern als Grundlage für eine Ethik aus Dankbarkeit angesehen. Calvin gehört hier merklich der zweiten Generation der Reformatoren an, die von einer Reformation allein der Lehre zu einer »Reformation des Lebens« (Christoph Strohm7) voranschreiten konnte. Calvins Freiheitsimpetus und sein ethisierender Zug der Weltgestaltung prägen – neben den Erfahrungen von Unterdrückung und Exil – das bemerkenswerte Resistenzpotenzial der Reformierten; bereits früh finden sich hier so genannte Monarchomachen, später immer wieder unbeugsame Widerstandskämpfer, die dem Staat eben kein eigenes »Recht« und damit unter Umständen ein legalisiertes Unrecht zustehen konnten. Die Vorstellung von der Königsherrschaft Jesu Christi verdeutlicht doch gegenüber der Zwei-Regimenten-Lehre des Luthertums, dass es für Christen kein Handeln geben kann, das nicht im Zusammenhang mit Gottes Gerechtigkeit zu sehen ist. Es verwundert nicht, dass im reformierten Bereich die Barmer Theologische Erklärung zu den anerkannten Bekenntnisgrundlagen zählt. Als Vertreter der zweiten Reformationsgeneration fiel es Calvin zu, die neu entdeckte Rechtfertigungslehre vertieft zu durchdenken. Der ungemein bibelkundige Calvin sah den Gnadencharakter des Glaubens und des Heils nicht zuletzt in den biblischen Erwählungsgeschichten aufleuchten. Diese nachzeichnend hat er die augustinisch-lutherische Lehre von der Prädestination aus der engeren Gotteslehre herausgenommen – etwa auch von der Providenz gelöst – und sie neu er-örtert, nämlich im Zusammenhang mit der Aneignung des Heils. Die Prädestinationslehre ist so keine abstrakte Lehre von Erwählung und Verwerfung durch einen vermeintlich willkürlichen Gott, sondern ein Beitrag zur Gewisswerdung der Gläubigen – so gehören Prädestination und Perseveranz zusammen. Obwohl Calvin diesem Lehrstück einen eigenen umfangreichen Traktat und einen größeren Abschnitt in der Institutio widmet, kann doch nicht gut von der Zentrallehre Calvins gesprochen werden, wie es frühere Dogmengeschichtsschreibung tat. Vielmehr rückte das Lehrstück von der Prädestination durch die theologischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Dordrechter Synode 1618/1619, wo der reformierte Protestantismus Europas zusammentrat, in den Mittelpunkt und bekam dadurch eine derart starke Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Theologie Calvins. Während des Calvin-Jahres 2009 wurde betont, dass die Prädestinationslehre besonders bei Calvin selbst kontextuell gelesen werden müsse; so habe er die zu Tausenden verfolgten und mit dem Tod bedrohten französischen Flüchtlinge trös7

Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009.

4. Calvins Image

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ten wollen, dass sie sich auch gegen den Augenschein der Bedrohungssituation gewiss sein sollten, nicht aus dem Stand des Heils herausfallen zu können. Der bereits genannte originelle Klaas Huizing interpretierte die Prädestination in psychologischer Kategorie als Versuch einer »Entängstigung«. Hier eine mentalitätsgeschichtliche Wurzel für die andauernde typisch reformierte Unbeugsamkeit zu sehen, ist schwerlich von der Hand zu weisen. 4. Calvins Image Die nachhaltige Wirkung des Calvin-Jahres mag auch darin begründet sein, dass man sich nicht zuerst an überkommenen Klischees meinte abarbeiten zu müssen, sondern vielmehr zu Person und Sache selbst redete.8 Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, wie hartnäckig falsche historische Bilder wirken. Auch der Verfasser hat es 2009 erlebt, dass nach der Ankündigung von Calvin-Vorträgen Pamphlete mit unerträglichen Denunziationen Calvins aus alter Literatur anonym (!) zugestellt wurden. Vor allem der Fall des Michel Servet hat das kollektive CalvinBild des gebildeten Bürgertums überschattet, wobei besonders Stefan Zweigs Roman »Ein Gewissen gegen die Gewalt« Wirkung zeitigte. Dabei ist die historische Rechtslage klar: Servet war bereits anderenorts entsprechend dem Reichsrecht als Ketzer zum Tode verurteilt worden. Er suchte in Genf Zuflucht, musste sich dann nach seiner vom ihm provozierten Entdeckung auch dort vor Gericht verantworten. Auch wenn Calvin gutachterlich tätig war, war er doch weder Ankläger noch Richter. Das Verfahren oblag den weltlichen Behörden. Dass der Leugner der Trinität und Feind der Kindertaufe nach damaligem Empfinden den Tod verdient hatte, bezeugte auch der heute ob seiner Milde so geschätzte Philipp Melanchthon und weitere auswärtige Gutachter. Freilich steht Stefan Zweig als Urheber eines negativen Calvin-Bildes nicht allein. Er folgte auf katholische Kampfliteratur. Von Anfang an war Calvins Ruf durch die Schriften des Hieronymus Bolsec ruiniert worden, einem unterlegenen theologischen Diskursgegner Calvins. Gebildete müssten heute zur Kenntnis nehmen, dass sowohl Calvin und seine Gegner, die Wirkungsgeschichte wie auch Stefan Zweig historisch kontextualisiert werden müssen: Es ging Zweig um eine Abrechnung mit dem Totalitarismus im nationalsozialistischen Deutschland – und 8

Als Beispiele seien genannt: Matthias Freudenberg / J. Marius J Lange van Ravenswaay (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (Emder Beiträge zur Geschichte des reformierten Protestantismus 13), Neukirchen-Vluyn 2009; Traugott Jähnichen u.a. (Hg.), Calvin entdecken. Wirkungsgeschichte, Theologie, Sozialethik (Zeitansage. Schriftenreihe des Evangelischen Forums Westfalen und der Evangelischen Stadtakademie Bochum 6), Berlin 2010.

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Weltgestaltung

dafür bediente er sich fachlich falsch informiert eines historischen Sujets. Das mag man möglicherweise nicht Zweig selbst vorwerfen, wohl aber allen, die sich weiterhin weigern, historisch-kritisch die Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Ein – wenn auch bislang oft missverstandenes – positives Bild Calvins zeichneten neben den Konfessionellen, die es nach dem 30jährigen Krieg erst wieder seit dem 19. Jahrhundert gibt, vor allem die Heidelberger Max Weber und Ernst Troeltsch, die durchaus auf zweifelhafter Quellenbasis die umstrittene These eines Zusammenhangs von Calvinismus und Kapitalismus entwickelten. Für die Deutschen war Anfang des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich der angelsächsisch-amerikanische Kapitalismus im demokratischen Kontext negativ konnotiert. Tatsächlich muss der Kapitalismus aber auch als Freiheit, nämlich als freies Handeln im freien Kontext und in Gewaltenteilung, verstanden werden. In diesem Sinn könnte man Calvin also durchaus am Anfang der modernen Freiheitsidee sehen, wenn analysiert wird, dass der Kapitalismus in erster Linie dort entstand, wo der Calvinismus kulturprägend war. Wenn Calvins Persönlichkeit verglichen werden soll, dann muss dieser feinnervige Gelehrte doch wohl am ehesten Melanchthon zur Seite gestellt werden. Auch dieser war auf Grund intellektueller Einsicht in humanistischer Tradition bemüht, die Lehre und die Ordnung der Kirche ohne konfessionellen Zorn zu gestalten. Calvins juristisch-humanistische Ausbildung an damaligen Exzellenz-Universitäten hat seiner Theologie einen so klaren Charakter verliehen, der möglicherweise mitverantwortlich für einen durchaus rationalisierenden Zug reformierter Frömmigkeit geworden ist. 5. Nach dem Jubiläumsjahr Calvin und der Calvinismus stehen für die Pluralität der Reformation und des Protestantismus, ebenso für ein modernisierendes Format evangelischen Glaubens. Der reformierte Protestantismus hat Demokratie fördernd gewirkt und beinhaltet hohes Resistenzpotenzial. Der Calvinismus ist, wie das internationale Calvin-Jahr 2009 deutlich herausstellte, eben keine provinzielle Form des Protestantismus, sondern ein globales Format. Diesen Charakter des reformierten Protestantismus zu betonen, konnte übrigens auch das Jubiläumsjahr des Heidelberger Katechismus, der wirkmächtigsten reformierten Bekenntnisschrift, im Jahr 2013 herausstellen. In diesem Zusammenhang muss es auch als glücklich bezeichnet werden, dass in der laufenden Reformationsdekade mit »refo500« ein überkonfessionelles und weltweites Netzwerk entstanden ist, das die Reformationsdekade gestalten will.

5. Nach dem Jubiläumsjahr

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Die Wertschätzung, die Calvin in zahlreichen Ländern Europas, nicht zuletzt auch in Amerika und in Asien genießt, hat endlich auch Deutschland erreicht. Wer sich hierzulande heutzutage intellektuell blamieren will, wiederholt die alten Calvin-Klischees und prolongiert auch damit den protestantischen Provinzialismus Deutschlands. Wer dagegen kirchen- und theologiegeschichtlich sowie konfessionskundlich auf aktuellem Diskursniveau sein möchte, sollte das Calvin-Jahr 2009 wahrgenommen haben.

Kleines Buch mit großer Wirkung 450 Jahre Heidelberger Katechismus: das Jubiläumsjahr 2013

Ein kleines, altes Buch mit 129 Fragen und Antworten von 1563 zeitigte im Jahr 2013 große Wirkungen. Da es sich um die wichtigste Bekenntnisschrift des weltweiten reformierten Protestantismus handelt, müsste eigentlich internationaler formuliert werden: Small book, big impact.1 Im Vorfeld des Jubiläumsjahres »450 Jahre Heidelberger Katechismus« war auch Skepsis geäußert worden: Sollte es gelingen, die kirchliche Öffentlichkeit und darüber hinaus sogar weitere gesellschaftliche Kontexte mit Jubiläumsveranstaltungen zu einem alten theologischen Traktat anzusprechen? Muss sich ein theologischer Text der Tradition wie der Heidelberger Katechismus (im Folgenden kurz: der HEIDELBERGER) mit seinen vormodernen Vorstellungswelten bei aktuellen Fragestellungen nicht als sperrig erweisen? Ist er überhaupt medial vermittel- und darstellbar? Auch die binnenkirchlichen Voraussetzungen erschienen eher ungünstig: Selbst kirchenleitende Persönlichkeiten mussten zunächst eingestehen, die Inhalte des HEIDELBERGERs nicht präsent zu haben – um wie viel mehr musste dieser also dem Gedächtnis des deutschen Protestantismus insgesamt so unbekannt geworden sein, dass kaum an rudimentäres Wissen anzuknüpfen sein würde? Im Folgenden wird vor der Darstellung der wissenschaftlichen Ereignisse und Erträge des Jubiläumsjahres versucht, die Bemühungen der kirchlichen Erinnerungsarbeit zu erfassen, denn »Jubiläumsfeiern [können] natürlich nicht nur aus der öffentlichen Vermittlung von aktuellen Ergebnissen der historischen Forschung zu den Ereignissen bestehen …, die gefeiert werden sollen. Entsprechend zeichnet auch die historische Forschung nur ein im besten Fall möglichst angemessenes Bild der Ereignisse, die im Zentrum eines Jubiläums stehen. Jubiläumsfeiern sind vielmehr eng mit den Erinnerungskulturen einer Gesellschaft verbunden«.2 1

Trotz der globalen Bedeutung des HEIDELBERGERs beschränkt sich dieser Beitrag auf das Jubiläumsjahr in den deutschen bzw. deutschsprachigen Kontexten und macht lediglich Ausnahmen bei Kooperationen mit und direkten Wirkungen in Deutschland. Gleichwohl ist festzuhalten, dass ältere und aktuelle Forschungsarbeiten namentlich aus den Niederlanden und den USA auch hierzulande eine beachtliche Rolle spielten, man sich der globalen elektronischen Informationsquellen bediente und sich von praktischen Ideen aus dem weltweiten Reformiertentum anregen ließ. 2 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, S. 94f.

1. Das Jubiläumsjahr 2013 als kirchliches Ereignis

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Dass historische Wissenschaft und kirchliche Identitätsangebote nicht in einem kritischen Verhältnis stehen müssen, sondern auch positiv aufeinander bezogen sein können, zeigt das HEIDELBERGER-Jubiläumsjahr 2013. 1. Das Jubiläumsjahr 2013 als kirchliches Ereignis 1.1 Voraussetzungen und Vorbereitungen Ein wichtiger Kontext des HEIDELBERGER-Jubiläumsjahres war die Reformationsdekade mit dem vorangegangenen Calvin-Jubiläum 2009.3 Dieses beachtliche Ereignis hatte durch seine Internationalität dem deutschen Protestantismus weite Horizonte öffnen können und zu einer erneuerten Wertschätzung des reformierten Protestantismus und damit auch von »Konfessionalität« geführt. Beim Calvin-Jahr 2009 hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gerne Anstöße aus dem Reformiertentum aufgenommen, sie hatte Planung und Realisierung sowohl personell als auch finanziell unterstützt. Das Jubiläum »450 Jahre Heidelberger Katechismus« hatte einen längeren Vorlauf und stand bereits mit Beginn der Reformationsdekade auf der Agenda für 2013, allerdings wurde die Themenstellung »Reformation und Toleranz« avisiert4 und als historische Reminiszenz auch das Ende des Trienter Konzil 1563 in den Blick genommen. Die Reformierten begannen im Herbst des Calvin-Jahres mit den Planungen für das HEIDELBERGERJahr. Wenige Monate später, nämlich ab Februar 2010, nahm die Beauftragte für dieses Jubiläumsjahr beim Reformierten Bund ihre Arbeit auf. Bereits die Planungen profitierten vom Gesamtkontext der Reformationsdekade. Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), in deren Bereich der HEIDELBERGER in nahezu allen Gliedkirchen Bekenntnisrang genießt, übernahm koordinative Aufgaben – diese ›kirchenpolitische‹ Entscheidung war sachgemäß, da der HEIDELBERGER doch ganz überwiegend als ein binnenprotestantisch unpolemisches Werk gelten kann, zu dem sich nicht nur dezidiert Reformierte, sondern auch Protestanten, die sich nicht explizit als Lutheraner verstehen, ›be3

Vgl. Achim Detmers, Das Calvin-Jahr 2009 – Vorgeschichte, Ereignisse, Erfolge, Überraschungen, in: KJ 136 (2009), S. 141–174; Luther 2017 500 Jahre Reformation, Jahrbuch 2009: »Reformation und Bekenntnis«; Christoph Strohm, Medien, Themen und Ertrag des Calvin-Jubiläums 2009, in: Archiv für Reformationsgeschichte 102 (2011), S. 296–327; Johannes Hund, Erinnern und feiern. Das Calvin-Jubiläum im Kontext moderner Erinnerungskultur, in: Verkündigung und Forschung 57 (2012), S. 4–17; HansGeorg Ulrichs, Weltgestaltung. Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009, in: evangelische aspekte 20 (2010), S. 24–29 (Wiederabdruck in diesem Band, Anhang). 4 Das Periodikum der Reformationsdekade Luther 2017 500 Jahre Reformation, Jahrbuch 2013: »Reformation und Toleranz« konnte dann auch ohne einen einzigen Beitrag zum Heidelberger Katechismus das Jahr 2013 dokumentieren.

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kennen‹ können. Unter Federführung von OKR Dr. Martin Heimbucher5 aus dem Amt der UEK stimmten Akteure des HEIDELBERGERJahres Planungen und Terminierungen aufeinander ab. So gab es unter den zahlreichen beteiligten Institutionen und Organisationen wie etwa der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche), der Evangelischen Kirche in Heidelberg, der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, dem Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg, der Landesverwaltung Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, der EKD, der UEK und dem Reformierten Bund sowie dem internationalen Netzwerk refo500, bemerkenswert geringe Reibungsverluste. Damit ist auch ein gravierender Unterschied zum Jubiläum 1963 markiert, als die Kooperationen schwieriger und weniger ertragreich waren. Exkurs: HEIDELBERGER-Jubiläen 1863 bis 1963 Während von früheren HEIDELBERGER-Jubiläen bis 1813 nichts oder nur wenig in Erfahrung zu bringen ist,6 stellte das Jubiläum 1863 einen Meilenstein für die Reformierten dar.7 Bis in die Gegenwart sind manche historische Arbeiten und theologische Deutungen dieses Jubiläums und aus der Generation danach mit Respekt zur Kenntnis zu nehmen (Karl Sudhoff, Heinrich Heppe, Otto Thelemann). Auch wurden niederländische und nordamerikanische Forschungen in Deutschland verstärkt wahrgenommen. Neben den traditionell reformierten Gebieten und Städten wie Elberfeld fand auch in der badisch-unierten Kurpfalz und in Heidelberg das Jubiläum einige Beachtung (Carl Ullmann). Die Theologieprofessoren E.F. Karl Müller und August Lang hatten maßgebliche historische Arbeiten für das Calvin-Jahr 1909 vorgelegt und waren auch zum HEIDELBERGER-Jubiläum 1913 publizistisch engagiert.8 Ebenso beging man in den Zentren des reformierten Protestantismus 5

Martin Heimbucher wurde im Jubiläumsjahr 2013 zum Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche gewählt und in sein Amt eingeführt. 6 Vgl. Johann Christoph Koecher, Catechetische Geschichte der Reformirten Kirchen, in welcher sonderlich die Schicksale des Heidelbergischen Catechismi ausführlich erzehlet werden, aus bewährten Urkunden und Schriftstellern verfaßet und an das Licht gegeben, Jena 1756. 7 Vgl. Detlef Metz, Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus in Deutschland im Jahr 1863, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 108 (2012), S. 199–222. Zur Wirkungsgeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Hans-Georg Ulrichs, »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden.« Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert (Abdruck in diesem Band). 8 Zur Erforschung des HEIDELBERGERs im 20. Jahrhundert (und damit zur jeweiligen Rezeption) vgl. Paul W. Fields, Bibliography of Research on the Heidelberg Catechism since 1900, in: Lyle D. Bierma u.a. (Hg.), An Introduction to the Heidelberg Catechism. Sources, History and Theology, Grand Rapids 2005, S. 119–133.

1. Das Jubiläumsjahr 2013 als kirchliches Ereignis

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dieses Jubiläum, etwa in Barmen. Allerdings gab es wohl wegen des Ersten Weltkrieges kaum Nachwirkungen dieser Bemühungen. Das HEIDELBERGER-Jubiläum 1963 wurde zwar – auch in Deutschland, auch in Baden und in der Pfalz, auch in Heidelberg – international und groß gefeiert: Die zur kirchlichen und theologischen Macht gelangten Repräsentanten der Bekennenden Kirche, theologisch von Karl Barth geprägt, konnten ihre Position demonstrieren. Aber ähnlich wie 1913 verpufften wiederum die unmittelbaren Folgen der Feierlichkeiten, weil sich gesellschaftlich-politisch-geschichtlich andere Themen durchsetzten.9 Die Vermittlungsprobleme des katechetischen »Stoffes« wurden nicht zuletzt durch die »empirische Wende« in den Sozialwissenschaften evident. Mit und nach 1963 wurde deutlich, dass sich KatechismusPredigten und ein Unterricht, der sich unmittelbar normativ auf den Katechismustext bezog, aufs Ganze gesehen dem Ende näherten. Eine Katechismus-Ausgabe in jugendgerechter Sprache war immerhin eine Art Achtungserfolg.10 Insgesamt fand der HEIDELBERGER im Halbjahrhundert von 1913 bis 1963, nicht zuletzt in der Barthschen Lesart, eine gut wahrnehmbare Resonanz; umso geringer war die Wirksamkeit des HEIDELBERGERs dann im folgenden Halbjahrhundert bis 2013. Der HEIDELBERGER traf nur auf wenig Interesse, man zehrte lange von den quasi-kanonisierenden Publikationen von 1963.11 Nach 1963 wurde wissenschaftlich nur wenig zum HEIDELBERGER geleistet.12 An deutschen Hochschulen 9 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft. Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum, in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der 9. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 185– 211 (Wiederabdruck in diesem Band). 10 Der Heidelberger Katechismus. Für den Jugendunterricht in evangelischen Gemeinden vereinfachte Ausgabe, Neukirchen-Vluyn 1961 (121993). 11 Lothar Coenen (Hg.), Handbuch zum Heidelberger Katechismus, Neukirchen 1963; Walter Herrenbrück / Udo Smidt (Hg.), Warum wirst Du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, NeukirchenVluyn 1965. 12 Nach der Monographie von Wulf Metz (Necessitas satisfactionis? Eine systematische Studie zu den Fragen 12–18 des Heidelberger Katechismus und zur Theologie des Zacharias Ursinus, Zürich 1970) dauert es eine Generation, bis Thorsten Latzel (Theologische Grundzüge des Heidelberger Katechismus. Eine fundamentaltheologische Untersuchung seines Ansatzes zur Glaubenskommunikation, Marburg 2004) wieder ein grundlegendes Werk zum HEIDELBERGER vorlegte. Auslegungen von Eberhard Busch (Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998) und Alfred Rauhaus (Den Glauben verstehen anhand des Heidelberger Katechismus. Eine Einführung in die Gedankenwelt des Christentums, Wuppertal 2003) hatten eher in einem begrenzten konfessionellen Milieu Zuspruch gefunden.

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wurden kaum Vorlesungen über den HEIDELBERGER gehalten. Chancen zum theologischen Gespräch wurden nicht ergriffen: Als von römischkatholischer Seite Heinz Schütte 1979 versuchte, mit dem HEIDELBERGER ins Gespräch zu kommen, führte dies zu einer inhaltlich entschiedenen und intern auch harsch geäußerten Ablehnung seitens des Moderamens des Reformierten Bundes.13 Das schon numerisch wenig elegante 425jährige Jubiläum vor einem Vierteljahrhundert (1988) zeitigte eher den Beweis der nahezu völligen HEIDELBERGER-Vergessenheit.14 Die Frage lag offen zu Tage: Handelt es sich hierbei nicht um ein »überholtes Lehrbuch«?15 Es standen andere Themen auf der kirchlichen und konfessionellen Agenda und mit dem Herbst 1989 dann auch ungeahnte politische Themen. Und wenn es um die Themen »Bekenntnis« und »Bekennen« ging, war ganz überwiegend von BARMEN die Rede, das 1984 – nicht zuletzt in theopolitischen Zusammenhängen – gefeiert wurde und ohnehin das theologische Denken stärker und aktueller prägte, als ein spätreformatorischer Text es vermochte. Es ist unschwer festzustellen, dass der HEIDELBERGER im kirchlichen Unterricht seit dem Jubiläum 1963 zunehmend weniger Berücksichtigung finden konnte. Auch der liturgische und homiletische Gebrauch ist aufs Ganze gesehen eher verschwindend gering; sogar in der reformierten Freikirche sind immer weniger Katechismuspredigten zu hören. Im letzten Quartal des 20. Jahrhundert ist so weniger theologisch-inhaltliche oder religionspädagogisch-methodische Kritik als vielmehr zunehmende Unkenntnis des HEIDELBERGERS zum Problem geworden. Die 1997 vorgenommene Textrevision wurde zunächst allgemein begrüßt, in der Vorbereitung des Jubiläumsjahres 2013 allerdings auch gelegentlich als nicht texttreu genug kritisiert.16 13 Heinz Schütte, Der Heidelberger Katechismus. Ein Bezugspunkt des Mühens um Katholisch-Reformierte Einheit, in: KNA – Ökumenische Information, Nr. 42–48/79. Schüttes Aufsatz und die Stellungnahme des Moderamens in epd-Dokumentation 10/1981. – Die Verdammung der römisch-katholischen Messfeier in Frage 80 wurde in Erklärungen des Moderamens des Reformierten Bundes, die den Textausgaben beigedruckt wurden, in den Jahren 1977 und 1994 historisch relativiert. Vorbereitet wurde dies durch Ulrich Beyer, Abendmahl und Messe. Sinn und Recht der 80. Frage des Heidelberger Katechismus (BGLRK XIX), Neukirchen-Vluyn 1965. 14 Eine Ausnahme: Michael Welker, Freiheit und Halt im christlichen Glauben. 425 Jahre Heidelberger Katechismus als Bekenntnisschrift, in: RKZ 130 (1989), S. 156–160. Wissenschaftlich meldete sich zu Wort J.F. Gerhard Goeters, Caspar Olevianus als Theologe, in: MEKGR 37/38 (1988/1989), S. 287–344. Immerhin wagte Rudolf Bohren in diesen Jahren, den HEIDELBERGER als seelsorglichen Text fruchtbar zu machen: ders., In der Tiefe der Zisterne. Erfahrungen mit der Schwermut, München 1990. 15 Walter Herrenbrück (jun.), Der Heidelberger Katechismus – überholtes Lehrbuch oder Wegweiser für die Gemeinden, in: RKZ 124 (1983), S. 42–46. 16 Die Originalfassung wurde zum Jubiläumsjahr zur Verfügung gestellt in Matthias Freudenberg / Aleida Siller (Hg.), Was ist dein einiger Trost? Der Heidelberger Katechismus in der Urfassung, Neukirchen-Vluyn 2012. Die derzeit gängigen Textausgaben sind: Der

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1.2 Kirchliche Öffentlichkeit Da das Datum des kurfürstlichen Vorworts (19. Januar 1563) als Publikationstermin des HEIDELBERGERs gilt, lag der »eigentliche« Gedenktag zu Jahresbeginn 2013. Deshalb wurden zahlreiche Veranstaltungen bereits im Spätjahr 2012 angeboten, und das Gros an Literatur erschien ebenfalls vor dem Jubiläumsjahr. Für die Vorbereitung erwies sich das im März 2011 freigeschaltete Internet-Angebot des Reformierten Bundes www.heidelberger-katechismus.net als besonders erfolgreich. Es informierte in zahlreichen Rubriken über Geschichte(n) und Inhalt(e) des Katechismus und bot für alle kirchlichen Praxisfelder best-practice-Beispiele.17 Die Eröffnung des Themenjahres und die offizielle Präsentation der Wanderausstellung »450 Jahre Heidelberger Katechismus – Entstehung, Inhalt, Wirkung« fanden anlässlich der UEK-Vollkonferenz unmittelbar vor der EKD-Synode am 1. November 2012 am Timmendorfer Strand statt. Die Beauftragte des Reformierten Bundes, Aleida Siller, der auch die Konzeption, Koordination und Realisierung der Tafeln mit ihren Texten und Bildern oblag, präsentierte die 12 roll-ups, die danach in 13 Exemplaren in etwa 200 Gemeinden und Institutionen ›wanderte‹ und als ein wichtiger Baustein der kirchlichen Bemühungen um das Jubiläumsjahr gelten kann, da an zahlreichen Orten – natürlich auch öffentlichkeitswirksam – Veranstaltungs- und Gottesdienstreihen während der Ausstellungsdauer und darüber hinaus angeboten wurden.18 Der Generalsekretär des Reformierten Bundes schrieb dazu: »Der HEIDELBERGER schien in den letzten Jahren der Vergessenheit anheimgestellt zu sein. Als Unterrichtsbuch hatte er schon lange ausgedient. Und als theologische Grundschrift der Reformation war er in seiner Heidelberger Katechismus, herausgegeben von der Evangelisch-reformierten Kirche, von der Lippischen Landeskirche und vom Reformierten Bund, revidierte Ausgabe 1997, Neukirchen-Vluyn, 5., überarbeitete Auflage 2012; Reformierte Bekenntnisschriften 2/2 (1562–1569), Neukirchen-Vluyn 2009, Nr. 59: Einleitung von Wilhelm H. Neuser (a.a.O., S. 167–173), Vorrede (S. 174f.), Text (S. 175–212); Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005: Einleitung (a.a.O., S. 151–153), Text (S. 154–186); Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere theologische Erklärungen, Teilband 2, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union, Bielefeld 1997: Einleitung von J.F. Gerhard Goeters (a.a.O., S. 135–137), Text (S. 139–177). 17 Die Seite verzeichnete im Frühjahr 2013 Spitzenwerte von über 600 Zugriffen pro Tag. Sie wurde bis über das Gedenkjahr hinaus gepflegt und steht auch aktuell (2017) zur Verfügung. Ein Internet-Angebot des Religionspädagogischen Instituts der Evangelischen Landeskirche in Baden www.heidelberger-katechismus.de richtete sich an junge user. 18 Das gleichnamige Begleitheft, das die Tafeln der Ausstellung enthält, erreichte eine Gesamtauflage von 8.000 Exemplaren. Ab dem Sommer 2013 stand die Ausstellung auch als Plakatserie zur Verfügung. Es entstanden auch eine englische und eine – ergänzte – französische Fassung.

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Akzentuierung vielen nicht mehr bekannt. Er lebte allerdings auch in der Erinnerung vieler, die mit ihm groß und alt geworden sind. Vor allem die Frage 1 nach dem Trost im Leben und im Sterben und ihre Beantwortung war und ist für viele Menschen nicht nur in reformierten Gemeinden wichtig geblieben. Die Ausstellung zeigt nun darüber hinaus den HEIDELBERGER als einen Text, der wichtige Grundentscheidungen der Reformation in einer eigenen Systematik akzentuiert. Geradezu klassisch ist sein dreiteiliger Aufbau mit den Schwerpunkten Elend – Erlösung – Dankbarkeit und dem Vorspruch der Zugehörigkeit zu Christus; nicht weniger klassisch ist die damit vorliegende Ethik der Dankbarkeit, die die 10 Gebote als Lebensordnung der versammelten Gemeinde versteht; und in ihrer Dynamik immer wieder neu zu entdecken ist die gabenorientierte Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen, wie sie die Fragen 54 und 55 formulieren.«19 Aufmerksamkeit für das Jubiläumsjahr riefen verteilte und verkaufte Werbemittel wie magentafarbene Taschen mit Flyern, Schreibern, Papierblöcken, CDs mit dem gelesenen HEIDELBERGER-Text, Plakate und Postkarten hervor. Durch Multiplikatoren wurde die zum oder im Jubiläumsjahr erschienene Literatur für die kirchliche Praxis wirksam. Bei mehr als zwei Dutzend neuer Titel können hier nur einige Titel repräsentativ und nach Wichtigkeit genannt werden. Die wissenschaftliche Literatur wird weiter unten vorgestellt. Zunächst sind zwei Handbücher zu nennen, die langfristig wohl die beiden Werke des Jubiläums 1963 (vgl. Anm. 11) ablösen werden. Im Zusammenhang mit der unter Federführung der UEK stehenden Kooperation entstanden die Zugänge zum Heidelberger Katechismus.20 Hier wird das »gemeinsame[.] Erbe der reformatorischen Kirchen« betont: »Sollte nun, 450 Jahre nach seiner Entstehung, endlich der weithin konfessionsverbindende Tenor dieses Katechismus angemessen wahrgenommen werden?«21 Neben einigen persönlichen Erinnerungen und historischen Zugängen bilden die zahlreichen theologischen und praktischen Beiträge den Hauptteil dieses Werkes, das wegen der konsequenten Kürze der Beiträge tatsächlich ein praxistaugliches Handbuch geworden ist. Nur wenige die Praxis reflektierende, dafür umso mehr his19

So Jörg Schmidt, bis 2014 Generalsekretär des Reformierten Bundes, im Vorwort des genannten Begleitheftes. Das Heft schließt mit einem Beitrag, der das Themenjahr der Reformationsdekade aufnimmt: Jörg Schmidt, Ein »tolerantes« Bekenntnis? Einige Hinweise zu »Toleranz« des Heidelberger Katechismus, zugleich eine perspektivische Einführung in die Ausstellung. 20 Martin Heimbucher / Christoph Schneider-Harpprecht / Aleida Siller (Hg.), Zugänge zum Heidelberger Katechismus. Geschichte – Themen – Unterricht. Ein Handbuch für die Praxis mit Unterrichtsentwürfen auf CD-ROM, Neukirchen-Vluyn 2012. 21 So im Geleitwort des Vorsitzenden des Präsidiums der UEK, Landesbischof Dr. Ulrich Fischer, und des Moderators des Reformierten Bundes, Dr. h.c. Peter Bukowski, a.a.O., S. 15.

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torische und theologische Beiträge enthält das zunächst auf niederländisch vorgelegte, aber von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt verfasste Handboek Heidelbergse Catechismus.22 Anders als in den insgesamt unpolemischen und konsensorientierten Zugängen bilden die einzelnen Abschnitte des Handboek die Vielfalt und die Diversifikation des globalen Umgangs mit dem Katechismus ab: historisch-kritisch, autoritativnormgebend, aktualisierend, bewahrend oder auch konservativ sowie liberal. Beide Bücher, die sich vor allem an theologische und pädagogische Multiplikatoren wenden, bemühen sich jedoch um eine aktuelle Beschreibung der Forschungen zum HEIDELBERGER und bieten deshalb zuverlässige Informationen, weniger dagegen provokante neue Thesen. Auf eine weite Leserschaft zielen sodann einige populäre Bücher, von denen zwei besondere Aufmerksamkeit verdienen. Das auflagenstärkste Buch ist eine Art »Laiendogmatik« bzw. »ein modernes Glaubensbuch für Erwachsene« von Georg Plasger, der im Gespräch mit dem HEIDELBERGER keinen Kommentar bieten will, sondern Teile des Katechismustextes aufnimmt und thematisch neu zusammenstellt, um so aktuellen, »für jeden Christen und jede Christin grundlegenden Fragen und Themen« nachzugehen.23 Bemerkenswert ist Margit Ernst-Habibs Introduction to the Heidelberg Catechism24 für den nordamerikanischen, dann aber auch für den ganzen englischsprachigen Raum schon deshalb, weil sie eigentlich seit Karl Barth die erste Kommentatorin des HEIDELBERGERs aus dem deutschsprachigen Raum ist, die außerhalb des eigenen Sprachraumes wahrgenommen wird. Das Buch versucht eine Einleitung in den Gebrauch (Kap. 1: Learning By Heart), den historischen und theologischen Hintergrund (Kap. 2: Disputes, Doctrines, and Decisions), und die Theologie des HEIDELBERGERs (Kap. 3: The State we are in: The Theological Composition of the HC, its triple Knowledge and the Human Condition) zu geben. Daran schließt sich ein kurz gefasster Kommentar an, orientiert an den 52 Sonntagen, auf die der Katechismustext bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts zu Predigtzwecken eingeteilt war. Das avisierte Publikum sind interessierte Gemeindeglieder (Sunday School, Presbyter u.a.), aber auch Studierende und Pfarrer/innen, die einen Einstieg in und einen Überblick über den HEIDELBERGER suchen. Gleichzeitig soll das Büchlein dazu beitragen, den Katechismus nicht allein vorzustellen, sondern die Lesenden zu befähigen 22 Arnold Huijgen / John V. Fesko / Aleida Siller (Hg.), Handboek Heidelbergse Catechismus, Utrecht 2013. Die deutsche Ausgabe erschien u.d.T. Handbuch Heidelberger Katechismus, Gütersloh 2014; eine englische Ausgabe ist geplant. 23 Georg Plasger, Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012. – Ein ähnliches Anliegen verfolgt der schmalere Band von Okko Herlyn, Was nützt es dir? Kleine Einführung in den Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 2013. 24 Margit Ernst-Habib, But Why Are You Called a Christian? An Introduction to the Heidelberg Catechism, Göttingen/Bristol (USA) 2013.

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und zu ermutigen, sich in eine kritische Konversation mit ihm zu begeben, um selber auf die Frage »Warum aber wirst Du ein Christ genannt?« (Frage 32) antworten zu können. Auch soll die »interdenominational« aufzufassende Relevanz für die reformierten Kirchen nicht allein in den USA, sondern weltweit betont werden: der HEIDELBERGER sozusagen als »reformiertes Symbol«. Ein amerikanischer Rezensent (Jim West) urteilte euphorisch, man könne hier »the best commentary on the Catechism since Karl Barth’s«25 lesen, oder doch etwas bescheidener, dass unter den »countless studies, celebratory volumes, and articles [of this anniversary] [t]he present contribution [sc. written by Ernst-Habib] is one of the best of the crop.« Schließlich seien aus dem Bereich der Literatur für Multiplikatoren noch religionspädagogische Materialien26 sowie Gottesdienstentwürfe27 genannt. Katechismus-Predigten28 waren zwar in den zurückliegenden Jahrzehnten immer weiter vernachlässigt worden, fanden dann aber vor und während des Jubiläumsjahres an zahlreichen Orten statt, gerade auch im Rahmen von Festgottesdiensten. Fraglich ist allerdings, ob es dadurch zu einer Wiederaufnahme des Katechismus als Lehrbuch für den kirchlichen und schulischen Unterricht und zu einer neuen Wertschätzung als Quelle für Liturgie und Predigt gekommen ist. 1.3 Kirchliche Veranstaltungen Es fanden auch kreative künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Katechismus statt, hatten jedoch nur begrenzte Auswirkungen. Dies gilt etwa für ein Projekt der Hochschule für Musik, Theater, Medien in Hannover, wo bereits im Frühjahr 2011 eine Sprech- und Klang-Collage »Ich denke – ich glaube« erarbeitet und aufgeführt wurde sowie für das letzte große Werk, das der zeitgenössische Komponist Dietrich Lohff (1941–2016) erarbeitete und das am 19. und 20. Januar 2013 in Mannheim und Heidelberg uraufgeführt worden ist: Das Spiel von der Schnur Christi. Ein historisches Spektakel um den Heidelberger Katechismus (Libret25

Gemeint ist Karl Barth, Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, Vorlesung gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947, Zollikon-Zürich 1948. 26 Uwe Hauser, Ganz bei Trost. Eine Besichtigung des Heidelberger Katechismus. Zweite, überarbeitete Auflage, Karlsruhe 2012. 27 Evangelische Landeskirche in Baden (Hg.), 450 Jahre Heidelberger Katechismus. Von des Menschen Elend – Erlösung – Dankbarkeit. Materialheft für Predigten und Gottesdienste zum Jubiläumsjahr 2013, Karlsruhe 2013. 28 Eine dreißigjährige Predigtpraxis mit dem HEIDELBERGER dokumentiert: Arend Klompmaker, Predigten zum Heidelberger Katechismus, Bad Bentheim 2012. Vgl. im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr Helmut Schwier / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Nötig zu wissen. Predigten zum Heidelberger Katechismus (Impulse aus der Heidelberger Universitätskirche Bd. 3), Heidelberg 2012, sowie diverse Angebote im Internet.

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to: Peter Schütze). Dagegen fand der Spiritual I am with body and soul des Karlsruher Kantors Johannes Blomenkamp durch YouTube und soziale Netzwerke durchaus weltweite Verbreitung. Natürlich nutzten zahlreiche kirchliche, aber auch säkulare Medien den Anlass für Beiträge oder Berichterstattungen über den HEIDELBERGER und über Veranstaltungen anlässlich des Jubiläums. Nicht nur in historisch oder aktuell reformiert geprägten Gebieten gab es Veranstaltungen; auch und gerade in Baden und in Heidelberg beschäftigten sich zahllose Gemeinden und kirchliche Einrichtungen und Gruppen mit diesem wieder neu zu erwerbenden Erbe.29 Aber vor der gesamten Öffentlichkeit und den protestantischen Zusammenhängen war es doch vor allem die traditionelle Trägergruppe des HEIDELBERGERs, die den Katechismus thematisierte und mit ihren Aktivitäten Identitätsangebote schaffen wollte, nicht nur aus konfessionspolitischen Gründen für die eigene Klientel, sondern auch zur Verlebendigung der protestantischen Pluralität. Neben den Aktivitäten der Beauftragten sowie den durch die Wanderausstellung bewirkten basisnahen Veranstaltungen war es nicht zuletzt die Hauptversammlung des Reformierten Bundes, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte in Heidelberg stattfand (6.–8. Juni 2013), die diesen theologischen Text der eigenen Tradition öffentlich thematisierte. In seinem Hauptvortrag zog der Münsteraner Theologieprofessor Michael Beintker folgendes Fazit: »Wenn man nach charakteristischen Grundworten für das besondere Profil dieses Katechismus fragt, müssen zuerst die Worte Trost und Gewissheit genannt werden. Der Gotteszweifel – Kennzeichen unserer anfechtungsvollen Ungewissheit und Trostbedürftigkeit – soll durch den Trost und die Gewissheit, von Gott geliebt zu sein, überwunden werden … Von daher wäre es ein verhängnisvoller Rückschritt hinter die Gewissheitstheologie des Heidelberger Katechismus, wenn wir Gottesgewissheit und Heilsgewissheit wieder voneinander trennen würden, weil wir unter dem Eindruck stehen, dass sich die Frage nach dem gnädigen Gott inzwischen auf die Frage nach Gott überhaupt verlagert habe – auf den Gott, der nunmehr gegen die Anfechtungen durch das Böse einerseits und gegen den Eindruck seiner Überflüssigkeit andererseits verteidigt werden muss. Darin ist der Heidelberger Katechismus nämlich ganz modern, dass er von der Frage nach dem einzigen Trost im Leben und 29 In Baden – und auch darüber hinaus – war es der Heidelberger Kirchenhistoriker Johannes Ehmann, der im Bereich von Kirche und Wissenschaft den HEIDELBERGER durch Vorträge, Aufsätze und Bücher ins Bewusstsein brachte. Hingewiesen sei hier auf die umfangreiche Monographie Johannes Ehmann, Die badischen Unionskatechismen. Vorgeschichte und Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen zur badischen Kirchen- und Religionsgeschichte 3), Stuttgart 2013, sowie seine aktualisierende Deutung: ders., Sprachschule der Freiheit. Gedanken zur Aktualität des Heidelberger Katechismus, in: DtPfBl 113 (2013), S. 135–138.

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im Sterben ausgeht. Diese Frage ist so etwas wie die Brücke zwischen dem Problemhorizont des Katechismus und dem Problemhorizont der Gegenwart. Theologie und Kirche werden daran erinnert, dass ein Trost nur für das Leben nicht reicht. Der Testfall für die Belastbarkeit jedes Trostes ist der Tod … Nur das verdient es, als Trost ernstgenommen zu werden, was stärker ist als der Tod und den Menschen auch noch im Sterben zu trösten vermag. Und was ihn im Sterben tröstet, das wird ihn erst recht im Leben trösten. Das Ziel des Heidelberger Katechismus ist der angstfreie Glaube – die Befreiung des Christenmenschen aus der ihn quälenden Unsicherheit, dass er trotz seines Glaubens ein Kind der Gottesfinsternis und des Nichts sein könnte. Im Blick auf die heutige Situation in Theologie und Kirche formuliert: Das Ziel ist die Befreiung aus der uns immer wieder überfallenden Anfechtung, das Evangelium habe seine Kraft als Trost verloren und die Tage der christlichen Kirche in Europa seien gezählt. Es ist die Befreiung aus dem Zwang zur Banalität und Selbstbanalisierung. Es ist die Befreiung zur Wiederentdeckung der Kraft des Evangeliums, dessen sich niemand zu schämen braucht (vgl. Röm 1,16), weil er in ihm schon jetzt ›den Anfang der ewigen Freude‹ in seinem Herzen spürt (HK 58).«30 Der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen erinnerte sich im Festvortrag der Hauptversammlung an seine niederrheinisch-reformierte Heimat und charakterisierte den HEIDELBERGER trotz seiner oft als negativ, von Theißen allerdings als realistisch bezeichneten Anthropologie als »kein trauriges Buch. Im Gegenteil. Er handelt nur kurz von des Menschen Elend, ausführlich von seiner Erlösung, am längsten aber von seiner Dankbarkeit. Es ist ein Buch mit dem Optimismus, dass Menschen, die unwiderstehlich zum Bösen neigen [sc. Fragen 5 und 8], dennoch Gutes tun können … Der Heidelberger Katechismus betont: Alle Menschen, wie hoch und niedrig sie auch sein mögen, sind dazu bestimmt, Gottes Willen zu tun. Er versteht die Bitte des Vaterunsers ›Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden‹ nämlich so, ›dass jedermann sein Amt und Beruf (sc. auf Erden) so willig und treulich ausrichte wie die Engel im Himmel‹ (Frage 124). Was eine Putzfrau, ein Hilfsarbeiter oder ein Pförtner tut, ist nicht weniger wichtig als das, was der höchste Engel im Himmel tut. Die Presbyter in meiner Heimatgemeinde waren einfache Menschen, aber sie gingen durchs Leben wie kleine Könige: wie Erwählte. Um dieses Selbstbewusstsein klar zu machen, erinnere ich daran, warum der Heidelberger Katechismus die Zehn Gebote im dritten Teil von der 30 Michael Beintker, Eigentum Christi werden. Der Heidelberger Katechismus als Trostbuch im Gotteszweifel, in: epd Dokumentation Nr. 29/2013: Hauptversammlung des Reformierten Bundes, S. 13–19, hier: S. 18f.

1. Das Jubiläumsjahr 2013 als kirchliches Ereignis

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Dankbarkeit behandelt. Bei den Lutheranern dienen die Gebote als Sündenspiegel. Sie hängen die Zehn Gebote als ihren Spiegel in den Flur. Da soll man erkennen, dass man nicht so ist comme il faut. Man soll sehen, dass man ein hässlicher Sünder ist. Aber wenn man ins Wohnzimmer kommt, soll kein Gebot mehr Angst machen, man könne es übertreten. Da soll man sich wohlfühlen. Im Wohnzimmer soll nur Liebe herrschen – und die herrscht bekanntlich nicht. Reformierte hängen sich dagegen die Zehn Gebote ins Wohnzimmer – als Meisterbrief, der sagt: Seht, zu all dem hat Gott uns befähigt. Wir sollen das Gute tun – und wenn wir noch so sehr zum Bösen neigen, auch wenn wir eine ganz bescheidene Rolle in diesem Leben spielen … Der Heidelberger Katechismus war im Rahmen seiner Zeit ein Plädoyer für eine menschliche Religion.«31 Unzählige kirchliche Organisationen, auch solche, die nicht direkt zum reformierten Traditionsstrom zu zählen sind, vom Gustav-AdolfWerk bis hin zu den Michaelsbrüdern, nahmen das Jubiläumsjahr zum Anlass, sich mit dem HEIDELBERGER zu beschäftigen. Dabei wurden Aktualisierungen versucht, wie sie auch aus anderen Ländern bekannt geworden sind. Um nur drei Beispiele zu nennen: In Heidelberg selbst wurde versucht herauszufinden, was die Menschen dort im Jubiläumsjahr tatsächlich glauben. Aus den Antworten auf eine öffentliche Befragung entstand das Büchlein Heidelberger g/Glauben.32 Der Pfarrkonvent des Evangelischen Dekanats Vorderer Odenwald verfasste nach einer gemeinsamen Fortbildung zum HEIDELBERGER eine eigene Einführung in den christlichen Glauben.33 Und schließlich startete die Evangelische Landeskirche in Baden die Internetplattform www.glauben2017.de, auf der aktuell Fragen zum Glauben gestellt und beantwortet werden können. Nach zahlreichen Aktivitäten, von denen mehrere Fernsehgottesdienste, einer gestaltet von Heidelberger Konfirmand/inn/en, ein weites Publikum hatte erreichen können, stand am Ende des Jubiläumsjahres der Festgottesdienst zum Reformationstag in der Heidelberger Heiliggeistkirche, wo bereits kurz vorher die Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017, Margot Käßmann, gepredigt hatte. Am 31. Oktober wurde die Luthermedaille der EKD dem früheren polnischen Außenminister Jerzy Busek verliehen, die Laudatio hielt Bundesministerin Ursula von der Leyen. 31

Gerd Theißen, Der Heidelberger Katechismus. Erinnerungen und Einsichten, in: a.a.O., S. 30–34, hier: S. 31f. – Von Gerd Theißen stammt auch der wohl literarisch originellste Beitrag des Jubiläumsjahres: ders., Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012. Dieses Buch, das dem Andenken des Zacharias Ursinus gewidmet ist, erfuhr bereits 2013 die dritte, ergänzte Auflage. 32 Michael Welker / Marlene Schwöbel-Hug / Ulrich Löffler (Hg.), Heidelberger g/Glauben. 450 Jahre nach Erscheinen des Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 2012. 33 De Ourewäller Katechismus. Der Odenwälder Katechismus. Eine regional-gefärbte Einführung in den christlichen Glauben, Groß-Umstadt 2014.

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2. Der Heidelberger als wissenschaftliches Thema Das Jubiläum des Heidelberger Katechismus motivierte auch die wissenschaftliche Theologie zu erneuerten Bemühungen um diesen protestantischen Grundlagentext. Dabei kam es immer wieder auch zu Überschneidungen und zu Kooperationen mit den bereits genannten kirchlichen Aktivitäten. 2.1 Tagungen Die früheste wissenschaftliche Tagung fand bereits vom 3. bis 5. Mai 2011 in Emden statt und lieferte Beiträge zum Katalog der internationalen Ausstellung im Sommer 2013: Macht des Glaubens – 450 Jahre Heidelberger Katechismus34 ist das Begleitbuch zur gleichnamigen DoppelAusstellung in Heidelberg sowie zur Ausstellung Oranien und Religion in Apeldoorn. An diesem internationalen Ausstellungsprojekt beteiligten sich das Paleis Het Loo Nationaal Museum in Apeldoorn, die Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, das Kurpfälzische Museum der Stadt Heidelberg, die Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden sowie die internationale Plattform Refo500. Der gleichzeitig deutsch, englisch und niederländisch erschienene, über 450 großformatige Seiten starke Band enthält zur einen Hälfte die wissenschaftlichen Beiträge der Tagung in Emden, zur anderen die Dokumentation der Ausstellungen in Heidelberg und Apeldoorn. Unter den entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Beiträgen, die größtenteils von den jeweils bekannten Experten verfasst sind, sind wohl zwei Beiträge hervorzuheben, die jeweils einen Aspekt neu und verstärkt benennen. Wie in seinen Beiträgen in den noch zu nennenden Sammelbänden zeigt der Zürcher Reformationshistoriker Peter Opitz sowohl biographisch an den reformatorischen Netzwerken als auch theologisch an den Texten auf, wie stark der HEIDELBERGER mit der Schweizer Reformation, besonders mit Zürich und mit Heinrich Bullinger verbunden ist. »Nicht zuletzt wegen seiner irenischen Haltung wurde Bullinger von Ursin, der ebenfalls theologische Streitigkeiten verabscheute, aber auch von anderen Persönlichkeiten in Heidelberg hoch geschätzt. Die eindrückliche Wirkungsgeschichte des Heidelberger Katechismus hat zweifelsohne auch damit zu tun, dass etwas von diesem Geist in ihn eingeflossen ist. Diese Wirkungsgeschichte ist gerade auch in der Schweiz sehr groß.«35 34

Karla Apperloo-Boersma / Herman Selderhuis (Hg.), Macht des Glaubens – 450 Jahre Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012. 35 Peter Opitz, Der Heidelberger Katechismus, Schweizer Wurzeln, Schweizer Verbreitung, in: a.a.O., S. 63–71, hier: S. 70f.

2. Der Heidelberger als wissenschaftliches Thema

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Christoph Strohm, Kirchenhistoriker in Heidelberg und ausgewiesener Kenner des frühneuzeitlichen Calvinismus, geht den historischen, politischen und dynastischen Konstellationen nach, die »die Kurpfalz als Bastion des Calvinismus im Reich« und damit auch den HEIDELBERGER in die westeuropäischen Verhältnisse einzeichnen, wobei es dem Katechismus »in einer Situation, … in der angesichts der denkbar unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der verschiedenen Gruppen die zentrifugalen Kräfte überhand zu nehmen drohten, gelang …, eine Mischung aus Kompromiss und Profilierung zu formulieren.«36 »Der reformierte Protestantismus reichte in der zweiten Hälfte des 16. J[ahr]h[underts] von konsequenten Zwinglianern bis hin zu den Nachfolgern Melanchthons oder den Oberdeutschen, die im Sinne Martin Bucers und der Wittenberger Konkordie von 1536 die Einheit mit der Wittenberger Reformation zu wahren suchten. Es fanden sich sowohl Anhänger eines Staatskirchentums, die später sog[enannten] Erastianer, die Kirchen- und Sittenzucht als Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit ansahen, als auch Vertreter einer strengen konsistorial oder presbyterianisch organisierten Kirchenzucht. Noch gravierender verschieden waren die Erfahrungshorizonte derjenigen, die im Zusammenwirken mit der Obrigkeit eine moderate Reformation eines ganzen Territoriums zu unternehmen suchten, und den Mitgliedern der Flüchtlingsgemeinden. Diese übten nicht nur die Muster einer Freiwilligkeits- und Bekenntniskirche ein, sondern brachten Erfahrungen brutaler Verfolgung durch den römischen Katholizismus bzw. durch römisch-katholische Obrigkeiten mit. In der Kurpfalz sammelten sich die unterschiedlichen Gruppen, und es gelang den verschiedenen Akteuren – insbesondere Friedrich III. – die Situation produktiv zu gestalten. Insofern wurde die Kurpfalz zu einer Art Laboratorium, in dem die unterschiedlichen Richtungen zusammenzuwirken hatten und das bei allen Spannungen auch bewältigt haben. Der Heidelberger Katechismus ist das herausragende Dokument der kurpfälzischen Kompromisstheologie, konnte aber doch genügend Profil bewahren, um richtunggebend zu wirken.«37 Strohm sieht in dieser Charakterisierung des Katechismus, der dann maßgeblich von seinem Hauptverfasser Zacharias Ursin in einem Lehrbuch interpretiert wurde, den Grund dafür, dass dieser weltweit »in den unterschiedlichen Richtungen des reformierten Protestantismus in hohem Maße konsensfähig« war, bei Melanchthon-Schülern wie bei späteren Orthodoxen, in Dordrecht wie bei den reformierten Foederaltheologen, bei Puritanern und Pietisten u.a. Außerdem kam diesem rationalen Text und seiner erfolgreichen Ausle-

36 Christoph Strohm, Der Heidelberger Katechismus im Kontext des Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts, in: a.a.O., S. 97–105, hier: S. 98.100. 37 A.a.O., S. 100.

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gung und Wirkung ein Methodenstreit in der Frühmoderne zustatten, nämlich der zwischen Aristotelismus und Ramismus.38 Die Ausstellung Macht des Glaubens wurde nach einem großen Festakt der EKD und der beteiligten Institutionen am 11. Mai 2013 eröffnet39 und verzeichnete bis zum 15. September in Heidelberg rund 20.000 Besucher, womit sich die Ausstellungsmacher sehr zufrieden zeigten. Unmittelbar vor Ausstellungseröffnung hatte vom 9. bis 11. Mai 2013 eine weitere international besetzte Tagung im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattgefunden, deren Ergebnisse 2015 publiziert wurden.40 Veranstaltet vom Lehrstuhl für Historische Theologie (Reformationsgeschichte) an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte beabsichtigte das Symposium erstens, den Forschungsstand zur Entstehung und Theologie des Heidelberger Katechismus zu definieren. Zweitens sollte das besondere theologische Profil des Heidelberger Reformiertentums im Kontext der neueren Konfessionalisierungsforschung erörtert werden: Gibt es eine »deutsch-reformierte Theologie« und was sind deren Signaturen? Und drittens sollte die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Heidelberger Katechismus, insbesondere in den ersten Jahrhunderten, erarbeitet werden. Hierbei sollte es zum einen um die Gründe für die umfassende Rezeption und zum anderen um deren spezifischen Gehalt gehen. Das historiographische Paradigma der »Konfessionalisierung«, das beim letzten Jubiläumsjahr 1963 noch nicht vorlag, hatte zuvor auch schon der Olevian-Biograph Andreas Mühling für die Diskussion um den HEIDELBERGER fruchtbar gemacht.41 Drei weitere Tagungen brachten zahlreiche Details – teils: erneut – ans Licht. Eine weit über die Erwartungen von Teilnehmern nachgefragte Tagung der kirchengeschichtlichen Vereine in der Pfalz und in Baden 38

A.a.O., S. 103. – Vgl. Christoph Strohm, Der Heidelberger Katechismus und Westeuropa, in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 27–39. 39 Die Festreden hielten der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Winfried Kretschmann, der Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider und der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Baden Ulrich Fischer. 40 Christoph Strohm / Jan Stievermann (Hg.), Profil und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Neue Forschungsbeiträge anlässlich des 450jährigen Jubiläums. The Heidelberg Catechism: Origins, Characteristics, and Influences: Essays in Reappraisal on the Occasion of its 450th Anniversary (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte), Gütersloh 2015. 41 Andreas Mühling, Der Heidelberger Katechismus im 16. Jahrhundert. Entstehung, Zielsetzung, Rezeption, in: MEKGR 58 (2009), S. 1–11 (dort wird auch die Bedeutung Bullingers für die Kurpfalz, für Friedrich III. und für Ursin betont); vgl. auch ders., Anmerkungen zur reformierten Katechismusbildung, in: epd-Dokumentation 39/2012, S. 37–41.

2. Der Heidelberger als wissenschaftliches Thema

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vom 18. bis 19. Januar 2013 in Landau erhellte unter der Überschrift »Erfolgsgeschichte und Bedeutung eines Klassikers der Christentumsgeschichte« – neben der Kontextualisierung in die kurpfälzische Geschichte (Johannes Ehmann) und einer theologischen Charakterisierung (Eberhard Busch) – vor allem ein interessantes Detail der Entstehungsgeschichte, indem nämlich die Heidelberger Disputation von 1560 neu erarbeitet wurde; darüber hinaus wurde dort ein umfassender Überblick der Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart geboten.42 Hochinteressantes boten desweiteren die detailreichen Vorträge einer Tagung des Arbeitskreises deutsche Landeskirchengeschichte, die vom 20. bis 22. September 2013 in Heidelberg stattfand, wurde doch deutlich, dass der HEIDELBERGER weit über die klassisch reformierten Regionen in Deutschland auch unierte und lutherische Kirchen-Gebiete beeinflusst, geprägt oder mindestens bereichert hat.43 Die Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. nahm mit ihrer 9. Internationalen Emder Tagung vom 17. bis 19. März 2013 »bewusst … die internationale Dimension dieses Bekenntnistextes in den Blick«.44 Neben den wirkungsgeschichtlichen Beiträgen waren es zwei theologische Beiträge, die für besonderes Aufmerken sorgten. Hinsichtlich der gegenwärtig und zukünftig zu führenden Gespräche mit den stark wachsenden pentekostalen Strömungen war vielleicht der Vortrag des Amsterdamer Dogmatikers Gijsbert van den Brink über die Pneumatologie am innovativsten, nachdem Marco Hofheinz bereits der durch Hans-Joachim Kraus aufgeworfenen Frage nachgegangen war, ob die Christologie des HEIDELBERGERs als »Geistchristologie« zu verstehen sei; Hofheinz wies Kraus’ durch den jüdisch-christlichen Dialog motivierte Deutung, Christus sei »nicht Gott …, sondern lediglich ein besonderer, geistbegabter Mensch«, als soteriologisch »entschieden zu wenig« und als etwas »theologisch Unzutreffendes und Unhaltbares« zurück. »[D]er Heidelberger Katechismus [bleibt] nicht bei der Behauptung der menschlichen Natur Jesu stehen, sondern betont zugleich die Gottheit Christi.«45 42

Daniel Kunz, Die Heidelberger Disputation von 1560. Zur Vorgeschichte des Heidelberger Katechismus, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 7 (2013), S. 111–127; Hans-Georg Ulrichs, Mit freiem Gewissen glauben und leben. Die rezeptionsgeschichtliche Pluralität und Produktivität des Heidelberger Katechismus, in: a.a.O., S. 129–167 (Teilabdruck in diesem Band u.d.T. »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden.« Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert). 43 Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015. 44 Freudenberg / Lange van Ravenswaay, Geschichte und Wirkung (wie Anm. 9), Vorwort: S. 5f., hier: S. 5. 45 Marco Hofheinz, Geistchristologie im Heidelberger? Bemerkungen zu einer umstrittenen These, in: a.a.O., S. 49–60, hier: S. 59f.

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Gijsbert van den Brink beschränkte sich nicht auf eine Interpretation der pneumatologischen Kernstelle des Katechismus (Frage und Antwort 53), sondern wies auf die über 40 Nennungen des Geistes im Katechismustext hin und ging dann von der Beobachtung aus, »dass der Heilige Geist im engsten Zusammenhang mit dem Vater und dem Sohn betrachtet wird.«46 Der Katechismus kann ganz christologisch gelesen werden, wie es etwa die Barth-Schule getan hat; mit gleichem Recht ist jedoch auch eine durchgehend pneumatologische Relektüre möglich und nach van den Brink auch angezeigt. Als »proto-charismatisch« bezeichnete er die Stellen, »an denen der Heidelberger Katechismus den Heiligen Geist als Gabengeber vorstellt.« Die Geistgaben des Christus werden »sofort auch auf die Christen und Christinnen bezogen« (Fragen und Antworten 31 und 32).47 »Himmlische Gaben« gießt Christus durch den Geist den Glaubenden ein (Frage und Antwort 51), während Christen die von ihnen empfangenen »Gaben ›zu Nutz und Heil der andern Glieder willig und mit Freuden anzulegen‹« hätten (Frage und Antwort 55). Van den Brink resümierte: »Jedenfalls finden sich hier Anknüpfungspunkte, um den pneumatologischen Akzenten der charismatischpentekostalen Bewegung, mehr als es in den herkömmlichen evangelischen Kirchen oft geschieht, theologisch gerecht zu werden. Man kann zum Beispiel fragen, ob es biblisch gesehen nicht richtig ist, neben der Rechtfertigung und Heiligung auch die Erfüllung als ein eigenes Werk des Geistes zu betrachten. Dabei ist darauf zu achten, dass diese Gaben einerseits verschieden sind, andererseits aber nicht voneinander isoliert werden können: Wie man die Gabe der Rechtfertigung nicht besitzen kann, ohne auch Anteil zu haben am Prozess der Heiligung (und umgekehrt),48 so kann man diese beiden Gaben auch nicht empfangen, ohne diese dritte Gabe, die Erfüllung mit dem Geist, zu bekommen. Das sollte also festgehalten werden gegenüber der charismatischen Neigung, hier an ein second blessing zu denken, die nur bestimmten Gruppen wahrer oder fortgeschrittener Christen zuteil wird. Wohl kann man natürlich diese dritte Gabe ernsthaft verwahrlosen lassen. Es ist meines Erachtens angemessen, wenn wir uns von der charismatisch-pentekostalen 46

Gijsbert van den Brink, Die Pneumatologie des Heidelberger Katechismus und ihre Relevanz im Gespräch mit der charismatisch-pentekostalen Bewegung, in: a.a.O., S. 61– 75, hier: S. 68. 47 A.a.O., S. 72. 48 Dies hatte van den Brink als ein reformiertes Spezifikum des Katechismus bezeichnet, a.a.O., S. 70. – Wird diese Perspektive geteilt, erscheinen auch die theologischen »Erträge« der Reformation als europäische Bewegung nicht vollständig abgebildet, wenn in Rechtfertigung und Freiheit (wie Anm. 2) ganz überwiegend auf Rechtfertigung als zentrales Thema der Reformation verwiesen und für 2017 eine aktualisierende »theologische Erinnerung an die Rechtfertigungslehre …, die sie in ein Verhältnis zu gegenwärtigen Erfahrungen und Erwartungen auch außerhalb binnenkirchlicher Kontexte setzt«, gefordert wird. A.a.O., S. 96f.

2. Der Heidelberger als wissenschaftliches Thema

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Bewegung fragen lassen, inwiefern das in den traditionellen evangelischen Kirchen der Fall war (oder eben noch immer ist). Wenn es darum geht, die Gnadengaben des Geistes genauer zu unterscheiden, darf darauf hingewiesen werden, dass diese nicht beschränkt werden dürfen auf ungewöhnliche Ereignisse. Wer nur außergewöhnliche Dinge mit dem Wirken des Geistes in Verbindung bringt, trennt das gewöhnliche natürliche Leben auf uneigentliche Weise vom Bereich des geistlichen und ›übernatürlichen‹ Lebens und verlernt leicht, Gottes Anwesenheit und Wirken auch in den normalen Dingen zu sehen. Umgekehrt sollte aber auch gefragt werden, ob in den etablierten Kirchen die Abneigung gegen und die Furcht vor dem Außergewöhnlichen, Spontanen und nicht rational Erklärbarem nicht größer ist, als neutestamentlich gewährleistet werden kann. Jedenfalls hat sich« die Ansicht, dass »die besonderen Gnadengaben auf den apostolischen Zeitraum beschränkt seien, exegetisch nicht durchsetzen können und sollte meines Erachtens deshalb auch als unhaltbar abgelehnt werden. Der Geist weht, wo er will, und man kann ihn nicht fangen und zähmen.«49 Den Schwerpunkt auf systematisch-theologische, ethische und praktisch-theologische Reflexionen legte die Berner Vorlesungsreihe Der Heidelberger Katechismus als reformierter Schlüsseltext im Frühjahrssemester 2013; der Band konnte wegen der Publikation erst am Jahresende nicht mehr viel Einfluss auf die deutschen Kontexte des Jubiläumsjahres nehmen.50 Das gilt auch für die das Jubiläum zum Ausgang nehmenden Vorträge aus Greifswald, die thematisch weit über den konkreten Anlass des Jubiläumsjahres hinausgreifen. Man veranstaltete dort im Sommersemester 2013 »eine Ringvorlesung zum Thema ›Bekennen, Bekenntnis, Bekenntnisse‹ … Neben exegetischen und kirchenhistorischen Perspektiven standen judaistische, archäologische und musikwissenschaftliche sowie systematisch- und praktisch-theologische als auch religionssoziologische und juristische Zugänge.« In diesem Reigen widmete sich Thomas K. Kuhn dem HEIDELBERGER unter dem Titel »Reformiert Bekennen«.51 2.2 Dissertationen Überblickt man die aktuelle Forschung zum HEIDELBERGER, dann fällt auf, dass nicht kirchenhistorische Personen (die vor allem in ihrer Zeit und also als historisch entfernt wahrgenommen werden müssen), sondern 49

73f.

50

Van den Brink, Die Pneumatologie des Heidelberger Katechismus (wie Anm. 46), S.

Martin Ernst Hirzel / Frank Mathwig / Matthias Zeindler (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext (reformiert! 1), Zürich 2013. 51 Thomas K. Kuhn, Reformiert Bekennen – Der Heidelberger Katechismus, in: ders. (Hg.), Bekennen – Bekenntnis – Bekenntnisse. Interdisziplinäre Zugänge (Greifswalder Theologische Forschungen 22), Leipzig 2014, S. 145–170.

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Theologie (die auch gegenwärtig zu verantworten und also zu aktualisieren ist) im Zentrum der Bemühungen stand. So erschienen keine neuen wissenschaftlichen Biographien über Zacharias Ursin, Caspar Olevian, Thomas Erast oder Kurfürst Friedrich III. – auch Boris Wagner-Petersons ausgezeichnete Heidelberger Dissertation über Ursin verfolgt kein biographisches, sondern ein theologisches Interesse: Nicht an Hand der nicht zu klärenden näheren Entstehungsgeschichte des HEIDELBERGERs oder seines eigenen Katechismuskommentars ließe sich Ursins Theologie nachzeichnen, sondern vor allem an Hand von dessen exegetischen Arbeiten.52 Allerdings ist auch zum Jubiläumsjahr keine neue Theologie des HEIDELBERGERs und auch keine Theologie nach dem HEIDELBERGER entworfen worden, wohl aber die o.g. kleineren populären Werke (vgl. Abschnitt 1.2). Eben so wenig erschien eine umfassende »Bildungsgeschichte« des Katechismus, die Bernd Schröder bereits 2009 gefordert hatte.53 Hanna Reichel ging in erster Linie den systematisch-theologischen Spuren nach, die der HEIDELBERGER in Karl Barths Lebenswerk eingeschrieben hat. Ihre Heidelberger Dissertation von 201354 wird sicherlich weit über den aktuellen Anlass des Jubiläumsjahres hinaus Bestand haben. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass der HEIDELBERGER in seiner Wirkungsgeschichte zu einem Migrantenbekenntnis und zu einem Migrantenbuch wurde.55 Einen theologischen Traktat mit einem erhöhten Widerstandspotenzial an sich stellt er dagegen eher nicht dar – im Rahmen der Konfessionalisierung war er ja auch ein Stück landesherrlicher Kirchenpolitik, auch wenn nicht wenige Migranten an der Abfassung beteiligt waren. Freilich ist der dann bald einsetzende Gebrauch des HEIDELBERGERs in den so genannten Fremdlingsgemeinden noch stärker als bisher zu beachten.56 52 Boris Wagner-Peterson, Doctrina schola vitae. Zacharias Ursinus (1534–1583) als Schriftausleger (Refo500 Academic Studies 13), Göttingen/Bristol (USA) 2013. Dieser Arbeit wurde 2013 der J.F. Gerhard-Goeters-Preis zuerkannt. Vgl. die Dankesrede: ders., Zacharias Ursinus und ›seine‹ Auslegung des Heidelberger Katechismus, in: Freudenberg / Lange van Ravenswaay, Geschichte und Wirkung (wie Anm. 9), S. 87–109. 53 »Nötig wäre eine Bildungsgeschichte des Heidelberger Katechismus …«, so Bernd Schröder, Johannes Calvin – religionspädagogisch gelesen. Oder: Historische Religionspädagogik als Erforschung der Wirkungsgeschichte des Unterrichts in christlicher Religion, in: ZThK 107 (2010), S. 348–371, hier: S. 367. 54 Vgl. Hanna Reichel, Theologie als Bekenntnis. Karl Barths kontextuelle Lektüre des Heidelberger Katechismus (FSÖTh 149), Göttingen 2015. Hanna Reichel bereitet einen umfangreichen Band mit Barths Vorträgen und Beiträgen zum HEIDELBERGER vor. Vgl. auch Eberhard Busch, »Jesus Christus, dein einziger Trost«. Der Heidelberger Katechismus und der Theologe Karl Barth, in: Theologische Rundschau 78 (2013), S. 518–540. 55 Vgl. etwa Johannes Ehmann, Mit Ecken und Kanten. Der Heidelberger Katechismus wirkt über Ursprungsort und Entstehungszeit hinaus, in: Zeitzeichen 1/14 (2013), S. 26–28. 56 Vgl. Tobias E. Schreiber, Petrus Dathenus und der Heidelberger Katechismus. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zum konfessionellen Wandel in der Kurpfalz um 1563 (R5AS 32), Göttingen 2017 (diss. theol. Heidelberg 2015).

3. Ein vorläufiges Resümee

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3. Ein vorläufiges Resümee Trotz der unterdes geleisteten Erforschung von Reformationsjubiläen bleiben die Wirkungen von solchem »Bemühen, konfessionelles Selbstbewusstsein zu markieren sowie konfessionsspezifische Geschichtsbilder zu popularisieren«,57 fraglich. Und erst recht ist zeitnahe nicht abzusehen, ob das HEIDELBERGER-Jubiläumsjahr 2013 eine nachhaltige Wirkung wird zeitigen können und ob kirchliche Selbstreflexion und theologische Innovationen im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr in die zukünftige Kirchen- bzw. Wissenschaftsgeschichte aufgehoben werden. Das mag dann Gegenstand von historischen Untersuchungen im Vorfeld des Jubiläums des Jahres 2063 sein. Wollte man für die kirchlichen Bemühungen vor allem im reformierten Bereich einen Schwerpunkt im Jahr 2013 identifizieren, dann lag dieser neben der Betonung der Christologie vor allem bei einer Akzentuierung des Zusammenhangs von Erlösung und Heiligung, einer Ethik aus Dankbarkeit und einem dem zu Grunde liegenden optimistischen Menschenbild. Problematisch blieb die Vermittlung dieser Einschätzungen dann, wenn etwa Journalist/inn/en den Katechismus in Erst- und Einzigbegegnung bestenfalls einmal gelesen hatten und seine drei Teile als eine biographisch-existentielle Abfolge missverstehen mussten (oder bei der Lektüre nicht über Frage und Antwort 14 hinausgekommen waren) – ein ordentlicher Katechismusgebrauch dagegen wäre ein permanentes, also zirkuläres Wiederlesen und -hören, so dass man auch »des Menschen Elend« im Horizont der »Erlösung« und des geheiligten Lebens lesen muss, wie überhaupt alles Weitere unter dem Vorzeichen der großen Zusage aus Frage und Antwort 1 zu stehen kommt. Dass nicht alle gegenwärtig relevanten Glaubensfragen im HEIDELBERGER Erwähnung finden, kann bei einem 450 Jahre alten Buch nicht weiter verwundern. Und dass der erste Teil des Katechismus (Von des Menschen Elend) und die in den Fragen und Antworten 12–18 rezipierte mittelalterliche Satisfaktionslehre als soteriologisches Interpretament nicht nur mit der gegenwärtigen kirchlichen Frömmigkeit schwer vermittelbar, sondern auch in aktuellen theologischen Diskursen nicht eben leicht zu plausibilisieren ist, wurde mindestens gelegentlich deutlich. Erstaunlicherweise wurde – wohl nicht zuletzt auf Grund der inhaltlichen Ausrichtung der kirchlichen Erinnerungsfeiern (s.o.) – die historisch so wirksame Frage 80, die die katholische Messe mit ihrer Eucharistie als »Opfergabe« als »vermaledeite Abgötterei« charakterisierte, kaum thematisiert. Noch barmherziger war der Umgang mit den auch ambivalenten historischen Kontexten des HEIDELBERGERs und der so 57

Kuhn, Reformiert Bekennen (wie Anm. 51), S. 148.

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genannten kurpfälzischen Kompromisstheologie58: Während mit nahezu jedem Calvin-Gedenken auch eine mahnende Erinnerung an Michael Servet (1509/11–1553) einhergeht, wissen doch nur Experten von Johannes Silvanus, der wegen vermeintlicher Leugnung der Trinität angeklagt war und Ende des Jahres 1572 in Sichtweite der Heidelberger Heiliggeistkirche enthauptet worden ist. Nahezu gar nicht thematisiert wurde, dass auch ›falsche Theologie‹ mit dem HEIDELBERGER hat getrieben werden können, wenn man etwa an Theologen denkt, die den Nationalsozialismus in Deutschland oder die Apartheid in Südafrika unterstützt haben und sich selbst als HEIDELBERGER-Adepten verstanden. Im Jubiläumsjahr 2013 überwog insgesamt ein benevolenter Zugriff auf den HEIDELBERGER, sowohl historisch als auch theologisch. Und es herrschte ein plurales Erinnern: Während es 1963 eine überwiegend einseitige, barthianische Deutung in Kirchenkampf- und Barmen-Perspektive gab, belebte 2013 eine Pluralität der Akteure und Institutionen das Erinnern und Vergegenwärtigen. Möglicherweise ist Pluralität ohnehin eine Signatur des HEIDELBERGERs in mehrfacher Hinsicht: Er bündelte mehrere reformatorische Richtungen, zeitigte eine vielgestaltige Rezeptionsgeschichte, findet auch gegenwärtig in vielen Kirchentümern Anerkennung, erfährt in unterschiedlichen theologischen Schulen Wertschätzung, kann für verschiedene Frömmigkeitsformate wichtig sein – und wirkt so auch aktuell belebend für den pluralen Protestantismus in der Theologie und ihren zahlreichen praktischen Handlungsfeldern. Die Chancen wurden wahrgenommen, aber auch die Grenzen gesehen. Mit dem Calvin-Jahr 2009 wurde – analog zum föderal-landeskirchlichen Charakter des deutschen Protestantismus – auch der belebende Geist der konfessionellen Varianten wiederentdeckt. Vier Jahre später konnte man im Jahr 2013 die Vielgestaltigkeit59 wieder genießen und sich erfreuen am Profil und am Kompromiss, für den der HEIDELBERGER steht. Der polyphone Protestantismus braucht keinen vereinheitlichenden reformatorischen Bekenntnistext, sind doch die evangelischen Bekenntnisschriften nicht (mehr) kirchentrennend. Insofern atmeten die Feierlichkeiten bei aller konfessionellen Identitätsvergewisserung durchaus auch etwas vom freiheitlich-liberalen Geist des – zumal: reformierten – Protestantismus. 58 Die Existenz einer nun jahrzehntelang behaupteten kurpfälzischen Irenik um 1600 wurde allerdings im Jubiläumsjahr des HEIDELBERGERs theologiegeschichtlich durchaus in Frage gestellt. 59 Vgl. auch die zentrale These in Christine Axt-Piscalar, Pluralität als »Gewinn« der Reformation, in: Martin Heimbucher (Hg.), Reformation erinnern. Eine theologische Vertiefung im Horizont der Ökumene (Evangelische Impulse 4), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 88–107, hier: S. 99: »Die evangelischen Kirchen sollten die Einsicht stark machen, dass die Vielgestaltigkeit evangelischer Kirchentümer eine evangeliumsgemäße (!) Verwirklichung der Kirche Jesu Christi auf Erden darstellt.« (im Original kursiv)

3. Ein vorläufiges Resümee

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Vor dem Jubiläumsjahr 2013 gab es auch skeptische Stimmen, ob mit einem alten, kleinen Büchlein große Wirkung erzielt werden könnte. Begangen wurde dieses Jahr dann durchaus mit Engagement und gelegentlicher Euphorie. Ob in Zukunft weiterhin auch Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit des HEIDELBERGERs herrschen wird? Das letzte große Jubiläum 1963 hatte trotz der damals erschienenen Literatur, die den Stand der wissenschaftlichen Erforschung und der kirchlichen Rezeption beschrieb, keine wirklich nachhaltigen Auswirkungen im kirchlichen Leben. Noch ist offen, ob dem Jubiläumsjahr 2013 ein anderes Geschick beschieden sein wird.60

60

Eine gewisse Skepsis scheint angezeigt, wenn selbst der konfessionelle Weltbund im Tätigkeitsbericht über die sieben Jahren von 2010 bis 2017 das Jubiläumsjahr 2013 nicht einmal erwähnt: Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (Hg.), Von Grand Rapids nach Leipzig 2010–2017, verfasst und bearbeitet von Chris Ferguson u.a., Hannover 2017. – Der 10. Jahrestag des Bekenntnisses von Accra (2004/2014) wird ausführlich gewürdigt, vgl. a.a.O., S. 51–57.

Nachweis der Erstveröffentlichungen »Der erste Anbruch einer Neuschätzung des reformierten Bekenntnisses und Kirchenwesens«. Das Calvin-Jubiläum 1909 und die Reformierten in Deutschland Zuerst erschienen in: Harm Klueting / Jan Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 4), Wuppertal 2001, S. 231–265. »Gott hat gegen unsere vermeintlich gerechte Sache entschieden.« Die Reformierten in Deutschland während des Ersten Weltkriegs Zuerst erschienen in: Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs in Verbindung mit Veronika Albrecht-Birkner (Forschungen zur Reformierten Theologie 3), Neukirchen-Vluyn 2015, S. 99–135. Eine »Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen«. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland Gekürzt erschienen in: KZG 26 (2013), S. 238–261. Von Brandes zu Bukowski. Die Moderatoren des Reformierten Bundes Zuerst erschienen in: Der Moderator. Ein Dank für Peter Bukowski, herausgegeben von Hans-Georg Ulrichs, Hannover 2015, S. 23–70. Reformierte Kirchenleitung in Nordwestdeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf biographische Studien Zuerst erschienen als: Art. Bartels, Petrus Georg, in: BBKL XV. Ergänzungen II (1999), S. 86–93 (vgl. auch Art. Bartels, Petrus Georg, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, hg. im Auftrag der Ostfriesischen Landschaft von Martin Tielke, Band II, Aurich 1997, S. 30–33); Art. Müller, Hermann Wilhelm, in: BLO 3 (2001), S. 304–307; Art. Cöper, Gerhard, in: BLO 3 (2001), S. 93–95; Art. Iderhoff, Lümko, in: BLO 4 (2007), S. 225–227; Art. Hollweg, Walter, in: BBKL XXIII (2004), S. 668–676 (vgl. auch Art. Hollweg, Walter, in: BLO 4 [2007], S. 207–211). »In Einigkeit des wahren Glaubens.« Der Heidelberger Katechismus als Medium der Etablierung und Konsolidierung der Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover Zuerst erschienen in: Johannes Ehmann (Hg.), Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches (VbKRG 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, S. 131–163. »Wo der Heidelberger Katechismus verloren geht, wird das reformierte Wesen verschwinden.« Der HEIDELBERGER als reformierter Erinnerungsort im 20. Jahrhundert Teil-Abdruck von: Mit freiem Gewissen glauben und leben. Die rezeptionsgeschichtliche Pluralität und Produktivität des Heidelberger Katechismus, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 7 (2013), S. 129–167. Ein reformierter Charismatiker. Der Weg Carl Octavius Vogets zwischen reformierter Tradition und pfingstlerischem Aufbruch Anhang: Von Armut und Mystizismus der Landarbeiter und dem Egoismus der Bauern. Wie Carl Octavius Voget ein ostfriesisches Dorf um 1900 beschrieb Zuerst erschienen als: Art. Voget, Carl Octavius, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, hg. im Auftrag der Ostfriesischen Landschaft von Martin Tielke,

Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Band III, Aurich 2001, S. 416–419; Art. Voget, Carl Octavius, in: BBKL XX. Ergänzungen VII (2002), S. 1500–1508; Von Armut und Mystizismus der Landarbeiter und dem Egoismus der Bauern. Wie Pastor Carl Octavius Voget vor 100 Jahren Möhlenwarf beschrieb, in: Der Deichwart Nr. 1/2001. Beilage der Zeitung »Rheiderland« vom 29. Januar 2001, S. 1f. »Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst«. Karl Bauer, ein reformierter Kirchenhistoriker aus Baden Zuerst erschienen in: Die Union. Korrespondenzblatt des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, Nr. 4 (Februar 1999), S. 25–32; weitere hierauf fußende Arbeiten des Vfs. zu Bauer: ders., Karl Bauer (1874–1939) – ein vergessener reformierter Kirchenhistoriker, in: RKZ 140 (1999), S. 86–92; ders., Art. Bauer, Karl Christof Gustav Adolf, in: BBKL XVI. Ergänzungen III (1999), S. 77–85. Heinz Otten. Ein Barth-Schüler im reformierten Kirchenkampf Zuerst erschienen als: Heinz Otten. Ein vergessenes Schicksal aus dem reformierten Kirchenkampf, mit zwei Briefen Karl Barths und einem Geleitwort von Landessuperintendent Walter Herrenbrück, Bovenden 1994 (bearbeiteter Teilabdruck: »Ihrem reformierten Bekenntnis entsprechend wesentlich notwendig ...« Vor 60 Jahren schrieb Karl Barth das Uelsener Protokoll, in: RKZ 136 [1995], S. 82–89). »Es war gut, mit Niesel über Alles zu sprechen.« Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Niesel und Karl Barth Zuerst erschienen als: Wilhelm Niesel und Karl Barth. Zwei Beispiele aus ihrem Briefwechsel 1924–1968, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 1), Wuppertal 1999, S. 177– 196. »Die Synode erhob sich wie ein Mann.« Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode Zuerst erschienen als: Eine Frau erlebt die Barmer Bekenntnissynode. Ein Bericht von Susanna Pfannschmidt, mitgeteilt und eingeleitet von Hans-Georg Ulrichs, in: die reformierten-upd@te 2004/Heft 1, S. 11–19. »Im Geiste voller brüderlicher Eintracht«? Die Reformierten im Herbst 1945. Ein dokumentarischer Nachtrag Zuerst erschienen als: Die Reformierten im Herbst 1945. Ein dokumentarischer Nachtrag, in: RKZ 137 (1996), S. 73–77. Kirchenkampf als permanente Bewährungsprobe. Wilhelm Niesels »gradliniger Weg« als reformierter Kirchenpolitiker nach 1945 Zuerst erschienen in: Wilhelm Niesel – Theologe und Kirchenpolitiker. Ein Symposion anlässlich seines 100. Geburtstages an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, hg. von Martin Breidert und Hans-Georg Ulrichs (EBzrP 7), Wuppertal 2003, S. 35–74. »Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland.« Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel Zuerst erschienen in: Marco Hofheinz / Matthias Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, S. 71–100. »… ein frischer Mensch mit vielseitigen Interessen«. Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski unveröffentlicht

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

»Kirchenleitung im Anschluss an … Karl Barth.« Walter Herrenbrück als Kirchenpolitiker in der Frühphase der Bundesrepublik unveröffentlicht / Teilabdruck: »Eine unbequeme, aber doch sehr heilsame Ruhestörung«. Der Sieg Barthianischer Kirchenpolitik über die konsistoriale Tradition in der reformierten Landeskirche: der Wechsel von Walter Hollweg zu Walter Herrenbrück 1951, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 115 (2017), Hannover 2017, S. 73–100. Theologische Gewissheit und angefochtenes Leben. Der »Radikalbarthianer« Hellmut Traub Zuerst erschienen in: Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Hellmut Traub. »Unerschrocken zur Zeit oder zur Unzeit«, S. 14–19 (vgl. auch ders., Art. Traub, Hellmut, in: BBKL XII [1997], S. 424–432). »In fröhlichem Dienst aufgeopfert« oder Opfer patriarchaler Strukturen? Der Lebensweg einer reformierten Gemeindeschwester im 20. Jahrhundert Teilabdruck in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Vorträge der 11. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 17), Göttingen 2017, S. 167–178. Zwischen Bekenntnistreue und verlorener Zeitgenossenschaft. Das Jubiläum »400 Jahre Heidelberger Katechismus« 1963 als rezeptionsgeschichtlicher Höhe- und Wendepunkt im deutschen Reformiertentum Zuerst erschienen in: Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Geschichte und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Vorträge der 9. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 15), Neukirchen-Vluyn 2013, S. 185–211. »… dass der Herr, unser Gott, nur bei den Linken sei«? Die Reformierten und »1968«. Zuerst erschienen als: Die Reformierten und »1968«: Wahrnehmungen und Wirkungen. Erste Anstöße zu einem liegen gebliebenen Thema, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 8), Wuppertal 2004, S. 183–202. Versöhnung und Widerstand. Die Erklärung »Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche« des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982 unveröffentlicht »… in schwere Bedrängnis geraten«? Reformierte Erinnerungsnarrative im 20. Jahrhundert Zuerst erschienen in: Thomas K. Kuhn / Nicola Stricker (Hg.), Erinnert, verdrängt, verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (EBzrP 16), NeukirchenVluyn 2016, S. 81–98. Anhang: Weltgestaltung. Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009 Zuerst erschienen in: evangelische aspekte 20 (2010), Heft 3: August, S. 24–29. Kleines Buch mit großer Wirkung. 450 Jahre Heidelberger Katechismus: das Jubiläumsjahr 2013 Zuerst erschienen in: Kirchliches Jahrbuch 140 (2013). Dokumente zum kirchlichen Zeitgeschehen, Gütersloh 2015, S. 91–109.

Namensregister

Achelis, Ernst 222 Adenauer, Konrad 490, 492, 507f., 603, 783 Adenauer, Peter 599 Adler, Bruno 558, 560 Aeissen, Heidine, s. Otten, Heidine Agena, Gesine 415 Albertz, Martin 294, 450, 471, 474, 482, 498, 516, 531, 563, 575 Albrecht (Mitglied des Moderamens) 759 Alpen, Heinrich Simon van 284 Altfelix, Gerta 330 Altfelix, Julie, s. Bauer, Julie Althaus, Paul 96, 135, 355 Althoff, Berthold 749 Altner, Günter 727, 738, 787 Aportanus, Georg 153 Arends, Hans 380, 389f., 609 Arndt, Ernst Moritz 96 Arnold, Carl Franklin 66 Asmussen, Hans 196, 375, 430, 433f., 436, 443–450, 456, 462, 465, 497, 529f., 542, 605, 612f., 782 Augustin, Arelius 356 Babut, Charles 99 Bach, Johann Sebastian 782 Bader, Andreas 521 Bakker, Hermine, s. Cöper, Hermine Balkenende, Jan Pieter 794 Balthasar, Hans Urs von 308 Barkhausen, Friedrich Wilhelm 259 Barnikol, Ernst 400 Barrelet-Dardel, Théodore 70 Bartels, Eke 213 Bartels, Enno 213 Bartels, Hinriette 213 Bartels, Petrus Georg 49, 54, 74, 212– 219, 221f., 230, 243, 253, 255, 287, 316, 611 Barth, Franziska 438 Barth, Fritz 66, 75f., 85 Barth, Heinrich 353f.

Barth, Karl 6f., 25, 29–31, 38, 44, 47, 51, 58, 69, 75f., 79–81, 122, 160, 165, 172, 174, 186–188, 191f., 195, 198, 200, 203, 207, 211, 227, 230, 235f., 239, 268f., 271, 276, 283, 286, 290, 295–305, 308, 310, 321, 326, 333–335, 347, 349–351, 354f., 357f., 360, 364, 366f., 369f., 372, 374f., 377, 381–387, 390–398, 403, 408–410, 412–416, 423, 427–451, 456, 462, 471, 475, 480, 483, 485f., 489, 493, 496f., 504, 507, 509, 511, 513, 524, 526–528, 532f., 535, 537, 539, 542–544, 547, 549, 552–555, 567, 569, 577, 579, 586f., 589–593, 595, 597–599, 601–604, 612, 617f., 621, 623–631, 633f., 636–638, 641– 644, 682, 686, 688f., 699f., 702, 710, 716f., 720, 723, 732, 736, 743, 745, 752, 763, 765–767, 778, 780– 787, 790, 797, 805, 809, 820 Barth, Nelly 554 Barth, Peter 76, 80, 195, 413, 428, 438, 528 Barth-Koenigs, Sebastian 428 Bauer, Elisabeth 334, 339f. Bauer, Heinrich 326, 328f. Bauer, Julie 326 Bauer, Karl 30, 59, 326–344 Baumann, Eberhard 95, 188 Baumgarten, Otto 98, 169 Baumgartner, Walter 353 Bavinck, Herman 65f. Bavink, Jan 289 Beck, Horst-Dieter 483 Beck, Johann Tobias 49, 219 Beckmann, Joachim 443, 627 Beenken, Helmer 399f. Beermann (Pfarrer) 510 Beintker, Michael 43, 731, 774, 811f. Bender, Julius 689, 694 Bender, Karl 331f. Benedict, Hans-Jürgen 763f.

828 Benrath, Gustav Adolf 692 Bense, Max 639 Benz, Ernst 363 Béringuier, Richard le 70f. Berkhof, Hendrikus 512, 697, 716, 747 Bernds, Heinrich 351, 410, 590 Bernoulli, Wilhelm 306 Besier, Gerhard 130 Bethmann Hollweg, Theobald von 110, 125 Beuker, Gerrit Jan 65 Beyer, Ulrich 702f., 806 Bismarck, Otto von 108, 119, 496 Bitter, Stephan 492 Bizer, Elisabeth 640 Bleske-Viëtor, Friedrich Wilhelm 70f., 79, 139, 225 Blomenkamp, Johannes 811 Bochterle, Martha, s. Hesse, Martha Bode, Otto A. 552 Bodelschwingh, Friedrich von 364, 368, 402, 439, 462, 465 Böddinghaus (Pfarrer) 510 Bödeker, Heinrich 665, 669f. Böhl, Eduard 49, 594 Böhmer 136 Boer, Dietrich de 418 Boesak, Allan 754 Bohatec, Josef 67, 234 Bohren, Rudolf 308, 760, 806 Bokeloh, Heinrich 410 Bolsec, Hieronymus 799 Bonhoeffer, Dietrich 411, 621, 634, 785 Bonin, Daniel 71 Boudriot, Wilhelm 30, 494–497, 782 Bouwman, J. 78 Brach (Ehepaar) 352 Brakelmann, Günter 129f. Brandes, Berta 173 Brandes, Friedrich Heinrich 50f., 53, 58f., 62, 64, 68, 70f., 73f., 77f., 80, 171f., 173–181 Brandes jun. (Pfarrer) 510 Brandt, Willy 708 Braselmann, Werner 708 Braukmüller, Heide 231 Braun, Herbert 621 Bredt, Johann Viktor 23, 118, 186f. Breit, Thomas 462 Breshnew, Leonid 740 Brieger, Theodor 68 Brink, Gijsbert van den 817f. Brinkmann, (Heinrich) 421

Namensregister Brunner, Emil 397, 589 Brunotte, Heinz 449, 484 Brunzema, Gerhard 271, 321, 389–391, 401 Bucer, Martin 184, 575, 795f., 815 Buchrucker, Harald 637, 639 Buchrucker, Käthe 639 Bülow, Vicco von 23, 482, 680, 704 Bültena, Harmine 657 Bültena, Jantine 657 Buiren, Jan (auch: Johannes) van 249, 255, 261 Buitkamp, Wilhelm 612 Bukowski, Peter 171f., 211, 727f., 733f., 763, 769, 779, 808 Bullinger, Heinrich 626, 682, 814 Bultmann, Rudolf 445, 555, 603, 615, 617, 620, 637f., 753, 781f. Buren, Idelette van 796 Busch, Eberhard 75, 303, 307, 686, 805, 817 Busek, Jerzy 813 Buß, Anna-Helene, s. Herrenbrück, Anna-Helene Busse-Kronshage, Berta, s. Brandes, Berta Butler, Samuel 780 Buurman, Meinhard 399, 402–404 Buurman, Otto 380, 399 Calaminus, Heinrich 49, 51f., 54, 64, 68, 82, 88, 156, 158, 171–173, 176, 178–183, 189f., 194, 211, 261, 290, 777 Calaminus, Joachim 178 Calaminus, Elisabeth, s. Lang, Elisabeth Calaminus, Matthias 181 Calaminus, Paul 178 Calaminus, Petrus 178 Calvin, Johannes 6, 23, 25, 46, 50, 105f., 113f., 124–170, 177, 183–185, 195, 197, 203, 208, 213, 216, 222, 244, 289, 296, 329, 347, 356, 363, 398, 400, 402, 411f., 428f., 432, 434, 479f., 496, 511, 517, 520, 523f., 529, 531, 533, 536, 542, 546, 575, 584, 594, 626, 636, 682, 710, 743, 782, 785, 793–801 Campenhausen, Hans von 689 Cavour, Camillo di 796 Ceauşescu, Nicolae 209, 730 Chagall, Marc 421 Christ, Franz 312 Coccejus, Johannes 335

Namensregister Cock, Hendrik de 247 Coenen, Lothar 23, 201, 493, 499, 510, 512, 521–523, 698f., 703, 708, 739 Cöper, Fanny 225 Cöper, Gerhard 128, 150, 212, 224– 229, 232, 243, 266 Cöper, Hermine 225 Coerper, Martha 657, 659–663, 667, 669f. Colijn, Hendrik 557 Conrad, Johannes 317 Conrad, Paul 136 Cordier, Leopold 23, 233 Cornill, Carl Heinrich 70 Correvon, Charles 53, 56, 61, 65, 70f., 86, 163 Cremer, Hermann 225, 314 Crigee, Engelbert 249 Cromwell, Oliver 357 Csaki-Copony, Grete 639 Cuno, Friedrich Wilhelm 262f., 279, 284, 288 Cyzevskij, Dimitrij 363 Dahm, Hans Gerhard 601 Dalton, Hermann 53, 287 Dan, Hans Gerhard 601, 612, 615, 628 Dehmel, Artur 603 Dehn, Günther 194, 358f., 361, 416, 428, 527, 552, 633 Dehne, Jürgen 771 Delius, Friedrich Christian 781 Deschner, Karlheinz 339 Detmers, Achim 794 Detmers, Eke, s. Bartels, Eke Devaranne, Eugène 70–72, 74 Dibelius, Martin 206 Dibelius, Otto 488, 495, 554, 572, 627, 634, 783 Diem, Harald 421 Diem, Hermann 421, 447f., 469, 637 Dienst, Karl 497 Dilthey, Wilhelm 327 Dinkler, Erich 570 Ditzen, Johann Nikolaus 141, 234, 589 Dobschütz, Ernst von 363 Doedes, Jacob Isaak 288 Doll, Karl Wilhelm 264 Dostojewski, Fjodor M. 553 Doumergues, Émile 50 Dorner, August 67 Doht, Albert 292 Doyé, Traugott 162

829 Dryander, Ernst von 55, 70–74, 99 Duhm, Hans 336 Dunkmann, Jelto 401 Dusse, Helga 743 Dutschke, Rudi 713 Ebrard, August 179, 574f. Eck, Samuel 66 Eger, Johannes 102 Ehlers, Hermann 433, 484, 599 Ehmann, Johannes 310, 811, 817 Ehnes, Herbert 748, 752 Eichholz, Georg 360, 633 Eichhorn, Edmund 263 Eilshemius, Daniel Bernhard 285 Eisenberg, Wilhelm 95 Ellerbeck, Mentje Albers, s. Iderhoff, Mentje Albers Engel, Siegfried 562 Engels, Achim 494 Engels, Martin 172 Engels, Paul 405 Ensslin, Gudrun 706 Erast, Thomas 820 Erhart, Hannelore 208, 523, 573, 719 Erichson, Alfred 50 Ernst August von Hannover 248 Ernst-Habib, Margit 6, 809f. Erzberger, Matthias 112, 135 Eßer, Hans Helmut 171f., 199, 201– 205, 208, 211, 521–523, 703, 726f., 738, 740, 746, 787 Eucken, Rudolf 69 Fangmeier, Jürgen 201, 282, 307, 516, 525 Farel, Wilhelm 795 Fegers, Hans 639 Felke, Emanuel 290 Fezer, Karl 360, 372 Ficker, Johannes 363 Fiedler, Eberhard 390, 463 Fikenscher, Christoph 109f., 167 Finckenstein (Familie) 639 Finckenstein, Ulrich Finck von 632, 635 Fischer, Elke 455 Fischer, Friedhard 749 Fischer, Martin 524 Fischer, Ulrich 808, 816 Fitschen, Klaus 29, 453 Fleisch, Paul 98, 316, 319 Fliedner, Friederike 651 Fliedner, Caroline 651

830 Fliedner, Theodor 651f. Flor, Wilhelm 462f. Foerster, Erich 31, 117, 588, 778 Foerster, Werner 336, 341 Fokken, Berthold 586, 600f., 607, 612, 615 Freiling, Elisabeth 454, 633, 641 Freudenberg, Matthias 6, 23, 76, 79, 795 Frey, Paul Oskar 353 Frick, Constantin 653, 658 Frick, Max 291f. Friedrich II. von Preußen 74, 496 Friedrich III. (Kurpfalz) 815, 820 Friedrich Wilhelm von Brandenburg (Großer Kurfürst) 74 Friedrich Wilhelm I. von Preußen (Soldatenkönig) 74 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 336f. Friedrich Wilhelm zu Schaumburg-Lippe 92f. Friedrich, Johannes 587 Frielinghaus, Dieter 731 Fuchs, Emil 632 Fuchs, Ernst 362 Fürbringer, Leo 146f. Fürbringer, Marie 348 Fürbringer, Marie-Luise, s. Otten, MarieLuise Gabriel, Paul 292, 359 Gailus, Manfred 28, 83, 405, 453 Gansfoort, Wessel 151 Garnerus, Carl 314 Garrelts, Heinrich 152 Gause, Ute 120, 452 Gautier, Lucien 53, 56, 71 Genscher, Hans-Dietrich 769 Georg V., König von Hannover 214, 248 Georg zu Schaumburg-Lippe 59, 73f., 116 Gerhardt, Paul 359 Gerstenmaier, Eugen 653 Geyer, Hans-Georg 725 Geyser, Nathanael 179, 181, 189f. Geyser, Paul 96, 164, 179, 537, 542, 777 Gloege, Gerhard 430, 530 Goebbels, Joseph 654 Goebel, Gerhard 176, 574f. Goebel, Hans Theodor 208, 523 Göhler, Alfred 407, 416, 424, 590, 597, 609 Goeman, Gerd Hesse 272f., 605 Göring, Hermann 372

Namensregister Goeters, Johann Friedrich Gerhard 27, 173, 294, 308, 698, 703, 757, 778, 806 Goeters, Wilhelm Gustav 57, 79, 85, 233, 293, 335f., 350, 366, 439–440, 603 Götz von Olenhusen, Irmtraud 651 Goetzmann, Jürgen 510 Gogarten, Friedrich 360 Gollwitzer, Helmut 81, 202, 351, 360, 416f., 420, 441, 508, 535, 595, 633, 635, 716, 733 Good, James Isaac 63, 88, 184, 288, 290 Gooszen, Maurits Albrecht 288 Gorbatschow, Michail 740 Graeber, Wilhelm 68 Graf, Friedrich Wilhelm 287 Graffmann, Heinrich 294, 305, 614, 681f. Grau, Adolf 786 Greschat, Martin 32, 39, 42, 133, 469f., 490, 532f., 773 Greulich, Horst 771f. Grob, Rudolf 499 Groeneveld, Jaques Bauerman 373, 388 Groenewold, Friedrich H.J. 656, 658–660 Groenewold, Claus 656 Großbölting, Thomas 43 Grüber, Heinrich 635 Grützmacher, Georg 327, 331, 337, 340 Günther, Hans Friedrich Karl 362 Guhrt, Joachim 202–204, 523, 574, 740, 746, 749, 753f., 759–761 Gustav Adolf von Schweden 334 Gysi, Klaus 771f. Haarbeck, Ako 755f., 761 Hadorn, Wilhelm 78, 85, 160 Hahn, Fréderic 70 Hahn, Hugo 460 Haitjema, Theodorus Lambertus 235, 389, 391 Halaski, Anton 551, 555, 560 Halaski, Irmgard 560, 562f., 584f. Halaski, Käthe 551, 555, 560 Halaski, Karl 30f., 198f., 304f., 488, 491f., 500f., 511, 519f., 522, 550– 585, 613f., 629, 682, 690, 693, 696, 698f., 708, 711, 715f., 724, 738, 757 Halaski, Ruth 560 Halstenbach, Willy 485 Hamer (Pastor) 610 Hamer (Pastor) 658 Hamer, Erich 667–669, 783 Hammelsbeck, Oskar 483, 716

Namensregister Hammelsbeck, Waltraud 670, 675f., 678 Harder, Günther 456, 520 Harinck, George 495 Harnack, Adolf (von) 169, 189, 195, 428, 528, 617 Hassencamp, Friedrich Wilhelm 257 Hauer, Wilhelm 393, 404 Haug, Martin 620 Hauschild, Wolf-Dieter 489, 728 Hausrath, Adolf 327, 334 Heckel, Johannes 438 Heckel, Theodor 632 Heidland, Hans-Wolfgang 587, 602, 693 Heidmüller, Friedrich 657 Heidtmann, Günter 570, 704f. Heilmann, Johann Adam 63, 79, 103, 161, 263 Heim, Karl 350, 368 Heimbucher, Martin 266, 280, 804 Heinemann, Gustav 434, 447f., 504, 506f., 638, 643, 718, 794 Heinersdorff, Elma, s. Traub, Elma Helbich, Hans Martin 715 Helbing, Albert 331 Held, Heinrich 447f., 505 Helmich, Hans 109, 778 Henning, Heinz-Georg 150 Hennings, Ralph 26 Henß, Walter 308, 692f. Heppe, Heinrich 216, 288, 296, 804 Herbert, Karl 446, 470 Herbrecht, Dagmar 454 Herbrecht, Wilhelm 388 Hering, Daniel Heinrich 250 Herlyn, Gerrit 24, 294, 412, 418, 601, 624, 628f. Herlyn, Okko 809 Herrenbrück, Anna-Helene 596, 602 Herrenbrück, Ernst 587f. Herrenbrück, Fritz 496 Herrenbrück, Walter jun. 307, 574, 580, 601, 743, 747, 749, 757, 764, 806 Herrenbrück, Walter sen. 30f., 198, 207, 234, 239, 241, 276–278, 300, 384, 408, 410, 423–425, 433, 491, 504, 506f., 510f., 564f., 572, 586– 630, 637, 643, 684f., 687f., 694f., 699f., 709, 711 Herrmann, Wilhelm 174 Hesse, Helmut 192f., 294 Hesse, Hermann Albert 81, 83, 113– 115, 117, 122, 171f., 185, 187–196, 211, 293f., 298, 346, 366, 372–375,

831 429, 438–442, 456, 470f., 474, 476, 482, 485, 487, 494, 496, 529, 531, 543, 556, 576, 591–593, 595, 777– 780, 783 Hesse, Hermann Albert sen. 249 Hesse, Hermann Klugkist 294, 394, 416, 779 Hesse, Martha 189 Heuner, Fritz jun. 784 Heuss, Theodor 508 Hild, Helmut 761 Hildebrandt, Ulrich 59 Himmelbach, Hans (Johannes) 564 Himmler, Heinrich 642 Hindenburg, Paul von 108, 110, 117 Hirsch, Emanuel 356f., 360, 633 Hirschfeld, Magnus 361 Hitler, Adolf 294, 320, 338, 361, 364, 366, 372f., 440, 461, 495f., 557, 632 Hochhuth, Rolf 704 Höhler, Heinrich 23, 282, 508, 615, 682, 779 Hölscher, Gustav 206 Hölscher, Lucian 35 Hoen, Cornelius 151 Hoffmann, Adolf 88, 118 Hoffmann, Heinrich 67 Hoffmann, Nelly, s. Barth, Nelly Hofheinz, Marco 6, 211, 766, 817 Hofius, Otfried 580, 749, 785 Holl, Karl 66, 119, 137, 160 Hollenstein, Helmut 585 Hollweg, Karl 233 Hollweg, Karl Eduard 237 Hollweg, Walter 30, 44, 212, 227, 233–243, 267–271, 273–277, 279, 305, 320, 336, 346, 373–375, 377– 379, 382–384, 391f., 394, 406f., 418f., 423, 441, 472, 474, 491, 476, 589, 591, 593f., 597f., 600, 606, 608–612, 627, 681, 684, 701 Holsten, Karl 326 Holtschneider, Carl 632 Hoogklimmer, Georg 141 Horn, Fritz 59, 64, 290, 294, 366, 394 Horn, Johannes Theodor 279, 477 Houtrouw, Otto Galama 225 Hoyer-Kraus, Brigitte 210 Hromádka, Josef 417, 493, 573 Huber, Wolfgang 734, 770 Hüffer, Hermann 183 Hugues, Theodor 249 Huijgen, Arnold 58

832 Huizing, Klaas 797, 799 Humburg, Paul 108, 410 Hupfeld, Renatus 102 Hus, Jan 131 Hutten, Kurt 568–570 Iderhoff, Hermine 232 Iderhoff, Jan Hoiten Geerds 229 Iderhoff, Johann 232 Iderhoff, Lümko 111, 141, 143, 170, 212, 221, 229–233, 266 Iderhoff, Lümko jun. 232 Iderhoff, Menna 232 Iderhoff, Mentje Albers 229 Iler, Emma Rebecka, s. Voget, Emma Rebecka Immer, Hermann 271, 377, 421 Immer, Johannes 408, 424 Immer, Karl 187, 191, 193, 206, 294, 379, 399, 402, 407f., 410, 442, 470, 482, 531, 568, 616, 779 Immer, Leni 453 Immer, Martin 421 Immer, Theodor 494 Innhausen und Knyphausen, Dodo zu 63 Innhausen und Knyphausen, Edzard zu 54–56, 59, 73, 215, 221, 230 Innhausen und Knyphausen, [vermutlich: Edzard-Wilhelm] zu 609f. Iwand, Hans Joachim 202, 443, 599 Jacobs, Paul 401f., 412, 488, 490, 582f., 589, 603, 614f., 696, 702f. Jäger, August 368, 378, 405 Jäger, Johannes 68 Jahr, Hannelore, s. Erhart, Hannelore Janssen, Jan 587 Jaspers, Karl 5 Jaspert, Bernd 29 Jatho, Carl 141, 632 Jochums, Heinrich 499, 682, 719f. Johann Sigismund von Brandenburg 87 Johannes XXIII. (Papst) 702 Josephson, Hermann 107 Jüngst, Christian Gottlieb 249 Jürges, Wilhelm 657, 659, 661, 663, 670 Jung, Gerhard 521 Jung, Martin H. 5, 42 Junker, Friedrich August 251 Kähler, Martin 225 Käßmann, Margot 813 Kampmann, Jürgen 492

Namensregister Kampschulte, Franz Wilhelm 58 Karl der Große 332, 338f. Katerberg, Mauritz Philipp 247 Kattenbusch, Ferdinand 69, 363 Keckermann, Bartholomäus 692 Keler, Hans von 761 Keller, Adolf 77, 415, 538 Keller, Christian 309 Keller, (Hermann) 510 Kemper, Gerrit 667 Kern, Helmut 741, 743, 748 Kerrl, Hanns 196, 237, 274, 336, 407, 418, 431, 530, 597 Kierkegaard, Sören 553 Kiesinger, Kurt Georg 516, 692, 709 Kind, Carl 150 Kirschbaum, Charlotte von 354, 360, 364, 367, 372, 397, 414, 417, 430, 435f., 438, 445, 454, 530, 599, 617, 631, 633f., 641f. Kittel, Gerhard 350 Kittel, Gisela 762 Klappert, Bertold 732, 749f., 753, 787 Klatt, Senta-Maria 452f. Kliefoth, Theodor 253 Klocke, Friedrich von 338 Klompmaker, Arend 309, 810 Kloppenburg, Heinz 420 Kloster, Johann (Großvater) 32 Klostermann, Götz 752 Kneser, Hans-Otto 639 Knoch, Habbo 672 Knoch, Lothar 672f. Knox, John 174 Koch, Karl 196, 336, 430, 456, 459, 461, 466f., 558 Koch, Werner 351, 386, 417, 590, 592f., 644 Kochs, Ernst 70f., 149–155, 167, 388 Köberle, Adolf 353f. Koecher, Johann Christoph 281 Köhler, Walther 73, 132 Kohl, Helmut 204, 740, 757, 769 Kohlbrügge, Hermann Friedrich 23, 49, 96, 233f., 286, 319, 384, 395f., 408, 542, 591, 594, 603, 618, 777 Kohlmeyer, Ernst 365 Kolfhaus, Wilhelm 23, 46, 53, 57, 80, 98, 103–105, 159–161, 191, 351, 491, 547 Kolthoff, Egbert 292 Koopmann, Otto 235f., 240, 269, 271, 275, 372f., 378f., 406f., 491

Namensregister Koops, Gerhard Wilhelm 273f. Koppelmann, Johann 249 Korn, Käthe, s. Halaski, Käthe Koselleck, Reinhart 774 Kossmann, Ingrid, s. Kraus, Ingrid Krafft, Hermann 68 Kramer, Adolf 236, 240, 405, 407, 491, 600 Kraus, Ernst 206 Kraus, Hans-Joachim 171f., 201f., 205– 211, 520f., 523f., 526, 581, 725– 727, 729f., 732f., 741, 743f., 746f., 752f., 759, 762f., 768, 787, 817 Kraus, Ingrid 210 Kreck, Walter 201, 211, 302, 352, 523, 603, 695, 730, 732f., 753, 787 Kretschmann, Winfried 816 Kriener, Gustav-Adolf 779 Krimm, Herbert 690, 693 Krötke, Wolf 303, 495 Krüger, Gerhard 555 Krum, Horsta 208, 728, 731f., 747, 750, 769 Krummacher, Friedrich Adolf 777 Krummacher, Friedrich Wilhelm 777 Krumwiede, Hans-Walter 245, 275 Küng, Hans 702 Künneth, Walter 368, 488 Kuhn, Gerda 748 Kuhn, Thomas K. 46, 819 Kunath, Siegward 713 Kunter, Katharina 6, 729, 734 Kutter, Hermann 720 Kuyper, Abraham 58, 65f., 289, 391, 499, 557, 594, 796 Laan, van der (Ehepaar) 348 Lahusen, Friedrich 99 Lang, August 44, 46, 51–56, 58, 60f., 64, 67, 70–73, 75, 79–81, 85, 88f., 96–98, 102f., 105, 108, 110, 119f., 122, 132, 156, 163–167, 171f., 181– 188, 190f., 194, 233, 281, 289f., 296–298, 333, 359, 364, 366, 442, 591, 804 Lang, Elisabeth 182f. Lang, Theodor 61, 70, 77, 87, 96, 102, 105, 112f., 121, 137, 157, 159, 162, 170, 179, 181, 189f. Lange, Ernst 433 Langenohl, Wilhelm August 23, 202, 290, 439f., 491, 588f., 591, 603, 685 Langhoff, Heinz 498

833 Larfeld, Elisabeth, s. Bauer, Elisabeth Larfeld, Wilhelm 334 Lasco, Johannes a 74, 153, 213, 575 Latzel, Thorsten 307, 805 Laube, Stefan 46 Lauffs, Adolf 158, 206 Ledeboer, Johanne Friederike, s. Voget, Johanne Friederike Leers, Johann von 338 Lehmann, Hartmut 774 Lekebusch, Sigrid 36, 91, 345, 347, 382, 440, 469, 486 Lessing, Eckhard 430, 530, 536, 547 Leyen, Ursula von der 813 Lieb, Fritz 363 Lienhard, Friedrich 348 Lilje, Hanns 368, 495, 501, 524, 570 Link, Christian 413 Linz, Dieter 510 Lobstein, Paul 67 Locher, Benjamin 360, 416, 633 Locher, Gottfried 113, 116 Locher, Benjamin 487 Löhe, Wilhelm 658f. Lohff, Dietrich 810 Lohmeyer, Werner 712 Lohse, Eduard 756, 761 Lokies, Hans 634 Loofs, Amalie 357 Loofs, Friedrich 67, 357 Löwe, Hartmut 761 Ludendorff, Erich 110, 115 Ludendorff, Mathilde 320, 393, 398, 404 Ludwig XIV. 461 Ludwig, Hartmut 446 Lübke, Heinrich 516, 709 Lüpsen, Focko 568f. Lütge, Benjamin 89f., 96 Luther, Martin 26, 62, 68, 81, 105f., 111, 119, 121, 124–170, 176, 185, 331, 363, 463, 636, 796 Mackensen von Astfeld, Stephanie 452, 458 Maire, Siegfried le 70 Marahrens, August 395, 407, 419, 423, 441, 461, 473, 627 Maron, Gottfried 133, 136 Marquardt, Friedrich Wilhelm 520 Maser, Peter 369 Mau, Rudolf 471 Mecke, Marie Christine, s. Müller, Marie Christine

834 Meder, Helias 124, 150, 247, 250, 285 Mehlhausen, Joachim 26, 268, 406, 433, 470 Mehnert, Gottfried 129, 169f. Meier, Kurt 345, 435, 469 Meili, Gerold 309 Meiners, Eduard 285 Meinhoff, Ulrike 521 Meinzolt, Hans 465 Meiser, Hans 375, 395, 423, 441, 464, 466, 627 Mejer, Otto 253f. Melanchthon, Philipp 68, 72, 131, 155, 164f., 341, 682, 799f., 815 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 782 Menk, Gerhard 262 Mensing, Björn 641 Mensing, Karl 477, 484f., 493 Metz, Wulf 307, 703, 805 Meyenschein, (Adam) 159 Meyer, Wilhelm Gustav Adolf 290f., 304 Michel, Otto 365, 368f. Middendorff, Friedrich 71, 237f., 276, 346, 380, 385–387, 395, 399, 406f., 410, 423, 443, 470, 586, 598, 612, 617, 619, 629, 698 Middendorff, Justus Heinrich 71 Miskotte, Kornelis Heiko 781, 783 Mochalski, Herbert 606f. Möller, Ulrich 748, 752 Mörchen, Hilde 370, 420, 422 Mörchen, Siegfried 370, 420 Mohr, Rudolf 99 Moltmann (-Wendel), Elisabeth 493 Moltmann, Jürgen 30, 509, 515, 519, 544f., 548, 618, 636, 639, 672, 711, 722, 726, 738, 753, 773, 786 Mondrian, Piet 797 Mozart, Wolfgang Amadeus 554, 781 Mühlhausen, Adam Rudolf 167 Mühling, Andreas 816 Müller, Ernst Friedrich Karl 23, 50f., 53, 57, 77, 80f., 85, 100, 105, 167, 176f., 179, 189, 260, 804 Müller, Hermann Wilhelm 63, 70, 77, 92, 141, 149, 161, 212, 219–226, 230, 243, 262, 289 Müller, Johann Christian Ludwig 219 Müller, Konrad 93 Müller, Kurt 619, 637 Müller, Ludwig 190, 192, 364–366, 370–373, 381, 388, 394, 440 Müller, Marie Christine 219

Namensregister Muth, Christian

46

Nannen, Henri 500 Naudé, Piet J. 311 Neander, August 173 Nes, Albert Louis van 249 Neufville, Eduard de 99 Neuhaus, Dietrich 208, 523 Neuser, Wilhelm 162, 197, 293, 431, 433, 477, 531, 553, 576, 613 Neuser, Wilhelm H. 201, 307, 703 Nevin, John W. 288 Niebergall, Friedrich 290 Niebuhr, Reinhold 494 Niemöller, Heinrich 464 Niemöller, Martin 196, 370f., 423, 434, 443–445, 447–449, 455, 457, 459, 461, 464f., 467–470, 484, 491, 495, 497, 502, 505f., 572, 584, 627, 635, 696 Niemöller, Wilhelm 345, 464 Niesel, Susanna 196, 201, 430, 434, 455–468, 484, 522, 525, 530, 545, 564, 584 Niesel, Wilhelm 30–32, 34, 44, 81, 171f., 188, 192–201, 203, 211, 282, 298, 301, 304f., 307, 366, 392, 408, 410, 413, 427–451, 456f., 471, 476f., 479–549, 552, 554, 557, 563f., 571, 573f., 583f., 595, 597, 599, 603, 613– 615, 682, 684, 688–690, 694–697, 699, 709–713, 718, 720–724, 726– 728, 738, 757, 778f., 786 Nitzsch, Karl Immanuel 219 Noelle-Neumann, Elisabeth 721 Nora, Pierre 775 Nordbeck, Arnold Wilhelm 141f., 231f. Nordbeck, Gesine 231 Norden, Günther van 345, 710 Nordholt, Gerhard 204, 234, 278, 508, 522, 587, 601f., 684, 698f., 703f., 709, 738, 760f. Noth, Martin 207 Obendiek, Enno 522 Obendiek, Harmannus 23, 188, 298, 396, 408, 474, 476f., 483, 485, 595, 603, 609, 779 Odin, Karl-Alfred 755, 757 Ohnesorg, Benno 713 Olevian, Caspar 305, 701, 820

Namensregister Oltmann, Heinrich 237, 270, 272, 274–276, 315, 317, 320f., 379f., 388, 395, 404, 406f., 603 Oltmann, Taletta 322 Opitz, Peter 814 Osterloh, Edo 433 Ott, Hilde, s. Mörchen, Hilde Otte, Hans 5, 245 Otten, Georg 413f. Otten, Heidine 347 Otten, Heinz (Heinrich-Ludwig) 30, 271, 274, 345–426, 590, 593, 595, 597f., 633 Otten, Jan 347f. Otten, Luise 414, 417 Otten, Marie-Luise 349–352, 376, 382, 397, 400f., 407, 413, 422, 425 Pareus, David 304 Park, William 97 Paul, Jonathan 318f. Pavel, Erna 666 Perret, Edmont 519 Péry, André 698 Petersen, Ines 347 Pfannschmidt, Friedrich Johann(es) (Fritz) 455 Pfannschmidt, Susanna, s. Niesel, Susanna Piepenbring, C. 70 Plasger, Georg 46, 240, 304, 809 Poets, Konrad 676 Pohlmann, Hermine, s. Iderhoff, Hermine Poullain, Valérand 334f. Pradervand, Marcel 97, 434, 514f., 519, 533, 692, 695, 710, 714, 724 Pressel, Wilhelm 129 Quervain, Alfred de 394, 408, 440 Quisdorp, Heinrich 733 Rad, Gerhard von 206f. Rade, Martin 60, 69, 83, 93, 169 Ragaz, Leonhard 159 Rahner, Johanna 703 Rau, Johannes 206, 716–718, 794 Rauhaus, Alfred 307, 805 Reagan, Ronald 740, 748 Rehmke, Johannes 362 Reichel, Gerhard 67 Reichel, Hanna 268, 820 Reimers, Hermann 152 Reister-Ulrichs, Martina 6 Rendtorff, Trutz 761

835 Rethmeier, Friedrich-Wilhelm (Willi) 375, 407, 423, 590, 592, 597f. Reuter, Jürgen 51 Reuter, Quirinius 304 Ridder, Harm 209, 730 Riedlin, Erich 150, 271 Riemeck, Renate 638 Riggenbach, Bernhard 314 Riggenbach, Eduard 85 Risius, Egbert 413 Ritschl, Albrecht 174 Ritschl, Dietrich 41f. Ritschl, Otto 400 Robinson, John A.T. 703 Rodenhauser (Pastor) 59, 71 Röhm, Eberhard 635 Roosevelt, Theodore 56 Rosenberg, Alfred 237, 320, 393, 398, 404, 422, 596 Rosenboom, Anton 148, 389f. Rothfels, Hans 32f., 125, 129 Rotscheidt, Wilhelm 57, 59, 107 Rothstein, Wilhelm 63, 85 Rundnagel, Erwin 338 Sack, Karl Heinrich 252f. Sammetreuther, Julius 396 Sasse, Hermann 535 Sasse, Martin 467, 472 Sauerländer, Karl 63 Schaer, Hinriette, s. Bartels, Hinriette Schaff, Philipp 288 Scharf, Kurt 449, 689, 694 Scheffer (Konsistorialdirektor) 229f. Scheidemann, Philipp 112 Schempp, Paul 491, 503, 637 Scherffig, Wolfgang 625 Schian, Martin 128 Schilder, Klaas 305 Schipper, Fritz 351, 360, 407f., 417, 420, 597f., 633 Schlatter, Adolf 189, 191, 225, 350 Schleiermacher, Ernst Friedrich Daniel 96, 195, 528 Schlink, Edmund 448 Schmidt, Friedrich Wilhelm 337, 339 Schmidt, Helmut 203f., 740, 757 Schmidt, Jörg 208, 523, 807f. Schmidt, Karl Ludwig 333, 350, 358, 437f. Schmidt, Kurt Dietrich 338, 345 Schmithals, Walter 510, 725, 732, 757–759

836 Schmitt, Christoph 522 Schmitt, Wilhelm 338 Schmude, Jürgen 735 Schneider, Emil 62 Schneider, Johannes 137 Schneider, Margarethe 452 Schneider, Nikolaus 816 Schneider, Paul 293, 518 Schniewind, Julius 206, 400 Schoener, Karlheinz 696 Schöpsdau, Walter 544, 736, 764–767 Scholder, Klaus 345, 431, 435f., 467, 469 Scholl, Hans 75 Scholz, Hermann 137 Scholz, Heinrich 555, 783 Schotel, Gilles D.J. 288 Schreiber, Tobias E. 820 Schröder, Bernd 820 Schröder, Gerhard (CDU) 718 Schubert, Hans von 67 Schümer, Aenne, s. Traub, Aenne Schütte, Heinz 307, 738, 806 Schütz, Werner 341 Schütze, Peter 811 Schulz, Georg 466 Schumacher, Peter 91, 112, 234, 236, 239, 267, 276f., 279, 290, 320, 383f., 386, 391, 394f., 424, 589, 592–594, 604, 606, 627 Schumann, Friedrich Karl 362 Schurr 329 Schwanitz, Dietrich 82 Schwarz, Rudolf 57 Schwarzhaupt, Elisabeth 760 Schweitzer, Albert 638 Schweizer, Eduard 306, 697 Schwester Agathe 663 Schwester Antje, s. Swart, Antje Schwester Berta 663 Schwester Emilie 663 Schwester Erna, s. Pavel, Erna Schwester Etta 661, 670, 676 Schwester Gisela 661, 663 Schwester Luise 663 Schwester Minna 670 Senden, Hermann van 292 Servet, Michel 60, 81, 799, 822 Shaw, R. Dykes 97 Sibersma, Hero 686 Siebel, Walther Alfred 53, 56f., 70, 95 Sieffert, Friedrich 66, 183 Sieglerschmidt, (Reinhold) 159

Namensregister Siegmund-Schultze, Friedrich 98 Siller, Aleida 803, 807 Silvanus, Johannes 822 Simsa, Josef 588 Smend, Rudolf 476, 505 Smidt, Udo 206, 380, 395, 410, 504, 506, 508, 596, 599, 604, 609, 613– 615, 624, 688, 700, 709, 785 Smidt, Wolf-Udo 510 Soedarmo, Raden 310 Söderblom, Nathan 99, 130 Söhngen, Oskar 578 Soraya (von Persien) 500 Spaemann , Robert 639 Springer, Axel 565 Stalin, Josef 495 Staedtke, Joachim 490, 512, 703, 716f. Stählin, Wilhelm 332, 335, 553, 555, 576 Staemmler, Wolfgang 518, 634 Stalker, James 167 Stammler, Eberhard 507 Stapel, Wilhelm 363 Starke, Ekkehard 5 Stauffer, Ethelbert 362 Steck, Karl-Gerhard 351, 360, 416 Steen, Hermann 380–382, 408, 452, 616 Steen, Menna 452 Steffensky, Fulbert 41 Steiger, Johann Anselm 43 Stein, von (Minister 1917) 142f. Steiner, Robert 345, 491f., 503, 564f. Steinhoff (Pfarrer) 510 Steinmeier, Frank-Walter 794 Stender, Irmgard, s. Halaski, Irmgard Stengel, Edmund 338f. Sternsdorff, Jürgen 594 Stockmann 555 Stoevesandt, Hinrich 644 Stoodt, Dieter 510 Storch, Harald 743, 761 Strohm, Christoph 798, 815 Stumm, Reinhard 784 Stupperich, Robert 341 Sturm, Erdmann K. 703 Stursberg, Johannes 179 Sudhoff, Karl 262, 264, 287f., 804 Swart, Antje 650f., 656–679 Swart, Harm 656, 659f., 668, 671 Swart, Harmke 659f., 668, 671 Tacke, Helmut 508, 510, 580 Tegtmeyer, Paul 402 Tersteegen, Gerhard 546

837

Namensregister Thatcher, Margaret 740 Theißen, Gerd 812f. Thelemann, Otto 287, 804 Thielicke, Helmut 477, 715 Thienemann, Fanny, s. Cöper, Fanny Tholens, Hermann 139, 141, 224 Thomas von Aquin 356 Thompson, William P. 519 Thurneysen, Eduard 160, 186, 227, 353–355, 537 Tibbe, Johann 201 Tillich, Paul 437, 578 Titius, Arthur 148–150, 152 Tökés, László 210 Traub, Aenne 636–639 Traub, Andreas Traub, Elma 631 Traub, Hellmut 30, 351f., 360, 364, 400, 420, 438, 590, 617, 631–647, 685f. Traub, Gottfried 141, 631, 632f. Traub, Hans 633 Trillhaas, Wolfgang 359, 435 Trip, Johann Christian 249 Troeltsch, Ernst 69, 73, 77, 122, 132, 800 Tschizewskij, Dimitrij, s. Cyzevskij, Dimitrij Tuente, Rudolf 348, 384, 424f. Tuschling, Steffen 92 Twardella, Günther 309, 580 Ueberschär, Ellen 454 Uhde, Jürgen 639 Uibel, Eduard 331 Ullmann, Carl 288, 804 Ursinus, Zacharias 304, 308, 701, 814f., 820 Valtink, Eveline 748 Veen, J.E. van 742 Vesper, Will 105 Viering, Fritz 522, 709, 738 Viëtor, Jan Friesemann 348 Villaret, E. 52f. Visser’t Hooft, Willem A. 478, 635, 642 Vischer, Wilhelm 536 Vogel, Heinrich 595 Voget, Carl Octavius 30, 313–325, 378, 383f., 386, 404, 407, 603, 656 Voget, Emma Rebecka 315f. Voget, Friedrich Julius 313f. Voget, Gustav Hinrich 313

Voget, Johanne Friederike 313 Voget, Taletta 321f. Voigts, Bodo 70–72, 74, 160 Volkenborn, Hans Theodor 558f. Vollnhals, Clemens 115 Vorländer, Herwart 346 Wagner-Peterson, Boris 820 Wallraff, Martin 43 Walter, Fritz 206 Walther, Wilhelm 136 Watanabe, Nobuo 525 Weber, Hans Emil 336 Weber, Hartwig 82 Weber, Max 800 Weber, Otto 58, 190f., 195, 198, 202, 207, 235, 237, 294, 336, 364, 366, 375, 401, 418f., 429, 439–441, 471– 475, 477, 482, 484, 494f., 498f., 504– 506, 529, 548, 567, 570, 588f., 593f., 603, 614, 618f., 625, 690, 692f., 695, 699–703, 711, 724, 743, 782, 795 Weerda, Jan Remmers 271, 321, 389, 606 Weerth, Ferdinand 285 Wehler, Hans-Ulrich 782 Weidner, Ulrich 750 Weinhardt, Joachim 5 Weiß, Ulrich 481 Welker, Michael 308, 806 Wenneker, Erich 65 Wernle, Paul 58, 66 Weßel, August 62, 92f., 116, 146 Weßels, Paul 347, 405 West, Jim 810 Westermann, Claus 690 Westermann, Petrus 94, 399, 402, 404 Wever, Helma 236, 240, 345, 347, 379, 385, 387, 389, 405, 469 Weyerstall, Martin 759 Wiarda, Diddo 70 Wiarda, Friedrich 389 Wiarda, Georg Ludwig 139 Wibbeling, Wilhelm 504 Wichelhaus, Johannes 49 Wiesner, Werner 355–357, 359, 364, 370, 376 Wilhelm I. von Preußen, Kaiser 215, 258 Wilhelm II. von Preußen, Kaiser 60, 64, 71, 74, 87, 90, 115–118, 121, 135, 226, 328, 496, 557 Wilkens, Erwin 760 Willem I. von Oranien 391 Wilm, Ernst 505, 627, 696

838 Wirz, Jakob 352f. Wischnath, Rolf 209, 211, 302, 519, 726f., 731–735, 741, 743, 748–750, 753, 755, 758f., 761–764, 769 Witz-Oberlin, Karl Alphons 88 Wolf, Erik 689f., 694f., 700 Wolf, Ernst 206, 350f., 354–356, 374, 381, 400, 408, 410, 412, 415, 419– 421, 425, 575, 595, 634, 637–639 Wolf, Uvo Andreas 639 Wolff, Hans Walter 206 Woodrow Wilson, Thomas 56, 103, 111, 114 Wurm, Theophil 238, 407, 423, 436, 443f., 446–449, 464, 473f., 489, 627 Wurth, Klaus 328

Namensregister Yorck von Wartenburg, Paul Graf 433 Yorck von Wartenburg, Peter Graf 433 Zahn, Adolph 49f., 65, 86, 257, 288, 290, 594 Zehner, Sophie 329 Zeindler, Matthias 770 Zillessen, Otto 259 Zocher, Peter 781 Zöllner, Wilhelm 142, 437, 439f. Züchner, Hermann 389, 402–404, 423, 604f., 658, 664 Zweig, Stefan 81, 799 Zwingli, Ulrich 50, 62, 75, 106, 119, 124–170, 176 Zwitzers, Heinrich 389–391