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German Pages 347 [350] Year 2015
Liberalismus im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Jörn Leonhard Geschichte Franz Steiner Verlag
Stiftung BundespräsidentTheodor-HeussHaus
Liberalismus im 20. Jahrhundert
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe Band 12
Liberalismus im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Jörn Leonhard
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11072-3 (Print) ISBN 978-3-515-11074-7 (E-Book)
INHALT Vorwort...........................................................................................................9 Einleitung Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie.......................................................................13 Das Erbe des 19. Jahrhunderts und der Umbruch des Ersten Weltkriegs Andreas Wirsching Gehören Markt und Moral zusammen? Über ein historisches Dilemma des Liberalismus.........................................35 Michael Freeden Social Liberalism in European Perspective since the late Nineteenth Century.......................................................................................55 Jörn Leonhard Krieg und Krise. Der Liberalismus 1914–1918 im internationalen Vergleich.........................................................................69 Bürgerliche Moderne und das Zeitalter der Extreme – Die Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit Philipp Müller Kapitalismus der Vermittlung. Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg..................................................97 Tim B. Müller Die Geburt des Sozial-Liberalismus aus dem Geist der Verwaltung. Zur Erfindung der modernen Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik...........................................................................127
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Inhalt
Marcus Llanque Der Weimarer Linksliberalismus und das Problem politischer Verbindlichkeit. Volksgemeinschaft, demokratische Nation und Staatsgesinnung bei Theodor Heuss, Hugo Preuß und Friedrich Meinecke..............................................................................157 Maurizio Vaudagna Understanding Freedoms: American Liberalisms in the Age of Franklin D. Roosevelt.............................................................................183 Gemeinschaftsideen, Konsensideologie und Wohlfahrtsstaat – Erneuerung des Liberalismus von den 1940er bis zu den 1960er Jahren? Anselm Doering-Manteuffel Antifaschismus und Emigration – Transfers und Verflechtungen im beginnenden Ost-West-Konflikt............................................................203 Jens Hacke Die Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus? Überlegungen zum Erbe Weimars und zu liberalen Legitimitätsressourcen................................................................................219 Jeppe Nevers / Niklas Olsen Liberalism and the Welfare State. The Danish Case in a European Perspective...........................................................................239 Liberalismus, Neoliberalismus und Neokonservatismus von der Krise der 1970er Jahre bis zur Wall Street-Krise 2008 Dominik Geppert Konservative Revolutionen? Thatcher, Reagan und das Feindbild des consensus liberalism.............................................................................271 Giovanni Orsina The rebellion of civil society. Liberalism and populism in Berlusconi’s Italy....................................................................................291 Maciej Janowski Polish (and Central European) liberalism: A “Continental” or an “Anglo-Saxon” model?......................................................................313
Inhalt
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Schlusskommentar Lutz Raphael...............................................................................................333 Die Autoren des Bandes..............................................................................341 Personenregister..........................................................................................343
VORWORT Mit diesem Band legen wir die Erträge des Theodor-Heuss-Kolloquiums „Liberalismus im 20. Jahrhundert“ vor, das von der Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus organisiert wurde und vom 10. bis 12. April 2013 in der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung Esslingen stattfand. Die Idee zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Liberalismus im 20. Jahrhundert geht auf die stimulierenden Diskussionen im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung zurück, wo wir immer wieder über das Problem sprachen, dass das 20. Jahrhundert alles andere als ein Jahrhundert des Liberalismus war und dennoch ohne die Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert nicht verstanden werden könne. Allen Kolleginnen und Kollegen möchten wir an dieser Stelle für Anregungen und Kritik herzlich danken. Im Ergebnis sollte die Konferenz die Chance einer internationalen Öffnung und einer vergleichenden Perspektive ausloten. Mit vielen Kollegen und Kolleginnen aus anderen europäischen Staaten erlebten wir eine außergewöhnlich anregende Tagung. Dank der international hochkarätigen Besetzung haben die intensiven Diskussionen im besten Sinne als konstruktive Verfremdung gewirkt. Wir erkannten die Vielfalt der Erscheinungsformen von Liberalismus durch Fallstudien zu verschiedenen Ländern und verschiedenen Epochen. Phasenweise wurde das Tagungsgespräch von Fragen beherrscht, die für alle Beteiligten verblüffend neu und verblüffend anders waren. Der Blick auf die eigene Forschung veränderte sich, und davon haben alle profitiert. Wir erhoffen uns von den nunmehr ausgearbeitet vorliegenden Beiträgen, dass sie neue Forschung anregen werden und diese viel von der erweiterten Perspektive und dem internationalen Austausch profitieren kann. Für die Realisierung unseres Projekts haben wir vielfachen Dank zu sagen: dem Geschäftsführer der Stiftung, Herrn Dr. Thomas Hertfelder, für die gewohnt professionelle Mischung aus perfekter Organisation und inhaltlicher Begleitung, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung für vielfältige praktische Hilfen, sowie Herrn Dr. Kristian Buchna und Frau Katharina Reitz für die umsichtige und sorgfältige Redaktion des Bandes. Besonders möchten wir uns bei der Würth-Gruppe sowie Herrn Armin Knauer für die sehr großzügige Förderung bedanken, ohne die weder eine große internationale Tagung noch der vorliegende Band in dieser Form möglich gewesen wären. Tübingen und Freiburg, im April 2015 Anselm Doering-Manteuffel und Jörn Leonhard
Einleitung
LIBERALISMUS IM 20. JAHRHUNDERT – AUFRISS EINER HISTORISCHEN PHÄNOMENOLOGIE Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard Auf dem Gründungstreffen der „Freien Demokratischen Partei“ im Dezember 1948 stellte Theodor Heuss die Frage, ob sich das Etikett „liberal“ noch zur Benennung einer Partei eigne, die nach ihrem Selbstverständnis in der historischen Tradition des Liberalismus stehe. Die Namenswahl „Freie Demokratische Partei“ drückte, so Theodor Heuss, den verbreiteten Zweifel daran aus, „ob das Wort ‚Liberalismus‘, in dem ein Stück geschichtlichen Erlebens des 19. Jahrhunderts steckt, noch und wieder fruchtbar werden kann, oder ob es diese Gegenwart vielleicht belastet mit der Erinnerung an die Zeit, da ein Teil der ‚Liberalen‘ im Kampf gegen Kirchlichkeit sich übte, oder an die Epoche, da von dem ‚Manchestertum‘ kein Weg zu einer eigenmächtigen Sozialpolitik führte“.1 Bezog sich die Skepsis des 1884 geborenen Heuss auf die besonderen Erfahrungen und Belastungen des deutschen Liberalismus im späten 19. Jahrhundert, die einen langen Schatten im 20. Jahrhundert warfen, so ging Thomas Mann zwei Jahre später in seiner Kritik am Begriff des „Liberalen“ noch weiter. Die Selbstbezeichnung hielt er im Angesicht der Erfahrung des Nationalsozialismus nun für überholt. Das Gebot der Stunde sei eine Neudefinition der demokratischen Postulate von Freiheit und Gleichheit, die vor allem die Gleichheit als „die herrschende Idee der Epoche“ anzuerkennen habe. Der bürgerlich-liberalen Emanzipation, die das Kennzeichen des 19. Jahrhunderts gewesen sei, müsse nunmehr eine soziale Emanzipation jenseits des Totalitarismus folgen. Auf diese Herausforderung aber schien der überkommene Begriff nicht mehr zu passen. Die „bürgerliche Revolution“, so Mann, müsse sich vielmehr „ins Ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden. Jeder weiß das im Grunde, und wenn Goethe gegen das Ende seines Lebens erklärte, jeder vernünftige Mensch sei doch ein gemä1
Theodor Heuss: Rede auf dem Gründungstreffen der FDP vom 10./11. Dezember 1948, zitiert in: Bundesvorstand der Freien Demokratischen Partei (Hg.): Zeugnisse liberaler Politik. 25 Jahre F. D. P., Bonn 1973, S. 13ff; vgl. Heino Kaack: Zur Geschichte und Programmatik der Freien Demokratischen Partei, Meisenheim 31979, S. 12; vgl. Jörn Leonhard: Semantische Deplazierung und Entwertung – Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 29/1 (2003), S. 5–39.
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ßigter Liberaler, so heißt das Wort heute: Jeder vernünftige Mensch ist ein gemäßigter Sozialist“.2 Ganz anders stellte sich die Einschätzung eines Zeitgenossen mehr als sechzig Jahre später dar. Kurz vor seinem Tod 2010 reflektierte der britische Historiker Tony Judt über die Erbschaften des 20. Jahrhunderts und seiner bestimmenden Ideologien, also des Kommunismus, des Faschismus und des Liberalismus. Judts eigene Biographie bildete die Katastrophen und Umbrüche des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch ab. Verwandte von ihm waren in Auschwitz ermordet worden, sein Vater war ein Anhänger des Kommunismus gewesen, während sein Sohn lange Zeit die Kibbuz-Bewegung in Israel unterstützt hatte. Tony Judts eigene Sozialisierung umfasste ebenso den Mai 1968 in Paris wie den zunächst unaufhaltsam wirkenden Triumph der neuen Politikergeneration um Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den 1980er Jahren mit ihrem Credo der notwendigen Befreiung der Marktkräfte und reichte bis zum Kollaps der kommunistischen Regime zwischen 1989 und 1991 und dem Ende des Kalten Krieges.3 In der Interviewserie identifizierte Judt zwei Leitmotive in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nur auf den ersten Blick paradox wirken. Auf der einen Seite betonte er die Erfahrung von Gewalt im Namen ideologischer Extreme, die zu Massenphänomenen geworden waren. Auf der anderen Seite hob er die Fähigkeit von Liberalismus und Kapitalismus in diesem Zeitalter der Gewalt hervor, eine Krise nach der anderen zu überleben. Das immer wieder verkündete Ende des Liberalismus jedenfalls stand und steht im Gegensatz zu einer ausgesprochenen Resilienz, einer Fähigkeit zur Regeneration und Anpassung an radikal veränderte politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Umstände und institutionelle Bedingungen. Judt leitete von dieser Beobachtung auch eine durchaus positive Prognose für die künftige Entwicklung ab. Beide Einschätzungen erfolgten im Rückblick auf fundamentale Umwälzungen und Krisenerfahrungen: Im Falle von Theodor Heuss und Thomas Mann waren dies die langfristigen historischen Belastungen des deutschen Liberalismus und die Erfahrung totalitärer Gewalt, des Nationalsozialismus und der Katastrophengeschichte des deutschen Nationalstaats in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im Falle Tony Judts das Ende des Kalten Krieges, der internationale Terror seit dem 11. September 2001 und die globale Finanzkrise am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das vielfach angekündigte Ende des Liberalismus keinesfalls unumstritten. 2
Thomas Mann: Meine Zeit (1950), in: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bdn., hier Bd. 11: Reden und Aufsätze, Teil 3, Frankfurt 1990, S. 302–324, hier: S. 322f. 3 Vgl. Tony Judt / Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert, München 2013.
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TRADITIONSLINIEN DES LIBERALISMUS Aus der historischen Vogelschau markiert der Liberalismus einen der wichtigsten Traditionszusammenhänge, aus denen die moderne westliche Demokratie entstanden ist. Im Kern handelt es sich um eine doppelte, eine europäische und eine transatlantische Traditionslinie. In der klassischen Ideengeschichte wird in diesem Zusammenhang der historische Kampf um Institutionen wie den gewaltenteiligen Verfassungs- und Rechtsstaat sowie die parlamentarische Demokratie westlichen Typs aufgeführt. Wer sich auf diese Perspektive einlässt, wandert häufig auf den Höhenkämmen der Geistesgeschichte und politischen Theorie von Hobbes, Montesquieu und Locke bis zu Rousseau und Kant. Daraus entsteht in retrospektiver Sicht eine zugleich epochale wie universell bestimmbare Ideengröße, der sich ein scheinbar verbindlicher Kanon politischer, sozialer oder ökonomischer Wertvorstellungen, eben ein europäischer Liberalismus, zuordnen lässt. Der Umstand, dass dessen Ursprünge in dieser Sicht vor die transatlantisch-europäische Doppelrevolution 1776/1789 und jedenfalls vor die eigentliche Entstehung des politischen Begriffs „Liberalismus“ fallen, erklärt die Vielzahl liberaler Urväter und Geburtsstunden von Sokrates bis Max Weber. Vor dem Hintergrund einer solchen ideengeschichtlichen Kanonisierung geriet der Liberalismus zum Geburtshelfer der Modernisierung unter bürgerlichen Vorzeichen: Menschen- und Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Parlamente, Verfassungen, Gewerbefreiheit und Freihandel sind seine Synonyme, und die Geschichte des Liberalismus verwandelt sich in eine geradlinige Vorgeschichte der jeweiligen Gegenwart.4 Aus dieser hier nur angedeuteten Perspektive ließ sich eine Erfolgsgeschichte des liberalen Ideenvorrats produzieren, ein Narrativ mit Pionieren und Helden im Westen Europas und in Nordamerika sowie Nachzüglern und Verlierern der Geschichte in Mittel- und Osteuropa. Die Doppelrevolution der Vereinigten Staaten und Frankreichs 1776 und 1789 erschien als Auftakt eines Jahrhunderts des Liberalismus und des bürgerlichen Fortschritts, dessen Erbe dann im 20. Jahrhundert vielfachen Krisen und Neuformulierungen ausgesetzt werden sollte. Vor allem Großbritannien wurde zum liberalen Modell ebenso erfolgreicher wie gewaltloser Reformen, historiographisch flankiert von der Whig interpretation of history als eindimensionale Erfolgsgeschichte, in der ökonomische und politisch-konstitutionelle Modernisierung stets parallel verliefen. Aus dieser Sicht konnte der mittel- und osteuropäische Liberalismus nur als Niedergangsgeschichte begriffen werden, der im 20. Jahrhundert aus Europa den „dunklen Kontinent“ werden ließ.5 4 Vgl. Jörn Leonhard: Erlösungshoffnungen und Abgesänge. Liberalismus und Liberalismen in Europa, in: Gerhard Schwarz / Uwe Justus Wenzel (Hg.): Lust und Last des Liberalismus. Philosophische und ökonomische Perspektiven, Zürich 2006, S. 51– 58. 5 Vgl. Mark Mazower: Der dunkle Kontinent: Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000
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Der sogenannte Sonderweg Deutschlands, seine Anfälligkeit gegenüber der totalitären Herausforderung, schien die historisch notwendige Folge eines schwachen Liberalismus zu sein, der seine Ideale dem Machtstaat Bismarcks geopfert habe. Wer die Entwicklung des Liberalismus in Deutschland betrachtete, geriet auf die abschüssige Bahn einer bloßen Defizitgeschichte des Bürgertums. Dahinter verbarg sich das Denken vom historischen Ergebnis her, die Geschichte reduzierte sich zur bloßen Vorgeschichte der Gegenwart. Angesichts der Erfahrungen der totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert und des Ost-West-Konflikts nach 1945 ließen sich solche Vorstellungen zur Wertressource einer angloamerikanischen Liberal Tradition oder gar „des Westens“ verdichten. Nicht zufällig griffen und greifen solche Deutungen auf eine historisch-philosophische Phänomenologie zurück, um dem postulierten Wertgerüst des Westens historische Legitimationskraft zu verleihen. So trug das Konstrukt eines europäisch-transatlantischen Liberalismus nicht nur wesentlich zum Selbstverständnis der modernen westlichen Demokratien bei, von ihm erwartete man nach den Umwälzungen von 1989/91 auch eine Anziehungskraft als scheinbar universell übertragbares Modell. Und auch in den Krisen der Gegenwart verstärkt sich noch einmal die Suche nach den „liberalen Werten“ des Westens. LIBERALISMUS UND BÜRGERTUM Schon im 19. Jahrhundert war die Geschichte des Liberalismus stets mehr als die Geschichte liberaler politischer Parteien. Ging es in diesem Jahrhundert immer wieder um die Spannung zwischen Individuum und Partei und zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Öffentlichkeit, so unterstreicht auch der Blick auf das 20. Jahrhundert, dass Liberalismusgeschichte nur zu verstehen ist als Gesellschaftsgeschichte bzw. als eine Gesellschaftsgeschichte handlungssteuernder Ordnungsvorstellungen. Die Frage, welches soziale Milieu, welche soziale Schicht oder Klasse zu einer bestimmten Zeit liberale Werthaltungen und Institutionen in Staat und Gesellschaft getragen hat, bleibt auch für die Geschichte des 20. Jahrhunderts leitend. War es das Bürgertum, die bürgerliche Mittelschicht, und sind die Vorreiter der Anpassung des Liberalismus an die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen einer jeweiligen Epoche durchweg Angehörige bürgerlicher Eliten gewesen? Bis wohin gelangt man als Historiker, wenn man eine feste Verkopplung von Liberalismus und Bürgertum respektive middle classes unterstellt? Wo erfasst der Blick die Ausbreitung der Massengesellschaft durch den Ersten Weltkrieg, welche die älteren gesellschaftlichen Klassen (amerik.: 1998); zur Kritik daran siehe Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, London 2014, S. 17–30.
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und Milieus überlagerte, ohne sie aber zu beseitigen? Wo ist – in der deutschen Geschichte – der Ort des Nationalsozialismus, der ganz entschieden von Angehörigen der Mittelschicht, des Bürgertums, getragen wurde und die Massengesellschaft als „Volksgemeinschaft“ zu formen beanspruchte? Wo bleiben die Wirkungen der beiden Weltkriege und ihrer immensen Zerstörungen, durch die überkommene soziale Statuszuschreibungen infrage gestellt und egalitäre Vorstellungen von Vergemeinschaftung weiter vorangetrieben wurden, so dass Arbeiterklasse und Bürgertum im politischen Geschehen schon der 1950er Jahre nicht mehr gesellschaftspolitisch, sondern nur noch sozialkulturell zur Geltung kamen? Das Jahrhundert der ideologischen Extreme geht jedenfalls nicht allein in der Krise des Liberalismus auf. Es war vielmehr ein Jahrhundert der totalitären Diktaturen und der Neuformulierungen von Liberalismus, in denen sich in langfristiger Perspektive seine erstaunliche Regenerationskraft und Anpassungsfähigkeit zeigten.6 Dazu passt die allgemeine Beobachtung, dass der Liberalismus in seiner Geschichte niemals eine essenzialistische Ideologie war, ein unwandelbares Ideenkonstrukt, das gleichsam hermetisch aus sich selbst heraus wirkte. Stets waren es kritische Abgrenzungskämpfe gegenüber anderen Positionen, die wesentlich zur Genese anderer Ismen beitrugen und die Liberalen zwangen, Positionen zu adjustieren und neuen Herausforderungen anzupassen. Die Kritik an den Liberalen im Gefolge der Französischen Revolution schärfte die Selbstbestimmung des modernen Konservatismus, die Auseinandersetzung um den politischen und sozialen Gehalt des Fortschrittsbegriffs prägte die Abgrenzungen zwischen Liberalismus, Radikalismus und Sozialismus seit den 1840er Jahren. Diese Konstellation der fortdauernden Deutungskämpfe war eine wichtige Voraussetzung für die von Tony Judt identifizierte „adaptability“ des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Sie hatte nicht allein mit den kriegerischen Konflikten, den unversöhnlichen Antagonismen zu tun, sondern auch mit den vielfältigen Formen der Interaktion zwischen den Extremen. Dieser scheinbare Widerspruch beschreibt die historische Komplexität, der wir uns zu stellen haben.
6 Vgl. Karl J. Newman: Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie. Europa 1918–1938, Köln 1965; Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; vgl. dazu Anselm Doering-Manteuffel: Das schwarze Jahrhundert und sein „Goldenes Zeitalter“. Eric Hobsbawms Deutung der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 365– 377.
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DER LIBERALISMUS UND DIE KRIEGE DES 20. JAHRHUNDERTS Das 20. Jahrhundert war geprägt von drei großen Kriegen, die nicht nur militärisch, wirtschaftlich und politisch ausgetragen wurden, sondern die sich auch beschreiben lassen als Kampf um die Durchsetzung eines bestimmten Ordnungssystems. Das waren der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg.7 Die Geschichte der Kriege beherrscht und gliedert zugleich die Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert, mindestens bis 1989/91. Alle drei Kriege, so könnte man im Sinne des eingangs skizzierten Erfolgsnarrativs argumentieren, wurden von den westeuropäischen und nordamerikanischen Demokratien gewonnen. Alle drei Siege wurden damit auch zu Augenblicken des Triumphes des angloatlantischen Liberalismus in seiner scheinbar gelungenen Synchronisierung von politischer Freiheitssicherung und ökonomischem Erfolg. Es ist diese Variante des Liberalismus der Mittelschichten, die für das 20. Jahrhundert entscheidend geworden ist. Die angloatlantische Form des Liberalismus umschließt die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen in der Marktgesellschaft, staatsbürgerliche Selbstbestimmung und die politische Freiheit in der parlamentarischen Demokratie sowie die Gleichheit aller Staatsbürger im Rahmen des Rechtsstaats. In den drei Kriegen ist das angloatlantische liberale System existentiell herausgefordert worden: zuerst von den undemokratischen mitteleuropäischen Militärmonarchien mit korporativ organisierten Wirtschaftsstrukturen im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn; dann von den faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen, die angetreten waren, um Freiheit und Selbstbestimmung nach liberalem Verständnis auszulöschen und die Rationalität des liberalen Ordnungsdenkens durch ein antirationales System vitalistischer Herrschaft der Starken über die Schwachen und durch eine mythische Ordnung von „ewiger“ oder „tausendjähriger“ Dauer zu ersetzen; schließlich von den Diktaturen des Ostblocks nach 1945, die unter der Führung der Sowjetunion angetreten waren, um die Wirtschafts- und Gesellschaftsfreiheit im westlichen Lager zu bekämpfen und sie durch ein staatssozialistisches Programm der allumfassenden Gleichheit zu ersetzen. In allen drei Konflikten spielten die ökonomische Leistungsfähigkeit, die Dynamik der Industriesysteme, aber eben auch die Behauptung der parlamentarischen Institutionen als Kontrollinstanzen gegenüber allzu mächtigen Wirtschaftsinteressen, der Expansion der Staatsexekutiven in Kriegszeiten und der Macht des Militärs eine entscheidende Rolle. In allen drei Konflikten wurden die marktwirtschaftliche Form, politisch-parlamentarische Institutionen und das sozialkulturelle Kapital des Liberalismus bestätigt. Aber zugleich veränderten sich Gehalt und Gestalt des Liberalismus 7 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 321–348.
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durch alle drei Konflikte. Diese Wandlungen des Liberalismus im 20. Jahrhundert untersuchen die Beiträge in diesem Band. Wir beginnen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als der Liberalismus noch nahezu ausschließlich in der Mittelschicht verankert war – sowohl in den USA als auch in Großbritannien und Kontinentaleuropa.8 Nach den europäischen Revolutionen 1848/49 und der sukzessiven Durchsetzung wichtiger Kernziele der Liberalen – etwa eine geschriebene Verfassung mit dem Ziel einer parlamentarischen Regierungsweise, bürgerliche Rechtsgleichheit und die schrittweise Ausweitung politischer Partizipation – ergaben sich neue Herausforderungen vor allem durch die nationale, die imperiale und schließlich durch die soziale Frage, und das hieß um 1900 die Frage nach der Integration der Industriearbeiter in den imperialisierenden Nationalstaat. Die um diese Zeit auflebende Diskussion um den sozialen Liberalismus als Brücke zwischen bürgerlichem Liberalismus und gemäßigten Sozialisten war jedenfalls, wie nicht nur Friedrich Naumann in Deutschland bewies, durchaus offen für den Zusammenhang zwischen sozialer Reformpolitik und Weltmachtanspruch.9 Zugleich veränderten sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Bedingungen der politischen Vermittlung in der Praxis. Vor dem Hintergrund neuer Massenmärkte, die von zunehmend professionell organisierten Parteien und Interessengruppen bestimmt wurden, und angesichts einer beschleunigten Medialisierung der Politik kam das liberale Ideal des für die Politik lebenden Individuums, das jedenfalls nicht einer Partei mit professionellen Funktionären bedurfte, unter wachsenden Druck. Weil den liberalen Parteien aber zumeist klassische Kennzeichen von Milieuparteien wie den Arbeiterparteien oder dem katholischen Zentrum fehlten, bedeutete die Diskussion um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts als Horizontlinie eine besondere Herausforderung für die Liberalen. Sie verstärkte zudem die Frage nach den Bedeutungsdimensionen der Gleichheit als bereits von Alexis de Tocqueville identifizierte Tendenz des demokratischen Zeitalters der Massen. All diese Erbschaften wurden durch den Ersten Weltkrieg tiefgreifend verändert. Er stellte überkommene politische Ordnungskonzepte infrage und wirkte auch dadurch als Katalysator beim Durchbruch der Massendemokratie. 8 Vgl. Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001; James T. Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870–1920, New York 1986; Michael Freeden: The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983. 9 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: „Soziale Demokratie“ als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert, in: Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 313–333; Jörn Leonhard: Progressive Politics and the Dilemma of Reform: German and American Liberalism in Comparison, 1880–1920, in: Maurizio Vaudagna (Hg.): The Place of Europe in American History: Twentieth Century Perspectives, Turin 2007, S. 115–132.
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Aber was an die Stelle der hergebrachten Konzepte treten sollte, war nach 1918 zunächst weniger eindeutig als es sich irgendwann aus der Retrospektive erschloss. Zur Unübersichtlichkeit nach dem Krieg gehörte daher eine spannungs- und konfliktreiche Konkurrenz neuer Utopien, wie sich vor allem seit 1917 zeigte. Vor diesem Hintergrund geriet der Liberalismus als Substrat des langen 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Gesellschaften in eine ideologische und politische Defensive. Denn gerade Liberale hatten im Ersten Weltkrieg die Konsequenzen von Inklusion und Exklusion im Namen von Zugehörigkeit und Loyalität erfahren, die Folgen der Herrschaft des Verdachts, der kriegsstaatlichen Kontrolle, der Überwachung, des Zwangs. Der Krieg erwies jedenfalls die engen Grenzen der pluralen Gesellschaftsvorstellungen und die Verletzlichkeit der Privatsphäre des Individuums. Sehr schnell und relativ leicht ließen sich seit dem Sommer 1914 über Jahrzehnte erkämpfte Grundrechte im Rahmen von Kriegsregimes und Notstandsordnungen suspendieren – nicht nur in den Gesellschaften der Mittelmächte, sondern auch in Frankreich, Großbritannien und den USA. LIBERALISMUS UND DEMOKRATIE, DEMOKRATIE UND ANTILIBERALISMUS Zur Erfahrung des Krieges gehörte für die Liberalen auch die radikale Delegitimierung von Dynastien und Monarchien, von multiethnischen Großreichen, die seit 1917 in einen neuartigen Zusammenhang von Krieg und Revolution mündete. Zugleich aber wurde seit 1916 die Idee der Demokratie neu definiert. In der politischen Vision des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zeichneten sich die Umrisse der atlantischen Ordnung von „Freiheit“ und „Demokratie“ ab, die sich in den 1920er und 1930er Jahren zwar erst ansatzweise entfalten konnte, nach 1945 dann aber im westlichen Lager des Kalten Krieges voll zur Geltung kam. Die zeithistorische Forschung stellt diese „Lebensversuche moderner Demokratien“ inzwischen mit Nachdruck heraus, weil sie das bisherige Bild des „verlassenen Tempels“ der liberalen Ordnung in zahlreichen Nationalstaaten Europas als bloße Teilwahrheit einer weitaus komplexeren Entwicklung wertet. Die Anfänge einer Erneuerung der Demokratie, die mit der Erneuerung des Liberalismus aufs engste verknüpft waren, lagen ohne Zweifel im Ersten Weltkrieg.10 Gleichwohl, vor dem Hintergrund des Krieges entstanden spezifische Frontstellungen gegen den Liberalismus als systematische ideologische Ent10 Vgl. A. Tooze, The Deluge (wie Anm. 5), S. 173–251 und S. 17ff in seiner Kritik an Mark Mazower, Kontinent (wie Anm. 5), S. 17–67, wo dieser das Bild des „verlassenen Tempels“ gebraucht. Zur Forschungsdiskussion siehe Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; Ders. / Adam Tooze (Hg.): Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.
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gegensetzung im Sinne eines ideologischen und sozialkulturellen Antiliberalismus. Dazu gehörte nicht nur in Deutschland der Fokus auf integrative Gemeinschaftsvorstellungen, organisierten Kapitalismus und Kriegssozialismus oder in Großbritannien die Wirkung von compulsion und conscription im Zeichen eines immer weiter expandierenden Kriegsstaates – überall wurde der wachsende Druck auf die Autonomie und die Freiheitsräume des Individuums deutlicher. Langfristig offenbarte der Krieg jedoch auch die Unterschiede zwischen Kriegsstaaten mit einem starken, extrakonstitutionellen und politisch nicht kontrollierten Übergewicht des Militärs wie in Deutschland und der erfolgreichen Verteidigung und Bewährung des parlamentarischen Systems in Großbritannien, den USA und Frankreich.11 Angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach 1920 hatte der Liberalismus aus der Zeit um 1900, zumal der soziale Liberalismus in Form des Progressivismus, zwar an Bedeutung verloren, aber die Rückbindung des liberalen Denkens an die bürgerliche Mittelschicht und die akademischen Eliten war erhalten geblieben. In den 1920er und 1930er Jahren sind daher nicht nur die „Lebensversuche“ der bürgerlichen Demokratie zu beobachten, sondern auch der Bedeutungsanstieg von Experten, die als Sozialingenieure akademisch-bürgerlich sozialisiert waren. Sie arbeiteten daran, die Gesellschaft neu zu organisieren, sie zu optimieren und den sozialen und technischen Fortschritt zu steuern. Das Weltbild dieser Sozialingenieure konnte liberal geprägt sein, zumeist war es sozial-liberal grundiert und in die Ordnung der bestehenden Demokratie eingepasst. Nach 1930 war es dann in einer wachsenden Zahl mitteleuropäischer Länder antiliberal ausgerichtet, sei es in einer kommunistischen oder einer faschistischen Spielart.12 Die Zwischenkriegszeit ist wahrscheinlich die wichtigste Zeitspanne in der Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Hier führte die einschneidende „Krise“ des Liberalismus, die von Eric Hobsbawm sogar zum „Untergang des Liberalismus“ übersteigert wurde,13 dazu, dass „Liberalismus“ seit 1930 fast unsichtbar wurde. Ein besonderes Kennzeichen des 20. Jahrhunderts bestand angesichts der ideologischen Deutungsangebote von Kommunismus und Faschismus in der Zuspitzung der politisch-ideologischen Sprache und der Kommunikation von radikalen, sich gegenseitig ausschließenden Alternativen. Diese Dichotomien und Antagonismen wurden gleichsam zu manichäischen Oppositionen, die keine Unentschiedenheit duldeten, 11 Vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 52014, S. 1007f; Michael Freeden: Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914–1939, Oxford 1986, S. 18–44. 12 Vgl. Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. 13 E. Hobsbawm, Zeitalter (wie Anm. 6), S. 143; vgl. auch Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/New York 2005.
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wie es in Carl Schmitts Freund-Feind-Paradigma als Basis des Politischen exemplarisch zum Ausdruck kam.14 Vor diesem Hintergrund schien der Liberalismus aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verschwinden, aber er ging nicht unter. Es handelte sich um eine Transformationskrise, denn in den Jahren von 1920 bis 1940 formte sich das aus, was nach 1945 und nach 1989 den Liberalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen sollte.15 Man kann die Entwicklung nicht leichtfertig verallgemeinern, sondern muss die nationalen Unterschiede deutlich akzentuieren. Eines ist jedoch durchgehend zu beobachten, von den USA bis nach Mitteleuropa: Nach 1918 trat die Bedeutung des Individuums, die Bedeutung der persönlichen Selbstentfaltung des Einzelnen, tendenziell zurück hinter das politische Ringen um die Stabilisierung der Gesellschaft als wirtschaftlich und politisch freies Gemeinwesen im Rahmen einer zunächst demokratischen, in Mitteleuropa späterhin autoritären Ordnung.16 LIBERALISMUS UND FORTSCHRITT, FORTSCHRITT UND GESCHICHTE Die Normen liberalen Handelns büßten nach dem Ersten Weltkrieg erheblich an Bedeutung ein. Sie verloren die für das 19. Jahrhundert charakteristische Kopplung von Liberalismus und Fortschritt und damit die entscheidende Deutungskategorie der Zukunft. Das galt trotz aller Versuche einer Reformulierung des liberalen Paradigmas nach den Erfahrungen des Krieges.17 Der optimistische Glaube an den „Fortschritt mit humanem Maß“18 als ein gleichsam universelles Versprechen war durch den Krieg zerstört worden. Ein handlungsleitendes Programm für Staat und Gesellschaft konnte der Fortschritt 14 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1927), Hamburg 1933, S. 7; vgl. Christian Meier: Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: Heinz Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537–556; Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2009, S. 3. 15 Für England vgl. M. Freeden: Liberalism Divided (wie Anm. 11); für Deutschland: Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 233–286. 16 Am deutschen Beispiel zeigt dies Marcus Llanque: Der Untergang des liberalen Individuums. Zum fin de siècle des liberalen Denkens in Weimar, in: Karsten Fischer (Hg.): Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt/M. 1999, S. 164–183. 17 Vgl. Jörn Leonhard: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“ – Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006, S. 205–230. 18 Dieter Langewiesche: Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 360–394, hier S. 387.
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offenbar nicht mehr bieten. Auch wenn die 1920er und 1930er Jahre eine Zeit des atemberaubenden technischen Fortschritts waren, in der Expresszüge, Rennwagen, Luftschiff und Flugzeug den Rausch der Geschwindigkeit und eine scheinbar unbegrenzte Ausweitung des Raumes verkörperten, blieb dies ohne Bezug zum früheren Glauben an einen Fortschritt zum Wohle der Menschheit. Der Universalismus der Technik verstärkte den Glauben an bestimmte Machbarkeiten und Planbarkeiten – aber über die Ausrichtung der politischen und sozialen Ordnung sagte das per se noch nichts aus. Die Zeitgenossen erlebten stattdessen eine Kulturrevolution antiliberalen Denkens, die in Deutschland und Österreich besonders stark ausgeprägt war, aber auch in Frankreich und Großbritannien deutliche Auswirkungen hatte. Sie äußerte sich in der Ablehnung eines in die Geschichte eingebetteten Denkens, wonach eine Gesellschaft einzig durch das Bewusstsein ihres „Gewordenseins“ befähigt war, auch ihre Zukunft zu bauen. Die Erfahrung des Weltkriegs stand quer dazu und verriegelte den Glauben an die Gestaltungskraft des liberalen Fortschritts.19 Hier wird eine entscheidende Verschiebung historischer Temporalisierung erkennbar, die eine Konsequenz der radikalen Entwertung von politischen, sozialen und nationalen Erwartungen durch die Explosion von Gewalterfahrungen in kurzer Frist seit dem Sommer 1914 war. Bis in die frühe Neuzeit waren Erwartungshorizonte und Erfahrungsräume in einem zyklischen Zeitverständnis aufeinander bezogen geblieben. Zwischen 1770 und 1850 brach diese Zeitvorstellung auseinander, weil die Erwartungen der Menschen im Zeitalter der Französischen Revolution weit über ihre Erfahrungen hinausschossen. Diese Erwartungsüberschüsse waren die eigentlichen Motoren für die Entstehung aller modernen Ideologien, zumal des Liberalismus, gewesen.20 Aber das, was im August 1914 begann und im November 1918 nicht endete, kehrte diese Tektonik radikal um. Nun entlarvte der Krieg die Fortschrittserwartungen, jenes Erbe des 19. Jahrhunderts, als harmlose Szenarien, die der Dynamik der Erfahrungen in diesem Krieg nicht mehr standhielten. Das Ergebnis war eine Glaubwürdigkeitskrise in nahezu allen Lebensbereichen: eine Krise der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der ideologischen Entwürfe zur Rechtfertigung von Staaten und Reichen, von Nationen, Ethnien und Klassen. In dieser elementaren Verunsicherung, in verkürzten Geltungsfristen und Halbwertzeiten großer Ordnungsideen, lag ein Erbe des Krieges nach 1918. 19 Vgl. zu Deutschland Anselm Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119. 20 Vgl. Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien (1976), in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 349–375.
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Auch deshalb dominierte in der Zwischenkriegszeit eine Fixierung auf die bloße Gegenwart, aus der eine andere Erwartung an die Zukunft hervorging. An die Stelle des „Fortschritts“ in den Wissenschaften und der Technik, der aus einer bewussten Reflexion der Geschichte in eine bessere, helle Zukunft führen würde, traten jetzt „Erfindungen“, die allein auf das Heute, auf die rasende, umtriebige Gegenwart bezogen waren und ein neues, anderes Morgen verhießen. Das Denken der Älteren in Kontinuitäten, Traditionen und generationellem Vermächtnis wurde abgelöst vom Willen der Jüngeren – jener Altersgruppen, die als Jugendliche und junge Erwachsene den Krieg erlebt hatten –, eine neue Ordnung zu errichten, die dann dauerhaft Bestand haben sollte. Die Vision von Erneuerung und übergeschichtlicher Dauer propagierten insbesondere der Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland, aber auch die russischen Bolschewiki. Die weniger visionäre, aber dennoch ausgeprägte Suche nach einer neuen Ordnung erschütterte auch Frankreich in den Spannungen zwischen extremer Rechter und extremer Linker, zwischen Action Française und kommunistischer Volksfront, und schließlich in Ansätzen zudem Großbritannien. Allerdings unterstrich die Herausforderung des Generalstreiks von 1926, dass trotz des scheinbaren Untergangs des politischen Liberalismus das parlamentarische System seine Legitimation erfolgreich behaupten konnte. Die Schwelle jedenfalls zur offenen Infragestellung des Systems wurde hier selbst in der schwersten Krise nicht erreicht.21 LIBERALISMUS UND INDIVIDUUM Tendenziell lassen sich in der Zwischenkriegszeit Anzeichen für eine parallele Entwicklung in den Gesellschaften des liberalen angloatlantischen Westens und europäischen Nordens einerseits und den antiliberalen politischen Systemen Mittel- und Osteuropas andererseits erkennen. Thesenhaft zugespitzt und auf die 1930er Jahre bezogen, lässt sich sagen, dass das Ringen in den von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit geprägten Krisenjahren dem Versuch galt, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft neu und dauerhaft gültig zu bestimmen. Wo sollte der einzelne Mensch – jeder einzelne Mensch! – innerhalb der Gesellschaft seinen Ort finden: in der Öffentlichkeit, im Wirtschaftsleben, im Bereich der politischen Mitbestimmung? 21 Vgl. Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart u. a. 2001; Christophe Charle: La Crise des Sociétés Impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne, 1900–1940. Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001; Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Richard Overy: The Morbid Age. Britain and the Crisis of Civilization, 1919–1939, London 2010.
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Darauf gaben der amerikanische New Deal, der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus, am Ende des Zweiten Weltkriegs auch das britische Versprechen zur Errichtung eines egalitären Wohlfahrtsstaats ganz unterschiedliche, humane oder inhumane Antworten. Aber die Ausgangsfragen, die ihr Handeln und ihre Programmatik kennzeichneten, wiesen deutliche Ähnlichkeit auf, weil sie aus ähnlichen materiellen Grundbedingungen in einer Zeit der tiefen Krise der kapitalistischen Wirtschaft hervorgingen.22 In den beiden Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg löste sich die aus dem 19. Jahrhundert herrührende Verkopplung von Liberalismus und Mittelschicht beziehungsweise Liberalismus und Bürgertum auf. Darüber geriet auch der bis dahin axiomatische Zusammenhang von Liberalismus und Individualismus in den Schatten. Die soziale Wirklichkeit wurde von der Massengesellschaft beherrscht. Wie würde es möglich sein, den Liberalismus in dieser Sozialformation zur Geltung zu bringen? Der Sieg des ideologisch so ungleichen Bündnisses aus den angloatlantischen Demokratien und dem Stalinismus im Zweiten Weltkrieg ebnete im Westen nach 1945 den Weg dazu, den Gemeinschaftsideologien von italienischem Faschismus und Nationalsozialismus, die gegen jeden Individualismus gerichtet gewesen waren, und den antiliberalen Utopien der Zwischenkriegszeit den Boden zu entziehen. Nach 1945 wurden die Früchte sichtbar, welche die Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hatte. Zwischen 1950 und 1970 entfaltete sich der Liberalismus als gesamtgesellschaftliches Projekt – sowohl wirtschaftlich und politisch als auch sozialkulturell. Das galt cum grano salis sowohl für die USA als auch für West- und Nordeuropa ebenso wie für Mitteleuropa. DER DURCHBRUCH DES SOZIALEN LIBERALISMUS In Deutschland wurde der Liberalismus nach 1945 zunächst aus den im Dritten Reich unterdrückten Kernbeständen der nationalen Tradition wiederbelebt. Sowohl die Entfaltung des politischen Liberalismus, die 1948 zur Gründung der Freien Demokratischen Partei in den Westzonen führte und die Theodor Heuss, wie wir eingangs sahen, mit guten Gründen problematisierte, als auch die Rückbesinnung auf die freie Wirtschaft in der Form der Sozialen Marktwirtschaft hatten ihren historischen Hintergrund in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Der Ordoliberalismus entstand in Westdeutschland als so22 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005; Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of an New Society in Modern American Thought, Ithaca 2006; José Harris: Einige Aspekte der britischen Sozialpolitik während des Zweiten Weltkriegs, in: Wolfgang Mommsen / Wolfgang Mock (Hg.): Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien 1850–1950, Stuttgart 1982, S. 255–270.
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zialethisches Programm, das seit der Währungsreform von 1948 der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde lag. Angesichts des Nimbus, der die Soziale Marktwirtschaft als Triebkraft des „Wirtschaftswunders“ umgibt, wird auch in der Geschichtswissenschaft gerne übersehen, dass der Ordoliberalismus aus der Freiburger Schule der Nationalökonomie23 die deutsche Spielart des transnational wirksamen atlantischen consensus liberalism war, der in den 1930er Jahren im Zuge des New Deal in den USA entstand und mit dem Marshallplan nach Europa kam.24 Die atlantischen Einflüsse wurden deutlich verstärkt durch die Amerikanisierung der Alltagskultur und die „Westernisierung“ des politischen Denkens unter linken und linksliberalen Intellektuellen.25 Sie wirkten bis 1960 dahin, dass das Bewusstsein von Demokratie nicht allein auf das parlamentarische System, sondern auch auf die Gesellschaft gerichtet war. Die Demokratie wurde sozial, und die soziale Demokratie war seit den 1960er Jahren nicht länger das politische Projekt allein der europäischen Sozialdemokraten im Binnenraum ihrer politischen Parteien. Sie gewann vielmehr Gestalt als ein parteienübergreifendes gesellschaftliches Anliegen. Im Verlauf von zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurzelte sich die Demokratie als Lebensform in der westdeutschen, aber auch in den westeuropäischen Gesellschaften ein. Politische Mitbestimmung im Gemeinwesen wurde nach wie vor von den Parteien und den Parlamenten ausgeübt, aber zugleich wurde „Mitbestimmung“ zu einem gesellschaftlichen Projekt – von den Schulen über die Industriebetriebe bis hin zur medialen Öffentlichkeit in Rundfunk und Zeitungen. Demokratie und sozialer Liberalismus wuchsen zusammen. Im Rahmen der neuen, innerwestlichen Leitideologie des liberalen und sozialen Konsenses wurde dies von 1960/65 bis 1975/80 in nahezu allen Ländern Westeuropas zum vorherrschenden Ordnungsmodell.26
23 Vgl. Jutta Blumenberg-Lampe (Bearb.): Der Weg in die soziale Marktwirtschaft. Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943–1947, Stuttgart 1986; Nils Goldschmidt (Hg.): Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005; Reinhard Blum: Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus, Tübingen 1969; Andreas Heinemann: Die Freiburger Schule und ihre geistigen Wurzeln, München 1989; Stefan Kolev: Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Stuttgart 2013. 24 Vgl. Charles S. Maier / Günter Bischof (Hg.): The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program, New York/Oxford 1991; E. Hobsbawm, Zeitalter (wie Anm. 6), S. 324–362. 25 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 26 Vgl. dazu den knappen Überblick bei Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012, S. 33–74.
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Was waren die Kennzeichen dieses „Konsenses“, der in den atlantischen Intellektuellenzirkeln sowohl als consensus liberalism als auch als consensus capitalism bezeichnet wurde?27 Die Herkunft dieser Denkfigur aus dem New Deal ist unschwer auszumachen. Seit 1939/42 wurde sie mit beeinflusst von den Expertisen deutscher Emigranten in den USA. Sie entwarfen ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, das auf eine möglichst reibungsarme Verkopplung von kapitalistischer Wirtschaft und den Interessen der demokratischen Massengesellschaft ausgerichtet war und eben darin fortschrittsorientiertes staatliches Handeln erkannte. In der Praxis des liberalen und kapitalistischen Konsenses wurden Gemeinschaftsdenken und Massendemokratie miteinander verbunden. Individualismus, die Kategorie des liberalen Individuums, spielte noch immer eine nachgeordnete Rolle. Im Zusammenwirken mit dem Keynesianismus als Wirtschaftstheorie, welche zuerst dem Staat und nicht dem unternehmerischen Individuum die Aufgabe der ökonomischen Steuerung zuwies und den Wirtschaftsunternehmen nur innerhalb dieses nationalstaatlichen Rahmens die individuelle Entscheidungsfreiheit einräumte, repräsentierte der Konsensliberalismus ein ideologisch „linkes“ Projekt. Staatliche Regulierungen in vielen Bereichen der Verwaltung und in den Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens galten liberalen und konservativen Kritikern als „sozialistisch“. Vor der Herausforderung der totalitären Diktaturen in Ost und West wurde in diesen Kreisen alles, was nur entfernt an „Sozialismus“ erinnerte, sogleich als Bedrohung der Freiheit aufgefasst. Einer der Vordenker war Friedrich August von Hayek, Emigrant aus dem österreichisch-deutschen Machtbereich des Nationalsozialismus, einflussreicher Wirtschaftstheoretiker in Großbritannien und den USA und von früh an Gegner des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Hayek gehörte 1948 zu den Gründern der Mont Pèlerin Society, die später zu einer der einflussreichsten Denkfabriken für den Kampf gegen die Ideologie des Konsensliberalismus und die damit verwobene Wirtschaftstheorie des Keynesianismus werden sollte. Hier wurde die radikale Kritik am „Konsens“ ausgearbeitet, mithin am staatlichen Einfluss auf das Wirtschaftsleben und an der „sozialistischen“ Regulierung durch die Beschränkung der Handlungsfreiheit des marktfähigen Individuums.28 Als der Nachkriegsboom sich erschöpft hatte und die Zeit zu Ende ging, in der Leitideen des Konsensliberalismus und des Keynesianismus die Entwicklung bestimmten, setzte der Umschwung ein. Das begann um 1980, beschleunigte sich nach 1990/91 und brachte einen historisch neuartigen Liberalismus hervor. 27 Vgl. Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 28 Vgl. Bruce Caldwell: Hayek’s Challenge. An Intellectual Biography of F. A. Hayek, Chicago 2004; Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hg.): The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge, MA 2009.
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NEOLIBERALISMUS UND DIE RELATIVIERUNG DES LIBERALEN KONSENSES 1989 erlebte der angloatlantische Liberalismus seinen dritten Sieg in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Kalte Krieg war geschlagen, das kommunistische Lager kollabierte. Die Wirkungen wurden alsbald spürbar. Das Verschwinden der antagonistischen politisch-ideologischen Lager beschleunigte die globale Ausbreitung dieser neuen Spielart liberaler Ordnung. Der fortan so genannte Neoliberalismus proklamierte das Ziel, den Konsensliberalismus zu überwinden. Er räumte dem individuellen Interesse in Wirtschaft und Gesellschaft den Vorrang ein vor dem gesellschaftlichen Interesse. Nachdem sich die Regierungen in den westeuropäischen Ländern seit 1980 an der neuen Leitideologie zu orientieren begonnen hatten, ebneten sie ab den 1990er Jahren den individuellen, dynamischen Kräften des Marktes den Weg. Zum Feindbild wurde die schwerfällige Praxis der konsensualen Gesellschaftspolitik, die in der Wohlfahrtsstaatlichkeit zugleich die Freiheit des Einzelnen beschnitt. Die politischen Protagonisten der neuen liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie waren allerdings allesamt Konservative, vor allem Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA, während der Machtwechsel in der Bundesrepublik 1982 den Konsens über die Soziale Marktwirtschaft zunächst noch nicht infrage stellte. Wie Michael Freeden in der Schlussdiskussion unserer Tagung mit dem Blick auf Großbritannien darlegte, handelte es sich beim politischen Programm Thatchers weder vor noch nach ihrer Wahl zur Premierministerin um ein genuin liberales Konzept. Sie richtete sich vielmehr gegen den Zeitgeist des sozialen Konsenses, den sie als „links“ empfand. Im Kontrast dazu akzentuierte sie die konservativen Grundwerte Gott, Natur und Nation und fügte als weiteren Grundwert die Ökonomie hinzu. Diese Werte bestimmten die Ordnung der Gesellschaft, die als „natürliche Ordnung“ vor aller politischen Einflussnahme gegeben war. In ähnlicher Weise kann man diese Grundüberzeugungen des Konservatismus auch bei Ronald Reagan und Helmut Kohl ausmachen, nuanciert indes durch die nationalkulturellen und konfessionellen Unterschiede. Die vierte Zentralfigur des westlichen Bündnisses der 1980er Jahre, François Mitterrand, war Sozialist und eben kein Konservativer. Diese Tatsache sowie das traditionelle staatszentrierte Ordnungsdenken erklärt, warum es in Frankreich nach seiner Amtsübernahme 1981 zunächst keine Ansätze zu einer neoliberalen Reformpolitik gab. Tonangebend wurden Großbritannien und die USA, unter deren Einfluss der Übergang zum neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis erfolgte.29
29 Andrew Gamble: The Free Economy and the Strong State. The Politics of Thatche-
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Was ist nun unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zu verstehen? Zum Kennzeichen der Reformpolitik in den 1980er Jahren wurde die Rückführung des staatlichen Einflusses in wichtigen Bereichen der Verwaltung und der Staatsbetriebe wie Bahn, Post und Medien sowie, im britischen Fall, der Bank of England. Das politische Prinzip dieser Zeit lautete „Deregulierung“. Die „Revolution der Konservativen“, wie Michael Freeden sie nannte,30 war darauf ausgerichtet, die vielfältigen Regulierungen des Sozial- und Verwaltungsstaats aus der Zeit des Konsensliberalismus zurückzubauen. Diese Politik wurde mit dem Begriff „Neoliberalismus“ belegt, weil sich darin eine neue Wirtschaftsideologie Geltung verschaffen konnte. Die Bezeichnung breitete sich rasch aus und ist auch im wissenschaftlichen Feld zum terminus technicus für die Beschreibung dieses historischen Geschehens geworden.31 Die neue Leitideologie des Neoliberalismus sah das Individuum als selbstverantwortlich handelnde Person an, als ökonomisch aktives, am Mehrwert orientiertes Subjekt. Darüber geriet die Orientierung auf den Ausgleich der Interessen und auf soziale Sicherheit aller Bürger, der Arbeiter und Angestellten, aber auch der Arbeitslosen in den Hintergrund. In diesem Verständnis eines veränderten Verhältnisses zwischen Individuum und Massengesellschaft förderten nicht allein die britische, sondern die meisten westeuropäischen Regierungen die individuellen, dynamischen Kräfte des Marktes gegen die schwerfällige Praxis konsensualer Gesellschaftspolitik. Zugespitzt könnte man sagen, dass erst jetzt die Kategorie „Individuum“ in der Massengesellschaft zur Geltung kam, die seitdem die dritte Phase des Liberalismus im 20. Jahrhundert bestimmt. LIBERALISMUS, INDIVIDUUM UND MASSENGESELLSCHAFT Die historische Bedeutung dieser Entwicklung kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Erstmals bildeten Individuum und Massengesellschaft einen Bedingungszusammenhang, programmatisch wie auch in der Praxis. Das stand in direktem Bezug zu den beiden vorhergehenden Epochen der Liberalismusgeschichte des 20. Jahrhunderts. In der ersten Phase, nach 1918, hatte rism, Houndmills, Basingstoke 1988; Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012. 30 Vgl. dazu die verwandte Begrifflichkeit bei A. Doering-Manteuffel / L. Raphael, Boom (wie Anm. 26), wo ein „Wandel von revolutionärer Qualität“ postuliert wird. 31 Vgl. Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“, Stuttgart 2008; Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.
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die Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft den Vorrang vor dem Individualismus erhalten, weil die faschistischen und kommunistischen Bewegungen den Liberalismus im politischen System und in der Marktgesellschaft bedrohten. In der zweiten Phase, die mit der Weltwirtschaftskrise begann und in Europa erst nach 1945 zum Durchbruch kam, erfolgte die Integration des Liberalismus in die Massengesellschaft mit dem Ziel, politische Demokratie und die marktwirtschaftliche Ordnung zu stabilisieren. Seither hatte der Liberalismus in der Massengesellschaft seinen Ort primär als sozialer Liberalismus, für den die Kategorie des Individuellen nachrangig war, und dann als sozialmoralische, habituelle Kategorie: eben als Disposition, als Haltung des Liberalen, die von immer mehr politischen und sozialen Bewegungen reklamiert werden konnte. Im Nachkriegsboom, der den Ausbau des Sozialstaats und die Stabilisierung der Demokratie möglich machte, verfestigte sich der soziale Liberalismus, bis der Boom erlahmte und die Gegenkräfte seit 1975 zum Durchbruch kamen. Es ist das Charakteristikum der dritten Phase, der Epoche „nach dem Boom“, dass jetzt die Idee des Individuums in die seit 1945/50 vom Liberalismus durchformte Massengesellschaft fest integriert wurde. Der Preis für diese Entwicklung aber war hoch und entfaltet sich in der Gegenwart immer neu. Denn der Vorrang des Einzelinteresses vor dem Gemeinschaftsinteresse droht das Gebot der sozialen Gerechtigkeit auszuhöhlen, ohne die ein demokratisches Gemeinwesen auf Dauer nicht bestehen kann.32 Doch hatte die liberale Durchformung der Massengesellschaft durch die Ideologie und Praxis des Konsenses derart prägend gewirkt, dass eine Verschmelzung zwischen Traditionsbeständen aus der Epoche des liberalen Konsenses und den Handlungsformen des individualistischen Marktliberalismus unausweichlich wurde und den Übergang schuf in eine weitere Epoche der Liberalismusgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der hohe Preis für die Rückkehr des Individuums in das Ordnungsdenken des Liberalismus wird besonders dann erkennbar, wenn man abschließend noch einmal die lange historische Perspektive in den Blick nimmt. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert konnten sich Liberale im 20. Jahrhundert zwar auf einen bereits etablierten Kanon liberaler Ziele, Werte und Institutionen, mithin auf eine Erbschaft beziehen, zu der die Verfassungen, die Grundzüge parlamentarisch-repräsentativer Institutionen und die Bürgerrechte als Schutz des Individuums gehörten. Aber in den Konflikten des 20. Jahrhunderts schien es zugleich, als hätten die Liberalen ihre traditionelle politische Funktion eingebüßt. So wirkten sie immer wie Verteidiger von Institutionen und Freiheitsrechten, aber nicht mehr wie die Verkörperung einer allgemeinen Fortschritts 32 Vgl. Wendy Brown: Neo-liberalism and the End of Liberal Democracy, in: Theory & Event 2003; Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 22013; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2015.
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idee, die mehr sein musste als eine Addition von individuellen Interessen im Sinne der Maximierung von individuellem Gewinn. Das subjektive Gefühl, für die „Zukunft der Geschichte“ zu stehen, geriet im 20. Jahrhundert immer mehr unter Druck. Mit der bloßen Fokussierung auf die Kategorie des Individuellen ohne eine plausible Antwort auf die Frage nach übergeordneten Gemeinschaftsinteressen jedenfalls bleibt eine Lücke bestehen. Ausdruck dieser Position war auch, dass die Liberalen im 20. Jahrhundert nicht allein von den radikalen und totalitären Gegenentwürfen infrage gestellt wurden, sondern dass im Kontext der oben skizzierten Entwicklungen nach den 1970er Jahren auch neue politische und soziale Ordnungsentwürfe entwickelt wurden, die mit dem Liberalismus klassischer Prägung zwar noch Gemeinsamkeiten aufwiesen, aber eben im Begriff des Liberalismus nicht mehr zwingend aufgingen, dafür aber mehr versprachen als die Integration der Idee des Individuums in die Massengesellschaft. Beispiele dafür sind die Karrieren von „civil society“ wie auch „Kommunitarismus“. Das Gefühl, dass sich der Liberalismus mit dem dritten „Sieg“ von 1989/91 am Ende des 20. Jahrhunderts totgesiegt haben könnte, wäre dann auch ein Indiz für dieses Unbehagen am inhaltlichen Vakuum angesichts der Frage, wie die Freiheit des Individuums und die soziale Gerechtigkeit als doppelte Bedingungen stabiler Demokratien in Einklang zu bringen sind. In dieser Perspektive wären die „Siege“ von 1918, 1945 und vor allem 1989/91 zugleich Stadien eines historischen, langfristigen Glaubwürdigkeitsverlusts des Liberalismus als Verkörperung eines übergreifenden Fortschrittsgedankens, der aus der antizipierbaren Zukunft der Geschichte schöpfte. Hinter dieser Konstellation stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts auch noch andere Prozesse. Der Liberalismus schien mit dem Zusammenbruch der Staaten des real existierenden Sozialismus 1989/91 die Richtigkeit seiner Prämissen erwiesen zu haben. Indem seine Inhalte in vielen Gesellschaften von zahllosen Parteien und Bewegungen übernommen wurden, wurde dann aber das liberale Profil zunehmend unschärfer. In diesem Sinne erscheint der Liberalismus jenseits bestimmter historischer Inhalte und Institutionen fast ein situatives Phänomen zu sein und sich in ganz unterschiedliche „languages of liberalism“ aufzulösen: als politische Organisationsform in der Praxis, als intellektuelle Bewegung, als Habitus der Liberalität und als historischer und sprachlicher Bedeutungsspeicher, als ein Reservoir und ein Werkzeugkasten von Ordnungs- und Institutionsmodellen, die sich je nach Kontext und Problemzusammenhang immer wieder neu zusammensetzen lassen. Zu dieser Tendenz der Entkonturierung kommt in globaler Perspektive hinzu, dass die für den Liberalismus so lange konstitutive Kopplung von politisch-konstitutioneller Freiheit des Individuums und kapitalistischer Innovation nicht mehr selbstverständlich ist, seitdem diese Verknüpfung in einigen wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaften außerhalb Europas und der USA – wie etwa in China – offen infrage gestellt wird.
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Was unter solchen Umständen noch als „liberal“ oder gar als „Liberalismus“ gelten kann, wird zunehmend schwierig zu bestimmen sein. Die Distinktionswirkung des Liberalismus schwächt sich in historischer Perspektive eher ab. Die auf den ersten Blick so suggestive Wirkung von Tony Judts Befund, die besondere Anpassungsfähigkeit des Liberalismus, seine „adaptability“, bildet jedenfalls nur eine Seite der Liberalismusgeschichte im 20. Jahrhundert. Die andere Seite handelt vom hohen Preis der historischen Siege.
Das Erbe des 19. Jahrhunderts und der Umbruch des Ersten Weltkriegs
GEHÖREN MARKT UND MORAL ZUSAMMEN? Über ein historisches Dilemma des Liberalismus Andreas Wirsching Ein neuerer wirtschaftswissenschaftlicher Versuch basierte auf einem geradezu brutalen Experiment: Knapp tausend Menschen sehen sich ein schockierendes Video an: „Eine Maus sitzt in einem Glaskasten, langsam strömt Gas hinein. Nach einem zehnminütigen Todeskampf verendet das Tier.“ Nach dem Film wurden die Probanden in zwei Gruppen eingeteilt: Die Teilnehmer der einen Hälfte erhielten jeweils 20 Euro; die Mitglieder der anderen Hälfte erhielten die Verantwortung für jeweils eine Maus. Die Geldbesitzer sollten dann über ein Computer-Netzwerk versuchen, den Mäusebesitzern das Tier abzukaufen. Die Regeln des Experiments lauteten: Kommt der Handel zustande, behalten Käufer und Verkäufer ihr Geld und die Maus wird vergast. Kommt er nicht zustande, bleibt die Maus am Leben und keiner der Marktteilnehmer bekommt in diesem Fall Geld. Den Probanden steht es also frei, sich für das Geld oder für das Leben der Maus zu entscheiden. Das Ergebnis: 80 Prozent der Marktteilnehmer entschieden sich für das Geld und nahmen den Tod der Maus in Kauf; nur 20 Prozent der Händler entschieden sich für die Option, auf das Geld zu verzichten und die Maus zu retten.1 Was erzählt eine solche Versuchsanordnung über die hier aufgeworfene Frage? Ist sie mit all ihrem szientistischen Anspruch besonders aussagekräftig für ein evidentes Grundproblem der menschlichen Natur und des sozialen Zusammenlebens? Handelt der Mensch also, wenn er frei von allen Fesseln ist, ausschließlich im Eigeninteresse? Verhält er sich entsprechend rücksichtslos gegenüber seinen Mitmenschen? Ist er ein egoistischer Homo oeconomicus, allein auf seinen eigenen Vorteil bedacht? Oder ist der Mensch vielleicht doch ein soziales Wesen? Ein Wesen, das, wenn es frei ist von allen Fesseln, immer noch Empathie und Sympathie für andere empfindet? Könnte er mithin auch ein verantwortungsbewusstes Zoon politikon sein, das aus sich selbst heraus zu tugendhaftem Handeln in der Lage ist – zum Wohle der Allgemeinheit? 1
Caroline Schmidt: Der Radikalforscher, http://www.spiegel.de/spiegel/unispiegel/ d-115400662.html, 14.10.2013 (letzter Zugriff 25.2.2014). Der vorliegende Text beruht auf einem öffentlichen Vortrag, der im Rahmen des Theodor-Heuss-Kolloquiums am 10. April 2013 im Stuttgarter Rathaus gehalten wurde. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten.
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Solche Fragen wie auch die ihnen zugrunde liegende Leitfrage nach dem Zusammengehören von Markt und Moral beschäftigen sehr unterschiedliche Wissenschaften: Vertreter der Ökonomie, der Politik- und Sozialwissenschaften, der Theologie und Philosophie bemühen sich gleichermaßen um valide Antworten.2 Übersehen wird dabei leicht, dass es sich auch (und in hohem Maße) um eine genuin historische Frage handelt, die überhaupt erst in ganz neuer Form die moderne bürgerliche Gesellschaft aufgeworfen hat. Seit dem 18. Jahrhundert gehörte es zu deren Eigentümlichkeiten, dass sich die Sphäre des Marktes verselbständigte, frei wurde von den Fesseln der Stände und des Staates. Der Markt avancierte zum Aktionsradius, auf dem sich der einzelne zunehmend frei bewegen und sein ganz persönliches Glück suchen – oder auch sein Unglück finden – konnte. Insofern geht es hier nicht um anthropologische Konstanten, sondern um historisch wandelbare Konstellationen. Die Debatte um die Moral des Marktes unterliegt der Veränderung, und sie hat sehr unterschiedliche Phasen erlebt. Ebenso wandelbar ist auch das zugrunde liegende Menschenbild: So war die schottische Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die in gewisser Weise die Lehre vom freien Markt und damit die Ökonomie als Wissenschaft erfand, noch stark geprägt von aristotelischer Tugendlehre. Selbst Adam Smith, der Prophet des legitimen Eigeninteresses, hat den Menschen bekanntlich keineswegs als rücksichtslosen Feind seines Nächsten betrachtet. Vielmehr verband Smith seine Eloge auf den freien Markt mit einer Morallehre, die dem Menschen durchaus die Fähigkeit zur Sympathie und zum uneigennützigen sozialen Handeln zusprach. Erst die Verankerung der Tugend im Individuum verlieh ihm demzufolge sittliche Autonomie und befähigte es zur Teilnahme am Warenverkehr. Tugend, wirksam in einer Vielzahl von Einzeltugenden, und Eigeninteresse sind also bei Smith zwei Seiten derselben Medaille. Das sogenannte „Adam-Smith-Problem“, das zwischen seinen beiden Hauptwerken eine unaufhebbare Spannung zu erkennen glaubt, ist daher „ein ahistorisches Konstrukt“.3 Gleichermaßen unterkomplex sind heutige, allzu rasche Erklä2
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Als neue Anthologie siehe Axel Honneth / Lisa Herzog (Hg.): Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2014. Neuere Versuche stammen von: Tomáš Sedláček: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012 (zuerst tschechisch 2009) und Wolfgang Kersting: Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Hamburg 2012. Lisa Herzog, Einleitung: Die Verteidigung des Marktes vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: A. Honneth / L. Herzog, Wert (wie Anm. 2), S. 13–27, hier S. 17. Das viel diskutierte, von August Oncken ursprünglich so genannte „Adam-Smith-Problem“ beruht im Wesentlichen auf der unterschiedlichen Stoßrichtung der beiden Hauptwerke von Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments (1759), hg. v. D. D. Raphael / A. L. Macfie, Indianapolis 1976, und An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), hg. v. R. H. Campbell / A. S. Skinner, 2 Bde., Oxford 1976. Vgl. A. L. Macfie: The Individual in Society. Papers on Adam Smith, London 1967,
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rungen mancher Sachbuchautoren, die uns glauben machen wollen, allein das durch den digitalen Finanzkapitalismus zielstrebig gezüchtete, skrupellose Ego sei die ubiquitäre Sozialpathie unserer Zeit.4 Wenn wir also konstatieren, dass das Urteil über die Frage: „Gehören Markt und Moral zusammen?“ historisch wandelbar ist, dann stellen wir zugleich fest: Hinter dieser Frage verbirgt sich ein tiefgründiges Dilemma des Liberalismus. Wenn nämlich diese Frage keine ein für alle Mal gültige Antwort erlaubt, müssen Liberale und solche, die sich dafür halten, immer wieder neu die Gefahren wägen, die die zügellose Freiheit aller Erfahrung nach in sich birgt. Immer wieder neu muss der Anwalt der Freiheit der Freiheit selbst misstrauen und historisch adäquate Antworten auf die Frage nach ihrem Missbrauch finden. Am Ende hat der Liberale nur die Wahl zwischen zwei Alternativen: Entweder er verteidigt die Freiheit bedingungslos gegen die Kritiker ihrer Zügellosigkeit; oder er sucht nach Wegen ihrer Begrenzung, ohne die Freiheit selbst zu zerstören. Das ist das historische Dilemma des Liberalismus. Und denken wir an die möglichen Formen, sich aus diesem Dilemma herauszuwinden, dann steht uns schon das ganze Spektrum der unterschiedlichen Spielarten des Liberalismus vor Augen – vom Manchester-Liberalismus, über den Sozialliberalismus bis zum sogenannten Neoliberalismus unserer Tage. Die Moral und die Möglichkeit zum moralischen Handeln wurden dem Markt immer dann besonders emphatisch zugeschrieben, wenn die Advokaten der Freiheit einen starken oder gar gefährlichen Gegner vor Augen hatten. Im Großbritannien des 18. Jahrhunderts ist das der merkantilistische Staat mit seinen Monopolen und seiner rechtlichen Gängelung des Wirtschaftslebens. Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ versteht man nicht, wenn man das Buch nicht auch als Plädoyer gegen die bestehende staatliche Wirtschaftsordnung begreift. Im 20. Jahrhundert dagegen ist der Gegner über lange Zeit hinweg der Kommunismus: als Negation der Freiheit schlechthin. Und einen wortgewaltigen Advokaten des Marktes wie Friedrich A. Hayek und sein Werk „Der Weg zur Knechtschaft“ versteht man ebenso wenig, wenn man das Buch nicht auch als Plädoyer gegen den Kommunismus begreift.5 Gegen den Stände- und Privilegienstaat des Ancien Régime des 18. und erst recht gegen den Kom-
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S. 59ff; Donald Winch: Adam Smith’s Politics. An Essay in Historiographic Revision, Cambridge 1978, S. 10f; Nicholas Phillipson: Adam Smith as a Civic Moralist, in: Istvan Hont / Michael Ignatieff (Hg.): Wealth and Virtue. The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge 1983, S. 179–202, v. a. S. 181ff; Laurence Dickey: Historicizing the „Adam Smith Problem“: Conceptual, Historiographical, and Textual Issues, in: Journal of Modern History 58 (1986), S. 579–609; Keith Tribe: „Das Adam-Smith-Problem“ and the Origins of Modern Smith Scholarship, in: History of European Ideas 24 (2008), S. 514–525. So z. B. Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013. Friedrich August von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, Neuausg. München 2011 (zuerst engl. 1944).
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munismus des 20. Jahrhunderts ließ sich also der moralische Wert des freien Marktes vergleichsweise leicht und nachhaltig in Anspruch nehmen. Die Gefahren einer zügellosen Freiheit auf dem Markt traten in den Hintergrund gemessen an der stets drohenden Negation der Freiheit durch die jeweiligen Gegenkräfte. Anders verhält es sich dagegen im späten 19. und im frühen 21. Jahrhundert. Immer dann nämlich, wenn die kapitalistische Wirtschaftsform gleichsam zum herrschenden System wird und kein äußerer Widersacher mehr in Sicht ist, wächst das Sensorium für ihre selbstzerstörerischen Kräfte, und die moralisch grundierte Kritik an ihr erklimmt neue Höhen. Die Kritik am Kapitalismus argumentiert aus verschiedenen Richtungen: Sie kommt von Sozialisten und Marxisten, von Katholiken und Konservativen, sie begründet sich politisch, sozial und ökonomisch – immer aber ist sie moralisch. Die Moral des Marktes wird bestritten mit Blick auf die Ungleichheit, die er so offenkundig produziert. In der Geschichte des Liberalismus lassen sich, grob gesagt, zwei Ideenstränge oder gleichsam zwei „Narrative“ identifizieren, die, jeweils nuanciert, recht unterschiedliche Antworten auf die gestellte Frage geben: ein optimistisches, das auf der Moralität des Marktes als einem geradezu ehernen Prinzip beharrt; und ein eher skeptisches, mitunter sogar pessimistisches Narrativ, das die Gefahren des Marktes für den moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft hervorhebt und daher nach verträglichen Gegenmitteln sucht, um die Freiheit vor sich selbst zu schützen. Es ist nicht überraschend, daß sich grosso modo das erstere, optimistische Narrativ vor allem in der anglo-amerikanischen Welt durchgesetzt hat, während der liberale Skeptizismus überwiegend ein Spezifikum des europäischen, und hier vor allem des deutschsprachigen Liberalismus ist. Diesen Befund zum Ausgangspunkt nehmend, gilt im Folgenden der erste Gedankengang der optimistischen, transatlantischen Linie, die sich dem Dilemma letztlich gerne entziehen möchte und damit die Geschichte des Liberalismus bis heute prägt (I.). Zweitens geht es um die skeptische Linie des Liberalismus und jene liberalen Skeptiker, die sich besonders intensiv mit dem Dilemma auseinandergesetzt haben (II.). Drittens fragen wir: Wo stehen wir heute? (III.) Und viertens wird das Problem diskutiert, wie sich aus heutiger Sicht die Moral zwischen Markt und Staat verteilt (IV.). I. Um die Wurzeln des optimistisch-transatlantischen Narrativs zu verstehen, muss man auf das 18. Jahrhundert zurückblicken und hier vor allem nach Großbritannien. Im Vereinigten Königreich fand etwa zwischen 1700 und 1850 ein überaus fesselndes Schauspiel statt, nämlich das faszinierende Zu-
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sammenwirken zwischen einer geistigen Strömung einerseits und der bis dahin spektakulärsten ökonomischen Expansion der Weltgeschichte andererseits. Auf der einen Seite stand die schottische Aufklärung, mit David Hume und Adam Smith an der Spitze, aber auch mit ihren unzähligen Schülern und Epigonen, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zu den wortgewaltigsten Advokaten des britischen Liberalismus avancierten.6 Auf der anderen Seite stand die unglaubliche Expansion der britischen Wirtschaft in Handel, Industrie und Dienstleistungen, die das Königreich zur Weltmacht des 19. Jahrhunderts werden ließ. Aus dieser einmaligen historischen Konstellation heraus entstand das optimistische Narrativ. In der Betätigung auf dem freien Markt erkannte es den Motor, der die Menschen verbesserte, das Negative zügelte und folglich das moralisch Richtige am besten gewährleistete. Der Mensch möchte nicht reiner Egoist sein und alleine leben. Demzufolge verbindet der Markt die Menschen zum gegenseitigen Nutzen. Diese Einsicht kann man das liberale Prinzip der Reziprozität nennen: Gemäß seiner Logik diszipliniert der Markt die Leidenschaften, weil der Mensch weiß, dass es in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, auf andere Marktteilnehmer Rücksicht zu nehmen. Entsprechend pries der frühe Liberalismus diese Freiheit des Marktes als eine entscheidende Fortschrittsformel seiner Zeit. Und von hier aus war es dann nur ein sehr kleiner Schritt zu jener pazifistischen Freihandelsideologie, die den Interessen des britischen Empire im 19. Jahrhundert am besten entsprach, und die Industrielle wie Richard Cobden und John Bright mit Inbrunst verkündeten. Aus der Perspektive dieses „Manchester-Liberalismus“ erschien der Freihandel als die einzig adäquate Form des internationalen Kontakts. Er drängte die internationalen Konflikte zurück, förderte den Austausch und damit die Annäherung der Kulturen und gewährleistete somit am besten den Frieden. Der Freihandel, so schwärmte Richard Cobden, „bringt die Menschen zusammen, drängt die Antagonismen von Rasse, Glauben und Sprache beiseite und vereinigt uns alle mit dem Band ewigen Friedens.“7 Die internationale Arbeitsteilung, in der Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts den Platz eines „workshop of the world“ errungen hatte, bildete aus dieser Sicht eine Art prästabilierter Harmonie oder sogar eine Fügung Gottes. Fragen nach der Moralität eines solchen Systems kamen solange nicht auf, wie der freie Handel selbst die Gerechtigkeit zu verkörpern schien. Eine solche Verschränkung zwischen Markt und Moral passte im Übrigen bestens zu einer Epoche 6
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I. Hont / M. Ignatieff, Wealth (wie Anm. 3); Biancamaria Fontana: Rethinking the Politics of Commercial Society. The Edinburgh Review 1802–1832, Cambridge 1985; Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790, Oxford 2011, S. 209–269. Zuletzt Lisa Herzog: Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory, Oxford 2013. Zitiert nach Frank Unger: Demokratie und Imperium. Die Vereinigten Staaten zwischen Fundamentalismus, Liberalismus und Populismus, Würzburg 2010, S. 198.
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des ökonomisch angetriebenen Imperialismus, in der britisches Kapital, britische Versicherungen und britische Banken die Welt beherrschten. Praktisch zeitgleich setzte sich diese optimistische Vorstellung von der Harmonie zwischen Markt und Moral auch in den Vereinigten Staaten durch. In dem Riesenland, das ja erst noch besiedelt und erschlossen werden musste, kam der individuellen Initiative, dem Privatinteresse und dem Eigennutz auf dem Markt von Beginn an die entscheidende Funktion zu. Schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatte ja neben Leben und Freiheit auch das „Streben nach Glück“, das pursuit of happiness, als unveräußerliches individuelles Grundrecht deklariert. Und 60 Jahre später konnte Alexis de Tocqueville beobachten, wie die Amerikaner das Prinzip vom wohlverstandenen Eigeninteresse mit einer moralischen Tugendlehre verbanden. „Die Amerikaner […] lieben es“, so schrieb er, „fast sämtliche Handlungen ihres Lebens aus dem wohlverstandenen Eigennutz abzuleiten; sie zeigen selbstzufrieden, wie die aufgeklärte Selbstliebe sie ständig dazu drängt, sich gegenseitig zu helfen, und für das Wohl des Staates bereitwillig einen Teil ihrer Zeit und ihres Reichtums zu opfern.“8 Diese Denkhaltung setzte Markt und Moral in ein harmonisches, auf Reziprozität gegründetes Gleichgewicht. Man kann in ihr eine Art amerikanischer Ideologie sehen: eine liberale Ideologie, in der sich das Versprechen der transatlantischen Werte zur privaten Glücksverheißung verdichtete und die ja auch für viele Millionen von Menschen zur biographischen Bestimmung wurde. Letztlich ist das auch die Tradition, aus der die heute bedeutendste ökonomische Denkschule der USA schöpft: die Chicago School of Economics, den einen berühmt, den anderen berüchtigt, mit ihrem strikten Monetarismus und dem absoluten Vertrauen in die Gestaltungskraft des Marktes.9 Milton Friedman, der wohl profilierteste Vertreter der Chicago School, hat dieses Vertrauen in höchst beredsame Formulierungen gekleidet. Für ihn bestand kein Zweifel, daß der „Markt einen direkten Bestandteil der Freiheit“ und „der Kapitalismus eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit“ bildet.10 Zwar stellte sich Friedman wie alle Liberalen den Menschen als „ein unvollkommenes Wesen“ vor, aber jeder Versuch, ihm eine allumfassende Ethik zu oktroyieren, würde seine Freiheit gefährden. Eines der Hauptziele des Liberalismus sei daher, so Friedman, „die ethischen Probleme dem Individuum zu überlassen, damit es mit diesen Problemen allein fertig werden kann.“11 8 9
Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 611. Vgl. The Elgar Companion to the Chicago School of Economics, hg. v. Ross B. Emmett, Cheltenham 2012. 10 Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit (1962), München 2011, S. 32 u. 34. Vgl. F. A. v. Hayek, Weg (wie Anm. 5), S. 85. 11 M. Friedman, Kapitalismus (wie Anm. 10), S. 35.
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Wenn diese knappen Befunde als Grundlage des optimistischen Narrativs gelten können, so stellt sich die Frage, welche Haltung es gegenüber dem historischen Dilemma des Liberalismus einnimmt: gegenüber der Notwendigkeit, im Namen der Freiheit selbst der Freiheit zu misstrauen und im Namen der Freiheit nach Wegen ihrer Begrenzung zu suchen, ohne sie selbst zu zerstören. Im Kern, so lässt sich wohl sagen, entzieht sich das optimistische Narrativ diesem Dilemma durch eine klare Aussage. Sie lautet: Etwas Besseres als den freien Markt gibt es nicht. Allein der Markt ist die adäquate Schule der Tugend, und in einer Welt, deren Geschichte voll ist von Unfreiheit und Tyrannei, liegt darin die größte Chance für das größte Glück der größten Zahl – um es mit der berühmten utilitaristischen Formel Jeremy Benthams auszudrücken. Aber natürlich konnte man aus der Geschichte des freien Marktes und seinen gesellschaftlichen Folgen im 19. Jahrhundert auch ganz andere Schlüsse ziehen als die britischen Freihändler und die amerikanischen Ökonomen. Dies führt zum skeptischen Narrativ des Liberalismus. II. Seine Vertreter erkannten durchaus die zügellosen Tendenzen des freien Marktes, nahmen ihre problematischen Folgen ernst und erblickten in ihnen eine echte Gefahr für den moralischen Zustand einer Gesellschaft. In der „Privatwillkür“ etwa sah selbst ein Carl Theodor Welcker 1846 eine Bedrohung für die Legitimität des geheiligten Privateigentums.12 Und ein anderer Frühliberaler wie Robert von Mohl thematisierte seinerseits die Ambivalenzen des bürgerlichen Erwerbsstrebens auf dem freien Markt: „Wie in allen Dingen unter dem Monde“, so schrieb er 1838, „so ist auch hier Gutes und Schlimmes gemischt, und es bewährt sich namentlich die Lehre, daß Übertreibung des an sich Nützlichen dasselbe in Schaden verkehre.“13 Zwar herrschte auch bei den deutschen frühen Liberalen noch der Optimismus vor, der auf die moralische Perfektibilität auf dem Markt und durch den Markt vertraute, aber das änderte sich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem im 20. Jahrhundert. Verlief nicht die Sozialgeschichte der Industriegesellschaft gerade unter moralischen Gesichtspunkten besonders problematisch? Lösten sich in ihr nicht die moralischen Bindungen ersatzlos auf, die das Ancien Régime durch sein fein gesponnenes Netz 12 Carl Theodor Welcker: Art. Eigentum, in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, hg. v. Carl von Rotteck / C. Th. Welcker, 2. Suppl.Bd., Altona 1846, S. 211, zit. n. Lothar Gall / Rainer Koch (Hg.): Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte zu seiner Entwicklung, Bd. 4, Frankfurt/M. u. a. 1981, S. 51f, hier S. 51. 13 Robert von Mohl: Gewerbe- und Fabrikwesen, in: Staats-Lexikon (wie Anm. 12), S. 52–117, hier S. 58.
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der Stände und der Ehrbegriffe, der Korporationen und Konventionen gewährleistet hatte? War die Geschichte der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft nicht eine Geschichte der wachsenden Ungleichheit und der schreienden Ungerechtigkeit?14 Würde am Ende nicht John D. Rockefellers Hund eben jene Milch trinken, die den rachitischen Kindern der Armen fehlt – wie es Paul A. Samuelson, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, einmal zugespitzt sarkastisch formuliert hat?15 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten sich solche Fragen nicht nur Katholiken, Konservative und Marxisten, sondern auch viele bürgerliche Liberale. Und spätestens die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, als offenkundig wurde, dass der Markt nun wirklich gar nichts mehr regelte und das kapitalistische Wirtschaftssystem an sich selbst zugrunde zu gehen schien, zwang viele Liberale, ihre Vorstellungen von Markt und Moral neu zu durchdenken. Dieser Aufgabe unterzog sich insbesondere der vielleicht einflussreichste liberale Think Tank der Nachkriegszeit, die sogenannte Mont Pèlerin Society, eine 1947 gegründete Keimzelle des Neoliberalismus, in der sich internationale Gelehrte, Kenner und Praktiker der liberalen Doktrin regelmäßig trafen.16 „Neoliberalismus“ darf also nicht verkürzt werden auf Marktradikalismus, wie es unser heutiges Verständnis von ihm meist tut. Die damaligen Neoliberalen standen vielmehr unter dem Eindruck einer doppelten Krisenerfahrung: Zum einen war das marktwirtschaftlich-kapitalistische, auf internationaler Arbeitsteilung beruhende System, wie es bis 1914 unbeschränkt geherrscht hatte, nach 1918 aber nur mühsam wieder aufgebaut worden war, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise faktisch zusammengebrochen. Ferner hatten die Neoliberalen den Aufstieg der totalitären Diktaturen und mithin die komplette Zerstörung der politischen Freiheit erlebt. Insofern erwies sich für sie die Verhältnisbestimmung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit als besondere Herausforderung. Als echte Liberale glaubten sie an die Unteilbarkeit der Freiheit. Sie waren getrieben von dem dringenden Wunsch, die Freiheit zu erneuern, um der totalitären Unfreiheit etwas Nachhaltiges entgegenzusetzen. 14 Resümierend zur Krise des liberalen Paradigmas seit den 1870er Jahren Werner Plumpe: Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas und der Aufstieg des Kathedersozialismus, in: Ders. / Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 17– 42, hier v. a. S. 21ff. 15 Samuelson on Worth, in: PBS Newshour, 18.12.2009, http://www.pbs.org/newshour/ making-sense/samuelson-on-worth/ (letzter Zugriff 4.3.2014). 16 Zur Mont Pèlerin-Gesellschaft materialreich, aber (über-)kritisch: Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der ‚Mont Pèlerin Society‘, Stuttgart 2008.
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Zunächst gaben mit Friedrich A. Hayek und Milton Friedman die optimistischen Advokaten des Marktes aus den USA den Ton in der Mont PèlerinGesellschaft an.17 Aber im Verlauf der 1950er Jahre gerieten sie innerhalb der Gesellschaft in einen scharfen Gegensatz zu deren deutschen Vertretern. Zwar gab es auch in den USA liberale Ökonomen, die unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise an der Entwicklungslogik des kapitalistischen Systems irrewurden.18 Mehr noch ist aber die Geschichte des deutschen Liberalismus fundamental gezeichnet von der fortschreitenden Einsicht in das moralische Versagen eines entfesselten Marktes und der von ihm produzierten industriellen Klassengesellschaft. Die wichtigsten deutschen Mitglieder der Mont Pèlerin-Gesellschaft waren Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sowie Walter Eucken und Alfred Müller-Armack. Sie seien im Folgenden mit einem Sammelbegriff liberale Marktskeptiker genannt, wobei sich ihr Denken an einigen Punkten deutlich voneinander unterschied. Röpke und Rüstow entwickelten sich zu eher konservativen Kulturpessimisten, Eucken und Müller-Armack sind als Ordoliberale und intellektuelle Begründer der Sozialen Marktwirtschaft in die Geschichte eingegangen. Gemeinsam war allen jedoch die Bereitschaft, sich der schmerzhaften Aufgabe zu unterziehen, klassisch-liberale Glaubenssätze und dabei das historische Dilemma von Markt und Moral neu zu erwägen und neu zu bewerten.19 Bis 1945 hatten die liberalen Marktskeptiker den Glauben an eine sich selbst regulierende Freiheit auf dem Markt verloren. Vielmehr lehrte sie die Diagnose des 19. Jahrhunderts, dass auf dem freien Markt neue private Machtpositionen und Kartelle an die Stelle der alten staatlichen Monopole und Privilegien getreten waren. Und die neuen privaten Machtpositionen waren um keinen Deut moralischer als die alten staatlichen, gegen die sich die frühen Liberalen einst gewandt hatten; im Gegenteil, sie gefährdeten die Freiheit selbst. „Es erwies sich, daß die Gewährung von Freiheit eine Gefahr für die Freiheit werden kann, wenn sie die Bildung privater Macht ermöglicht, daß zwar außerordentliche Energien durch sie geweckt werden, aber daß diese Energien auch freiheitszerstörend wirken können.“20 Die Chancen der Marktteilnehmer sind von vornherein sehr ungleich und diese Ungleichheit scheint sich über die Generationen hinweg zu verfestigen. War am Ende nicht die Geschichte des kapitalistischen Marktes, so fragten sich die Marktskep17 Vgl. die impressionistischen Ausführungen von Nicholas Wapshott: Keynes – Hayek. The Clash That Defined Modern Economics, New York 2011, S. 211–214. 18 Vgl. Ph. Plickert, Wandlungen (wie Anm. 16), S. 82, mit Blick auf Frank Knight. 19 Vgl. hierzu auch Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, v. a. S. 33ff am Beispiel Walter Euckens und der Freiburger Schule. 20 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik (1952), Tübingen 72004, S. 53. Vgl. ebd., S. 176.
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tiker, eine Geschichte der ungezügelten Freiheit, des nackten Egoismus und der moralischen Auflösung der Gesellschaft? Mutierte der Liberalismus dann nicht zu einem bloßen lebensfeindlichen Ökonomismus, in dem „kommerzieller Machiavellismus“ und „nackte Erwerbsgier“ die Herrschaft übernommen hatten21 und dessen Folgen im „Verfall aller traditionellen Bindungen“, Atomisierung, Isolierung und Vereinsamung des Einzelnen bestanden?22 War also der freie Markt am Ende schlicht amoralisch, zumindest in seinen Ergebnissen? Keineswegs jedenfalls, so resümierten die liberalen Marktskeptiker, spielt sich das Wirtschaftsleben in einem „moralischen Vakuum“ ab. „Es ist vielmehr dauernd in der Gefahr, die ethische Mittellage zu verlieren“ und dann vom rechten Weg abzukommen.23 Starke moralische Stützen, Gegengewichte, „die dauernde Anstrengung zur Selbstdisziplin“, sind daher erforderlich, um die Selbstzerstörung der Freiheit auf dem Markt zu verhindern.24 Diese kulturkritischen Überlegungen führen wieder zum historischen Dilemma des Liberalismus. Wie wir gesehen hatten, entzieht sich das optimistische, transatlantische Narrativ diesem Dilemma durch die Aussage: Etwas Besseres als den freien Markt gibt es nicht. Die Tugend und die bürgerliche Reziprozität sind authentische und realisierbare Möglichkeiten des Individuums. Auf dem Markt haben sie die besten Chancen, zur Geltung zu kommen und damit stabilisierend und letztlich moralisch zu wirken. Die Skeptiker dagegen sagen: Freiheit und Güte des Marktes leben von ethischen Voraussetzungen, die er selbst nicht hervorbringen kann. Die Welt des Geschäftslebens muss daher aus „sittlichen Reserven“ schöpfen, die außerhalb der Ökonomie ressortieren. „Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen diese sittlichen Reserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie.“25 Nur dann also, wenn der Zufluss solcher sittlicher Reserven gesichert ist, sind auch Freiheit und Moral auf dem Markt möglich. Welches aber sind die Gegengewichte, die starken moralischen Stützen, die solchen Zufluss sittlicher Reserven garantieren? Im Wesentlichen empfahlen die liberalen Skeptiker drei solcher moralischer Stützen: erstens bürgerliche Tugenden, zweitens die Familie und drittens der Staat. Im Folgenden wird die Diskussion dieser möglichen moralischen Stützen des Marktes mit der Frage verbunden: Wo stehen wir heute? 21 Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (1942), Erlenbach-Zürich 51948, S. 90; Ders.: Jenseits von Angebot und Nachfrage (1958), ND Düsseldorf 2009, S. 156. 22 Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, Bd. 3: Herrschaft oder Freiheit, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1957, S. 113. 23 W. Röpke, Angebot (wie Anm. 21), S. 168. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 169. Aus einem ähnlichen Impuls heraus argumentierte zur gleichen Zeit auch John Kenneth Galbraith: American Capitalism. The Concept of Countervailing Power (1952), Neuauflage New Brunswick/NJ 1993. In den USA war der Keynesianer Galbraith einer der schärfsten Gegner Hayeks und des Neoliberalismus.
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III. Schon in der schottischen Aufklärung, bei David Hume oder Adam Smith, und beim optimistischen Narrativ des Liberalismus spielten die bürgerlichen Tugenden eine zentrale Rolle. Allerdings waren sie hier in den Markt integriert, der Markt selbst entwickelte die Tugenden des Bürgers im Sinne des auf ihm waltenden Reziprozitätsprinzips. Die liberalen Skeptiker waren dagegen der Auffassung, dass die bürgerlichen Tugenden als vorgängig zu fördernde Gegenkraft gegen die moralische Selbstzerstörung der Freiheit auf dem Markt wirken müssten. Am klarsten formulierte das einmal mehr Wilhelm Röpke. Scharf kritisierte er die Naivität der liberalen Vorgänger des 18. und 19. Jahrhunderts, die an eine moralische Perfektibilität auf dem Markt und durch den Markt geglaubt hatten: „Man war […] der Meinung, daß die auf Konkurrenz und Arbeitsteilung beruhende Marktwirtschaft eine ausgezeichnete moralische Erziehungsanstalt sei und durch den Appell an den Egoismus die Menschen zu Frieden, Anstand und allen bürgerlichen Tugenden anhalte. Während wir heute wissen (was man immer hätte wissen können), daß die Konkurrenzwirtschaft ein Moralzehrer ist und daher Moralreserven außerhalb der Marktwirtschaft voraussetzt, war man verblendet genug, sie für einen Moralanreicherer zu halten.“26 Röpke selbst empfahl dagegen den Geistesaristokratismus einer sittlich gefestigten Individualität, eine „Nobilitas naturalis“: Damit meinte er eine schmale Elite, deren Vertreter sich unter anderem durch „ein exemplarisches und langsam reifendes Leben der entsagungsvollen Leistung für das Ganze, der unantastbaren Integrität und der ständigen Bändigung unseres gemeinen Appetits, durch bewährte Reife des Urteils, durch ein fleckenloses Privatleben […], eine Stellung über den Klassen, Interessen, Leidenschaften, Bosheiten und Torheiten der Menschen“ auszeichneten.27 Von der Existenz einer solchen „Schicht der moralischen Notabeln“ sah Röpke 1958 den Fortbestand der freien Welt abhängen. Röpkes Forderung wurzelte im 19. Jahrhundert, in einem zutiefst bürgerlichen Denken, einer durchaus auch zum Philisterhaften neigenden bürgerlichen Moral, wie wir sie gerade in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte in anderen Kontexten immer wieder finden.28 Schon in den 1950er Jahren aber wirkte das Ideal einer Aristokratie des Gemeinsinns anachronistisch. Und heute, ein halbes Jahrhundert später, können wir mit dieser Idee wohl kaum mehr etwas Richtiges anfangen. Wo sollte denn eine solche Elite herkommen? Wenn wir bei Röpke zum Beispiel lesen, dass es durchaus „einige Bankiers“ gibt, „die imstande sind, die großen Fragen der Wirtschaftspolitik, unbefangen durch ihre unmittelbaren und kurzfristigen Geschäftsinteressen“ 26 W. Röpke, Gesellschaftskrisis (wie Anm. 21), S. 88. 27 Ders., Angebot (wie Anm. 21), S. 176. 28 Allgemein hierzu: Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
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zu sehen – dann dürfte dies heute wohl nur noch, je nach Temperament, höhnisches Gelächter oder ein schmallippiges Lächeln hervorrufen. Wo sollten wir denn auch heute Sozialisationsinstanzen finden, die den Aufbau der bürgerlichen Tugenden fördern? Für die Marktskeptiker war dies in erster Linie die bürgerliche Familie. Auch in dieser Hinsicht erweisen sie sich als echte Vertreter des bürgerlichen Wertehimmels, wie er sich im 19. Jahrhundert entfaltet hatte. Rüstow sprach von der notwendigen Erneuerung der „ewigen Familie“; Röpke von der Familie als der „natürlichsten Gemeinschaftszelle“ und als „naturgegebenem Feld der Frau“.29 Mit diesem Rekurs auf die Kernfamilie vertraten sie einen der effektvollsten und langwirkenden rechtlichen und moralischen Standards der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Bekanntlich beruhte sie auf der klaren Trennung der weiblichen, das heißt der häuslich-privaten, und der männlichen, das heißt der öffentlich-berufsbezogenen Sphäre. Der Zusammenhang mit der sich etablierenden bürgerlichen Markt- und Erwerbsgesellschaft und der von ihr aufgeworfenen Kardinalfrage nach der Moral auf dem Markt ist leicht zu erkennen. Das geschlechtsspezifisch codierte Modell der Kleinfamilie eröffnet die Möglichkeit, dass zumindest die Kernfamilie selbst von den neuen Kräften des Marktes unberührt bleibt. Wenn nämlich schon der Mann außerhalb des Hauses dem Erwerb für die Familie nachgehen musste, dann war es umso wichtiger, dass seine Frau den Haushalt führte und ein von der Erwerbsarbeit getrenntes Refugium schuf. Wenn sich der Mann schon der rauen Konkurrenz des Marktes stellen musste, dann war es umso wichtiger, dass ihm ein privater, familiärer und den Marktkräften entzogener Innenraum blieb, der eben nicht durch Konkurrenz, sondern durch liebevolle Hingabe gekennzeichnet war. Dementsprechend zog zum Beispiel die weibliche Fabrikarbeit im 19. Jahrhundert die schärfste Kritik bürgerlich-liberaler Ökonomen, Juristen und sonstiger Experten auf sich. Für Jules Michelet, den Historiographen der Französischen Revolution und Lobpreiser des Volkes, war schon der Begriff „ouvrière“ – „Arbeiterin“ – ein, wie er sagte, „ruchloses, schmutziges Wort“.30 Das Hineinziehen von Frauen in den industriellen Arbeitsmarkt lehnte er wie die allermeisten anderen Autoren ab. Fabrikarbeit für Frauen, verheiratete zumal, sei schlicht schädlich: moralisch, körperlich, gesellschaftlich. Ihre Folge sei, so Robert Mohl 1835, „die Zerstörung des Familienlebens“.31 „Die Frau, 29 Siehe Ralf Ptak: Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus: ein deutscher Sonderweg, in: Christoph Butterwegge / Bettina Lösch / Ralf Ptak (Hg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2008, S. 69–89, hier S. 81. 30 Jules Michelet: La femme, Paris 1860, S. 28: „L’ouvrière! mot impie, sordide, qu’aucune langue n’eut jamais, qu’aucun temps n’aurait compris avant cet âge de fer, et qui balancerait à lui seul tous nos prétendus progrès.“ 31 Robert Mohl: Über die Nachteile, welche sowohl den Arbeitern selbst als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft von dem fabrikmäßigen Betrieb der Industrie zugehen und über die Notwendigkeit gründlicher Vorbeu-
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die Arbeiterin geworden ist“, sekundiert der französische Ökonom Jules Simon 1861, „ist keine Frau mehr. […] In einem Arbeiterhaushalt sind der Vater wie die Mutter 14 Stunden am Tag abwesend. Also gibt es keine Familie mehr.“32 Umgekehrt lautet das bürgerlich-liberale Credo: Die Frau als Hüterin des Hauses ist der Garant für die Moralität der Gesellschaft. Im Kern war dies noch der gedankliche Hintergrund, auf dem die deutschen Neoliberalen Mitte der 1950er Jahre ihre Verhältnisbestimmung zwischen Markt und Moral trafen, nicht ohne freilich schon klangvoll den „Verfall“ der Familie zu beklagen. Und blickt man von heute auf die Entwicklung im 20. Jahrhundert, dann wird rasch klar, wie wenig die bürgerliche Familie als moralspendende Quelle und Gegenkraft des Marktes taugt. Familie und Marktprinzip sind gestern wie heute Gegensätze, die kaum überbrückbar sind. Joseph Schumpeter, Zeitgenosse und Kritiker der Mont Pèlerin-Gesellschaft33, der selbst nicht mehr an die Wirksamkeit liberaler Werte glaubte, fand dafür die adäquaten Worte. Schon 1947, als alles von der Restitution der Familie sprach, diagnostizierte er die „Auflösung der bürgerlichen Familie“. Die rationalisierende Kraft des Marktes auf die Privatsphäre veränderte grundlegend und irreversibel das generative Verhalten. „Sobald Männer und Frauen die utilitaristische Lektion gelernt haben […], sobald sie in ihrem Privatleben eine Art unausgesprochener Kostenrechnung einführen, müssen ihnen unvermeidlich die schweren persönlichen Opfer, welche Familienbindungen und namentlich Elternschaft unter modernen Bedingungen mit sich bringen, […] bewußt werden.“ Sobald aber der Unternehmer nicht mehr durch Realität und Motive seines Hauses und seiner Familie geformt ist, wenn er nicht mehr in erster Linie für Frau und Kinder arbeitet und spart, dann entsteht unter moralischen Aspekten ein anderer Typus von homo oeconomicus. „Er geht“, so Schumpeter, „der kapitalistischen Ethik verlustig, welche für die Zukunft zu arbeiten einschärft, unabhängig davon, ob man die Ernte selbst einbringen wird oder nicht.“34 gungsmittel (1835), in: Carl Jantke / Dietrich Hilger (Hg.): Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg/München 1965, S. 294–318, hier S. 299. 32 Jules Simon: L’ouvrière (1861), Paris 1862, S. IVf: „C’est que la femme, devenue ouvrière, n’est plus une femme. […] Ils [les ouvriers] sont, si on peut le dire, tous prêts pour les affections domestiques: la difficulté est de ramener l’épouse et la mère dans la maison. La loi, l’industrie, les besoins matériels de la famille, les femmes elles-mêmes, tout y résiste. Il est également impossible d’ôter aux femmes un droit naturel, à l’industrie plus de la moitié des bras dont elle dispose, aux ménages un surcroit de ressources devenu chaque jour plus indispensable.“ 33 U. a. soll Schumpeter laut Albert Hunold gesagt haben, der beste Beweis für die Auffassung, dass liberale Ideen keine Rolle mehr spielten, sei das Treffen liberaler Ökonomen „on the top of a Swiss mountain of which I have forgotten the name.“ Zit. n. http://www. fee.org/library/detail/against-the-zeitgeist#axzz2PmNooA32 (6.4.2013). 34 Joseph Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie (1947), Tübingen 82005,
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Es ist deutlich geworden: Wer im 20. Jahrhundert an der bürgerlichen Familie als moralischem Gegengewicht zum Markt festhalten wollte, suchte sich vergeblich einem übermächtigen Trend entgegenzustemmen. Tatsächlich hat ja seit den 1950er Jahren die Familienbindung noch einmal drastisch nachgelassen. Heiratsquote und Geburtenrate gingen ebenso zurück, wie die Zahl der Ehescheidungen anstieg. Vor allem aber stieg seit den 1970er Jahren überall in Westeuropa die weibliche Erwerbsquote dauerhaft an. So wie die Industrialisierung einen tiefen Wandel in den Familienstrukturen und Geschlechterbeziehungen bewirkte – durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz –, so hat gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch der Zug zur postindustriellen Gesellschaft die Familienstrukturen verändert. Diese Entwicklung hat nunmehr seit vierzig Jahren die Frauen aus der Familie heraus- und in den Arbeitsmarkt hineingezogen. Marktgeschehen und Familienstrukturen haben sich einmal mehr grundlegend gewandelt; mehr denn je sind sie im Kern inkompatibel. Wenn aber weder die bürgerliche Tugend noch die bürgerliche Familie als moralische Stützen für den Markt taugen, dann bleibt als drittes und letztes Gegengewicht nur noch der Staat. Tatsächlich wird man sich wohl relativ leicht darauf einigen können, dass der moderne pluralistische, demokratisch verfasste Rechtsstaat die einzig denkbare Instanz ist, die hier eine Rolle spielen kann. Kann also der Staat der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft jene „sittlichen Reserven“ zuführen, die der Markt aus sich selbst heraus nicht zu erzeugen vermag? IV. Diese Frage, der der abschließende Gedankengang gelten soll, ist nicht letztgültig zu beantworten. Vielmehr ist sie Teil des historischen Dilemmas des Liberalismus. Einmal mehr lässt sich erkennen, wie zeitabhängig und damit wandelbar die möglichen Diagnosen und Antworten sind. Für die frühen Liberalen des 18. Jahrhunderts stand es völlig außer Frage, dass dem freien Markt die Moral gehörte und nicht dem Staat mit seinen als unmoralisch erachteten Monopolen und Privilegien. Heute sind wir geneigt, nach dem Staat zu rufen, und zwar aus Gründen der Moral, wenn nämlich sensible menschliche Bedürfnisse – wie das Gesundheitswesen, die Altenpflege oder gar die Trinkwasserversorgung35 – dem freien Markt und damit dem suspekten Interesse des privaten Investors ausgeliefert werden.
S. 254–259. 35 Vgl. „Der große Wasser-Marsch“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.2. 2013.
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Auch in dieser Hinsicht bestehen Kontinuitäten des Denkens, und es ist wenig überraschend, dass sich das optimistische Narrativ von Beginn an durch eine grundsätzliche Staatsskepsis auszeichnete. So war es der französische Liberale Frédéric Bastiat, der 1850 allen späteren liberalen Staatsskeptikern eine klassische Formulierung schenkte: „Der Staat ist die große Fiktion, in der jedermann auf Kosten von jedermann zu leben versucht.“ Und natürlich begründete Bastiat diese Kritik des Staates keineswegs bloß ökonomisch, sondern vor allem moralisch: „Was müssen wir von einem Volk denken“, so fuhr er fort, „wo man nicht zu ahnen scheint, daß die gegenseitige Plünderung nicht weniger Plünderung ist, weil sie gegenseitig ist; daß sie nicht weniger verbrecherisch ist, weil sie sich gesetzmäßig und in aller Ordnung vollzieht, daß sie nichts zum öffentlichen Wohl beiträgt; daß sie es im Gegenteil um all das vermindert, was der verschwenderische Vermittler kostet, den wir Staat nennen.“36 Und John Bright, einer der Begründer des ManchesterLiberalismus, vertrat die Auffassung: „Die meisten unserer Missstände sind durch Einmischung des Gesetzgebers entstanden.“37 Eine solche Haltung, die sich der konkreten Auseinandersetzung mit dem historischen Dilemma des Liberalismus entzieht, neigt zum Doktrinarismus. Bright wies auf dieser Basis praktisch jeden staatlichen Regelungsanspruch zurück, auch wenn es sich um das staatliche Schulwesen handelte oder darum, die Kinderarbeit in der Industrie gesetzlich zu beschränken.38 Hier verläuft denn auch nur ein extrem schmaler Grat zwischen dem Entwurf einer liberal begründeten Moral einerseits und der bloßen Verfechtung des puren Klasseninteresses zugunsten kapitalistischer Profitmaximierung andererseits. Eben solche Verhältnisse motivierten die deutschen Neo- und Ordo liberalen zu ihrer skeptischen historischen Diagnose des freien Marktes. Als Konsequenz hieraus zogen sie ein neues Staatsverständnis und nahmen einen neuen ordnungspolitischen Anlauf. Er bestand in der Konzeption eines selektiv starken Staates: eines demokratischen Rechtsstaats freilich, der die rechtlichen, sozialen und wettbewerblichen Regeln des Marktes setzen und durchsetzen sowie Verstöße gegen diese Regeln auch sanktionieren konnte. Ob man das nun zu Recht Soziale Marktwirtschaft nennen will oder nicht: Das ist im Wesentlichen der deutsche, aber darüber hinaus ganz allgemein der kontinentaleuropäische Weg nach 1945 gewesen. Durch den Boom der Nachkriegszeit und durch keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik breit gepflastert, führte dieser Weg in problematische Gefilde. Er führte in eine stetig zunehmende Regulierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung und förderte darüber hinaus das sozialprotektionistische Besitzstandsdenken. Gegen Ende 36 Zit. n. Karen Horn: Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?, in: W. Plumpe / J. Scholtyseck, Staat (wie Anm. 14), S. 205–226, hier S. 206. 37 „Most of our evils arise from legislative interference“, zit. n. C. A. Vince: John Bright, London 1898, S. 34. 38 Ebd., S. 32f.
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des 20. Jahrhunderts, als die Zeit der Hochkonjunktur zu Ende ging, erhoben sich daher wieder die alten Fragen. Strittig wurde erneut, ob nicht der Staat die Freiheit auf dem Markt über Gebühr einschränke; ob er – der er ja keineswegs voraussetzungslos und daher auch nicht per se neutral handelt39 – nicht tatsächlich zu einer gewaltigen Umverteilungsmaschine geworden war, deren Wirken unmoralisches Handeln im Sinne Frédéric Bastiats förderte, Eigeninitiative hemmte und sich darüber hinaus auch kaum mehr finanzieren ließ. In dieser historischen Situation schlug die Stunde des Neoliberalismus, wie wir ihn heute meist in einer ahistorischen Verkürzung verstehen. Dabei handelte es sich um jene Richtung um Friedrich A. Hayek und Milton Friedman, die in der Mont Pèlerin Society stets den marktoptimistischen Standpunkt vertreten hatte und nun im angelsächsischen Raum – unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher – die Deutungshoheit erreichte.40 Ihr antikeynesianisch getriebenes Credo lautete: Deregulierung, Entstaatlichung und Rückführung der öffentlichen Sozialausgaben. In einer neuen historischen Konstellation aktualisierte dies die bekannte Auffassung, wonach es auch zur Lösung schwieriger Probleme letztlich nichts Besseres (und nichts Moralischeres) gebe als den Markt. Je mehr Aktivitäten dem Markt und dem Individuum überlassen würden, desto geringer sei am Ende der Zwang für die Politik, entscheiden und zu einer als gerecht und moralisch akzeptierten Lösung kommen zu müssen.41 Mit anderen Worten: Die optimistische Vorstellung vom guten Markt konnte jetzt dazu dienen, die Politik von ihrer strukturellen Überforderung zu befreien und sie von schwierigen, komplexen Steuerungsaufgaben zu entlasten. In den 1980er und 1990er Jahren, als der Einfluss Milton Friedmans und der Chicago School seinen Höhepunkt erreichte, bildete dies auch in Europa die gedankliche Grundlage für die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.42 Beim Sprechen über das gegenwärtige Verhältnis von Markt und Staat sollte aber noch eine andere Entwicklung berücksichtigt werden. Denn parallel zur Privatisierungspolitik und konsequent im Sinne des Neoliberalismus hat sich ein politisches Rezept durchgesetzt, welches das Europa unserer Tage stark bestimmt. Es entspringt der Einsicht, dass sich die Märkte angesichts der Globalisierung massiv verändern und dass dies nicht zuletzt auch für die Arbeitsmärkte gilt. Daher ist es das Ziel der Brüsseler EU-Kommission, einerseits die moralische Autonomie des Individuums auf dem Markt zu stärken; dies geschieht andererseits aber dadurch, dass die Verantwortung für 39 Vgl. hierzu erhellend: W. Eucken, Grundsätze (wie Anm. 20), S. 330–332. 40 Vgl. hierzu N. Wapshott, Keynes – Hayek (wie Anm. 17), S. 247–265 („Hayek’s Counterrevolution“). 41 M. Friedman, Kapitalismus (wie Anm. 10), S. 47. 42 Siehe zur Privatisierung jetzt Norbert Frei / Dietmar Süss (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012.
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die jeweiligen Marktchancen auf den Einzelnen verlagert wird.43 Das Mittel hierzu lautet Bildung. Bildung gilt seit den 1990er Jahren als entscheidender Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. In der Politik der Europäischen Union wird daher die Entwicklung des „Humankapitals“ – oder freundlicher formuliert, die „Investitionen in die Menschen“ – zu einem Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftspolitischen Prioritäten. „Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft hängen unmittelbar von gut ausgebildeten, qualifizierten und anpassungsfähigen Arbeitskräften ab, die mit Veränderungen umgehen können.“ So formuliert es etwa der sogenannte „Kok-Bericht“, ein Schlüsseldokument der EU im Jahre 2004.44 Das entscheidende Stichwort lautet in diesem Zusammenhang „employability“: Die auf dem Markt einsetzbare Beschäftigungsfähigkeit wird als das Ziel aller Bildungsanstrengungen deklariert, und auf dieses Ziel hin gilt es alle Bildungseinrichtungen auszurichten: von der Vorschule über die Primar- und Sekundarstufe bis zur Universitätsbildung, zu deren Leitmotiv im Rahmen des 1999 verabschiedeten „Bologna-Prozesses“ ebenfalls die „employability“ avancierte. Angestrebt wurde eine lückenlose und starke Kette des „lebenslangen Lernens“, für die es „verlässliche, bedarfsgerechte Systeme“ zu etablieren gilt. Zusammen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik soll dies „die Menschen dabei unterstützen, schnellen Wandel, Perioden der Arbeitslosigkeit und den Übergang zu einer neuen Beschäftigung zu bewältigen.“45 Das Zauberwort hierfür heißt Flexibilität, verstanden als „Beweglichkeit, Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit“ auf dem Markt.46 Der seit den 1980er Jahren forcierten Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hatte nun die Flexibilität der Arbeitnehmer zu folgen. An dieser Stelle ist man an einem Punkt angelangt, an dem die Wendung zum Neoliberalismus im Sinne eines „Es gibt nichts Besseres als den Markt“ erneut ihre Kehr- und Schattenseiten offenbart hat. Denn die Hoffnung oder auch nur die Behauptung, der Markt verrichte Dienstleistungen grundsätzlich besser und effektiver als der Staat, bildete für die Politiker aller Richtungen eine große, ja im Grunde unwiderstehliche Versuchung: In Zeiten 43 Hierzu und zum Folgenden vgl. ausführlicher Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 22012, S. 247ff. 44 Kok-Bericht: Die Herausforderung annehmen. Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Bericht der Hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok, November 2004, Luxemburg 2004, http://ec.europa.eu/growthandjobs/ pdf/kok_report_de.pdf (Abruf am 4.3.2014). 45 Jetzt aufs Tempo drücken. Die neue Partnerschaft für Wachstum und Arbeitsplätze. Mitteilung der Kommission für die Frühjahrstagung des europäischen Rates, Brüssel 2006, S. 24 (http://eur-lex.europa.eu/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexplus!prod!DocNum ber&lg=de&type_doc=COMfinal&an_doc=2006&nu_doc=30, Abruf am 4.3.2014). Für eine weitgehend affirmative Analyse von flexibility und employability siehe auch Anthony Giddens: Europe in the Global Age, Cambridge 2007, S. 21–24. 46 Kok-Bericht (wie Anm. 44), S. 36 u. 39.
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immer knapper werdender Kassen konnten sie die Probleme einfach an den Markt wegdelegieren und damit ihre eigene Agenda bereinigen. Die Ansprüche und Irrwege, die sich aus diesem Kalkül ergaben, liegen inzwischen offen zutage. Zweifellos ist es eine sympathische Perspektive, wenn komplizierte Probleme auf dem Markt politisch neutralisiert oder sogar entpolitisiert werden. Was aber, wenn das Politische ökonomisiert wird? Die vielbeklagte, aber fortschreitende Ökonomisierung auch solcher Sektoren der Infrastruktur und Daseinsvorsorge wie Verkehr und Energie, Gesundheit und Pflege, Bildung und Wissenschaft und vieles andere mehr war die Folge. Auch der moderne, gut gebildete Arbeitnehmer, der souverän auf dem Markt agierende homo oeconomicus, der die Gestaltung seiner eigenen Biographie aktiv in die Hand nimmt und seine Chancen nutzt: auch dieser Typus will sich in der Breite nicht so wirklich einstellen. Das Ergebnis der globalisierungsbedingten Zukunftsstrategien in Europa ist vielmehr eine neue, massenhafte individuelle Verwundbarkeit auf dem Markt. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und seiner Teilnehmer hat in praktisch allen europäischen Gesellschaften zu einer Häufung ungeregelter, rechtlich wenig geschützter Arbeitsplätze geführt mit abnehmender Jobsicherheit und unsicheren Verdienstmöglichkeiten. Über die internationalen Finanzmärkte schließlich, die seit den 1980er Jahren ganz gezielt und politisch gewollt liberalisiert und damit entfesselt wurden,47 bräuchte man eigentlich gar nicht weiter zu sprechen, wenn sie nicht künftig als das geradezu klassische Lehrstück des hier behandelten Themas gelten würden. Denn schon in den 1980er Jahren wurde die Kehrseite der finanzpolitischen Deregulierung erkennbar. Wo Regeln fehlten, drohte Regellosigkeit. Wo in der Theorie die „unsichtbare Hand“ herrschen sollte, verbreiteten sich bald schon Maßlosigkeit, Gier und Korruption. Wo sich der Staat allzu weit zurückzog, traten auch Markt und Moral allzu weit auseinander. Filme wie Oliver Stones „Wall Street“ (1987) und Romane wie Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“ aus demselben Jahr vermitteln einen sprechenden Eindruck von diesen Mechanismen. Dass sie allmählich systemisch wurden, zeigte sich im Verlauf des folgenden Jahrzehnts. Denn wenn die Grundlagen für neue, angelsächsisch geprägte Formen des Finanzkapitalismus in den 1980er Jahren gelegt wurden, so entfaltete er sich in den 1990er Jahren zu voller Blüte. Der dynamisch wachsende internationale Finanzmarkt geriet zum Tummelplatz der Ambitionierten, lockte mit Traumgehältern und Bonuszahlungen. Eine neue internationale Elite von (meist männlichen) Investment-Bankern griff nach beruflichem „Thrill“, persönlichem Reichtum und gesellschaftlichem Prestige. „Betriebsunfälle“ auf dem Weg dorthin nahm die Community billigend in Kauf oder achselzuckend zur Kenntnis. Besonders spektakulär war der Fall des britischen Investment-Bankers Nick 47 Grundlegend hierzu: Élie Cohen: Penser la crise. Défaillances de la théorie, du marché, de la régulation, Paris 2010.
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Leeson. In Singapur tätig, geriet er Ende Februar 1995 an den fernöstlichen Wertpapierbörsen in Schwierigkeiten. Seit Jahren hatte er hinter dem Rücken seines Arbeitgebers, der britischen Barings Bank, auf eigene Rechnung, aber mit fremdem Kapital spekuliert. Nach einer Serie von Rückschlägen stieg der von ihm akkumulierte Verlust auf ca. 619 Millionen britische Pfund. Die illegalen Machenschaften ließen sich nicht mehr verheimlichen, und Barings, die älteste Privatbank Europas, gegründet 1762, war pleite – von einem einzigen ihrer leitenden Angestellten in den Ruin getrieben.48 Es ist schon eine eigentümliche Ironie der Geschichte und zugleich ein Lehrstück zum Thema Markt und Moral, dass die Politik die Banken zunächst flächendeckend deregulierte und zum Beispiel die Trennung von Geschäftsund Investmentbanken aufhob, nur um zwanzig Jahre später das gerade auch moralisch völlig außer Kontrolle geratene internationale Bankwesen erneut zu regulieren. Was gegenwärtig also auf der Tagesordnung steht, ist nichts anderes als eine historische Dialektik von staatlicher Regulierung, Deregulierung und „Re-Regulierung“. Nicht zuletzt in Zeiten eines fundamentalen, weltweit wirksamen Strukturwandels gilt es also die Rolle des Staates und sein Verhältnis zum Markt immer wieder neu zu bestimmen. *** Mithin sollte deutlich geworden sein, wie der Liberalismus letzten Endes mit seinem historischen Dilemma umgehen kann. Die Krise des marktradikalen Neoliberalismus macht es mehr als deutlich: Liberales Denken, liberale Politik und last but not least liberale Parteien dürfen dem Dilemma nicht ausweichen, im Gegenteil. Der Liberale muss das Dilemma immer wieder neu durchdenken, die Grenzen zwischen Markt und Staat neu reflektieren und gegebenenfalls verschieben. Immer wieder aufs Neue muss er sich die Frage stellen, inwieweit Markt und Moral zusammengehören, wieweit die Entlastung des Politischen und die Freiheit zum Verfolgen des Eigeninteresses dem Markt ein ausreichendes moralisches Fundament verleihen; oder inwieweit der Markt selbstzerstörerisch zu werden droht und sittlicher Ressourcen von außen bedarf, die nach heutiger Lage der Dinge nur der demokratische Rechtsstaat zu spenden vermag. Immer wieder neu gilt es also, im Lichte der jeweiligen historischen Situation einerseits die Freiheit gegen ihre Kritiker zu verteidigen, zugleich aber nach Wegen ihrer Begrenzung zu suchen, ohne sie selbst zu zerstören.
48 Vgl. hierzu mit Einzelheiten http://zeitenwende.ch/finanzgeschichte/nick-leeson-undder-konkurs-der-barings-bank-1995/ (16.6.2011).
SOCIAL LIBERALISM IN EUROPEAN PERSPECTIVE SINCE THE LATE NINETEENTH CENTURY Michael Freeden 1. HARDLY A FAMOUS VICTORY In his book The End of History and the Last Man Francis Fukuyama famously, or infamously, wrote: “What is emerging victorious … is not so much liberal practice, as the liberal idea … there is now no ideology with pretensions to universality that is in a position to challenge liberal democracy”.1 The problem with that is not only that for something to be victorious there must be a finishing post, or some other measure of finality, which unfortunately history is not generous enough to afford us. There are more serious problems in that statement. First is the reference to the liberal idea in the singular. For American liberalism, to which Fukuyama refers, is a sub-set within the family of liberalisms with its own peculiarities. Above all it is wedded to a strong notion of individual rights within a constitutional framework, a liberalism of mutual respect, of spaces, balances and boundaries. It preaches, as an undercurrent, a very limited form of redistribution of resources, so limited that it has been incapable of sustaining anything like European notions of welfarism and a welfare state (even those that emanate from a non-liberal Christian Democratic background). Second, in its philosophical modes American liberalism has returned to a form of contractualism à la Rawls, intended to secure a new, rock-solid, and rationally and ethically unchallengeable foundation for liberalism. That was a reaction in part to the accusations, levelled at liberal varieties of thinking, that they were too soft and forgiving to prevent the rise of the totalitarianisms of the 1930s and 1940s.2 Moreover, that completely ahistorical version of academic liberalism has reinvented its own American history, tracing its path not through a mythology relating to Locke’s natural rights – a path long adopted by American liberal theorists and thus at least with an empirically observable pedigree – but through Kantian ultra-rationalism and a version of the “dictates
1 2
Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, London 2012, p. 45. For a forceful example of that see John H. Hallowell: The Decline of Liberalism as an Ideology, London 1946.
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of reason” perspective,3 despite the fact that Kant’s writings played virtually no role prior to the 1950s in the story of American liberalism. Third, the phrase “pretentions to universality” requires great scrutiny. Elsewhere, Fukuyama translates that into a theory of “a common evolutionary pattern for all human societies – in short, something like a Universal History of mankind in the direction of liberal democracy.”4 In that teleological version of liberalism, which for Fukuyama is identical to liberal democracy, “the principles of liberty and equality on which they are based are not accidents or the results of ethnocentric prejudice, but are in fact discoveries about the nature of man as man, whose truth … grows more evident as one’s point of view becomes more cosmopolitan.”5 Had Fukuyama rested content with the word “pretensions” he might have been on safer ground. From the perspective of actual political thinking and the conceptual history of liberalism, it would be far more plausible to regard those pretensions to universality as a central feature of the parochialism of liberalism, a parochialism shared with all other ideologies, no matter how much they masquerade under the banners of fact, truth and reason. The notion of universality is not a universally-held notion. In examining European liberalisms we need to abandon any idea of singularity and to confront their nuances and differences. First, ideas of victory are notably absent from the European liberal lexicon, in a continent where liberalism had to struggle desperately for its survival and where to this very day we are aware that liberal ideas, like those of any ideology, have continuously to fight their corner in order to make an impact. Liberalism cannot be magicked out of a constitutional hat, as some Americans seem to believe, and indeed in the European context the Rechtsstaat did not emerge from a liberal stable to begin with. When George W. Bush announced that the USA would bring freedom and democracy to Iraq it was under the assumption that those terms are clear and unambiguous, let alone deliverable to a troubled society whose culture was not located within the range of liberal positions. 2. THE RISE OF A SOCIAL LIBERALISM Hence the further question then immediately becomes – which liberalism are we talking about? In the United Kingdom the rise of a social liberalism was enabled by a concatenation of different factors. One set of factors required a series of shifts in intellectual climates that could nourish such a possibility. Among those was the transformation of utilitarianism by a triple move. First, it was anchored it in what was useful for societies as well as individ3 4 5
John Rawls: Political Liberalism, New York 1993, p. 45. F. Fukuyama, End (as in annot. 1), p. 48. Ibid., p. 51 (italics added).
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uals; second, it was modified from mere pleasure-maximizing to the pursuit of well-being; and third, a historical perspective was introduced to what in Bentham’s hands had been a strangely time-insensitive psychology. A further switch of intellectual fashions inserted a particularly powerful genre of evolutionism into progressive political thought, expressed most succinctly by David George Ritchie and Leonard Hobhouse. For them, as for others, the evolutionary process was not the social Darwinism of augmented competition and the struggle for survival but quite its opposite: an increased rationality expressed through co-operation and a convergence – though not a fusion – of individual ends to demarcate an area of the common good.6 A second set of factors relates to the ease in which a space in a crowded and highly competitive ideological and political field was carved out, one in which liberal thinking could find a niche of its own. That was facilitated in the UK, no doubt, by the first-past-the-post electoral system, the growth and impact of the Liberal press, and a tendency of party-politics to shy away from an intellectualization of political and ideological objectives, leaving it open for a liberal intelligentsia to display independent creativity. A third factor permitted a re-emerging radical tendency within liberalism to associate itself with a growing rush of social reform measures, as the human costs of the industrial revolution were seen to bite and become ethically intolerable. The fast urbanization of the UK had rapidly transformed British politics into urban politics. As the liberal reformer C. F. G. Masterman observed in 1901: “The England of the past has been an England of reserved, silent men, dispersed in small towns, village, and country homes. The England of the future is an England packed tightly in such gigantic aggregations of population as the world has never seen before.”7 This ensured that the issues on the national agenda were no longer provincial and agricultural but concerned with urban distress: poverty, substandard housing, mass unemployment and industrial diseases and accidents. As one wit described this, the old rural radical rallying call for “three acres and a cow” was now replaced by “three rooms and a cat”. The liberals – equipped with “cutting-edge” social theories of social interdependence – were the quickest to recognize the interconnectedness of these issues, rather than treating them post hoc and piecemeal. Narrow political reform was seen as inadequate to answer the growing demands to bring the rising working class into the orbit of proper citizenship and to remove many of the blots on an ostensibly civilized landscape. Not surprisingly, middle class professionals were at the forefront of such agitation, and they spearheaded the social reforms of a country priding itself on its colonial achievements, but disgracefully incapable of rectifying defects in what Masterman had termed 6 7
For details see Michael Freeden: The New Liberalism: An Ideology of Social Reform, Oxford 1978. Charles Frederick Gurney Masterman: The Heart of the Empire, London 1901, p. 7.
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The Heart of the Empire. Hence a fourth factor was a shift of the energy of liberalism from imperial and economic entrepreneurship to an increasing concern with the domestic front, in which the resistance to the Boer War, detested by progressives, played a significant symbolic role. The gradual but steady rise of welfarism constructed an ideological and institutional edifice that was the proudest creation of liberalism over the past century or so, and rivalled its earlier contributions to the rise of individualism and the attempted separation of the private from the public domain. Its liberal social elements of co-partnership between state, workplace and individual distinguish the welfare state from socialist as well as paternalist visions of welfare. Though that seemingly resembled continental corporatism, it lacked the stronger integrative visions and institutional arrangements of the latter. That said, the pace of liberal developments was uneven and often disjointed even in the UK. On the continent the most glaring difference was the absence of the parallel power of UK liberalism both as ideology and as a political movement. In the UK, late 19th century liberalism could shelter under the salient umbrella of a political party and the unequalled status of political thinkers such as Mill. Consequently, one of the most potent weapons of social liberalism was to present itself as the latest development of a powerful tradition, logically entailed from its predecessors. Mill was retrospectively co-opted to endorse left-liberalisms that would have been out of his ideological range. In Germany, France and Italy liberalism had no such luck. Dwarfed by authoritarianism or overshadowed by socialist and Marxist radicalisms, liberalism could not enjoy the free run and the breathing space under which it flowered in the UK. In Italy small segments of social-liberal thought emerged after WW1 – Guido de Ruggiero as a historian of liberalism8 or Carlo Rosselli as a liberal socialist spring to mind – under very difficult adverse conditions. As Rosselli, writing in 1928/9, commented from a continental perspective: “The phrase ‘liberal socialism’ has a strange sound to many who are accustomed to current political terminology. The word ‘liberalism’ … has been so much the preserve of the bourgeoisie in the past, that today a socialist has difficulty bringing himself to use it.” In Bernsteinian hues, Rosselli saw socialism as “nothing more than the logical development, taken to its extreme consequences of the principle of liberty. Socialism … is liberalism in action.” Liberalism was “the political theory that takes the inner freedom of the human spirit as a given and adopts liberty as the ultimate goal. But also the ultimate means, the ultimate rule, of shared human life.”9 In Germany, welfare thinking was largely detached from a liberal environment, having made its early running in a pre-democratic society; alternatively, a national, elitist liberalism expressed a still keenly-felt anxiety about democracy, as with Max Weber, at a time when British liber8 9
Guido de Ruggiero: The History of European Liberalism, Oxford 1927. Carlo Rosselli: Liberal Socialism, Princeton 1994, pp. 84–86.
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alism had begun to embrace it.10 For a social liberalism was always also a democratic one. Friedrich Naumann was one of the few who attempted, with little success, to introduce a social liberalism into pre-1914 Germany, in an attempt to bridge the gap between the left liberals and the moderate Social Democrats.11 In France, a continuous aversion to associate liberalism with a form of humanist progressivism has blinded analysts ever since to the presence of liberal tendencies in its midst. But even the Solidarisme of Duguit and Durkheim, although close in some ways to British new liberalism, was also very distinct: it was more concerned with the moral role of the state and with the brokerage performed by intermediate institutions – in other words, with the educational and power-dispersing nature of a solidaric society.12 3. SOCIAL RIGHTS AND INDIVIDUAL RIGHTS The “social“ in social liberalism could itself be pulled into different directions: towards the recognition of human interdependence and social unity – an argument that often took the shape of a non-Marxist attack on class, class having a far greater prominence on the continent; or – often in addition – as a plea for the fundamental distribution of access to all the goods of a society, with a view to increasing human well-being. In the British case, the concept of class had resonance among the organized working class and trade unions, though not necessarily in its Marxist form, but played only a small role in liberal thought, with its typical aversion to class analysis. What we have, perhaps unusually among members of the liberal family, was a heavy investment of faith in a democratically-controlled state as an impartial agent of society, a position far more difficult for continental ideologies to adopt, with their diverse experiences of an externalized state, oppressive or weak in turn. Despite some support for voluntary or quasi-voluntary associations, the attraction of the state for British liberals lay in the promise of a social agent powerful and efficient enough to remove the hindrances to human development and flourishing, once it became clear that vested interests, human incompetence or fragility, and uncoordinated private initiative would not enable that task to be performed satisfactorily. The “removal of obstacles” phrase was taken up by 10 Max Weber: Economy and Society I, ed. Guenther Roth / Claus Wittich, Berkeley, CA, 1978, ‘Parliament and Government in a Reconstructed Germany’, pp. 1381– 1469. 11 Friedrich Naumann: Das Prinzip des Liberalismus, Opladen 1964 [1904]. See also Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines Deutungsmusters, München 2001, pp. 519f. 12 Émile Durkheim: Professional Ethics and Civic Morals, London 1992; Léon Duguit: Law in the Modern State, London 1921; William Logue: From Philosophy to Sociology: The Evolution of French Liberalism 1870–1914, De Kalb, IL, 1983.
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T. H. Green and passed down the line of liberal descent. It was plucked from the familiar vocabulary of restricting constraints that liberals had employed ab initio, but dramatically expanded the idea of what constituted obstacles to the exercise of human liberty and who was charged with the duty to remove them. For Green, under the heading of “…the effectual action of the state … for the promotion of habits of true citizenship … there may and should be included much that most states have hitherto neglected.” His conclusion was that “the state may remove obstacles to the realisation of the capacity for beneficial exercise of rights, without defeating its own object by vitiating the spontaneous character of that capacity.”13 Here was one focal point of the social liberalism that emanated from the Millite heritage; the other being the introduction of an organic conception of society into left-liberal thought. Mill, of course, had a reasonably strong appreciation of human sociability, but he displayed an even stronger insistence on the centrality of the “free development of individuality.” That vital phrase catapulted liberalism from a doctrine in which spaces and boundaries around individuals, enforced through constitutions and private property, provided the conditions for liberty, towards a doctrine in which liberty alone was insufficient to guarantee the elements either of a good society or a satisfied individual and in which the axis of “horizontal” spatiality was supplemented by the axis of “vertical” temporality. Ironically, Chapter Three of On Liberty, “On Individuality”, in which Mill expounded those views, was inspired by the German philosopher Wilhelm von Humboldt, who in The Limits of State Action, from which Mill quoted selectively but enthusiastically, had in fact argued for a more libertarian version of liberalism than the one Mill was content to espouse.14 But the rise of a time-oriented liberalism that, however open-ended, regarded human growth as complementary to human autonomy, signalled a new stage in its history. Within a couple of generations, the temporal drive of liberalism had been further linked to the human dependence on collective guidance and direction. In a remarkable turnaround that other European liberals, let alone American ones, are often loath to identify as liberal, the British exemplar emphatically renewed its pledges to a form of moderate social radicalism while retaining loyalty to the idea of individuality. It did so by preserving liberal terminology but re-injecting it with nuanced meanings. Take the idea of rights, with its impeccable liberal pedigree. Locke’s natural rights – and Locke is usually considered to be a proto-liberal – served the purpose of identifying human beings as individuals and as quasi-sacred bearers of valuable attributes that required powerful protection. The idea of a right as a protective and prioritizing capsule for such attributes, and its safeguard13 Thomas Hill Green: Lectures on the Principles of Political Obligation, London 1941, pp. 208–10. 14 John Stuart Mill: On Liberty, London 1910 [1859], pp. 115f.
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ing as the iron-cast test of a legitimate government, was a brilliant invention of human reason and imagination. That idea has been preserved as central to the liberal tradition, but its clothing has been completely refashioned. States of nature were no longer attractive to the philosophical anthropology of later centuries which replaced them with the inevitability of social life, and the metaphysical status of a right had to make way for their social origination as well as their permanent social utility. This interestingly did not relativize rights, as the inalienability of bearing rights was not abandoned but re-anchored as the inescapable and inevitable consequence of social membership. Rights were secularized and humanized as part of the reciprocal ties among human beings, ties that were increasing as part of the social evolutionary process that saw a continuous increase in sociability. D. G. Ritchie’s attack on conventional natural rights reflected that significant change: “If there are certain mutual claims which cannot be ignored without detriment to the well-being and, in the last resort, to the very being of a community, these claims may be in an intelligible sense be called fundamental or natural rights. They represent the minimum of security and advantage which a community must guarantee to its members at the risk of going to pieces”.15 Even more significant was the relentless expansion of what constituted a right. For Hobhouse, rights are expectations justified by the common good and “any genuine right … is one of the conditions of social welfare”,16 or as he elaborated: “it was the function of the State to secure conditions under which its citizens are able to win by their own efforts all that is necessary to a full civic efficiency”.17 An article in the liberal weekly “The Nation” interpreted rights as “The claim for a share in life”.18 Individuals had to be protected from a far more extended list of hindrances to their free development. That was epitomized by the leading new liberal J. A. Hobson, whose 1909 wish list of the goods a liberal state should necessarily supply by right included “free land, free travel, free power, free credit, security, justice and education” adding that “no man is ‘free’ for the full purposes of civilized life to-day unless he has all these liberties”.19 Significantly, the argument was based on liberty, not equality, in a chapter entitled “Equality of Opportunity”, when equality was plainly subservient to opportunity. Finally we find the startling inclusion – from a liberal viewpoint – of society, and its agent the state, as rights holders: not replacing the rights of individual agents but in parallel with them. Hobhouse again: “The community itself may be said to have rights, that is just claims upon its members and all its constituent ele15 David George Ritchie: Natural Rights, London 1895, p. 87. 16 Leonard Trelawny Hobhouse: Social Evolution and Political Theory, New York 1911, p. 198. 17 Id.: Liberalism, London 1911, p. 158. 18 The Nation, 28.9.1912. 19 John Atkinson Hobson: The Crisis of Liberalism, London 1909, p. 113.
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ments”, provided that the conduct of the community was organized “with a view to the common good.”20 Hobson’s famous inversion of organicism from a conventionally authoritarian, even totalitarian metaphor to a liberal one indicated that the health of the whole, of society, was dependent on the health of each and every part, but organicism it was nonetheless.21 All this points to a liberalism wedded to a unitary view of society that assumed a harmony at odds with liberalism’s late twentieth-century sensitivity to dissent, pluralism, and multiculturalism. Those more recent concerns have nibbled away at any shared vision of human flourishing by challenging such joint standards, particularly in the area of cultural expression and group choices. Such pluralism would have disturbed the founders of the welfare state, because it deviated from the generally shared conception of the social good they had entertained. Notions of the common good optimistically suggested a singular view of social betterment, from which all social groups would benefit equally – because of the assumed identity of their needs in a macro sense, independently of the cultural reformulations of such needs. In parallel, the confidence in the state as the trustworthy articulator and protector of that inclusive vision came and went within a generation. 4. LIBERAL LAYERS To understand social liberalism it has to be contextualized within a much larger history of liberal thinking. That history is not simply sequential or chronological. Indeed, to impose a sequential narrative is to assume an evolutionary coherence, which exists mainly in the eyes of conventional interpreters for whom history is a story, and that is heavily infused with certain cultural markers. It is also to overlook the fragmentation of liberal traditions as they weave in and out of each other. We are witnessing, rather, a fivefold metamorphosis of liberalism though the development and occasional jettisoning of distinctive layers. In Reinhart Koselleck’s famous analysis of “the contemporaneity of the non-contemporaneous” he had already noted the “diversity of temporal strata which are of various duration, according to the agents or circumstances in question, and which are to be measured against each other.”22 Here the argument is slightly different, for the diversity of strata applies not only to a sequential history but to the structure of liberal ideology itself. We are referring here to a composite of accumulated, discarded and retrieved layers in a disorderly and fluctuating combination, but one that can be loosely detected. Importantly, those layers do not follow one another, nor 20 Leonard Trelawny Hobhouse: The Elements of Social Justice, London 1922, p. 41. 21 John Atkinson Hobson: Work and Wealth, London 1914. 22 Reinhart Koselleck: Futures Past: On the Semantics of Historical Time, Cambridge, MA, 1985, p. 94.
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are they complementary. They sometimes exist in parallel, yet any one layer may contain elements that are incompatible with the features of other layers. Liberalism thus displays patterned irregularities alongside more durable characteristics, with one layer or another salient at different historical moments. Although particularly evident in English and British variants of liberalism, those features are more widespread geographically and culturally within the family of liberal ideologies. Liberalism’s first layer was chiefly a restraining doctrine separating rulers from the ruled and limiting their capacity for arbitrary conduct. Beginning with invented and artificial time – the state of nature – it proceeded to invented and artificial timelessness – the rule of reason.23 Its second layer became a vehicle for the expression of individual preferences under conditions of non-interference by others, in industrial, commercial and financial entrepreneurship utilizing markets and free trade, while also epitomizing the feeling of open boundaries and a tentative internationalism – often in colonial guise. Its third layer combined the Millite notion of individual development with continental ideas of Bildung to unlock human potential: temporal dynamism replacing constitutional stasis. Liberalism’s fourth layer is the one under examination in this chapter, one in which social space was reconceptualised as no longer separating individuals, as in the first layer of liberalism, but as intertwining them. There is a fifth layer as well, outside the time-span of this chapter: the reintroduction of diversity and uniqueness into the liberal lexicon, partly displacing its past universalism. But whereas with Mill, the diversity is one of eccentric individuals whose cultivation may enrich social life, since the last third of the 20th century it has been one in which the distinctiveness of groups – ethnic, gender or religious – has been added to the core list of what liberal profess to hold dear, or at least to respect. The tensions between such liberal particularisms and liberal universalisms would have seemed unreasonable to the faith in harmonious unity endorsed by pre-1914 new liberals, but they are typical, disruptive and messy features of contemporary liberalism, exemplified in recent debates surrounding Muslim scarves and the caricaturing of religious holy men. That indeterminacy and inconclusiveness of liberalism cuts it down to size as its analysts come to recognize that, like any ideology, it permanently lacks solutions to major social and political issues.24
23 See Michael Freeden: European liberalisms: An essay in comparative political thought, in: European Journal of Political Theory 7 (2008), pp. 9–30. 24 For an elaboration of the layers of liberalism see Michael Freeden: Temporal Evolution and Morphological Complexity: The Multiple Layers of British Liberalism, in: Michael Freeden / Jörn Leonhard / Javier Fernandez Sebastian, eds.: The Conceptual History of Europe: Liberalism, New York/London forthcoming.
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5. THE CONTINENTAL PERSPECTIVE How does all this look in a more comparative framework? Curiously, if we examine the first quarter of the 20th century, the nearest parallel to British left-liberalism was social democracy in Scandinavia. We have here a problem with ideological terminology, with the bestowing of names, far more than with the content of those welfarist political belief systems. Close analysis reveals that the idea of human interdependence that social democrats and left-liberals developed more or less in tandem invoked a powerful sense of mutual sustenance, as is evident in Ernst Wigforss’s matching of liberty and community.25 Wigforss, moreover, was familiar with Hobhouse’s writings. Certain elements were also derived from late 19th century French debates on social security, in particular the normalization of human frailty as an existential condition that social policy makers needed to take into account. The world of insurance had of course focused heavily on selected risk, but life was now seen as inherently risky, and human fragility was recognized as ubiquitous and therefore as a social concern, for reasons both linked to humanism and to sound economics. Consequently the introduction for the first time of national budgets that incorporated financial planning for a number of years ahead; hence also the preoccupation with the future timeline of current members of society as old age threatened over the horizon, and with the future vitality of society at large in welfare legislation for children. Those were not merely humanitarian acts but forms of social investment. Such views ran counter to the myth of the implicitly aggressive, or at least energetic and self-sustaining, entrepreneur from which Victorian liberalism drew sustenance. But they contributed crucially to the refining of welfare ideologies and steered liberalism away from a stark over-rationality. As a consequence of the First World War, British liberalism disassociated itself in part from its more radical and organic manifestations for a number of reasons. One was the growth of the Labour party as an increasingly efficient political vehicle. The result was the migration of many left-liberals into the Labour camp, while taking their social liberalism with them. Another reason was a backlash against state intervention in matters of conscription and emergency measures, which brought out the more libertarian components of liberalism back into play as a reaction to a perceived menace to individual liberties. Indeed, there was undoubtedly a paternalistic element in the new liberal thinking of the early 20th century, with some of its stalwarts such as the historian G. M. Trevelyan writing: “we have to regret the lethargy of the natural leaders of the social body, the few score or few thousand men who, by force of brain and character, can when they will drag along with them the 25 Timothy A. Tilton: The Political Theory of Swedish Social Democracy: Through the Welfare State to Socialism, Oxford 1991.
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‘average sensual man’ towards ideal ends”.26 Such manifestations have been recently termed “soft paternalism”.27 The outcome was a centrist liberalism that reintroduced productivity and efficiency somewhat at the expense of social justice, with liberty being linked to security rather than to welfare.28 In the interwar period we have therefore two competing British liberalisms – one that begins to be absorbed into a wing of the Labour party – the wing furthest removed from plans for nationalization; the other that retreats from the social ambitions of the pre-war era in an attempt to preserve a distinct identity for political liberalism, now squeezed by the rise of Labour. The major themes of the one liberalism are still retained, however, as the minor themes of the other. In France, in contrast, liberalism has been predominantly associated with economic liberalism. Despite solidarisme – which is tellingly not recognized there as a form of liberalism – and despite the partial libertarian and emancipatory affinities of French republicanism with the liberal tradition as one of the legacies of the French Revolution, liberalism is placed to the right of the ideological spectrum. More recently Michel Foucault identified liberalism as concerned with the dual issues of minimal and rational government “in a society where exchange determines the true value of things”,29 thus restoring a liberalism that is an amalgam of its first two layers, oblivious of or hostile to its social legacy. In Germany, another perspective on liberalism has emphasized its bürgerliche nature, the product of urbanity and of a reasonably prosperous middle class.30 Once again, the result is – similar to French interwar radicalism – an ideology with its wallets on the right and its heart or, more specifically, its civic conscience on the left. Indeed, the question of the internal mixture of the components that constitute liberalism is what distinguishes the members of the liberal family from one another: not the presence or absence of a particular belief, idea, or concept but its ranking and relative weight within the morphology of a liberal ideology.
26 George Macaulay Trevelyan: The Past and Future, in: C. F. G. Masterman, Heart (as in annot. 7), pp. 412f. For a more detailed discussion see Michael Freeden: Democracy and Paternalism: The Struggle over Shaping British Liberal Welfare Thinking, in: Alice Kessler-Harris / Maurizio Vaudagna, eds.: Democracy and Social Rights in the “Two Wests”, Torino 2009, pp. 107–122. 27 Mark Olssen: Liberalism, Neoliberalism, Social Democracy: Thin Communitarian Perspectives on Political Philosophy and Education, Abingdon 2010, pp. 229–235. 28 Michael Freeden: Liberalism Divided: A Study in British Political Thought, Oxford 1986, pp. 126–176. 29 Michel Foucault: The Birth of Biopolitics: Lectures at the Collège de France 1978– 79, Houndmills 2008, p. 46. 30 Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, pp. 187– 211. For general comments on German and French liberalism see Michael Freeden: Ideologies and Political Theory: A Conceptual Approach, Oxford 1996, pp. 210–225.
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6. THE IDEOLOGICAL MENACE OF NEOLIBERALISM In recent years a further problem has arisen in the comparative understanding of liberalism, and that has to do with the refashioning of the second layer in a more extreme form under the label of neoliberalism. In elevating the requirements of a competitive global market above everything and linking it etymologically to the term liberal, neo-liberals have not only narrowed the diversity of liberal discourse for their own ends but they have inflicted serious damage on the term ‘liberal’, associating it with conduct, policies and ideas that have almost no bearing on the five liberal layers. Some commentators regard neoliberalism as the displacement of political institutions by financial ones that are entirely self-regulating. That is inaccurate inasmuch as what remains of the first liberal layer is an enabling terrain for the free reign of the economy, forcefully underpinned, defended and enabled not by self-regulation but by the wills of political masters. And that will, rather than being liberal-democratic, appeals to so-called social truths based on ostensibly immutable laws such as ‘if we overtax the very rich they will simply leave the country’ – holding a society hostage to the insatiability of members of its financial sector. Beyond neoliberalism’s policy measures of deregulation, privatization and the scrapping of liberalism’s third layer of individual growth, a total indifference to its fifth layer of group recognition and identity, and even bypassing those aspects of its second layers extolling international peace and mutual respect, lurk other themes that, if associated with liberalism, would condemn its heritage to oblivion. For the purposes of this chapter, the elimination of social liberalism – the fourth layer – constitutes the most striking absence, as if the redistributionary and welfare achievements of liberalism had never happened. First, neoliberalism has created a new social unit to replace the individual: the client/customer defined as an economic consumer. Specialised words such as passenger or citizen have been supplanted by a generalized and faceless depersonalization of the classic liberal individual. In current jargon the public has been reduced to ‘tax-payers’ – ‘the taxpayer will want to know how her/his money has been spent’, cutting off those beneath the tax-threshold as not having a voice and reducing claims to social participation to a purchased right. Second, it locates socio-political control in a top-heavy, political unaccountable sphere. It has been well-understood, even before Foucault, that the market, seemingly a release from constraints, imposes its own disciplines and punishes those unable to play by its rules with the stigmas of personal failure, poverty and marginalization – a far cry from liberal humanism. Third, it shifts social values to a mastery of management techniques that bring with them pseudo-efficiency (through which, closer to home, universities are sapped of their intellectual strengths; or in economics-speak, of their competitive advantage) – that is in effect catastrophically inefficient. Fourth, liberal universalism is ditched in favour of neoliberal globalism. The universalism of
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vision, of comprehensiveness and of equal opportunity is crowded out in the name of a globalism of super-conglomerates, and by a power-hungry expansionism that is incongruously called ‘muscular liberalism’ by its conservative adherents. And the social costs of globalization further erode many liberal principles. Thus the right to asylum is threatened by new doctrines of national sovereignty that ironically are promoted by those who themselves unleashed globalization but are now uncomprehendingly confronted by some of its consequences. From the vantage-point of the early 21st century, social liberalism is now in a sub-optimal stage, battered and partially eroded by the extreme forms of market ‘liberalism’ that have recently gained rhetorical force and practical influence. True, it is impossible to conceptualize an optimal liberalism that promotes equally all of its five historical layers, as many of them cannot co-exist fully with other layers. But liberalism’s success has been in the normalization of some of its demands that in the past seemed outside its remit, and in the percolation of others across many of the mainstream ideologies. The welfarism that liberalism introduced over a century ago is still incorporated into the fundamental aims of decent societies, even if less triumphantly. Its liberal nature is underscored by the partnerships it has always envisaged between the public and private sectors, roughly demarcating what individuals can reasonably be expected to attain for themselves and what is beyond their powers, but essential for their flourishing and their useful participation in their societies. Underpinning all that is a considerable expansion in the requirements directed towards the state and other public organizations. That is expressed not only as respect for individual space and development characteristic of the first and third liberal layer, employing the language of individual rights. It is also increasingly expressed as the binding of institutions that are charged with promoting some aspect of the public good to accepted standards of conduct, of accountability and of transparency. Paradoxically that reflects a diminution of confidence in those institutions and in their impartiality by comparison to the liberal adulation of the state in the UK prior to 1914. Indeed, liberals have usually exhibited a blend of trust and mistrust in government. But it also reflects a recalibration of the boundaries that liberals believe should traverse action and discourse. Some of those boundaries are now much more salient than in the past, boundaries shielding from corruption and incompetence in public life. Others have become less impermeable: boundaries preventing the scrutiny of public conduct and the impunity and secrecy with which state officials have acted in the past have been sharply reduced. Those are engrained practices of constraint and visibility that by now few consider as specific to liberalism. And liberal principles have permeated conservative, socialist and environmental ideologies, even if those ideologies do not have the generosity or the political courage to acknowledge it.
KRIEG UND KRISE – DER LIBERALISMUS 1914–1918 IM INTERNATIONALEN VERGLEICH Jörn Leonhard Europa um 1900: Das war ein irritierendes Nebeneinander von denkbar unterschiedlichen Strömungen. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ verwies Robert Musil auf ein Panorama der Unruhe und Widersprüchlichkeit: „Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. […] Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; […] man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft.“1 Was Musil beschrieb, stellte sich auch als eine Herausforderung des Liberalismus heraus. Bei näherem Hinsehen waren bereits vor 1914 auf verschiedenen Ebenen Krisensymptome unübersehbar, die sich dann im Verlauf des Krieges zuspitzen sollten. Der Krieg war also nicht allein der Ursprung einer Krise, sondern er katalysierte auch Probleme, die bereits vor 1914 sichtbar geworden waren. Drei Aspekte verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Erstens: Zu der von Musil diagnostizierten Spannung gehörte das Nebeneinander von Rationalität und Subjektivierung. Politische Theoretiker und Sozialphilosophen diagnostizierten um 1900 angesichts der starken Tendenzen zur Rationalisierung in der Wirtschaft, der Verwaltung, der Politik in modernen Gesellschaften einen Mangel an Instinkt, Intuition, Subjektivität und damit auch irrationalen Elementen, ohne die sich aber der Einzelne verloren und isoliert vorkommen müsse. Gerade das Werk Max Webers, sein Interesse an Ekstase und Charisma, verwies auf das Problem, allein mit Hilfe rationaler, bürokratischer und legaler Prozesse politisches und soziales 1
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, hg. von Adolf Frisé, Bd. 1: Erstes und Zweites Buch, Hamburg 1978, S. 54f.
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Handeln zu regeln. Schon dies bedeutete eine besondere Herausforderung für das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Spannung gehörte auch der zeitgenössische Blick auf Gewalt. Die Vorstellung von Gewalt als einer bloß irrationalen Macht, zu der man sich wie Georges Sorel oder die Futuristen programmatisch bekannte, war das eine. Aber wiederum war es Max Weber, der betonte, dass systemische Gewalt auch den legitimen, gut geführten und friedlichen Staaten innewohne. Jede Form sozialer und politischer Ordnung beruhe auf der staatlichen Verfügung über Gewalt. Die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Vorstellung, dass sich Rationalität stets mit Fortschritt zu Frieden und Vernunft mit liberalen Verfassungen und Gewalteinhegung verbinde, wurde um 1900 mindestens auf der Ebene der politischen und sozialen Theorie infrage gestellt.2 Zweitens: Zum Erbe Europas aus dem langen 19. Jahrhundert gehörte die Erfahrung des ideologischen Wettbewerbs und des politischen Konflikts, aber auch die Trias von Krise, Revolution und Reform: Europas Gesellschaften veränderten sich nicht allein durch revolutionäre Umstürze, sondern vor allem durch Reformanstöße, durch die man, wie etwa in Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon 1806, eine gewaltsame Revolution wie 1789 in Frankreich verhindern wollte. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, schien der Konflikt vielen Zeitgenossen auch den Gegensatz zwischen den von Frankreich und seiner revolutionären Tradition bestimmten „Ideen von 1789“, überhaupt einer westeuropäischen Politiktradition, in die im weiteren Sinne auch der englische Parlamentarismus und das republikanische Freiheitspostulat der Amerikanischen Revolution von 1776 gehörten, und den deutschen „Ideen von 1914“ widerzuspiegeln. Auf sie beriefen sich auch viele Liberale, um sich von dieser Tradition mit eigenen Werten wie „Kultur“ und „Gemeinschaft“ zu distanzieren. Das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts geriet aber seit dem Sommer 1914 auch deshalb in eine Krise, weil die entwickelten Formen politischer Teilhabe durch Wahlen und in Parlamenten, die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte und viele andere konstitutionelle Errungenschaften auf eine ganz veränderte Realität von neuartigen Kriegsstaaten trafen. In ihnen wurden zwischen 1914 und 1918 die zivilen Instanzen der Politik, die Bedeutung von Verfassungen, die Gestaltungsmacht von Parlamenten, politischen Parteien und politischen Grundrechten herausgefordert. Die um 1900 in vielen Gesellschaften dominierenden Konflikte um die Grenzen der politischen Teilhabe, konkret sichtbar in den Konflikten um die Ausgestaltung des Wahlrechts, sollten durch den Krieg vertieft und zugespitzt werden. 2
Michael Freeden: Liberal Languages: Ideological Imaginations and Twentieth Century Progressive Thought, Princeton 2005, S. 107–128; Jose Harris: Epilogue: French Revolution to fin de siècle: Political Thought in Retrospect and Prospect, 1800–1914, in: Gareth Stedman Jones / Gregory Claeys (Hg.): The Cambridge History of Nineteenth-Century Political Thought, Cambridge 2011, S. 893–933, hier S. 931–933.
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Drittens: In der Suche nach Selbstvergewisserung war bereits in der Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den Debatten um 1900 ein entscheidendes Leitmotiv erkennbar geworden: Das Verhältnis des Individuums zur aufziehenden Massengesellschaft, die Behauptung des Einzelnen in der Masse, stellte für viele Zeitgenossen ein zutiefst ambivalentes Ergebnis der demographischen Entwicklung, der wirtschaftlichen Dynamik und sozialen Mobilisierung dar. Viele der zeitgenössischen Debatten um Massenpresse und Massenkonsum, um den Gegensatz zwischen anonymer Gesellschaft und identitätsstiftender Gemeinschaft, drehten sich im Kern um dieses Problem.3 Aus dem Rückblick nach 1918 dominierte der Fokus auf Krise und Erschöpfung des Liberalismus. Aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und dem skeptischen Rückblick der 1920er Jahre auf das lange 19. Jahrhundert inszenierte Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ einen Streit darüber, aus welchen Traditionslinien jenes Europa hervorgegangen sei, das durch die Zäsur des Weltkrieges schon Vor-Vergangenheit geworden war.4 Der im Roman von Ludovico Settembrini verteidigten Fortschrittsgeschichte Europas im Zeichen von Humanismus und Sittlichkeit, Aufklärung und Freiheit, bürgerlicher Revolution und modernem Staat hielt Leo Naphta entgegen, das „heroische Lebensalter“ sei längst vorüber. Die Revolution der Zukunft gehe nicht mehr um liberale Ideale, sondern ruhe auf Disziplin, Opfer und Ich-Verleugnung. Für den künftigen Menschen könne bürgerliche Freiheit und humanistische Gerechtigkeit nur Lähmung, Schwäche und Nivellierung aller Gegensätze bedeuten. Man sei „gerecht gegen den einen Standpunkt oder gegen den anderen. Der Rest war Liberalismus, und kein Hund war heutzutage mehr damit vom Ofen zu locken“.5 Dieses allgemeine Krisennarrativ hat auch für die Historiographie erhebliche Bedeutung. So entwickelte sich aus dem Wissen um die Konsequenzen des Krieges und der politischen Krisen der Zwischenkriegszeit eine bis heute einflussreiche Interpretation: Danach sei in den Staaten, die 1918 zu den Verlierern gehörten, die politische Mitte, der bürgerliche Liberalismus ausgehöhlt worden, die extremen Ränder links und rechts hätten sich verstärkt, und die Linke sei in den besiegten Gesellschaften in der Phase der Revolutionen und der territorialen Auflösung der multiethnischen Empires zur dominierenden Macht geworden. Eine solche Entwicklung sei in den alliierten Siegerstaaten Großbritannien und Frankreich ausgeblieben. Hier, wie auch in 3 4 5
Stefanie Middendorf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009, S. 86–126; vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 52014, S. 13–27. Jörn Leonhard: Historik der Ungleichzeitigkeit: Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 7/2 (2009), S. 145–168, hier S. 145. Thomas Mann: Der Zauberberg, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1, hg. von Michael Neumann, Frankfurt/M. 2002, S. 603 und 1047.
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Italien, Spanien und Portugal, hätten politisch in erster Linie und langfristig die Konservativen vom Umbruch des Ersten Weltkrieges profitiert.6 Solche holzschnittartigen Interpretationen speisen sich vor allem aus dem Wissen um die weiteren Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre. Sie unterschätzen aber die ausgesprochene Offenheit, das Nebeneinander verschiedener politisch-sozialer Ordnungsmodelle am Ende des Krieges und damit die spannungsreiche Utopienkonkurrenz.7 VOR DEM KRIEG: VORAUSSETZUNGEN UND AUSGANGSBEDINGUNGEN Wie lässt sich die Wirkung des Ersten Weltkriegs für den Liberalismus aus der Vogelschauperspektive analytisch fassen?8 Die Voraussetzungen und Handlungsbedingungen für Liberale waren 1914 denkbar unterschiedlich. Die große Bandbreite politisch-konstitutioneller Möglichkeiten spiegelte dabei die historischen Entwicklungsstufen des Liberalismus wider. Neben den parlamentarisch-demokratischen Republiken in Frankreich und den USA dominierte zunächst ein Spektrum von konstitutionellen und parlamentarischen Monarchien. Am schwächsten waren die Grundlagen in der russischen Duma, die sich nach 1906 nicht zu einem stabilen Forum liberaler Politik entwickeln konnte. In Konfliktfällen vom Zaren vertagt, fehlte dem parlamentarischen Liberalismus hier ein politisches Selbstbewusstsein. Liberale trugen zwar 1915 zur Bildung des oppositionellen Progressiven Blocks bei, aber die restaurative Wende des Zaren 1915/16 nahm man letztlich hin und verspielte damit auch jenes Vertrauen, dessen die Duma in der Krise 1917 bedurft hätte, um sich gegen konkurrierende Machtzentren durchzusetzen.9 In Österreich-Ungarn war die Krise des konstitutionellen Liberalismus vor 1914 besonders offenkundig: Während das Parlament in Wien seit Früh6
John A. Turner: The Challenge to Liberalism: The Politics of the Home Fronts, in: Hew Strachan (Hg.): The Oxford Illustrated History of the First World War, Oxford 1998, S. 163–178, hier S. 178; Michael Cox: E. H. Carr and the Crisis of Twentieth-Century Liberalism. Reflections and Lessons, in: Millennium: Journal of International Studies 38 (2010), S. 523–533. 7 Vgl. im folgenden J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 758–767 und 796–805, sowie Ders.: Das Dilemma von Erwartungen und Erfahrungen. Liberale im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 26 (2014), S. 193–215. 8 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 758f. 9 Michael F. Hamm: Liberal Politics in Wartime Russia. An Analysis of the Progressive Bloc, in: Slavic Review 33 (1974), S. 453–468; William G. Rosenberg: Liberals in the Russian Revolution. The Constitutional Democratic Party, 1917–1921, Princeton 1974; Raymond Pearson: The Russian Moderates and the Crisis of Tsarism 1914–1917, London 1977; Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 110–151.
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jahr 1914 sistiert war, setzten die Magyaren auf einen repressiven Kurs gegenüber anderen ethnischen Gruppen – eine konstitutionelle Integration der multiethnischen Monarchie gelang also weder in dem einen noch in dem anderen Reichsteil.10 Im Deutschen Reich setzten sich auch im Reichstag die Spannungsmomente der inneren Nationsbildung seit 1871 fort. Die historischen Zeitschichten des Liberalismus waren in Deutschland gleichsam übersetzt in die Komplexität des Wahlrechts, von dessen Ausgestaltung auch die Stärke der liberalen Parteien abhing. Denn während das allgemeine Männerwahlrecht für den Reichstag tendenziell eher den Sozialdemokraten und dem Zentrum als den liberalen Parteien zugutekam, sicherte das beschränkte Wahlrecht in vielen Kommunen den Liberalen die Grundlage für eine sehr erfolgreiche Politik. Ihr Verhalten zum preußischen Dreiklassenwahlrecht war schließlich für viele Zeitgenossen der Maßstab für ihre Glaubwürdigkeit im Blick auf die politisch-konstitutionelle Zukunft des kleindeutschen Nationalstaats.11 In all diesen Staaten agierten Liberale zumeist als Opposition, waren also von konkreter politischer Mitwirkung ausgeschlossen. In Italien dagegen waren sie im Rahmen der Destra storica unter Ministerpräsident Giovanni Giolitti an der Macht. Aber hier war der Gegensatz zwischen der formal parlamentarischen Monarchie und der Realität eines vielfach korrupten Parlamentarismus, einer wachsenden Entfremdung zwischen Parlament und Bevölkerung besonders evident. Die zunehmende Kritik am „liberalen System“ von Ministerpräsident Giolitti vor 1914 stellte auch den nationalen und säkularen Liberalismus in seiner Frontstellung gegen Katholizismus und Sozialismus infrage. 1914/15 wurde der Liberalismus in Italien bereits vielfach mit der Neutralitätsstrategie Giolittis gleichgesetzt und entsprechend mit den Negativattributen der Feigheit, des Defätismus und des fehlenden Patriotismus, des Verrats an den Irredenta identifiziert.12 Weil man in Frankreich den ausgeprägten Parlamentarismus und die Schwäche der Exekutive mit über 50 Regierungen zwischen 1871 und 1914 als problematisches Erbe der Revolutionsabfolgen seit 1789 und damit auch des konstitutionellen Liberalismus ansah, wurde die Frage nach der Überlebensfähigkeit einer politisch derart organisierten Republik in einem künftigen Krieg umso kontroverser diskutiert.13
10 Mark Cornwall: Austria-Hungary and „Yugoslavia“, in: John Horne (Hg.): A Companion to World War I, Malden/Mass. 2010, S. 371–385, hier: S. 372–374. 11 Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 211–227. 12 Douglas J. Forsyth: The Crisis of Liberal Italy. Monetary and Financial Policy, 1914– 1922, Cambridge 1993; Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 33–42 und 62–77. 13 Robert Gildea: Children of the Revolution. The French, 1799–1914, Cambridge/ Mass. 2008, S. 437–443.
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In Großbritannien schließlich existierten vor 1914 nicht allein vergleichsweise hochorganisierte Parteien; hier war der Liberalismus seit 1906 auch an der Regierung, und das sollte zunächst auch die Politik im Krieg prägen, bis sich dann bald die Krisensymptome zeigten.14 STRUKTURELLE HERAUSFORDERUNGEN DES WELTKRIEGES: KONTEXTE UND PROZESSE Der Weltkrieg markierte nicht nur den Ursprung neuer Krisenmomente, sondern auch, wie eingangs angedeutet, die Fortsetzung und Zuspitzung von Entwicklungen der Vorkriegszeit. Mit immer längerer Dauer des Krieges schälten sich mindestens vier strukturell neue Herausforderungen des Liberalismus heraus.15 Das waren zunächst, erstens, die inneren Krisen- und Spannungsmomente der Gesellschaften, die als nationale Kriegsgemeinschaften Stärke nach außen und Geschlossenheit nach innen mobilisieren mussten. Aber in der Praxis bedeutete die Suche nach der uneingeschränkten Loyalität der Bürger, dass mit den Prinzipien von Inklusion und Exklusion und der um sich greifenden Herrschaft des Verdachts das liberale Paradigma einer pluralen Gesellschaft unter immer größeren Rechtfertigungsdruck geriet. Gerade mit der ideologischen Mobilisierung von Kriegsgesellschaften im Zeichen eines ausgrenzenden Kriegsnationalismus wurden viele der liberalen Wertideen in Europa teils radikal infrage gestellt.16 So erfuhren Liberale gleich zu Beginn des Krieges, wie schnell und relativ leicht sich erkämpfte Grund- und Bürgerrechte im Rahmen von Kriegsregimes und Notstandsordnungen suspendieren ließen. Dazu kamen zweitens die in allen Kriegsgesellschaften bald von führenden Militärs entwickelten politischen Gestaltungsansprüche; so veränderte sich das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Sphäre. Das zeigte sich in den Auseinandersetzungen zwischen dem britischen Premierminister Herbert Asquith und dem Oberkommandierenden John French und später zwischen David Lloyd George und Douglas Haig. Aber in Großbritannien ging die zivile Regierung 1917/18 letztlich gestärkt aus diesen Konflikten hervor. Auch in Frankreich behauptete sich das Parlament gegen die Eigendynamik 14 Cameron Hazlehurst: Politicians at War July 1914 to May 1915: A Prologue to the Triumph of Lloyd George, London 1971; John Turner: British Politics and the Great War, New Haven 1992; Adrian Gregory: The Last Great War. British Society and the First World War, Cambridge 2008, S. 70–111. 15 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 759–761. 16 Ders.: Vom Nationalkrieg zum Kriegsnationalismus – Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg, in: Ulrike v. Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 204–240.
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der Generalstäbe und sicherte sich nicht allein Mitsprache, sondern auch eine politische Kontrolle des Militärs. In Italien dagegen weigerte sich der Oberbefehlshaber Luigi Cadorna lange Zeit erfolgreich, die Politik in militärische Entscheidungsprozesse einzubinden.17 Das österreichisch-ungarische Armeeoberkommando verfügte angesichts des bis Frühjahr 1917 sistierten Parlaments in Wien über enormen politischen Einfluss. Im Deutschen Reich schließlich manifestierte sich der umfassende Anspruch der Dritten Obersten Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff besonders stark, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unter den Primat der Kriegführung zu zwingen und ohne Rücksichtnahme auf Parlament und Regierung eine eigene Politik zu verfolgen. Das Militär wurde zu einem extrakonstitutionellen Machtzentrum, das angesichts der Bedeutung des Krieges lange Zeit hohe Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung genoss und dabei auch den Kaiser immer mehr in den Schatten stellte – der Sturz von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Sommer 1917 war daher gerade nicht Ausdruck der Stärke der Opposition im Reichstag, sondern reflektierte die Macht der Militärs.18 Eine dritte Herausforderung für die Liberalen markierten die expandierenden Kriegsstaaten. Sie standen für die politische, ökonomische und soziale Mobilisierung im Namen des Krieges. Der Krieg wurde für den Interventionsstaat zu einem Möglichkeitsraum; nicht zufällig beflügelte das bei den Progressivists in den Vereinigten Staaten auch weitgespannte Hoffnungen auf politische und soziale Reformen.19 Aber die institutionelle Ausweitung der Kriegsstaaten, ihre ökonomische Machtposition und vor allem die Aufhebung von Grund- und Bürgerrechten im Zeichen einer immer dichteren Überwachung und Kontrolle stellte viele Liberale vor ein Dilemma. Die Privatsphäre des Individuums geriet im Krieg stärker als je zuvor in den Fokus staatlichen Handelns. Viertens schließlich bildeten sich durch den Krieg neue Strukturen im Verhältnis von Kapital, Arbeit und Staat heraus. Max Weber fürchtete vor diesem Hintergrund, dass die staatlich verwalteten Monopole überhandneh17 David R. Woodward: Lloyd George and the Generals, London 1983; Jere Clemens King: Generals and Politicians: Conflict between France’s High Command, Parliament and Government, 1914–1918, Berkeley 1951; John Whittam: The Politics of the Italian Army, 1861–1918, London 1976. 18 J. A. Turner, Challenge (wie Anm. 6), S. 173–175; Martin Kitchen: The Silent Dictatorship: The Politics of the German High Command under Hindenburg and Ludendorff, 1916–1918, London 1979; Manfred Neblin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010. 19 John A. Thompson: Reformers and War: American Progressive Publicists and the First World War, Cambridge 1987; Jörn Leonhard: Progressive Politics and the Dilemma of Reform: German and American Liberalism in Comparison, 1880–1920, in: Mau rizio Vaudagna (Hg.): The Place of Europe in American History: Twentieth Century Perspectives, Turin 2007, S. 115–132.
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men könnten. Dagegen müsse man „den gewaltigen Faktor der industriellen selbständigen Unternehmen und ihrer Beamten als Hauptträger der deutschen Wirtschaft“ konservieren. Das deutsche Staatsbeamtentum benötige stets „einen belebenden Gegenpart im privaten Unternehmer“ und Ingenieur. Dieser „Dualismus von ‚staatlich‘ und ‚frei‘ in Beziehung auf die Ordnung des Volkslebens“ charakterisiere „die ganze deutsche Geschichte“.20 Die neuen Kooperationsformen zwischen Unternehmern und Staatsbürokratien, wie sie Walther Rathenau in Deutschland oder der Eisenbahnunternehmer Eric Geddes in Großbritannien verkörperten, die zahlreichen neuen Mischformen zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlich-staatlichen Ordnungsmodellen, aber auch das Auftauchen neuer Interessenorganisationen wie des Centralverbands Deutscher Industrieller oder der Federation of British Industries veränderten die Handlungsmöglichkeiten von Liberalen.21 Hinzu kamen noch die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern: Auf all diesen Ebenen spielten der Kriegsstaat und seine Behörden eine entscheidende Rolle. Staatlich-bürokratische Regelungswut, der Fokus auf korporativen Elementen, die Diskussion um den „organisierten Kapitalismus“, um soziale Gewinner und Verlierer des Krieges – all das stellte überkommene wirtschaftsliberale Vorstellungen infrage, und es lenkte den Blick von der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft auf andere soziale Gruppen, die für den Fortgang des Krieges wichtiger schienen als klassische Kreise des liberalen Bürgertums.22 FEINDBILDER UND LOYALITÄTEN: LIBERALE POSITIONIERUNGEN AM BEGINN DES KRIEGES Innerhalb weniger Tage und Wochen wurden im Sommer 1914 ein bestimmter Politikstil und ein Ordnungsdenken suspendiert, das bei allen nationalen Unterschieden doch ein anerkanntes Erbe des Liberalismus war. Praktisch überall wurden unter dem Vorwand politisch-konstitutioneller Ausnahmezu20 Josef Redlich: Das politische Tagebuch Josef Redlichs, Bd. 2: 1915–1919, bearb. von Fritz Fellner, Graz 1954, 6. Juni 1916, S. 120f. 21 J. A. Turner, Challenge (wie Anm. 6), S. 177; Jay Winter: Großbritannien, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22004, S. 50–63, hier S. 55; Bernd-Jürgen Wendt: War Socialism – Erscheinungsformen und Bedeutung des Organisierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 117–149. 22 Rudolf Hilferding: Arbeitsgemeinschaft der Klassen? (1915), in: Cora Stephan (Hg.): Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin 1982, S. 63–76; Heinrich August Winkler: Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus, in: Ders., Organisierter Kapitalismus (wie Anm. 21), S. 9–18.
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stände und Notstandsregimes zahlreiche Grundrechte aufgehoben. Die sich häufig ausbildende Doppelstruktur von politisch-zivilen und militärischen Behörden in den Heimatgesellschaften dominierte, während nach den symbolischen parlamentarischen Momenten – der Bewilligung der Kriegskredite – die Parlamente zunächst in den Hintergrund traten, wenn sie nicht wie in der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie bereits vor 1914 sistiert worden waren.23 An den vielfältigen Burgfriedenskonstellationen in den Kriegsgesellschaften waren die Liberalen aktiv beteiligt, aber die eigentliche Aufmerksamkeit galt nicht ihnen, sondern der Integration der Linksparteien. Deutsche Liberale waren vor diesem Hintergrund dazu bereit, ihre innenpolitischen Reformziele bis nach Kriegsende zu vertagen. Emphatisch vertraten viele von ihnen die deutschen „Ideen von 1914“ gegen die von 1789 und beteiligten sich intensiv an den Kriegszieldiskussionen. Die Forderungen der preußischen Nationalliberalen hinsichtlich eines künftigen deutschen Siedlungsraums im Osten deckten sich schon 1915 mit denen der Alldeutschen.24 Aber der Blick auf einen Liberalen wie Ernst Troeltsch zeigte doch auch, wie komplex sich der Erwartungshorizont zu Kriegsbeginn darstellte. Seit 1894 in Heidelberg als Professor für Systematische Theologie tätig, hatte sich Troeltsch in seinen Werken vor 1914 mit der Frage auseinandergesetzt, wie die sozialen Ordnungsmodelle der Weltreligionen und zumal des Protestantismus an der Herausbildung einer europäischen Moderne mitgewirkt hatten, und damit einen Entwicklungsprozess in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt, der sich gerade nicht mehr auf die Grenzen einzelner Nationalstaaten beschränken ließ. In einer Rede in Heidelberg Anfang August 1914 betonte er allerdings die Leistungen des neuen deutschen Nationalstaats, seine wirtschaftliche Kraft und die Ausstrahlungen seiner bürgerlichen Kultur in alle Teile der Gesellschaft. Zugleich warnte er vor den „großen Friedenstäuschungen“ und der Annahme, dass der allgemeine Fortschritt allein „von selber mit Notwendigkeit durch die Macht des Geistes vorwärtstreibe“. Vielmehr komme „stets der Punkt, wo diese geistige Entwicklung verteidigt und behauptet werden muß durch entschlossene Tat und den Einsatz des Lebens“. Dieser notwendige Wechsel zwischen Frieden und Krieg war für Troeltsch wie für viele Zuhörer aus dem Bildungsbürgertum ein Leitmotiv der deutschen Geschichte, das es ihm erlaubte, den Krieg der Gegenwart als den „neuen dritten“ Schlesischen 23 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 208f. 24 D. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 228; Ernest A. Menze: War Aims and the Liberal Conscience: Lujo Brentano and Annexationism During the First World War, in: Central European History 17 (1984), S. 140–158; Klaus von See: Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003.
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Krieg nach 1866 und 1870 zu bezeichnen und damit die Selbstbehauptung des deutschen Nationalstaates gegen „Neid und Haß der Fremden“ mit dem Kampf des friderizianischen Preußens im Siebenjährigen Krieg zu vergleichen.25 Das Feindbild konzentrierte sich weniger auf Frankreich mit der erwartbaren Revanche für die Niederlage von 1871. Vielmehr begründete Troeltsch den Krieg mit einem generellen Zivilisationsgefälle und im Blick auf die Slawen, deren Unfreiheit und Barbarei die ungleiche Allianz der Gegner von vorneherein unglaubwürdig machte.26 War es 1870/71 um den Abschluss der Nationalstaatsbildung gegangen, so stehe nun „Sein und Leben“ der Nation und die Sicherung des Erreichten im Zentrum, die Troeltsch aber programmatisch mit der „inneren Freiheit des deutschen Bürgers“ als einem Erbe des bürgerlichen Liberalismus identifizierte und von der Unfreiheit Russlands unterschied. Es ging also nicht allein um die Befreiung von der russischen Gefahr, sondern auch darum, diese Freiheit in Deutschland auszugestalten und damit auch dem Anspruch auf politische Modernität zu entsprechen. Troeltsch erinnerte daran, dass dieser Krieg mit den von allen zu tragenden Lasten und Opfern auch die äußere Freiheit, die Ausgestaltung der gleichen politischen Teilhabe für alle Deutschen mit bedinge. Das zielte schon jetzt auf politische Reformen, etwa die des preußischen Dreiklassenwahlrechts: „Wir bringen die Dauer unseres Vaterlandes und den Sieg der Freiheit nach Hause, der Freiheit nicht nur vom zaristischen Absolutismus, sondern auch der inneren Freiheit des deutschen Bürgers. Wo es an ihr noch fehlt, wird man daran gedenken, daß das Wohl des Vaterlandes allen Männern vom 17. bis 45. Lebensjahre gleicherweise anvertraut ward und daß nur ihr guter Wille, ihre freudige Vaterlandsbegeisterung das große Werk möglich machte.“ Aus dem unifizierenden Kriegsopfer leitete Troeltsch die Vision einer nationalen Gemeinschaft jenseits der überkommenen Klassenkonflikte ab, denn der gemeine Mann werde die „Notwendigkeit der Disziplin und Einigkeit nicht nur für den Klassenkampf der Agrarier oder Handarbeiter, sondern für die Gesamtheit der Nation“ begreifen.27 Hier vor allem setzte Troeltschs Idee einer besonderen deutschen Konzeption der Freiheit an, die ihn zu einem der Protagonisten deutscher „Kulturwerte“ gegenüber den Feinden im Osten und
25 Ernst Troeltsch: Nach der Erklärung der Mobilmachung, 2. August 1914, in: Peter Wende (Hg.): Politische Reden, Bd. 3: 1914–1945, Frankfurt/M. 1994, S. 9–19, hier S. 11; vgl. Jörn Leonhard: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“ – Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006, S. 205–230. 26 E. Troeltsch, Erklärung (wie Anm. 25), S. 11. 27 Ebd., S. 16.
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Westen machte und die in seiner 1916 publizierten Schrift „Die deutsche Idee von der Freiheit“ kulminierte.28 Bemerkenswert war nicht nur die Erwartung des Liberalen Troeltsch, der auf politisch-konstitutionelle Fortschritte und soziale Versöhnung im Zeichen des Krieges hoffte, die seit 1871 unvollkommen geblieben waren und alle Erfolge des jungen Nationalstaates stets ambivalent erscheinen ließen. Der Theologe Troeltsch sah in diesem modernen Krieg auch ein widersprüchliches Nebeneinander von Rationalität, Planung, Sachverstand und einem Einbruch des Irrationalen, Unberechenbaren. Dieser Krieg werde nicht mehr mit den poetischen Waffen und im Zeichen ritterlicher Kampfethiken des frühen 19. Jahrhunderts ausgetragen. Im Zeichen von neuen Maschinenwaffen war ein klassischer Heldenkampf nicht mehr vorstellbar: „Es sind die technischen, mühseligen Waffen des modernen Krieges mit unendlicher Vorbereitung und Berechnung, mit der Unsichtbarkeit des Gegners und der Bedrohtheit aus unbekannten Richtungen, mit der verwickelten Fürsorge für ungeheure Massen und einem gewaltigen Sicherungs- und Deckungsdienst. Es sind Waffen der Berechnung, der Besonnenheit, der Ausdauer, und nur an einzelnen Höhepunkten gibt es das dramatische Heldentum, nach dem die Seele der Jugend lechzt.“29 Der Krieg stellte auch alle überkommenen bürgerlichen Sekuritätsversprechen, die auf Rationalität beruhenden sozialen und staatlichen Ordnungsstrukturen aus dem 19. Jahrhundert und damit auch die Basis bürgerlicher Kultur radikal infrage: „So zerbrechen auch uns heute alle rationellen Berechnungen. Alle Kurszettel und Kalkulationen, die Versicherungen und Zinsberechnungen, die Sicherstellungen gegen Unfälle und Überraschungen, der ganze kunstreiche Bau unserer Gesellschaft hat aufgehört, und über uns allen liegt das Ungeheure, das Unberechenbare, die Fülle des Möglichen.“30 Das war bei aller Zuspitzung von nationalen Selbstentwürfen und Feindbildern eine ungemein klarsichtige Analyse, und sie nahm viele Aspekte der militärischen, politischen und sozialen Erfahrungsräume des Krieges, nicht zuletzt seinen Charakter als Basis für ganz neue Entwicklungen, vorweg. Für die britischen Liberalen bedeutete der Beginn des Krieges eine besondere Herausforderung: parteipolitisch, aber auch in der ideologischen Positionierung. Im Parlament von Westminster sollten politische Konflikte durch einen innenpolitischen Waffenstillstand und eine entsprechende Erweiterung des Minderheitskabinetts von Lord Asquith für die Dauer des Krieges aufgehoben werden. Die liberale Regierung wurde in Richtung der Konservativen erweitert. Doch waren dem innenpolitischen Waffenstillstand schon jetzt Grenzen gesetzt: Mit John Burns und Lord Morley traten zwei linkslibe28 Ernst Troeltsch: Die deutsche Idee von der Freiheit, in: Die neue Rundschau 27 (1916), S. 50–75. 29 Ders., Erklärung (wie Anm. 25), S. 12. 30 Ebd., S. 17f.
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rale Minister der Regierung aus Protest gegen die Kriegspolitik zurück und stützten damit die pazifistische Position der linksliberalen Abgeordneten der Fraktion, die zusammen mit der Independent Labour Party im Unterhaus der Regierung schon jetzt die Zustimmung verweigerten.31 Diese Tendenz zeigte sich auch außerhalb des Parlaments, wo bereits am 5. September 1914 die Union of Democratic Control aus Protest gegen die Politik Edward Greys in der Julikrise gegründet wurde. Die UDC, an der neben dem späteren Premier Ramsay MacDonald und dem Antikriegspublizisten Norman Angell auch der Philosoph Bertrand Russell aus Cambridge und der Ökonom John Maynard Keynes mitwirkten, entwickelte sich bald zu einer außerparlamentarischen Plattform aller linksliberalen und sozialistischen Kriegsgegner, die schon 1915 über 300.000 und 1918 schließlich 750.000 Mitglieder zählte. Als sich 1915 eine große Kriegskoalition aus Liberalen und Konservativen bildete, markierte die UDC die Bruchlinie innerhalb der Liberal Party und suchte eine engere Anlehnung an die Labour Party.32 Aber auch die ideologischen Selbstpositionierungen im Rahmen des Kulturkrieges dokumentierten Spannungen. Führende Historiker der Universität Oxford publizierten mit ihrem Essay „Why We Are at War. Great Britian’s Case“ bereits 1914 eine Replik auf entsprechende Bekenntnisse deutscher Hochschullehrer zu ihrem Kriegsstaat. Viele Liberale unter den britischen Intellektuellen hoben vor allem auf die deutsche Staatsphilosophie in der Tradition Hegels ab, in der sie eine gefährliche Staatsvergottung erkannten, die sich in der Geschichte des Deutschen Reichs seit 1871 schließlich mit dem Militarismus preußischer Prägung verbunden habe. Die Abkehr von den deutschen philosophischen Traditionen bot vielen Liberalen eine Grundlage, um das Selbstbild der politisch-parlamentarischen Freiheit Großbritanniens und vor allem der eigenen Rechtsordnung, der „rule of law“, zu formulieren.33 Dass genau diese Freiheitstradition mit den beschlossenen Sondergesetzen gerade suspendiert wurde, war in den ersten Kriegswochen kein Thema – doch die Krise des liberalen Ordnungsmodells sollte spätestens 1915/16 auch in Großbritannien offenbar werden. Aber in den intellektuellen Auseinandersetzungen zu Beginn des Krieges zeigten sich auch früh dezidiert antiliberale Spiegelungen und Antiliberalismen, etwa bei dem englischen Philosophen Thomas 31 David French: The Rise and Fall of ‚Business as Usual‘, in: Kathleen Burke (Hg.): War and the State. The Transformation of British Government, 1914–1919, London 1982, S. 7–31; Wolfgang Kruse: Gesellschaftspolitische Systementwicklung, in: Ders. (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt/M. 1997, S. 55–91, hier S. 65. 32 Marvin Swartz: The Union of Democratic Control in British Politics during the First World War, Oxford 1971, S. 28–45 und 85–104; Keith Robbins: The Abolition of War. The „Peace Movement“ in Britain, 1914–1919, Cardiff 1976, S. 48–92. 33 Why We Are at War. Great Britain’s Case. By Members of the Faculty of Modern History, Oxford 31914, S. 108–117.
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Ernest Hulme oder auf deutscher Seite bei Max Scheler und Ferdinand Tönnies. Sie alle betonten die organische Gemeinschaft gegen die Prinzipien der pluralen Gesellschaft. Diese Frontstellungen gegen den Liberalismus waren durchaus transnational, und sie nahmen im Laufe des Krieges erheblich zu. Programmatisch gerieten Liberale schon hier erkennbar in die Defensive.34 Auch in Russland bekannten sich die Konstitutionellen Demokraten bzw. Kadetten als Vertreter liberaler Positionen zum Patriotismus im Krieg. Aber anders als im Falle der Konservativen und Nationalisten stellte man hier zu Beginn des Krieges nicht die mystische Einheit von Zar und Volk in den Vordergrund, sondern ein bürgerliches Nationskonzept. Russland müsse, so die Liberalen, eine Regierung erhalten, die seiner dynamischen Entwicklung zumal in den Wirtschaftszentren entspreche. Deshalb schien die Duma als parlamentarisches Zentrum der Nation der Ort, um die Einheit der Nation im Krieg zu betonen. In der Perspektive der Liberalen kamen in der Zusammenkunft der russischen Abgeordneten am 26. Juli 1914 gleichsam alle Bürger zusammen, um den Krieg zu beschließen. Diese Idealisierung orientierte sich an der Entwicklung in Frankreich 1792. Die Hoffnungen der russischen Liberalen, der Krieg werde einem staatsbürgerlichen Nationskonzept zum Durchbruch verhelfen, markierte die Ausgangsposition für die sich alsbald entwickelnden Konflikte. Nur ein Jahr später sollten die Liberalen und Gemäßigten in offene Opposition zur Regierung übergehen und den Progressiven Block bilden, bitter enttäuscht über die verweigerte Kooperation zwischen Duma und Regierung. Das liberale Modell geriet aber nicht nur durch die Ausgrenzung und Massendeportation russischer Bürger fremdländischer Abstammung früh in die Defensive.35 Auch in Russland kam es zu einer politisch-konstitutionellen Selbstvertagung, die etwas über das parlamentarische Selbstbewusstsein aussagte: Schon am 8. August löste sich die Duma auf, weil die Abgeordneten die Kriegsanstrengungen des Staates nicht unnötig behindern wollten.36 Dass und wie der Beginn des Krieges das Paradigma des Liberalismus als politische Kraft infrage stellte, sollte sich, wie bereits erwähnt, exemplarisch 1915 in Italien zeigen. Schon 1914 war vor allem der politische Liberalismus als Erbe der Nationsbildung und des Parlamentarismus aufgrund der augenscheinlichen Schwäche seiner Außenpolitik und der parlamentarischen Praxis in den Augen vieler Zeitgenossen diskreditiert. Das galt in erster Linie für jene Teile des Bürgertums, die in den sozialen Unruhen einen Angriff 34 Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004. 35 Eric Lohr: The Russian Press and the „Internal Peace“ at the Beginning of World War I, in: Troy R. E. Paddock (Hg.): A Call to Arms. Propaganda, Public Opinion and Newspapers in the Great War, Westport/Conn. 2004, S. 91–113, hier S. 102f. 36 Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924 (engl.: 1996), Berlin 22011, S. 274.
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der Straße auf ihre Errungenschaften sahen. Auf diese Bedrohung, so glaubte man, konnte man nicht länger mit den Ausgleichstrategien Giolittis reagieren. Als sich im Frühjahr 1915 der nationalistische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio in einer Kampagne vehement für einen Kriegseintritt seines Landes einsetzte, zitierte er die historische Feindschaft zu Österreich-Ungarn, die eingängigen Narrative der Irredenta, der national „unerlösten“ Territorien, die auch nach den Nationalkriegen des 19. Jahrhunderts noch immer nicht zum italienischen Staat gehörten, und er berief sich auf die historische Notwendigkeit, das weder 1861 noch 1871 abgeschlossene Risorgimento Italiens nun mit einem neuen Krieg zu vollenden. Aber vor allem rechnete er mit dem ideologischen Gegner ab, dem liberalen System Giolittis und der età giolittiana. D’Annunzios Aggressivität ging dabei über eine polemische Kritik weit hinaus: Sie dokumentierte, über wie wenig politisch-kulturelle Kohäsion dieser Nationalstaat 1915 verfügte. Mochte die Wendung gegen Österreich-Ungarn überkommenen Motiven folgen – die Auseinandersetzung mit Giolittis Liberalismus ließ den innenpolitischen Gegner zum eigentlich ideologischen Feind werden. D’Annunzio schloss das liberale Lager Giolittis aus der Nation aus, indem er ihm Feigheit und Verrat an den im Militär symbolisierten nationalen Prinzipien vorwarf. Unter den „vielen Feigheiten der Kanaille Giolittis“ sei, so D’Annunzio, „dies die widerlichste: die gemeine Verleumdung unserer Waffen, der nationalen Verteidigung“.37 DIE BINNENSCHWELLEN DER KRISE: ZWANG UND KONTROLLE, POLARISIERUNG UND ANTILIBERALISMUS Als im Laufe des Jahres 1915 die Zahlen der Kriegsfreiwilligen in Großbritannien sanken, während die Verlustzahlen auf hohem Niveau verharrten, intensivierte sich die Diskussion um die Wehrpflicht. Daraus entwickelte sich bald ein Kristallisationskern der innenpolitischen Entwicklung: Nicht nur für die Liberalen markierte die Einführung der Wehrpflicht ab Januar 1916 eine entscheidende Veränderung; an dieser Maßnahme wurde exemplarisch erkennbar, wie der Handlungsdruck den Staat und das überkommene liberale Erbe des 19. Jahrhunderts veränderte. Auch für das Britische Empire sollte die Wehrpflicht große Auswirkungen haben, wie sich in Australien und vor allem in Kanada zeigte.38 37 Gabriele D’Annunzio: Rede von der Tribüne des Kapitols am 17. Mai 1915, Hamburg 1992, S. 8. 38 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 490f; Ralph James Q. Adams / Philip P. Poirier: The Conscription Controversy in Great Britain, 1900–18, Basingstoke 1987, S. 119–170; Peter Simkins: Kitchener’s Army. The Raising of the New Armies, 1914–16, Manchester 1988, S. 138–161.
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Die Wehrpflicht wurde für viele Zeitgenossen zum Symbol für einen expandierenden Kriegsstaat, der unmittelbar in das Leben von Millionen von Menschen eingriff. Das wog umso schwerer, als diese Form der Staatlichkeit in Großbritannien so nie existiert hatte. Vielmehr hatte sie über lange Zeit als kontinentaleuropäisches Feindbild gedient, um das eigene Selbstbewusstsein als freiheitlich-parlamentarische Ordnung von den stehenden Heeren als militärischer Verfügungsmasse absoluter Fürsten umso wirkungsvoller abzuheben. Für die Whig interpretation of history, jene Meistererzählung, in der die eigene Geschichte als Abfolge von erfolgreichen Freiheitskämpfen erschien, um die Parlamentssouveränität gegen Armeen und die Herrschaftsansprüche katholischer und absolutistisch gesinnter Monarchen durchzusetzen, hatte dies stets große Bedeutung gehabt.39 1916 widersprach das Ende des Freiwilligenprinzips gerade für viele Liberale den etablierten Freiheitstraditionen des Landes. Die Einführung der Wehrpflicht Anfang 1916 schien in ihren Augen genau jenen Prinzipien des preußischen Militärstaates zu folgen, um deren Bekämpfung es in diesem Krieg hatte gehen sollen. In der politischen Auseinandersetzung hatten die Schlüsselbegriffe „conscription“ und „compulsion“ schon 1915 den Konflikt vieler Liberaler mit dem expandierenden Kriegsstaat und die Kritik auch außerhalb des Parlaments geprägt, zumal er sich unter der liberalen Regierung von Premierminister Asquith vollzog. Hier deutete sich die Krise des politischen Liberalismus im Krieg an. Während „compulsion“ für die immer umfassenderen Regulierungen und Eingriffe des Rüstungsministeriums unter Lloyd George in die Bewegungsfreiheit der Arbeiter und die Handlungsspielräume der Gewerkschaften stand, war „conscription“ für viele britische Liberale gleich bedeutend mit einem Militärstaat, der die Freiheitsrechte des Individuums immer mehr einschränkte. Im Juni 1915 hatte man in der „Westminster Gazette“, einem der Sprachrohre der New Liberals, zwar die besondere Situation eines Krieges anerkannt: „we place no limits on the claims of the state to the service of its individual citizens in a struggle in which its honour, and it may be its existence, is at stake“.40 Aber je näher die Einführung der Wehrpflicht rückte, desto stärker wurde die Angst, das Land könne seine historischen Freiheitstraditionen verraten, indem es unter dem Zwang des Krieges und seiner Opfer den „Prussianism“ zu seinem eigenen Prinzip erhebe. Die konkrete Verkörperung von Machtstaat und militärischem Absolutismus aber identifizierte man mit dem Prinzip der Wehrpflicht. Die partizipatorische Dimension des Vaterlandsverteidigers in der Tradition der Französischen Revolution spielte 39 Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008, S. 83–85, 282–285 und 464–472. 40 Methods of Controversy, in: Westminster Gazette, 2. Juni 1915, zitiert nach: Michael Freeden: Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914–1939, Oxford 1986, S. 20.
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in dieser britischen Diskussion dagegen keine Rolle. In der Zeitschrift „Nation“ ging man bereits im Oktober 1915 so weit, mit der Wehrpflicht den Verrat an den liberalen Prinzipien und das Ende der Liberal Party zu identifizieren: „We go to war professedly to fight for freedom, and are rapidly introducing industrial and military slavery here. […] There will be no Liberal Party as we have known it. It is abdicating its birthright; it will have lost its soul“.41 1917 spitzten sich die ideologischen Polarisierungen zu – mit erheblichen Folgen für den Liberalismus nicht allein in Deutschland. Zur innenpolitischen Defensive, der Konfliktstellung der Liberalen gegenüber links und rechts, trat die ideologische Konkurrenz von außen, nämlich gegenüber den konkurrierenden Utopien des demokratisch-egalitären und des bolschewikischen Internationalismus. Mit Lenin und Wilson entstand eine Utopienkonkurrenz – an diesen neuen politischen, sozialen und internationalen Ordnungsmodellen konnte die Überzeugungskraft der Liberalen ab jetzt gemessen werden. In Petrograd konnte man wie in einem Laboratorium beobachten, wie sich Krieg und Revolution miteinander verbanden und Institutionen wie Dynastie, Monarchie und Imperium innerhalb kurzer Zeit weggefegt wurden.42 Die Hoffnungen, die sich mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verbanden, die Kopplung von Frieden, nationaler Selbstbestimmung und demokratischem Prinzip kamen nicht zum Durchbruch – weder innenpolitisch noch im Bereich der internationalen Beziehungen. Der „Wilsonian Moment“ scheiterte insofern doppelt. Das grundsätzlichere Problem aber, das sich den Liberalen im Krieg stellte, brachte Thomas Mann 1917 auf den Punkt: Was waren politische, konstitutionelle, soziale Reformen wert, wie glaubwürdig waren sie, wenn sie allein aus der zunehmenden Erschöpfung der Kriegsgesellschaften resultierten? Im Dezember 1917 schrieb er: „Weltfriede … Wir Menschen sollten uns nicht allzu viel Moral einbilden. Wenn wir zum Weltfrieden, zu einem Weltfrieden gelangen – auf dem Wege der Moral werden wir nicht zu ihm gelangt sein. Scheidemann sagte neulich, die Demokratie werde auf Grund der allgemeinen Erschöpfung reißende Fortschritte machen. Das ist nicht sehr ehrenvoll für die Demokratie – und für die Menschheit auch nicht. Denn die Moral aus Erschöpfung ist keine so recht moralische Moral.“43 Dennoch resultierte aus den mit Wilson und Lenin identifizierten Programmen und Strategien eine neue Situation. Das aber gab der Tatsache, dass die innenpolitischen Burgfriedenskonstellationen 1917 auch in den krieg41 J. R. Tomlinson: Liberalism and the War. Letter to the Editor, in: Nation, 23. Oktober 1915, zitiert nach: M. Freeden, Liberalism (wie Anm. 40), S. 22. 42 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 762f. 43 Thomas Mann: Weltfrieden? (27. Dezember 1917), in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15/1, hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 2002, S. 212– 215, hier S. 212.
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führenden Gesellschaften des Westens erodierten, eine besondere Dramatik – denn jetzt existierte ein Gegenmodell, auf das man sich konkret berufen konnte. Vor allem schien der reformorientierte Kurs der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Europa für die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen, aber auch für die Politikpraxis mit der faktischen Anerkennung der Gewerkschaften nicht nur geeignet, sondern den liberalen Ordnungsmodellen sogar überlegen. Einerseits wurden Sozialisten in die Kriegsregierungen in Paris und London integriert – so Alexandre Millerand in Frankreich und Arthur Henderson in Großbritannien –, nicht jedoch in Deutschland.44 Andererseits nahmen die Spannungen innerhalb der Linken in der Frage zu, ob man die Fortsetzung des Krieges weiterhin unterstützen sollte. Die Abspaltung der USPD in Deutschland unterstrich, wohin diese Konflikte führen konnten. Darin spiegelten sich weniger ideologische Entscheidungen und die Ergebnisse der Exilkonferenzen der radikalen Linken in Zimmerwald und Kiental wider, sondern die seit 1916/17 immer drängenderen Probleme und sozialen Kosten der Durchhalte-Gesellschaften im Krieg.45 Etwas anderes kam 1917 hinzu: die aggressive Mobilisierung von rechts gegen den politischen Liberalismus. In Deutschland wurden die maximalistischen Kriegsziele der Alldeutschen, darin unterstützt von der Dritten OHL, immer mehr zur Belastung der Kanzlerschaft Bethmann Hollwegs. In der Krise um den Übergang zum unbeschränkten U-Boot-Krieg kollabierte faktisch die konstitutionelle Praxis des deutschen Parlaments, und das Militär erzwang in einer Art von negativer Koalition mit den Fraktionen von den Rechten bis zum Zentrum und durch Ludendorffs Rücktrittsdrohung den Fall des Kanzlers. Aus der Friedensresolution der bisher ausgeschlossenen Oppositionsparteien im Reichstag ging zwar eine grundlegend veränderte Parteienkonstellation hervor. Aber bei näherem Hinsehen erwies sich, wie widersprüchlich deutsche Liberale dabei agierten: Nationalliberale forderten mehr Macht für den Reichstag und die Aufhebung der Pressezensur, weil sie den in ihren Augen schwachen Reichskanzler und seinen Kurs gegen maximalistische Kriegsziele ablehnten. Insbesondere Gustav Stresemann kritisierte die „Politik des Entgegenkommens und der Konzessionen“, während die Linksliberalen die Regierung zu stärken suchten: Friedrich Naumann wandte sich entsprechend gegen die „Ministerstürzer“ und das „Herumgreifen in uneroberten Ländern“.46 Obwohl sich die Nationalliberalen im Streit um die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts von der konstitutionellen Monarchie distanzierten, blieb ein klares Bekenntnis zur konsequenten Parlamentarisierung aus. Doch auch die Linksliberalen scheuten den Konflikt. So blieb in 44 J. A. Turner, Challenge (wie Anm. 6), S. 166 und 168f; Marjorie Farrar: Principled Pragmatist: The Political Career of Alexandre Millerand, London 1991. 45 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 763f. 46 Zitiert nach: D. Langewiesche, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 229.
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Deutschland die evolutionäre, stille Parlamentarisierung unvollkommen. Ihre Verknüpfung mit der Hoffnung auf einen milden Wilson-Frieden 1918 wurde vielmehr zu einer langfristigen Belastung.47 Obwohl 1917 die Parlamente in vieler Hinsicht an Gewicht gewannen, offenbarte sich, wie problematisch ihre Rolle sein konnte. Weder in Russland noch in Deutschland und auch nicht in Österreich-Ungarn gelang eine innenpolitische Stabilisierung auf parlamentarisch-konstitutioneller Grundlage und im Rekurs auf einen gemeinsamen Konsens. Vielmehr wurden die Petrograder Duma, der Berliner Reichstag und der Wiener Reichsrat zu Foren ideologischer Polarisierung, so etwa in der Gründung der Vaterlandspartei in Deutschland im September 1917 als Sammelbecken für alle diejenigen, die pangermanische Kriegsziele verfolgten.48 Aber auch die Spaltung der parlamentarischen Linken SPD/USPD und die nationalistisch aufgeheizten Konflikte zwischen deutschen und tschechischen Abgeordneten in Wien illustrierten dieses Problem. Eine Basis für konstitutionell-parlamentarische Integration oder ein Forum für eine inkrementale Konsenssuche innerhalb von Kriegsgesellschaften stellten die Parlamente in diesen Gesellschaften nicht dar. Aber 1917 markierte auch in Frankreich und Großbritannien eine Krise der liberalen Politikgestaltung. Nachdem das Briand-Kabinett noch vor der Katastrophe der Nivelle-Offensive und der Massenmeuterei gestürzt worden war, wurde nun die neue Regierung unter Alexandre Ribot umso mehr für die doppelte Krise verantwortlich gemacht. An dieser paradigmatischen Situation der liberalen Mitte ließ sich die Polarisierung des politischen Spektrums besonders eindrücklich zeigen. Die Kritik von links konzentrierte sich auf die Verantwortung für das militärische Desaster und die Meutereien, während die Regierung aus dem rechten Lager dafür angefeindet wurde, den Krieg nicht konsequent genug weiterführen zu wollen. Nach weiteren Regierungswechseln folgte im November 1917 das Kriegskabinett unter Georges Clemenceau; mit dem Ende der Regierungsbeteiligung der Sozialisten wurde die Union sacrée in der bisherigen Form praktisch aufgehoben. In der Praxis trat das Parlament hinter die besondere Popularität Clemenceaus zurück, der den Krieg nutzte, um sich als charismatischer Politiker und Verkörperung des Siegeswillens zu etablieren.49 Tendenziell setzte sich auch mit Lloyd George Ende 1916 ein ähnlicher Politikertypus in Großbritannien durch. Er profitierte von der Krise der Libe47 Alastair Thompson: Left Liberals, the State, and Popular Politics in Wilhelmine Politics, Oxford 2000, S. 359–390. 48 James N. Retallack: Notables of the Right: The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876–1918, London 1979; Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei: Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997. 49 David Newhall: Clemenceau: A Life at War, New York 1992; Jean-Jacques Becker: Clemenceau: L’Intraitable, Paris 1998; Ders.: Clemenceau, Chef de Guerre, Paris 2012.
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ral Party, die sich durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und angesichts der immer stärkeren Einwirkung des Kriegsstaates auf die Wirtschaft entwickelt hatte. Viele liberale Abgeordnete und Labour-Vertreter gingen im Unterhaus auf Distanz zur Regierung Asquith, weil sie die Übermacht des zentralisierenden Kriegsstaates auf immer mehr Bereiche auch des privaten Lebens fürchteten. Die britischen Konservativen dagegen warfen – wie die republikanische Rechte in Frankreich – der Regierung vor, den Krieg nicht energisch genug zu betreiben. Der regierende Liberalismus schien für „de featism“ zu stehen. Nachdem Lloyd George das neue Kabinett gebildet hatte, verstärkte er 1917 die Polarisierung durch gezielte Maßnahmen zugunsten derjenigen liberalen und konservativen Abgeordneten, die seinen Kriegskurs unterstützten. Dabei kam ihm das Schreckbild einer unter Pazifismus-Verdacht stehenden Koalition aus Labour und Linksliberalen entgegen. So trugen seine Kampagnen und die Gleichsetzung von „pacifism“ und „defeatism“ ganz enorm zur Spaltung der Liberalen bei.50 1917 ließ sich die Kriegssituation also in fast allen Kriegsgesellschaften instrumentalisieren, um den Liberalismus politisch in die Defensive zu drängen. Auch in einer weiteren Hinsicht erwies es sich als Schicksalsjahr der Liberalen im Krieg. Denn überall griff nun die Befürchtung um sich, dass der militärische Krieg immer mehr von einem globalen Wirtschaftskrieg begleitet werde, in dem die siegreiche Macht auf lange Sicht mit Waffengewalt ihre ökonomischen Positionen durchsetzen würde. Als Konsequenz wurden in allen kriegführenden Gesellschaften die Grundsätze des Freihandels und der staatlichen Nichtintervention in die Wirtschaft ausgehöhlt. In Großbritannien dominierten wirtschaftspolitisch jetzt die Konservativen, die gegenüber den liberalen Anhängern des Freihandels für Zolltarife eintraten. In Frankreich orientierte sich die Regierung noch stärker an den national bestimmten Interessen der Großindustrie, und in Deutschland entwarf man die Utopie eines möglichst autarken, germanisierten Wirtschaftsraums auf dem Kontinent.51 BESCHLEUNIGTE DESILLUSIONIERUNG: DIE PROGRESSIVISTS IN DEN VEREINIGTEN STAATEN Wie unter einem Brennglas ließ sich der Zusammenhang zwischen liberalen Reformerwartungen und Desillusionierungen auch in den Vereinigten Staaten beobachten. Die liberal-intellektuellen Progressivists standen im April 1917 mitten in den großen innenpolitischen Debatten zum Wesen der amerikanischen Nation und der Frage, was die Einwanderergesellschaft jenseits der Aussicht auf Wirtschaftswachstum und materielle Gewinne für den Einzelnen 50 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 764f. 51 Ebd., S. 765.
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bedeuten sollte. Der Krieg in Europa konfrontierte auch die Liberalen in den Vereinigten Staaten mit dem eigenen Selbstbild und ihrem Zukunftsentwurf. Das betraf vor allem die Rolle des Staates sowie die Möglichkeiten einer liberalen Reformagenda.52 Zum Leitbild der Politiker um Präsident Theodore Roosevelt war nach 1910 das Programm einer „national reconstruction“ geworden, das durch eine institutionelle, politische und kulturelle Erneuerung den Zusammenhalt der amerikanischen Nation wieder stärken sollte. In den Augen vieler Zeitgenossen war er durch den rapiden ökonomischen und sozialen Wandel seit den 1860er Jahren immer weiter erodiert. Ideologisch knüpfte man mit diesem Programm wieder an die Politik der Gründerväter Alexander Hamilton und Thomas Jefferson an: Nationale Stärke setze eine demokratische Gesellschaft voraus. Konkret forderte man, politische und ökonomische Entscheidungen stärker zu zentralisieren und dem Staat dabei eine aktivere Funktion zuzuweisen. Hier wirkte der Kriegseintritt der USA als unmittelbarer Katalysator: Denn in der Organisation der Kriegswirtschaft durch Präsident Wilson deutete sich das Leitbild eines aktiven und regulativen Staates an.53 Von der einflussreichen Gruppe der sogenannten Progressivists um John Dewey als Kriegssozialismus, als Sieg organisierter politischer und ökonomischer Planung gefeiert, nahm die amerikanische Kriegswirtschaft Maßnahmen des New Deal unter dem späteren Präsidenten Franklin Delano Roosevelt vorweg. In den Organisationen der Kriegswirtschaft bildete sich, vergleichbar der Entwicklung in Deutschland und anderen europäischen Kriegsgesellschaften, eine Tendenz zu korporativen Entscheidungsstrukturen heraus. Sie basierten auf staatlichen Sonderbehörden, banden die wichtigsten industriellen Interessengruppen der Arbeitgeber sowie der Gewerkschaften mit ein und erkannten sie damit staatlich an. Zugleich gingen diese Maßnahmen mit einem ideologisch zugespitzten Konzept von „Americanism“ einher. Es enthielt einerseits das Versprechen politischer und sozialer Teilhabe, aber es entwickelte andererseits in der Praxis auch starke Tendenzen eines aggressiven Nationalismus und Vigilantismus gegenüber den „feindlichen Ausländern“.54 Die amerikanischen „progressive intellectuals“ um Herbert Croly, Walter Lippmann und John Dewey betonten, ganz im Sinne Max Webers, die Bedeutung der rationalen Organisation für moderne Industriegesellschaften und ihre Repräsentation durch charismatische Führungspersönlichkeiten. Im 52 J. Leonhard, Progressive Politics (wie Anm. 19), S. 115–132; vgl. im folgenden Ders., Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 704–706. 53 Hans Vorländer: Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776–1920, Frankfurt/M. 1997, S. 195–205. 54 Jörg Nagler: Nationale Minoritäten im Krieg. „Feindliche Ausländer“ und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs, Hamburg 2000; Katja Wüstenbecker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg: US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen, Stuttgart 2007.
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Blick auf die nationale Integration der amerikanischen Gesellschaft erkannten sie im Krieg eine Chance: Denn die Prämissen der „Good Administration“, die Dewey in seinem Buch „Progressive Democracy“ 1915 entwickelt hatte, sollten ab Frühjahr 1917 unter Beweis gestellt werden. Präsident Wilson hatte die Vorbereitung des Kriegseintritts unter das national-integrative Motto einer „military and industrial preparedness“ gestellt. Der Krieg, so die Hoffnung der linksliberalen Reformer, würde die Vereinigten Staaten dazu zwingen, innergesellschaftliche Integration mit staatlich-ökonomischer Rationalität zu verbinden. Diese wissenschaftliche Rationalität verkörpernden Vorstellungen sollten schließlich einen neuen Typus der Demokratie als Auszeichnung der amerikanischen Nation hervorbringen. Aber diese weitgespannten Erwartungen sollten bitter enttäuscht werden: Bereits während des Krieges und erst recht nach 1918 mussten die Vertreter der Progressiven erkennen, dass die amerikanische Variante des Kriegssozialismus eine Episode blieb und sich die mit Wilson verknüpften innen- und außenpolitischen Hoffnungen schnell zerschlugen.55 Das Nationskonzept der liberalen Intellektuellen in den USA ging nicht, wie etwa die bürgerliche Kriegszieldiskussion in Deutschland, von geopolitischen Annexionsforderungen aus, sondern zielte auf eine soziale und nationale Demokratie und ein neues Konzept von Loyalität für die heterogene amerikanische Einwanderergesellschaft. Die Progressiven setzten sich auch für ein internationales und kollektives Sicherheitssystem unter Einschluss der Vereinigten Staaten ein, aber ihr primärer Fokus blieb doch die nationale Politik. Lippmann betonte im Februar 1916, erst der Krieg habe den Amerikanern „a new instinct for order and national purpose“ gegeben und damit die Chance für ein „integrated America“ eröffnet. Croly unterstrich die Perspektive eines „national purpose“, durch den jenseits materialistischer Kultur und partikularer Klasseninteressen das Gemeinwohl neu definiert werden sollte. Dieses Nationskonzept sollte sowohl den staatslosen Individualismus der Pionierzeit als auch den einseitig ökonomisch begründeten materiellen Egoismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwinden. Die „New Republic“, Sprachrohr der Progressiven, gab diesen Hoffnungen der amerikanischen Liberalen Ausdruck. Anlässlich des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten im April 1917 hieß es dort: „Never was a war fought so far from the battlefield for purposes so distinct from the battlefield“.56 55 Herbert Croly: Progressive Democracy, New York 1915, S. 73; Charles Forcey: The Crossroads of Liberalism: Croly, Weyl, Lippmann, and the Progressive Era 1900– 1925, New York 1961, S. 273–315; Stuart Rochester: American Liberal Disillusionment in the Wake of World War I, University Park/Penn. 1977, S. 88–104; H. Vorländer, Liberalismus (wie Anm. 53), S. 203f. 56 The New Republic, 19. Februar 1916, S. 62–67 und ebd., 21. April 1917, S. 337; H. Vorländer, Liberalismus (wie Anm. 53), S. 207.
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ZUSAMMENFASSUNG: VON DEN KRISENERFAHRUNGEN ZUR REVOLUTION STEIGENDER ERWARTUNGEN Krisenhafte Herausforderungen für den Liberalismus hatte es auch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegeben. Aber erst seit dem Sommer 1914 waren Liberale mit den besonderen Konsequenzen des Kriegsnationalismus konfrontiert. Dazu gehörte eine immer rigidere Exklusion von verdächtigen Gruppen und Individuen unter dem Vorwand nationaler Illoyalität. Das ging von Anfang an mit unterschiedlichen Formen von Gewalt einher: SpionageHysterien, Kampagnen gegen fremdländische Marken und Begriffe, die Herrschaft des Verdachts, die ökonomischen Enteignungen, physische Gewalt gegen vermeintliche „Feindausländer“ und Internierungen bewiesen, wie dünn der Firnis der bürgerlich-zivilisierten Ordnung plötzlich geworden war. Diese Entwicklung wurde begünstigt durch den Wandel der Kriegsstaaten zu Kontroll- und Zentralisierungsinstanzen. Im Vergleich traten die Parlamente vor allem in Österreich, zunächst auch in Deutschland zurück, während die französische Nationalversammlung bereits im Dezember 1914 energisch ihre überkommene Rolle zurückforderte und das Parlament in Westminster seine Funktion behaupten konnte. Aber der relative Bedeutungsgewinn der Militärs und der Exekutive war im Zeichen von Sondergesetzgebungen und Belagerungszuständen doch überall erkennbar. Eine radikale Alternative dazu sollte erst ab 1917 mit der Kombination aus Krieg und Revolution in Russland erkennbar werden. Hinter den Erfahrungen mit der Herrschaft des Verdachts, der Kontrolle, der Überwachung und des Zwangs bildeten sich die immer engeren Grenzen der pluralen Gesellschaftsvorstellungen und der Privatsphäre des Individuums ab. Der Preis für diesen Habitus des Durchhaltens, des Weiterkämpfens für den Sieg, um die schon jetzt hohen Opfer zu rechtfertigen, war die Erosion der liberalen Substanz in den Kriegsstaaten und Kriegsgesellschaften. Hier wurden lange Zeit umkämpfte und mühsam durchgesetzte Freiheits- und Teilhaberechte sehr bald zugunsten von staatlicher Zentralisierung und bürokratisch-militärischer Kontrolle abgebaut oder suspendiert. Unter Verweis auf die Sachzwänge des Krieges zeichneten sich schon jetzt neue politische Ordnungsmodelle und soziale Ordnungskategorien ab. Zur Erfahrung des Krieges gehörte für die Liberalen auch die radikale Delegitimierung: von Dynastien und Monarchien, von Nationalstaaten und Empires im Krieg. Innergesellschaftlich wurden soziale und politische Rollen neu verteilt – nach dem zugespitzten Kriterium der Kriegsrelevanz, Nützlichkeit und Effizienz. Schließlich erwies sich der Krieg als Mutter von revolutionären Veränderungen, also der Erfahrung von gewaltsamer Veränderungsdynamik in kurzer Frist im Namen radikaler Ideologien. Daraus resultierte eine neue Konkurrenz von Ordnungsmodellen.
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Vor diesem Hintergrund entwickelten sich spezifische Frontstellungen gegen den Liberalismus, nicht als vereinzelte Kritik, sondern als systematische ideologische Entgegensetzung im Sinne des Antiliberalismus. Dazu gehörte in Deutschland der Fokus auf integrative Gemeinschaftsvorstellungen und Kriegssozialismus oder in Großbritannien die Wirkung von „compulsion“ und „conscription“ im Zeichen eines immer weiter expandierenden Kriegsstaates. Gerade Repräsentanten einer dezidiert unpolitisch apostrophierten Bürgerlichkeit beriefen sich vor und nach 1918 auf den nationalen Gesinnungsbegriff der „Liberalität“, um sich so von demokratisch-partizipatorischen Konnotationen des Liberalismus abzugrenzen. Stellvertretend für viele hob Thomas Mann in seinen vor allem während der letzten beiden Kriegsjahre verfassten „Betrachtungen eines Unpolitischen“ ein bürgerlich-unpolitisches Verständnis von „Liberalität“ hervor, das er vom ideologischen Gehalt des Liberalismus zu unterscheiden suchte. Sei er „liberal“, so nur „im Sinne der Liberalität und nicht des Liberalismus. Denn ich bin unpolitisch, national, aber unpolitisch gesinnt, wie der Deutsche der bürgerlichen Kultur und wie der der Romantik, die keine andere politische Forderung kannte als die hochnationale nach Kaiser und Reich“.57 Aus dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich ein veränderter Begriff der Politik. Max Weber sollte in seiner Grundschrift 1919 über „Politik als Beruf“ die traditionellen Vorstellungen legitimer Herrschaft, die auf Monarchen, Dynastien und Imperien beruhten, historisieren – stattdessen hob er nicht zuletzt gegenüber den Liberalen die Massen und die Demokratie als neue Bedingungsfaktoren der Politik in Nationalstaaten hervor. Und Weber forderte eine neue analytische Qualität und rationale Bestimmung von Politik: „Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich […] mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. […] Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt zu lösen sind.“58 Aber die Debatte um das Wesen des Politischen barg noch ganz andere Positionen. Die „eigentlich politische Unterscheidung“ sei, so Carl 57 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 12/1, hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 2009, S. 108; Jörn Leonhard: Semantische Deplazierung und Entwertung – Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 29/1 (2003), S. 5–39. 58 Max Weber: Politik als Beruf, in: Ders.: Gesammelte politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 21958, S. 493–548, hier S. 545; Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, ND. Frankfurt/M. 2004, S. 299; Sabine Marquardt: Polis contra Polemos. Politik als Kampfbegriff der Weimarer Republik, Köln 1997.
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Schmitt 1927, die „von Freund und Feind“. Sie ermögliche erst jene begriffliche Bestimmung, ohne die es keine Kriterien in den Formen, Prozessen und Inhalten der Politik geben könne. Alle politischen Begriffe und Vorstellungen rekurrierten, so Schmitt, auf diese Gegensätzlichkeit, deren „letzte Konsequenz“ sich „in Krieg oder Revolution“ äußere. Wenn aber das Politische auf das Paradigma von Freund und Feind zurückging und der Krieg die „äußerste Realisierung der Feindschaft“ war, dann ließ sich die permanente Möglichkeit des Krieges argumentativ als Voraussetzung des Politischen selbst beschreiben: „Das Politische liegt nicht im Kampf selbst, der wiederum seine eigenen technischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern in einer von der realen Möglichkeit eines Krieges bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden“. Daher sei eine Welt, in der es gelänge, die „Möglichkeit eines Krieges“ restlos auszuschließen, eine „Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik“.59 Liberale in Deutschland mussten im Verlauf des Krieges und danach erleben, wie ihr tradiertes Deutungsmonopol für die Grundbegriffe „Nation“ und „Bürgertum“ durch den Krieg fundamental erschüttert worden war. Demgegenüber blieben „society“ und „individual“ lange Zeit relativ stabile Referenzen für die britischen Liberalen. Aber selbst ein so prominenter Vertreter des reformorientierten New Liberalism in Großbritannien wie John Atkinson Hobson, der noch 1916 das Ideal des organischen britischen Liberalismus gegen die Staatszentriertheit Preußens betont hatte, war sich 1918 darüber im Klaren, dass es nach dem Krieg keine einfache Rückkehr in die Welt des Vorkriegs-Liberalismus geben könne. Das zeige jeder Blick auf den Staat: „nobody can seriously argue that at the end of the war […] the State will or can return to pre-war conditions and the competitive laissez-faire which prevailed over wide fields of industry and commerce“.60 Obgleich Hobson die Übergriffe gerade des britischen Kriegsstaates kritisierte, musste er zugeben: „any sudden lapse from the State Socialism of war-time, with its enormous governmental control of engineering, agriculture, mining, transport and other vital industries […] into the pre-war conditions, would spell disorder and disaster. The State must continue to retain a large proportion of this control and this spending power, if unemployment, industrial depression, a fall of wages and something like social revolution are to be averted“.61 Solche Positionen 59 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1927), Hamburg 1933, S. 7, 13 und 15–18; Ernst Wolfgang Böckenförde: Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Heinz Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 283–299; J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 1008f. 60 John Atkinson Hobson: Capital, Labor, and the Government, zitiert nach: M. Freeden, Liberalism (wie Anm. 40), S. 28. 61 John Atkinson Hobson: Democracy After the War, London 1917, S. 164f; M.
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spiegelten die Differenz von Erwartungen und Erfahrungen von Liberalen im Ersten Weltkrieg wider. Nachdem in den Vereinigten Staaten der Kriegseintritt zunächst die Reformhoffnungen der Progressivists um Walter Lippmann, Walter Weyl und Herbert Croly und ihre Kritik an der Anti-Staats-Ideologie des radikalen Wirtschaftsliberalismus beflügelt hatte, machte sich bald Ernüchterung breit. Denn obwohl es den regulativen Zentralstaat nun in zahlreichen neugeschaffenen Institutionen wie dem War Industries Board, dem National War Labor Board oder der Food Administration gab, ging dies zugleich mit einer Praxis der Exklusion vermeintlicher Verräter und feindlicher Ausländer einher, die dem liberalen Credo der Vielfalt und Toleranz widersprach. Das Kriegsende bedeutete nicht nur das Ende der Experimente mit einem proaktiven Staat, sondern auch den Rückfall in nationale Abschließung.62 Langfristig geriet durch den Krieg also nicht nur das liberale Politikmodell unter Druck, sondern auch das plurale Gesellschaftsbild. Gegen die konstitutionell-parlamentarische Praxis konnte man argumentieren, dass moderne Staaten im Krieg allein durch bürokratisch-militärischen Sachverstand, durch Experten und Fachleute überleben konnten. Die Rekonfiguration von vormodernen Gemeinschaftsidealen, die man nach 1918 gegen den Liberalismus wandte, verband sich nach dem Krieg mit dem Rückgriff auf moderne Techniken: Die plurale Gesellschaft erschien als atomistisch. Jetzt sollten Sozialingenieure, die den Krieg als Möglichkeitsraum erfahren hatten, etwa in der pronatalistischen Praxis der französischen Regierung, ein zunehmendes Gewicht bekommen. Schließlich wirkte der Krieg auch als eine Revolution steigender Erwartungen an eine Neuordnung der internationalen Ordnung im Namen freiheitlicher Prinzipien und nationaler Selbstbestimmung. Das waren die Chiffren des „Wilsonian Moment“, bei Polen, Tschechen und Iren wie bei Arabern und Indern und in vielen asiatischen Gesellschaften. Durch das Auftreten des amerikanischen Präsidenten Wilson waren die Erwartungen auf eine globale Ebene verschoben, schien der Krieg die Möglichkeit zu eröffnen, die Welt im Namen universeller Prinzipien neu zu ordnen und als Chance, koloniale Herrschaft zu überwinden. Der Begriff der nationalen Selbstbestimmung befeuerte vielfältige Erwartungen auf eine umfassende Neuordnung der europäischen und der weltweiten Ordnung von Staaten und Nationen. Darin aber lag die Grundproblematik der Pariser Friedensverträge. Denn die großen Hoffnungen, die sich seit 1917 mit Wilson und seiner globalen Medienwirkung in Südamerika, in Asien, in Ägypten und Indien verbanden, sollten in Paris bitter enttäuscht werden. Auch vor diesem Hintergrund verschärfte sich die Diskussion um den Bestand und die Zukunftsfähigkeit von politischen und sozialen OrdnungsFreeden, Liberalism (wie Anm. 40), S. 42. 62 J. Leonhard, Büchse der Pandora (wie Anm. 3), S. 868–872.
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modellen nach 1918. Das galt für den Liberalismus und den Parlamentarismus genauso wie für den Kapitalismus und Kolonialismus. So hatte der Krieg überkommene politische Ordnungskonzepte infrage gestellt – ohne dass an ihre Stelle bereits ein neues Prinzip trat. Die spannungs- und konfliktreiche Konkurrenz neuer Utopien sollte die Unübersichtlichkeit aller Nachkriegsgesellschaften prägen.
Bürgerliche Moderne und das Zeitalter der Extreme – Die Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit
KAPITALISMUS DER VERMITTLUNG Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Philipp Müller I. Der Begriff „Neo-Liberalismus“ wird in der Regel zur Kennzeichnung des neuen Glaubens an die Kräfte des Marktes verwendet, mit dessen Hilfe Adepten von Friedrich von Hayek und Milton Friedman seit den 1970er Jahren eine Abkehr von der keynesianischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit durchsetzten.1 Die Dominanz der gegenwärtigen Begriffsverwendung verdeckt, dass „Neo-Liberalismus“ in der Zwischenkriegszeit eine Position bezeichnen konnte, die sich von marktgläubigen Formen des Kapitalismus verabschieden und damit den Wirtschaftsliberalismus auf eine neue konzeptionelle Grundlage stellen wollte.2 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, NeoLiberalismus nach dem Ersten Weltkrieg an ein konkretes gesellschaftliches Milieu zurückzubinden, das in Deutschland und Frankreich gleichermaßen durch das Aufkommen von Institutionen der wirtschaftlichen Interessenvertretung entstand. In Reaktion auf ihre Erfahrungen mit der zeitgenössischen Demokratie, den wirtschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit und der Weltwirtschaftskrise entwickelten Mitglieder von wirtschaftlichen Interessenvertretungen Formen eines Kapitalismus der Vermittlung, der sich von überkommenen Vorstellungen des laissez-faire und laissez-passer abgrenzte. Die mit einer solchen Deutung des Neo-Liberalismus verbundene Grundannahme ist, dass Liberalismus – wie Kapitalismus – in seiner Entwicklung keine feststehende, allgemein gültige Form angenommen hat, sondern nur in einer jeweils historischen Verfassung verstanden werden kann. Eine solche Sichtweise kann dazu beitragen, Widersprüche in der bisherigen Forschung zum Liberalismus in Deutschland und Frankreich aufzulösen. * Für kritische Kommentare danke ich den Herausgebern sowie Christiane Reinecke und Rüdiger Graf. 1 Vgl. u.a. Daniel T. Rodgers: The Rediscovery of the Market, in: Ders.: Age of Fracture, Cambridge/Mass. 2011, S. 41–76. 2 Vgl. Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“, Stuttgart 2008; François Denord: Néolibéralisme version française. Histoire d’une idéologie politique, Paris 2007.
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Die Geschichtswissenschaften haben von der Entwicklung des Liberalismus in Deutschland und Frankreich ein tragisches Bild entworfen. In Deutschland hat demnach die Hoffnung auf Errichtung einer klassenlosen Bürgergesellschaft in die ideologisch verschleierte Distanz zur Parteipolitik im Kaiserreich geführt und damit schlussendlich den Niedergang der Liberalen zur Splitterpartei Ende der 1920er Jahre besiegelt.3 In Frankreich verlief der Weg des politischen Liberalismus zwar weniger dramatisch, am Ende stimmten die untereinander uneinigen liberalen Parteien jedoch rückhaltlos dem autoritären Präsidialregime Pétains zu.4 Diese Deutungen sollen im Folgenden nicht in Frage gestellt werden. Gibt man die Konzentration auf die Geschichte politischer Parteien jedoch auf, wird das Bild unklarer. Es gewinnt an Widersprüchlichkeit, sobald man deutsche und französische Forschungsdebatten zum ökonomischen Liberalismus zusammenführt. Eine altbekannte These zur Verbindung des politischen und ökonomischen Liberalismus in Deutschland hat die Schwäche der bürgerlichen Resistenz gegen politischen Autoritarismus darauf zurückgeführt, dass im Wirtschaftsbürgertum nach der Reichsgründung von 1871 Landbesitz und Titel höher im Kurs standen als Handelsfreiheit und politische Partizipation. Erst die Niederlage im Zweiten Weltkrieg konnte demnach den Sonderweg des deutschen Liberalismus korrigieren.5 Die mit dieser Ansicht verknüpfte Vorstellung wirkt mittlerweile auch deshalb überholt, weil das historiographische Modell eines ganz ähnlichen Sonderwegs in anderen europäischen Nationalgeschichten gleichermaßen attraktiv war.6 Während die Aristokratisierung der 3
Sheehan nennt seine Studie eine „Geschichte des Untergangs des Liberalismus“. James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 319; vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/Main 1988, S. 240ff; Larry E. Jones: German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System, 1918–1933, Chapel Hill 1989. 4 Vgl. Klaus Peter Sick: Vom Opportunisme zum Libéralisme autoritaire. Die Krise des französischen Liberalismus im demokratischen Parlamentarismus 1885–1940, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 66–104; Stefan Grüner: Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller / Manfred Kittel (Hg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40, München 2002, S. 219–249. 5 Vgl. kritisch zur Feudalisierungsthese u. a. Hartmut Kaelble: Wie feudal waren die deutschen Unternehmer im Kaiserreich? Ein Zwischenbericht, in: Richard Tilly (Hg.): Beiträge zur quantitativen vergleichenden Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 148–171; Hartmut Berghoff: Aristokratisierung des Bürgertums? Zur Sozialgeschichte der Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Großbritannien 1870 bis 1918, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 178– 204. 6 Vgl. die entsprechende Argumentation zu Großbritannien von Martin Wiener: English Culture and the Decline of the Industrial Spirit, Cambridge/Mass. 1981.
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Bourgeoisie für Deutschland politische Rückständigkeit erklären sollte, ist sie in Bezug auf Frankreich dafür verantwortlich gemacht worden, dass wirtschaftliche Entwicklungsschritte ausblieben. Die französische ökonomische Führungsschicht hat demnach im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den Glauben an den industriellen Fortschritt verloren und – statt profitstrebend in neue Technologien zu investieren – durch den Kauf von Landgütern und Weinbergen ihr Kapital einer Modernisierung Frankreichs entzogen.7 Erst die Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftszweige nach der Libération hat dieser Perspektive zufolge den Sonderweg Frankreichs in die Moderne beendet. Ungeachtet des Umstandes, dass beide Thesen damit jeweilig auf die Etablierung einer Zäsur 1944/1945 und eine Erklärung der davor liegenden Zeit abzielen, haben sie in der wirtschaftshistorischen Diskussion zum Nationalsozialismus in Deutschland und zu Vichy-Regime und deutscher Besatzung in Frankreich kaum Spuren hinterlassen. Wirtschaftseliten haben für die in diesem historischen Forschungszweig vorherrschende Sichtweise nicht den wahren Liberalismus verkannt, sondern waren entweder in der Lage, liberale Marktorientierung mit illiberalen politischen Zielen zu vereinen oder wurden zu ihrem ökonomisch illiberalen Handeln gezwungen. Während Peter Hayes für die Wirtschaftsordnung unter nationalsozialistischer Herrschaft eine „Kalte Sozialisierung“ der Unternehmen ausgemacht hat, weil Investitionen und der Ausbau von Produktionskapazitäten sich staatlichen Wünschen unterordnen mussten, haben Christoph Buchheim und Jonas Scherner betont, dass Wirtschaftsbetriebe nur in wenigen Ausnahmefällen staatlichem Zwang ausgesetzt waren, wirtschaftliches Handeln dagegen in der Regel an Wettbewerb und Rentabilität orientiert blieb.8 Ganz ähnlich rührte die verbreitete Kollaboration von Unternehmern in Frankreich mit der Besatzungsmacht aus Sicht neuerer Untersuchungen nicht von der Furcht vor Zwangsmaßnahmen, sondern von der Kontinuität kapitalistisch-liberalen Gewinnstrebens her.9 Sogar die in jüngster Zeit wieder rätselhafter erscheinende Niederlage von 1940 wird von einem Teil der Forschung darauf zurückgeführt, dass eine neue 7
Vgl. den Überblick von Roger Magraw: Not Backward but Different? The Debate on French ‘Economic Retardation’, in: Martin S. Alexander (Hg.): French History since Napoleon, London [u. a.] 1999, S. 336–363 sowie Jackie Clarke: France, America and the Metanarrative of Modernization. From Postwar Social Science to the New Culturalism, in: Contemporary French and Francophone Studies 8 (2004), S. 365–375. 8 Vgl. Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390; Jonas Scherner: Das Verhältnis zwischen NS-Unternehmen und Industrieunternehmen. Zwang oder Kooperation?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S. 166–190; Peter Hayes: Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft, München 2004. 9 Vgl. Hervé Joly: Französische Unternehmen unter deutscher Besatzung, in: Christoph Buchheim / Marcel Boldorf (Hg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945, München 2012, S. 131–145.
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europäische Wirtschaftsordnung unter deutscher Führung französischen Unternehmern in mancher Hinsicht ökonomisch vorteilhafter zu sein schien als die Dritte Republik.10 Sowohl die Annahme eines liberalen Sonderwegs in Deutschland wie in Frankreich als auch die gegenteilige Annahme eines keineswegs vorhandenen Sonderwegs, sondern einer Kontinuität oder Unterdrückung von Marktliberalismus in Zeiten der Diktatur, durchzieht eine gemeinsame Vorstellung: Demnach hat es ein kontinuierliches liberales Modell gegeben, an dem die Handlungen der historischen Akteure in beiden Gesellschaften gemessen werden können. Diese Annahme erlaubt jedoch offenbar nicht nur eine Kette widersprüchlicher Thesen, sie ist zugleich konzeptionell unbefriedigend.11 Sie folgt einer überkommenen motivgeschichtlichen Vorstellung von Ideengeschichte, die historische Entwicklungen auf die Wiederkehr eines einmal ausgemachten Arguments absucht. Beiträge in einer Diskussion wären demnach dann und nur dann liberal, wenn sie mit einem solchen Argument übereinstimmen. Statt die damit einhergehende Voraussetzung zu akzeptieren, Konzepte könnten sich selbst tragen, geht die ideengeschichtliche Forschung seit geraumer Zeit davon aus, dass es erst die Sprecher und Interpreten in spezifischen Kontexten sind, die ihnen ihren Gehalt verleihen. Die Kontinuität des Wortes „liberal“ oder einer mit diesem Wort bezeichneten Institution zu verfolgen, trägt demnach nichts zur Geschichte der Entwicklung des Liberalismus bei, weil auf diese Weise nicht in Erfahrung gebracht werden kann, auf welche zeitgenössischen Fragen der Ausdruck eine Antwort bedeutete.12 Insofern diese Fragen sich im Laufe der Zeit verändert haben, ist die Annahme eines kontinuierlichen liberalen Modells gleichbedeutend mit einer ahistorischen Privilegierung normativer Voraussetzungen.13 Solche Voraussetzungen werden hinsichtlich liberaler Vorstellungen der politischen Ökonomie besonders dann deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die Geschichte des Kapitalismus mittlerweile kaum noch als unveränderliche Fortschreibung des Preismechanismus aufgefasst wird, der auf einem freien Markt den Ausgleich von Produktion und Konsum geregelt hätte. Wolfgang Streeck, Peter Hall, David Soskice, Luc Boltanski, Ève Chiapello und andere haben gezeigt, dass die Formen der kapitalistischen Marktwirt10 Vgl. Annie Lacroix-Riz: Le choix de la défaite. Les élites françaises dans les années 1930, Paris 2006. 11 Vgl. kritisch zur NS-Forschung Norbert Frei: Die Wirtschaft des „Dritten Reiches“. Überlegungen zu einem Perspektivenwechsel, in: Ders. / Tim Schanetzky (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 9–24. 12 Vgl. weiterhin Quentin Skinner: Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: James Tully (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Princeton 1988, S. 29–67, hier S. 55f. 13 Vgl. hierzu Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, bes. S. 31–33.
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schaft von den Institutionen und Einstellungen innerhalb eines Wirtschaftsregimes abhängig sind und sich mit ihnen verändern. Ökonomisches Handeln in Marktwirtschaften kann demnach von der Überzeugung getragen werden, dass formale Vereinbarungen zwischen gleichberechtigten Akteuren dafür sorgen müssen, dass ein allgemeiner Wettbewerb zwischen Produzenten und Konsumenten aufrechterhalten wird; zugleich kann es auch von der Auffassung ausgehen, dass erst der Austausch von Informationen und Abmachungen zwischen Marktteilnehmern ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft ermöglichen.14 Ökonomen und Unternehmern, die sich selbst als Liberale auffassen und einen koordinierten Kapitalismus vertreten, kann man nur dann liberale Überzeugungen absprechen, wenn man das freie Konkurrenzmodell zum normativen Ideal von Liberalismus erhebt. Damit würde ausgeschlossen, dass auch von liberaler Seite Zweifel am ökonomischen Individualismus möglich sind – etwa, wenn sich in den Augen der Akteure abzuzeichnen scheint, dass er höhere Kosten verursacht als eine sozial eingebettete Wirtschaft, in der Kapital und Arbeit sich wechselseitig unterstützen.15 Aus der Annahme eines historisch veränderlichen Begriffs von Liberalismus folgt, dass Liberalismus kein unumstößliches ideologisches Muster aufweist, das kontinuierlich besteht; zugleich bedeutet es, dass Liberalismus nicht in allen Aspekten eindeutig von rivalisierenden Überzeugungen abgegrenzt werden kann. Michael Freeden hat betont, dass ideologisches Sprachverhalten zwar auf der Behauptung wechselseitiger Ausschließlichkeit beruht, unterschiedliche ideologische Strömungen jedoch tatsächlich eine Reihe von Begriffen miteinander teilen, auch wenn sie diese unterschiedlich gewich14 Vgl. Peter A. Hall / David Soskice: An Introduction to Varieties of Capitalism, in: Dies. (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1–68; Wolfgang Streeck: Introduction. Explorations into the Origins of Nonliberal Capitalism in Germany and Japan, in: Ders. / Kozo Yamamura (Hg.): The Origins of Nonliberal Capitalism. Germany and Japan in Comparison, Ithaca/London 2001, S. 1–38; Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, hier S. 54ff. Siehe auch die Debatte um den Begriff des „Organisierten Kapitalismus“, der in der historischen Forschung allerdings vor allem auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bezogen worden ist und sich deshalb nicht auf Bedingungen des ökonomischen Liberalismus unter demokratischen Verhältnissen konzentriert. Vgl. Heinrich August Winkler: Organisierter Kapitalismus? Versuch eines Fazits, in: Ders.: Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 264–271; Hans-Jürgen Puhle: Historische Konzepte des entwickelten Industriekapitalismus. ‚Organisierter Kapitalismus‘ und ‚Korporatismus‘, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 165– 184. 15 In diese Richtung weist nicht zuletzt der von Philippe Schmitter hervorgehobene Typus des gesellschaftlichen Korporatismus, der die kapitalistische Marktordnung nicht abschafft, sondern neuen Bedingungen anpasst. Vgl. Philippe C. Schmitter: Still the Century of Corporatism?, in: The Review of Politics 36 (1974), S. 85–131.
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ten.16 Konservative und Liberale haben gleichermaßen für das Konzept begrenzter staatlicher Macht argumentiert; das Eintreten für freie politische oder ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten erhält einen jeweils anderen Sinn, wenn es sich gegen Einschränkungen durch einen totalitären Staat richtet als gegen Strukturreformen in einer Demokratie. Entscheidend für die Bestimmung der vertretenen Position als liberal ist die Bezugnahme der Akteure auf Auseinandersetzungen ihrer Zeit sowie auf die geschichtliche Tradition liberaler Diskussionen. Im Sinne dieser Überlegungen ist es sinnvoll, nicht mehr von Liberalismus, sondern von Liberalismen zu sprechen, deren Nähe durch den Wittgenstein entlehnten Begriff der Familienähnlichkeit gekennzeichnet wird.17 Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, dass liberale Perspektiven auf die politische Ökonomie nach dem Ersten Weltkrieg Versuche einer Veränderung und Neubestimmung hervorbrachten. Den Hintergrund der damit verbundenen Debatten bildeten indes nicht allein die ökonomischen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit oder die Turbulenzen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, vielmehr stand in ihnen eine längerfristige Redefinition der gesellschaftlichen Autorität ökonomischer und administrativer Eliten zur Debatte.18 Während das allgemeine Wahlrecht die Kontrolle über Karrierewege in Politik und Administration zunehmend unsicher machte, bot die wirtschaftliche Interessenvertretung neue Quellen gesellschaftlicher Legitimität. Wirtschaftsvertreter nahmen für sich in Anspruch, keine partikularen, sondern allgemeine Interessen zu repräsentieren und damit einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Die entsprechende Identifikation mit dem Allgemeinen war in der Geschichte des Liberalismus kein Neuland, wurde nun jedoch in Kategorien der ökonomischen Repräsentation unter neuen Rahmenbedingungen konzipiert. Die Veränderung der Rechtfertigungs- und Legitimationsstrategien wirkte indes auf liberale Positionen zur politischen Ökonomie zurück. Wirtschaftlicher Austausch auf der Basis von Angebot und Nachfrage bedarf keiner Form der Repräsentation, vielmehr repräsentiert der Markt das Wirt16 „It is useless to entertain the notion of precise ideological boundaries, or of features exclusive to one ideology or the other. These are merely popular as well as scholarly conventions for simplicity’s sake.“ Michael Freeden: Ideologies and Political Theory. A Conceptual Approach, Oxford 1996, S. 88. 17 Vgl. Michael Freeden: European Liberalisms. An Essay in Comparatitive Political Thought, in: European Journal of Political Theory 7 (2008), S. 9–30; Catherine Au dard: Qu’est-ce que le libéralisme? Ethique, politique, société, Paris 2009, S. 21–24. 18 Zur Redefinition bürgerlicher Eliten in der Zwischenkriegszeit vgl. weiterhin Charles Maier: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975; zur Spannung zwischen den Konzepten Elite und Liberalismus vgl. Olivia Leboyer: Elite et libéralisme, Paris 2012, hier bes. S. 23– 40; vgl. zu Neudeutungen politischer Legitimität Pierre Rosanvallon: Le peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France, Paris 1998, S. 257– 276.
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schaftsgeschehen selbst.19 In dem Maß, in dem wirtschaftliche Interessenvertretung an gesellschaftlicher Attraktivität gewann, verlor der Markt seinen sich selbst repräsentierenden Charakter. In den Augen von Wirtschaftsvertretern entstand er nunmehr erst aus der Vermittlung in der Wirtschaftsrepräsentation. Die Diskussionen um die ökonomische Interessenvermittlung nach dem Ersten Weltkrieg führten somit zu einer Auffassung des Kapitalismus, der die Bedeutung liberaler Vorstellungen verschob. In den folgenden Abschnitten wird zunächst die Entstehung von neuen Formen der Wirtschaftsvertretung mit ihrem Anspruch auf einen Beitrag zum Gemeinwohl zusammengefasst sowie die Motivationsstruktur der neuen Gruppe der Wirtschaftsvertreter vorgestellt. Anschließend sollen die Rückwirkungen dieser Veränderungen erklärt werden, die zur politischen Ökonomie eines Kapitalismus der Vermittlung führten. Bei aller Vielstimmigkeit lässt sich diese politische Ökonomie – in der zeitgenössischen Begriffsverwendung – als neo-liberal bezeichnen. II. Versuche einer liberalen Neubestimmung der Grundlage des Gemeinwesens in Deutschland und Frankreich führten zu unterschiedlichen Konzepten. Wirtschaftsvertreter wiesen diesbezüglich vor allem der Ökonomie eine neue zentrale Rolle zu. Die Überzeugung einer grundlegenden Relevanz der Ökonomie für die gesellschaftliche und politische Entwicklung wurde durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und seine wirtschaftlichen Folgen in vielerlei Hinsicht bestärkt. Nicht nur wiesen bereits während der Kriegsjahre Unternehmer und Beamte der Kriegswirtschaft auf die entscheidende Bedeutung der industriellen Anstrengungen für den militärischen Erfolg hin.20 Auch die drängenden Probleme der Reparationslasten, des Wiederaufbaus des stark zerstörten Nordostens Frankreichs, der durch die neuen Staaten entstandenen Zollgrenzen, der exorbitanten Staatsschulden und der Inflation nach Kriegsende konnten den Eindruck verstärken, die eigene Zeit werde von ökonomischen Fragen bestimmt. Die Wirtschaftskrise von 1920/21 verursachte 19 Vgl. Pierre Rosanvallon: Malaise dans la représentation, in: François Furet / Jacques Julliard / Pierre Rosanvallon (Hg.): La république du centre. La fin de l’exception française, Paris 1988, S. 133–182, hier S. 169f. 20 Vgl. Moritz Föllmer: Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002, S. 190–193; zum Verhältnis zwischen Industrie und Staat in Frankreich und Deutschland während des Krieges vgl. John F. Godfrey: Capitalism at War. Industrial Policy and Bureaucracy in France 1914–1918, Leamington Spa 1987; Gerald Feldman: The Great Disorder. Politics, Economy, and Society in the German Inflation, 1914–1924, Oxford 1993.
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hohe Arbeitslosenzahlen und Teuerungsraten und schien klar vor Augen zu führen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse ein entscheidender Faktor der gesellschaftlichen Neuordnung sein würden. Die im Zuge der anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten geführten Debatten nährten dabei eine Vorstellung, die über eine auf die Nachkriegssituation beschränkte Perspektive hinausging. Die Wirtschaft war demnach nicht nur ein infolge des Weltkrieges gestörtes Element der europäischen Gesellschaftsordnung, sondern Basis des Gemeinwesens in einem allgemeinen Sinn. Für Eduard Hamm (1879–1944), während des Krieges im Kriegsernährungsamt tätig, unter Wilhelm Marx Reichswirtschaftsminister und anschließend Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages,21 war die Ökonomie in diesem Sinn grundlegende Bedingung gesellschaftlicher Entwicklung. „Sicher ist, daß […] das Schicksal unserer Wirtschaft auch für das Schicksal unserer Nation entscheidend ist – dies nicht im Sinne letzter Gewißheit über ihren Aufstieg oder Niedergang, aber im Sinne der ersten Voraussetzung künftiger nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer und kultureller Entfaltung.“22 Der Weltkrieg hatte dieser Perspektive zufolge nur zu Tage treten lassen, dass die Wirtschaft zu dem das eigene Zeitalter beherrschenden Faktor geworden war. Hatte man die Geschichte zuvor als eine Abfolge politischer oder militärischer Ereignisse betrachten können, schien nun deutlich, dass sie tatsächlich von ökonomischen Kräften angetrieben wurde. Henri de Peyerimhoff (1871– 1953), zunächst Beamter in der Kolonialverwaltung, bevor er Präsident des Verbandes der französischen Kohleindustrie wurde,23 führte in diesem Sinne aus: „Wenn der Historiker des Jahres 5000 seine Kapitel unterteilt […], ist es wahrscheinlich, dass er sich nicht lang bei den Schlachten aufhalten wird, deren Namen die Gedächtnisse unserer Kinder strapazieren, […] aller Wahrscheinlichkeit nach wird er sich nach den entscheidenden Fakten des Wirtschaftslebens richten.“24 Das auf diese Weise hervorgehobene Wirtschaftsleben erschien dabei als gegebener Zusammenhang, der in entsprechenden Formen auch konkret repräsentiert werden konnte. Die Versuche der Gründung neuer Institutionen der 21 Vgl. Karlheinrich Rieker: „Hamm, Eduard“, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 586f; vgl. jetzt auch Wolfgang Hardtwig: Der Weimarer Demokrat Eduard Hamm 1879–1944. Persönliches Profil und politisches Handeln zwischen Kaiserreich und Widerstand, in: Ders.: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 313–355. 22 Eduard Hamm: Die wirtschaftspolitische Interessenvertretung, Berlin 1929, S. 4f. 23 Vgl. Alain Chatriot: Henri de Peyerimhoff (1871–1953). Le ‘Gentleman’ du charbon, in: Olivier Dard / Gilles Richard (Hg.): Les permanents patronaux: éléments pour l’histoire de l’organisation du patronat en France dans la première moitié du XXe siècle, Metz 2005, S. 45–73. 24 Henri de Peyerimhoff: Le problème houiller, in: Revue de Paris. Extrait du numéro du 1er novembre 1925, Paris 1925, S. 1. (Diese und die folgenden französischen Zitate sind vom Verfasser übersetzt.)
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Wirtschaftsvertretung reichen in Deutschland und Frankreich in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Erst nach dem Krieg gelang jedoch die Gründung von Verbänden, die als Vertretung nationaler Unternehmerinteressen angesehen werden konnten.25 In Deutschland entstand 1919 der Reichsverband der Deutschen Industrie, in demselben Jahr in Frankreich die Confédération générale de la production française (CGP). Beide Organisationen nahmen für sich in Anspruch, das allgemeine ökonomische Wohl deshalb vertreten zu können, weil sie es sich zur Maßgabe machten, für den Zusammenhang wirtschaftlicher Interessen zu sprechen.26 Alexandre de Lavergne (1879–1958), zunächst im Dienst des Conseil d’État, während des Krieges Büroleiter unter Clemenceau und anschließend langjähriger Vizepräsident der Confédération générale de la production française, erklärte die Aufgaben der Confédération dementsprechend als Dienst an der Allgemeinheit. „Die CGP darf [soziale, wirtschaftliche und fiskalische] Fragen nicht aus dem zuweilen etwas begrenzten Blickwinkel des Berufsstandes sehen, sondern muss sich der allgemeinen Bedürfnisse von Handel und Industrie […] bewusst werden; sie muss die Formel finden, die – ohne die wesentlichen Interessen bestimmter Wirtschaftszweige zu verkennen – das allgemeine Interesse wahrt.“27 Dabei wurde auf deutscher und französischer Seite der Standpunkt vertreten, dass dieses Interesse nicht allein aus wirtschaftlicher Perspektive zu definieren sei, da die ökonomische Situation die entscheidende Grundlage für die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes darstellte.28 Für Fritz Tänzler (1869–1944), als ausgebildeter Jurist Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Arbeitgeber25 Vgl. u.a. Danièle Fraboulet: Quand les patrons s’organisent. Stratégies et pratiques de l’Union des industries métallurgiques et minières 1901–1950, Paris 2007, S. 39ff; Hans-Peter Ullmann: Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895–1914, Göttingen 1976, S. 90ff; Petra Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010, S. 399ff. 26 Ähnlichkeiten der nationalen Unternehmerorganisationen im 20. Jahrhundert hat festgestellt Patrick Fridenson: Les patronats allemands et français au XXème siècle. Essai de comparaison, in: Rainer Hudemann / Georges-Henri Soutou (Hg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994, S. 153–167. 27 Confédération générale de la Production française, in: Organisation & Production. Organe de l’Association industrielle, commerciale et agricole de Lyon et de la région, 4e année N° 12 Décembre 1922, S. 344. Zu den Anfängen der CGPF vgl. Clotilde Druelle-Korn: Entre concurrence et structuration du champ syndical patronal, genèse et affirmation de la Confédération générale de la production française (1919–1925), in: Danièle Fraboulet (Hg.): Genèse des organisations patronales en Europe, Paris 2012, S. 153–163. 28 Robert Pinot, erster Geschäftsführer und Präsident der Union des industries métallurgistes et minières, brachte diesen Anspruch repräsentativ zum Ausdruck: „Man könnte beinahe sagen, dass die Öffentlichkeit sich der Wichtigkeit großer Unternehmenschefs in der Arbeitswelt, auf denen tatsächlich das Leben der Menschheit beruht, nicht bewußt
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verbände, waren nationale Unternehmerverbände deshalb in eine öffentliche Funktion hineingewachsen und ergänzten staatliche Behörden in wichtiger Hinsicht. „Das Charakteristische in der Entwicklung der Arbeitgeberverbände […] liegt darin, […] daß sie aus rein privatwirtschaftlichen Berufsvereinen sich zu Trägern öffentlicher Aufgaben entwickelt haben, daß sie, die früher mit kaum verhüllter Abneigung von der Öffentlichkeit behandelt wurden, allmählich zu notwendigen und anerkannten Gliedern in unserem Staatskörper geworden sind.“29 Dieselbe Verknüpfung zwischen grundlegender Bedeutung der Ökonomie und Repräsentation allgemeiner gesellschaftlicher Interessen stellten Wirtschaftsvertreter auch her, wenn sie die Aufgaben der nach dem Krieg in Deutschland und Frankreich entstandenen nationalen Wirtschaftsräte präsentierten. Der 1920 ins Leben gerufene Vorläufige Reichswirtschaftsrat sowie der 1924 gegründete Conseil national économique setzten sich mehrheitlich aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern der unterschiedlichen Wirtschaftszweige zusammen. Die Arbeit ihrer Kommissionen und Ausschüsse diente dazu, die Gesetzesvorlagen der jeweiligen Regierung und des Parlaments zu Wirtschaftsfragen zu begutachten. Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat verfügte zudem über das Recht, sozial- und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe zu beantragen.30 In beiden Staaten fungierte die Institution jedoch zugleich als Forum der nationalen Wirtschaftsorganisationen und erlaubte damit den Anspruch, über den Zusammenhang der wirtschaftlichen Interessen zu wachen. Durch die Debatten und Beratungen im Wirtschaftsrat die Ausrichtung der Ökonomie festzustellen, schien dabei gleichbedeutend mit einem Beitrag zur Sicherung der nationalen Zukunft. Henri de Peyerimhoff, der trotz einiger Skepsis seit 1926 das Amt des Vizepräsidenten bekleidete, sprach den vom Conseil national économique angestellten Untersuchungen zur Wirtschaftslage somit eine wichtige Aufklärungsfunktion zu: „Die Klarstellung der Situation der wichtigsten Zweige der französischen Produktion, die wir auf vernünftige und angemessene Weise zu unternehmen versuchen, stellt ein starkes wirtschaftliches Interesse dar; weniger wegen der Hinweise auf einzelne Erfolgsaussichten […] als vielmehr und vor allem wegen der allgemeinen Linien, die sie von einer modernen Wirtschaft auf dem Weg des ist.“ Robert Pinot: Le chef dans la grande industrie, in: La Revue de France 1 (MarsAvril 1921), S. 109f. 29 Fritz Tänzler: Die deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 1929, S. 257. 30 Alain Chatriot: La démocratie sociale à la française. L’expérience du Conseil national économique 1924–1940, Paris 2002; Andrea Rehling: Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011, S. 181–192; Walter Euchner / Maurice Stockhausen: SPD, Gewerkschaften und Reichswirtschaftsrat, in: Richard Saage (Hg.): Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt/Main 1986, S. 61–80.
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Fortschritts entwerfen wird.“31 In dem Maße, in dem der Wirtschaftsrat durch seine Verhandlungen und Gutachten einen allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenhang zu sichern schien, wurde er für Repräsentanten der Wirtschaft zu einer öffentliche Aufgaben wahrnehmenden Institution, die nicht mehr als Vertretung profitorientierter Privatinteressen charakterisiert werden konnte. Wie der wirtschaftsnahe Staatsrechtler Friedrich Glum (1891–1974) ausführte, „fühlen sich [die wirtschaftlich handelnden Personen im Reichswirtschaftsrat] als Teil einer Einheit, die sie selbst als Wirtschaft bezeichnen. Sie sprechen ‚im Namen der deutschen Wirtschaft‘. ‚Die deutsche Wirtschaft verlangt‘ durch sie. […] Hier ist Wirtschaft ein Begriff, der im Gegensatz zu allen früher behandelten Bedeutungen dieses Wortes ausschließlich ein politischer ist und als Sinnbild in derselben Ebene zu sehen ist wie der Staat.“ Damit, so Glum, werde „die beherrschende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, bei der der erste die allgemeinen, die letzte die partikularen Interessen vertritt, überwunden.“32 Wenn die Repräsentation wirtschaftliche Zusammenhänge sichtbar machen und zugleich dafür eintreten konnte, dass ihre Relevanz für das gesellschaftliche Gemeinwohl erkannt wurde, war ihre Institutionalisierung aus Sicht von Wirtschaftsvertretern auch jenseits nationaler Organisationen notwendig. Die Folgen des Krieges machten die wechselseitige Abhängigkeit der nationalen Ökonomien in ihren Augen unübersehbar, wie sie nicht zuletzt in der gesunkenen Bedeutung Europas für den Welthandel zum Ausdruck kam. Die Gründung der Internationalen Handelskammer unmittelbar nach Kriegsende, die Einrichtung einer Wirtschafts- und Finanzkommission beim Völkerbund in Genf sowie die Veranstaltung von Weltwirtschaftskonferenzen, auf denen beide Organisationen eng miteinander kooperierten, schien dabei nicht nur zur Bewältigung der ökonomischen Probleme der Nachkriegszeit geboten.33 Wirtschaftsvertretern die Aufgabe anzuvertrauen, die durch Krieg und Versailler Vertrag verursachten Störungen der europäischen Wirtschaftsordnung zu beseitigen, sollte mit einer Steigerung des Handelsvolumens zugleich für internationale Kooperation und Verständigung in einem darüber hinausgehenden, allgemeinen Sinn sorgen. Louis Marlio (1878–1952), vor dem Ersten Weltkrieg Minister im Kabinett Millerand, dann im Dienst der chemischen Industrie, wo er zum Präsidenten des Chemiekonglomerats Alais, Froges et Camargue aufstieg, und zugleich Vertreter Frankreichs in der Wirtschaftssek31 Henri de Peyerimhoff: En Préface à l’enquête du Conseil National Economique, in: La Revue des vivants (avril 1928), S. 817. 32 Friedrich Glum: Der deutsche und französische Reichswirtschaftsrat, Berlin/Leipzig 1929, Zitate auf S. 44 u. S. 47. 33 Vgl. Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations 1920–1946, Oxford 2013, S. 12ff; Monika Rosengarten: Die internationale Handelskammer. Wirtschaftspolitische Empfehlungen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Berlin 2001.
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tion des Völkerbundes,34 brachte die Sicherung allgemeinen Wohlstands in unmittelbare Verbindung mit der Sicherung stabiler internationaler Verhältnisse. „Wenn der Gedanke eines kollektiven und nationalen Wohlstands die Basis von Regierungsprogrammen ist, ist zweifellos alles, was diesen Wohlstand beunruhigen kann, […] eine Gefahr für die Stabilität der Regierungen selbst und über die Grenzen hinaus für die Aufrechterhaltung des Friedens.“35 Mit dieser Vorstellung ging einher, dass Wirtschaftsvertreter nicht nur ökonomischen Profit und florierende Betriebe im Blick zu haben glaubten, sondern durch die Koordination und Stiftung wirtschaftlicher Zusammenhänge zwischen den Staaten die Basis eines allgemeinen Fortschritts gestalteten. Hermann Bücher (1882–1951), zunächst Beamter in der Kolonialverwaltung und Referatsleiter für Wirtschaftsfragen im Auswärtigen Amt, dann Geschäftsführer des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und später Vorstandsvorsitzender der AEG, strich die internationale Funktion von Wirtschaftsvertretungen entsprechend heraus: „Aus den in freier Erkenntnis der beteiligten Kreise entstandenen Selbstverwaltungskörpern der Wirtschaft […] können sich voraussetzende Glieder für einen neuen staatlichen Aufbau bilden. Unendlich groß ist die Pflicht der Verbände bei diesen künftigen Arbeiten, denn ihre aufbauende Tätigkeit nach innen, die sie in so verantwortlicher Weise in das Gefüge des Staates einstellt, verpflichtet sie, auch über die Grenzen des Vaterlandes hinaus zu blicken auf die Gestaltung der Wirtschaft draußen in der Welt. Sie können und werden auf vielen Gebieten die Grundlagen abgeben für überstaatliche Zusammenarbeit, auf die wir als typisches Industrieland unumgänglich angewiesen sind.“36 Die Etablierung von Wirtschaftsräten, Verbänden und internationalen ökonomischen Organisationen als den Staat ergänzende Institutionen erschien dabei besonders deshalb notwendig, weil Wirtschaftsvertreter meinten, dass die staatliche Bürokratie nicht über die notwendigen Fachkenntnisse verfügte, um der gesellschaftlichen Bedeutung der Ökonomie gerecht zu werden. Vielmehr wirkte die Verwaltung in ökonomischen Fragen überfordert. Der Unternehmer Richard Merton (1881–1960), im Krieg enger Mitarbeiter Wilhelm Groeners im Kriegsamt, dann Mitglied der Verhandlungsdelegation in Versailles, später Abgeordneter der DVP im Reichstag und Delegierter in 34 Vgl. Henri Morsel: Louis Marlio, position idéologique et comportement politique. Un dirigeant d’une grande entreprise dans la première moitié du XXe siécle, in: Ivan Grinberg / Florence Hachez-Leroy (Hg.): Industrialisation et sociétés en Europe occidentale de la fin du XIXe siècle à nos jours, Paris 1997, S. 106–124. 35 Louis Marlio: Les ententes industrielles internationales, S. 21. Manuskript eines Vortrags vom 21. Januar 1931 an der Nouvelle école de la paix. (Bnf Richelieu NAF 17815); vgl. mit ähnlichen Argumenten Louis Loucheur: La conférence économique de Genève, in: Revue économique internationale 19 (1927), S. 37. 36 Hermann Bücher: Wirtschaftsverbände und ihre Aufgabe im Staat, in: Ders.: Finanzund Wirtschaftsentwicklung Deutschlands in den Jahren 1921–1926, Berlin 1925, S. 189f.
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der Internationalen Handelskammer, warnte, dass „die Belastung des Verwaltungsapparats mit wirtschaftlichen Aufgaben, […] für die der Verwaltungsbeamte nicht ausgebildet ist, die Gefahr in sich birgt, dass er […] dadurch, dass ihm Aufgaben aufgepropft werden, für die er nicht qualifiziert sein kann, in seiner Leistungsfähigkeit zurückgeht. Ebenso wenig wie es früher wahr war, dass ein preussischer Leutnant alles kann, ist es heute wahr, dass ein preussischer Beamter alles kann.“37 Zugleich zeigten in den Augen von Wirtschaftsvertretern auch die gewählten Abgeordneten der politischen Parteien in Wirtschaftsfragen kaum die notwendige Kompetenz. Henri de Peyerimhoff bezweifelte, dass eine den zeitgenössischen Bedürfnissen gerecht werdende Legislative geschaffen werden könne „durch ein politisches Personal, das – in der großen Mehrzahl – in den nicht produzierenden Berufen rekrutiert wird und […] dessen vorherrschende Sorge nicht im Bereich der Wirtschaft zu suchen ist.“38 Insofern aus Sicht von Wirtschaftsvertretern die Ökonomie Zustand und Entwicklung des modernen Gesellschaftslebens bestimmte, schienen wirtschaftspolitische Kompetenzen eine entscheidende Voraussetzung, um für das Gemeinwohl Sorge tragen zu können. Da diese Voraussetzung von der staatlichen Administration nicht erfüllt schien, rückten die Wirtschaftsvertreter selbst in eine für den Staat entscheidende Funktion. André François-Poncet (1887–1978) – während des Krieges im Dienst des französischen Außenministeriums, dann Redakteur der Unternehmerzeitschrift „Bulletin Quotidien“, später Unterstaatssekretär für Volkswirtschaft und anschließend französischer Botschafter in Berlin und Rom – glaubte, dass der Staat aufgrund seiner gegenwärtigen Aufgaben auf die Konsultation und Beratung durch Wirtschaftsorganisationen angewiesen war. „Die wachsende Komplexität des Wirtschaftslebens macht es den Regierungen, Verwaltungen und Parlamenten unmöglich, die Probleme, die es zu lösen gilt, in dem nötigen Maße zu kennen. […] Der moderne Staat wird zunehmend im Leeren treiben, wenn er sich nicht dauerhaft auf die Einheit der organisierten Berufsstände stützt.“39
37 Richard Merton: Wahlvortrag vom 15.11.1929, S. 13 (Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt 2000/319). Die wirtschaftspolitische Inkompetenz der Verwaltung war häufig mit dem Vorwurf verbunden, in der Organisation der Kriegswirtschaft versagt zu haben. Vgl. zum französischen Kontext Richard Kuisel: Capitalism and the State in Modern France. Renovation and Economic Management in the Twentieth Century, Cambridge/Mass. 1981, S. 64f. 38 Henri de Peyerimhoff: Les formules modernes d’organisation économiques, in: Revue des deux mondes 15 mars 1929, S. 453; vgl. ähnlich Claude-Joseph Gignoux: A la recherche d’une politique perdue, Paris 1926, S. 9f. 39 André François-Poncet: La vie et l’oeuvre de Robert Pinot, Paris 1927, S. 189.
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III. Die Ansicht, dass der Wirtschaft eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung zukomme, dass sie auch in einer dieser Bedeutung entsprechenden Weise repräsentiert werden müsse und dass den dadurch entstehenden Organisationen eine den Staat ergänzende Funktion zukomme, hatte Konsequenzen für die von Wirtschaftsvertretern entworfenen Vorstellungen einer liberalen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Diese Vorstellungen hingen dabei unmittelbar mit der Restrukturierung der staatlichen und wirtschaftlichen Eliten zusammen. Der öffentliche Führungsanspruch von Wirtschaftsvertretern in Deutschland und Frankreich entstand nach dem Ersten Weltkrieg in einem gesellschaftlichen Umfeld, das neue Karrierewege öffnete, überkommene Strategien entwertete und von einem Wechsel der Legitimation sozialer Autorität begleitet wurde. Das demokratische Wahlrecht führte zur Auflösung des traditionellen Notabilitätssystems von Liberalen. War die Politik im frühen Kaiserreich und in den Anfängen der Dritten Republik noch von Honoratioren bestimmt, konnten diese seit den 1890er Jahren nicht mehr mit sicheren Posten im Parlament und in der staatlichen Verwaltung rechnen, sondern mussten sich an neuen Möglichkeiten orientieren.40 Dieser Reorientierungsprozess setzte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg fort. Zugleich brachte die Konzentration von Unternehmen zu Großkonzernen eine Professionalisierung der Betriebsführung mit sich. Indem Unternehmen Lieferanten-, Energie- und Transportfirmen in die eigene Betriebsstruktur integrierten, ihre Produktkapazitäten erweiterten und diversifizierten und sich neue Kapitalressourcen suchten, wurden in der Leitung Unternehmenseigentümer zunehmend durch angestellte Unternehmensmanager ersetzt.41 Beide Vorgänge – die Restrukturierung der administrativen wie der ökonomischen Eliten – setzten in Deutschland und Frankreich gleichermaßen ein und führten zu verwandten neuen Formen des politischen Entrepreneurs. Die wirtschaftliche Interessenvertretung wurde hierbei auf den unterschiedlichen geschilderten Ebenen – der nationalen Verbände und Wirtschaftsräte sowie der internationalen Organisationen – zu einer möglichen Quelle neuer gesellschaftlicher und politischer Autorität. Ämter und Funktionen in den nationalen und internationalen Wirtschaftsorganisationen galten als prestigeträchtig – für zeitgenössische Beobachter 40 Vgl. Christian Topalov: Patronages, in: Ders. (Hg.): Laboratoires du nouveau siècle. La nébuleuse réformatrice et ses réseaux en France 1880–1914, Paris 1999, S. 357–396, sowie Jean Garrigues: Les patrons et la politique. De Schneider à Seillière, Paris 2002, S. 152ff. 41 Hartmut Kaelble: The Rise of the Managerial Enterprise in Germany 1870 to c.1930, in: Kesaji Kobayashi / Hidemasa Morikawa (Hg.): Development of Managerial Enterprise, Tokyo 1986, S. 71–97; Michael Stephen Smith: The Emergence of Modern Business Enterprise in France, 1800–1930, Cambridge Mass./London 2006, hier bes. S. 325ff.
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der Sitzverteilung im Reichswirtschaft zeigte sich etwa „bei der Besetzung jedes durch Tod oder Austritt frei werdenden Mandates immer stärker, welches Gewicht hervorragende Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens darauf legen, Mitglied des Reichswirtschaftsrates zu sein“.42 Neben prominenten Unternehmern wie Ernst Borsig und Friedrich Carl von Siemens oder Louis Renault und Eugène Schneider waren viele Mitglieder der Verbände und Wirtschaftsräte selbst allerdings keine Unternehmer, sondern gelangten auf dem Umweg über Ämter der staatlichen Verwaltung mit einer juristischen, technischen oder geisteswissenschaftlichen Ausbildung in ihre Funktionen. Neben Henri de Peyerimhoff, Eduard Hamm, Alexandre de Lavergne, Fritz Tänzler, André François-Poncet, Hermann Bücher und Louis Marlio galt dies für einen guten Teil der die neuen Wirtschaftsorganisationen bevölkernden Unternehmens- und Verbandsvertreter.43 Im Bereich der wirtschaftlichen Interessenvertretung eröffnete sich für Juristen, Nationalökonomen, aber auch für Ingenieure und Philologen ein neues Tätigkeitsfeld mit einer festen Anstellung. Angesichts der Folgen wechselhafter politischer Verhältnisse für den zuvor in der Regel protegierten Karriereweg in der staatlichen Verwaltung bot die Wirtschaft nicht nur ein ausreichendes Maß an Sicherheit, sondern auch an Aufstiegsmöglichkeiten.44 André François-Poncet brachte die damit entstandenen Vorteile des privatwirtschaftlichen gegenüber dem staatlichen Dienst klar zum Ausdruck. „[Die Privatwirtschaft] behandelt ihre Funktionäre besser als der Staat die seinen. Sie gibt ihnen nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Autorität und Initiative, mehr Führungsgewalt.“45 Es überrascht daher nicht, dass viele Wirtschaftsvertreter ihren Berufsweg als staatliche Angestellte begannen, dann jedoch in den Bereich der Wirtschaft wechselten. Ein erneuter Wechsel, zurück auf einen staatlichen Posten, war damit keineswegs ausgeschlossen; vielmehr verbesserten sich unter Umständen durch die hinzugewonnene Autorität im ökonomischen Bereich die Chancen auf eine zuvor nicht erreichbare staatliche Position. Zugleich war der Weg vom Staatsdienst in die Wirtschaftsvertretung auch eine Möglichkeit, zu Aufsichtsrats- und Managerposten zu gelangen und damit in die Unternehmerriege aufzusteigen. Von etablierten Betriebseigentümern wurden diese Neulinge dabei zum Teil 42 Georg Bernhard: Wirtschaftsparlamente. Von den Revolutionsräten zum Reichswirtschaftsrat, Wien/Leipzig/München 1923, S. 75. 43 Vgl. Patrick Fridenson: Introduction, in: Olivier Dard / Gilles Richard (Hg.): Les permanents patronaux. Éléments pour l’histoire de l’organisation du patronat en France dans la première moitié du XXe siècle, Metz 2005, S. 5–23 sowie D. Fraboulet, Patrons (wie Anm. 25), S. 63–90 und Olivier Dard: Journalistes et porte-plume du patronat, in: Dictionnaire historique du patronat français, hg. v. Jean-Claude Daumas, Paris 2010, S. 1197–1201. 44 Vgl. Christophe Charle: La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne 1900–1940. Essai d’histoire comparée, Paris 2001, S. 69–78 sowie S. 116–119. 45 André François-Poncet: Réflexions d’un républicain moderne, Paris 1925, S. 82.
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durchaus kritisch beobachtet, auch weil sie ihre Position mit Fähigkeiten zu rechtfertigen und behaupten suchten, die im sozialen Rollenbild des Unternehmertums bis dahin keine entscheidende Rolle gespielt hatten. Die Verbandsfunktionäre zeichneten sich durch Fachkenntnisse in Rechtsfragen und der Erfassung und Auswertung statistischer Daten sowie durch die Fähigkeit zur Organisation von Gesprächen und Kontakten zwischen Unternehmen wie auch zwischen Wirtschaft und Politik aus. Die mit diesen Kompetenzen einhergehenden Aufgaben hoben Wirtschaftsvertreter selbst gegenüber dem traditionellen Unternehmertyp hervor und machten damit eine aus neuen Quellen gespeiste Autorität geltend.46 Die Stellung von Repräsentanten der Wirtschaft wurde nicht zuletzt dadurch gestärkt, dass ein zentraler Teil ihres Aufgabenbereichs die Darstellung unternehmerischer Interessen in der Öffentlichkeit wurde. Das Verfassen von Artikeln für allgemeine Zeitschriften und Verbandsorgane, in denen zu wirtschaftspolitischen Fragen aus Unternehmersicht Stellung zu beziehen war, unterstrich den Gedanken – der ursprünglich für staatliche Dienste ausgebildeten Akteuren attraktiv erscheinen konnte –, mittels wirtschaftlicher Expertise eine öffentliche, moralische Funktion wahrzunehmen. Das Robert Pinot, Syndicus des Comité des Forges, dem mächtigen Verband der französischen Stahlindustrie, zugeschriebene Selbstverständnis wirkt vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehbar: „Durchdrungen von der Bedeutung seiner Industrie für das Leben eines großen modernen Volkes war die Sorge um den Verband in seinen Augen nie etwas anderes als eine besondere Form der Sorge um die Nation. Er selbst sah sich als eine Art staatlicher Funktionär, entsandt in einen privaten Dienst.“47 In einem Umfeld, in dem Wirtschaftsvertreter ihre soziale Anerkennung in der Regel nicht aus dem Prestige einer Eigentümerfamilie oder Unternehmererfolgen ziehen konnten, bedeutete die Teilhabe an öffentlichen Aufgaben eine Möglichkeit, sich moralische Autorität auf anderen Wegen zu verschaffen. Insofern die Anerkennung der öffentlichen Bedeutung wirtschaftlicher Interessen unmittelbar mit der Festigung der eigenen Position verknüpft war, strichen Repräsentanten der Wirtschaftsorganisationen die Orientierung am Gemeinwohl im Gegensatz zur privaten Vorteilssuche als neues Kriterium gesellschaftlicher Legitimation heraus.48 Die Erklärung 46 Vgl. Jacob Herle: Die Stellung des Verbandsgeschäftsführers in der Wirtschaft, Berlin 1926, S. 26; zu den Angriffen auf die neuen Wirtschaftsfunktionäre vgl. ebd., S. 17, sowie F. Tänzler, Arbeitgeberverbände (wie Anm. 29), S. 27, und A. François-Poncet, Robert Pinot (wie Anm. 39), S. 221. 47 A. François-Poncet, Robert Pinot (wie Anm. 39), S. 187. 48 Das zunehmend öffentliche Selbstverständnis von Unternehmern hat anhand der Einträge im französischen Who’s Who nachgewiesen Christophe Charle: L’image sociale des milieux d’affaires d’après Qui êtes vous?, in: Maurice Lévi-Leboyer (Hg.): Le patronat de la seconde industrialisation, Paris 1979, S. 277–292; vgl. auch Olivier Dard: Les patrons modernisateurs et la politique en France durant le premier vingtième
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Eduard Hamms zum Nutzen von Institutionen wie dem Reichswirtschaftsrat oder der Internationalen Handelskammer enthielt somit zugleich eine normative Definition des sozialen Selbstverständnisses, in der der neue Geltungsanspruch von Wirtschaftsvertretern zum Ausdruck kam. „[Die wirtschaftspolitische Interessenvertretung] rückt […] all den Berufsangehörigen ihre untrennbare Verbindung mit dem Staat in ein helles Bewußtsein. Sie muß […] vom rein privatwirtschaftlichen Nutzen notwendigerweise zu der höheren Ebene wirtschaftspolitischen Denkens im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gemeinschaft führen.“49 Die Betonung der allgemeingesellschaftlichen, den Staat ergänzenden Funktion der Wirtschaft rekurrierte auf neue Legitimationskriterien, die auch das öffentliche Engagement von Unternehmern zu einem Teil des unternehmerischen Selbstverständnisses machen sollten. Claude-Joseph Gignoux (1890–1966), zunächst Unterstaatssekretär für nationale Wirtschaftsfragen, später Geschäftsführer der Confédération générale du patronat français und anschließend Mitglied des Conseil national im Vichy-Regime,50 beklagte vor diesem Hintergrund, dass Unternehmer in der Vergangenheit ihr Handeln zu reserviert öffentlich dargestellt und gerade aus diesem Grund den Vorwurf individueller Vorteilsnahme auf sich gezogen hätten. Nunmehr gelte es, die Zurückhaltung aufzugeben und sich für die Vertretung wirtschaftlicher – und damit allgemeiner – Interessen zu engagieren. In einem unmittelbar die Unternehmer und ihre öffentliche Rolle adressierenden Beitrag forderte er: „Vor allem verbergt Euer Handeln nicht unter der wechselhaften Maske partikularer Interessen […]. Wir verteidigen das kapitalistische Regime aus dem Grund, dass wir es allein dazu in der Lage sehen, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Nation zu sichern. […] Ihr seid die Repräsentanten ‚sozialer Gemeinnützigkeit‘ und das solltet Ihr rechtfertigen.“51 Besonders aktiv in der Rechtfertigung der Gemeinnützigkeit von Wirtschaft waren die Mitglieder von Verbänden und Wirtschaftsräten selbst, die mit der Forderung nach einem politisch und gesellschaftlich in der Öffentlichkeit sichtbaren Unternehmer jene Kompetenzen aufwerteten, die sie aufgrund ihrer Ausbildung in ihre Funktionen mitbrachten und für die sie von den in den Verbänden organisierten Unternehmen angestellt wurden. In ihren Augen war es notwendig, dass Unternehmer ihr Selbstverständnis in einem gewissermaßen bildungsbürgerlichen Sinn erneuerten, um über ihre Funktion aufklären zu können. Die Fähigkeit zur öffentlichen Darstellung und Vermittsiècle, in: Ders. u.a. (Hg.): Industrie et politique en Europe occidentale et aux EtatsUnis (XIXe et XXe siècles), Paris 2006, S. 157–175. 49 E. Hamm, Interessenvertretung (wie Anm. 22), S. 37f. 50 Vgl. Gilles Richard: Comment devient-on permanent patronal dans les années vingt? L’exemple de Claude-Joseph Gignoux, in: Olivier Dard / Gilles Richard (Hg.): Les permanent patronaux: éléments pour l’histoire de l’organisation du patronat en France dans la première moitié du XXe siècle, Metz 2005, S. 93–108. 51 Claude-Joseph Gignoux: Patrons, soyez patrons, Paris 1937, S. 47f.
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lung wurde deshalb zu einem notwendigen Ideal des modernen Unternehmers erklärt. Fritz Tänzler mahnte: „[D]ie Wirtschaft […] trägt die Verantwortung, wenn sie trotz der politisch für sie ungünstigen Situation nicht alles getan hat, was zur Aufklärung und Geltendmachung ihrer Erkenntnis im Rahmen des Volksganzen notwendig ist, […] im Sinne eines Dienens am Gemeinwohl, an der Wohlfahrt unseres ganzen Volkes.“52 Die Themen einer neuen gemeingesellschaftlichen Bedeutung der Wirtschaft sowie die Notwendigkeit ihrer angemessenen Repräsentation und die neue öffentliche Rolle von Unternehmern und Wirtschaftsvertretern waren bereits vor der Weltwirtschaftskrise in Deutschland und Frankreich stark ausgeprägt. Die durch die Krise ausgelöste nachhaltige ökonomische Zerrüttung verschärfte jedoch noch einmal die Diagnosen und führte zu Überlegungen, die wichtige Bausteine der liberalen Tradition in Frage stellten. Wirtschaftsvertreter entwickelten dabei keine einheitliche Position, die sich als Front für einen neuen Liberalismus charakterisieren ließe. Ihre Beiträge zielten jedoch auf eine Reform des Liberalismus, die durch die Institutionalisierung von Wirtschaftsvertretungen und durch das in ihnen in Stellung gebrachte Personal bedingt waren. Repräsentanten der Wirtschaft legitimierten ihre Rolle damit, dass sie die ökonomische Basis des Gemeinwohls in ihrer Allgemeinheit vertreten und nicht wie Abgeordnete demokratischer Parteien politischen Standpunkten opfern würden. Zugleich wurde Wirtschaft nicht mehr als System gedacht, das aus dem Zusammenspiel der Marktteilnehmer von selbst hervorging. Vielmehr bedurfte es in den Augen von Wirtschaftsvertretern einer Repräsentation wirtschaftlicher Kräfte, die ihre produktive Kooperation dadurch gewährleistete, dass sie in einem konfliktträchtigen Markt vermittelte. IV. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen zu Vereinen, Verbänden und Parteien stellte für Liberale seit dem 19. Jahrhundert eine klassische Möglichkeit dar, dem Anspruch auf Teilhabe an gesellschaftlicher und politischer Verantwortung Ausdruck zu verleihen.53 Die damit verbundene Ambivalenz, 52 Fritz Tänzler: Vom Tage, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 18.10 (1928), S. 229. 53 Die jüngere Forschung hat gezeigt, dass Frankreich trotz des Koalitionsverbots der Loi Le Chapelier von 1791 bereits im 19. Jahrhundert durch eine Vielzahl intermediärer Körperschaften gekennzeichnet war. Vgl. Anne Lemercier / Alain Chatriot: Les corps intermédiaires, in: Vincent Duclert / Christophe Prochasson (Hg.): Dictionnaire critique de la République, Paris 2002, S. 691–698; Pierre Rosanvallon: Le modèle politique français. La société civile contre je jacobinisme de 1789 à nos jours, Paris 2004.
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einerseits partikulare Interessen zu vertreten, sich jedoch andererseits als Sprachrohr und Instrument gesamtgesellschaftlicher Interessen darzustellen, nahm in den Diskussionen um die Repräsentation der Wirtschaft der Dritten Republik und der Weimarer Republik eine neue Form an. Unter den Bedingungen einer Massendemokratie schienen ökonomische Eliten die eigentlich kompetenten Repräsentanten der wirtschaftlichen Grundlage gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Legitimität dieses Repräsentationsanspruchs suchten Wirtschaftsvertreter einerseits dadurch zu sichern, dass sie die Ökonomie öffentlich als einen autonomen Zusammenhang darstellten, dessen Allgemeinheit auf sie zurückstrahlte und der nur dann gesichert war, wenn er vor äußeren Eingriffen bewahrt blieb. Andererseits stand diese Behauptung in latentem Widerspruch zu der von Wirtschaftsvertretern formulierten Auffassung, derzufolge die allgemeine Bedeutung der Wirtschaft erst aus dem Zusammenwirken der beteiligten Unternehmen in Institutionen der Repräsentation hervorging. Eine gemeingesellschaftlich funktionierende Wirtschaft entstand nach dieser Lesart nicht aus einem sich selbst steuernden Vorgang, sondern beruhte auf aktiver Organisation und Vermittlung. Die Entwicklung dieser Haltung war mit der Vorstellung einer notwendigen Reform des Liberalismus verbunden. Nicht allein fehlende Ausbildung und mangelndes Wissen beeinträchtigten aus Sicht von Wirtschaftsvertretern eine der allgemeingesellschaftlichen Relevanz der Wirtschaft gerecht werdende Politik in der Demokratie. Vielmehr schien das allgemeine Wahlrecht den politischen Blick auf ökonomische Zusammenhänge prinzipiell zu verfälschen und damit das Gemeinwohl in Gefahr zu bringen. Politiker folgten unter den Bedingungen der Massendemokratie demnach nicht allgemeinen Prinzipien, sondern suchten – unter Aufgabe aller anderen Grundsätze –, sich schwankenden Wählermeinungen anzupassen. Clemens Lammers (1882–1957), Vorstandsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und Delegierter für Deutschland in der Wirtschaftskommission des Völkerbundes, erkannte hierin einen „Mißbrauch, den unser junger Parlamentarismus und unser Parteiwesen mit der Demokratie getrieben haben. […] Die Führer konnten sich nur behaupten, indem sie der Gunst der Massen schmeichelten und sich überboten in Versprechungen an die Masse und Forderungen für die Masse. Damit wurden sie zu Sklaven der Zahl statt zu Fahnenträgern für geistige Bewegungen.“54 Wirtschaftspolitische Vorhaben unter den Bedingungen der Demokratie wurden in dieser Perspektive nicht mehr nach dem Prinzip konzipiert, Entscheidungen an dem auszurichten, was man für das Gemeinwohl hielt. Statt allgemeinen Überzeugungen zu folgen, schienen zeitgenössische Politiker nur noch dann erfolgsfähig, wenn sie sich der von ihren unmittelbaren Bedürfnissen getrie54 Clemens Lammers: Autarkie, Planwirtschaft und berufsständischer Staat?, Berlin 1932, S. 42.
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benen Wählermenge ergaben. Lucien Romier (1885–1944), nach geisteswissenschaftlicher Ausbildung leitender Redakteur von „La journée industrielle“ und anderen Unternehmerzeitschriften, später Mitglied des Conseil national und Staatsminister im Vichy-Regime, konstatierte, dass in der Politik wirtschaftlicher Sachverstand fehlte und parteipolitische Interessen statt allgemeiner Standpunkte vertreten würden. Deshalb sei es „von zentraler Bedeutung, dass sich eine ‚Elite‘ bildet, die nicht nur außerhalb, sondern auch in der Wirtschaft den desinteressierten Part verteidigt, ohne den weder der Aufbau des Ganzen noch die höhergestellten Angelegenheiten des Wohls der Menschheit erfasst werden können.“55 Unter diesem Eindruck forderten Wirtschaftsvertreter in ihren Beiträgen zur öffentlichen Debatte eine Anpassung staatlicher und ökonomischer Institutionen an die Bedingungen ihrer Zeit.56 Die Integration von Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftsräten in öffentliche Funktionen konnte vor diesem Hintergrund in zweifacher Hinsicht als Lösungsvorschlag verstanden werden. Zum einen waren Repräsentanten der Wirtschaft nicht gewählt und somit auch nicht den strukturellen Zwängen der Massendemokratie ausgesetzt. Zum anderen vertraten sie einen wirtschaftlichen Zusammenhang, der selbst allgemeiner Natur zu sein schien und aus diesem Grund die an ihm beteiligten Akteure zu einem Standpunkt führte, der jenseits bloßer Parteimeinungen lag. Richard Merton erklärte das in der Wirtschaft zum Ausdruck kommende Allgemeine so zu einem universal gültigen Gesetzeszusammenhang. „Die Wirtschaft ist die lebendige Zusammenarbeit von Menschen; und so wie der einzelne Mensch von Naturgesetzen abhängt, unter denen er geboren ist, so hängt auch die Masse der Menschen davon ab, und an dieser ewigen Wahrheit werden all die Versuche immer scheitern, die nicht der Sozialismus zum ersten Mal gemacht hat, […] nämlich die Versuche, die natürliche Entwicklung der Dinge mit Gewalt abändern zu wollen.“57 Wirtschaft war in dieser Perspektive deshalb allgemein, weil sie einen eigenmächtigem Handeln entzogenen Zusammenhang verkörperte, der gesellschaftlichen Wohlstand sicherte. Wie die Natur schwebte sie über den Köpfen der Menschen, bestimmte jedoch zugleich deren Dasein. Individuelle Ansichten, Motive und Interessen hatten demnach nur dann Legitimität, wenn sie sich diese Allgemeinheit wirtschaftlicher Prinzipien zu eigen machten und sich ihr anverwandelten. Wirtschaftsvertreter legitimierten ihre Rolle damit nicht durch die Orientierung an einem allgemeinen Willen des Wahlvolks, sondern durch die allge55 Lucien Romier: Si le capitalisme disparaissait, Paris 1933, S. 135. 56 Ch. Maier, Recasting Bourgeois Europe (wie Anm. 18), S. 483ff; die Kritik an Parlamentarismus und Demokratie im deutschen und französischen Liberalismus der Zeit betonen K. P. Sick, Opportunisme (wie Anm. 4), S. 66–104, sowie S. Grüner, Einheitssehnsucht (wie Anm. 4), S. 219–249. 57 Richard Merton: Wahlvortrag vom 15.11.1929, S. 25 (Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt 2000/319).
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meine Bedeutung der Wirtschaft. Insofern die Ökonomie zur entscheidenden Grundlage zeitgenössischer Gesellschaften geworden zu sein schien, das demokratische Wahlverfahren jedoch eine Orientierung an dieser Grundlage verhinderte, blieb als Repräsentationsorgan die Gruppe der Wirtschaftsvertreter selbst. Fritz Tänzler, als Geschäftsführer der Vereinigung der Arbeitgeberverbände auch leitender Redakteur der Zeitschrift „Der Arbeitgeber“, glaubte bereits eine Entwicklung festzustellen, in der nicht mehr das Parlament, sondern die wirtschaftlichen Organisationen den Ausschlag in zentralen gesellschaftspolitischen Entscheidungen geben würden. Nicht nur sei zu beobachten, dass die Öffentlichkeit an der parlamentarischen Arbeit kaum noch Anteil nehme, auch fänden entscheidende Auseinandersetzungen mittlerweile außerhalb des Parlaments in und zwischen den ökonomischen Verbänden statt. „Das ist auch der tiefere Grund, weshalb die Kundgebungen dieser Organisationen zumeist größeres öffentliches Interesse und größere Beachtung finden als die Tagungen des Reichstags. Das ist auch der tiefere Grund, weshalb sich die Tagungen der Wirtschaft über die Erörterungen der rein technischen und fachlichen Fragen hinaus immer mehr auswachsen zu öffentlichen Geistesideen und zu Kundgebungen bestimmter Zielrichtung.“58 Der Anspruch auf gestiegene öffentliche Relevanz von Wirtschaftsorganisationen wurde allerdings nicht nur durch den Verweis auf einen gesetzesartig verknüpften Zusammenhang ökonomischer Verhältnisse erhoben. Vielmehr schien einer Reihe von Wirtschaftsvertretern in Deutschland und Frankreich die Bedeutung ihrer Rolle gerade daraus hervorzugehen, dass die Moderne eine neuartige Vermittlung und Organisation des wirtschaftlichen Zusammenhangs erforderlich machte. Lucien Romier verurteilte aus diesem Grund die Erklärung der Wirtschaftskrise mit abstrakten Formeln, in denen der Kapitalismus als sich selbst regulierender, allgemeiner Mechanismus dargestellt wurde. Gerade die Flucht in Vorstellungen eines Systemzusammenhangs verhindere, dass Unternehmer jenen Anforderungen gerecht würden, vor die sie moderne Wirtschaftsverhältnisse stellten. „Man gibt vor, an der Spitze der Materie selbst zu stehen, der Wirtschaft, als ob die Materie oder die Wirtschaft umsichtig, vorausschauend, aufgrund ihrer Verantwortung besorgt sein könnte. Die Führung der Ökonomie erscheint so, als sei sie ein System, das die Schuldigen nicht nur bezüglich der Sühne für ihre Fehler entlastet, sondern sogar hinsichtlich des Bewusstseins, überhaupt Fehler begangen zu haben.“59 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise entwickelte eine Reihe von Wirtschaftsvertretern in Deutschland und Frankreich die Überzeugung, dass der Kapitalismus keineswegs auf einem unveränderlichen Zusammenhang sich selbst tragender Marktgesetze beruhte. Vielmehr wurde der Wirtschaftslibe58 Fritz Tänzler: Vom Tage, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 19.19 (1929), S. 522. 59 L. Romier, Capitalisme (wie Anm. 55), S. 8; vgl. ähnlich C. Lammers, Autarkie (wie Anm. 54), S. 32.
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ralismus der Vergangenheit nunmehr auf die besonderen Bedingungen des ökonomischen Wachstums der Vorkriegszeit zurückgeführt, die sich seither grundlegend verändert hätten. Freies Spiel der Konkurrenz und Preismechanismus waren damit keine universal voraussetzbaren Prinzipien mehr, sondern relativiert als ein vergangenes Epochenphänomen. So erkannte man entscheidende Unterschiede zwischen einem neuen und einem alten Kapitalismus. Der neue Kapitalismus sei dadurch charakterisiert, dass nicht mehr die Unternehmer selbst seine Finanzierung sicherten, sondern anonyme Gesellschaften mit geliehenem Kapital. Dieser neue Kapitalismus sei in Europa nach 1918 unausweichlich geworden, da der Krieg alles individuelle Vermögen verschlungen habe. Zugleich hätten die neuen Kapitalformen dazu geführt, den schon im 19. Jahrhundert regen, durch den Weltkrieg jedoch noch gesteigerten Fortschritt der Technik dazu zu nutzen, die Industrieproduktion auf die Herstellung von Massengütern umzustellen. Auf diese Weise habe man gehofft, die Kosten zu senken und Märkte der Konkurrenz zu erobern. Tatsächlich seien vielfach kleinere Unternehmen verdrängt und die Entstehung von Großkonzernen begünstigt worden, da diese allein in der Lage gewesen seien, die hohen Investitionskosten zu bewältigen. Deutsche und französische Autoren hoben jedoch hervor, dass der Versailler Friedensvertrag zugleich Bestrebungen in den vielen neu entstandenen Staaten hervorgerufen habe, sich eine eigene, nationale Industrie aufzubauen und diese durch Zollschranken zu schützen. Schlussendlich hätten durch diese Veränderungen überproportional entwickelte Produktionsmittel stark eingeschränkten Absatzmöglichkeiten gegenübergestanden. Damit jedoch habe das krisenbereinigende Prinzip der Konkurrenz – das darauf beruhe, dass viele Marktteilnehmer auf großen Märkten miteinander im Wettstreit lägen – seine Funktion verloren. In Schieflage geratene Unternehmen würden nunmehr auf staatliche Unterstützung zurückgreifen: zum einen, weil der Bankrott von Großbetrieben für eine Vielzahl von Beschäftigen die Arbeitslosigkeit bedeute, deren Notlage wiederum hohe gesellschaftliche Kosten verursache; zum anderen, weil der Verlust des in die Unternehmen investierten anonymen Kapitals eine Vielzahl von Sparern in den Ruin zu treiben drohe.60 Eduard Hamm konstatierte vor diesem Hintergrund gegenüber den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Veränderung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. „Wie sich ungeheure Wandlungen des Weltbildes auf kulturellem und politischem Gebiet vollzogen haben und vollziehen, schneller und drängender als sonst, so haben sich auch auf dem Gebiete der Weltwirtschaft 60 Vgl. unterschiedliche Varianten dieser Erklärung bei L. Romier, Capitalisme (wie Anm. 55), S. 11ff; C. Lammers, Autarkie (wie Anm. 54), S. 18f; René-Paul Duchemin: La crise actuelle, ses causes et ses conséquences du point de vue français, Neuilly 1932; Eduard Hamm: Die Frage der Arbeitslosigkeit und der Preissenkung, in: Verhandlungen des deutschen Industrie- und Handelstages, Heft 15 (1930), S. 81ff; Louis Marlio: Le sort du capitalisme, Paris 1938, S. 73ff sowie S. 106ff.
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[…] tiefgehende Strukturwandlungen ergeben, und sie vollziehen sich unausgesetzt weiter.“61 Großbetriebe, neue Formen anonymer Kreditvergabe, auf den Konsum von Massen ausgerichtete Produktion sowie die damit empfundene Beschleunigung des technischen Fortschritts erzeugten bei Wirtschaftsvertretern den Eindruck, dass das individuelle Schicksal nicht nur in stärkerem Maß mit wirtschaftlichen Verhältnissen verflochten, sondern zugleich auch stärkeren Gefahren und Unsicherheiten ausgesetzt sei. Dabei schien es die Verkettung von veränderten Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit mit der wirtschaftlichen Eigendynamik des Wirtschaftsliberalismus zu sein, die in die aktuelle Krise geführt hatte. Die Weiterentwicklung kapitalistischer Marktmechanismen hatte demnach eine Form des Kapitalismus produziert, die nicht mehr als selbstgesteuertes System, sondern als außer Kontrolle geratene Verkettung übermächtiger Kräfte wahrgenommen wurde. René-Paul Duchemin (1875– 1963), als Ingenieur nach dem Ersten Weltkrieg zum führenden Manager des Chemiekonzerns Kuhlmann und Präsidenten der Confédération générale de la production française aufgestiegen, verglich die Situation mit der Legende des Zauberlehrlings, „dem Mann, der die Kräfte der Natur entfesseln konnte, in dem Moment jedoch, als die Bewegung sich beschleunigte und es zu bremsen galt, […] das Zauberwort vergaß, das den tödlichen Strudel hätte stoppen können.“62 Insofern die Weltwirtschaftskrise in dieser Perspektive grundlegende Probleme des Kapitalismus in der Moderne offenlegte, mehrten sich unter Wirtschaftsvertretern die Forderungen nach einer Reform. Entsprechende Vorschläge traten dabei nicht für die Abschaffung des Marktliberalismus im sozialistischen oder technokratisch-dirigistischen Sinn ein. Vielmehr erkannte man die Notwendigkeit einer Anpassung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, um ihren Erhalt zu sichern. Lucien Romier war sich sicher, dass man vor einer radikalen Alternative stand, wenn der gesellschaftlichen Verzahnung von Wirtschaft und Gesellschaft in einem liberalen Sinn weiterhin Rechnung getragen werden sollte. „Entweder man muss den Kapitalismus an seiner Unordnung zugrunde gehen lassen […] mit dem Risiko, dass Millionen von Menschen zum Hunger verurteilt sind und sich gegenseitig in Kriegen und Revolutionen zerreißen. Oder man muss den Kapitalismus als eine neue Ge-
61 Eduard Hamm: Grundsätzliche Erfordernisse der Überwindung der Krise auf dem Gebiete der Handelspolitik, in: Verhandlungen des deutschen Industrie- und Handelstages, 25.3.1931, Heft 3 (1931), S. 81. 62 René-Paul Duchemin: Rede vor der Hauptversammlung der Confédération générale de la Production Française vom 29. März 1935, in: Ders.: Organisation syndicale patronale en France, Paris 1940, S. 200; vgl. auch Claude-Joseph Gignoux: La crise du capitalisme au XXe siècle, Paris 1943, S. 21.
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sellschaft begreifen, der die geistigen Repräsentanten Verstand und Moral zu geben haben.“63 In der Debatte um die Frage struktureller Veränderungen des Kapitalismus durch die Moderne brachten Reformer ihre Überlegungen zu einer neuen Bestimmung des Liberalismus gegen überkommene Positionen in Stellung. Louis Marlio wandte sich gegen Überzeugungen, die in der gegenwärtigen Krise lediglich eine vorübergehende, äußerlich verursachte Störung des Kapitalismus zu erkennen meinten. In seinen Augen war der traditionelle Liberalismus eine bloße Theorie, die unter den Bedingungen der Gegenwart in einem Sinn neu zu fassen war, dass sie der Allgemeinheit diente. „Für mich ist der ökonomische Liberalismus eine vollkommen ausgewogene Doktrin, die allerdings, wie alle Gesetze, nur unter bestimmten Bedingungen und mit gewissen Einschränkungen anwendbar ist. […] Wir sollten also […] die Hindernisse erkennen, die häufig das Funktionieren eines theoretisch exakten Prinzips beeinträchtigen; und wenn wir, in einigen Bereichen, Verstöße gegen den Wirtschaftsliberalismus zugeben müssen, sollten wir diese akzeptieren und darum bemüht sein, sie in dem für das öffentliche Interesse besten Sinne einzurichten.“64 Ein entscheidender Punkt der Veränderung betraf aus Sicht von Wirtschaftsvertretern in Deutschland und Frankreich dabei den Individualismus als Basis der liberalen Wirtschaftsordnung. Richard Merton glaubte, dass es die Veränderungen im Wirtschaftsleben nicht mehr möglich machten, traditionelle liberale Vorstellungen individuellen Wirtschaftshandelns aufrechtzuerhalten. Die gegenwärtigen Entwicklungen hatten für ihn den klassischen Liberalismus ebenso unrealistisch werden lassen wie die sozialistische Forderung nach einer klassenlosen Gesellschaft ohne Privatbesitz. „In jedem Arbeitgeber – jedenfalls in jedem Arbeitgeber, der die letzten 30 Jahre praktisch miterlebt hat – steckt die Erkenntnis, dass […] der Nur-Individualismus, der reine Liberalismus der Theorie, für ihn ebenso unmögliche Utopie bedeutet wie das theoretische Wunschbild des Arbeitsnehmers.“65 Hielt man zuvor die freie individuelle Initiative für die entscheidende Voraussetzung von Wettbewerb, Wohlstand und Fortschritt, schien das individuelle Gewinnstreben unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart gerade in die Krise hineingeführt zu haben. Unbeschränkte individuelle Autonomie wurde nunmehr mit einer ökonomisch und gesellschaftlich untragbaren Wirtschaftsform verbunden. Statt somit einen Liberalismus zu verteidigen, der auf der Unabhängigkeit der Produzenten und ihrer Interessen beruhte, plädierte Clemens Lammers für die kollektive Organisation von Wirtschaftskräften. 63 L. Romier, Capitalisme (wie Anm. 55), S. 158f. 64 Louis Marlio: Observations, in: Jacques Rueff (Hg.): La crise du capitalisme, Paris 1935, S. 23. 65 Richard Merton: Der Unternehmer und die Politik, Manuskript vom 16. Januar 1932 (publiziert in den Frankfurter Nachrichten am 24. Januar 1932), S. 7 (Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt 2000/319).
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„Das bedeutet für die Wirtschaftspraxis das gemeinsame Streben nach Entthronung des Systems des freien Individualismus im manchesterlichen Sinn. Dieser Individualismus begehrt grundsätzlich völlige wirtschaftliche Freiheit und Selbständigkeit für das Individuum.“ Demgegenüber, so Lammers, gelte es ein Verständnis der primären Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Zusammenhang der Wirtschaftsakteure und damit die Bereitschaft zu entwickeln, „die individuelle Freiheit geistig und sachlich einzuschränken. […] [Es] besteht der Wunsch, die wirtschaftliche Initiative als großes geistiges und materielles Gut zu erhalten, andererseits aber diese Initiative ausgerichtet zu sehen auf die Erfüllung des Dienstes an der Allgemeinheit.“66 Eine gegenwärtigen Bedingungen gerecht werdende, neue Form des Liberalismus hatte aus Sicht von Wirtschaftsvertretern auf jenen Ebenen Vorstellungen von Individualismus und Freiheit neu zu formulieren, die den von ihnen geführten Institutionen entsprachen. Die Gründung nationaler Wirtschaftsverbände erleichterte in dieser Sicht die Umstellung auf einen ökonomischen Liberalismus, der nicht mehr nach dem Prinzip der Konkurrenz, sondern der Vermittlung funktionierte. Da viele Betriebe durch die jüngeren Konzentrationsbewegungen so groß geworden seien, dass ein wirtschaftlich tragfähiges Verhältnis zwischen Produktion und Konsum nicht mehr durch die Unterdrückung schwächerer Marktteilnehmer bewirkt werden könne, blieb in den Augen von Louis Marlio nur noch der Ausweg von Absprachen zwischen den Produzenten in einer Wirtschaftsbranche. „Es ist die Stärke der großen industriellen und finanziellen Gruppierungen, miteinander zu sprechen und im freien Gespräch […] einen neuen Regulator des wirtschaftlichen Handelns an der Stelle desjenigen zu schaffen, der verschwunden ist.“67 Für Marlio und andere Reformer des ökonomischen Liberalismus schränkten Absprachen zwischen Produzenten zwar die individuelle unternehmerische Freiheit ein, boten jedoch im Krisenfall den Vorteil, das Risiko niedriger Verkaufszahlen auf alle beteiligten Unternehmen zu verteilen und Informationen erheben zu können, aus denen auf die ökonomischen Aussichten geschlossen werden konnte, sowie kollektive Strategien zur Abhilfe wie etwa Produktionssenkungen zu planen. Ein solches Vorgehen sollte nicht auf Absprachen innerhalb Deutschlands oder Frankreichs beschränkt bleiben, sondern Wirtschaftsregionen über die Staatsgrenzen hinweg miteinander verbinden. Dabei war gerade nicht an die Rückkehr zum Freihandel gedacht, sondern die Gründung von internationalen Kartellen, wie sie seit der Weltwirtschaftskonferenz in Genf von 1927 zwar gefordert, in den Folgejahren aus Sicht von Wirtschaftsvertretern jedoch zu zögerlich vorangetrieben wurde. Für Henri de Peyerimhoff, der neben seinen übrigen Funktionen auch französischer Vertreter im beratenden Komitee 66 C. Lammers, Autarkie (wie Anm. 54), S. 34f; vgl. ähnlich C.-J. Gignoux, Patrons (wie Anm. 51), S. 35 sowie S. 41. 67 L. Marlio, Ententes (wie Anm. 35), S. 3.
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für Wirtschaftsfragen des Völkerbundes war, waren die Wirtschaftsverbände Vorbild für die Schaffung einer internationalen Kooperation ökonomischer Kräfte. Um die unterschiedlichen Parteien zusammenzubringen, helfe nicht die Politik, sondern die erprobte Methode der Verbandsorganisation. „Handelt es sich nicht darum, etwas wie Verbände der Nationen zu fördern, um denselben wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein Ende zu bereiten wie denjenigen, die in vielen Wirtschaftszweigen zunächst zu lokalen, dann zu nationalen und dann gelegentlich zu internationalen Organisationen geführt haben?“ Erst durch eine solche internationale Koordination glaubte Peyerimhoff die wirtschaftliche Grundlage stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse schaffen zu können, die das Gemeinwohl sicherten. „Ist die Existenz von internationalen Absprachen zwischen Produzenten und Händlern nicht eine – und nicht die kleinste – der Voraussetzungen für eine stabile und tragfähige industrielle Aktivität?“68 Explizites Ziel dieser und ähnlicher Überlegungen war dabei die Abgrenzung eines europäischen Wirtschaftsraums. Auch weil Völkerbund und Internationale Handelskammer in der Zwischenkriegszeit eine weitgehend von europäischen Fragen dominierte Angelegenheit blieben, nutzten Wirtschaftsvertreter aus Deutschland und Frankreich die hier entstandenen Foren zur Entwicklung von Reformvorschlägen, die sich auf die ökonomische Koordination Europas konzentrierten. Eduard Hamm, als Vertreter des Industrie- und Handelstages auch Mitglied im beratenden Komitee für Wirtschaftsfragen des Völkerbunds und in der Internationalen Handelskammer, unterstützte aus diesem Grund Pläne eines europäischen Zusammenschlusses, auch wenn damit zugleich freie wirtschaftliche Beziehungen zu außereuropäischen Regionen eingeschränkt wurden. „Je mehr in anderen Erdteilen große Wirtschaftsgebiete sich zusammenschließen, desto mehr muß auch Europa und besonders Mitteleuropa an eine Stärkung seiner Kräfte denken. […] Es war mehr als einmal […] im Kreise der Internationalen Handelskammer zu hören, wie die europäischen Länder endlich auch zu Vereinigten Staaten von Europa sich zusammenschließen sollten.“69 Die Transformation der modernen Ökonomie machte in den Augen von Reformern nicht nur Einschränkungen der überkommenen Vorstellungen von wirtschaftlichem Individualismus und wirtschaftlicher Freiheit durch nationale und internationale Kartelle und die Abgrenzung von Wirtschaftsräumen nötig, sondern auch die Koordination von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Zusammenarbeit beider Seiten im Reichswirtschaftsrat, im Conseil na68 Henri de Peyerimhoff: La rationalisation des relations commerciales internationales, in: Revue économique internationale vol. 1 (Janvier 1931), S. 32. 69 Eduard Hamm: Die derzeitige handelspolitische Lage Deutschlands und die Wünsche des Deutschen Industrie- und Handelstages dazu, in: Verhandlungen des Deutschen Industrie- und Handelstages, Heft 13 (1930), S. 37; vgl. auch Lucien Romier: Die wirtschaftliche Organisierung Europas, in: Europäische Revue 7.2 (1931), S. 488–500.
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tional économique und in internationalen Organisationen wurde von Wirtschaftsvertretern gern als Beleg für die Möglichkeit einer Verständigung angeführt, die ihnen naheliegend und praktisch sinnvoll erschien.70 ClaudeJoseph Gignoux erklärte so, dass die moderne Gesellschaft auf kollektiven Kräften beruhte, die miteinander kollaborieren müssten, um ihre Interessen zu wahren und eine Unordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu verhindern. Zu diesem Zweck schwebten ihm und anderen die Etablierung von ökonomisch und gesellschaftlich integrativ wirkenden Berufskorporationen vor, die eine aus ihrer Sicht natürliche Verbindung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern institutionalisierte: „Die berufliche Organisation muss alle diejenigen vereinen, die – nach welchem Anspruch auch immer – zu einer gemeinsamen Aktivität beitragen und sollte sich über alle materiellen und moralischen Interessen eines Berufsstandes erstrecken.“71 Fritz Tänzler, der die Einrichtung der Zentralarbeitsgemeinschaft von 1918 zur Absprache zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften unterstützt hatte und in der Entwicklung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats diesbezüglich keinen gleichwertigen Ersatz erkennen konnte, schien aus diesem Grund Ende 1933 die Politik des jungen nationalsozialistischen Regimes mit der Forderung vereinbar, eine wirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige Kollaboration zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu sichern. Auch wenn in seinem Beitrag zur Dezemberausgabe des „Arbeitgebers“, mit der die Zeitschrift eingestellt wurde, ein Misstrauen gegenüber „Gleichschaltung“ und staatlicher Kontrolle spürbar blieb, hob Tänzler doch die neuen Aussichten auf kollektive Verständigung der Wirtschaftsakteure im Nationalsozialismus hervor. „Der neue Staat […] kennt keine Klassen von Volksgenossen und danach auch keine Klassengegensätze, er kennt nur die Verbundenheit aller in ihrer Zusammenarbeit zum Nutzen des Ganzen, unter Einfügung ihrer Persönlichkeiten nach dem Grade ihrer Leistungen in den Rahmen des Volksganzen. Damit entfällt auch die Zweiteilung in ‚Arbeitgeber‘ und ‚Arbeitnehmer‘ und deren Gegensatz, der die vergangene Epoche so stark beherrscht hat.“72 Es kann hier nicht weiter verfolgt werden, inwieweit die selektive Wahrnehmung der genannten Akteure im nationalsozialistischen Regime sowie später im Frankreich Vichys liberale Elemente nach ihren Maßgaben zu erkennen meinte.73 Auch in dieser Hinsicht kann man zudem nicht von einer 70 Vgl. Clemens Lammers: Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Weltwirtschaftskonferenz, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 17.12 (1927), S. 273f; H. Peyerimhoff, Formules (wie Anm. 38), S. 22; Fritz Tänzler: 25 Jahre Arbeitgeberbewegung, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 19.19 (1929), S. 658–660. 71 C.-J. Gignoux, Patrons (wie Anm. 51), S. 39. 72 Fritz Tänzler: Abschied von den Arbeitgeberverbänden, in: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 23.24 (1933), S. 434. 73 Vgl. zu Kontinuitäten zwischen Liberalismus und Nationalsozialismus Eric Kurlan-
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einheitlichen Position der Wirtschaftsvertreter ausgehen, von denen einige ins Exil gingen, während andere hohe Positionen in der deutschen oder französischen Wirtschaftsverwaltung einnahmen. Das Bedürfnis nach einer Neubestimmung wird dennoch nicht zuletzt an den Diskussionen um den Begriff „Liberalismus“ deutlich, die nicht nur in Frankreich ab Mitte der 1930er Jahre zwischen Unternehmern, Verbandsfunktionären und Ökonomen geführt wurden. Während einige Beiträge den Tod des Liberalismus verkündeten,74 hielten andere an dem Gedanken einer notwendig liberalen Wirtschaftsgrundlage moderner Gesellschaften fest – solange diese Grundlage in einer Form bestimmt wurde, die nicht mehr auf unbeschränktem Individualismus beharrte. René-Paul Duchemin passte so den Begriff des Liberalismus auf der Jahresversammlung der Confédération générale de la production française von 1935 den Bedingungen der Gegenwart an: „Wir verstehen unter dem Begriff ein Regime, das auf individueller Initiative […] in der größtmöglichen Freiheit beruht. Wir sagen ‚in der größtmöglichen Freiheit‘, weil wir gut wissen, dass diese Freiheit immer nur partiell sein kann, denn die nationalen Notwendigkeiten haben Einschränkungen einer vollständigen Freiheit unausweichlich gemacht.“ Definiere man den Liberalismus in einer den zeitgenössischen Bedingungen entsprechenden Form, so Duchemin weiter, könne man auch die Behauptung vom Ende des Liberalismus zurückweisen. „Nach dieser Beobachtung ist es uns möglich, auf die Frage zu antworten: Hat der Liberalismus bankrott gemacht? Unserer Meinung nach nicht.“75 Die zeitgenössischen Überlegungen zu einem Fortbestehen des Liberalismus in veränderter Gestalt schlug sich nicht zuletzt in Vorschlägen neuer Begriffe nieder. Neben „sozialem Liberalismus“, „Neo-Kapitalismus“ und „konstruktivem Liberalismus“ fand der Begriff „Neo-Liberalismus“ insbesondere durch die 1938 in Paris abgehaltene Konferenz zu Ehren des amerikanischen Gesellschaftstheoretikers Walter Lippmann Verbreitung. Die hier versammelten Teilnehmer, die die Diskussion der vorhergehenden Jahre in Teilen mitgestaltet hatten, waren sich nicht einig über die Reform des Liberalismus, nahmen jedoch Lippmanns Überlegungen zum Ausgangspunkt ihrer Diskussion. Lippmann erklärte zu Beginn der Veranstaltung: „Wir schlagen einen falschen Weg ein […], wenn wir die Sache der Freiheit mit einer Doktrin wie dem Naturrecht […] oder Laissez-Faire und Freihandel verwechseln. Dies der: Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich, New Haven/London 2009; vgl. auch Bernard Bruneteau: L’Europe nouvelle de Hitler. Une illusion des intellectuels de la France de Vichy, Paris 2003. 74 Vgl. Auguste Detoeuf: La fin du libéralisme. Conférence 1er mai 1936, in: De la recurrence des crises économiques, X-Crise. Centre Polytechnicien d’Etudes Economiques. Son cinquantenaire 1931–1981, Paris 1982, S. 71–87; vgl. zurückhaltender Gaëtan Pirou: Qu’est-ce que le capitalisme, in: Nouveaux Cahiers, Nr. 9 (15 juillet 1937), S. 2–4. 75 R.-P. Duchemin, Organisation (wie Anm. 62), S. 197.
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sind Konzepte, die Menschen zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten historischen Bedingungen verwendet haben. […] Aber sie waren nicht die Sache selbst, die treibende Energie […]. Deshalb müssen wir uns das Recht vorbehalten, alle Prämissen aller liberalen Theorien zu revidieren.“76 V. Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Neudefinition des Liberalismus entstand in Deutschland und Frankreich vor dem Hintergrund institutioneller und gesellschaftlicher Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Neue Organisationen der Wirtschaftsrepräsentation auf nationaler und internationaler Ebene verstärkten die Präsenz neuer Akteure in den Auseinandersetzungen um die politische Ökonomie. Sie eröffneten Absolventen mit juristischer, technischer und geisteswissenschaftlicher Hochschulausbildung Karrierewege in der Wirtschaft in einer Situation, in der überkommene Strategien der gesellschaftlichen Eliten in Politik und Verwaltung unsicher geworden waren. Die verstärkte Betonung der Relevanz von Wirtschaft für die Entwicklung des Gemeinwohls wurde besonders von der wachsenden Gruppe der Wirtschaftsvertreter propagiert, die damit nicht nur einen Anspruch auf öffentliche moralische Autorität erhoben, der an das traditionelle Selbstverständnis von Staatsdienern anknüpfte, sondern der zugleich mit der Aufwertung ihrer Kompetenzen gegenüber klassischen Unternehmern verbunden war. Die Forderung nach einer stärkeren Indienstnahme der Fachkompetenz von Verbänden und Wirtschaftsräten war gegen die staatliche Wirtschaftsverwaltung und gegen den berufsständisch unorganisierten und öffentlich nicht engagierten Unternehmer zugleich gerichtet. Bei aller Heterogenität der öffentlichen Stellungnahmen trugen diese Entwicklungen zu der Bereitschaft bei, in den 1920er Jahren und besonders nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise neue Perspektiven auf die politische Ökonomie des Liberalismus zu entwerfen. Die Akzeptanz des Begriffs „Neo-Liberalismus“ bei einem Teil der Akteure macht diese Bereitschaft deutlich, hat dabei allerdings nur wenig mit der Begriffsbedeutung gemein, die sich seit den 1970er Jahren in den USA und Westeuropa durchsetzte.77 Eine Reihe von Wirtschaftsvertretern machte vielmehr 76 Walter Lippmann: Allocution, in: Le colloque Walter Lippmann. Aux origines du „néo-libéralisme“, hg. v. Serge Audier, Lormont 2012, S. 422; vgl. hierzu F. Denord, Néolibéralisme (wie Anm. 2), S. 117ff; Ph. Plickert, Neoliberalismus (wie Anm. 2), S. 93ff, sowie Serge Audier: Is there a French Neoliberalism?, in: Raf Geenens / Helena Rosenblatt (Hg.): French Liberalism from Montesquieu to the Present Day, Cambridge/Mass. u.a. 2012, S. 208–229. 77 Friedrich Hayek hat diese Variante der Erneuerungsversuche des Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg, die ihm aufgrund seiner Teilnahme am Colloque Walter Lippmann bekannt war, mit einiger Wahrscheinlichkeit bewusst nicht erwähnt. Vgl. Fried-
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strukturelle Veränderungen im modernen Kapitalismus aus, die aus ihrer Sicht dazu geführt hatten, dass individuelle Initiative und Freihandel keinen sich selbst tragenden Wirtschaftszusammenhang mehr stifteten. In dieser Perspektive galt es, Individualismus und Freiheit so neu zu fassen, dass an die Stelle des Kapitalismus der Konkurrenz ein Kapitalismus der Vermittlung trat. Da demokratische Verhältnisse demnach die Berücksichtigung einer ökonomisch gerechtfertigten Urteilsfindung strukturell erschwerten und Wirtschaftsvertreter ihre eigene Aufgabe in der Stiftung und Sicherung wirtschaftlicher Zusammenhänge sahen, entwickelten sie eine politische Ökonomie, die einerseits auf Absprachen der Wirtschafts- und Sozialpartner abzielte und andererseits tendenziell der Demokratie gegenüber skeptisch war. Während einige der hier diskutierten Akteure sich nach 1933 bzw. nach 1940 aus öffentlichen Ämtern und Verbandsfunktionen zurückzogen oder emigrierten, ließen sich andere auf eine – wenn häufig auch nur vorübergehende – Zusammenarbeit mit den autoritären Regimen im Nationalsozialismus und in Vichy ein. Sie erkannten darin keine Aufgabe liberaler Prinzipien, sondern die Chance zur Realisierung einer neo-liberalen politischen Ökonomie, für die sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Unterstützung suchten.
rich Hayek: Die Überlieferung der Ideale der Wirtschaftsfreiheit, in: Schweizer Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 31 (1951–52), S. 333–338. Vgl. zur Entstehung des späteren Neoliberalismus allgemein David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2007; D. T. Rodgers, Age (wie Anm. 1), bes. S. 50–76.
DIE GEBURT DES SOZIAL-LIBERALISMUS AUS DEM GEIST DER VERWALTUNG Zur Erfindung der modernen Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik Tim B. Müller 1. STAAT, VERWALTUNG UND SOZIAL-LIBERALISMUS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Wer über die Zwischenkriegszeit schreibt und weder Konventionen perpetuieren noch Missverständnisse auslösen will, muss zunächst zu einigen grundsätzlichen Problemen Stellung nehmen. Mit Detlev Peukert gesprochen, steht das „Janusgesicht“ dessen, worum es im Folgenden geht, niemals außer Frage; Ambivalenzen sind für die Strukturen und Prozesse der Moderne konstitutiv, gerade in der Weimarer Republik, die paradigmatisch die Bandbreite des Möglichen in den „Krisenjahren der klassischen Moderne“ vorführt.1 Dennoch bleibt ein Sowohl-als-auch unbefriedigend. Auf der Grundlage eigener Forschung muss ein Urteil riskiert werden, denn, wie es bei Hegel heißt: „Ohne Urteil verliert die Geschichte an Interesse“.2 Ohne ein Urteil, das auch die Gefahr der Übertreibung nicht scheut, tritt die Diskussion auf der Stelle. Für ein Urteil über die Weimarer Republik bleibt Peukerts Hinweis maßgeblich: „Dieses Experiment der Moderne fand unter denkbar mißlichen Rahmenbedingungen statt“.3 Die historischen Konstellationen schließen nicht die Möglichkeit des Handelns und die Tragik der Kontingenz aus. Die Zwischenkriegszeit war von einer permanenten Krisenhaftigkeit geprägt, die jedoch keinesfalls in die Katastrophe münden musste, sondern aus der erfolgversprechende Ansätze des Regierens, der sozialen Organisation und des politischen Denkens entwickelt und in vielen Fällen auch mit nachhaltiger Wirkung zur Anwendung gebracht wurden. Um einige Stichworte zu 1 Vgl. Detlev J. K. Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 55–69; Ders.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt 1987; Anselm Doering-Manteuffel: Weimar als Modell. Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, 21/6 (2012), S. 23– 36. 2 Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, S. 199. 3 D. J. K. Peukert, Weimarer Republik (wie Anm. 1), S. 267.
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nennen: der Ausbau der Massendemokratie; politische Gleichberechtigung für Frauen und Männer; die breite Bevölkerungsschichten mobilisierende politische Auseinandersetzung; die Etablierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates; die moderne Wissensmarktgesellschaft, in der jede Seite ihre Experten und Gegenexperten aufbieten muss, um Gehör zu finden.4 Allen Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung zum Trotz zeichnete sich bereits in der Zwischenkriegszeit aufgrund einer Gemeinsamkeit der Herausforderungen und Lösungsstrategien eine „westliche“ Konvergenz des demokratischen Kapitalismus und des sozial-liberalen Wohlfahrtsstaates ab – mit der Weimarer Republik als einem zentralen Protagonisten dieser Entwicklung.5 Konvergenz lässt bei einer gleichgerichteten Grundbewegung („historical movement“) eine Vielfalt von Variationen zu, unterschiedliche Tempi und verschiedenartige Ausgangsbedingungen, wie es Leonard Krieger ausgedrückt hat: „The crucial point is that all modern states have accepted the welfare principle and that the degree of application has become largely a matter of cir4
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Vgl. etwa Conan Fischer: Europe between Democracy and Dictatorship 1900–1945, Oxford 2011; Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005; Ders. (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, München 2007; Detlef Lehnert (Hg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013; Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Mark Mazower: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; Anthony McElligott (Hg.): Weimar Germany, Oxford 2011; Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002; Ders.: Democracy and Dictatorship 1918– 1939, in: Helmut Walser Smith (Hg.): The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 423–452; D. J. K. Peukert, Weimarer Republik (wie Anm. 1); Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, 3 Bde., Berlin 1963–1992; Petra Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010; Andreas Wirsching (Hg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007; speziell zum demokratischen und pluralistischen Denken Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010; Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Ders. (Hg.): Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008. Vgl. zur Ungleichzeitigkeit der europäischen Entwicklung Lutz Raphael: Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.): Dimensionen der Moderne, Frankfurt 2008, S. 73–92; zur Konvergenzdeutung und ihren modernisierungstheoretischen Grundlagen Tim B. Müller: Innenansichten des Kalten Krieges. Über ein glückliches Zeitalter, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 6/3 (2012), S. 26–40.
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cumstance“. Oder man kann von der Etablierung der „sozialen Demokratie“ in den europäisch-atlantisch-pazifischen Demokratien sprechen.6 Um diese moderne – folglich stets ambivalente – Konvergenz zu erkennen, muss man allerdings eine „konjunkturbereinigte“ Entwicklung des Sozial-Liberalismus herausarbeiten. Und man muss dabei Staat und Verwaltung sowohl als funktionale wie auch als programmatische Akteure dieses Sozial-Liberalismus wahrnehmen – was historisch kaum eine Überraschung darstellt,7 aber im Zuge von Forschungstendenzen der letzten Jahre erschwert wurde. Die wohlfahrtsstaatlichen und liberal verfassten Demokratien, die sich in der Zwischenkriegszeit formierten, waren auf die Ausbildung eines demokratischen Staatapparates angewiesen. Liberale Bürgerschaft und staatliche Verwaltung dürfen dabei nicht in einer aus politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte herrührenden Verengung als Gegenbegriffe oder unversöhnliche Antithesen gedacht werden: Demokratie funktioniert nicht ohne demokratischen Staat.8 Das war auch eine in der Zwischenkriegszeit verbreitete Erkenntnis, die etwa in Großbritannien in der Strategie der Labour Party, die bald eine der Liberal Party ähnliche Rolle übernahm, oder in den vielstimmigen Debatten in Schweden zum Ausdruck kam.9 Ohne die „Machtmittel“ des Staates, ohne die Verfügungsgewalt über den Staatsapparat und die Staatsfinanzen war keine Demokratie zu bauen.10 Und dieser demokratische Staat war zum demokratischen Wohlfahrtsstaat auszubauen, zu der Staatsform, in 6
Leonard Krieger: The Idea of the Welfare State in Europe and the United States, in: Journal of the History of Ideas 24 (1963), S. 553–568, hier S. 556; vgl. Anselm Doering-Manteuffel: „Soziale Demokratie“ als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert, in: Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 313–333. 7 Vgl. etwa Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989. 8 Vgl. etwa Stein Ringen: Nation of Devils. Democratic Leadership and the Problem of Obedience, New Haven 2013; David Runciman: The Confidence Trap. A History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton 2013. 9 Vgl. etwa Ross McKibbin: The Ideologies of Class. Social Relations in Britain 1880– 1950, Oxford 1990, S. 208, 226f, 292f; Matthew Worley: Labour Inside the Gate. A History of the British Labour Party between the Wars, London 2005; Peter Brandt: Die schwedische Arbeiterbewegung bis 1940. Solidargemeinschaft, Interessenvertretung, Bündnispolitik, in: D. Lehnert, Gemeinschaftsdenken (wie Anm. 4), S. 75–104; Ders.: Mit der „Volksregierung“ zum demokratischen Wohlfahrtsstaat. Dänemark 1900–1940, in: ebd., S. 257–282; Ders.: Vom endgültigen Durchbruch der parlamentarischen Demokratie bis zu den Anfängen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit, in: C. Gusy, Demokratie (wie Anm. 4), S. 155– 228; Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001; Francis Sejersted: The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011, S. 50–172. 10 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte (Sten. Ber.), Bd. 328, Berlin 1920, 64. Sitzung, 23.7.1919, S. 1847.
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der die politische Partizipation aller Bürger in der Massendemokratie gewährleistet werden konnte.11 Genau das meinte der „Ausbau des neuen Staatshauses“, den die sozialdemokratisch-zentristisch-liberale Weimarer Regierungskoalition zum Programm erhob.12 Später fielen in Deutschland vorwiegend die antidemokratischen Eliten im Staatsapparat auf, die sich in den wenigen Jahren der Demokratie nicht oder nur langsam mit ihr arrangierten.13 Aber das historiographische Problem reicht über Deutschland hinaus: Staat und Verwaltung finden sich seit einiger Zeit in der Erforschung von Expertenkulturen und von „social engineering“ wieder, die wichtig für das Verständnis des 20. Jahrhunderts ist,14 mittlerweile aber ihren Gegenstand verselbständigt oder überschätzt. Der Staat und seine Verwaltung waren nicht von Sozialexperten dominiert, die in begrenzten Arbeitsfeldern und innerhalb politischer Rahmensetzungen operierten, jedoch mitunter, wie Gunnar und Alva Myrdal in Schweden, ihre Bedeutung medial zu inszenieren verstanden.15 „Social engineering“ ist zum Modebegriff geworden, der nahelegt, politische Grenzen überschreiten zu können, die sich nur um einen hohen intellektuellen Preis überwinden lassen. Demokraten und Liberale werden in ein Kontinuum gestellt, das im Faschismus, Nationalsozialismus oder Stalinismus endet. Allzu leicht werden relevante politische Kon11 Vgl. etwa den klassischen Beitrag von Thomas Humphrey Marshall: Citizenship and Social Class, and Other Essays, Cambridge 1950; Torben Iversen: Democracy and Citizenship, in: Francis G. Castles u. a. (Hg.): The Oxford Handbook of the Welfare State, Oxford 2010, S. 183–195; Lars Trägårdh: Rethinking the Nordic welfare state through a neo-Hegelian theory of state and civil society, in: Journal of Political Ideologies 15 (2010), S. 227–239. 12 Sten. Ber. (wie Anm. 10), S. 1843. 13 Vgl. den instruktiven Überblick von Michael Ruck: Beharrung im Wandel. Neue Forschungen zur deutschen Verwaltung im 20. Jahrhundert (I), in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 200–256. 14 Vgl. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Ders.: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5–40. 15 Vgl. etwa James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998; Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Ders.: Die Romantik der Rationalität. Alva und Gunnar Myrdal. Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010; vgl. dazu Tim B. Müller: Schweden als Lebensform, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 6/4 (2012), S. 115–120. Plausiblere, nicht auf „social engineering“ zugeschnittene Erzählungen der schwedischen Geschichte im 20. Jahrhundert bieten etwa Henrik Berggren: Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Jahre. Die Biographie, München 2011; P. Brandt, Arbeiterbewegung (wie Anm. 9); Urban Lundberg / Klas Åmark: Social Rights and Social Security. The Swedish Welfare State, 1900–2000, in: Scandinavian Journal of History 26 (2001), S. 157–176; F. Sejersted, Age (wie Anm. 9).
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texte ignoriert und lediglich situativ bedingte Ähnlichkeiten moderner Staaten essentialisiert.16 Die demokratischen und sozial-liberalen Kontexte und Intentionen der Handelnden werden dabei marginalisiert. Die von Ludwig von Mises und Friedrich August Hayek, Urvätern des Neoliberalismus, geprägte Denkfigur des Kontinuums oder der „slippery slope“,17 die über die postmoderne Theorie (von Bauman bis Agamben) auch bei progressiven Historikern angekommen ist,18 unterstellt dem Staat autoritäre, paternalistische, die Freiheit erstickende Absichten und übersieht, dass man auf jeder Stufe anhalten kann. Bezeichnend ist, dass Wolfgang Schivelbuschs Polemik „Entfernte Verwandtschaft“, eine Zitatencollage ohne Quellenkritik und Berücksichtigung des Forschungsstands, immer wieder kritiklos und als Beleg für die angebliche Nähe von demokratischem und totalitärem Staat zitiert wird.19 So wird eine 16 Ein eklatantes Beispiel, das statt von „social engineering“ noch von „Sozialdisziplinierung“ spricht, ist das für seine Darstellung früherer Perioden viel gepriesene Werk von Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2002, S. 458–479. 17 Vgl. Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena 1922; Ders.: Sozialliberalismus, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S. 242–278; Ders.: Bureaucracy, New Haven 1944; schon Ders.: Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 47 (1920), S. 86–121; dazu Don Lavoie: Rivalry and Central Planning. The Socialist Calculation Debate Reconsidered, Cambridge 1985; Keith Tribe: Strategies of Economic Order. German Economic Discourse, 1750–1950, Cambridge 1995, S. 140–168; Friedrich August Hayek: The Road to Serfdom. Text and Documents. The Definitive Edition, hg. v. Bruce Caldwell, Chicago 1997; vgl. zur historischen Genealogie des Neoliberalismus Angus Burgin: The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012; Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012, bes. S. 30–84. 18 Vgl. etwa Jörg Baberowski / Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzeß und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium, Bonn 2006; T. Etzemüller, Romantik (wie Anm. 15), S. 13–16, 103; Ders.: Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: Ders., Ordnung (wie Anm. 15), S. 11–39, hier S. 28f; Michael Wildt: Sind die Nazis Barbaren? Betrachtungen zu einer geklärten Frage, in: Mittelweg 36, 15/2 (2006), S. 8–26. 19 Vgl. etwa Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 398–406; Ders.: Konturen von „Ordnung“ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: T. Etzemüller, Ordnung (wie Anm. 15), S. 41–64, hier S. 56; T. Etzemüller, Social engineering (wie Anm. 18), S. 30; Dieter Gosewinkel: Zwischen Diktatur und Demokratie. Wirtschaftliches Planungsdenken in Deutschland und Frankreich. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 327– 359, hier S. 327; Jan-Otmar Hesse: Wirtschaftspolitische Bewältigungsstrategien nach der Krise. Deutschland und die USA in den 1930er Jahren, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), S. 315–329, hier S. 315; Gabriele Metzler / Dirk van Laak: Die Konkretion der Utopie. Historische Quellen der Planungsutopien der
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erst seit wenigen Jahrzehnten hegemoniale Lesart des Liberalismus absolut gesetzt und die historische Vielfalt des Liberalismus gewaltig reduziert.20 Die Erforschung des demokratischen, sozial-liberal imprägnierten Staates der Zwischenkriegszeit bleibt ein Desiderat.21 Dass in der Verwaltung des Staates eine Legitimationsquelle der westlichen Demokratie ruhte, darauf weisen eine spezielle zeitgenössische Literatur und neuere politisch-theoretisch reflektierte Arbeiten hin.22 Dieses in unterschiedlichen Schattierungen auftretende Verständnis von Verwaltung war für viele Demokratien charakteristisch. In Deutschland wurde wie in anderen Staaten die Kontinuität des politischen Handelns angesichts häufig wechselnder Regierungen von der Spitzenbürokratie gewahrt. In vielen Ländern nahm die Zahl der Behörden und Staatsbediensteten während und am Ende des Ersten Weltkrieges zu.23 Etliche Reform-, Liberalisierungs- und Demokratisierungsimpulse der Kriegs- und Zwischenkriegszeit kamen aus der Ver-
1920er Jahre, in: Patrick Wagner / Isabell Heinemann (Hg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 23–43, hier S. 23; Werner Plumpe: Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Wirtschaft, in: A. Wirsching, Herausforderungen (wie Anm. 4), S. 129–157, hier S. 156. 20 Zur historischen Vielfalt vgl. Michael Freeden: Liberal Languages. Ideological Imaginations and Twentieth Century Progressive Thought, Princeton 2005; Ders.: European Liberalisms. An Essay in Comparative Political Thought, in: European Journal of Political Theory 7 (2008), S. 9–30; Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines Deutungsmusters, München 2001; zur jüngeren Politik der Vereinseitigung D. Stedman Jones, Masters (wie Anm. 17). 21 Wie man Parallelen untersuchen kann, ohne die demokratische Politik des „New Deal“ der Praxis der Faschisten und Nationalsozialisten anzunähern, zeigt Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003; bei vielen Anhängern des Schivelbusch-Narrativs geht das Argument einseitig von Deutschland aus. Vgl. hingegen Ira Katznelson: Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, der auch die oft übersehene parlamentarische Dimension des New Deal deutlich macht und zeigt, wie sich gerade aus der starken Stellung der Legislative das größte Problem des „New Deal“ ergab: nicht die Nähe zum Faschismus, sondern die Hinnahme der Rassentrennung in den Südstaaten. 22 Vgl. Pierre Rosanvallon: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg 2010, S. 45–77; ein frühes und ein spätes Beispiel: Woodrow Wilson: The Study of Administration, in: Political Science Quarterly 2 (1887), S. 197–222; Dwight Waldo: The Administrative State. A Study of the Political Theory of American Public Administration [1948], New Brunswick 2007. 23 Vgl. etwa Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985; Kathleen Burk (Hg.): War and the State. The Transformation of British Government, 1914–1919, Boston 1982; Stephen Skowronek: Building a New American State. The Expansion of National Administrative Capacities, 1877–1920, Cambridge 1982.
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waltung.24 Nationale Professionalisierungstendenzen und transnationale Kooperation in der Verwaltungsmodernisierung verstärkten sich gegenseitig.25 Die sozial-liberalen Protagonisten der Zwischenkriegszeit lebten anders als ihre Gegenspieler, die Denker und Praktiker des „sozialen Radikalismus“, nicht in einer Welt der Binaritäten und Idealtypen. Sie konnten das scheinbare Gegensatzpaar Staat und individuelle Freiheit ebenso intelligent zusammendenken wie die nicht zwangsläufige Antithese Pluralismus und (relative) Homogenität. Wenn etwa in der Wirtschaftspolitik der jungen Weimarer Demokratie „über das Privatinteresse das Allgemeininteresse“ gesetzt werden sollte,26 stellte dieses „Allgemeininteresse“ keine deutsche Sondervokabel dar. Das Gemeinwohl wurde auch in Deutschland nicht zwingend obrigkeitsstaatlich oktroyiert,27 sondern in der öffentlichen und parlamentarischen Diskussion in einem pluralistischen Prozess bestimmt.28 In Vergleichen mit anderen westlichen Demokratien werden nicht nur die praktischen Liberalen außerhalb der liberalen Parteien übersehen – was ein Problem der Liberalis24 Vgl. grundsätzlich Volker Kruse: Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 198–214; zu Deutschland, wofür Forschungsbedarf besteht, etwa Gerald D. Feldman: Army, Industry and Labor in Germany, 1914–1918, Providence 1992; Bärbel Holtz / Hartwin Spenkuch (Hg.): Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, Berlin 2001; zu Großbritannien und den USA etwa Christopher Capozzola: Uncle Sam Wants You. World War I and the Making of the Modern American Citizen, Oxford 2008; Joseph A. McCartin: Labor’s Great War. The Struggle for Industrial Democracy and the Origins of Modern American Labor Relations, 1912–1921, Chapel Hill 1997; Roy McLeod (Hg.): Government and Expertise. Specialists, administrators and professionals, 1860–1919, Cambridge 1988; S. Skowronek, State (wie Anm. 23); Peter Barberis: Whitehall Mandarins and the British Elite Network, 1870– 1945, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 17 (2005), S. 1–26; K. Burk, War (wie Anm. 23); Jose Harris: William Beveridge. A Biography, Oxford 1997; Michael J. Lacey / Mary O. Furner (Hg.): The State and Social Investigation in Britain and the United States, Cambridge 1993. 25 Vgl. Steven D. Korenblat: A School for the Republic? Cosmopolitans and their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik, 1920–1933, in: Central European History 39 (2006), S. 394–430; P. Rosanvallon, Legitimität (wie Anm. 22), S. 45–77; Erich Nickel: Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004; Helke Rausch: US-amerikanische „Scientific Philanthropy“ in Frankreich, Deutschland und Großbritannien zwischen den Weltkriegen, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 73–98; Pierre-Yves Saunier: Administrer le monde? Les fondations philanthropiques et la public administration aux États-Unis (1930–1960), in: Revue française de science politique 53 (2003), S. 237–255. 26 Sten. Ber. (wie Anm. 10), S. 1847. 27 So etwa Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, S. 219, auch S. 48f, 83f, 193–195, 437. 28 Zur Vitalität des Pluralismus in Weimar vgl. prägnant K. Groh, Staatsrechtslehrer (wie Anm. 4), S. 579, 586.
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musforschung in Deutschland ist, die sich damit von erheblichen Teilen ihres Gegenstands abschneidet –, sondern oft auch die Gemeinwohlbegriffe anderer Gesellschaften auf ein unhistorisches Liberalismusextrakt reduziert.29 Führende Denker des britischen Liberalismus seit der Jahrhundertwende – genau betrachtet schon seit Adam Smith – zeichneten sich durch ihre sozial-liberalen Positionen aus; das Individuum wurde in seinen sozialen und kollektiven Bindungen gesehen, politische Freiheit war nicht ohne ein Maß ökonomischer Gleichheit denkbar, Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit gehörten zu den Grundwerten des Liberalismus. Der britische Wohlfahrtsstaat verdankte seine Entstehung mehr noch dem Liberalismus als dem Labour-Sozialismus.30 Für die schwedische, dänische, französische, selbst für die amerikanische Diskussion lässt sich Ähnliches zeigen. Dieser amerikanische soziale Liberalismus wurde vielleicht aufgrund der politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ignoriert.31 Infolgedessen kursieren Karikaturen des politischen Denkens der 29 Vgl. etwa als Langzeitdeutungen Bernd Weisbrod: Der englische „Sonderweg“ in der neueren Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 233–252; Stefan Collini: Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006; einen antipluralistischen Demokratiebegriff im parteipolitischen Liberalismus der Weimarer Republik betont Stefan Grüner: Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller / Manfred Kittel (Hg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 219–249. 30 Vgl. etwa die bahnbrechenden Arbeiten von Michael Freeden: The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; Ders.: Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914–1939, Oxford 1986; Ders., Languages (wie Anm. 20); Ders., European Liberalisms (wie Anm. 20); Jose Harris: Unemployment and Politics. A Study in English Social Policy 1886–1914, Oxford 1984; Dies., Beveridge (wie Anm. 24); Ben Jackson: Equality and the British Left. A study in progressive political thought, 1900–64, Manchester 2007; Pierre Rosanvallon: Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013, S. 21–91, 197–246. 31 Zu Vergleichen und Verflechtungen vgl. etwa Jonathan W. Bell: Social politics in a transoceanic world in the early Cold War years, in: Historical Journal 53 (2010), S. 401– 421; Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought, Ithaca 2006; James T. Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870–1920, Oxford 1988; Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998; P. Rosanvallon, Gesellschaft (wie Anm. 30); für nationale Fallbeispiele etwa H. Berggren, Olof Palme (wie Anm. 15); P. Brandt, Arbeiterbewegung (wie Anm. 9); Ders., „Volksregierung“ (wie Anm. 9); Nancy Cohen: The Reconstruction of American Liberalism, 1865–1914, Chapel Hill 2002; N. Götz, Geschwister (wie Anm. 9); U. Lundberg / K. Åmark, Social Rights (wie Anm. 15); Jeppe Nevers: Reformism and „Nordic Democracy“. A Journey in Danish Political Thought, in: Jussi Kurunmäki / Johan Strang (Hg.): Rhetorics of Nordic Democracy, Helsinki 2010, S. 165–178; Monica Prasad: The Land of Too Much. American Abundance and the Paradox of Poverty, Cambridge 2012; F. Sejersted, Age (wie Anm. 9); L. Trägårdh, Nordic welfare state (wie Anm. 11); zum Wandel der letzten Jahrzehnte Daniel T.
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anglophonen Welt, die einen Nachhall der alten Sonderwegthese darstellen. Auch in der Weimarer Republik war die Diskussion nicht grundsätzlich anders, sofern bei ihrer genaueren Betrachtung die nationalen Semantiken sowie die argumentativen Kontexte berücksichtigt werden, in denen die Begriffe zum Einsatz kamen. 2. WIRTSCHAFTSPOLITIK IM DEMOKRATISCHEN KAPITALISMUS Das galt gerade für den Bereich der Wirtschaftspolitik. Auf diesem Feld habe sich die Republik zu beweisen, proklamierte im Juli 1919 Regierungschef Gustav Bauer, der kurz darauf erster Reichskanzler gemäß der neuen Reichsverfassung wurde: Es sei ein konstitutiver Akt der demokratischen Republik gewesen, auch das „Wirtschaftsleben“ umzugestalten, „weil politische Freiheit und wirtschaftliche Unterdrückung nicht miteinander vereinbar sind, weil Gleichheit und Freiheit nicht länger Redensarten bleiben dürfen“. In der Situation des Jahres 1919 hing die Verwirklichung dieser demokratischen Ideale vor allem von der Wirtschaftspolitik ab: „Dazu bedarf es eines Wirtschaftsprogramms, das nicht negativ in der Ablehnung der sogenannten ‚Planwirtschaft‘ bestehen darf, sondern positiv zu planvoller, zielklarer Wirtschaftspolitik führen muß.“32 Die vom Kabinett Bauer wenige Tage zuvor durchgesetzte Ablehnung einer begrenzten Planwirtschaft unter dem Namen „Gemeinwirtschaft“ war ein erster Schritt gewesen.33 Die Protagonisten, in deren Hand die „Erfindung“ und Ausgestaltung der neuen Wirtschaftspolitik lag, waren die effektivsten Sozial-Liberalen der Weimarer Republik. Vielen der Zeitgenossen war bewusst, dass die Legitimität des massendemokratischen Staates vor allem „von seiner sozialen und ökonomischen Leistungsfähigkeit abhing“, was die Kontroversen um die Wirtschaftspolitik zum zentralen Feld der Politik machte.34 Rodgers: Age of Fracture, Cambridge 2011; P. Rosanvallon, Gesellschaft (wie Anm. 30), S. 249–299; D. Stedman Jones, Masters (wie Anm. 17). 32 Sten. Ber. (wie Anm. 10), S. 1847f. 33 Vgl. Gerald D. Feldman: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, Oxford 1996, S. 153–155. 34 Gabriele Metzler: Der deutsche Sozialstaat. Vom Bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart 2003, S. 53; vgl. Dies.: Die sozialstaatliche Dimension der parlamentarischen Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit, in: A. Wirsching, Herausforderungen (wie Anm. 4), S. 205–232; G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 11; Werner Abelshauser: Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987, S. 147–170, bes. S. 169; Peter-Christian Witt: Staatliche Wirtschaftspolitik in Deutschland 1918–1923. Entwicklung und Zerstörung einer modernen wirtschaftspoli-
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Das Grundmotiv der sozial-liberalen Wirtschaftspolitik lässt sich so zusammenfassen: Sie strebte in erster Linie die Produktion und Verteilung von Wohlstand an, ihren ökonomischen Erwartungshorizont bildeten Wachstum, Vollbeschäftigung und das „amerikanische Wirtschaftswunder“.35 Einer kapitalistischen, liberalen Wirtschaftsordnung wollte die Wirtschaftspolitik auch ein soziales Korrektiv einfügen. So sollte ein liberaler demokratischer Kapitalismus entstehen. Wenn neben Begriffen wie Volkswirtschaft oder Gesamtwirtschaft also Gemeinwohlkonzepte auftauchen – so etwa „Gemeinwirtschaft“, „Volksgemeinschaft“36, „Volksgemeinwirtschaft“37 oder häufig „Allgemeininteresse“ –, dann ist dabei, um Irritationen entgegenzuwirken, der Bezug zur liberalen Demokratie zu beachten. Demokratie ist, worauf einer der bedeutendsten demokratischen und sozial-liberalen Denker der Weimarer Republik, Hermann Heller, hinwies, auf „soziale Homogenität“ angewiesen, auf politische Grundverständigungen und Grenzen sozialer Ungleichheit.38 Pierre Rosanvallon zufolge ist eine dreifache Gleichheit unverzichtbar für die Demokratie: eine soziale Welt der Gleichen und Ähnlichen, durch Ungleichheiten nicht Beeinträchtigten; eine Gesellschaft autonomer Individuen in gleichberechtigter Beziehung; und eine Gemeinschaft von Bürgern, die auf Solidarität in der politischen Teilhabe beruht.39 Zwar ist es verständlich, dass heutige Historiker in die Gemeinschaftsbegriffe der Zwischenkriegszeit immer schon den Antiliberalismus hineinlesen, wenn nicht gar den Wunsch nach ethnischer Homogenität und sozialer Exklusion.40 Unter Berufung auf Ferdinand Tönnies oder Helmuth Plessner wird dabei oftmals Gemeinschaft gegen Gesellschaft gestellt. Was diese jedoch kritisierten, war nicht der Gemeinschaftsbegriff, sondern der „soziale Radikalismus“, der eine imaginierte, gewaltsam zu schaffende Gemeinschaft tischen Strategie, in: Gerald D. Feldman u. a. (Hg.): Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1982, S. 151–179. 35 Vgl. Julius Hirsch: Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926. 36 Der Denkschrift von Rudolf Wissell (7.5.1919, in: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Scheidemann, Boppard am Rhein 1971, Nr. 63a, S. 280) zufolge war die Gemeinwirtschaft „die zugunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft“. 37 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (im Folgenden: BArch), R 3101/5840, fol. 50f, Schreiben an Feldbausch, 17.4.1919. 38 Hermann Heller: Politische Demokratie und soziale Homogenität [1928], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 421–433; zu Heller vgl. Marcus Llanque: Politik und republikanisches Denken: Hermann Heller, in: Hans J. Lietzmann (Hg.): Moderne Politik. Politikverständnisse im 20. Jahrhundert, Opladen 2001, S. 37–61. 39 Vgl. P. Rosanvallon, Gesellschaft (wie Anm. 30), S. 19. 40 Vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 11–13, 26–68, bes. S. 53, Anm. 84; T. Etzemüller, Romantik (wie Anm. 15), S. 17–19; T. Mergel, Dictatorship (wie Anm. 4), S. 424f, 428, 430f, 433, 447.
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verklärte. Die „Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist der politischen Theorie der Gegenwart nicht fremd; wie der „Kommunitarismus“ kennt auch der Liberalismus in vielen seiner Varianten nicht nur die vertraglichpluralistisch organisierte gesellschaftliche Sphäre, sondern gleichzeitig und mit ihr verwoben den Gemeinschaftsbezug des Individuums.41 Es kommt immer darauf an, um welche Formen der Vergemeinschaftung innerhalb von Gesellschaften es sich handelt; Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind miteinander verwobene Prozesse.42 In vielen Fällen wurden Gemeinschaftsbegriffe überhaupt nicht gegen den Begriff der Gesellschaft in Stellung gebracht. In Deutschland war in der Zwischenkriegszeit, wie Wolfgang Hardtwig und andere gezeigt haben, „Volksgemeinschaft“ zunächst ein sowohl sozialdemokratisches als auch bürgerlich-liberales Konzept der demokratischen Integration im republikanischen „Volksstaat“, eine Leitidee der Inklusion aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen.43 Selbst in der späten Republik, als die Nationalsozialisten bereits die „Okkupation und Pervertierung des demokratischen Volksgemeinschaftsgedankens“ betrieben,44 war der Begriff immer noch zu verstehen, ohne an Exklusion und Gewalt denken zu müssen.45 Kollektive Solidarität und individuelle Selbstbestimmung waren in der Weimarer Wirtschaftspolitik keine Gegensätze. Für ihre wirtschaftspolitischen Strategen gehörte beides zusammen. Ihre Gemeinwohlbegriffe entstammten 41 Vgl. als Wegweiser in die umfangreiche Diskussion etwa Nele Schneidereit: Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie, Berlin 2010; Wolfgang Essbach / Joachim Fischer / Helmut Lethen (Hg.): Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2002; Katharina Peetz, Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner, in: theologie.geschichte, Beiheft 1 (2010), S. 21–54; Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1993; M. Freeden, Languages (wie Anm. 20), S. 38–59. 42 Vgl. Klaus Lichtblau: „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S. 423–443. 43 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: D. Lehnert, Gemeinschaftsdenken (wie Anm. 4), S. 227–253; auch Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; N. Götz, Geschwister (wie Anm. 9); Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 159–186; Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. 44 W. Hardtwig, Volksgemeinschaft (wie Anm. 43), S. 247. 45 Vgl. etwa das Beispiel von Siegmund Warburg bei Niall Ferguson: High Financier. The Lives and Time of Siegmund Warburg, London 2011, S. 49f, 64–73, 79–82; auch W. Hardtwig, Volksgemeinschaft (wie Anm. 43), S. 252f; P. Nolte, Ordnung (wie Anm. 43), S. 170f.
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einer historischen Gemengelage unterschiedlicher Traditionen; sozialdemokratische, kathedersozialistische, preußisch-hegelianische, kriegerische, nationale und liberale Motive lassen sich finden. Nicht das exakte individuelle Mischungsverhältnis ist dabei von Interesse, sondern die Ausbildung einer sozial-liberalen administrativen Kultur und ökonomischen Strategie durch das wirtschaftspolitische Führungspersonal der Republik. Damit ist weniger die Verlängerung des Kathedersozialismus oder der Gedankenwelt Friedrich Naumanns in die Zwischenkriegszeit gemeint, auch wenn einiges davon eine Rolle spielte.46 Vielmehr wurde seit dem Ersten Weltkrieg der weitere Bezugsrahmen eines transnationalen Sozial-Liberalismus sichtbar.47 3. DIE INSTITUTIONALISIERUNG DES SOZIAL-LIBERALISMUS IM REICHSWIRTSCHAFTS MINISTERIUM Zur Abwehr des „gemeinwirtschaftlichen“ Kurses hatten wesentlich der sozialdemokratische Reichsernährungsminister Robert Schmidt und sein Staatssekretär Julius Hirsch beigetragen, zwei der wichtigsten, in ihren ökonomischen Ideen und Instinkten praktisch sozial-liberalen wirtschaftspolitischen Akteure der Republik.48 Sie übernahmen unmittelbar darauf das Reichswirtschaftsministerium, die Geburtsstätte moderner Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik. Moderne Wirtschaftspolitik bildete sich in vielen westlichen Demokratien in der Zwischenkriegszeit aus. Ihre Neuartigkeit ist vielfach betont worden. Dabei stechen theoretische und technische Fragen heraus. Das wirtschaftspolitische Selbstverständnis ging von der Prämisse aus, dass eine staatliche Regulierung der Volkswirtschaft notwendig war.49 Die Bedeutung des Staates 46 Vgl. etwa Wolfgang Hardtwig: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 289–356. 47 Vgl. etwa H. Brick, Capitalism (wie Anm. 31); D. Rodgers, Atlantic Crossings (wie Anm. 31); M. Freeden, New Liberalism (wie Anm. 30). 48 Vgl. G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 155, 165–188. 49 Vgl. etwa G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33); P.-C. Witt, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 34); Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, S. 33; K. Tribe, Strategies (wie Anm. 17) sowie Guy Alchon: The Invisible Hand of Planning. Capitalism, Social Science, and the State in the 1920s, Princeton 1985; William J. Barber: Herbert Hoover, the Economists, and American Economic Policy, 1921–1933, Cambridge 1985; Michael A. Bernstein: A Perilous Progress. Economists and Public Purpose in Twentieth-Century America, Princeton 2001, S. 7–90; Mary O. Furner / Barry Supple (Hg.): The State and Economic Knowledge. The American and British experiences, Cambridge 1990; Peter A. Hall (Hg.): The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations, Princeton 1989; Ellis Wayne Hawley: The New Deal
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für die kapitalistische Wirtschaft wurde nicht erst jetzt entdeckt, doch kam es in der Zwischenkriegszeit zur Ausformulierung dieses Denkens. Es beruhte auf seit längerem international verbreiteten makroökonomischen Annahmen. In dieser Hinsicht gehören die Diskussionen im Reichswirtschaftsministerium zur Geschichte dessen, was früher die „keynesianische Revolution“ genannt wurde.50 Adam Tooze hat gezeigt, welche Rolle die ökonomischen Experten des Statistischen Reichsamtes und seines Ablegers, des Instituts für Konjunkturforschung, in dieser internationalen Theoriebildung spielten.51 Von Keynes stammt die brillante theoretische Formulierung, der intellektuelle Prozess hatte zuvor begonnen. Dabei stand schon vor der Weltwirtschaftskrise von 1929/31 die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus und der liberalen Ordnung im Mittelpunkt. Keynes trat damals stärker auf dem Feld der politischen Interventionen hervor als auf dem der ökonomischen Theorie.52 Zwar war die akademische Nationalökonomie in der Weimarer Republik von dieser Revolution weitgehend abgeschnitten.53 Doch die politiknahen Bereiche und die Massenmedien gewannen an Relevanz und zogen junge Ökonomen an, von der Wirtschaftspublizistik und den Informationsdiensten über die Gewerkschaften, Unternehmen und Interessenverbände bis zum Staatsapparat.54 Das and the Problem of Monopoly. A Study in Economic Ambivalence, New York 1995; B. Jackson, Equality (wie Anm. 30), S. 117–147; R. McKibbin, Ideologies (wie Anm. 9), S. 197–227; Timothy Mitchell: Economists and the Economy in the Twentieth Century, in: George Steinmetz (Hg.): The Politics of Method in the Human Sciences. Positivism and its Epistemological Others, Durham 2005, S. 126–141; Daniel Ritschel: The Politics of Planning. The Debate on Economic Planning in Britain in the 1930s, Oxford 1997; Donald Winch: Economics and Policy. A Historical Survey, London 1972. 50 Vgl. etwa Roger E. Backhouse / Bradley W. Bateman: Capitalist Revolutionary. John Maynard Keynes, Cambridge 2011, bes. S. 41–45; Dies. (Hg.): The Cambridge Companion to Keynes, Cambridge 2006; Peter Clarke: The Keynesian Revolution in the Making, 1924–1936, Oxford 1990; Tyler Beck Goodspeed: Rethinking the Keynesian Revolution. Keynes, Hayek, and the Wicksell Connection, Oxford 2012; P. Hall, Power (wie Anm. 49); Lars Jonung (Hg.): The Stockholm School of Economics Revisited, Cambridge 1991; David Laidler: Fabricating the Keynesian Revolution. Studies of the Inter-war Literature on Money, the Cycle, and Unemployment, Cambridge 1999. 51 Vgl. A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 15f, 103–148. 52 Vgl. etwa R. E. Backhouse / B. W. Bateman, Revolutionary (wie Anm. 50), S. 47–75; G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 309–311; B. Jackson, Equality (wie Anm. 30), S. 120–123; Ross McKibbin: Political Sociology in the Guise of Economics. J. M. Keynes and the Rentier, in: English Historical Review 128 (2013), S. 78–106; Roman Köster: Vor der Krise. Die Keynes-Rezeption in der Weimarer Republik, in: Mittelweg 36, 22/3 (2013), S. 32–46; D. Stedman Jones, Masters (wie Anm. 17), S. 182–189. 53 Vgl. Roman Köster: Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011. 54 Vgl. Adam Tooze: The Crisis of Gelehrtenpolitik and the Alienated Economic Mind.
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Statistische Reichsamt nahm eine Schlüsselstellung ein. Den Auftrag dazu erhielt es jedoch vom Reichswirtschaftsministerium55, von dem auch grundsätzliche intellektuelle Impulse ausgingen. Das Interesse der Spitzenbeamten im Ministerium richtete sich jedoch auf die politische Praxis, nicht auf die wissenschaftliche Präzision.56 Der Staatssekretär und Wirtschaftsprofessor Julius Hirsch und seine Mitarbeiter waren von Anfang an „Keynesianer“ in ihrer politisch-ökonomischen Krisendeutung, ihrer Produktivitäts- und Nachfrageorientierung, ihrem Ziel der Stabilität und Vollbeschäftigung.57 Die 1917 als Reichswirtschaftsamt gegründete, seit Anfang 1919 als Reichswirtschaftsministerium bezeichnete oberste wirtschaftliche Reichsbehörde verfügte über ein intellektuell versiertes Personal, das praktische Problemlösung und wirtschaftspolitische Grundsatzdiskussion zu verbinden wusste.58 Wenn sich in den Quellen eine „Grundeinstellung“59 des Ministeriums Economists and Politics in Interwar Germany, in: Martin Daunton / Frank Trentmann (Hg.): Worlds of Political Economy. Knowledge and Power in the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2004, S. 189–216. 55 Vgl. A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 77–84, 105–122; Ders., Crisis (wie Anm. 54), S. 200–211. 56 Zumindest für die Etablierung der statistischen Apparate der Weimarer Republik wird die entscheidende Rolle Julius Hirschs auch deutlich bei A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 79–84. 57 Weshalb viele der alten Debatten in ein „intellectual dead end“ führten; A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 15. Verkannt wurde diese lange vor der 1929 beginnenden Krise etablierte, wenn auch in der Krise zunächst ignorierte politisch-ökonomische Perspektive des Reichswirtschaftsministeriums durch Harold James, der vom vermeintlichen Fehlen einer solchen Haltung der Ministerialbürokratie jedoch die angebliche Chancenlosigkeit „keynesianischer“ Politik abhängig macht; vgl. Harold James: What is Keynesian about Deficit Financing? The Case of Interwar Germany, in: P. Hall, Power (wie Anm. 49), S. 231–262, bes. S. 249. 58 Ein Blick in Überblicksdarstellungen und Forschungsberichte zeigt, dass die Weimarer Wirtschaftspolitik, insgesamt betrachtet und nicht nur in einzelnen Krisenmomenten, zu den wenigen eher vernachlässigten Seiten der Republik gehört. Die ältere Literatur – Friedrich Facius: Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard 1959; Walther Hubatsch: Entstehung und Entwicklung des Reichswirtschaftsministeriums 1880– 1933. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Reichsministerien. Darstellung und Dokumentation, Berlin 1978; Wilfried Berg: Reichswirtschaftsministerium, in: K. Jeserich / H. Pohl / G. Unruh, Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 23), S. 168–176 – ist lückenhaft und nicht ausreichend differenziert, und sie folgt einem unhaltbaren narrativen Schema: Den politisch verordneten gemeinwirtschaftlichen Exzessen der „Übergangswirtschaft“ setzten die klugen Beamten demnach bald einen klassischen, wirtschaftsfreundlichen Liberalismus entgegen, den sie auch über 1933 hinaus – letztlich erfolglos – aufrechtzuerhalten versuchten. Vgl. jedoch auch Paul Adloff: Das Reichswirtschaftsministerium unter besonderer Berücksichtigung seiner Mitwirkung an der Gesetzgebung, Borna-Leipzig 1931. 59 BArch, R 3101/9930, fol. 225–237, Lautenbach, Lage: Unsere taktische Stellung in der Reparationspolitik, Oktober 1929.
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zeigt, dann sollen damit weder die internen Gegenstimmen noch der Prozess ausgeblendet werden, in dem sich dieses Denken verfertigte. Gerade die Divergenzen, repräsentiert durch vereinzelte proindustrielle Beamte,60 durch Anhänger gemeinwirtschaftlicher Ideen, die sich schnell liberalisierten,61 oder durch einen nicht-republikanisierten Personalchef Mitte der zwanziger Jahre,62 lassen die immer stabilere Etablierung der sozial-liberalen politischökonomischen Denkmuster, für die Hirsch stand, umso deutlicher erkennen.63 Die relevante Personengruppe ist überschaubar. Kriegswirtschaftsbedingt hatte das neue Amt 1918 etwa 1.600 Mitarbeiter, in der Mitte der zwanziger Jahre nur noch etwa 200; die höheren Beamten und Angestellten machten einen kleinen Teil davon aus.64 Einige führende Mitarbeiter stammten aus den neuen Behörden der Kriegsjahre, vor allem dem Kriegsernährungsamt, das die Aufsicht über Teile der Wirtschaft und die Preiskontrolle ausgeübt hatte. Robert Schmidt, den seine Mitarbeiter „Bobby“ nannten und der eine „nach Westen ausgerichtete Politik“ vertrat, und Julius Hirsch hatten zuvor diese Behörde geleitet.65 Neben Schmidt, der dreimal das Amt bekleidete, gehörte der Liberale Eduard Hamm, der später im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein Leben ließ, zu den überzeugten Demokraten in der Position des Wirtschaftsministers.66 Jüngere Mitarbeiter wurden mitunter direkt von ihren 60 Siehe BArch, R 3101/5746, fol. 240, v. Buttlar an die Sektionen und Generalreferate der Abteilung II, 5.8.1920; R 3101/5822, fol. 47–50, Sektionsleiterbesprechung vom 12.8.1920, 18.8.1920; vgl. Erinnerungen Hans Schäffers an Ernst Trendelenburg. Dokumentation, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 865–888 (im Folgenden: H. Schäffer, Erinnerungen), hier S. 871. 61 Vgl. Hans Staudinger: Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen 1889 bis 1934, hg. und eingel. von Hagen Schulze, Bonn 1982, S. 26–29, 32; H. Schäffer, Erinnerungen (wie Anm. 60), S. 870–874; Eckhard Wandel: Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886–1967, Stuttgart 1974, S. 26, 40, 52, 55–59. 62 Vgl. H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 35f. 63 „Hirsch’s thinking“ in ökonomischer Hinsicht ist knapp charakterisiert bei G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 259, als „commitment to maintaining the primacy of private economic initiative and organization with just that measure of state control and influence necessary to place national above private economic interests“. 64 Vgl. W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 21, 34, sowie die Geschäftsverteilungspläne, ebd., S. 62–125; BArch, R3101/5837, fol. 3–28, Haushalt des RWM für das Rechnungsjahr 1920; fol. 250–269, Haushalt für das Rechnungsjahr 1921; R 3101/5820, fol. 163–166, Geschäftsverteilungsplan des RWM, 1.1.1922; Hans Schäffer: Die Problematik der kapitalistischen Gegenwart, in: Bernhard Harms (Hg.): Kapital und Kapitalismus. Vorträge, gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Berlin 1931, Bd. 1, S. 38–52, hier S. 43f. 65 H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 30; vgl. ebd., S. 19, 21–25, 27f, 30f; G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 143–155; H. Schäffer, Erinnerungen (wie Anm. 60), S. 874, 881f. 66 Vgl. W. Hardtwig, Geschichtskultur (wie Anm. 46), S. 313–355, bes. S. 320, 326–336;
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Vorgesetzten angeworben.67 Politische Neigungen wiesen vorwiegend in die linke Mitte.68 Ungeachtet ihrer Präferenzen pflegten die führenden Beamten ein überparteiliches Amtsethos, das Raum ließ für die publizistische Artikulation der abweichenden „Privatmeinung“.69 Diese intellektuell anregende Gruppe, die aus unterschiedlichen Regionen und sozialen Milieus stammte, hat in ihrem Ministerium die preußisch-deutsche Beamtentradition liberalisiert und „fundamentalrepublikanisiert“.70 Das Reichswirtschaftsministerium trug die Verantwortung für die Koordination der Wirtschaftspolitik. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf die Vorbereitung und Abstimmung von Verordnungen und Gesetzentwürfen. Ihren Anspruch auf Federführung in der Wirtschaftspolitik bekräftigten Schmidt
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H. Schäffer, Erinnerungen (wie Anm. 60), S. 876f, 882; H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 34f. Vgl. W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 28f, 34; H. Schäffer, Erinnerungen (wie Anm. 60), S. 869–873; Ders.: Meine Zusammenarbeit mit Carl Melchior, in: Carl Melchior. Ein Buch des Gedenkens und der Freundschaft, Tübingen 1967, S. 36–106, hier S. 67; H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 19, 27f; E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 26f, 28f, 31f, 40. Zu nennen wären neben den Staatssekretären Hirsch (1882–1961) und Ernst Trendelenburg (1882–1945) die Namen Hans Staudinger (1889–1980), Hans Schäffer (1886– 1967) und unter etlichen anderen die ihrer Mitarbeiter Cora Berliner (1890–1942), Alexander (1885–1963) und Hanns-Joachim Rüstow (1900–1994), Wilhelm Lautenbach (1891–1948) oder den noch im Bundeswirtschaftsministerium tätigen Paul Josten (1883–1974). Staudinger zog 1932 für die SPD in den Reichstag ein und ging nach kurzer Verhaftung 1933 ins Exil; vgl. H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 108–141; ebenso emigrierten Hirsch, Schäffer und Alexander Rüstow. Cora Berliner wurde deportiert und ermordet. Hanns-Joachim Rüstow verließ das Ministerium, Lautenbach und Josten blieben nach 1933 im Ministerium. Hirsch und Trendelenburg waren die beiden Staatssekretäre, die zwischen der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung und dem Sturz Brünings diese Stellung einnahmen. Hirsch schied aus dem Amt, weil er den außenpolitischen Kurs der Cuno-Regierung für eine Gefährdung seiner Stabilisierungs- und Reparationspolitik hielt. Trendelenburg war unter zwölf Ministern Staatssekretär. Vgl. etwa BArch, R 3101/8412, Hirsch an Schmidt, 21.11.1922; G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 489–491; W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 32, 46f; H. Schäffer, Erinnerungen (wie Anm. 60), S. 874–876; H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 30–32; E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 28, 51f, 59f. Siehe etwa BArch, R 3101/5851, fol. 29–32, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 28.10.1920, 13.11.1920. Vgl. zur „stillen Republikanisierung“ der Deutschnationalen T. Mergel, Kultur (wie Anm. 4), S. 323–331; zum „Republikanisierungsprozess“ des Bürgertums Otto Kirchheimer: Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung [1930], in: Ders.: Politik und Verfassung, Frankfurt a. M. 1964, S. 9–56, hier S. 19; siehe auch die personalpolitische Zielvorgabe: Wirtschaftspolitische Richtlinien des Reichswirtschaftsministers, 19.9.1919, in: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Bauer, München 1980, Nr. 65, S. 268.
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und seine Beamten immer wieder.71 Im Reichswirtschaftsministerium, dessen Verwaltungslast geringer war als die anderer Ministerien, konnte über die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen grundsätzlicher nachgedacht werden.72 Nicht die ökonomische Umgestaltung, sondern die politische Integration der Republik stand dabei für Schmidt im Vordergrund seiner „Wirtschaftsleitung“. Die Sicherung des „sozialen Friedens“ durch eine wachstumsfördernde und interessenausgleichende Aufsicht über die „Gesamtwirtschaft unseres Volkes“ war seine Priorität, auf „übereilte Experimente“ wollte er verzichten.73 Diese Wirtschaftspolitik war Stabilisierungspolitik; sie verfolgte Stabilisierung durch „politics of productivity“, um durch Produktivität den Wohlstand zu fördern sowie soziale und politische Konflikte zu entschärfen, wie die klassischen Arbeiten von Gerald Feldman oder Charles Maier gezeigt haben; Stabilisierung und Produktivität gehörten zu den internationalen politischen Grundbegriffen seit dem Ersten Weltkrieg.74 Der Konsens über ökonomisches Wachstum – in den zeitgenössischen Begriffen „Wirtschaftlichkeit“, „Produktivität“ und „Produktionssteigerungen“ – zum Zwecke des 71 Vgl. etwa Schmidt, Rede vor dem Zentralverband des Deutschen Großhandels in Hamburg, 2.10.1919, in: Zum Programm des Reichswirtschaftsministeriums, Berlin 1919, wieder in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 51–55. Die Maßnahmen anderer Ministerien müssten „den allgemeinen wirtschaftspolitischen Grundsätzen, die vom Reichswirtschaftsministerium federführend […] aufgestellt werden, entsprechen“; BArch, R 3101/5840, fol. 50f, [Flach oder Brecht] an Feldbausch, 17.4.1919. Grundsätzlich etwa auch: R 3101/5847, fol. 5, Der Reichswirtschaftsminister (Staatssekretär Hirsch) an sein Haus, 25.8.1919; R 3101/5862, fol. 107f, Reichswirtschaftsminister Schmidt an Unterstaatssekretär Hirsch und alle Abteilungsdirektoren und -dirigenten, 24.4.1920; R 3101/5860, fol. 361f, Schmidt an die Herren Abteilungsdirektoren und Sektionsleiter, 6.10.1921. 72 Vgl. auch etwa G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 137–150, 153–155, 165–168, 170–173, 258–260; E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 59; H. Schäffer, Zusammenarbeit (wie Anm. 67), S. 67; H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 27f. 73 Schmidt, Rede, 2.10.1919, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 51, 54. 74 Produktivität ist das wirtschaftspolitische Leitmotiv bei G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 164–171, 175, 195f, 207, 252f; Charles S. Maier: In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 178f (von dieser Stelle aus sowie im Lichte der Erkenntnisse Feldmans müssten die Thesen zur „politics of productivity“ und Stabilisierung ebd., S. 121–184, teilweise eine Vordatierung erfahren); Stabilization. Hearings before the Committee on Banking and Currency House of Representatives, 69. und 70. Kongress, 3 Bde., Washington 1927–28, mit dem gesetzlichen Auftrag, „to promote the stability of commerce, industry, agriculture, and employment“. Siehe etwa BArch, R 3101/5840, fol. 120–135, Brecht (Sektionsleiter), Ausführlicher Bericht über das Arbeitsgebiet der Sektion III/4, 25.7.1919; Schmidt, Rede, 2.10.1919, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 52; vgl. auch BArch, R 3101/5749, fol. 66f, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 6.5.1920, 10.5.1920, wo auch interne Differenzen sichtbar werden.
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gesellschaftlichen Wohlstands, der „Prosperität“, die sich in der „Konsumkraft“ der Bevölkerung zeigte, bildete den ökonomischen Horizont der wirtschaftspolitischen Akteure im Reichswirtschaftsministerium. Dabei wurde die deutsche Wirtschaft in ihren internationalen Verflechtungen betrachtet und der „Wiederaufbau einer einheitlichen Weltwirtschaft“ begrüßt; die ökonomische Entwicklung anderer Länder, vor allem der Vereinigten Staaten, wurde als potentielles Vorbild beobachtet.75 Darüber hinaus verfolgten die Politiker und hohen Beamten der Republik mit ihrer programmatischen Integration von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik das Ziel, die „politische Systemstabilität durch wirtschaftliche Stabilität zu garantieren, das heißt die politische Demokratie durch ökonomische Maßnahmen abzusichern“.76 Die Weimarer Republik erwies sich auch in dieser Hinsicht als ein Laboratorium der sozial-liberal fundierten Demokratie – wobei hier nur die Vorstellungen, „die das Handeln leiten, das Feld des Möglichen durch das des Denkbaren begrenzen und den Rahmen für Kontroversen und Konflikte abstecken“, im Mittelpunkt stehen.77 Die Irrelevanz der ökonomischen Doktrinen und die Notwendigkeit, die Wirtschaftspolitik aus der Praxis zu entwickeln, betonte der sozialdemokratische Realpolitiker Eduard David.78 Wo Anregungen aus der ökonomischen Theorie in die auf politische Herausforderungen reagierende Wirtschaftspolitik einflossen, wurden 75 Siehe etwa, um nur symptomatisch einige wenige aus einer Menge von Belegen aufzugreifen: Wirtschaftspolitische Richtlinien des Reichswirtschaftsministers, 19.9.1919, in: Kabinett Bauer, Nr. 65, S. 260–268; BArch, R 3101/5851, fol. 29–32, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 28.10.1920, 13.11.1920; R 3101/5837, fol. 107f, v. Buttlar an die Sektionen II/1 bis II/9, 25.2.1921; R 3101/5932, fol. 6, Wochenbericht, 13.7.1920; R 3101/5932, fol. 72, Ruelberg [einer der Rationalisierungsexperten des Ministeriums] an Sektion I/6, 9.8.1921, mit beigefügter Denkschrift, fol. 74–90; R 3101/5934, fol. 3–9, Leiter II/9 an v. Buttlar, 30.11.1920; R 3101/21253, fol. 234–242, Bericht über die Wirtschaftslage im April an den Reichspräsidenten, Unterzeichner Staatssekretär Hirsch, 29.5.1922; R 3101/5820, fol. 163–166, Geschäftsverteilungsplan des RWM, 1.1.1922; R 3101/7607, fol. 41–58, Die Wirtschaftslage im Mai [1924]; R 3101/7606, fol. 69–89, Die weltwirtschaftliche Entwicklung nach dem Kriege, 14.7.1924; unter den Publikationen vgl. etwa die beiden programmatischen Reden von Reichswirtschaftsminister Schmidt und Unterstaatssekretär Hirsch, wieder in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 51–61; Hans Schäffer: Neue Tendenzen in den wirtschaftlichen Organisationen der Gegenwart, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 48 (1920/21), S. 761–768; die produktivistische Vision erreichte einen Höhepunkt bei J. Hirsch, Wirtschaftswunder (wie Anm. 35) und blieb auch in der Krise noch erhalten: Julius Hirsch: Die Wirtschaftskrise, Berlin 1931; H. Schäffer, Problematik (wie Anm. 64), S. 38, 40, 51f. 76 P.-C. Witt, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 34), S. 160f. 77 Pierre Rosanvallon: Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen. Antrittsvorlesung am Collège de France, Donnerstag, den 28. März 2002, in: Mittelweg 36, 20/6 (2011), S. 43–66, hier S. 56; vgl. D. J. K. Peukert, Weimarer Republik (wie Anm. 1), S. 11, 266–271. 78 Vgl. Kabinettssitzung, 8.7.1919, Anlage, in: Kabinett Bauer, Nr. 20, S. 94.
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diese den liberalen Klassikern Adam Smith und David Ricardo entnommen oder zeitgenössischen Denkern wie Keynes, Irving Fisher und Gustav Cassel, nicht der deutschen nationalökonomischen Tradition.79 Schmidt und Hirsch wollten einen neuen Realismus ins Ministerium bringen. Aus der Sicht maßgeblicher Ministerialbeamter fügte sich das Ensemble unterschiedlicher, mitunter widersprüchlicher Maßnahmen zu einer kohärenten Wirtschaftspolitik.80 Das zeigt auch der Begriff der Wirtschaftspolitik, der zeitgenössisch durchaus changierte. Selbst bei einem so zentralen Protagonisten wie Hirsch, der auch nach seinem Rücktritt weiterhin als Regierungsberater und Referenzpunkt diente, findet sich gelegentlich noch eine Verwendung, die lediglich die politische Vertretung ökonomischer Interessen anzeigte.81 Vorherrschend wurde jedoch die Bedeutungsschicht, die in der Wirtschaftspolitik ein Element des integrierten Politikfelds Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik erkannte; sogar mehr als das, nämlich den Kern der Politik. Wirtschaftspolitik war demnach der mit ihr verbundenen Sozial- und Finanzpolitik vorgelagert. Sozialpolitik war in Deutschland aus der Nationalökonomie hervorgegangen und ohne das Ökonomische nicht denkbar, auch wenn sie in der Gegenwart der mittleren zwanziger Jahre das Ökonomische in der öffentlichen Vorstellung zu überlagern drohte. Aus der Sicht Hirschs ergab es keinen Sinn, über Sozialpolitik zu reden und dabei von der Wirtschaftspolitik zu schweigen. Wirtschaftspolitik war die Voraussetzung der Sozialpolitik, in der sich die moderne Demokratie verwirklichte. Die Konsequenz, die sich daraus ziehen lässt, ist offenkundig: Wirtschaftspolitik, wie Hirsch sie verstand und verfolgte, war die Voraussetzung der Demokratie. Das deuten auch die Kontexte des Begriffs und seiner Entsprechungen wie „Wirtschaftsgestaltung“, „Wirtschaftslenkung“, „Wirtschaftsleitung“, „Wirt79 Vgl. Julius Hirsch: Deutsche Wirtschaftswissenschaft und -Praxis im letzten Menschenalter, in: Moritz Julius Bonn / Melchior Palyi (Hg.): Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, Bd. 2: Der Stand der Forschung, München 1925, S. 147– 197, hier S. 149f, 151, 153f, 157–159, 162–164, 191; siehe etwa auch BArch, R 3101/7606, fol. 69–89, Die weltwirtschaftliche Entwicklung nach dem Kriege, 14.7.1924. 80 Vgl. etwa J. Hirsch, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 79), S. 158f; H. Staudinger, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 61), S. 27f; E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 35, 55f. 81 Vgl. J. Hirsch, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 79), S. 187f; zu Hirschs Tätigkeit als Professor und Berater nach 1923 vgl. u.a. Ders.: Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsdemokratie, Berlin 1925; Ders.: National and International Monopolies from the Point of View of Labour, the Consuming Public, and Rationalisation. Submitted to the Preparatory Committee for the International Economic Conference, Genf 1926; Ders.: Neues Werden in der menschlichen Wirtschaft, Jena 1927; Ders., Wirtschaftskrise (wie Anm. 75).
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schaftstechnik“, „Wirtschaftsbeeinflussung“ oder „planmäßige Wirtschaft“ an. Diese und ähnliche Begriffe standen immer im Zusammenhang mit dem „Allgemeininteresse“. Allgemeininteresse und „Gemeinwohl“ waren dabei zuerst auf Deutschland und seine ökonomische „Selbsterhaltung“ bezogen, aber ein ökonomischer Nationalismus findet sich nicht. Immer wieder wurde der Vorteil sowohl des freien Welthandels als auch der international erfolgreichen Sozialpolitik betont, die zu einem sozialen Kapitalismus führte. Den Liberalismus nannte Hirsch die größte „Freiheitsströmung der Menschheit“. Konstruktive ökonomische Konkurrenz sollte für immer den „Verzicht auf die Waffengewalt“ festschreiben. Dem Nationalismus, selbst in der harmloseren Gestalt des „englischen wirtschaftlichen Anleihe-Nationalismus“, wurde eine Absage erteilt. Den Versailler Vertrag und die anderen Friedensverträge von 1919 lobte Hirsch als Dokumente, die „wohl zum erstenmal in der Weltgeschichte“ den „internationalen Willen zur Sozialpolitik“ widerspiegelten.82 4. LIBERALISMUS UND „PLANMÄSSIGE WIRTSCHAFT“ Die Wirtschaftsplanung oder „planmäßige Wirtschaft“ stand dezidiert im Gegensatz zur Planwirtschaft nicht-liberaler Ökonomien, sowohl in ihrer gemeinwirtschaftlichen als auch in ihrer bolschewistischen Form.83 Die Diskussion des Planungsbegriffs hat sich bislang eher auf intellektuelles Schrifttum der radikalen Linken und Rechten konzentriert.84 Die „planmäßige Wirtschaft“ war jedoch sozial-liberaler Mainstream, sie kennzeichnete die den „Erfordernissen der neuesten Wirtschaftsentwicklung“ entsprechende Wirtschaftspolitik; sie war kein deutsches Sonderphänomen, sondern kam „im Weltausmaß“ zum Einsatz. Ihr standen „alle wirksamen Hilfs- und Heilmittel des freien ebenso wie des gebundenen Marktes“ zur Verfügung. Sicherung der „Menschheitsbereicherung“ und „Steigerung des Massenkonsums“ wurden damit angestrebt, langfristig die Milderung der Konjunkturzyklen 82 J. Hirsch, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 79), S. 149–151, 153f, 160–164, 166f, 168, 186, 190f, 195; vgl. auch Ders., Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81), S. 3, 5, 19, 21; Ders., Werden (wie Anm. 81); BArch, R 3101/5749, fol. 108–111, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 30.9.1920, 9.10.1920; R 3101/5840, fol. 120– 135, Brecht (Sektionsleiter), Ausführlicher Bericht über das Arbeitsgebiet der Sektion III/4, 25.7.1919; Programm, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 56f, 61 (Hirsch vor Pressevertretern). Ökonomischer Nationalismus ist dagegen ein Leitmotiv bei Adam Tooze: The German National Economy in an Era of Crisis and War, 1917– 1945, in: H. Walser Smith, Oxford Handbook (wie Anm. 4), S. 400–422. 83 Programm, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 56 (Hirsch). 84 Vgl. etwa A. Doering-Manteuffel, Ordnung (wie Anm. 18); D. Gosewinkel, Diktatur (wie Anm. 19); G. Metzler / D. van Laak, Konkretion (wie Anm. 19); anders jedoch Werner Plumpe: Rathenau als Planwirtschaftler, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 7/1 (2013), S. 105–114.
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oder „das Geheimnis ewiger Konjunktur“ nach amerikanischem Vorbild, wo „eine Politik der Eindämmung der Konjunkturschwankungen“ – bei grundsätzlicher Unvermeidlichkeit von Fluktuationen – mit einigem Erfolg betrieben wurde.85 Eine ganz ähnliche Entwicklung vollzog sich fast gleichzeitig in den Debatten, die britische Ökonomen, Politiker, Gewerkschafts- und Industrievertreter um die „politics of economic planning“ führten. Eine jahrzehntelange intellektuelle Diskussion war vorausgegangen. Die Dogmen der konkurrierenden Lager machten schließlich einem „keynesianischen“ Kompromiss Platz, der begrenzte staatliche Eingriffe in die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit den politischen Zielen der Vollbeschäftigung und der sozialen Stabilisierung im Modus eines unideologischen Experimentierens verband.86 Den amerikanisch-britisch-deutschen Sozial-Liberalismus attackierte 1926 bereits Mises, der darin eine Bedrohung seines rein kapitalistisch definierten, auf dem ausschließlich privaten Eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Liberalismus sah.87 Im selben Jahr fand Keynes, als Publizist und Propagandist eines sozialen Kapitalismus auch in der deutschen sozialdemokratischen Presse begrüßt, für die sozial-liberale Konvergenz von „Liberalism“ und „Labour“ seine Formel: „economic efficiency, social justice, and individual liberty“.88 Die Parallelen unter den Demokratien der Zwischenkriegszeit sind offenkundig. Im Zentrum der Politik, die sich auch in Anlehnung an Mises, Keynes oder Kirchheimer89 sozial-liberal nennen lässt, stand die Suche nach einer neuen kapitalistischen Ordnung, die gemeinwohlorientierte Erwartungen der Massendemokratie aufnahm, ohne den ökonomischen und politischen Liberalismus preiszugeben. In den Vereinigten Staaten wurde seit den zwanziger Jahren an einem 85 Programm, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 56f, 59–61 (Hirsch); J. Hirsch, Wirtschaftskrise (wie Anm. 75), S. 10, 12f, 78f; H. Schäffer, Problematik (wie Anm. 64), S. 40, 52; BArch, R 3101/7607, fol. 69–77, Die weltwirtschaftliche Entwicklung nach dem Kriege, 14.7.1924; fol. 213–284, Die Weltwirtschaftslage im Frühjahr 1925, 7.3.1925; vgl. zu Keynes’ gleichzeitiger Auffassung R. E. Backhouse / B. W. Bateman, Revolutionary (wie Anm. 50), S. 62f. 86 Vgl. D. Ritschel, Politics (wie Anm. 49), S. 14–16, 329, 335–345. 87 Vgl. L. Mises, Sozialliberalismus (wie Anm. 17), bes. S. 244f, 250f, 253f, 256, 277f; einer der Autoren der hier von Mises insbesondere kritisierten Brentano-Festschrift war Julius Hirsch. 88 John Maynard Keynes: Liberalism and Labour, in: Collected Writings, Bd. 9: Essays in Persuasion, London 1972, S. 307–311, hier S. 311; vgl. auch Keynes’ sogleich ins Deutsche übersetzten Vortrag: Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, München 1926; zu dessen sozialdemokratischer Aneignung Gregor Bienstock: Die Mauserung des Kapitalismus, in: Vorwärts, 1.8.1926; im Gegensatz dazu die Kritik von Mises, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 82 (1927), S. 190f; zu Keynes als Publizist in Deutschland R. Köster, Krise (wie Anm. 52). 89 O. Kirchheimer, Weimar (wie Anm. 70), S. 154, Anm. 8.
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wissenschaftsgestützten „social capitalism“ gearbeitet, der mit staatlicher Unterstützung von professionellen Standesorganisationen koordiniert werden sollte.90 Diesem Kapitalismuskonzept entsprach in der Weimarer Demokratie die „planmäßige Wirtschaft“, deren Rahmen die Wirtschaftspolitik setzte. In der kurzen Zeit, die der Republik blieb, wurden diese Konzepte bereits ansatzweise in die Praxis übertragen. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörten: die Propagierung und Förderung von Rationalisierung, Modernisierung und Statistik;91 Ansätze der Konjunkturpolitik und Konsumstimulierung;92 die international vorbildhafte Kartellpolitik;93 die strategische Nutzung von Staatsbetrieben;94 oder die „korporatistische“ Selbstverwaltung der „Wirtschaftssubjekte“, die den politischen Vorrang des Parlaments nicht aufhob.95 In diesem Beitrag stehen allerdings nicht die praktischen Maßnah90 Vgl. etwa G. Alchon, Hand (wie Anm. 49); W. J. Barber, Hoover (wie Anm. 49); Robert W. D. Boyce: British Capitalism at the Crossroads, 1919–1932. A Study in Politics, Economics and International Relations, Cambridge 1987; H. Brick, Capitalism (wie Anm. 31); Ellis W. Hawley: The Great War and the Search for a Modern Order. A History of the American People and Their Institutions 1917–1933, New York 1992, S. 7–96; B. Jackson, Equality (wie Anm. 30); D. Ritschel, Politics (wie Anm. 49); Patrick Reagan: Designing America. The Origins of New Deal Planning, 1890–1943, Amherst 1999; Jason Scott Smith: Building New Deal Liberalism. The Political Economy of Public Works, 1933–1936, Cambridge 2006. 91 Siehe etwa BArch, R 3101/5934, fol. 3–9, Leiter II/9 (Ruelberg) an v. Buttlar, 30.11.1920; fol. 10–16, Die Hebung der Wirtschaftlichkeit der gewerblichen und industriellen Produktion, 6.12.1920; G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33), S. 181; vgl. A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 76–102; Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994. 92 Siehe etwa BArch, R 3101/7607, fol. 41–51, Bericht über die Lage der Einzelindustrien in den Monaten Oktober 1923–März 1924, Anhang; vgl. A. Tooze, Statistics (wie Anm. 49), S. 129–134, 142–145; Fritz Blaich: Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung. Von der Erwerbslosenfürsorge zur Konjunkturpolitik, Kallmünz 1977; HakIe Kim: Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik. Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930–1932/33, Berlin 1997. 93 Siehe etwa BArch, R 3101/5749, fol. 108–111, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 30.9.1920, 9.10.1920; Verordnung gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen vom 2.11.1923, RGBl. 1923, S. 1067–1070, mit Berichtigung (gez. Schäffer) ebd., S. 1090; vgl. E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 68–71; zum internationalen Vorbild erklärte die deutsche und die amerikanische Kartellgesetzgebung J. Hirsch, Monopolies (wie Anm. 81), S. 16–19. 94 Vgl. etwa Hans Staudinger: Der Staat als Unternehmer, Berlin o. J. [1932], S. 101– 119; Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a. M. 1977, S. 580–583. 95 Siehe etwa BArch, R 3101/5767, fol. 2–11, Niederschrift über die Sitzung, betreffend den Entwurf eines vorbereitenden Reichswirtschaftsrats, 17.11.1919; R 3101/5851, fol. 29–32, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 28.10.1920, 13.11.1920; fol. 38–42, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung vom 8.9.1921, 14.9.1921; Programm, in: W. Hubatsch, Entstehung (wie Anm. 58), S. 60f (Hirsch); Hans Schäffer: Der vorläufige Reichswirtschaftsrat und seine Kritiker, in: Recht und Wirtschaft
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men, sondern die handlungsleitenden Vorstellungen der Wirtschaftspolitik im Vordergrund, es geht um die sozial-liberale Eroberung der „intellektuellen Machtverhältnisse“.96 Die Basis dieser wirtschaftspolitischen Konzeptionen stellte eine gewissermaßen „keynesianische“ ökonomische Analyse dar, die die wiederkehrenden Krisen der deutschen Wirtschaft schon Anfang der zwanziger Jahre auf zwei nicht mehr durch konjunkturelle Selbstreinigung lösbare strukturelle Probleme zurückführte: zum einen auf den Zusammenbruch der Nachfrage und zum anderen auf die nicht ausreichende Kapitalbildung, die zu fehlenden oder falschen Investitionen führte. In diese Analyse floss die Vorstellung eines sozial-liberal gezähmten Kapitalismus ein: Hirsch zufolge ging es immer auch um die „wirtschaftlichen und sozialen Grundanschauungen“, die den Menschen und seine Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückten; wichtiger als die „Erhaltung des wirtschaftenden Betriebes“ war letztlich „die des wirtschaftenden Menschen“. Der Staatssekretär erklärte zur „Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Produktion“ folglich „die gemeinschaftliche Kapitalbildung [für] notwendig“.97 Das Vorbild der ökonomischen Entwicklung, die aus den Deutschen ein Volk von Kleinkapitalisten machen sollte, war Amerika. So war auch die liberale Kultur zu stärken: Wie bei Keynes, der in seiner Publizistik der zwanziger Jahre eine Moralphilosophie des Kapitalismus entwarf, kam dem Individuum der Vorrang vor der Ökonomie zu; die wirtschaftliche Produktivität zielte auf Höheres als „Geldliebe“, nämlich auf individuelle Entfaltung.98 Die DDP hielt entsprechend Achtstundentag 10/7 (1921), S. 141–143; vgl. W. Abelshauser, Korporatismus (wie Anm. 34); W. Hardtwig, Geschichtskultur (wie Anm. 46), S. 335f; Ders., Volksgemeinschaft (wie Anm. 43), S. 248f; Andrea Rehling: Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011, S. 41–192; E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 44–50; die hier überall betonte und belegte Versöhnbarkeit von Parlamentarismus, Liberalismus und Korporatismus ist kritisch einzuwenden gegen die Grundthese von Charles S. Maier: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy after World War I, Princeton 1988, S. 581. 96 J. Hirsch, Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81), S. 22. 97 BArch, R 3101/5749, fol. 108–111, Niederschrift über die Sektionsleiterbesprechung am 30.9.1920, 9.10.1920; vgl. J. Hirsch, Wirtschaftswunder (wie Anm. 35); Ders., Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81), S. 21, 18f, 14–17; vgl. Ders., Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 79), S. 184; vgl. E. Wandel, Schäffer (wie Anm. 61), S. 43; zur Krisenanalyse siehe etwa BArch, R 3101/21253, fol. 234–242, Bericht über die Wirtschaftslage im April, 29.5.1922; R 3101/7607, fol. 41–51, 59–62, Bericht über die Lage der Einzelindustrien in den Monaten Oktober 1923–März 1924, Anhänge. Für die gleichzeitige und vorbildhafte Entwicklung in den USA vgl. Julia C. Ott: When Wall Street met Main Street. The Quest for an Investors’ Democracy, Cambridge 2011. 98 Vgl. R. E. Backhouse / B. W. Bateman, Revolutionary (wie Anm. 50), S. 55–75; John Maynard Keynes: Economic Possibilities for our Grandchildren [1930], in: Ders.: Collected Writings, Bd. 9, S. 321–332.
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und Freizeit für unabdingbar im Hinblick auf die Ausbildung einer liberalen „Persönlichkeitskultur“.99 Der Diskussion dieser Fragen hat es geschadet, dass der in der Weimarer Republik entwickelte integrative Ansatz einer sozial-liberalen Wirtschaftspolitik in der Forschung bislang wenig beachtet wurde. Seit über dreißig Jahren haben sich Deutungsmuster gehalten, die das Politische konsequent unterschätzen sowie Politik und Wirtschaft in einer unhistorischen Dichotomie gegeneinanderstellen. Mit welcher theoretischen Position auch immer untermauert, wird diese Antithese der Komplexität der Zeit nicht gerecht. Diese Deutung gipfelt im Topos der „Überforderung“ der Weimarer Demokratie, der mit unterschiedlichen Vorzeichen auch von Gegnern in den historiographischen Auseinandersetzungen verwendet wird.100 Ihre Initialzündung erhielt diese Debatte durch einen Vortrag Knut Borchardts mit dem Untertitel „Zur Revision des üblichen Geschichtsbildes“.101 Die Diskussion dieser Revision erfolgte jedoch weitgehend auf dem Terrain der Wirtschaftsgeschichte und nach ihren eigenen Regeln.102 Von der Handlungsmacht der Politik blieb am Ende nur wenig übrig.103 Zahlen erzeugen eine Aura der Wahrheit, doch sind sie, von ihrer Erhebung angefangen, nicht weniger umstritten und interpretationsbedürftig als jedes andere historische Artefakt. Den Weimarer Krieg um die Zahlen hat Adam Tooze rekonstruiert; seine Berechnungen decken sich dabei eher mit denen der Regierungsstellen als mit denen der Unternehmerverbände. Wie Julius Hirsch in den zwanziger Jahren kritisiert Tooze die deutsche Obsession der Außenhandelsbilanz.104 99 W. Hardtwig, Volksgemeinschaft (wie Anm. 43), S. 242f. 100 Vgl. Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008; Juergen von Kruedener: Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 358–376; Ursula Büttner: Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über „ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase von Weimar, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 209–252. 101 Knut Borchardt: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982, S. 165–182. 102 Vgl. etwa Jürgen Kruedener (Hg.): Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1934–1933, New York 1990. 103 In extremer und aktueller Zuspitzung etwa im Interview mit Werner Plumpe: Warum wird der Kapitalismus nicht geliebt?, in: Frankfurter Rundschau, 7.1.2013; vgl. zum Topos der Alternativlosigkeit und der Verweigerung politischer Handlungsmacht bereits kritisch D. J. K. Peukert, Weimarer Republik (wie Anm. 1), S. 14 mit Anm. 7; G. Schulz, Demokratie (wie Anm. 4), Bd. 2: Deutschland am Vorabend der Großen Krise, Berlin 1987, S. 19–23. 104 Vgl. Adam Tooze: Trouble with Numbers. Statistics, Politics, and History in the Construction of Weimar’s Trade Balance, 1918–1924, in: American Historical Review 113 (2008), S. 678–700; J. Hirsch, Wirtschaftswissenschaft (wie Anm. 79); Ders., Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81).
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Die Zahlen, die der Revision zugrunde lagen, sind mittlerweile in Teilen selbst von Wirtschaftshistorikern korrigiert worden, die Borchardt nahestanden; die Löhne waren in der Weimarer Republik wohl kaum zu hoch.105 Der Kategorienfehler jedoch, auf dem die Diskussion beruhte, ist erst durch Petra Weber aufgedeckt worden. Verhandelt wurden argumentative Konstruktionen, deren rhetorische Funktion unterschlagen wurde. Bis der gesellschaftliche Grundkompromiss am Ende der Republik gezielt zerstört wurde, stand die Wirtschaftspolitik der Republik auf einem relativ stabilen Fundament.106 Mangelhafte Quellenkritik führte dazu, dass ökonomische Interessenkonflikte mit politischen Zwangslagen verwechselt wurden. Bereits die Lektüre von Julius Hirsch hätte hier Klarheit schaffen können: Nicht nur den Mythos des Außenhandelsdefizits unterzog er einer beißenden und treffenden Kritik, sondern auch die in einen Objektivitätsschleier gekleideten Interessenartikulationen der Arbeitnehmerverbände in Fragen wie Verkehrsleistungen, industrielle Produktivität, statistische Vergleichbarkeit der Jahre 1913 und 1924, Lohnniveau, Steuerpolitik und Kapitalbildung. Für ihn, dessen Sinn für eine liberale Streitkultur geschärfter war als der mancher Historiker, handelte es sich bei diesen Stellungnahmen um Interventionen auf dem „Kampfboden“ der „Demokratie“.107 Die sozial-liberale Strategie war eine Innovation der Weimarer Demokratie: Sozialpolitik – zunehmend übernommen von bürgerlichen Parteien, die sogar die Arbeitslosenversicherung einführten – und Wirtschaftspolitik gehörten zusammen. Gemeinsam mit dem Sozialstaat ist die Errichtung seiner ökonomischen Basis als politisches Ziel in den Blick zu nehmen; der Realitätssinn der zeitgenössischen Protagonisten darf nicht ignoriert werden. Ein 105 Vgl. etwa etliche Beiträge in: Harold James (Hg.): The Interwar Depression in an International Context, München 2002; zur Lohnhöhe am Anfang der Republik auch Carsten Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Stuttgart 2011, bes. S. 215; bezeichnend der Perspektivwechsel bei Niall Ferguson: Paper and Iron. Hamburg business and German politics in the era of inflation, 1897–1927, Cambridge 1995, S. 419–433, machte noch eine inflationäre republikanische Wirtschafts- und Sozialpolitik für die Zerstörung der bürgerlichen Zivilisation verantwortlich, während N. Ferguson, High Financier (wie Anm. 45), S. 28–97, nun zeigt, wie groß bis zum Ende die Chancen der Demokratie und die Bereitschaft einiger Unternehmer waren, für die Erhaltung der Republik auch Opfer zu bringen. 106 Bis 1932 waren die Basiskompromisse der Republik nicht völlig aufgelöst, und auch danach hätte die Möglichkeit bestanden, daran wieder anzuknüpfen; vgl. P. Weber, Sozialpartnerschaft (wie Anm. 4), etwa S. 816–819, 915–925, 963–972. Nach dieser monumentalen Studie lässt sich weder der Hinweis auf die einseitig gewerkschaftsfreundliche staatliche Rolle bei Tarifverhandlungen aufrechterhalten, noch waren die Löhne oder Lohnnebenkosten massiv überhöht. Es handelte sich um ein Problem des politischen Willens, weniger des ökonomischen Profits; vgl. W. Abelshauser, Korporatismus (wie Anm. 34), S. 169; P.-C. Witt, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 34), S. 162, Anm. 26. 107 J. Hirsch, Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81), S. 21f.
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Urteil über die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats auf wenige Jahre Mitte oder Ende der zwanziger Jahre zu gründen, ist kaum überzeugend. Die Möglichkeit langfristig positiver makroökonomischer Konsequenzen, worauf die vergleichende Forschung über Wohlfahrtsstaaten hinweist, wurde nicht berücksichtigt.108 Infolgedessen hat sich die Rede von der Überforderung gehalten, was dem Sozialen, wenn man es vom Ökonomischen trennt, einen Zug des Irrealen verleiht. Wer Weimar nicht vom Ende her sehen will, muss dieses Geschichtsbild revidieren und das Feld der Wirtschaftspolitik wieder für die Geschichte der Politik, der politischen Visionen, der Demokratie und des Liberalismus reklamieren. Denn in diesen politischen Zusammenhang, das ist auch die Lektion der britischen oder amerikanischen Forschung, gehört die Wirtschaftspolitik.109 5. SCHLUSSBEMERKUNGEN Man könnte diese Interpretation, die für eine andere Sicht auf die Zwischenkriegszeit plädiert, in einigen provisorischen Thesen zusammenfassen und weiter zuspitzen:110 1. Der Sozial-Liberalismus war der Liberalismus des 20. Jahrhunderts. Die fundamentale ideologische Spaltung fand innerhalb des Liberalismus selbst statt. Am Ende dieses Prozesses übernahm der nicht-soziale Liberalismus, der immer mehr allein die Marktfreiheit, die Freiheit des individuellen ökonomischen Akteurs gegenüber Eingriffen des Staates, zum Inbegriff der Freiheit erklärte, die Funktion des Konservatismus.111 108 Die meisten Zahlen, die kursieren, bewegen sich auf einem international vergleichbaren Niveau. Ökonomische Lasten können nicht abgeschätzt werden, ohne die Kriegsfolgen und die Kostenersparnis durch die sozialen Stabilisierungsleistungen stärker zu veranschlagen. Unberücksichtigt blieb bislang, dass im Einklang mit der neueren vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung die Annahme berechtigt erscheint, dass es langfristig durch Arbeitslosenversicherung, Gesundheitswesen, Wohnungsbau und andere sozialpolitische Maßnahmen wohl zu positiven ökonomischen Effekten gekommen wäre, die notwendige Investitionen in „Humankapital“ ebenso wie in Industrie und Hochtechnologie erleichtert hätten; vgl. etwa Isabela Mares: Macroeconomic Outcomes, in: F. G. Castles u. a., Oxford Handbook (wie Anm. 11), S. 539–551; zeitgenössische Ansätze zu solchen Deutungen stellen etwa Gerhard Colms Arbeiten zur Steuerverwendung dar; vgl. Wolfram Hoppenstedt: Gerhard Colm. Leben und Werk (1897–1968), Stuttgart 1997, S. 44f. 109 Statt vieler Titel: D. Ritschel, Politics (wie Anm. 49); J. S. Smith, New Deal Liberalism (wie Anm. 90). 110 Vgl. jedoch auch die in eine ähnliche Richtung zielenden Beiträge von Jens Hacke, Marcus Llanque und Philipp Müller in diesem Band. 111 Vgl. etwa H. Brick, Capitalism (wie Anm. 31), S. 219–246; A. Burgin, Great Persuasion (wie Anm. 17); D. Stedman Jones, Masters (wie Anm. 17); Ben Jackson / Ro-
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2. Der Sozial-Liberalismus wurde sowohl intentional von handelnden Personen als auch funktional als Folge von apparativen Logiken sowie von politischen, sozialen und ökonomischen Problemstellungen hervorgebracht, seine Entwicklung wurde also sowohl gezielt betrieben als auch von einer gleichsam unsichtbaren Hand befördert. Das Modell des „amerikanischen Wirtschaftswunders“ (Hirsch) stand für diesen sozial-liberalen Horizont. Dieser Liberalismus, der Marktregulierung und Institutionen der Sozialpolitik für notwendig hielt, um sowohl die kapitalistische Ordnung als auch die individuelle Selbstbestimmung zu erhalten,112 bildete sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zwar in erster Linie apparativ und situativ aus. Zugleich wurde dieses strukturelle Moment jedoch durch die politische Reflexion der Beteiligten intensiviert. Freiheit und Gleichheit galten dabei nicht als gegensätzliche, sondern als komplementäre Ziele. 3. Der Sozial-Liberalismus stellte eine transnationale Neuerung dar, die eine historisch spezifische Wechselbeziehung von Freiheit und Gleichheit einleitete, indem sie in einem – graduell wechselnden – Maß von Gleichheit eine notwendige Bedingung der Freiheit erkannte. In der innovativen Verbindung von Staat (in Gestalt eines Systems kollektiver, institutioneller Sicherungen) und Individuum (mit den normativen Zielen individueller Freiheit und politischer Partizipation) wurde der Sozial-Liberalismus zugleich zur (ideologischen wie praktischen) Triebkraft und zum (normativen) Korrektiv des demokratischen Wohlfahrtsstaates. 4. Einen wesentlichen Transnationalisierungsfaktor oder eine wesentliche Bedingung der Konvergenz stellten die im Krieg gemachten Erfahrungen und geweckten Erwartungen dar. Dabei handelte es sich um die wesentlichen Ausgangsbedingungen, die bei allen Unterschieden im Detail in vielen Gesellschaften ähnlich waren. Der Sozial-Liberalismus jedoch ist kein Kriegsprodukt, sondern das Ergebnis des politischen Umgangs mit diesen Problemen und Effekten nach dem Krieg, der demokratischen Konsensstiftungen, des republikanischen Regierens. 5. Angesichts der Massenprobleme in der Massendemokratie der Nachkriegsgesellschaften wurde ein Handlungsfeld für den Sozial-Liberalismus wichtiger als alle anderen, weil auf diesem Gebiet die angestrebte Vermittlung von Freiheit und Gleichheit beginnen und gelingen musste – die Wirtschaft. In der westlichen Welt kam nach dem Ersten Weltkrieg die Vorstellung vom Primat der Wirtschaftspolitik auf. In den Worten von John Maynard Keynes standen der „Weltfrieden“ und die „Zivilisation“ bert Saunders (Hg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012; die Entwicklung entsprach einer seit der Französischen Revolution beobachteten Dynamik der Grenzverschiebungen von links und rechts; vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft (wie Anm. 2), S. 196. 112 Vgl. R. E. Backhouse / B. W. Bateman, Revolutionary (wie Anm. 50), S. 47–75.
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auf dem Spiel; sie waren an den „wirtschaftlichen Wiederaufbau“ Europas und die Erneuerung der kapitalistischen „Wirtschaftsorganisation“ geknüpft.113 Auch Walther Rathenaus Formel „Die Wirtschaft ist das Schicksal“ bezog sich auf diesen konkreten Kontext der Nachkriegsstabilisierung.114 Wirtschaftspolitik war dabei Wirtschaftspolitik im Kapitalismus; nicht die Umgestaltung, sondern die Reform des Wirtschaftssystems wurde angestrebt.115 Ohne die Sicherung der materiellen Lebensbedingungen war das soziale wie ideologische Gebäude des Sozial-Liberalismus den eigenen Prämissen zufolge zum Einsturz verdammt. Die Wirtschaft konnte nicht sich selbst überlassen bleiben, Selbstregulierung war unmöglich. Doch damit war nicht grundsätzlich Staatslenkung der Wirtschaft gemeint, sondern lediglich, dass Wirtschaft Gegenstand politischer Aufsicht wurde. Als Liberalismus bestimmte der Sozial-Liberalismus die Eingriffstiefe des Staates in die Wirtschaft eher fallweise und nach Notwendigkeit. Doch Pathosformeln zur Beschwörung der Freiheit genügten in dieser Lage nicht. Der Staat musste aktiv werden und ökonomische Aufgaben übernehmen. Der Sozial-Liberalismus musste die Tauglichkeit seines Ansatzes, seiner Verbindung von Freiheit und Gleichheit, zuerst in der Wirtschaft beweisen; er musste über einen auf die massendemokratische Gesellschaft zugeschnittenen Begriff des Ökonomischen und über eine Wirtschaftspolitik verfügen. 6. Das alles, um es verkürzt und zugespitzt zu sagen, war allerdings ideengeschichtlich nichts völlig Neues, so neu die historischen Konstellationen auch waren. Dieses Denken, das in den neuen Kontexten aktualisiert wurde, findet sich in Grundzügen bereits bei Adam Smith, zumindest in der Lesart von Emma Rothschild, Michael Ignatieff, Istvan Hont und anderen.116 Der Sozial-Liberalismus war in diesem Sinne die Aktualisierung 113 John Maynard Keynes: Economic Consequences of the Peace, London 1919, wieder in: Ders.: Collected Writings, Bd. 2, London 1988; die deutsche Übersetzung, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, Berlin 1920, besorgte der bekannte liberale Ökonom und Publizist Moritz Julius Bonn; zit. nach der gekürzten Neuausgabe: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, Berlin 2006, S. 130f, 134, 145. Zu Bonn vgl. Jens Hacke: Moritz Julius Bonn – ein vergessener Verteidiger der Vernunft. Zum Liberalismus in der Krise der Zwischenkriegszeit, in: Mittelweg 36, 19/6 (2010), S. 26–59. 114 Rede Rathenaus vor dem Reichsverband der Deutschen Industrie am 28. September 1921 in München, in: Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage. Bericht über die dritte Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Heft 17), Berlin 1921, S. 12–20, hier S. 20. 115 Vgl. für die politische Praxis G. Feldman, Disorder (wie Anm. 33); für die Ideengeschichte H. Brick, Capitalism (wie Anm. 31). 116 Vgl. Emma Rothschild: Economic Sentiments. Adam Smith, Condorcet, and the Enlightenment, Cambridge 2001; Istvan Hont / Michael Ignatieff (Hg.): Wealth and Virtue. The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge
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des Smithianischen Liberalismus unter den Bedingungen der Massendemokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Oder noch zugespitzter: Der SozialLiberalismus stellte in dieser Hinsicht eine Art Wiedervereinigung von politischen Traditionen und Strategien des Liberalismus und des Republikanismus oder, im deutschen Kontext, von Liberal- und Sozialdemokratie dar.117 7. Wachstum und Vollbeschäftigung, so sehr sie sich in die produktivistische Entwicklung der Zeit fügten, waren folglich nicht allein Selbstzweck. Ökonomische Integration wurde von einigen der wirtschaftspolitischen Protagonisten auch als eine Grundlage und Voraussetzung politischer Partizipation betrachtet.118 Die Neuerfindung des liberalen Kapitalismus unter staatlicher Aufsicht und die Neuerfindung der liberalen Demokratie unter den Bedingungen der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie – die doppelte Signatur des Sozial-Liberalismus der Zwischenkriegszeit, auch in der Weimarer Republik – war ungeachtet der Zerstörung der deutschen Demokratie bald in anderen westlichen Demokratien von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Wer heute die angelsächsische Wirtschaftspresse liest, vernimmt erneut diese Botschaft: Man müsse den Kapitalismus zähmen, regulieren, sozial gerechter machen, damit er überleben kann. Der Sozial-Liberalismus ist ein Modell mit großer Vergangenheit, ganz gleich, welchen Namen man ihm gab und gibt. Doch auch der SozialLiberalismus ist stets gefährdet, muss permanent neu erfunden, errungen und verteidigt werden, muss sich immer wieder korrigieren und auf sein Ziel der Ermöglichung individueller Freiheit für alle besinnen – und was, wenn nicht das, ist typisch für den Liberalismus?
1983; I. Hont: Jealousy of Trade. International Competition and the Nation-State in Historical Perspective, Cambridge 2010; auch Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1980; zur Kombinationsfähigkeit der politischen Sprachen von Republikanismus und Liberalismus die Weiterentwicklung eigener Thesen bei John G. A. Pocock: Between Gog and Magog. The Republican Thesis and the „Ideologia Americana“, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 325–346. 117 Die Klage über den Verlust der radikal-demokratischen Dimension des Liberalismus trat in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, wobei das demokratisch-republikanische Vorbild eher die skandinavischen Monarchien und Großbritannien (das John Adams eine „monarchical republic“ getauft hatte) waren als die französische Republik; vgl. Wolfgang Mager: Art. Republik, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004, Bd. 5, S. 549– 651, hier S. 592, 629–648; auch W. Hardtwig, Geschichtskultur (wie Anm. 46), S. 289, 294–298; M. Freeden, Languages (wie Anm. 20), S. 38–59. 118 Vgl. etwa J. Hirsch, Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 81), S. 17, 19, 20–23; J. Harris, Beveridge (wie Anm. 24), S. 478–498.
DER WEIMARER LINKSLIBERALISMUS UND DAS PROBLEM POLITISCHER VERBINDLICHKEIT. Volksgemeinschaft, demokratische Nation und Staatsgesinnung bei Theodor Heuss, Hugo Preuß und Friedrich Meinecke Marcus Llanque 1) DIE SUCHE NACH EINEM LINKSLIBERALEN VERSTÄNDNIS VON VOLKSGEMEINSCHAFT Zu den Hintergrundannahmen aller Demokratietheorien, die freilich nicht immer expliziert werden, zählen solche über das „Volk“, das in der Demokratie herrschen soll: So charakterisiert einer der führenden Autoren auf diesem Feld, Robert Dahl, den Umstand, dass zwar immer vom Volk die Rede, selten aber ein Begriff hiervon entwickelt wird.1 Das Spektrum, wie der „Volks“-Begriff auszulegen sei, war selten weiter gespannt als in der Phase der Weimarer Republik. Wenn ein Teil der historischen Forschung behauptet, die Nation habe sich spätestens im Ersten Weltkrieg als maßgebliches politisches Deutungsmuster durchgesetzt,2 so wird man ergänzen müssen, dass die Weimarer Debatte angesichts nicht enden wollender Auseinandersetzungen über Rasse, Gemeinschaft, Masse, Volk, Volksgemeinschaft und Nation eher durch einen anhaltenden Kampf um Deutungshegemonie gekennzeichnet war als durch das Vorwalten eines alleinigen hegemonialen Deutungsmusters. Folglich war es gerade der Umstand, dass die Nation sich nicht als dominante politische Idee durchgesetzt hatte, welcher Linksliberale in Weimar irritieren sollte. Nach Kriegsende gab sich zwar eine Nationalversammlung eine Verfassung und setzte die Republik durch. Aus linksliberaler Sicht hatte man mit der Republikgründung das verwirklicht, was man im Weltkrieg und davor „Volksstaat“ genannt hatte. Theodor Heuss definierte in seinem Politik-Lexikon schlicht, Volksstaat sei die demokratische Republik.3 Aber die Wähler zogen das zu Beginn des Jahres 1919 so eindrucksvoll erteilte Mandat in den Wah1 Robert A. Dahl: Democracy and its Critics, New Haven/London 1989, S. 3. 2 Vgl. Christian Jansen / Henning Borggräfe: Nation, Nationalität, Nationalismus, Frankfurt/M. 2007, S. 32, im Anschluss an Ernest Gellner: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1991, S. 58. 3 Theodor Heuss: Politik. Ein Nachschlagebuch für Theorie und Praxis, Halberstedt 1928 (Vorwort datiert auf Juni 1927), S. 80.
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len von 1920 wieder zurück, und den Politikern der DDP wurde schmerzhaft bewusst, dass sie offenbar die Wahlbevölkerung falsch eingeschätzt hatten in Hinblick auf deren Verständnis von Nationalstaat und Demokratie. Die Idee der Nation bewegte sich bereits vor Ausbruch des Weltkrieges auf einem sehr breit gefächerten diskursiven Feld, in welchem sich zahlreiche Begriffe von ihr tummelten, die teilweise schwer miteinander vereinbar waren, teilweise im Gegensatz zueinander standen.4 Politische Ideen sind hierbei als langwellige, diachrone Diskurse verstanden. Sie stehen in einem komplexen Prozess der Rezeption, Adaption und Interpretation und werden in synchronen Diskursen in Gestalt von konkreten Begriffen aktualisiert. Die Idee der Nation in deutschen Debatten des Kaiserreichs und im Weltkrieg bewegte sich zwischen einem kulturell-historischen Begriff und einem völkisch-rassischen. Ein erheblicher Teil der Forschung zur Idee der Nation im Kaiserreich konzentriert sich auf den völkisch-rassischen Begriff.5 Dieser fand nicht nur im Alldeutschen Verband viel Fürsprache,6 sondern leitete teilweise übergangslos ins Völkische über.7 Man spricht hier oft vom radikalen Nationalismus, was die Frage aufwirft, was ein nicht-radikaler Begriff der Nation zu dieser Zeit bedeutete. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass es auch im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik weiterhin eine liberale Beschäftigung mit der Idee der Nation gab.8 Der Linksliberalismus stand in Weimar vor der Aufgabe der Adaption seiner Grundbegriffe an die neuen Verhältnisse. Die Nachkriegszeit stellte eine ganz andere ideenpolitische Konstellation dar als das Kaiserreich oder der Weltkrieg. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, dass linksliberale Autoren sich intensiv mit dem Begriff der Volksgemeinschaft beschäftigten. 1920 hielt Theodor Heuss eine Rede mit dem Titel „Der demokratische Staat und die Volksgemeinschaft“ und sprach darin von dem Gefühl der geistigen und sachlichen Schicksalsgebundenheit.9 Ein Jahr später verwendete Fried-
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Für Überblicke siehe Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Ch. Jansen / H. Borggräfe, Nation (wie Anm. 2). Julia Schmid: Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und im Deutschen Reich 1890–1914, Frankfurt/M. 2009; Peter Walkenhorst: Nation, Volk, Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Göttingen 2007. Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890–1939, Hamburg 2003. Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. Moritz Föllmer: Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002. Theodor Heuss: Der demokratische Staat und die Volksgemeinschaft, Rede auf dem 2. ordentlichen Parteitag der DDP 1920, in: Bericht über die Verhandlungen des 2. or-
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rich Meinecke den Begriff vor dem Hintergrund des Märzaufstandes.10 Demnach ist die Volksgemeinschaft mehr als nur ein „nützliche[r] Zweckverband der Lebenden“; vielmehr beinhaltet sie die Verpflichtung, die durch Niederlage und Friedensvertrag gegenwärtig aufgebürdeten Lasten gemeinsam zu tragen. 1924 veröffentlichte Hugo Preuß das Buch „Um die Reichsverfassung von Weimar“, das mit einem „Volksgemeinschaft?“ überschriebenen Kapitel beginnt, worin von den „Lebensinteressen der nationalen Gemeinschaft“ die Rede ist sowie von der Suche nach einer „politisch lebenskräftigen Volksgemeinschaft“.11 Heuss, Preuß und Meinecke waren keineswegs Einzelstimmen im Linksliberalismus. Die DDP nutzte den Ausdruck der Volksgemeinschaft sogar offiziell in ihren frühen Wahlaufrufen und warb beispielsweise im Wahlkampf 1924 mit dem Satz: „Demokratie heißt Überwindung des Klassenkampfgedankens durch Volksgemeinschaft.“12 Die prominente Verwendung des Ausdrucks „Volksgemeinschaft“ durch linksliberale Autoren wirkt zunächst befremdlich und erklärungsbedürftig. Aus heutiger Sicht wird jener Begriff überwiegend mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht – einerseits als besonders prominenter Bestandteil der nationalsozialistischen politischen und sozialen Sprachpraxis, mittlerweile aber auch als ein Ansatz in der historischen Erforschung zum Verständnis des Gesamtkomplexes, den wir Nationalsozialismus und Drittes Reich nennen.13 Wie erklärt sich daher der linksliberale Gebrauch dieser Vokabel? „Volksgemeinschaft“ findet in fast allen politischen Lagern der Weimarer Zeit Verwendung,14 auch Republikaner bedienten sich zu ihrer Selbstdentlichen Parteitages der DDP, Nürnberg vom 11.–14. Dezember 1920, Berlin 1921, S. 218–232. 10 Friedrich Meinecke: Der demokratische Staat und die Volksgemeinschaft, Abdruck des Manuskriptes samt der Auslassungen aus der Druckfassung in: Ders.: Politische Schriften und Reden, Gesammelte Werke, Bd. II, Darmstadt 1958, S. 320–324. 11 Hugo Preuss: Um die Reichsverfassung von Weimar, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Vierter Band: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, hg. u. eingel. v. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 367–438, hier S. 372–375. 12 Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. „Volksgemeinschaft“ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Ders. / Frank Bajohr (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009, S. 24–40 und 190–194, hier S. 29. 13 F. Bajohr / M. Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm. 12); Detlef SchmiechenAckermann (Hg.): „Volksgemeinschaft“. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012; Dietmar von Reeken / Malte Thiessen (Hg.): ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013. 14 Vgl. Gunther Mai: „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg.
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beschreibung dieser Vokabel15, ebenso staatliche Stellen schon im Jahr 1919.16 Die Vokabel konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Ideengeschichte zurückblicken:17 Sie reicht von deutschen John Locke-Übersetzungen über Schriften so unterschiedlicher Autoren wie Friedrich Schleiermacher und Friedrich Carl von Savigny bis hin zu Theodor Herzl. Norbert Götz kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass der Begriff nicht „a priori im nationalsozialistischen Sinne determiniert war“, auch wenn die Nationalsozialisten den Deutungskampf gegen die demokratische und liberale Auslegung des Ausdrucks schließlich gewannen. Aus Götz’ Sicht wäre es möglich gewesen, diesen Deutungskampf für die demokratische und liberale Seite zu entscheiden, wenn letztere sich den Begriff „vorbehaltloser politisch angeeignet und nachhaltiger im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses als Grundlage der pluralistischen Demokratie geprägt“ hätten.18 Dieser Ansicht steht die Auffassung von Paul Nolte gegenüber, die „Propagierung“ der Volksgemeinschaft durch Republikaner hätte es verhindert, dass man sich von der nationalsozialistischen Zielutopie eindeutig genug distanzieren konnte und dass somit kein „gedanklicher Sperrriegel“19 gegen die sozialen Versprechen der Nationalsozialisten errichtet werden konnte, mithin die nationalsozialistische Auffassung der Volksgemeinschaft sich nur in ihrer rassischen Aufladung von der Begriffsverwendung bei den Republikanern unterschied. Wenn nun die Verwendung der Volksgemeinschaft selbst dort, wo sie stärker inklusiv als exklusiv gemeint war, eine Distanz zu einem „westlich-liberalen“ Konzept von Demokratie anzeigte,20 wie kam es, dass auch der Linksliberalismus sich dieser Vokabel bediente? Aus der Sicht der auf soziale Faktoren abstellenden Sozialhistorie ist die Gemeinschaftsrhetorik Ausdruck einer „sozialharmonischen“ Hoffnung der
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Wirkung – Wahrnehmung – Analyse, München 1994, S. 583–602; Thomas Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1938, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127; M. Wildt, Ungleichheit (wie Anm. 12). Zur republikanischen Verwendung des Ausdrucks Volksgemeinschaft: Paul Nolte: Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 170f; Nikolai Wehrs: Demokratie durch Diktatur? Meinecke als Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik, in: Gisela Bock / Daniel Schönpflug (Hg.): Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 95–118, hier S. 98f. Zentrale für Heimatdienst (Hg.): Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, Berlin 1919, hierzu: Norbert Götz, Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft im synchronen und diachronen Vergleich, in: D. Schmiechen-Ackermann, „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 13), S. 55–68, hier S. 58. N. Götz, Volksgemeinschaft (wie Anm. 16), S. 57f. Ebd., S. 67. P. Nolte, Ordnung (wie Anm. 15), S. 171. M. Wildt, Ungleichheit (wie Anm. 12), S. 34.
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Überwindung des Klassenkonflikts, die Verwendung des Ausdrucks „Volksgemeinschaft“ signalisiert demnach die „Verheißung einer spannungsfreien Nation“ und ist damit als „Chimäre“ entlarvt.21 Erlagen auch Linksliberale dieser Chimäre? Auch wenn man kaum behaupten wird, dass jede Verwendung des Ausdrucks Volksgemeinschaft einen Nationalsozialismus avant la lettre indiziert, so stellt sich durchaus die Frage, ob auf linksliberaler Seite die Verwendung des Volksgemeinschafts-Begriffs nicht auf eine kollektivistisch geprägte Argumentation hindeutet, die auf Emotionen und damit irrationale Faktoren abzielt – Aspekte, die unvereinbar mit liberalem Denken zu sein scheinen. 2) VOLKSGEMEINSCHAFT UND POLITISCHE VERBINDLICHKEIT Hier wird die Erklärung vorgestellt, dass es sich bei dem Gemeinschaftsbegriff in Weimar im Allgemeinen und im Linksliberalismus im Besonderen um einen Begriff aus dem Bereich der politischen Verbindlichkeit handelt. Debatten um politische Verbindlichkeit thematisieren die tatsächlichen, erhofften oder unterstellten Bindungen zwischen Menschen, die erst politisches Handeln ermöglichen. Zugleich konstituieren sie die öffentlichen Rahmenbedingungen, innerhalb welcher tatsächliche Bindungen praktiziert werden, weshalb sich die „empirischen“ politischen Bindungen in einer Bevölkerung nicht eindeutig von ihrer diskursiven Konstitution trennen lassen. Begriffe wie Volk, Rasse oder Nation, aber auch Verfassung, Demokratie oder Republik dienten der Modellierung von Grenzen zwischen Personengruppen. Immer ging es um die Frage, Vorschläge zu machen, anhand welcher Gesichtspunkte Personen ihre Interessen ausrichten sollten und wem gegenüber ihre Loyalität, Solidarität und Verpflichtung zu gelten hatte. Man kann diese Deutungskämpfe ungeachtet der dabei verwendeten Semantik als Debatten um die Festlegung politischer Verbindlichkeit zusammenfassen. Die gesamte Sprache zur Festlegung von politischer Verbindlichkeit changiert dabei zwischen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit.22 Mitgliedschaftliche 21 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 345, Nolte folgend: S. 1045. 22 Marcus Llanque: On constitutional membership, in: Petra Dobner / Martin Loughlin (Hg.): The Twilight of Constitutionalism: Demise or Transmutation?, London 2010, S. 162–178; Ders.: Populus und Multitudo: das Problem von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in der Genealogie der Demokratietheorie, in: Harald Bluhm / Karsten Fischer / Marcus Llanque (Hg.): Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, S. 19–38; Ders.: The Concept of Citizenship between Membership and Belonging, in: Katja Sarkowsky / Rainer-Olaf
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Bindungen lassen sich nach rationalen Gesichtspunkten einrichten, oft durch Festlegungen in Gestalt von Rechten und Pflichten; Bindungen, deren Verpflichtungskraft aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe behauptet wird, haben stärker affektive Züge, besitzen dadurch aber eine oft intensivere Bindungskraft. Nicht jeder, der den Ausdruck „Volksgemeinschaft“ verwendet, befindet sich im völkischen Diskurs der Volksgemeinschaft oder teilt die damit verbundene Sozialutopie. Es muss vielmehr geklärt werden, was mit einem Ausdruck argumentativ transportiert werden soll, und dies setzt die Einbeziehung der spezifischen diskursiven Konstellation des Gebrauchs ein. Man muss von der Prozesshaftigkeit eines solchen Deutungskampfes fortwährender Festlegungen ausgehen.23 In den Weimarer Deutungskämpfen war bereits der Ausdruck „Bevölkerung“ kein harmloser unverbindlicher Begriff, sondern Gegenstand eines politischen Gestaltungswillens, nach welchen Maßstäben sich Menschen orientieren sollten.24 Der argumentative Sinn der Begriffsarbeit trägt im politischen Sprachgebrauch vor allem den Charakter der Konkurrenz zu anderen begrifflichen Verwendungen derselben Idee. Weil bestimmte Ideen in bestimmten Situationen die Funktion haben, mobilisierend, organisierend, orientierend zu wirken, sind sie so stark umkämpft. Im Folgenden soll ausgehend von der Verwendung des Begriffs der Volksgemeinschaft bei den Linksliberalen Heuss, Preuß und Meinecke gezeigt werden, dass die linksliberale politische Theorie der Weimarer Zeit mit dem Problem der politischen Verbindlichkeit rang. Das klassische Modell politischer Bindung im deutschen Liberalismus war die Nation. Die Zugehörigkeit zur Nation sollte Gewähr dafür bieten, dass die angesprochenen Personen verbunden genug sind, um hierauf politisch verbindliches Kollektivhandeln zu gründen. Staatlichkeit galt hier als der Gipfel der durch diese Zugehörigkeit erreichten kollektiven Handlungsfähigkeit. Verwirklichte das Kaiserreich den liberalen Traum des Nationalstaates auf der Grundlage der nationalen Zugehörigkeit, so war die mitgliedschaftliche Bindung dagegen zu gering ausgeprägt, jedenfalls aus der Sicht vieler Linksliberaler. Die konsequente Demokratisierung sollte den „Volksstaat“ verwirklichen.25 In dieser Forderung hatten Preuß, Meinecke und Heuss während des Krieges übereingestimmt, Schultze / Sabine Schwarze (Hg.): Migration – Regionalization – Citizenship: Comparing Canada and Europe, Wiesbaden 2015, S. 101–126. 23 Für das Beispiel des Bürgerbegriffs vgl. Geoff Ely / Jan Palmowski (Hg.): Citizenship and National Identity in 20th Century Germany, Stanford 2008, S. 20. 24 Rainer Mackensen / Jürgen Reulecke (Hg.): Das Konstrukt Bevölkerung vor, im und nach dem Dritten Reich, Wiesbaden 2005. 25 Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Mit anderen Akzenten: Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003.
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keineswegs aus tiefster Überzeugung bezüglich der Vorbildhaftigkeit der Idee der Demokratie, aber aus dem Gedanken heraus, dass die Nation durch die Demokratie ihren adäquaten politischen Ausdruck finden konnte. Meinecke war diesbezüglich anfänglich der zögerlichste der drei Autoren. War der Volksstaat im Krieg ausgeblieben, so schien er mit der Weimarer Republik verwirklicht. In der Nachkriegszeit stellten sich aber sofort neue Verbindlichkeitskonflikte ein: Zum einen war unklar geworden, wie die Republik die alten politischen Bindungen auf sich übertragen konnte, d. h. wie die politische Verbindlichkeit des jungen demokratischen Verfassungsstaates gegen die Konkurrenz zum Kaiserreich erreicht und erhalten werden konnte; zum anderen traten nach dem Weltkrieg neue Konkurrenten im öffentlichen Deutungskampf um politische Verbindlichkeit auf, namentlich der bolschewistische Internationalismus bzw. der Kommunismus, der den aus dem Sozialismus allgemein vertrauten Klassenkampfgedanken radikalisierte, sowie der Nationalsozialismus, der den Begriff der Nation auf eine durch und durch un- bzw. antiliberale Weise auslegte. Angesichts dieser Konkurrenz mussten linksliberale Autoren die politische Bindung an die Republik neu überdenken und bedienten sich hierzu auch des Begriffs der Volksgemeinschaft. Das Paradox dieses Begriffs lag nun nicht in der vermeintlichen Irrationalität oder Unmodernität, sondern in der Kombination einer intensiven, in der Regel auf Zugehörigkeit basierenden Bindung (Gemeinschaft) mit der Idee des Volkes, die in der modernen Gesellschaft heterogen zusammengesetzt ist. Die linksliberale Deutung der Volksgemeinschaft erhoffte sich aus der gemeinsamen Erfahrung politischer Selbstregierung, welche die Demokratie bot, die Möglichkeit jener Intensität politischer Bindung, die zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgaben der Nachkriegszeit nötig erschien. 3) DER LINKSLIBERALISMUS IM SPIEGEL DER ERSTEN PARTEITAGSDEBATTEN Es gab keinen einheitlichen Linksliberalismus in der Weimarer Zeit. Das hatte schon mit der Sammlungsidee des älteren Fortschritts und dann mit der kurzfristigen Vereinigung verschiedener Teilgruppen zur DDP zu tun, aber auch mit unterschiedlichen Interessengruppen und Erfahrungshintergründen. Man kann etwa die Naumannianer mit ihrer eher idealistischen Prägung des Politikverständnisses von der Gruppe der Gewerkschaftler einerseits und dem rechten Flügel der Industrievertreter und der Mittelstandsrepräsentanten mit sehr viel stärker materiellen Orientierungen bei der Formulierung der Politik andererseits unterscheiden.26 Diese Flügel belauerten sich gelegentlich mehr, als dass sie eine gemeinsame Front gegen die immer stärker sichtbar wer26 Bruce B. Frye: Liberal Democrats in the Weimar Republic. The History of the German
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denden extremistischen Flügel des Weimarer Politikspektrums zu errichten versuchten. Die innere Fraktionierung des Linksliberalismus zeigt sich auch an den unterschiedlichen theoretischen Überlegungen, wie auf die zunehmend sichtbar werdende Krise liberalen politischen Denkens reagiert werden sollte. Hugo Preuß, Theodor Heuss und Friedrich Meinecke decken einen großen Teil des linksliberalen Spektrums zur Zeit der Weimarer Republik ab. Preuß verkörperte den berlinerischen Großstadtliberalismus, Heuss entstammte dem klassischen deutschen Stammland des deutschen Liberalismus, dem Südwesten, und Meinecke stand vor allem für jene Liberale, die nach 1918 in den Transformationsprozess vom „Herzensmonarchisten“ zum „Vernunftrepublikaner“ eintraten. Preuß und Heuss waren parteipolitisch aktiv (mit mehr oder weniger großem Erfolg), Meinecke verkörpert den Typus des Gelehrtenpolitikers, der bestrebt war, jenseits der Parteischranken intellektuelle Sammlungsbewegungen ins Leben zu rufen. Gemeinsamer Bezugspunkt war in allen Fällen die DDP, weshalb zunächst anhand der Parteitage der ersten Jahre demonstriert werden soll, dass die von Heuss, Preuß und Meinecke diskutierten Probleme das allgemeine Problembewusstsein der Partei spiegelten. Die ersten Parteitage der DDP standen im Zeichen einer Debatte darüber, dass der demokratische Nationalstaat nur scheinbar durchgesetzt werden konnte, vielmehr ab 1920 immer stärker in die Kritik geriet und mit ihr die Stellung der linksliberalen DDP in Frage gestellt wurde, jener Partei, die sich wie keine andere mit der politischen Ordnung Weimars identifizierte. Auf dem ersten Parteitag vom Juli 1919 konnte Carl Petersen als Berichterstatter aus der Fraktion in der Nationalversammlung noch stolz verkünden, dass „über Nacht“ aus dem „Obrigkeitsstaat preußischer Struktur“ eine Demokratie „reinsten Wassers“ geworden sei wie keine zweite in der Welt. Die Maschinerie der Demokratie sei freilich schwieriger als die des Obrigkeitsstaates und fordere von den Beteiligten mehr ab.27 Petersen hob hervor, der DDP sei es gelungen, die Demokratie als Gegensatz zum Rätesystem und der mit ihr zusammenhängenden Drohung der Klassenherrschaft des Proletariats zu etablieren,28 man komme aber nicht umhin, von einem „Riß im Innern des Volkes“ zu sprechen.29 Theodor Heuss schnitt dieses Thema in seinem kurzen Redebeitrag an und betonte, dass ein mit der Idee der Demokratie kompatibler Nationenbegriff von dem Nationenbegriff des älteren Liberalismus abwich, den Heuss weiterhin auf Seiten des Konservatismus und Rechtsliberalismus als wirkDemocratic Party and the German State Party, Carbondale 1985, S. 88–94 sowie S. 101–107. 27 Bericht über die Verhandlungen des 1. Parteitags der DDP in Berlin 19.–22. Juli 1919, Berlin 1919, S. 22. 28 Ebd., S. 29. 29 Redebeitrag Hjalmar Schachts, in: ebd., S. 57.
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sam erkannte:30 Die Aufgabe des Linksliberalismus müsse darin gesehen werden, „gegenüber der nationalistischen Auffassung des Patriotismus und der Vaterlandszugehörigkeit von der Demokratie aus eine neue nationalistische Empfindung und einen neuen nationalpolitischen Instinkt zu bilden“; es gelte, gegenüber der Bismarck-Tradition eine neue Tradition des deutschen Nationalgefühls zu formulieren. Erst die „nationale Demokratie“ vollende den nationalstaatlichen Gedanken in Deutschland, der von Bismarck nur in Umrissen erfasst wurde. Daher müsse die geschichtsbildende Verantwortung der nationalen Demokratie betont werden. Diese Argumentation wollte aus der defensiven Unterstützung der Demokratie als dem politischen System, das in den alt-nationalen Kreisen als erzwungenes Ergebnis von Niederlage und Siegerdiktat angegriffen wurde, heraus und die Demokratie als inhaltlich konsequente Fortentwicklung der Nationenidee offensiv propagieren. Wenn Heuss ständig auch die emotionale Bindung der Bevölkerung an die nationale Demokratie als wesentliches Ziel der linksliberalen Aufklärungsarbeit definierte, die er selbst ja mit der Hochschule für Politik vorantreiben wollte, dann berührte er damit einen weiteren wunden Punkt des Linksliberalismus, dem es nicht gelang, die anfängliche Begeisterungsfähigkeit für die demokratische Idee in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und auf sich zu fokussieren. Auf dem Parteitag der DDP von 1920, der nach der irritierenden Niederlage bei den ersten regulären Reichstagswahlen abgehalten wurde, hielt Theodor Heuss das Grundsatzreferat zum Begriff der Nation. Heuss forderte dazu auf, die Idee der Nation in einem demokratischen, auf das Volk bezogenen Rahmen zu verstehen, um sich den Veränderungen von Politik und Gesellschaft anzupassen.31 Denn der Liberalismus stünde vor dem Problem, wonach die „seelische Aufnahme und sachliche Anerkennung“ der parlamentarischen demokratischen Republik in der Bevölkerung sehr unvollkommen ausgebildet sei.32 Die Demokratie habe „geistige Schwierigkeiten“ der Anerkennung. Teile der Linken seien von der Demokratie zur Diktatur geschwenkt und in Teilen der Bildungsschichten gebe es ein blindes Sperren gegen alles, was Demokratie heißt.33 Das Problem erblickte Heuss in der Unsicherheit darüber, wie der Staat aus der Demokratie hervorgehen kann.34 Das Parlament stünde geistig noch in der kaiserlichen Tradition, es habe noch keine Erfahrung im verantwortlichen Umgang mit der Macht. Hierfür machte er die in der Monarchie entstandene Haltung des „Subalternen“ und „Lakaienhaften“ haftbar. In dieser Situation sah es Heuss als fatal an, dass sich, gespeist aus den ideologischen Deutungskämpfen des Weltkrieges mit einer falschen 30 31 32 33 34
Ebd., S. 105f. T. Heuss, Staat (wie Anm. 9). Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220.
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Gegenüberstellung von westlicher Demokratie und genuin deutschem Politikverständnis, eine Haltung gefestigt habe, die „wahre“ Demokratie in allem zu erkennen, was nicht westlich-parlamentarisch sei, beispielsweise in ständischen oder organischen Vorstellungen von Demokratie.35 Parteipolitiker versuchten zu verstehen, wie die DDP so rasch von den Höhen der Republikgründung in die Niederungen nach der Wahl von 1920 hatte fallen können. In der Regel lautete die auf dem Parteitag hierauf gegebene Antwort, man müsse die Bevölkerung von der Idee der Demokratie bzw. der demokratischen Republik überzeugen. Dieses Thema beherrschte auch die weiteren Parteitage. Selbst der alte Conrad Haussmann forderte dazu auf, das Bekenntnis zur Demokratie und zur Republik „in noch schärferer Weise“ zum Ausdruck zu bringen.36 Carl Petersen betonte in seiner Rede als 1. Vorsitzender über die politische Lage auf dem 3. Parteitag von 1921, man müsse das Volk erst noch für die Verfassung gewinnen, man müsse „moralische Eroberungen“ machen, das habe die entscheidende Forderung, das entscheidende Leitmotiv der weiteren Parteiarbeit zu sein.37 Der im April 1924 abgehaltene 5. Parteitag diskutierte unter dem traditionellen Stichwort der Kultur nicht nur die Schulfrage, sondern nun auch die Notwendigkeit der Herausbildung einer „politischen Kultur“.38 In seiner kämpferischen Rede „Der Kampf um die Weimarer Verfassung. Die Lebensfrage Deutschlands“ thematisierte Ludwig Haas angesichts des Münchener Putschversuchs von Hitler und Ludendorff die Defizite in der Werbung für die bestehende Republik.39 Der Pfarrer Ernst Moering aus Breslau warb für die „Demokratie als Weltanschauung“40 und Anton Erkelenz schließlich referierte über „Deutschlands nationale Frage“.41 Darin skizzierte Erkelenz noch einmal die gesellschaftlichen Auswirkungen des Weltkriegs und vor allem der Inflation, die besonders in der für die DDP bedrohlichen „Verarmung der Kulturschichten“ spürbar seien. Er konstatierte eine in der Bevölkerung vorherrschende „Enttäuschung über die Demokratie“. Auch wenn er die Pflicht hervorhob, „den anti-demokratischen Elementen in Deutschland mit aller Kraft entgegen zu treten“, so schloss er doch nicht aus, es könne trotz der Mittel der Erziehung und der Überredung eine Situation eintreten, in welcher 35 Ebd., S. 218, S. 215. 36 Bericht über die Verhandlungen des 2. ordentlichen Parteitages der DDP, Nürnberg vom 11.–14. Dezember 1920, Berlin 1921, S. 62. 37 Carl Petersen, Rede auf dem Parteitag der DDP 1921, in: ebd., S. 23–34, hier S. 24. 38 Referat von Emmy Beckmann, in: Bericht über die Verhandlungen des 5. ordentlichen Parteitages der DDP vom 5. und 6. April 1924 in Weimar, Berlin 1924, S. 55–65, hier S. 58. 39 Ludwig Haas, Der Kampf um die Weimarer Verfassung. Die Lebensfrage Deutschlands, in: ebd., S. 82–89. 40 Bericht (wie Anm. 38), S. 89–97. 41 Anton Erkelenz, Deutschlands nationale Frage, in: ebd., S. 97–117.
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die „Mittel des Verstandes und der Vernunft“ versagen.42 Das Zusammenwachsen zur „Volksgemeinschaft“, die er mit dem nationalen Gemeinschaftsgefühl gleichsetzte, und zwar in Gestalt der Demokratie, bleibe ein Prozess. Die rechtsradikale Vorstellung von Volksgemeinschaft dagegen beruhe auf der gewalttätigen Bekämpfung von „Volksgenossen“. Damit sei der Punkt erreicht, an dem ein Kompromiss und eine Anpassung an die gegenwärtigen „Krankheitserscheinungen“ in der Politik nicht mehr möglich seien. Statt des Paktierens mit der „Heilsarmee“ Hitlers gebe es hier nur die „offene Fehde“. Es gelte, den Kampf um die „Demokratie der Gesinnung“ aufzunehmen.43 1924 war die DDP also mindestens verbal entschlossen, den Kampf um die Republik aufzunehmen. Die Linksliberalen waren demnach von Anfang an und mit steigender Verve bestrebt, die Verfassung, Republik und Demokratie nicht nur als Äußerlichkeiten der Nation, sondern als verteidigenswerte Verwirklichung derselben anzuerkennen. Zugleich spiegeln die Parteitage die allmähliche Realisierung, wie marginal der Linksliberalismus im politischen Spektrum zu werden drohte, da die liberale Interpretation von Verfassung, Demokratie und Nation immer weniger Anklang in der Bevölkerung fand. Im Zuge der Verteidigung der linksliberalen Vorstellungen von Nation und Demokratie griffen die Redner auch auf Überlegungen zur Volksgemeinschaft zurück. Das linksliberale Interesse am Gemeinschaftsbegriff galt dem Versuch, die breite Bevölkerung an die nationale Demokratie anzubinden, und das Interesse am Volksbegriff galt der Erweiterung des älteren Nationenbegriffs um Bevölkerungsgruppen, die sich nicht ohne Weiteres über den liberalen Begriff der Nation definierten. 4) DIE WEIMARER DEBATTE UM DIE GEMEINSCHAFT Eine begriffliche Untersuchung der auf der Volksgemeinschaft gestützten linksliberalen Argumentation muss sich mit ihren Begriffskomponenten beschäftigen. Die breite Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs in der Weimarer Zeit gehört zu den Gemeinplätzen der Forschung. Vorschnell wird aber von einer „Gemeinschaftssehnsucht“ in Weimar gesprochen,44 so dass die Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs auf ein irrationales, unmodernes, in der Tendenz anti-republikanisches und jedenfalls nicht verfassungskonformes 42 Ebd., S. 109. 43 Ebd., S. 115. 44 Juliane Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, Bielefeld 2012; als entfesselter Kollektivismus: Hans Jörg Schmidt: Die deutsche Freiheit. Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins, Frankfurt/M. 2010, S. 148–153; Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013: Kap. Gemeinschaftssehnsucht und ihre Grenzen zur Weimarer Philosophie, S. 151–192.
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Politikverständnis hindeutet. Von menschlichen Verhältnissen als gemeinschaftlichen zu sprechen, war dort besonders attraktiv, wo die Vermutung bestand, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur keine vergleichbaren Bindungen zwischen den Personen verbürgten, sondern diese, wo sie überhaupt noch vorhanden waren, auch noch gefährdeten. Sinn und Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs waren auch in seriösen wissenschaftlichen Debatten Gegenstand intensiver Befragung. Der Gemeinschaftsbegriff wurde in der gesamten Weimarer Zeit insbesondere in der Soziologie kontrovers diskutiert, wobei Ferdinand Tönnies – in Abhebung vom Gesellschaftsbegriff – maßgeblich zu seiner Etablierung schon in der Zeit des Kaiserreichs beigetragen hatte.45 Aber Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff erfuhr erst nach 1918 seine eigentliche Rezeption.46 Die von ihm in der Weimarer Zeit selbst vorgenommenen Ergänzungen und Präzisierungen in Vierkandts „Handwörterbuch der Soziologie“ von 1931, in welcher er das Begriffspaar stärker als ein Problem sozialer Bindung diskutierte, wurden dagegen kaum zur Kenntnis genommen.47 Vom Gemeinschaftsbegriff führte ein anderer Weg in die Gruppensoziologie,48 welche Vierkandt selbst in seinem Beitrag ausführlich untersuchte.49 Man kann also nicht von einem eindeutigen und unkontroversen Begriffsgebrauch von Gemeinschaft reden. Nicht nur Helmuth Plessner kritisierte das Gemeinschaftsdenken,50 bereits Theodor Litt beklagte die Hypostasierung von Gebilden, welche außerhalb des Individuums nicht existent sind.51 Selbst konservativ eingestellte Autoren wie Hans Freyer waren sich der Nichtübertragbarkeit des Gemeinschaftsbegriffs auf so große Personengruppen wie ein „Volk“ im Klaren: „Daß 45 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Leipzig 81935 (EA 1887), § 1 aE, S. 5. 46 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 2. Aufl. 1912; 3. Aufl. 1920; 4. u. 5. Aufl. 1922, 6. u. 7. Aufl. 1926; zur Wirkungsgeschichte vgl. Arthur Mitzman: Tönnies and German Society, 1887–1914: From cultural pessimism to celebration of the ‚Volksgemeinschaft‘, in: Journal of the History of Ideas 32 (1971), S. 507–524 und Dirk Kaesler: Erfolg eines Mißverständnisses? Zur Wirkungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft in der frühen deutschen Soziologie, in: Lars Clausen / Carsten Schlüter (Hg.): Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“ – Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, S. 517–526. 47 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 180–191. 48 Theodor Geiger: Gemeinschaft, in: A. Vierkandt, Handwörterbuch (wie Anm. 47), S. 173–179. 49 Alfred Vierkandt: Gruppe, in: Ders., Handwörterbuch (wie Anm. 47), S. 239–253. 50 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924. Vgl. hierzu Wolfgang Essbach / Joachim Fischer / Helmuth Lethen (Hg.): Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Eine Debatte, Frankfurt/M. 2002. 51 Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik, Leipzig/Berlin 1919, 2. Aufl. 1924, 3. Aufl. 1926.
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ein modernes Volk auf Grund der gemeinschaftsbildenden Faktoren, die in ihm wirksam sind, Gemeinschaft im soziologischen Sinne, nämlich als konkretes soziales Gefüge Gemeinschaft sei, wäre eine unhaltbare These. […] Daß ein heutiges Volk Gemeinschaft im prägnanten Sinne sei oder werde, ist höchstens politische Forderung, ‚Utopie‘, aber nicht Resultat der Analyse seiner Realität“.52 Freyer erklärte sich die aktuelle „Sehnsucht“ nach Gemeinschaft in Teilen der Bevölkerung wie folgt: „Aus der Sehnsucht geboren, als Ausgleich für die Härte und Schalheit des modernen gesellschaftlichen Lebens, hat der soziale Radikalismus der Gemeinschaftsidee alle Opferbereiten und Hingabefähigen, aber auch alle Ausgeschlossenen und Enttäuschten ergriffen. Die Erkaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch geschäftliche, maschinelle, politische Abstraktionen hat als Ausschlag nach der anderen Seite das Ideal der glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft erzeugt“.53 Die Gemeinschaftssehnsucht hatte allerdings einen konkreten Erfahrungsraum: die Erinnerung an den Weltkrieg, die wenigstens zwischenzeitliche Überwindung der politischen und sozialen Gegensätze sowie die Bereitstellung aller Kräfte für den zum nationalen Projekt erhobenen Krieg.54 Bei dem im Weltkrieg genutzten Ausdruck der „Volksgemeinschaft“ kann zwischen einer inklusiven und einer exklusiven Verwendung des Begriffs unterschieden werden. An diesen Debatten war beispielsweise Hugo Preuß beteiligt. Die inklusive Volksgemeinschaft ist bestrebt, möglichst viele Teile der Bevölkerung in den Begriff des Volkes einzubeziehen,55 wogegen der exklusive Begriff sich nicht nur auf bestimmte Bevölkerungsteile beschränken, sondern die anderen auch ausdrücklich ausschließen möchte.56 Die Erwartung, dass sich nach dem Krieg die Gemeinschaftlichkeit fortsetzen ließe, und zwar wegen des gemeinsamen Schicksals der Niederlage und der Notwendigkeit seiner gemeinsamen Bewältigung, erwies sich rasch als trügerisch, was aber nicht die Erinnerung daran schmälerte. Auch Linksliberale erinnerten immer wieder an diese Erfahrung, um wenigstens die Möglichkeit aufzuzeigen, über politische Gegensätze hinweg in Fragen von nationalem Belang kooperieren zu können. Gerade die Belastungen der Folgen der Niederlage, die offenen Grenzfragen und die politischen und sozialen Krisen der Anfangsjahre bis hin zu Ruhrkampf und erster Inflation legten den Appell an die Handlungsfähigkeit über die politischen und sozialen Binnengrenzen hinweg nahe. 52 Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930, S. 252f. 53 Ebd., S. 240. 54 Vgl. G. Mai, „Verteidigungskrieg“ (wie Anm. 14). 55 Vgl. S. Bruendel, Volksgemeinschaft (wie Anm. 25). 56 Ebd., S. 275–289.
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5) DIE LINKSLIBERALE GEMEINSCHAFT: DER VERSUCH DER ANBINDUNG DER BEVÖLKERUNG AN DIE NATIONALE DEMOKRATIE Den Naumannianern unter den Linksliberalen ist vorgeworfen worden, in ihrem Bemühen um ein emotionales Verhältnis zur Republik dem ohnehin in Weimar grassierenden Irrationalismus Vorschub geleistet zu haben.57 Hierzu würde dann auch die Betonung der linksliberal auf die Demokratie bezogenen Volksgemeinschaft passen. Das Aufgreifen des Gemeinschaftsbegriffs bei Linksliberalen war der Überlegung geschuldet, dass man nicht nur an ein rationales Interesse appellieren konnte, sondern dass es auch emotionale Bindungen der Bevölkerung zu berücksichtigen galt. Theodor Heuss war davon überzeugt, dass die Demokratie die Menschen auch emotional erreichen müsse. Er konstatierte in seiner bereits vorgestellten Rede auf dem Parteitag von 1920, dass der demokratische Staat gegenwärtig gegen die „Volksgemeinschaft“ ausgespielt werde. Die Volksgemeinschaft definierte Heuss als Gefühl der geistigen und sachlichen Schicksalsgebundenheit.58 Dieses Gefühl ist in der modernen Gesellschaft mit dem Großstaat, der Maschinenwelt, den Massen und der Urbanität notwendig verloren gegangen. Die Volksgemeinschaft ist daher als Aufgabe der Überwindung von Klassengegensätzen zu verstehen. Sie kann als Grundlage des gemeinsamen Handelns nicht mehr vorgefunden, sie muss hervorgebracht werden. Die Demokratie ist der Vorgang, aus der Volksgemeinschaft mit ihren „Stufungen und Bewegungen“ Einheit durch „Fesselung und Bindung“ zu schaffen. Insofern läuft jeder Wunsch nach Volksgemeinschaft notwendig auf die Demokratie als dem Prozess der Hervorbringung konkreter Einheit hinaus. Friedrich Meinecke sprach 1925 von der „demokratischen Volksgemein schaft“59 und ähnlich wie Meinecke und Heuss legte Hugo Preuß die Volksgemeinschaft als politischen Begriff aus, der die Aufgabe bezeichnete, kollektive Handlungsfähigkeit durch Politik zu ermöglichen.60 Der Ruf nach der Volksgemeinschaft verdankte laut Preuß seinen Erfolg der Parteienzersplitterung und der damit zusammenhängenden Probleme des Parlaments, stabile Regierungen zu bilden. Preuß warnte aber, dass die von anderen angestrebte „Aufhebung“ der Parteiengegensätze durch die Anmahnung der 57 Thomas Hertfelder: „Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des „Hilfe“-Kreises, in: Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 29–56. 58 T. Heuss, Staat (wie Anm. 9), S. 230. 59 Friedrich Meinecke: Die Kulturfragen und die Parteien (1925), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 385–392, hier S. 390. 60 H. Preuss, Reichsverfassung (wie Anm. 11), S. 372–375.
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Volksgemeinschaft nur zu einem „Einheitsbrei“ führen würde, die Aufgabe vielmehr darin liege, eine „politisch lebenskräftige Volksgemeinschaft“ zu organisieren, und zwar gerade durch den Parteienkampf. Denn der Ruf nach der Volksgemeinschaft und nach der Parteiüberwindung ist oft selbst durch den engstirnigen Parteiengeist motiviert. Volksgemeinschaft und Parteienkampf schließen sich laut Preuß dagegen keineswegs aus, sofern der Boden eines solchen Parteienkampfes allgemein anerkannt werde: „staatsbürgerliche Gemeinsamkeit und Gleichberechtigung“.61 Auf dieser Grundlage kann die Volksgemeinschaft sich selbst regieren, so dass sie auf die Diktatur als Deus ex machina der Erzeugung der Volksgemeinschaft von außen verzichten kann. Für Preuß erweist sich also die Existenz der Volksgemeinschaft an der „politischen Selbstorganisation“ zur nationalen Handlungsfähigkeit.62 In dieser Auslegung der Volksgemeinschaft gehörten Regierung und Opposition gemeinsam zum Regierungssystem, insofern beide Teile des Parlaments zusammen den „Willen der nationalen Gemeinschaft“ durch Verhandlungen formen.63 Preuß’ Vorstellung von Volksgemeinschaft war geprägt von seiner noch vor der Weimarer Republik entwickelten Idee der genossenschaftlichen Nation,64 in welcher gerade die Arbeit an der Hervorbringung der „res populi“ den verschiedenen Interessen und Klassen eine Arbeitsgrundlage der Gemeinsamkeit schafft, sie also nicht unabhängig vom gemeinsamen Handeln gefunden werden kann.65 Preuß sagte freilich nichts darüber, was zu tun sei, wenn seine Definition von Volksgemeinschaft angesichts anhaltender Regierungsinstabilität und Kooperationsverweigerung sich selbst widerlegte. Aus Theodor Heuss’ Sicht waren die Mittel zur Sichtbarmachung der Demokratie, welche die Volksgemeinschaft handlungsfähig macht, politische Persönlichkeiten ebenso wie Symbole. Seiner Ansicht nach waren Personen wie August Bebel oder Friedrich Naumann solche Gestalten, die den Gedanken der Volksgemeinschaft repräsentierten.66 Die Demokratie müsse aber auch eine Formensprache finden, eigene Symbole und einen „Codex“ des Verhaltens, der über die Gegensätze hinweg Kooperation erlaubt. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass Heuss die Probleme der politischen Repräsentation wie der politischen Kultur als Voraussetzung der Möglichkeit demokratischer Politik thematisierte. Hierzu war es aber sinnvoll, eine bereits in Anwendung 61 Ebd., S. 373. 62 Ebd., S. 374. 63 Hugo Preuss: Parlamentarismus und auswärtige Politik (1925), in: Ders., Schriften (wie Anm. 11), S. 301–304, hier S. 303. 64 Marcus Llanque: Bürgerschaft, Staat und Regierung: das Politikverständnis bei Hugo Preuß, Carl Schmitt und Hermann Heller, in: Christoph Müller / Detlev Lehnert (Hg.): Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß, Baden-Baden 2003, S. 203–232. 65 Hugo Preuss: Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken (1925), in: Ders., Schriften (wie Anm. 11), S. 280–291, hier S. 289. 66 T. Heuss, Staat (wie Anm. 9), S. 231.
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befindliche Semantik wie das Vokabular der Volksgemeinschaft aufzugreifen und umzudeuten. Heuss war als Schüler Friedrich Naumanns mit der Idee vertraut, dass der Liberalismus Fragen des Staates zur Sache des Volkes machen musste. Naumanns 1919 entwickelte Idee eines volkstümlichen Katalogs von Grundrechten war daher aus staatsrechtlicher Sicht vielleicht naiv, politisch betrachtet aber Ausdruck eines pädagogischen Impetus gewesen,67 dem Heuss seinerseits an der Hochschule für Politik nacheiferte. Es überrascht daher nicht, wenn Heuss von der Demokratie als einer „Lebensform“ spricht, sie also nicht nur als formales Prinzip der Regierungssystemlehre, sondern als eine Umgangsform im Modus der Selbstregierung begreift.68 Für die Linksliberalen war beispielsweise der Flaggenstreit eine Möglichkeit gewesen, die politische Kultur der neuen Ordnung zu verteidigen. Diese Möglichkeit wurde durch parlamentarische Taktiererei vertan.69 Hugo Preuß war sich der Bedeutung der symbolischen Repräsentation der Demokratie bewusst und warnte anlässlich des Flaggenstreits davor, dass der Liberalismus Gefahr laufe, seine eigenen Wurzeln und Traditionen zu verlieren, wenn ihm seine Symbole fremd und gleichgültig werden.70 Während die Forschung einigen Linksliberalen vorwirft, zu viel Emotionalität beschworen zu haben, wird anderen vorgehalten, viel zu wenig leidenschaftlich für die Republik eingetreten zu sein und nie mehr als ein nur rationales, nämlich „vernunftrepublikanisches“ Verhältnis ausgebildet zu haben. Dieser Vorwurf trifft in erster Linie Friedrich Meinecke, mit dem der Ausdruck des „Vernunftrepublikaners“ am meisten in Verbindung gebracht wird,71 auch wenn sich mittlerweile Bemühungen um eine Erweiterung des Personenkreises finden.72 Meinecke war nach der Anfangszeit der DDP kein sonderlich aktives Parteimitglied. Er war allerdings bereit, wenn es darauf ankam, sich parteipolitisch zu engagieren. Noch 1932 publizierte er einen Wahlaufruf für die Deutsche Staatspartei in deren Organ „Deutscher Aufstieg“.73 Meinecke engagierte sich vor allem in Vereinigungen, die eine parteiüber67 Marcus Llanque: Friedrich Naumann und das Dilemma des politischen Liberalismus, in: Richard Faber (Hg.): Liberalismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2000, S. 131–149. 68 Theodor Heuss: Die neue Demokratie, Berlin 1921, S. 155–159. 69 Werner Schneider: Die Deutsche Demokratische Partei in der Weimarer Republik 1924–1930, München 1978, S. 89–93; B. B. Frye, Democrats (wie Anm. 26), S. 86 und 147f. 70 Hugo Preuss: Um die Reichsfarben (1921), in: Ders., Schriften (wie Anm. 11), S. 192f. 71 N. Wehrs, Demokratie (wie Anm. 15). 72 Andreas Wirsching: „Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen, in: Ders. / J. Eder, Vernunftrepublikanismus (wie Anm. 57), S. 9–26. 73 Friedrich Meinecke: Keine Fahnenflucht vor der Schlacht! (1932), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 477f, hier S. 477.
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greifende Verständigung anstrebten wie die Liberale Vereinigung74 und die Gruppe der Weimarer Hochschullehrer.75 In all seinen Schriften versuchte Meinecke, eine klare Distanz zur politischen Leidenschaft zu bewahren. Sie war ihm bereits während des Weltkrieges suspekt gewesen und er sah gerade in der „unbalancierten“ Demokratisierung eine Gefahr, dass alle Politik immer stärker nach Maßgabe von Emotionen und nicht von Rationalität betrieben werde, und zwar in ganz Europa.76 Wenn Meinecke die Wahl hatte zwischen den „ungeregelten, unerzogenen Machtinstinkten der ganzen Nationen“ und der Rationalität der Staatsräson von Machteliten, so bevorzugte er letzteres. Meinecke bekannte 1925, im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte seine Parteipräferenz in einer Bewegung verändert zu haben, die vom Konservatismus des Tivoli-Programms zur DDP in der Weimarer Republik geführt hat, und er nahm für sich in Anspruch, seinen politischen Grundgedanken treu geblieben zu sein: freier und mächtiger Staat in einer einigen Nation.77 Angesichts der Spaltung des Landes in zwei große Lager, die sich für und gegen die Republik stellten, schlug er eine „Vertrauensdiktatur“ vor, um die „Volksgemeinschaft“ wiederherzustellen,78 was an dieser Stelle heißen sollte: Einigung auf ein Mindestmaß an Staatlichkeit durch Verzicht auf Monarchiewunsch einerseits und Parlamentarismus andererseits. Ungeachtet der Einschätzung einer solchen Position zu dem Zeitpunkt, den man in der Historiographie noch zur republikanischen Konsolidierungsphase zählt, ist bemerkenswert, wo Meinecke die Probleme sah: Er beklagte, dass der Begriff der Nation immer stärker für irrationale Bestrebungen stünde und nicht mehr für Kultur- und Geistesleistungen im Konzert anderer Nationen; zudem trenne er sich immer mehr vom Staatsbegriff. Meinecke konstatierte an der gleichen Stelle, dass sich aktuell „ein furchtbarer Widerspruch“ geltend macht zwischen der „nüchternen staatsmännischen Vernunft“ und der „menschlichen und nationalen Empfindung“, ein Widerspruch zwischen Rationalität und Irrationalität, wie er sagte.79 Meinecke konnte sich nur auf diese Weise erklären, wie es in der Gegenwart zu so starken revanchistischen Bestrebungen in der akademischen Jugend kam, die er glaubte, beobachten zu können, und wie es denkbar sein kann, dass nach den Erfahrungen des „seelenlosen Krieges 74 F. Meinecke, Kulturfragen (wie Anm. 59). 75 Friedrich Meinecke: Die deutschen Universitäten und der heutige Staat (1926), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 402–413. 76 Friedrich Meinecke: Staatskunst und Leidenschaften (1916), in: Ders.: Probleme des Weltkrieges, München/Berlin 1917, S. 59–70, hier S. 66; vgl. hierzu Stefan Meineke: Friedrich Meinecke – Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, S. 289f. 77 Friedrich Meinecke: Republik, Bürgertum und Jugend (1925), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 368–383, hier S. 369. 78 Ebd., S. 380. 79 Ebd., S. 381.
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der Maschinen und Chemie“ weiterhin die Freiheit und Stärke des Staates nach dem Maßstab der „physischen Macht“ definiert werden kann.80 Wenn daher die Vernunft die Grundlage des Verhältnisses zur politischen Ordnung sein soll und sich Meinecke als Vernunftrepublikaner bezeichnete, so resultierte dies auch aus seiner Ablehnung überzogener Leidenschaftlichkeit in der Politik. Die Vernunftrepublikaner sah er zwischen den „Gesinnungsrepublikanern der Arbeiterschaft“ und den „Gesinnungsmonarchisten im bürgerlichen Lager“ stehen.81 In einer im Druck nicht aufgenommenen Textpassage betonte Meinecke: „Die Republik ist diejenige Verfassungsform, die uns heute am wenigstens trennt. Sie zu befestigen, heißt heute die Volksgemeinschaft festigen“.82 Für den sprichwörtlichen Vernunftrepublikaner Meinecke war dies ein erstaunlich leidenschaftlicher Appell für die „nationale Solidarität“, der in den nicht weniger erstaunlichen Worten gipfelt, es sei höchste Zeit, „die Schwerter des Klassenkampfes umzuschmieden in die Sichel der Volksgemeinschaft“.83 Meinecke erkannte nämlich durchaus die Grenzen der Vernunft als Medium der Bindung der Menschen an die Politik. „Dies Motiv der Staatsnotwendigkeit kann auf die Dauer nicht genügen“.84 Sie ist die Denkweise politischer Handlungseliten, in der Demokratie bedarf es aber der Zustimmung der breiten Bevölkerung, und die gilt es zu erkämpfen. Meinecke plädierte daher 1926 an alle Vernunftrepublikaner, nun auch Herzensrepublikaner zu werden: „Wir alten Monarchisten konnten zunächst nur Vernunftrepublikaner werden und die inneren gemütlichen Brechungen, die uns genug zu schaffen machen, in unser Innenleben zurückdrängen. Aber wer den ersten Schritt getan hat, muss nun, ebenfalls aus Staatsnotwendigkeit, auch einen zweiten Schritt tun und den Wunsch haben, daß die neue Staatsform dem deutschen Volke auch ans Herz wachse, um ganz wurzelfest zu werden“. 85 Meinecke sah sich also hin- und hergerissen zwischen seiner grundsätzlichen Kritik an politischen Emotionen und der aus Vernunft einsichtig gewordenen Notwendigkeit, dass die Verteidigung der Republik bzw. ihrer funktionierenden Restbestände nur gelingen konnte, wenn sie leidenschaftlich erfolgte. Diese vielfältigen Adjustierungen Meineckes zwischen der Fort80 Ebd. 81 Friedrich Meinecke: Das Ende der monarchischen Welt (1922), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 344–350, hier S. 345; vgl. hierzu Horst Möller: Friedrich Meinecke, Gustav Stresemann und Thomas Mann. Drei Wege in die Weimarer Republik, in: A. Wirsching / J. Eder, Vernunftrepublikanismus (wie Anm. 57), S. 257–274, hier S. 262. 82 F. Meinecke: Staat (wie Anm. 10) S. 321. 83 Ebd., S. 324. 84 F. Meinecke, Universitäten (wie Anm. 75), S. 412. 85 Ebd.
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bildung seiner politischen Prinzipien und der Einschätzung ihrer Auswirkungen auf die Bewertung der Alltagspolitik erklären auch die Uneinheitlichkeit seiner Positionen im Einzelfall.86 6) DAS LINKSLIBERALE VOLK DER „VOLKSGEMEINSCHAFT“: DIE ERWEITERUNG DES NATIONENBEGRIFFS Wenn der Ausdruck Nation mehr in Richtung Staat und der Begriff Volk mehr in Richtung Ethnizität hinweist, wie dies Eric Hobsbawm vorgeschlagen hat,87 dann bedeutete der Rückgriff auf den Begriff des Volkes in der Volksgemeinschaft einen Schritt in die Ethnizität. Heuss definierte 1927 die Nation als die staatlich-politische Seite dessen, was ohne diese politische Perspektive „Volkstum“ genannt werde.88 Er versuchte zu zeigen, dass Nation und Volkstum die zwei Seiten des Volksbegriffs waren. Die entsprechende Erweiterung des Nationenbegriffs hatte mit dem Problem der neuen deutschen Minoritäten außerhalb der Grenzen der Weimarer Republik zu tun. Sofern eine entsprechend „innigere Verbundenheit“ der außerhalb des Nationalstaates siedelnden Personen angenommen werden konnte, akzeptierte Heuss die Unterscheidung von „Staatsbürger“ und „Volksbürger“.89 Diese Unterscheidung hatte Wilhelm Stapel eingeführt, Heuss’ Kollege an der Hochschule für Politik, der dort das Volkstum als Forschungsgegenstand etabliert hatte. Mit dem Volkstum kamen aber sehr schnell die völkische und schließlich die rassische Komponente in die Argumentation hinein, da man festlegen musste, wer zu diesen Minoritäten gehörte. Heuss lehnte eine substantielle Definition des Volkes, wie er sie bei rassischen Überlegungen beobachtete, ab, da sie dem Irrtum verfielen, nach naturwissenschaftlichem Vorbild sagen zu wollen, was ein Volk „ist“, wo es doch aus Heuss’ Sicht nur historisch als Ergebnis eines politischen, religiösen, kulturellen Prozesses angesehen werden kann, als etwas „Gewordenes“.90 Die Abgrenzung beider Seiten des Volksbegriffs gelang Heuss aber nur unvollkommen. Gerade seine Orientierung an der inneren Einstellung des Einzelnen zur Nation machte auch seinen Volksbegriff verwundbar für Auslegungen, die er gerne vermeiden wollte. Heuss wünschte die Schaffung eines „freien Nationalgefühls“ auf der „Grundlage des demokratischen 86 Robert A. Pois: Friedrich Meinecke and German Politics in the 20th Century, Berkeley 1972, S. 86–130. 87 Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 2005, S. 122. 88 T. Heuss, Politik (wie Anm. 3), S. 136. 89 Ders.: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926, S. 282. 90 Ebd., S. 8f.
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Volksstaates“.91 Das setzte auf die freiwillige Entschließung des Einzelnen, auf ein individuelles Bekenntnis, nicht auf die Zuschneidung der Bevölkerung nach scheinbar objektiven Kriterien der Rasse oder der sozialen Zugehörigkeit. Die Fokussierung auf die subjektive Bindung durch das nationale Gefühl kann allerdings nicht verhindern, dass sich Personen auch von rassischen und völkischen Festlegungen emotional angesprochen fühlen und sich mit ihnen identifizieren. Friedrich Meineckes Idee der Nation entsprach eher dem Appell an eine überparteiliche Nationalgesinnung.92 Aus dieser Perspektive heraus wurde auch der Begriff der Volksgemeinschaft für Meinecke interessant. Für Meinecke war die Nation der große Integrationsbegriff: Wenn es ihm darum ging, über Klassen, Stände und Schichten hinweg einen Bezugspunkt der Zugehörigkeit zu formulieren, dann war es die Nation.93 Meinecke sah die Funktion des Bürgertums „im modernen Nationalleben“ in der Aufgabe, „Regulator des Gesamtlebens zu werden, ausgleichend, vermittelnd und versöhnend einzugreifen in die sozialen Gegensätze, Klammer der Einigung für die auseinanderstrebenden Volksteile zu werden“.94 In der Weimarer Zeit verwendete Meinecke den Ausdruck Volksgemeinschaft, um die Aspekte der Solidarität, der inneren Verbundenheit, des historisch geteilten Schicksals zu betonen. Das erfolgte in der Absicht, hieraus Möglichkeiten der Kooperation über die ideologischen und parteipolitischen Fronten hinweg zu erkunden. Meinecke verwendete den Begriff beispielsweise vor dem Hintergrund des Märzaufstandes 1921.95 Die Volksgemeinschaft bedeutete für Meinecke den Appell an den inneren Zusammenhalt auch in Zeiten der Verunsicherung eines „physisch und moralisch geschwächten Volkes“,96 die innere Einheit nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Volksgemeinschaft ist in Meineckes Worten das zum Staat vereinte Volk, es ist mehr als nur ein „nützlicher Zweckverband der Lebenden“, vielmehr leiten sich Pflichten daraus ab, gerade unter den Bedingungen eines gemeinsam geteilten Schicksals, dem Ertragen der Niederlage und der durch den Friedensvertrag aufgebürdeten Lasten. Die gegenwärtige Republik als „Volksstaat“ steht aus seiner Sicht nicht in unüberbrückbarem Gegensatz zum alten monarchischen 91 Theodor Heuss: Vom Werden und Wesen des nationalen Gedankens, in: Reichsbanner v. 20.5.1928, zitiert bei Jürgen C. Hess: „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in Deutschland am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978, S. 170. 92 Friedrich Meinecke: Wählt Hindenburg! (1932), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 460–463, hier S. 462f. 93 Friedrich Meinecke: 1811–1911 (1911), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 44–48, hier S. 48. 94 Friedrich Meinecke: Das deutsche Bürgertum im Kriege (1918), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 246–251, hier S. 249. 95 F. Meinecke, Staat (wie Anm. 10). 96 Ebd., S. 320.
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Obrigkeitsstaat, sondern ist eine andere, angemessene politische Form derselben Volksgemeinschaft. Was zuvor Nation hieß, nannte Meinecke also Volksgemeinschaft, und zwar im inkludierenden Sinne. Aus dieser integrativen Idee der Volksgemeinschaft heraus konnte Meinecke 1933 den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung konsequenterweise vorwerfen, gerade nicht Volksgemeinschaft zu praktizieren, sondern „Volkszerreißung“.97 Die linksliberale Vorstellung von Volksgemeinschaft wich also entscheidend von völkischen oder rassischen Alternativen ab, denn die Appelle an Solidarität und verantwortliches politisches Verhalten richteten sich an die freiwillige Entscheidung der Individuen. Die Volksgemeinschaft war in linksliberaler Sicht zunächst und vor allem eine Willensgemeinschaft. Das machte Hugo Preuß mit Bezug auf Ernest Renan und dessen Diktum von der Nation als eines alltäglichen Plebiszits klar.98 Das Eintreten für die Gesamtnation und nicht für klassenkämpferisch definierte Interessen, die Forderung nach Staatsgesinnung und Ähnliches mehr zielte auf die willentliche Bereitschaft der Bürgerschaft, für den Nationalstaat einzutreten und in diesem Zusammenhang freiwillig über interne Differenzen hinwegzusehen, wenn das Gesamtwohl betroffen war. Das schloss eine Volksregierung unter Einschluss aller Parteien aus, die laut Preuß nur in Frage kam, wenn – wie in Zeiten des Krieges – die nackte Existenz der Nation gefährdet war. 7) DAS SCHEITERN DER LINKSLIBERALEN VOLKSGEMEINSCHAFT Wenn nun der Wille zur Republik nicht in dem Ausmaß vorhanden war, wie es sich Linksliberale zu Beginn der Republik noch erwartet oder doch wenigstens erhofft hatten, so setzten einige auf die Möglichkeit, den politischen Prozess selbst als Lernprozess zu verstehen, in dessen Folge die Bürgerschaft auch die nötige Einstellung zur Republik ausbilden würde. Hugo Preuß hatte auf den Lerneffekt der Demokratie gesetzt, nicht nur für die Wählerschaft, sondern vor allem für ihre Repräsentanten: Nach den Jahren des Obrigkeitsstaates und der eher in der Verhinderung als Ermöglichung des Regierens geübten Parteieliten versprach er sich von der Machtausübung einen Lerneffekt in Hinblick auf die Steigerung des politischen Verantwortungsbewusstseins.99 Preuß nannte diesen Lernprozess durch praktische Ausübung der Politik die 97 Friedrich Meinecke: Von Schleicher zu Hitler (1933), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 479–482, hier S. 482. 98 Hugo Preuss: Der deutsche Nationalstaat (1924), in: Ders., Schriften (wie Anm. 11), S. 441–516, hier S. 512. 99 Hugo Preuss: Deutschlands Staatsumwälzung. Die verfassungsmäßigen Grundlagen der deutschen Republik, Berlin o. J. (1919), S. 10.
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„Politisierung des deutschen Volkes“.100 Zur verantwortlichen Selbstregierung gezwungen, sollte das „alleinige Einigungsband des Volksstaates“ entstehen, beruhend auf dem „elementaren Gemeinwillen der Volksgenossen, sich als einheitliches Staatsvolk zu behaupten“.101 Diese Auffassung vertraten auch andere Linksliberale wie etwa Gertrud Bäumer, die generell in der Lernfähigkeit den wesentlichen Vorzug der Demokratie erblickte und sich hiervon versprach, die irrational agierende „Masse“ in ein „Volk“ von lernfähigen Staatsbürgern umzuwandeln.102 Preuß konnte sich am Ende seines Lebens nicht sicher sein, dass der von ihm erhoffte Lerneffekt eingetreten war, und er stand darin nicht allein. Als ein halbes Jahr vor dem Tode von Preuß Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt wurde, machte Theodor Wolff in einem Kommentar seinem Unverständnis über die mangelnde Lernfähigkeit der Wähler Luft: „Was soll man mit einem Volke anfangen, das aus seinem Unglück nichts gelernt hat und sich immer wieder, auch zum zehnten oder zwölften Male, von den gleichen Leuten am Halfterbande führen lässt“.103 Angesichts der politischen Blockaden und der gescheiterten Versuche einer integrativen Einbeziehung möglichst vieler politischer Lager unter dem Banner der Nation verzichtete Meinecke schließlich in der Folge fast völlig auf den Nationenbegriff und konzentriert sich auf den Staatsbegriff, nicht aber auf den Volksbegriff. Letzterer diente ihm weiterhin zur Beschreibung der ungebundenen „Volksmassen“ in ihren gesellschaftlichen Differenzierungen. Meinecke beobachtete immer wieder fasziniert, dass es dem Zentrum aus seiner Sicht gelang, durch den Bezug zu einer Konfession über die gesellschaftlichen Grenzen und Gegensätze hinaus beachtliche Wählermassen unter seinem Dach zu vereinen.104 Eine solche Leistung erbrachte der Nationenbegriff und mit ihm der Liberalismus offenkundig nicht mehr. Wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr über den Begriff der Nation definierte, den Meinecke vor Augen hatte, dann blieb als Minimalverpflichtung in Meineckes Augen nur die Bindung zum Staat. Meineckes 1924 publiziertes Buch „Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte“ ist auch eine Reaktion auf die Ermordung Walther Rathenaus. Er erinnerte daran, dass Machiavelli als Republikaner nicht einfach einem blinden Machtbegriff anhing, sondern beispielsweise auch der Republik nahegelegt hatte, ihre Feinde nicht zu schonen, um die Republik als Ganze zu verteidigen. Das war Mitte der 1920er Jahre 100 Hugo Preuss: Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat (1921), in: Ders., Schriften (wie Anm. 11), S. 157–171, hier S. 165. 101 Ebd., S. 164. 102 Gertrud Bäumer: Grundlagen demokratischer Politik, Karlsruhe 1928, S. 15 und 18. 103 Berliner Tageblatt v. 27.4.1925, Morgenblatt, in: Wolfgang Michalka / Gottfried Niedhardt (Hg.): Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik 1918–1933, München 1986, S. 218f. 104 F. Meinecke, Kulturfragen (wie Anm. 59), S. 387.
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eine wesentliche Lektion: Auch die Verteidigung der Republik bedarf der Macht. Daher plädierte Meinecke für eine republikanische Staatsräson, die „wohlverstandene Staatsräson der demokratischen Republik“.105 Angesichts der anhaltenden Regierungskrisen forderte er eine Unterstützung der Institution des Präsidenten, zur Not auch gegen das Parlament. In „Gedanken über den Liberalismus“ aus dem Jahr 1927 konstatierte Meinecke, der Liberalismus sei heute so selbstverständlich geworden (am Beispiel der Grundrechte), dass er sich überlebt zu haben scheint.106 Doch sein Erbe schien bedroht zu sein. Der „echte Liberalismus“ sei konfrontiert mit zwei „Konventionen“: der demokratischen und der anti-demokratischen Konvention. Meinecke kannte Liberale, deren liberale Gesinnung er anerkannte, die aber der anti-demokratischen Konvention zuneigten. Zwar teilte Meinecke die Kritik an der Demokratie, eine Politik der Stimmungen zu sein, welche eine hohe Volatilität der Wähler verursacht, und die das Massenpublikum propagandistischen Einflüssen aussetzt. Aber wenn es nur die Wahl zwischen der Demokratie und der Anti-Demokratie gibt, entschied sich Meinecke eindeutig für die Unterstützung der Demokratie, die zu verteidigen er aber dem Parlament in seinem Weimarer Zuschnitt nicht zutraute. Zwischen dem Selbstverständnis, die Gesamtinteressen der Bevölkerung zu vertreten sowie die Verfassungspartei par excellence zu sein, und der geringen Attraktivität des Linksliberalismus für die Wählerschaft der Weimarer Zeit klaffte ein Widerspruch, den die Partei nicht überwinden konnte. Es war immer schon das Dilemma des Liberalismus, theoretisch ein Angebot für die gesamte Bevölkerung machen zu wollen, der Anlage des politischen Verständnisses nach also umfassend und integrativ zu sein, sich aber zugleich in Konkurrenz zu anderen politischen Positionen zu befinden, die es meist sehr viel klarer verstanden, die Personengruppen anzusprechen, welche sie an sich binden wollten. Das galt sowohl für den Konservatismus wie den Sozialismus, die definitiv bestimmen zu können meinten, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Der Liberalismus dagegen wollte solche Gegensätze gerade überbrücken, nicht künstlich errichten oder vertiefen. Zahlreiche Vordenker des Linksliberalismus in Weimar, wie Heuss, Preuß und Meinecke, wurden sich rasch klar, dass die Demokratie 1919 nicht erkämpft worden war, sondern ihre Legitimation erst noch zu beweisen hatte. Sie versuchten daher, das liberale Grundanliegen an die ideenpolitische Konstellation Weimars anzupassen. Dazu gehörte auch die intensive Beschäftigung mit dem Begriff der Volksgemeinschaft. 105 Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924), nach der 3. Aufl. 1929, in: Werke Bd. I, Darmstadt 1976, im Kapitel „Rückblick und Gegenwart, S. 481–510, hier S. 506. 106 Ders.: Gedanken über den Liberalismus (1927), in: Ders., Schriften (wie Anm. 10), S. 414ff.
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Das heutige Unbehagen bei der Lektüre linksliberaler Verwendungen der Vokabel der „Volksgemeinschaft“ signalisiert ein Unverständnis für den Deutungskampf, in welchem die Anhänger der Weimarer Verfassung standen. Angesichts der Herausforderung durch die radikalen Systemopponenten des Kommunismus und des Nationalsozialismus einfach auf den formalen Vorzügen der liberalen Demokratie zu beharren und auf die massenhafte Überzeugungskraft rationaler Argumente zu vertrauen, ist eine politisch naive Vorstellung. Die tatsächliche politische Bindung der Bevölkerung war gespalten und zersplittert. Die Gefahren für die Republik haben aber selbst manche Linksliberale unterschätzt. 1927 charakterisierte Heuss die Nationalsozialisten als eine Bewegung, die fast nur noch an die Inflationsperiode erinnere und ihren Elan verloren habe.107 Nicht nur ihn trafen der dann einsetzende immense Aufstieg des Nationalsozialismus in der Wählergunst und die endgültige Marginalisierung der liberalen Parteien auf dem falschen Fuße. Zu diesem Zeitpunkt war der Linksliberalismus zu einem politischen Kampf auch schon nicht mehr imstande, der ihnen von den Verfassungsfeinden abverlangt wurde. Die Strategie, durch eine linksliberale Auslegung der Volksgemeinschaft eine ausreichende Intensität der politischen Bindung zur nationalen Demokratie zu erzielen, so dass die nationale Einheit ungeachtet aller ideologischen Kämpfe um die Zustimmung der Bevölkerung bewahrt blieb, versagte auch mit Blick auf die Anhänger des Linksliberalismus selbst. Die in den frühen Parteitagen eingeforderte kämpferische Einstellung trug keine Früchte in der Jugendarbeit. Die Jungdemokraten (der Reichsbund Deutscher Demokratischer Jugendvereine) begannen 1919 hoffnungsvoll mit etwa 20.000 Teilnehmern auf ihrer ersten Versammlung. 1929 dagegen fanden sich nur noch 2.000 Personen ein.108 Die demokratische Jugendorganisation schrumpfte ebenso rasch wie die Partei selbst. Führende Linksliberale wie Theodor Heuss schienen zudem kaum Verständnis für die Jungdemokraten aufzubringen, wie ein Brief an Koch-Weser vom 18. Dezember 1924 verrät.109 Das 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das immerhin bereit war, den Straßenkampf gegen die Feinde der Republik aufzunehmen, war gleichwohl kein Ort eines nachhaltigen linksliberalen Engagements; dazu war es wohl auch der Arbeiterbewegung zu nahe, so dass ihm bis zuletzt nur Linksliberale mit gewerkschaftlicher Erfahrung angehörten, etwa Anton Erkelenz, der wohl prominenteste linksliberale Anhänger neben dem Mitbegründer des Reichsbanners Ludwig Haas, der freilich schon 1930 verstarb. Preuß hatte wenigstens keine Scheu, vor dem Reichsbanner Vorträge zu hal-
107 T. Heuss, Politik (wie Anm. 3), S. 138. 108 B. B. Frye, Democrats (wie Anm. 26), S. 94. 109 Erwähnt ebd., S. 95.
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ten und emphatisch für die kämpferische Unterstützung der Verfassung zu werben, doch er starb bereits 1925. Die Verzweiflungsentscheidung des Linksliberalismus, 1930 das Bündnis mit dem Jungdeutschen Orden zu suchen, zeigte, dass es das eine ist, über die formalen Prinzipien der Demokratie hinaus eine entsprechende politische Kultur zu fordern, und das andere, sie auch zu praktizieren: Nachdem man jahrelang die Beziehungen zum Reichsbanner bis auf wenige Ausnahmen vernachlässigt hatte, verblieb der Linksliberalismus am Ende der Republik ohne jene kämpferische Fähigkeit, die man sich doch selbst eingangs der Republik abverlangt hatte, und die Abwanderung vor allem zur Sozialdemokratie setzte ein. Der Deutungskampf um die politische Verbindlichkeit war verloren gegangen. Das Paradox der linksliberalen Deutung der Volksgemeinschaft, die intensive Bindung einer Gemeinschaft auf die Gesamtbevölkerung zu beziehen, welche sich freilich nicht durch Zugehörigkeit zur Nation alleine definierte, war nur auflösbar gewesen durch die Betonung des mitgliedschaftlichen Charakters des Volkes, verstanden als politisches Volk und somit beruhend auf der Gleichrangigkeit der Bürger. Diese Auslegung war aber offenkundig nicht imstande, die Intensität der Bindung einzufangen, welche der Linksliberalismus generieren musste, um im Deutungskampf bestehen zu können.
UNDERSTANDING FREEDOMS: AMERICAN LIBERALISMS IN THE AGE OF FRANKLIN D. ROOSEVELT Maurizio Vaudagna The Depression years were pivotal to the establishment of American “social” or “New Deal” liberalism as one of the main political cultures and programs to permeate American public life until the late 1970s, albeit in different versions. The “Age of Roosevelt” is also fundamental for a shift in the meaning of the term “liberty”, the central value of liberal culture in U. S. politics. Liberalism is essentially the set of principles needed to shape a society based on liberty and the policy, administrative, institutional and educational tools needed to reach this purpose. Following in the footsteps of Roosevelt’s canonization in the American pantheon and Arthur M. Schlesinger Jr.’s masterful Roosevelt biography,1 a sort of conventional wisdom developed regarding the nature and features of American liberalism during the post-World-War-II decades of the so-called “New Deal Order” that continued until the 1970s and even beyond.2 When British historian and journalist Geoffrey Hodgson wrote in the late 1960s, he considered the main characteristics of the “liberal consensus”, which had become central to American public life after World War II, to be the following: 1) that capitalism was the most beneficial economic order; 2) that capitalism and democracy were mutually reinforcing and interdependent; 3) that there was nothing essentially wrong with American society and incremental reform was the best way to mend its defects; 4) that economic growth was the main instrument to increase opportunity and bring about needed change; and 5) that the “liberal consensus” was held together by opposition to totalitarian communism. Historian William H. Chafe has observed that this “interpretative assessment crystallized the changes that had occurred in definitions of liberalism during the New Deal and World War II, and it suggested the degree to which these definitional changes shaped the politics of an era.”3 1 2 3
Arthur M. Schlesinger Jr.: The Age of Roosevelt, 3 voll., Boston 1957–1960. On the notion of the “New Deal Order” see Steve Fraser / Gary Gerstle, eds.: The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930–1980, Princeton, NJ, 1989. William H. Chafe: Introduction, in: Id., ed.: The Achievement of American Liberalism. The New Deal and Its Legacies, New York 2003, pp. XI–XVIII, id. p. XI. Hodgson’s synthesis is to be found in the same page.
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Since the late 1970s, however, a variety of historical and social science schools have moved away from this conventional wisdom, a process that has gained momentum since the economic downturn of 2008, in the wake of which both scholarship and public opinion have understandably looked back to the most prominent predecessor of the present recession. Interpretations of the New Deal have multiplied and the old Schlesingerian orthodoxy has stopped going strong. Neoconservatives have claimed that Roosevelt retarded recovery and destroyed the potential and creativity of the American entrepreneurial spirit embodied in the private sector. Distinguished historian and political scientist Ira Katznelson recently held that the “protracted New Deal” lasted from Roosevelt’s oath of office in 1933 until Eisenhower’s inauguration in 1953, following twenty years of democratic presidents, and in the meantime established the governmental, economic, policy, security and growth foundations that are still prevalent in today’s America.4 Of these varying opinions, this author’s preference goes to a theory likely first advanced by political scientist Theda Skocpol in the mid-1980s who stressed that the New Deal reform and welfare-state-building potential came to an end because of the new political and economic context created by World War II.5 With regards to the focus of the present article, i. e. liberalism, the main point is that the formula “New Deal liberalism” is incorrect or at least only partial, because during the Roosevelt-Truman era American “social” liberalism actually divided into two subspecies. “Four Freedoms liberalism” was informed by a vision of liberty, society, government and citizenship that culminated in Roosevelt’s famous State of the Union Address of January 1941. The other has often been called “Vital Center liberalism” after the title of the famous 1949 book by public intellectual Arthur M. Schlesinger, who insightfully reconsidered the foundations and main tenets of liberal thought after the 1946–1948 split in liberal ranks.6 Both these brands of social liberalism were unified by the vision of an activist government redressing social imbalances and stimulating economic growth against the objections of old-fashioned “free market” liberals, who lamented that the New Dealers of the 1930s had unwarrantedly stolen the word “liberalism” from them. However, the afore4
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Ira Katznelson: Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013; the neoconservative interpretation has recently found its most popular voice in Amity Shlaes: The Forgotten Man. A New History of the Great Depression, New York 2007. Kenneth Finegold / Theda Skocpol, eds.: State and Party in America’s New Deal, Madison, WI, 1995; Theda Skocpol: The Limits of the New Deal System and the Roots of Contemporary Welfare Dilemmas, in: Ann Shola Orloff / Theda Skocpol / Margaret Weir, eds.: The Politics of Social Policy in the U. S., Princeton, NJ., 1988, pp. 293–311; Peter Evans / Dietrich Rueschemeyer / Theda Skocpol, eds.: Bringing the State Back In, New York 1985; Theda Skocpol: Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the U. S., Cambridge, MA, 1992. Arthur M. Schlesinger Jr.: The Vital Center. The Politics of Freedom, Boston 1949.
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mentioned summary by Hodgson shows that supporters of these two brands of social liberalism sharply disagreed on how fair American society really was, how totalitarianism should be understood and fought against and how profound and wide-ranging the basic reforms needed to be. THE “AGE OF ROOSEVELT” AND ITS “FOUR FREEDOMS LIBERALISM” Until some thirty years ago historians studying the New Deal tended to focus primarily on the years 1934 to 1937 when the so-called “Second Hundred Days” legislation – including the Social Security Act, the Wagner Labor Relations Act and the large appropriation of the Works Progress Administration – was approved and enacted. Despite the stupendous democratic victory in the presidential elections of 1936, according to established wisdom the great season of New Deal reform had come to an end by 1937. Now the periodization has changed significantly. The central idea is that the vision of Ameri ca shared by most New Dealers, despite its many variations, significantly evolved between 1933 and 1941, and even more so if the New Deal lasted until Roosevelt’s death on April 12, 1945 as some historians have recently argued. The New Deal vision initially stressed the government’s duty to help the “little fellow” battered by the Depression, together with his dependents, the weak and the innocent – an approach that still bore a touch of paternalism and an elitist “spirit of service.” With the onset of the war it evolved into a “Four Freedoms liberalism” that focused on the constitutional tradition of political, civil, economic and social rights and liberties as essential features of democratic citizenship. The New Deal time span started being expanded in the late 1960s and throughout the 1970s when the idea emerged that a “Third New Deal” had taken place in 1938–1941, centered on administrative reform, the Farm Security Administration, the U. S. Housing Authority and the Fair Labor Standards Act, most of which had met tough opposition in Congress where the traditional alliance of Republicans and conservative southern Democrats had managed to regain control.7 However, even more important in redefining the time sequence of Roosevelt’s liberalism has been reassessing the weight of the international factor in interpreting the domestic programs of the New Deal 7
Barry D. Karl: The Uneasy State: The U. S. from 1915 to 1945, Chicago 1983, pp. 145ff; Id.: Executive Reorganization and Reform in the New Deal: The Genesis of Administrative Management, 1900–1939, Cambridge, MA, 1963; Richard Polenberg: Reorganizing Roosevelt’s Government: The Controversy Over Executive Reorganization, 1936–1939, Cambridge, MA, 1966; John W. Jeffries: The “New” New Deal: FDR and American Liberalism, 1937–1945, in: Political Science Quarterly 105/3 (1990), pp. 397–418.
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and the war years. An activist government, social security, public spending and the expansion of both the federal state and the executive had all evolved under the dark threat of an expansive dictatorial order that had not only prevailed in many European countries but had moved beyond the borders of the “Old World” to Latin America and the Far East. In an age of uncertainty regarding American life, any similarities between anti-Depression policies and bold, innovative dictatorial governments were not only politically damaging but also raised a lot of questions about where the country was really heading. The peacetime comparison with dictators regarding new social and economic measures and the need to conceive a democratic, liberal meaning for the activist, centralizing New Deal state pressured Roosevelt and the New Dealers to rationalize reform increasingly in terms of democratic liberties and a free citi zenship endowed with multiple rights. When the confrontation with fascism turned into a world war after 1939, the New Deal and the war years merged into a single time unit in the development of Roosevelt’s liberalism. Despite the fact that, as Roosevelt’s famous line went, “Dr. Win the War” replaced “Dr. New Deal” at center stage of American public life between 1941 and 1943, the meaning of liberalism during the war years was exactly the opposite. In fact, the war gave Roosevelt the chance to revive the social goals of his reform, a potential that was embodied in language and proposals that were clearly removed from the rationale of minimum social security that had characterized the early phases of the New Deal. Instead, wartime projects and bills spoke increasingly of “freedom from fear”, “freedom from want”, the right of all Americans to a job and other social rights of citizenship. The change in the political climate of the late 1930s and the war years caused this bold attempt at a newer worldwide and domestic New Deal to be defeated in Congress, and President Harry Truman himself put the brakes on the militant legacy of his predecessor’s third and fourth administrations, which however has remained a defining feature of Roosevelt’s liberalism. THE NEW DEAL AND THE PROGRESSIVE MOVEMENT The place of government in American life and its relationship with individual liberty is a central theme of 20th-century American liberalism. Many of the programs put in place by the New Deal, especially during its early years, had already emerged in the experience of the Progressive Movement and World War I. Although distinguished historian of the New Deal and American liberalism Alan Brinkley has stressed the pragmatic, experimental, often confused nature of the Roosevelt administration, he has also argued that New Deal efforts were “the product … of the well of inherited ideologies that [Roosevelt] and other New Dealers had derived from the reform battles of the first third of the century … The New Deal may have had no coherence, but it did have
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foundations – many of them.”8 However, the Progressive Movement had been many things to many people. Various aspects of Progressivism could therefore be referred to as precedents for New Deal reforms. Theodore Roosevelt’s New Nationalism as well as the government’s economic coordination during World War I had inspired important early measures like the National Recovery Administration and the Agricultural Adjustment Act of 1933. On the other hand, the Public Utility Holding Company Act and the “Soak the Rich” Revenue Act, both of 1935, can be related to the legacy of Woodrow Wilson’s New Freedom and its “trust-busting” trends. And the wartime economic coordination created a precedent that helped legitimize government activism and interventionism. On the whole, however, the progress of New Deal reform, starting from the so-called “shift to the left” of late 1934, was marked more by its increasing distance from the Progressive mindset than the other way around. Departures from Progressivism included the impact of the international context and the need to think of reform in terms of liberty; the primacy of the humanitarian viewpoint in an age of profound poverty and suffering; the central role played by the value of social security; the emergence of a welfare state; an American-style “mixed system”; and the prioritization of social insurance, assistance and government. In fact, most New Deal measures were framed, rationalized, fought for and explained to the American people in a very different way. One symptom of that separation is the process by which the word “liberal” came to replace the term “progressive” in the 1930s and 1940s to identify the social, political and intellectual alignment that aimed to connect economic growth with social security; guarantee basic social and economic dignity to all Americans; contain inequalities; and use an activist federal government to achieve these goals. According to many interpreters Progressivism was a movement of the urban middle classes who valued expertise along with efficiency and favored government regulation and economic coordination. And the terminological ambiguity continued after the war when Wallace’s Progressive Party of 1948 claimed Roosevelt’s legacy in competition with the self-defined “liberals” of the new ADA (Americans for Democratic Action). Despite the fact that specialists with varying ambitions filled New Deal agencies, as they had those of Progressives, the heart of the New Deal vision was more humanitarian than technological, geared more towards brotherhood, cooperation and compassion than efficiency and scientism. In the language of the administration, the American people had to face both emergencies – the Depression and the war – by joining hands and strengthening their confidence in order to keep their freedoms and rebuild their prosperity. The legacy of Roosevelt’s liberalism is one of human togetherness and service more than 8
Alan Brinkley: The New Deal Experiments, in: W. H. Chafe, Achievement (as in annot. 3), pp. 1–20, id. p. 2.
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scientific and technological optimism applied to politics. Roosevelt recited his evening radio addresses, the Fireside Chats, in the style of the warm, paternal sentimentalism of democratic affections in stark contrast with not only the hallucinatory, militarist, irrational tirades of fascist dictators but also the scientific and technological optimism of 1930s national planners. It is no accident that one of the most famous and beautiful Roosevelt quotations praises a government of compassion: “Governments can err, Presidents do make mistakes, but the immortal Dante tells us that divine justice weighs the sins of the cold-blooded and the sins of the warm-hearted in different scales. Better the occasional faults of a Government that lives in a spirit of charity than the consistent omissions of a Government frozen in the ice of its own indifference.”9 Not only was Roosevelt defending the New Deal’s often cited pragmatism but he was also affirming its humanitarian spirit of brotherhood and service. Moreover, many specialists in government ranks saw their skills as tools for achieving the social and human goals they all shared. While a Progressive vein was still quite evident in Roosevelt’s First Inaugural – especially the Progressivism of World War I with its insistence on discipline and emergency – later New Deal messages, addressed to the population both at peace and at war, reflected more of a populist common-sense democracy (of which the president was a powerful spokesperson) than rational efficiency or scientism. Progressivism is often contrasted with populism – a mental and political attitude characterized by confidence in the wisdom and virtues of that sum of innumerable individuals and families called “the people” and especially “the American people” – and the core of the New Deal message was often more populist than Progressive.10 The language of the New Deal in 1933 and early 1934 adopted one of the essential statements of the New Nationalist rationale whereby the cooperation of the entire nation could bring all business groups together to overcome the Depression. However, from late 1934 onwards the populist, anti-monopoly argument was reinstated. The New Deal message often became about “us” versus “them”, the patriot versus the egotist; and current events were frequently explained by portraying a fundamental conflict between “people” and “interests.” A populist orientation towards a binary view of society replaced 9
Franklin D. Roosevelt: “We Are Fighting to Save a Great and Precious Form of Government for Ourselves and the World”. Acceptance of the Renomination for the Presidency, Philadelphia, June 27, 1936, in: The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Vol. 5, The People Approve, New York 1938, p. 235. 10 This interpretation is part of a historiographical trend related to the Depression years – starting with the work of Schlesinger Jr. and moving right up to the massive recent study by Eric Alterman – that narrates the history of the New Deal (and U. S. liberalism as a whole) more as one of personalities than as one of agencies or policies. See Eric Alterman: The Cause: The Fight for American Liberalism from Franklin D. Roosevelt to Barack Obama, New York 2012.
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the unified vision of national cooperation, and the government took clearly sides. Various slogans related to class and money were used repeatedly, ranging from Brandeis’ “other people’s money” to the “soak the rich” tax legislation. Electric companies suffered the “death sentence” of the Public Utility Holding Company Act in 1935, and the “deux cents familles” of the French Popular Front found correspondence in “America’s Sixty Families”, a slogan that moved from the pages of Lundberg’s eponymous 1937 book into daily conversation. The partisan nature of the 1935 legislation (public works, welfare measures, union recognition) was emphasized by the reaction of political groups and public opinion, which took sides along neat, unprecedented class lines. The government’s administrative staff, which was influenced by anti-monopolist and urban reform traditions, was also partisan. In their view, the New Deal’s task was to turn the federal government into an agency that would further the long-range interests of “the people” and the have-nots. Roosevelt said his purpose was to bring the people into the citadel of the state. Even the theme of conspiracy – used widely in populist language – sometimes emerged in the president’s rhetoric. In 1936–37, for example, Roosevelt denounced “economic royalists” and the “industrial dictatorship”, adding that they “are unanimous in their hatred for me, and I welcome their hatred”, and promised “to drive from the temple of our ancient faith those who had profaned it.”11 Another fundamental cause for the shift of the New Deal mindset away from the Progressive precedent has already been mentioned: the international context during the “decade of the dictators.” In the 1930s Stalin and Hitler appeared to initiate some of the most important innovations in state activism and social security, giving rise to what has been called “a welfare without rights and without law.” In liberal countries any program moving in the direction of government activism and public social security was accused of being a potential “road to serfdom”, as Friedrich von Hayek would reiterate in his noted wartime book of the same name. American Republican leaders were particularly conscious of the risky parallel. In 1938, Senator Arthur Vandenberg said for example that “we are dreadfully sensitive these days to symbols – whether they be fasces or swastikas or hammers and cycles [sic] or new blue eagles [the famous symbol of the First New Deal program of industrial recovery] over the White House.”12
11 Citations are from the following Roosevelt addresses: Acceptance of the Renomination (as in annot. 9), pp. 232f; Campaign Address at Madison Square Garden. “We Have Only Just Begun to Fight.” New York City, October 31, 1936, in: ibid., p. 568; The Second Inaugural Address. “I See One-Third of a Nation Ill-Housed, Ill-Clad, Ill-Nourished”, January 20, 1937, in: ibid., 1937 volume, The Constitution Prevails, New York 1941, p. 1. 12 Cited in: William E. Leuchtenburg: Franklin D. Roosevelt and the New Deal, New York 1963, p. 278; see Friedrich von Hayek: The Road to Serfdom, Chicago 1944.
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One of the New Deal’s main tasks became to develop a liberal rationale for the American brand of welfare state haphazardly emerging in the 1930s amidst the threat of totalitarianism. This was a precondition for its political viability, one that significantly distinguished it from its Progressive precedent. The New Deal therefore sought precedents to “canonize” the novelty of the government program as quickly as possible and counter the accusation that it amounted to diving unto a scary unknown. New Dealers often admired adherents of social democracy who were also building their own version of the welfare state in Scandinavia. However, they could not identify with the political and intellectual traditions stemming from the experience of the European working class. Moreover, “socialism” was one of the “isms” critics frequently referred to when accusing the government of being un-American and unpatriotic. The most frequently cited precedent was therefore the British social liberalism of Herbert Asquith and David Lloyd George, which had managed to merge social protection and liberal rights at the beginning of the century – a concern that remained prominent in the noted Beveridge Report of 1942. However, legitimizing the liberal qualities of New Deal social policy in light of the British precedent was a difficult task. The authoritarian tradition of social protection that extended from Bismarck’s Germany, which had inaugurated the first modern system of social insurance in the 1880s, to Russian communism and Hitler’s Aryan welfare, was very powerful. According to the propaganda and self-image projected by totalitarian regimes like Nazism and Bolshevism, one of their main merits was their bold policy of social security for the poor and the unemployed, something about which, they argued, liberal democracy was far more timid. There were enough frightening precedents to cast significant doubt on whether social security and liberty could indeed go together. As former president Herbert Hoover observed, “liberalism is now under beleaguered attack even in the great countries of its origins.”13 On the U. S. domestic scene, the worldwide systemic confrontation of the 1930s manifested itself in the battle over the New Deal’s “Americanness” or lack thereof, which caused the U. S. government and the president to think of social reform increasingly in terms of liberty. Various opponents had already been brandishing this value against Roosevelt’s program since its inception, yet freedom was too important to both American national identity and the international confrontation of the 1930s to be left only to Roosevelt’s enemies to fight for.
13 Herbert Hoover: The Challenge to Liberty, New York 1973 (orig. 1934), p. 14. On the conservative criticism of what many conservatives felt was a threat to the correct understanding of liberalism, see Maurizio Vaudagna: Conservative Critics of the New Deal in the 1930s: Towards Dictatorial Europeanization?, in: Id., ed.: The Place of Europe in American History: Twentieth Century Perspectives, Torino 2007, pp. 267–313.
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THE FIGHT OVER THE CONCEPT AND MEANING OF LIBERALISM The “liberal consensus”, if it ever existed, was therefore a postwar matter. In the 1930s, on the other hand, a furious controversy raged over values and visions and, as Eric Alterman has titled his recent book, liberalism was the subject of a fight.14 With the exception of the 1941–43 interlude, the battle over philosophy and policy continued into the final war years among everyone who described themselves as “liberal” inside and outside the administration. One of the fundamental components of the New Deal’s success in redefining the meaning of liberalism was its ability to redefine the meaning of liberty in American life as well. This process culminated domestically and internationally in the famous “Four Freedoms Address” of January 6, 1941, which summarized the core significance of the “Age of Roosevelt” and proclaimed a sort of global New Deal. Throughout the 1930s and the early 1940s New Deal thought went through a sort of coming of age. In 1933–1934 it referred to notions of national cohesion, economic coordination, social cooperation and scientific modernity, all of which had previously characterized American Progressivism. The “Second New Deal” of 1935 focused instead on public spending, socio-economic minimums and safety nets. Then, the domestic controversy over the reform legislation of 1935–1936 and the presidential election of 1936 revolved around defining the meaning of freedom in America. In fact, the anti-Roosevelt campaign of 1936 – mainly waged by the American Liberty League, an ad hoc association of Republicans, businessmen and dissenting Democrats, rather than the Republican Party itself – centered on the idea that the New Deal was violating the Constitution and American liberties. At the same time, the threat of the European dictators, not only as social and economic models but also as dangerous warmongers, was more menacing than ever. Thinking in terms of liberty and the rights of citizenship consequently took priority in the administration’s vision. Unlike traditional liberals who stressed the interdependence of individual liberty and free enterprise and seemed to follow what had become the established wisdom of American politics after the Republican 1920s, those who broke from such wisdom in the following decade did so because, as historian William Chafe has argued, “with millions of the unemployed given public-works jobs and welfare payments, and with myriad new welfare mea sures from social security to disability and unemployment insurance, a floor of government support for the basics of existence became a foundational pillar of liberalism.”15 The combined threats of the misery caused by the Depression and the “welfare without rights and without law” furthered by fascist 14 E. Alterman, Cause (as in annot. 10). 15 W. H. Chafe, Achievement (as in annot. 3), p. XIV.
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dictators, together with the American tradition of individual liberty, caused New Deal Progressives to realize that a starving person was not free, that society and the state were responsible for the social and economic dignity of every citizen and that the entire nation had to deal with “want.” While there were domestic precedents for welfare measures dating back to the early 20th century, the Depression – the “great internationalizer” – caused New Dealers to look at experiments abroad for such examples.16 This is one reason the New Deal was often blamed for “Europeanization.” While New Dealers often looked at such social-protection experiments independent of the political regimes in place around them, the American constitutional legacy, the international competition with the dictators and the political viability of New Deal reform programs in the face of accusations of “un-Americanness” fuelled their stance against the central fascist, Stalinist objection to democracy – i. e. that the complexity of modern mass society required unified, centralized command, unbending obedience and an end to the fictional political liberties of the 19th century. While the political thought of New Republic-style national planners sometimes marginalized freedoms “of”, New Dealers recognized their value because they kept the intellectual threat of totalitarian thought at bay. As the New Deal matured, words that Roosevelt had used during his first administration – like the spirit of service, maternal or paternal care, charity and compassion – became obsolete as they hinted at a sort of top-down benevolence and condescension that ultimately purported more than a trace of authoritarianism. With the advancement of the decade, reform was increasingly justified in terms of both “negative” and “positive” liberty and the rights of citizenship. John Dewey became the most emblematic philosopher of the spirit of the mature New Deal. As the U. S. moved closer to war, the merging of domestic and international needs gave rise to the “Four Freedoms” address – the peak of the intellectual and political synthesis of “Four Freedoms liberalism.”17 The New Deal did not seize control and change the meaning of American liberalism without a fight, however. Many Republicans, including many Brandeisian supporters of regulated competition, the main business associations and most of the press fought hard to keep control of their own traditional understanding of the liberal vision, which centered on the worship of individual rights, an economic interpretation of liberty that mainly meant 16 Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA, 1998. 17 The distinction between “negative” and “positive” liberty was notoriously launched by Isaiah Berlin in 1958 during his Inaugural Lecture at Oxford University; see Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty. An Inaugural Lecture Delivered Before the University of Oxford on 31 October 1958, Oxford, UK, 1961; see also Id.: Four Essays on Liberty, London 1969. Negative liberty is basically that which demarcates the sphere of the individual from that of the government, while “positive liberty” stresses the possibilities of individuals and groups for self-realization.
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“free enterprise” and the setting of narrow limits on government discretion and interference. Herbert Hoover called this “true liberalism”, even if during his administration he framed a role for the government as consultant and promoter, thus leading some historians to refer to it as “the associative state.” New Deal opponents (and even some members from inside the administration) mightily resisted adopting the meaning of liberalism being successfully developed by New Dealers. As 1936 Republican presidential candidate Alfred Landon stressed, “Unfortunately, now as always, there are people today calling themselves ‘liberal’ who regard any suggestion of economy as reactionary.” In contrast to New Deal allegations that Republicans felt no compassion for the sufferings of the people, Landon believed that public spending was too heavy a burden to place on family and company budgets. “Those in power responsible for this reckless extravagance are not liberals. They are more nearly benighted reactionaries.”18 Frank R. Kent, a radical anti-New Deal columnist for the “Los Angeles Times”, objected that self-defined “liberals” encompassed a diverse crowd, a mixed bunch of happy spenders of government money, strong in abstract ideologies and weak in limitations stemming from the hard facts of the economy.19 In 1936 former Treasury Secretary Ogden L. Mills published the book “Liberalism Fights On” in the same vein.20 The “old liberals” found solace in the Supreme Court, whose sentences of 1934–1935 invalidated fundamental parts of Roosevelt’s program and, much to the delight of government critics, seemed to mean that New Deal “liberalism” was incompatible with the fundamentals of the American constitutional tradition and the “American Way.”21
18 Frederick Palmer: This Man Landon: The Record and Career of Governor Alfred M. Landon of Kansas, New York 1936, p. 241. 19 Frank R. Kent: The Great Game of Politics, in: Los Angeles Times, May 31, 1935. 20 Ogden L. Mills: Liberalism Fights On, New York 1936. 21 Eventually the New Deal semantic victory was complete, however. From the 1930s onwards liberalism became the label of an activist government, social policies, public social services and government spending as both a social and an economic tool (even if race, which would be central to postwar liberalism, was marginal in its New Deal precedent). The semantic battles of the 1930s have had no encore, and no conservative, from Barry Goldwater onwards, has ever tried to vindicate or re-appropriate the word “liberalism” using the old Hooverian terms. The conservative comeback of the 1980s tried to bury the shameful “L word” for good but never tried to recover its older, anti-statist meaning. The New Deal had compromised the word “liberalism” beyond repair. Gary D. Best has tried to revive the scholarly understanding of liberalism as individualism and free enterprise in a libertarian, neoconservative vein, and has argued that the New Deal was “collectivistic” rather than “liberal” in his book The Retreat from Liberalism: Collectivists Versus Progressives in the New Deal Years, Westport, CN, 2002.
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THE WAR AND THE LEGACY OF ROOSEVELT’S LIBERALISM Roosevelt’s “Four Freedoms Address” was a bold statement with an innovative promise. By describing social protection in terms of “freedom”, especially “American freedoms”, he was referring to a legal, constitutional tradition that matched and equated the terms iura and libertates – rights and liberties. At a time when nobody was really sure of how to answer union leader Walther Reuther’s question of “whether it is possible to feed, clothe and house people without putting their souls in chains”,22 the president emphasized that social rights were not a “challenge to liberty”,23 as Hoover had objected; instead, they increased the liberties of Americans. “New freedoms,” Roosevelt argued, were needed for translating “freedom in modern terms”,24 By boldly merging freedoms “of” (speech and worship) and “from” (fear and want), the president vested the latter with the same universalism – to be enjoyed by “all Americans” – that characterized the former. He also stressed interdependence and indivisibility whereby no category of freedom could stand if they were not all equally enforced. The “Four Freedoms” were launched both as a worldwide promise, to be reiterated in the Atlantic Charter of 1941,which raised the hopes of young Nelson Mandela for a newer, freer Africa, and in endless wartime international statements, and as a domestic program. New Deal reform was essentially put on hold between 1941 and 1943. “We must start winning the war”, said Roosevelt in 1942, “before we do much general planning for the future.”25 The president made it a priority to convince Congress, whose conservative majority had resulted from the midterm elections of 1938 and especially 1942, to support the war effort, despite the fact that both Houses opposed new reforms and frequently dismantled existing New Deal agencies. But liberals in the administration thought of the reversals as a temporary interruption to the unfinished New Deal job, and different agencies developed proposals on how to enforce the socio-economic rights proclaimed in the “Freedom from Want” metaphor. In their view, the war would not be the end of reform but, on the contrary, an occasion to launch a new set of social measures and social rights at a time when the loss of life, the shrinking of consumption and the 22 Steven M. Gillon: Liberal Dilemmas: The ADA and American Liberalism, 1947– 1968, PhD. Dissertation, Brown University 1985, p. 36. 23 H. Hoover, Challenge (as in annot. 13); see also Richard K. Caputo: Welfare and Freedom American Style: The Role of the Federal Government, vol. I and II, Lanham, MD, 1991–1994. 24 Eric Foner: The Story of American Freedom, New York 1999 (orig. 1998), p. 234. 25 David Brody: The New Deal and World War II, in: John Braeman / Robert H. Bremner / David Brody, eds.: The New Deal, vol. 1: The National Level, Columbus 1975, pp. 267–309, id. p. 270.
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sacrifice of fathers being separated from their families caused a promise of postwar security and prosperity to become as necessary in the U. S. as the famous Beveridge Report had proclaimed for Britain in 1942. Congressional conservatives feared that New Dealers wanted to take advantage of the war “to make America over”, and in fact that was precisely their intention. They saw their hopes met when the president introduced a “Second” or “Economic Bill of Rights” with a strong emphasis on social rights and full employment in his State of the Union Address of January 1944, when victory was at hand and “Dr. New Deal” was poised to enjoy a comeback. As Roosevelt biographer James MacGregor Burns has noted, it was “the most radical speech of his life. Never before had he stated so flatly and boldly the economic rights of all Americans. And never before had he so explicitly linked the old bill of political rights against government to the new bill of economic rights to be achieved through government.”26 Moreover, the president was quite open about their universalism. As he contended, “We cannot be content, no matter how high that general standard of living may be, if some fraction of our people – whether it be one-third or one-fifth or one-tenth – is ill fed, ill-clothed, ill housed, and insecure.” However, the most radical passage of the president’s message is where he dared challenge the sacred atemporality of the Constitution and the Bill of Rights. Roosevelt recalled that the Republic had always protected “certain inalienable political rights”, which were “our rights to life and liberty.” But, he added, “as our Nation has grown in size and stature, however – as our industrial economy expanded – these political rights proved inadequate to assure us equality in the pursuit of happiness. We have come to the clear realization of the fact that true individual freedom cannot exist without economic security and independence … In our day these economic truths have become accepted as self-evident. We have accepted, so to speak, a second Bill of Rights under which a new basis of security and prosperity can be established for all regardless of station, race, or creed.”27 The launch of the “Second Bill of Rights” was accompanied by a flurry of social and economic legislation in the “Freedom from Want” vein. One notable example was the Full Employment Bill of 1945, which would mandate a government-guaranteed “right to work”, a full-employment economy 26 Ibid., p. 301. As Daniel Rodgers has noted, the language of rights had not been popular in the 1930s, since it reminded Progressives that between the 1870s and the mid-1930s American courts had been busy sanctifying the “right of free contract” on behalf of which labor and protective legislation had been invalidated in favor of “freeing” the worker of all “paternalistic” constraints. Fascism and its denial of “inalienable rights” is what brought rights talk back. See Daniel Rodgers: Rights Consciousness in American History, in: Daniel J. Bodenhamer / James W. Ely Jr., eds.: The Bill of Rights in Modern America: After 200 Years, Bloomington 1993, p. 13. This article has been published in several different versions. 27 Franklin D. Roosevelt: State of the Union Message to Congress, January 11, 1944, The American Presidency Project, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=16518.
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and compensatory public spending should American business fail to provide enough jobs. In the area of healthcare reform, the goal of the Wagner-Murray-Dingell Bill of 1943 was to secure the “right to good medical care” via compulsory federal health insurance that would cover the vast majority of the population.28 Internationally, the language of the “Four Freedoms” enjoyed enormous popularity, and what theretofore had only been an American rationale of social reform became the vision of victorious western democracies promising a postwar world of cooperation, growth and security. As government messages stressed repeatedly, the war had been fought to defend American families and their American way of life within a liberal democracy that saw freedoms “of” and freedoms “from” join hands at center stage. The political climate was changing both at home and abroad, however. In the U. S. reservations about the “Four Freedoms” had never disappeared, especially with regards to “freedom from fear” and “from want.” As Roosevelt proclaimed in a 1944 campaign speech, “I believe in free enterprise – and always have. I believe in the profit system – and always have. I believe that private enterprise can give full employment to our people.”29 His words were to no avail. As one New Yorker complained, “Freedom of speech and religion were fine, but freedom from want and fear were ‘New Deal freedoms’, not ‘American freedoms’ since they encouraged individuals to become dependent on the government.”30 The war had done nothing to silence the anti-welfare objections among both free-market liberal and conservative circles, who argued that the amount of government dictation required for comprehensive social protection would inevitably limit individual freedom. Moreover, as war industry jobs brought prosperity back, the “stagnationist” pessimism of the 1930s and early 1940s gave way to confidence that American business could meet the people’s needs because of its stupendous performance in military production. The argument went that if American business was winning the war, it could also “win the peace.” American wartime patriotism did not display the egalitarianism and sense of common suffering that bound Britons together during the German bombing campaigns of 1940–1941, when defeat seemed likely, a German invasion seemed possible and resistance meant shared, fundamental sacrifices including loss of life, home, food and the basic conditions for survival. Consump28 Antonio Soggia: La nostra parte per noi stessi. I medici afro-americani tra razzismo, politica e riforme sanitarie (1945–1968), Milan 2012, pp. 311f. 29 Franklin D. Roosevelt: “We Are Not Going to Turn the Clock Back”. Campaign Address at Soldiers’ Field, Chicago, October 28, 1944, in: The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, 1944–45 Volume, Victory and the Threshold of Peace, New York 1950, p. 376. 30 E. Foner, Story (as in annot. 24), p. 228; see also Natalie Marie Fousekis: Demanding Child Care: Women’s Activism and the Politics of Welfare, 1940–1971, Urbana, IL, 2011.
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tion may have been contained in America in favor of war production, but employment and wages began to rise again following the ten years of crisis. No American cities were bombed, and while many U. S. soldiers lost their lives, Britain and France, let alone the Soviet Union and the defeated nations, lost far more. The sense of shared national mourning as the predominant factor of wartime public life never prevailed in the U. S. the way it did in Britain. In fact, the war had the opposite effect on social reform as it had in Britain, where shared sacrifices legitimized the expansion of the welfare state enacted by the labor government in the late 1940s. In the U. S., on the other hand, wartime public life announced the end of reform and even a measure of social retrenchment. A full-employment, public-private welfare-state program consequently suffered a chain of political defeats in Congress despite its pivotal role in the American public conversation during the war. As Doris Kearns Goodwin has said, “by 1940, the New Deal revolution had sputtered to an end. The country was weary of reform, and Congress was in full rebellion against the administration’s domestic agenda. A bipartisan coalition of conservative Southern Democrats and Republicans had seized the initiative, crushing the President’s housing program, slashing appropriations for relief, killing the federal theater project, and eliminating the administration’s undistributed profits tax.”31 Opposition in Congress heavily targeted social rights legislation. Conservatives argued that such rights were “socialistic” and implied obligations no government could fulfill; that they hindered a market economy of free enterprise and resulted from an “alien philosophy” that ran counter to the Constitution and the Bill of Rights certifying the individual liberties of all Americans. Congressional defeats were not only tied to individual pieces of legislation; they related to the whole concept of social and economic citizenship. In September 1945, the most distinguished political observer in the country, Walter Lippmann, criticized the idea that “all Americans” had the “right to work” as proclaimed in the Full Employment Bill then under consideration in Congress. Lippmann argued that there was no such thing as a “right to work” since it was not justiciable in court, and that in this respect the bill was just “political rhetoric.”32 In Harry Truman’s language the economic notion of “opportunity” essentially replaced that of social and economic rights. As Eric Foner has pointed out, “a week before the Truman Doctrine speech, the president, in a major address on economic policy, reduced Roosevelt’s Four Freedoms to three. Freedom of speech and worship remained, but freedom from want and fear had been superseded by freedom of enterprise, ‘part and 31 Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time. Franklin and Eleanor Roosevelt. The Home Front in World War Two, New York 1995, p. 43. 32 Walter Lippmann: US Bill to Provide Full Employment. Makes “Big, Loose Promises”, in: The Argus (Melbourne), September 19, 1945.
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parcel’, said Truman, ‘of what we call American.’”33 As sociologist and historian Theda Skocpol concluded: “The New Deal dream of national social and national economic policies to meet the many needs of all Americans had been dissolved by the domestic politics of the war years. The dream would not soon reappear, and never again in the same way.”34 The last hurrah of “Four Freedoms liberalism” was the U. N.’s Universal Declaration of Human Rights of 1948, which still encompassed all categories of civil, political, economic and social rights. Thereafter, both the international tension of the Cold War and the domestic political battles of the late 1940s prevented the Declaration from being translated into a single executive instrument. In 1952, following a long battle, the United Nations approved two different Covenants to be added to the Declaration – one for political and civil, the other for social and economic rights – and by then the legacy of Roosevelt’s liberalism had been deeply eroded. As Chafe has stressed, after 1948 the anticommunist commitment of all American political actors, including liberals, made it “impossible to advocate left-of-center domestic policies like national health care or childcare services, inasmuch as these suggestions might be construed as ‘socialistic’, collectivist, and hence sympathetic to communist ideology.”35 CONCLUSION Throughout the New Deal and World War II a liberal trajectory developed in the U. S. with the potential to redefine the foundations of American social and economic citizenship in terms of universal rights to be recognized as fundamental liberties for “all Americans.”36 This view implied several significant revisions of the traditional liberal interpretation of the 1930s. In a nutshell, however, it meant pushing the end date of the New Deal from 1937 or 1940 to Roosevelt’s death in April 1945. The merging of domestic and international needs during World War II sparked the launch of a renewed reform program based on the notion of American liberties and rights of citizenship that Roo33 E. Foner, Story (as in annot. 24), p. 262. 34 Edwin Amenta / Theda Skocpol: Redefining the New Deal: World War II and the Development of Social Provision in the United States, in: A. N. Orloff / T. Skocpol / M. Weir, Politics (as in annot. 5), pp. 81–122, id. p. 122. 35 W. H. Chafe, Introduction (as in annot. 3), p. XII. 36 It is well known that New Dealers focused little attention to the issue of race and black civil rights. Roosevelt was personally lukewarm on the matter and heavily dependent on the large southern democratic delegation in Congress that supported the government on the condition it left southern racial apartheid alone. The promise of universalist social rights launched by the “Four Freedoms” address was therefore very limited. Roosevelt became slightly more vocal on the race issue in the late 1930s and during the war but, whatever his intentions, they only ever remained on paper.
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sevelt proclaimed most eloquently in his “Four Freedoms” address of January 1941. Proposals and bills framed and introduced in Congress during and immediately after the war to implement the new “Four Freedoms liberalism” were ultimately defeated and remained nothing more than plans and visions. There was never a single “New Deal liberalism” at any point throughout the “Age of Roosevelt.” Instead, it followed a parable that moved from a topdown vision of compassion, service and elite responsibility for the wellbeing of the nation to one that insisted on the rights and liberties of Americans. One of the main features of “Four Freedoms liberalism” was the close interdependence of liberties “of” (political and civil) and liberties “from” (fear and want), neither of which could be denied without causing the entire edifice of American freedom to crumble. However, domestic and international factors like the conservative Congress and the Cold War thwarted the most innovative initiatives of “Four Freedoms liberalism.” As Foner has held, “Cold War freedom became fully identified with consumer capitalism, or, as it was universally known, ‘free enterprise’ … Market-based economic growth could afford prosperity to many Americans, at the cost however of rolling back the promise of fairness and inclusive social policies.”37 After the war, Roosevelt’s liberalism would morph into so-called “consensus” or “Vital Center liberalism” after being redefined and deprived of its most innovative, comprehensive aspects – those aimed at increasing social justice in America. After the war a massive internecine battle erupted within liberal ranks, thus drawing a line between “Four Freedoms liberalism” and “Vital Center liberalism.” It is therefore very difficult, if not impossible, to talk of one “New Deal liberalism” from 1933 to the end of the “New Deal Order” in the mid-1970s. All the brands of “New Deal liberalism” that developed between the early 1930s and the early 1950s shared the idea of an activist government that contrasted the notions of a minimal state and freedom from government interference shared by former free-market liberals. However, there were important differences when it came to ideas regarding social and economic justice; the acceptable amount of inequality; the breadth and depth of needed reform; and America’s place in the world. We would therefore do much better to speak of various “New Deal liberalisms” and explore these subspecies separately.
37 E. Foner, Story (as in annot. 24), p. 264. On the issue of economic justice and the market economy, see Alice Kessler-Harris: Capitalism, Democracy and the Emancipation of Belief, Presidential Address at the National Conference of the Organization of American Historians, Milwaukee, WI, April 21, 2012.
Gemeinschaftsideen, Konsensideologie und Wohlfahrtsstaat – Erneuerung des Liberalismus von den 1940er bis zu den 1960er Jahren?
ANTIFASCHISMUS UND EMIGRATION – TRANSFERS UND VERFLECHTUNGEN IM BEGINNENDEN OST-WEST-KONFLIKT Anselm Doering-Manteuffel Kam es seit den 1940er Jahren zu einer Erneuerung des Liberalismus? Welche Bedeutung würde ihr im Rahmen der Liberalismusgeschichte zuzusprechen sein? Diese Fragen sind unmittelbar mit der Geschichte der Fluchtbewegungen aus dem nationalsozialistisch beherrschten Mitteleuropa verbunden. Auf den ersten Blick will es so scheinen, als ob es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Erneuerung des Liberalismus aus dem Geist des Antifaschismus gegeben habe. Eine solche Auffassung greift meines Erachtens zu kurz. Das Bedingungsgefüge der Nachkriegsentwicklung war überaus komplex. Es schloss neben dem Antifaschismus auch den Antibolschewismus in sich und verband beides in der neuen Ideologie des Antitotalitarismus. Dieser wurde zur Legitimationsideologie des demokratischen Westens im Kalten Krieg und war rückgebunden an die starken Transformationsdynamiken in der Gesellschaftsordnung der USA seit der Weltwirtschaftskrise und dem New Deal. I. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit der sofort beginnenden Verfolgung von Kommunisten, Sozialisten und Juden setzte Emigrationsschübe aus Deutschland und Mitteleuropa in Gang, die sich zunächst auf europäische Länder erstreckten – Tschechoslowakei, Frankreich, Großbritannien, Skandinavien. Schon bald aber bewegte sich der Hauptstrom in die Vereinigten Staaten. Es war ein breites Spektrum an Flüchtlingen. Wir finden Künstler – Schriftsteller, Musiker, Architekten, Designer, Filmemacher. Wir finden Nationalökonomen und Wirtschaftstheoretiker. Wir finden Akademiker aus den Natur- und Technikwissenschaften bis hin zur Philosophie und den Sozial- und Geisteswissenschaften. Schließlich finden wir immer wieder auch Juristen. Für sie war die Emigration besonders belastend, weil sie wegen der Unterschiede zwischen dem deutschen und dem angloatlantischen Rechtssystem das Fach und den Beruf wechseln mussten.1 1 Vgl. Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998; Ernst C. Stiefel / Frank Mecklenburg: Deutsche Ju-
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Aus dem Kreis der akademisch gebildeten Intellektuellen wurden einige Emigranten an amerikanischen Universitäten tätig. Andere fanden Aufnahme in Forschungsinstituten und think tanks, später dann – nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren – auch in Regierungsbehörden. Dort konnte man die hochrangigen Fachleute gut gebrauchen, auch wenn einzelne Funktionsträger an den Universitäten und in den Ministerien diesen Europäern mit Skepsis begegneten. Die Vereinigten Staaten und Europa waren damals kulturell und auch kommunikativ noch sehr weit voneinander entfernt. Die Emigranten wurden als Fremde, nicht selten auch als enemy aliens betrachtet. Aber man benötigte ihre Expertise. Sie verfügten über genaue Kenntnis der kulturellen und politischen Verhältnisse in verschiedenen europäischen Ländern, wie sie auf der amerikanischen Seite sonst nicht vorhanden war. Überdies brachten die Emigranten nicht nur ihr praktisches Wissen, sondern auch europäisches Denken und politische Überzeugungen aus ihrer akademischen Herkunft zur Geltung. Mit dem Selbstverständnis des amerikanischen Wissenschafts- und Politikbetriebs passte das nicht unbedingt zusammen, zumal sich unter den Einwanderern zahlreiche marxistisch orientierte Intellektuelle befanden, die dem Kapitalismus und der marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft ablehnend gegenüberstanden.2 Das Aufeinandertreffen des kulturellen Imports mit dem amerikanischen Denken und den Maßstäben der amerikanischen politischen Kultur entfaltete innerhalb von zehn Jahren – Mitte der 1930er bis Mitte der 1940er Jahre – eine ganz beträchtliche Wirkung. Die Europäer wurden von den Einflüssen ihres amerikanischen Lebensumfelds und vom intellektuellen Klima ihrer neuen Umgebung stark geprägt. Das wirkte auf ihr intellektuelles Profil zurück und veränderte ihr politisch-ideologisches Selbstverständnis. So kam es zu einer Hybridisierung der politischen und sozialkulturellen Urteilsbildung über Europa, über Deutschland, über den Faschismus und Nationalsozialismus und über Amerikas künftige Rolle in den europäischen Ländern nach dem Krieg. Transfers und Verflechtungen, über die wir hier sprechen, betreffen in der frühesten Phase von 1935 bis 1945 den Kulturtransfer von Europa nach Amerika (und nicht umgekehrt) sowie die Entstehung eines euroatlantischen Selbstverständnisses, das aus dem Antifaschismus hervorwuchs. Es wurde zur Grundlage dessen, was sich dann als „Westen“ definierte.3
risten im amerikanischen Exil (1933–1950), Tübingen 1991; Thomas Koebner u. a. (Hg.): Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987. 2 Siehe hierzu die eindringlichen Aufsätze von Alfons Söllner: Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006. 3 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Der deutsche Weg nach Westen, in: Martin Sabrow (Hg.): Leitbilder der Zeitgeschichte. Wie Nationen ihre Vergangenheit denken, Leipzig 2011, S. 23–39.
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Dieser „Westen“ bedurfte dauerhaft eines Gegenübers zur Abgrenzung, auch nach dem Sieg über Hitler. Faschismus und Nationalsozialismus standen im politisch-ideologischen Kampf an vorderster Stelle, doch alsbald trat ergänzend die Abgrenzung gegen den „Osten“ hinzu. Die Diktaturen Hitlers und Stalins wurden als verwandte Ausdrucksformen totalitärer Herrschaft verstanden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs bildete daher die Totalitarismustheorie das ideologische Fundament des amerikanisch dominierten Westens. Im Kalten Krieg seit 1948 verengte sich diese Gegnerschaft allmählich auf die Frontstellung gegen den kommunistischen Osten. Darin eingewoben war ein hasserfüllter, bitterer Antibolschewismus, den Renegaten des Kommunismus in den Vereinigten Staaten zur Geltung brachten.4 Im beginnenden Ost-West-Konflikt waren dem Westen mithin folgende Merkmale eingeschrieben. (1) Die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, beruhend auf den je unterschiedlichen amerikanischen und europäischen respektive deutschen akademischen Traditionen, war das früheste, hervorstechende und im Anfang allein sinngebende Merkmal.5 (2) Je mehr sich aber die Feindbeobachtung in den amerikanischen Regierungsämtern der Aufgabe zu stellen hatte, wie man die Entstehung des europäischen Faschismus und des Nationalsozialismus erklären könne, desto mehr geriet die politische Kultur Deutschlands seit der Reichsgründung ins Blickfeld. Dazu gab es schon seit 1915 scharfsinnige Überlegungen des Soziologen Thorstein Veblen, die jetzt Schritt für Schritt historisch-politisch systematisiert wurden, bis die These vom deutschen Sonderweg in die Moderne fertig ausgebildet war. Aus dieser Sicht erschien der Nationalsozialismus als konsequente Folge einer längerfristigen älteren Entwicklung, und die politische und soziale Kultur des wilhelminischen Militärstaats wurde in einen kausalen Zusammenhang mit dem Dritten Reich gestellt.6 (3) Am Ende des zehnjährigen Prozesses euroatlantischer Hybridisierung kam als neues Merkmal des westlichen Selbstverständnisses der Antikommunismus hinzu, weil Renegaten des Kommunismus nicht mehr bereit waren, die Sowjetunion unter Stalin im Sinne der Kommunistischen Internationale wahrzunehmen, sondern als aggressiven Machtstaat und totalitäre Diktatur. Seither war das Selbstbild des Westens mit der Totalitarismusthese verkop4 5 6
Siehe dazu Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York 1951; Richard Crossman (Hg.): The God that Failed, New York 1949. John Lewis Gaddis: The United States and the Origins of the Cold War 1941–1947, New York/London 1972, S. 94–132. Thorstein Veblen: Imperial Germany and the Industrial Revolution (1915), New Brunswick 1990; vgl. Max Lerner: Ideas are Weapons. The History and Uses of Ideas, New York 1939, S. 117–141; Michael E. Latham: Modernization as Ideology, American Social Science and “Nation Building” in the Kennedy Era, Chapel Hill/London 2000, S. 21–68.
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pelt, die nach 1941 in den USA maßgeblich von deutschen Emigranten mit jüdischen Wurzeln entwickelt worden war: Karl J. Friedrich und Hannah Arendt. Nationalsozialismus und Stalinismus wurden als gleichartige Ausdrucksformen eines spezifischen Typus moderner Diktatur beschrieben. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs schien dies unbestreitbar zu sein.7 Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland spielte der Nationalsozialismus im Hybrid des „Westens“ keine eigenständige Rolle mehr. Er entwickelte sich vielmehr zu einem Element der politisch-kulturellen, auch machtpolitischen Herausforderung der freiheitlichen Demokratien durch die totalitäre Diktatur. Deutschland erhielt in dieser Konstruktion gegnerischer Systeme seine besondere Rolle – seine Sonderwegs-Rolle. Es galt als einzigartiger Repräsentant eines industriell höchst leistungsfähigen, den westlichen Industrienationen gleichrangigen Ordnungsmodells. Zugleich verkörperte es politisch und gesellschaftlich autoritäre Herrschaftsformen, die mit der westlichen Demokratie unvereinbar waren. Das Deutschlandbild des Westens war ambivalent, ja man kann sagen: Deutschlands Ort im Westen war ambivalent. Es spiegelte im Vorgriff bereits die kommende Teilung des Landes. Das ist in wenigen Worten die Problembeschreibung des Kulturtransfers durch Emigranten und Remigranten im beginnenden Ost-West-Konflikt, eines Transfers, der in beide Richtungen ging – zuerst von Europa nach Amerika, seit 1945 von Amerika nach Europa – und der das jeweils zeitgenössische Denken in sich aufnahm und integrierend verarbeitete. Die europäischen Einflüsse und Argumentationsmuster in diesem hochdynamischen Geschehen entstammten dem politischen und wissenschaftlichen Diskurs in der zweiten Hälfte der 1920er und den frühen 1930er Jahren. Die amerikanischen Einflüsse stammten aus den 1940er Jahren und reichten in die 1950er hinein. Kulturell und ideell definierten im Jahrzehnt von 1945/48 bis etwa 1955 ganz wesentlich Remigranten sowie die Intellektuellenzirkel des euroatlantischen Hybrids die Maßstäbe für die kulturelle und politisch-historische Neuorientierung in Deutschland. Von einer Amerikanisierung kann bei diesen Transfer- und Verflechtungsprozessen daher nicht die Rede sein. Weit besser ist das Geschehen beschrieben mit dem Begriff Westernisierung oder westernization.8 Deren Ziel bestand in der Öffnung des öffentlichen Bewusstseins für die Ordnungsprinzipien der Demokratie: Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung. Das Vorgehen richtete sich zum einen gegen jede Art von kommunisti7 8
Vgl. die Textauswahl bei Bruno Seidel / Siegfried Jenkner (Hg.): Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1974. Siehe dazu Anselm Doering-Manteuffel: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt u. a. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311–341; Ders.: Amerikanisierung und Westernisierung. Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 18. 1. 2011.
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schem Einfluss und gegen die Versuche deutscher (und westeuropäischer) Intellektueller, aus antifaschistischem Impuls den Austausch mit Schriftstellern und Wissenschaftlern aus dem Herrschaftsbereich des Stalinismus zu suchen. Das Vorgehen richtete sich zum andern gegen den nationalkulturellen Traditionalismus der akademischen Mittelschicht in Deutschland in der Form des Rückbezugs auf die wilhelminische Epoche. Die Orientierung an einer undemokratischen und ideologisch antiliberalen sozialkulturellen Vergangenheit sollte überwunden werden. Die folgende Skizze des Transfers und der Verflechtungen wird sich vornehmlich auf deutsche Persönlichkeiten und die Emigrantenszene in den USA beziehen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs richteten sich die amerikanischen Einflüsse allerdings gleichermaßen auf Westdeutschland wie auf die westeuropäischen Länder, die über den Marshall-Plan ins westliche Bündnis integriert waren. II. Die Emigranten, die nach 1933 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten kamen, waren überwiegend politisch linke, oft sozialistisch orientierte Intellektuelle, sofern wir auf die Akademiker, nicht auf die Künstler schauen. Die meisten von ihnen waren jüdisch. Geboren in den Jahren zwischen 1895 und 1905, hatten sie in der Weimarer Republik ihr Studium absolviert und waren noch in den 1920er Jahren ins Berufsleben eingetreten. Hier lagen ihre geistigen Prägungen. Sie kannten die Zerrissenheit des akademischen Meinungsklimas und die Vorherrschaft antiliberaler Strömungen in der Öffentlichkeit. Sie hatten erfahren, wie begrenzt sich dadurch die Entwicklungsmöglichkeiten der Weimarer Demokratie darstellten. Die antiliberale Strömung der konservativen und völkischen Rechten bekämpfte den Staat von Weimar als Resultat der Niederlage von 1918 und als Ergebnis der Suprematie der Ententemächte über Deutschland im Rahmen des Versailler Friedens. „Weimar und Versailles“ wurde als ein konsistentes Feindbild konstruiert. Darin erschienen liberale Gesellschaftsverfassung, sozialer und politischer Pluralismus sowie die ideologische (Vor)Macht des Westens als ein fester Zusammenhang. Er wurde als „undeutsch“ denunziert, wobei der Antisemitismus zusätzlich eine wichtige Rolle spielte, indem Marktfreiheit, Finanzkapitalismus und liberales Denken als jüdisch, als fremd, als gegen Deutschland gerichtet galten. Die antiliberale Strömung dominierte im Meinungsklima der Weimarer Republik. Weit schwächer ausgebildet war die linke Strömung, die vom Linksliberalismus bis zu den Sozialisten reichte und die demokratische Verfassung dazu nutzen wollte, in Deutschland den sozialen – präziser: den sozialistisch-demokratischen – Rechtsstaat aufzubauen. Die meisten Emigranten standen dieser Strömung nahe, sofern sie nicht überhaupt in sie eingebunden
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waren. Die Namen einiger herausragender Persönlichkeiten im Prozess des Transfers und der Verflechtung zwischen 1935 und 1955 signalisieren das in aller Deutlichkeit: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse als Sozialphilosophen; Otto Kirchheimer, Franz Leopold Neumann und Ernst Fraenkel als Juristen; Hajo Holborn, Hans Rosenberg und Felix Gilbert als Historiker. Wir werden ihre Tätigkeit gleich anschließend näher betrachten. Sie emigrierten auf verschiedenen Wegen in die USA und versuchten im akademischen Feld Fuß zu fassen – sowohl innerhalb einzelner Universitäten als auch in außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Sie standen vor der Herausforderung, sich in die amerikanische Umgebung einzufügen, was insbesondere für die Marxisten unter ihnen nicht einfach war. Marktwirtschaft, Finanzmarkt und „Monopolkapitalismus“ betrachteten sie als sozialökonomisches System, das es zu überwinden galt, ja mehr noch. Sie postulierten den Bedingungszusammenhang von Kapitalismus und Faschismus: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, behauptete Max Horkheimer 1939.9 Je mehr sie sich aber in die politökonomische Kultur der USA hineinfanden und dann die Erfahrung des Krieges machten, desto fragwürdiger wurde ihnen dieses genuin europäische ideologische Axiom. Die USA waren ein kapitalistisches Land und standen im Krieg mit dem faschistischen Deutschen Reich. Deshalb konnte der Kampf gegen den Nationalsozialismus kein Kampf primär gegen dessen „Monopolkapitalismus“ sein. Dennoch: 1941 verfasste Franz L. Neumann sein berühmtes Buch „Behemoth“ über Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, in dem er die These vom „totalitären Monopolkapitalismus“ entfaltete.10 Das brachte ihn in Konflikt mit Horkheimer und Adorno im exilierten Institut für Sozialforschung,11 weil diese inzwischen in weit stärkerem Maß zu psychologischen Erklärungen der nationalsozialistischen Diktatur neigten.12 In den Debatten über Faschismus und Nationalsozialismus während der frühen 1940er Jahre im amerikanischen Exil schälten sich zwei ideelle Leitlinien he9
Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. ²2009, S. 308–332, hier S. 308f. 10 Franz L. Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1942. 11 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Von der Verhinderung zur Liquidation. Das Ende des Instituts für Sozialforschung, in: Ders.: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt a. M. 1982, S. 94–110. 12 Vgl. Alfons Söllner: Franz L. Neumann – Skizzen zu einer intellektuellen und politischen Biographie, in: Franz L. Neumann: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, hg. von Alfons Söllner, Frankfurt a. M. 1978, S. 7–56, hier S. 44ff; sowie das Kapitel über „ungenutzte Chancen zu intensiver interdisziplinärer Forschungsarbeit“ bei Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1988, S. 251–265.
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raus, die nach 1945 in den Neuordnungsdebatten beiderseits des Atlantik vorherrschend wurden. Das war zum einen der Rekurs auf Karl Marx und einen westlichen, das heißt freiheitlich interpretierten Marxismus und zum andern der Rekurs auf Sigmund Freud und die psychoanalytische Erschließung der Gewaltpotentiale moderner Gesellschaften. Ihre Auseinandersetzung über den Kapitalismus in unterschiedlichen politischen Systemen und die ursächliche Verkopplung von Monopolkapitalismus und Faschismus führten die deutschen Emigranten im intellektuellen Klima des New Deal.13 1933 von Präsident Franklin D. Roosevelt zum Programm für Politik und Gesellschaft ausgerufen, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, war der New Deal materiell nicht unbedingt erfolgreich, aber ideell umso wirkungsvoller. Hier begann die große Zeit des Denkens und Handelns in den Kategorien des sozialen Liberalismus – eines Liberalismus, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung für die gesamte Nation bewusst war und nicht bloß – wie im Progressivismus um 1900 – für eine bestimmte soziale Schicht oder Klasse.14 Der New Deal-Liberalismus verband die Interessen der Einzelperson programmatisch – politisch wie materiell – mit der Verpflichtung auf das Gemeinwesen. In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren bildete sich das Handlungsmuster des liberalen und kapitalistischen Konsenses heraus: consensus liberalism und consensus capitalism. Die Entstehung eines politisch-ökonomischen Modells, worin Liberalismus, Kapitalismus und sozialer Konsens kausal miteinander verbunden waren, stellte eine revolutionäre Veränderung dar im traditionell individualistischen System des amerikanischen Republikanismus. Dieses genuin kapitalistische Konzept eines sozialen Liberalismus war gut geeignet, um den Emigranten aus Europa eine ideelle Heimat zu bieten. Sie fühlten sich der deutschen Tradition der Sozialstaatlichkeit verbunden, weil sie in den 1920er Jahren am Ausbau des Sozialstaats in der Weimarer Republik mitgearbeitet und darüber die politische Demokratie im neuen Staat zu stabilisieren versucht hatten. Neumann, Marcuse und Fraenkel, um nur diese zu nennen, hatten sich bis 1933 für die Ausgestaltung der Sozialverfassung in Deutschland eingesetzt.15 In den USA gerieten sie in eine unmittelbare Konfrontation nicht nur mit der Konkurrenzwirtschaft des Freien Marktes, son13 Steve Fraser / Gary Gerstle (Hg.): The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930– 1980, Princeton 1989; Alan Brinkley: The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War, New York 1996. 14 Vgl. Daniel T. Rodgers: Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform 1870– 1945, Stuttgart 2010; Marcus Gräser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940, Göttingen 2009, S. 25–142. 15 Vgl. Thilo Ramm: Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918–1933, Neuwied 1966; Martin Martiny: Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik, Bonn-Bad Godesberg 1976; Günter Könke: Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideo-
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dern auch mit einer Praxis der politischen Selbstbestimmung im New Deal, welche den liberalen Konsens zwischen Kapitalismus und Demokratie zum Modell eines demokratischen Sozialliberalismus integrierte.16 Merkmal der amerikanischen Entwicklung in den Jahren des New Deal war es, dass der Individualismus als Kernelement liberalen Ordnungsdenkens zurückgedrängt wurde, indem die unternehmerische Freiheit in einem höheren Maß als je zuvor an die planerischen Reformvorgaben der Bundesregierung in Washington gebunden wurde. Man kann es auch anders formulieren: Um die Grundlagen des freiheitlichen Gemeinwesens, mithin den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie, zu stabilisieren, wurde ein höheres Maß an staatlicher Steuerung praktiziert. Das widersprach dem Prinzip der umfassenden Selbstbestimmung des homo oeconomicus. Deshalb eigneten dem New Deal in der Anfangszeit durchaus radikale Züge, die in der US-amerikanischen Öffentlichkeit als „Sozialismus“ bekämpft wurden.17 Gleichwohl, was in der Ära Roosevelt seit 1939/40, eingebunden in die Kriegswirtschaft, praktiziert wurde, war kein Sozialismus, sondern eher eine atlantische Variante von sozialer Demokratie. Sie band die Handlungsspielräume des Einzelnen an die Erfordernisse des Gemeinwohls und wies der nationalen Regierung die Kompetenz zu, über den Rahmen von Freiheit und deren Begrenzung zu bestimmen. Mit diesem Profil war der New Deal offen für die Aufnahme der Wirtschaftstheorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, weil diese dem Staat die Aufgabe fiskalpolitischer Globalsteuerung des Gemeinwesens zuwies. In der zweiten Phase des New Deal seit 1937/39 wurde der Keynesianismus zur Richtschnur für die Experten in den amerikanischen Planungsstäben und lieferte maßgebliche Grundideen für den Marshall-Plan.18 Die Sozialliberalisierung der amerikanischen Politik in den Jahren des New Deal und des Krieges bildete die eine Voraussetzung dafür, dass bis 1945 in den USA die euroatlantische Integration von politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen für die Neuordnung Europas nach dem Krieg entstehen konnte. Die andere Voraussetzung bestand darin, dass eine einflussreiche Gruppe aus dem Kreis der deutschen Emigranten für den Auslandsgeheimdienst herangezogen wurde. Im 1942 gegründeten Office of Strategic Serlogie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924– 1932), Stuttgart 1987. 16 Vgl. Ronald Edsforth: The New Deal. America’s Response to the Great Depression, Malden, MA/Oxford 2000; Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought, Ithaca/London 2006. 17 Vgl. A. Brinkley, End (wie Anm. 13). 18 Vgl. D. T. Rodgers, Atlantiküberquerungen (wie Anm. 14), S. 467–556; Albert O. Hirschmann: How the Keynesian Revolution was exported from the United States, and other comments, in: Peter A. Hall (Hg.): The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations, Princeton NJ 1989, S. 347–359.
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vices (OSS) wurde die Feindbeobachtung des Nationalsozialismus und der NS-Herrschaft im besetzten Europa koordiniert.19 In der Research and Analysis Branch (R&A) des OSS wurden Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz L. Neumann tätig, letzterer aufgrund des „Behemoth“ der intellektuelle Kopf der Gruppe. Sie arbeiteten mit Kollegen wie H. Stuart Hughes und John H. Herz zusammen, die ihrerseits den Ordnungsideen des New Deal nahestanden.20 Ihre Aufgabe war es zunächst, den nationalsozialistischen Staat und das polykratische Chaos des diktatorischen Systems durchschaubar zu machen. Die Wissenschaftler der R&A Branch stützten sich überwiegend auf öffentlich zugängliches Material: Pressemeldungen, NS-Publikationen, Radiosendungen aus Deutschland, Flüchtlingsberichte, Aussagen von deutschen Kriegsgefangenen.21 1944, im Umfeld der alliierten Landung in der Normandie und des Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte in Russland, änderte sich die Perspektive. Jetzt ging es um Erwägungen zum Umgang mit den Deutschen bei Kriegsende und beim Wiederaufbau nach der bedingungslosen Kapitulation. Neben den Experten in den ministeriellen Planungsstäben, die mit dem Instrumentarium des Keynesianismus die amerikanische Europapolitik für die Zeit nach dem Krieg konzipierten,22 wurden auch die Experten der R&A Branch des OSS zu bedeutenden Planern des politisch-ideologischen Vorgehens. Die Central European Section der R&A Branch war alsbald der wichtigste think tank in den USA, der mit seinen Forschungen über die Gegner des freiheitlichen Westens ein atlantisches, amerikanisch-europäisches Modell für die Neuordnung Europas nach dem Ende des Nationalsozialismus erarbeitete.23 Es war ein sozialliberales, sozial-demokratisches Konzept, in dem sich das in den USA gewachsene Weltbild der deutschen Emigranten 19 Siehe dazu Jürgen Heideking / Christof Mauch (Hg.): Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1993; Christof Mauch: Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste, Stuttgart 1999. 20 Vgl. insbesondere H. Stuart Hughes: Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought 1890–1930 (1958), Brighton, Sussex 1979; Jana Puglierin: John H. Herz. Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika, Berlin 2011. 21 Vgl. Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 1: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1943–1945, Frankfurt a. M. 1986; Petra Marquardt-Bigman: Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942–1949, München 1995. 22 Vgl. hierzu Michael J. Hogan: The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947–1952, Cambridge 1987. 23 Vgl. die nach wie vor anregenden Einführungen von A. Söllner, Archäologie (wie Anm. 21), S. 7–40; Bd. 2: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Außenministerium 1946–1949, S. 7–58; Raffaele Laudani (Hg.): Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfort School Contribution to the War Effort. Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Princeton/Oxford 2013.
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und das Weltbild der amerikanischen Befürworter des New Deal miteinander verbanden. Es wurde zur Grundlage für die Festigung des europäisch-atlantischen Kulturzusammenhangs, der dann als „Westen“ firmierte. Das Medium des Transfers war der Marshall-Plan. III. Der Marshall-Plan leitete hinüber von der Koalitionspolitik der Anti-HitlerKoalition, in der Großbritannien und die USA mit Stalins Russland verbündet waren, zur offenen Konfrontationspolitik gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg. Hier wurde die Teilung der Welt in zwei Welten vollzogen. Hier trat der „Westen“ programmatisch gegen den „Osten“ an – ordnungspolitisch, machtpolitisch, ideologisch. Der Marshall-Plan band die Bereitstellung von Wiederaufbauhilfe für die europäischen Länder nicht nur an die Verpflichtung der teilnehmenden Staaten, dass sie alle miteinander kooperieren und im Konsens über die Verteilung der Mittel entscheiden mussten – ganz gleich, ob sie im Krieg Gegner oder Verbündete gewesen waren. Der Marshall-Plan sah darüber hinaus vor, dass die europäischen Länder samt und sonders Strukturen in der Staats- und Wirtschaftsordnung aufbauen würden, die mit denen der USA kompatibel zu sein hatten. Das sicherte den Amerikanern die Führung im westlichen Block und unterband das Wiederaufleben jeglicher Art von politischer und wirtschaftlicher Ordnung, die dem atlantischen Modell des amerikanischen „Empire by Integration“ hätte zuwiderlaufen können.24 Es bildete obendrein die wirtschaftliche und politische Voraussetzung dafür, dass sich im westlichen Deutschland die gesellschaftlichen Ordnungsideen verbreiten konnten, die bis dahin erst theoretisch in den Geheimdienstanalysen der Emigranten sowie in den keynesianisch inspirierten Planungen der New Dealer entwickelt worden waren. Ein entscheidender Einfluss allerdings fehlte noch. Erst dessen Wirkung gab dem komplexen Geschehen von Transfer und Verflechtung dasjenige Profil, welches die Passförmigkeit unter den Bedingungen des Kalten Krieges gewährleistete. In der ideologischen Konfrontation des Ost-West-Konflikts reichte es nicht aus, dass die marxistisch orientierten deutschen Emigranten im amerikanischen Exil zu reformistischen Demokraten geworden waren und die Kompatibilität von Kapitalismus, Demokratie und pluralistischer Gesellschaft nicht länger bestritten. Es reichte auch nicht aus, dass die amerikanische Seite einen Wandel vollzogen hatte vom Vorrang des individuellen Interesses in der Marktgesellschaft zum Postulat des sozialen Konsenses als 24 Siehe Alan S. Milward: The Reconstruction of Western Europe, 1954–1951, London 1984; Geir Lundestad: “Empire” by Integration. The United States and European Integration, 1945–1997, Oxford 1998.
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Vorbedingung für die künftige Funktionsfähigkeit einer demokratischen pluralistischen Ordnung. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und dem Kollaps des europäischen Faschismus fehlte der Gegner, der zur Formierung des „Westens“ als machtpolitischem Lager unabdingbar war. Die Veränderung respektive Erweiterung der Feindwahrnehmung war ja seit 1941 vorgedacht worden, als innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft die Totalitarismustheorie einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit von brauner und roter Diktatur entwickelt wurde.25 Diese Theorie erwies nun, 1947/48, im Wandel der Feindbilder ihre tagesaktuelle Plausibilität und ihren Nutzen. Der Kampf gegen Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus erlaubte es, den Antifaschismus aus der Kriegszeit beizubehalten und den Antibolschewismus der Nachkriegszeit zugleich in den Vordergrund zu schieben. Doch zur ideologischen Machtkonfrontation gehörte offene Feindschaft, nicht bloß die politologische Begründung von Systemgegensätzen. Diese Feindschaft war, wie wir sahen, seit 1936/39 gewachsen und konnte jetzt in die Praxis übertragen werden. Sie wurde von hochrangigen Schriftstellern, Künstlern und Journalisten gepflegt, die sich ursprünglich mit großem Enthusiasmus zum Kommunismus und der bolschewistischen Sowjetunion bekannt hatten.26 Ein Zentrum des entstehenden Antibolschewismus war New York. Dort hatte sich nach 1930 die Gruppe der später so genannten New York Intellectuals gebildet und sich mit der Zeitschrift „Partisan Review“ ein Sprachrohr geschaffen.27 Es handelte sich um eine Gruppe von ehedem kommunistisch orientierten Intellektuellen, die sich spätestens nach der Erfahrung des HitlerStalin-Pakts von ihren prosowjetischen Einstellungen abkehrten. Seit 1947 wurden sie zu engagierten Kämpfern gegen die Expansion der Sowjetunion und die Ausweitung des Einflusses kommunistischer Intellektueller in Europa. Sie waren oft Kinder jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die vor den Verfolgungen des Zarenreichs oder der Oktoberrevolution geflohen waren. Ähnlich wie die jüdischen Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, die an verschiedenen amerikanischen Universitäten und im OSS tätig waren, verfügten sie über breite internationale Erfahrung. Sie kannten Europa, sahen den Sozialismus oder gar den Kommunismus als notwendiges Korrektiv zur kapitalistischen Wirtschaft an und waren zugleich doch so stark in die offene Gesellschaft der USA hineingewachsen, dass sie allen Formen von totalitärer Herrschaft, Diktatur und Unterdrückung der Freiheit mit der entschiedensten Feindschaft begegneten. 25 Vgl. B. Seidel / S. Jenkner, Wege (wie Anm. 7); Abbott Gleason: Totalitarianism. The Inner History of the Cold war, New York/Oxford 1995. 26 Hierzu ist maßgeblich R. Crossman, God (wie Anm. 4). 27 Vgl. Terry A. Cooney: The Rise of the New York Intellectuals. Partisan Review and Its Circle, 1934–1945, Madison, Wisconsin 1986; Alan Bloom: Prodigal Sons. The New York Intellectuals and Their World, New York/Oxford 1986.
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Die New York Intellectuals wurden im entstehenden Kalten Krieg zur einflussreichsten Bewegung eines linken Antistalinismus in den USA.28 Darin liegt ein wichtiger Berührungspunkt mit den deutschen Emigranten in der R&A Branch des OSS und an verschiedenen Universitäten. Für beide Gruppen war die Ausgangsposition vor 1933 der Marxismus und eine je unterschiedliche Spielart von Sozialismus gewesen. An ihren linken Überzeugungen hielten sie fest, auch wenn sie sich – wie die deutschen Emigranten – von der Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Faschismus lösten oder – wie die New York Intellectuals – den Stalinismus als totalitäre Diktatur, mithin als glatte Negation der ursprünglichen Ideale des Kommunismus erkannten. Sie waren politisch links. Ihr politisches Bewusstsein hatten sie im pluralistischen Meinungsklima der amerikanischen Ostküsten-Intelligenz herausgebildet. Die Freiheit der Person, eingewoben in den Konsens der demokratischen Gesellschaft, war ihr zentrales Anliegen. So repräsentierten beide Gruppen eine kulturelle Nähe zum gesellschaftlichen und politischen Denken des New Deal. In dieser historisch einzigartigen Verbindung begann der Hybrid aus europäischen und amerikanischen Ordnungsvorstellungen im Zuge der Neuordnung Westeuropas und insbesondere Westdeutschlands seit 1948 seine Wirkung zu entfalten. Es handelte sich um die Idee eines euroatlantischen Sozialen Liberalismus, der wirtschaftlich vom Keynesianismus, politisch vom Antitotalitarismus inspiriert war und kulturell auf eine ideologische Neuformatierung des europäischen Westens zielte. Scharf akzentuierend könnte man sagen: Hier ging es um die Wiedererweckung des Liberalismus aus dem Geist eines westlichen, marktwirtschaftlich durchsäuerten Marxismus. IV. Richten wir nun den Blick auf das Umfeld, in dem ideelle Einflüsse aus diesem Kontext geltend gemacht wurden, und auf einzelne herausgehobene Protagonisten. Beginnend beim Personal der R&A Branch und im Kreis der deutschen Emigranten finden wir einzelne Personen, die seit 1948 nach Deutschland zurückkehrten; das war die Minderzahl. Doch fast alle begannen wieder Kontakte nach Deutschland zu pflegen und pendelten regelmäßig zwischen Amerika und Europa. In der Geschichtswissenschaft entfalteten Hajo Holborn, Hans Rosenberg und Felix Gilbert nachhaltigen Einfluss. Sie bemühten sich darum, die Methodik der nationalkonservativen Historie zu kritisieren, die sich nach wie vor an den Haupt- und Staatsaktionen und den großen Männern in Politik und Militär orientierte. Ihre Absicht ging dahin, 28 Alan M. Wald: The New York Intellectuals. The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s, Chapel Hill/London 1987.
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die historische Erkenntnis dem Zusammenhang von Staat und Gesellschaft zu öffnen und auch die Ideen, die Denksysteme, welche gesellschaftliches Handeln steuern, mit in die geschichtswissenschaftliche Analyse einzubeziehen.29 Die Juristen Otto Kirchheimer, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel waren in den amerikanischen Jahren zu Staats- und Politikwissenschaftlern geworden, die sich den Strukturen demokratischer Gesellschaften zuwandten und für die insbesondere die Frage eine Rolle spielte, wie in Deutschland Staat und Gesellschaft demokratisch gestaltet werden konnten. Es ging ihnen um die Demokratie als politisches System und soziale Lebensform. Fraenkel und Neumann beteiligten sich zusammen mit anderen Remigranten aus Europa und der Türkei am Aufbau der Freien Universität Berlin seit 1948 und der Grundlegung des Fachs Politologie als Demokratiewissenschaft.30 Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse, der zusammen mit Neumann, Gilbert, Kirchheimer und den beiden Amerikanern Hughes und Herz in der Central European Section der R&A Branch gearbeitet hatte, war inzwischen in den USA fest etabliert. Seine umsichtigen Analysen der Sowjetunion, die er in den 1950er Jahren verfasste und in denen er die Methodik der Feindbeobachtung aus der Zeit vor 1945 vom nationalsozialistischen Deutschland jetzt auf das bolschewistische Russland übertrug, entfalteten große Wirkung sowohl bei der amerikanischen New Left als auch bei der deutschen Neuen Linken.31 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kehrten in den 1950er Jahren nach Frankfurt am Main zurück, wo sie das wiederbegründete Institut für Sozialforschung zum Zentrum der Kritischen Theorie machten. Die Sozialphilosophie zur systematischen Dekonstruktion des faschistischen Potentials in der modernen Gesellschaft und des „deutschen Geistes“ darin wirkte seit den späten 1950er Jahren auf Studenten und intellektuelles Publikum in der Bundesrepublik ein und verschränkte sich mit der kritischen Demokratiewissenschaft 29 Vgl. Donald Fleming / Bernard Bailyn (Hg.): The Intellectual Migration. Europe and America, 1930–1960, Cambridge 1969; Hartmut Lehmann (Hg.): An Interrupted Past. German-speaking Refugee Historians in the United States after 1933, Washington D. C. 1991; Gerhard A. Ritter: Die emigrierten Meinecke-Schüler in den Vereinigten Staaten. Leben und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld zwischen Deutschland und der neuen Heimat: Hajo Holborn, Felix Gilbert, Dietrich Gerhard, Hans Rosenberg, in: Historische Zeitschrift 284 (2007), S. 59–102. 30 Vgl. die Beiträge von John H. Herz, Joachim Perels, Richard Saage und Alfons Söllner in dem Band von Wolfgang Luthardt (Hg.): Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989; Anselm DoeringManteuffel: Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900–1954), in: Bastian Hein u. a. (Hg.): Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 161–174. 31 Herbert Marcuse: Soviet Marxism. A Critical Analysis (1958), Harmondsworth 1971; vgl. Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010.
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des politologischen Instituts an der FU Berlin.32 Was sich hier entfaltete, war eine kritische, in manchen Bereichen nach wie vor marxistisch getönte Gesellschaftswissenschaft, die das Programm eines westlichen Sozialismus, einer Sozialen Demokratie, als ideelle Basis des neuen, euroatlantischen liberalen Systems in der jungen Bundesrepublik zu festigen versuchte. Betrachtet man die 1950er Jahre als die Inkubationszeit solcher Einflüsse, dann lassen sich ab 1960 allmählich Wirkungen erkennen.33 Sie waren allerdings eingebettet in den gesellschaftlichen Wandel des Nachkriegsbooms und blieben daher unauffällig.34 Wenn man jedoch aus der Geschichte den ideengeschichtlichen Strang der euroatlantischen Verflechtungen herauspräpariert, erkennt man die Einflüsse und Verflechtungen deutlich. Aus dem Kreis der New York Intellectuals sind insbesondere James Burnham, Sidney Hook und Melvin Lasky zu nennen, die zusammen mit europäischen und deutschen Intellektuellen wie Arthur Koestler, François Bondy, Franz Borkenau, Rudolf Pechel, Richard Löwenthal, Carlo Schmid und zahlreichen anderen seit 1950 ein weit verzweigtes Netzwerk zur Bekämpfung des Kommunismus schufen. Mit seiner Zentrale in Paris und Dependancen in Italien, Österreich, der Bundesrepublik und West-Berlin organisierte der Congress for Cultural Freedom (CCF) Kongresse europäischer Künstler und Wissenschaftler, betrieb Zeitschriften in den verschiedenen Ländern – „Preuves“ in Frankreich, „Tempo Presente“ in Italien, „Encounter“ in England, „Der Monat“ in Deutschland – und engagierte sich in Rundfunk- und Zeitungsredaktionen. In Deutschland war die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die politisch linken Parteien, Verbände und öffentlichen Organe gegen den Kommunismus und für die westliche Ordnung des sozialen Konsenses einzunehmen, darüber hinaus aber auch die kleindeutsche, von der wilhelminischen Tradition durchsäuerte Nationalkultur zu bekämpfen. Das intellektuelle Engagement des Kongresses für kulturelle Freiheit galt dem Kampf gegen Rot (und im Sinne der Totalitarismustheorie simultan gegen Braun) sowie gegen Schwarz-Weiß-Rot – mithin gegen die Kultur des wenig später so genannten deutschen Sonderwegs. Das Programm des CCF bestand in der werbenden Kommunikation für consensus liberalism und, direkt damit verbunden, des consensus capitalism.35 32 Vgl. Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie, München 2003; Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1988; Monika Boll / Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland, Göttingen/Frankfurt a. M. 2009. 33 Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 34 Vgl. Axel Schildt / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. 35 Peter Coleman: The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe, New York/London 1989; Pierre Grémion:
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Damit schließt sich der Kreis. Konsensliberalismus und Konsenskapitalismus waren gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, die in der Zeit des New Deal wurzelten und von Persönlichkeiten kommuniziert wurden, die politisch links orientiert waren – marxistisch, sozialistisch, kommunistisch – und sich zur Marktgesellschaft hin geöffnet hatten. Der in den Zeitschriften des CCF propagierte Konsensliberalismus war die zeitgenössische Spielart des transatlantischen Sozialliberalismus. Das wichtigste Anliegen dieser Kommunismusfeinde zielte darauf, die europäischen Sozialisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften für die marktwirtschaftliche Ordnung, für den Zusammenhang von Demokratie und „Freiheit“ zu gewinnen und sie darüber gegen den Kommunismus zu immunisieren.36 Das nächst wichtige und allein auf Deutschland bezogene Anliegen galt der nationalen politischen Kultur, aus der der Nationalsozialismus hervorgewachsen war. Auf diesem Feld verschmolzen die Interessen der Intellektuellen im Kongress für kulturelle Freiheit mit den Absichten der deutschen Emigranten und Remigranten. Sowohl in den Medien als auch in den Universitäten argumentierten und stritten sie für die Idee der Demokratie als gesellschaftliche und nicht bloß politische Ordnungsform. Es ging um den Pluralismus als Strukturprinzip, mithin um das direkte Gegenteil der in Deutschland so tief verwurzelten Idee von Gemeinschaft, Volksgemeinschaft und Führertum. Mit dem Pluralismus war der Gedanke sowohl der Marktwirtschaft als auch des sozialen Konsenses verbunden. Wir beobachten die Erneuerung des Liberalismus seit den späten 1940er Jahren in der Form des Sozialen Liberalismus. Dessen große Zeit war in den 1960er und frühen 1970er Jahren gekommen, als in der Bundesrepublik Deutschland und in fast allen westeuropäischen Ländern, die seinerzeit vom Marshall-Plan profitiert hatten, keynesianisch orientierte sozialliberale Regierungen an die Macht kamen.37 Es war der Triumph jener Ideen, die seit 1940 die Vorstellungen des New Deal, des Keynesianismus sowie das Postulat einer grundsätzlichen Kompatibilität von Marktwirtschaft und Sozialer Demokratie zueinander in Beziehung gesetzt hatten. In der Bundesrepublik Deutschland Intelligence de l’anticommunisme. Le Congrès pour la liberté de la culture à Paris (1950–1975), Paris 1995; Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 36 Vgl. zur Bedeutung der „Freiheit“ als eines ideologischen Kampfbegriffs des Westens im Kalten Krieg M. Hochgeschwender, Freiheit (wie Anm. 35); Anselm DoeringManteuffel: Im Kampf um Frieden und Freiheit. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2003, S. 29–47. 37 Vgl. Fritz W. Scharpf: Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt/New York 1987, S. 17–60.
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lässt sich der Durchbruch an drei überaus folgenreichen Ereignissen ablesen. Das war zum einen die Programmreform der Sozialdemokratischen Partei (SPD) mit dem Godesberger Programm des Jahres 1959. Das war zum andern die entsprechende Entscheidung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit seinem Düsseldorfer Programm von 1963. Als markantes drittes Ereignis ist die Fischer-Kontroverse von 1961 bis 1964 zu werten. Gewiss nicht zufällig setzte diese bittere Kontroverse um Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwischen 1959 und 1961 ein. Sie trug dazu bei, dass die Vorherrschaft des schwarz-weiß-roten Traditionalismus im historischen Selbstbild der nationalen Öffentlichkeit deutlich abnahm. Parallel zum Aufstieg der sozialliberalen Parteien erfolgte während der 1960er Jahre im akademischen Betrieb der Durchbruch der historischen und politischen Sozialwissenschaften, die sich konsequent an der seit dem Ersten Weltkrieg gewachsenen, hochgradig ideologischen Theorie vom deutschen Sonderweg in die Moderne orientierten. Die Sonderwegs-Theorie war ein Bestandteil des erneuerten, mit sozialistisch-demokratischen Einflüssen angereicherten westlich-atlantischen Liberalismus, der aus der Weltwirtschaftskrise nach 1930 und dem Kampf gegen die Diktaturen jener Zeit hervorgegangen war.
DIE GRÜNDUNG DER BUNDESREPUBLIK AUS DEM GEIST DES LIBERALISMUS? Überlegungen zum Erbe Weimars und zu liberalen Legitimitätsressourcen Jens Hacke Die im Titel gestellte Frage muss auf den ersten Blick irritierend wirken, denn natürlich ist die Gründung der Bundesrepublik nicht in erster Linie aus dem Geist des Liberalismus – was immer das im Einzelnen sein mag – abzuleiten, sondern sie vollzog sich im Schatten der Katastrophe. Die Anfänge der Bundesrepublik lassen eine genealogische Rückführung auf politische Ideen eher abstrus, bestenfalls nachrangig erscheinen. Es ist dem westdeutschen Staat dementsprechend immer wieder vorgehalten worden, nur eine Ökonomie, aber keine „geistige Vorstellung seiner selbst“1 zu besitzen. Die konservativen Verächter und die linken Kritiker der Bundesrepublik wussten sich jedenfalls einig darin, wenn sie einen Mangel an Identität und Eigenbewusstsein – ob staatlich oder demokratisch – diagnostizierten. Erstere begriffen den westdeutschen Teilstaat als ein defizitäres Gebilde, das lediglich als Organisationsstatut der Industriegesellschaft fungierte und dem die wesentlichen Merkmale des klassischen Nationalstaats fehlten: Souveränität, völkerrechtlich anerkannte Grenzen, die Einheit des Staatsvolks. Letztere vermissten einen intentionalen republikanischen Gründungsakt und haderten mit dem Umstand, dass die politisch-normativen Leitlinien weniger Ausdruck eines kollektiven Willens als vielmehr den Bedingungen der westalliierten Besatzer geschuldet waren.2 In der Tat ist häufig darauf hingewiesen worden, wie problematisch sich eine Staatsgründung ex negativo, ohne Möglichkeit einer mythischen Narration und ohne die Symbolsprache eines verheißungsvollen Neuanfangs auf die politische Identität eines Gemeinwesens auswirken könne.3 Dies alles bleibt unbestritten: ohne Kriegsniederlage und ohne den Untergang des Nationalsozialismus kein neuer Staat, keine demokratische Verfassungsordnung. Es wäre also vermessen, die These aufstellen zu wollen, 1 2 3
Friedrich Sieburg: Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, S. 126. Siehe dazu Jens Hacke: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 14–50. Vgl. etwa Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 455– 476.
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dass die Bundesrepublik intentional liberalem Gedankengut entsprungen sei und in ihrer weiteren Geschichte nur noch diesen Gründergeist als gelungene liberale Demokratie bestätigt, verfestigt und entfaltet hätte. Trotzdem ist es legitim, nach dem Geist, der Tradition und der wie auch immer ex post kon struierten Identität der liberalen Demokratie zu fragen. Da politische Kollektive ohnehin von wandelbaren Identitätskonstruktionen abhängen, wäre es kaum weiterführend, einen wahren oder reinen Identitätskern zur Bedingung für gelungene soziale Integration und ein belastbares Kollektivbewusstsein zu erklären. Entscheidend bleibt, welche Narrationen und Traditionsangebote im Nachhinein sanktioniert werden und normative Geltung erlangen, sich also in der Pluralität der Deutungsangebote durchsetzen. Daneben ist es unerlässlich, die Kontingenz der ursprünglichen Konstellation politischer Ideen in Erinnerung zu rufen, denn auch die Begründung der liberalen Demokratie kann in vielfältiger Weise erfolgen. Wenn es um die Geschichte der Ideen geht, die die Reflexion über die liberale Demokratie begleiten, verschränken sich normativ getönte Gegenwartsperspektiven des Betrachters und sein Interesse daran, den Gang konstitutiver Ideen als lernbereite Anpassungsprozesse an veränderte gesellschaftliche Lagen zu beschreiben. Anders gewendet: Es ist plausibel zu machen, woher der Kanon sanktionierter und gemeinhin geteilter Überzeugungen stammt, denn zum Fortschritt der liberalen Demokratie scheint es zu gehören, dass erkämpfte Freiheiten festgeschrieben und geschützt werden, zuvörderst die Menschenrechte. Der Philosoph Hermann Lübbe hat dies folgendermaßen pointiert: „Der Rechtssinn dieser Freiheit ist […] gewährleisteter Schutz vor dem politischen Zugriff eines Mehrheitsoder gar Einheitswillens. Frei sind wir in politisch indisponibel gemachten Lebensräumen.“4 Lübbes eingängige Formel führt noch einmal vor Augen, wie naiv es wäre, Vorgänge der Demokratisierung allein zum Maßstab eines politischen Freiheitsgewinns zu machen; sie müssen durch rechtliche Liberalitätsgarantien begrenzt bleiben. Die Klassizität der Frage nach der guten Regierung, der Gewährleistung bürgerlicher Freiheit und nach Gerechtigkeit versetzt den Betrachter in die Lage, die Kontinuität und Rezeption liberaler Denkmotive im Auge zu behalten und sich deren Ideengeschichte als Reservoir für die politische Theorie zu vergegenwärtigen. Dass dies vor dem Hintergrund einer zumindest vorläufigen Ankunftserzählung geschieht, eines grundsätzlichen Gelingens und einer weitreichenden Akzeptanz der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik, offenbart natürlich eine gewisse geschichtsphilosophische Grundierung. Zwar will eine postmodern-skeptische und identitätskritische Historie nichts mehr von den quasi-hegelianischen Teleologien der liberalkonservativen bis sozial4
Hermann Lübbe: Mehrheit statt Wahrheit. Über Demokratisierungszwänge, in: Ders.: Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 154–166, hier S. 156.
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liberalen Erfolgsnarrative wissen, wie sie von Hans-Peter Schwarz bis Heinrich August Winkler gepflegt worden sind. Die Staatsräson der Bundesrepublik scheint aber untrennbar mit der Festlegung auf einen Prozess normativer Evolution verbunden; dabei bezeichnen Begriffe wie Verwestlichung, Westernisierung, Liberalisierung oder Demokratisierung nur graduelle Unterschiede.5 Ob die Historiker nun von einer „Ankunft im Westen“ (Axel Schildt) oder von einer „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum) handeln6: Das Fortschrittsparadigma haben sie nur selten verlassen. Nun ist die bundesrepublikanische Selbstzufriedenheit über eine vermeintliche Erfolgsgeschichte vom Maßstab des politischen und moralischen Urteils zu unterscheiden, und in der Tat mangelt es mit Blick auf die systemische und institutionelle Ebene nicht an kritischen Bestandsaufnahmen, die nicht nur Funktionsstörungen und Krisenerscheinungen analysieren, sondern auch die Schimäre konsensliberaler Harmonie mit skeptischer Sorge betrachten. Eine solche Kritik, wie sie von Peter Graf Kielmansegg und Andreas Wirsching artikuliert worden ist,7 unterstreicht die Dringlichkeit, sich über die normativen Leitlinien der liberalen Demokratie konkret und im Angesicht politischer Praxis zu verständigen. Insofern hat sich in den letzten Jahren die identitätspolitische Standortbestimmung der Bundesrepublik deutlich ausdifferenziert. Die grundsätzliche Affirmation einer normativen Entscheidung für die Idee des liberalen und demokratischen Rechtsstaats scheint zwar kaum kontrovers; daneben treten jedoch neue Problemkonstellationen, die die vergleichsweise einfachen politischen Alternativen zwischen links und rechts, die den Denkgewohnheiten des Kalten Krieges entstammten, ablösen. So sehr es sich aus „verfassungspatriotischen“, geschichts- und identitätspolitischen Gründen anbietet, liberale Gründungserzählungen plausibel zu finden (wohl wissend, dass es sich um Konstruktionen handelt), so wichtig wird die Präzisierung liberaler Traditionsstränge und die inhaltliche Spezifikation bestimmter Denklinien. Deshalb bleibt die Frage aktuell, inwiefern sich die Bundesrepublik vor dem Hintergrund einer Ideengeschichte des Liberalismus verorten lässt. Dabei ist zu vermeiden, den Liberalismus lediglich aus einer engen parteipolitischen Perspektive zu verstehen oder ihn allein aus der ihn in klassischer Zeit tragenden Sozialformation des Bürgertums zu begreifen. Grundlegend ist 5
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Vgl. etwa Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49. Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000; Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006.
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vielmehr ein – zugegeben weit ausgreifendes – Verständnis des Liberalismus als ein politisches Denken, für das persönliche Freiheit, politische Partizipation, Parlamentarismus, die Ermöglichung von Chancengleichheit und der Rechtsstaat zentral sind. Es ist vielleicht nicht unbedingt von entscheidender Bedeutung, ob man der Bundesrepublik das Verdienst attestiert, das alte liberale Versprechen von Freiheit und Einheit eingelöst oder eine offene und pluralistische Gesellschaft verwirklicht zu haben. Diese Art von Verdienstbescheinigung mag ihren identitätspolitischen Nutzen haben. Wenn man jedoch die liberale Idee oder in concreto: die freiheitliche rechtsstaatliche Verfassung, das repräsentative parlamentarische System, den Schutz der Bürgerrechte als ein Ensemble begreift, das immer wieder an soziale Wirklichkeiten angepasst werden muss, ohne jemals völlig zufriedenstellend verwirklicht zu sein, dann bedeutet das, dem Liberalismus als Ideologie sowohl Wertekonstanz, aber auch Adaptions- und Lernfähigkeit zuzuschreiben. Ein solches normatives Verständnis des Liberalismus konkurriert freilich mit anderen Konzeptionalisierungsbemühungen, die sich entweder auf den parteipolitischen Liberalismus oder auf Selbst- bzw. Fremdbenennungslogiken von „liberal“ beziehen. Die Beschränkung auf solche nominalistischen Auffassungen vom Liberalismus steht vor dem Problem, begriffliche Vereinnahmungs- oder Diffamierungsstrategien von inhaltlichen Debatten scheiden zu müssen. Nicht jeder, der liberal dachte, war zu verschiedenen Zeiten bereit, sich dazu zu bekennen; nicht jeder, dem liberale Anschauungen zugeschrieben wurden, war im Überzeugungssinne ein Liberaler. GRÜNDUNG UND KONTINGENZ Die Gründung der Bundesrepublik war zweierlei: ein von den westlichen Besatzungsmächten entscheidend mit gelenkter Akt und gleichzeitig doch auch ein Anknüpfen an verfassungs- und ideengeschichtliche Traditionen in Deutschland. Hätten diese nicht erfolgreich reanimiert werden können, wäre die Erfolgsaussicht des jungen Staatswesens weitaus geringer gewesen. Begibt man sich also auf die Suche nach dem „liberalen Geist“ der Bundesrepublik, haben wir es mit einem gedachten Ideengebilde zu tun, das sich aus mehreren Quellen speist. Drei Elemente sind zu nennen: 1. das liberale Erbe der Weimarer Republik, 2. der Anschluss an die Demokratien des Westens, 3. die Dynamik eines politischen Neuanfangs mit seinen sukzessiven diskursiven Liberalisierungsprozessen. Weder die Themenstellung noch die Analyse verschiedener Quellen des Liberalismus kann davon ablenken, dass die politisch-kulturelle Lage der Nachkriegszeit auch von ganz anderen als liberalen Denkströmungen geprägt war. Die Ex-post-Zuschreibung eines liberalen „Gründungsgeistes“ kann nur dann Sinn entfalten, wenn man sie als Genealogie eines normativ
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orientierenden Prozesses versteht, der auch anders hätte verlaufen können. Es bleibt dann zu erklären, warum sich eine liberal-demokratische Fundierung der Bundesrepublik gegenüber alternativen Lesarten als die am ehesten plausible durchgesetzt hat. Der Politikwissenschaftler Michael Th. Greven hat in seiner Studie über „Politisches Denken in Deutschland nach 1945“ auf eindrucksvolle Weise die Offenheit und Kontingenz des politischen Diskurses jener unmittelbaren Nachkriegsjahre herausgearbeitet.8 Deutlich wird darin auch, dass die Zeitdiagnostik ganz im Sinne der Kulturkritik aus der Zwischenkriegszeit im Liberalismus häufig eher das Problem als die Lösung sah. Den „restaurativen Charakter der Epoche“ erkannte Walter Dirks eben gerade in der Rückkehr zu Weimarer Verhältnissen.9 Die alten Melodien der Parteienkritik aus der Weimarer Zeit blieben dabei ebenso hörbar wie ein kulturpessimistischer Grundton, der dem Erbe der Konservativen Revolution entsprang und auf Vermassung, Entfremdung und Werteverfall abhob. Die Inventur der ideenpolitischen Bestände und die diskursiven Läuterungsbemühungen führten in der Nachkriegszeit zu einer mittlerweile vergessenen Vielfalt an Konzepten, die zwar bald von den Realitäten der Blockkonfrontation überholt worden waren, aber die Lebendigkeit eines intellektuellen Neuanfangs erkennen ließen. Nicht nur war die Suche nach „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus verbreitet; auch die Kritik an einer verhängnisvollen Tradition deutscher Staatsgläubigkeit führte zu einem neuen Aufschwung föderaler Ideen – zahlreiche Vordenker warben dafür, eine politische Kultur der Selbstverantwortung und der Demokratie von der Wurzel her, das hieß aus den Kommunen heraus, neu zu begründen. Diese Gedanken finden sich bei Theodor Eschenburg ebenso wie bei Wilhelm Röpke oder im anti-etatistischen Republikanismus des heute vergessenen Konstanzer Stadtarchivars und Radikaldemokraten Otto Feger, der sich für eine „schwäbischalemannische Demokratie“ einsetzte.10 Bemerkenswert an den denkerischen Bemühungen der Besatzungszeit bleibt die Rehabilitierung des moralischen und edukativen Elements in der Politik. Auch wenn die Massensemantik und die Ideologieskepsis den Zeitgeist prägten, rückte der einzelne Bürger und die Frage nach individueller Verantwortung wieder ins Blickfeld. Dies war nicht lediglich eine Folge der Debatte um die Kollektivschuld der Deutschen, sondern gleichzeitig eine Reaktion auf die Erfahrung totalitärer Vergemeinschaf8
Michael Th. Greven: Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen/Farmington Hills 2007. 9 Walter Dirks: Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 942–954. 10 Vgl. Theodor Eschenburg: Gedanken zum Staatsneubau vom Herbst 1945, in: Ders.: Spielregeln der Politik. Beiträge und Kommentare zur Verfassung der Republik, Stuttgart 1987, S. 319–380; Wilhelm Röpke: Die deutsche Frage, Zürich 21945, S. 226ff. – Zu Otto Feger siehe M. Th. Greven, Politisches Denken (wie Anm. 8), S. 145–158.
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tung. Die Besinnungsliteratur und Aufarbeitung des deutschen Sonderwegs thematisierte den Abschied vom Machtstaat; die Zeitgenossen suchten nach neuen Funktionsbeschreibungen des Staates, der die Freiheit des Einzelnen sichern und die Menschenrechte schützen sollte. Die Polyphonie geistiger Strömungen nach dem Krieg ist nicht zu unterschätzen. Auch Martin Heidegger, Ernst Jünger und Gottfried Benn gehörten, das sollte man nicht vergessen, zu den intellektuellen Stars der Nachkriegsliteratur, während zeitgleich die westliche Moderne mit Hemingway, Faulkner, Camus, Sartre u. a. entdeckt wurde. Überhaupt waren die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte von einer pluralistischen Ideenwelt geprägt: Demokratischen Idealismus gab es ebenso wie eine geschichtsphilosophische Ernüchterung, die existentialistisch getönt sein oder auch das postideologische Industriezeitalter beschwören konnte.11 Zuletzt hat der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller die Christdemokratie als prägende politisch-ideelle Kraft der Nachkriegszeit zu identifizieren versucht.12 Es ist nicht zielführend, dieser Deutung die These entgegenzusetzen, dass es sich in Wahrheit um ein liberales, zumindest aber konsensliberales Zeitalter gehandelt habe; genauso gut könnte man von einer Epoche der Sozialdemokratisierung sprechen.13 Stattdessen möchte ich lediglich eine ideengeschichtliche Perspektive vorschlagen, die die Bundesrepublik als Produkt nicht nur einer Liberalisierung, sondern auch als Wiederaneignung und Neubegründung liberaler Traditionslinien verständlich macht. WEIMARS LIBERALES ERBE Wer vom „liberalen Erbe“ der Weimarer Republik spricht, bewegt sich auf dem Gebiet einer Alternativgeschichte verpasster Möglichkeiten, denn die Weimarer Republik gilt ja gemeinhin als Symbol für das Scheitern einer liberalen Demokratie. Aber sie konnte in den Worten Heinrich August Winklers als ein nachhaltiger Versuch begriffen werden, „die politische Abweichung Deutschlands vom Westen durch Demokratisierung, also Angleichung an den Westen, zu korrigieren“.14 Darüber hinaus bot Weimar für die Bonner Demokraten der ersten Stunde den einzig verfügbaren Erfahrungshintergrund 11 Siehe die scharfsichtige Zeitdiagnose von Daniel Bell: The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Cambridge 22001. 12 Jan-Werner Müller: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth Century Europe, New Haven/London 2011, S. 132–138. 13 Vgl. etwa die These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ bei Ralf Dahrendorf: Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 16–24. 14 Heinrich August Winkler: Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 43.
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einer parlamentarischen Ordnung, die liberalen Wertüberzeugungen Verfassungsrang zugesprochen hatte. Es waren die Verlierer von 1933 und damit die Angehörigen der Weimarer Koalition aus Sozialdemokratie, Zentrum, DDP und DVP, die zum führenden Personal der westdeutschen Parteipolitik zählten. Der vielzitierte Titel von Fritz René Allemann „Bonn ist nicht Weimar“ (1956) ließ sich für die ehemaligen Republikaner ummünzen auf die Forderung, Bonn zu einem modifizierten Weimar zu machen. Die Kontinuitäten und der sich aufdrängende Vergleich zur Weimarer Republik waren prägende Bestandteile der politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland. Die Lehren aus der Weimarer Republik wurden überwiegend nach Art eines Kontrastmittels als Argument in den bundesrepublikanischen Diskursen verwendet. Der „Weimar-Komplex“ blieb durchgängig negativ belegt; Bezugnahmen auf die Weimarer Republik schienen in konstruktiver Absicht schwer möglich.15 In der unmittelbaren Nachkriegszeit konstatierte der stellvertretende Chefredakteur der ZEIT Ernst Friedländer – als eine unter vielen ähnlich intonierten Stimmen –, dass in Deutschland der Staat von Weimar restauriert werde, „mit einer Selbstverständlichkeit, Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit, als sei überhaupt nichts anderes denkbar“. Friedländer fragte seine Leser, „warum eigentlich das deutsche Volk in der Schule von Weimar nachsitzen muss, warum es nachexerzieren soll, was es schon einmal durchexerziert hat“.16 Zum Assoziationsraum der „Weimarer Zustände“ gehörten Wirtschaftskrise, Parteienzersplitterung, handlungsunfähiger Parlamentarismus, die als unvermeidliche Folge eines zu weit getriebenen Liberalismus galten. Insofern waren die Initiativen liberaler Ideenverteidigung erst einmal spärlich. Dies wird im Blick auf die Memoirenliteratur der 1950/60er Jahre deutlich, als selbst liberal und republikfreundlich Gesonnene kaum Bewahrenswertes oder Verdienstvolles im gescheiterten Projekt der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit sehen wollten.17 Auch Theodor Heuss blieb zögerlich, eine angemessene geschichtspolitische und ideengeschichtliche Würdigung Weimars anzugehen, und er sah sich kaum in der Lage, den verfassungs- und sozialpolitischen Initiativen sowie den politiktheoretischen Neuansätzen der ersten deutschen Demokratie einen Eigenwert zuzusprechen.18 Aber immerhin war es Heuss, der als Bundespräsident mit dem Bun15 Siehe zum Umgang mit dem Erbe der Weimarer Republik vor allem Sebastian Ullrich: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009. 16 Zitiert nach Sebastian Ullrich: Der lange Schatten der ersten deutschen Demokratie. Weimarer Prägungen der frühen Bundesrepublik, in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 35–50, hier S. 46. 17 Vgl. etwa Eugen Schiffer: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin 1951, S. 206ff. 18 Siehe Theodor Heuss: Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963, S. 348f. Dazu auch Joachim Radkau: Theodor Heuss, München 2013, S. 498.
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desverdienstkreuz zwei kluge Liberale ehrte, die auch in den frühen Jahren der Bundesrepublik die konstruktiven Aspekte der Weimarer Epoche politisch in Erinnerung riefen: den Nationalökonomen Moritz Julius Bonn sowie den Juristen und Politikwissenschaftler Arnold Brecht. Bonns Memoiren lassen keinen Zweifel daran, dass die erste Republik nicht unbedingt an Konstruktionsfehlern oder inneren Widersprüchen gescheitert war, sondern an ihren antidemokratischen Gegnern. Ihr Untergang war keinesfalls unausweichlich: Weder die widrigen sozialökonomischen Rahmenbedingungen noch das kontingente Gelingen der Intrigen um den Reichspräsidenten delegitimierten die konstitutiven liberalen und demokratischen Ideen Weimars. Zudem hatte die Weimarer Republik aus Bonns Sicht „zwei große Aufgaben gelöst. Sie hat dem politisch-konfessionellen Hader in Deutschland ein Ende bereitet, und sie hat die Sozialdemokratie zur führenden Staatspartei erzogen.“19 Anstatt der Weimarer Republik ihr Scheitern anzulasten, fand es auch Arnold Brecht gewinnbringender, sich damit auseinanderzusetzen, „welche Ereignisse und Personen dazu beigetragen haben, daß die demokratische Republik trotz des Widerspruchs zwischen den Spielregeln und den tatsächlichen Machtverhältnissen so lange funktionieren konnte.“ Brecht wandte sich gegen die verbreitete Unart, „der prodemokratischen Minderheit Vorwürfe zu machen, daß sie keine Mehrheit war“.20 So war das Verhältnis zu Weimar zwiegespalten: De facto bedeuteten die Rückkehr zum Parlamentarismus und die Ausarbeitungen der Länderverfassungen in den Westzonen eine Anknüpfung an den Föderalismus der Weimarer Republik, personell und ideell waren die Kontinuitäten unübersehbar.21 Aber mit Blick auf den Liberalismus blieb eine grundsätzliche Skepsis bestehen: Sowohl die 1920er als auch die 1940er Jahre galten als Krisenzeit des Liberalismus und der sogenannten „Massendemokratie“. Ebenso wie man in der Zwischenkriegsepoche mit dem klassischen Liberalismus abrechnete, der für die Exzesse des Kapitalismus, den Niedergang der Moral und die Entfremdung des Einzelnen von der Herkunftswelt verantwortlich gemacht wurde, kritisierten Intellektuelle nach 1945 weiterhin den „Irrweg des Liberalismus und des Rationalismus“ – um eine Wendung des Ordoliberalen Wilhelm Röpke zu gebrauchen.22 Ganz ähnlich wie noch zwanzig Jahre zuvor operierte man gewissermaßen mit einem Feindbild des Liberalismus, das der Karikatur eines Manchestertums gleichkam und in der Realität kaum jemals 19 Moritz Julius Bonn: So schreibt man Geschichte. Bilanz eines Lebens, München 1953, S. 405. 20 Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen eines beteiligten Beobachters 1884–1927, Stuttgart 1967, S. 316. 21 Vgl. dazu auch Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin 2009. 22 Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, S. 79ff.
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Wirkung entfaltet hatte, jedenfalls nicht in Gestalt einer einflussreichen Ideologie, geschweige denn parteipolitisch. Anders als in den 1920er Jahren entschärfte sich aber rasch der negative Konnex zwischen Liberalismus, Kapitalismus, Parlamentarismus und Parteienstaat. Der Antiparlamentarismus und die Sehnsucht nach charismatischer Führung, die eine Flucht aus den komplexen Prozeduren der modernen Demokratie ermöglichen sollten, erhielten aus naheliegenden Gründen – Erfahrung des NS-Staates, Konstellation des Kalten Krieges – keine neue Chance mehr. Zwar hätte sich niemand so recht als Liberaler bekannt, aber Freiheit und Demokratie hatten nun, befördert durch westalliierte Einflussnahme, einen ganz anderen Stellenwert gewonnen. Nicht zuletzt wurde der Begriff der Freiheit und mit ihm eine lagerübergreifende Bedeutung des Liberalen zur Leitformel des Westens im Kalten Krieg.23 Damit einher ging zum einen eine gehörige Vereinfachung liberaler Ideologiebildung in der Konfrontation mit dem Ostblock, zum anderen eine Reduktion des Liberalismus auf ein Set von grundlegenden Wertüberzeugungen, die fortan einen an Demokratie, Wohlfahrtsstaat und Pluralismus orientierten, gegen den Totalitarismus gerichteten Konsensliberalismus prägten. Ohnehin setzte sich immer mehr die Überzeugung durch, dass die liberale Idee weniger die Sache einer politischen Partei war, sondern ein elementarer Bestandteil modernen Denkens, das die Gesellschaft auf allen Ebenen durchdrungen hatte. Es ist deswegen wohl nur folgerichtig, dass sich spätestens nach 1945 der Liberalismus als Entität kaum skizzieren lässt,24 sondern dass er als Appendix allgegenwärtig wird: Ordoliberalismus, Liberalkonservatismus, Sozialliberalismus – das wären drei der tragfähigen Varianten, deren Wurzeln im Wesentlichen in die Debatten der Weimarer Republik zurückreichten. Die Diffusion liberaler Denkmotive im Rahmen eines sich etablierenden Konsensliberalismus entlastete davon, sich den Liberalismus lediglich als Monopol einer politischen Partei vorstellen zu müssen; für den parteipolitischen Liberalismus wurde es zusehends schwieriger, die eigene Programmatik als „reine Lehre“ sowohl gegenüber den spätestens seit dem Godesberger Programm der sozialen Marktwirtschaft zugewandten Sozialdemokraten zu profilieren als auch von den sich rapide säkularisierenden christlichen Unionsparteien abzusetzen. Es ist übrigens ein typisches Merkmal des postideologischen Zeitgeistes der Nachkriegsjahre, dass die FDP erst relativ spät, nämlich seit dem Anfang der 1970er Jahre, „den Liberalismus als entscheidendes Identifikationsmerkmal“ akzentuierte.25 23 Vgl. etwa Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. 24 Noch früher, nämlich bereits um die Jahrhundertwende, wird die Auflösung des Liberalismus als politisches Deutungsmuster bestimmt bei Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. 25 Lothar Döhn: Liberalismus als kategorialer Rahmen für die FDP, in: Lothar Alber-
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Die langfristigen Wirkungen, die die liberale politische Theorie und liberales Staatsdenken der Zwischenkriegszeit hatten, waren indes vielfältig. Offensichtlich und weitgehend bekannt ist natürlich, dass die Entstehung des Grundgesetzes nur vor dem Hintergrund der Debatten in der Weimarer Staatsrechtslehre plausibel wird. In seiner beeindruckenden Gesamtdarstellung zum Öffentlichen Recht in Deutschland hat Michael Stolleis noch einmal das außergewöhnliche Niveau der damaligen Auseinandersetzungen betont; von diesen Texten, so Stolleis, sollte die Staatslehre der Bundesrepublik jahrzehntelang zehren: „Nie wieder sind seither der politische Charakter des Staatsrechts, der Ausnahmezustand, der Prozeß staatlicher Integration, die Funktionsvoraussetzungen der Demokratie und der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft mit solcher intellektuellen Energie und sachlicher Leidenschaft diskutiert worden.“26 Dies war in erster Linie den demokratischen Staatsrechtslehrern zu danken: Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hermann Heller und Hans Kelsen waren die Protagonisten eines demokratischen Verfassungsdenkens, das bei allen Differenzen doch an den Grundzügen des politischen Liberalismus orientiert blieb.27 Sie favorisierten die Parlamentarisierung und das Prinzip der Repräsentation vor der direkten Demokratisierung, verteidigten den Kompromiss gegen die Dezision, traten ein für die Ethik einer toleranten Volksgemeinschaft (wie man damals gesagt hätte), strebten in Hellers Worten eine relative soziale Homogenität an und hatten eine demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft im Blick – damit hoben sie sich von den etatistischen Modellen ihrer konservativen Widerparts wie Carl Schmitt oder auch Rudolf Smend ab. Soziale Demokratie, die Unantastbarkeit des Rechtsstaates, aber auch die verschiedenen Überlegungen zum Ideal des republikanischen Bürgers – dies alles fügte sich zu einem Fundament normativer Überzeugungen, die wenig an Aktualität eingebüßt hatten und für die Bundesrepublik nur wieder entdeckt und aktiviert werden mussten. Überhaupt wird man sagen können, dass das Bewusstsein einer notwendigen Zusammenführung von Sozialdemokratie und Liberalismus, die Leitidee einer neuen sozialliberalen Ära zu den wesentlichen Hinterlassenschaften des politischen Denkens in Weimar gehört.28
tin (Hg.): Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik, Göttingen 1980, S. 267–287, hier S. 269f. 26 Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 2002, S. 414. 27 Vgl. die hervorragende Studie von Kathrin Groh: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatsrechtslehre zur Theorie des modernen Verfassungsstaats, Tübingen 2010; des Weiteren Jens Hacke: Staatsrecht und politische Theorie in der Zwischenkriegszeit. Das Erbe der Weimarer Republik, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2011, S. 321–336. 28 Siehe dazu auch den Beitrag von Tim B. Müller in diesem Band.
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Dass solche Haltungen sich zunächst nicht hatten durchsetzen können, musste ihren Wert als ideelle Ressource nicht mindern. Es gibt nicht nur im Hinblick auf die Rechtswissenschaft genug Gründe, die liberalen und demokratischen Verteidiger der Republik zu rehabilitieren und die vielfach variierte Geschichte von liberaler Selbstaufgabe, von einer Erosion des Vernunftrepublikanismus und von der programmatischen Hilflosigkeit des Liberalismus zu modifizieren.29 Auch in den übrigen Geistes- und Sozialwissenschaften, im intellektuellen Milieu und in der Ministerialdemokratie fanden sich durchaus genügend innovative Fürsprecher einer demokratischen Republik. „Die Weimarer Republik war eine Idee auf der Suche nach ihrer Verwirklichung“, formulierte der Historiker Peter Gay bereits in den 1960er Jahren und trifft damit den Nerv ihrer ideengeschichtlichen Bedeutung. Gay rät auch, einen Blick auf die Republikaner zu werfen, „die Weimar als Symbol ernst nahmen und zäh und mutig bemüht waren, dem Ideal konkreten Inhalt zu verleihen“.30 Überzeugungsstarke Liberale wussten durchaus, was politisch zu tun wäre und hatten das Bild einer modernen, offenen Gesellschaft vor Augen. Der bereits erwähnte Moritz Julius Bonn, wohl einer der besonders eindrucksvollen, heute aber so gut wie vergessenen Intellektuellen jener Epoche, sprach 1931 von einer „Empfindungskrise“, die das politische Leben lähmte, nicht von einer „Gedankenkrise“.31 Als skeptisch-rationaler Liberaler wusste er, wie wenig die richtigen Ideen nützen, wenn das politisch-kulturelle Klima gegen sie stand. Darin lagen auch die Grenzen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Gleichwohl verfolgte er in seiner Publizistik auch ein politisch-pädagogisches Reformprojekt für den Liberalismus, indem er für eine Autonomie des Politischen von der Großindustrie stritt, die Bürger zu Partizipation und Engagement ermutigte und sich für die Rechte der Minderheiten einsetzte. Bonns ironisch-skeptische Dekonstruktion von Führerkult, Irrationalismus, Antisemitismus und Nationalismus war damals nicht nur in zahlreichen Büchern und Aufsätzen nachzulesen, sondern fand sich regelmäßig in den großen liberalen Tageszeitungen der Epoche. 1926 war Bonn einer der wenigen, der kämpferisch „Die Zukunft des deutschen Liberalismus“ (so der Aufsatztitel) mit Blick auf dessen nach wie vor ungelöste Aufgaben beschrieb: Er wusste um die Unsicherheit, ob „der moderne Staat die Ge29 Im Sinne einer Neuakzentuierung der ideengeschichtlichen Forschung vgl. v.a. Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Ders. (Hg.): Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003; Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. 30 Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt/M. 1987, S. 17f. 31 Moritz Julius Bonn: Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, in: Neue Rundschau 42 (1931), S. 145–159, hier S. 153.
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wissens- und Meinungsfreiheit aller seiner Mitbürger“ auch künftig „respektieren“ würde. „Der Ruf nach der Diktatur bedeutet“ für ihn „nicht, daß der Liberalismus überholt, sondern nur, daß er gefährdet ist“ – „Mussolini und Lenin sind daher nicht die Überwinder des parlamentarischen Liberalismus, sie geben ihm im Gegenteil neue Ziele und neues Leben.“32 Wie sein befreundeter Kollege Carl Schmitt unterschied Moritz Julius Bonn scharf zwischen Liberalismus und Demokratie; anders als Schmitt plädierte er jedoch für deren Zusammengehörigkeit, denn: „Die Demokratie als solche garantiert die Freiheit nicht, wenn es keine Demokratie ist, deren Einrichtungen und deren Geist von liberalen Gedanken erfüllt ist.“33 Dass er ein Mann des Westens, ein versierter Amerikakenner und Kosmopolit war – und damit eben auch die gescheiterte Weimarer Alternative präsentierte –, bescheinigte ihm der deutlich weiter links orientierte Harold Laski. Laski vertrat die Auffassung, dass seit Tocqueville niemand kenntnisreicher über die neue Welt geschrieben habe als Moritz Julius Bonn.34 Die ideengeschichtliche Wahrnehmung des liberaldemokratischen Weimar krankt scheinbar an dem Manko, keinen repräsentativen Intellektuellen hervorgebracht zu haben, dessen Werk die geistige Substanz damaliger Diskurse hinreichend verkörpert. In ideengeschichtlichen Gesamtdarstellungen muss deshalb immer noch der bekanntlich bereits 1920 verstorbene Max Weber die Rolle des Weimarer Liberalen ausfüllen.35 Es ist zwar ein Fortschritt, dass Weber nicht mehr unvermittelt zum Ahnherrn des Führerstaates und zum geistigen Vorläufer Carl Schmitts erklärt wird, wie dies noch vor 50 Jahren der Fall war.36 Dennoch überdeckt diese Personalisierung, dass Webers geistiger Horizont das Kaiserreich blieb und dass die neuen sozialen und politischen Problemlagen der parlamentarischen Demokratie neue Antworten erforderten. Webers Werk hatte kaum Substantielles zum Aufbau eines sozia32 Moritz Julius Bonn: Die Zukunft des deutschen Liberalismus, in: Europäische Revue 2 (1926), S. 260–268. 33 Ebd., S. 263. 34 Zu Bonns wichtigsten Arbeiten über die USA (die übrigens größtenteils ins Englische übersetzt wurden) zählen Moritz Julius Bonn: Amerika als Feind, München/Berlin 1917; Ders.: Was will Wilson?, München o. J. [1918]; Ders.: Amerika und sein Problem, München 1925; Ders.: Geld und Geist. Vom Wesen und Werden der amerikanischen Welt, Berlin 1927; Ders.: Die Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1930; Ders.: Prosperity. Wunderglaube und Wirklichkeit im amerikanischen Wirtschaftsleben, Berlin 1931. 35 Richard Bellamy: Liberalism and Modern Society. A Historical Argument, Pennsylvania 1992, S. 165–216; J.-W. Müller, Democracy (wie Anm. 12), S. 40–46. 36 Siehe Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974, S. 407–415, sowie die von Jürgen Habermas geäußerte Ansicht, „daß Carl Schmitt ein legitimer Schüler Max Webers war“ (Diskussionsbemerkung in: Otto Stammer [Hg.]: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des fünfzehnten deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 81).
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len Rechtsstaates zu bieten; die Bedrohung durch rechtsradikale Gewalt und Faschismus hatte er noch nicht reflektieren können; auch seine Vorstellungen von internationaler Politik wurzelten tief in der Epoche des Nationalismus und Imperialismus. Eine Fixierung auf Weber birgt die Gefahr, die Modernität liberaler Denker wie Moritz Julius Bonn zu übersehen. Bonn stand nicht allein. Zum einen gehörte er – neben Leopold von Wiese, Heinrich Herkner, Alfred Weber u. a. – dem Kreis des sozialliberalen Nationalökonomen Lujo Brentano an, den die Wiener „Neue Freie Presse“ 1925 als intellektuelles Zentrum eines modernen Liberalismus identifizierte; zum anderen hatte er enge Verbindungen zu späteren Ordoliberalen wie Röpke und Rüstow, während er gleichzeitig zu den deutschen Entdeckern von Keynes gehörte, für dessen Versailles-Schrift er die deutsche Übersetzung besorgte.37 Nimmt man Bonns Haltung als ein pars pro toto des normativ standfesten Liberalismus seiner Epoche (so klein dessen Gemeinde auch war), so lässt sich dessen geistige Physiognomie am besten anhand dreier Elemente beschreiben, die auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle spielen sollten: Erstens führte bereits in den 1920er Jahren die Auseinandersetzung mit dem Faschismus zu einer Renormativierung liberalen Denkens. Zwar war die Zahl der Bewunderer Mussolinis aus dem bürgerlichen Lager auch in Deutschland eindrucksvoll; zu den bekanntesten intellektuellen Sympathisanten des Faschismus zählten vermutlich Carl Schmitt und der Nationalökonom Erwin von Beckerath, aber auch einige liberale Publizisten wie Theodor Wolff und Emil Ludwig ließen sich von der Persönlichkeit des Duce blenden.38 Das kann aber nicht überdecken, dass im Lager der Liberalen eine Politik der Gewalt, die Gefährdung des Rechtsstaates, Antiparlamentarismus und Führerkult früh und hellsichtig analysiert und scharf kritisiert wurden. Die Berichterstattung der „Frankfurter Zeitung“, die Schriften von Moritz Julius Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen.39 In nuce entwickelten die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er 37 John Maynard Keynes: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920. 38 Vgl. dazu Jens Petersen: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik (1976), in: Ders.: Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 212–248; Wolfgang Schieder: Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik (1996), in: Ders.: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 149–184, sowie jüngst Matthias Damm: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2013, S. 170–231. 39 Moritz Julius Bonn: Schlußwort, in: Carl Landauer / Hans Honegger (Hg.): Internationaler Faschismus. Beiträge über Wesen und Stand der faschistischen Bewegung und über den Ursprung ihrer leitenden Ideen und Triebkräfte, Karlsruhe 1928, S. 127– 150; Hermann Heller: Europa und der Fascismus (1929/1931), in: Ders.: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Recht, Staat, Macht, Tübingen 21992, S. 463–609; zum Flaggschiff des intellektuellen Liberalismus, der „Frankfurter Zeitung“, vgl. Michael
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Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sahen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie. Das Schlagwort von den „feindlichen Brüdern“ Bolschewismus und Faschismus gehört seit 1923 zum Repertoire liberaler Denker – und übrigens waren es Liberale, als erstes wohl die italienischen Gegner Mussolinis, die den Begriff des Totalitarismus zeitgleich mit seiner historischen Entstehung erfanden.40 Dass die Totalitarismustheorie als ideologische Waffe im Kalten Krieg auf so fruchtbaren Boden fiel, lässt sich auch auf ihre Entstehungsgeschichte in der Zwischenkriegszeit zurückführen. Aus der Bedrohungsanalyse ergab sich zweitens die Notwendigkeit, die parlamentarische Demokratie entschieden zu verteidigen. Dieser Vorgang signalisierte einen Wandel im liberalen Selbstverständnis, denn der einst dominante und bisweilen naive Fortschrittsglaube an eine Selbstvervollkommnung der Vernunft erfuhr eine Erschütterung. Der Liberalismus erlebte, nicht nur, aber auch in Deutschland, seine skeptische Wende, stellte um auf ein neues Denken, das die eigenen Maximen einer Prüfung unterzog und defensivbereit machte. Dementsprechend setzten sich Liberale in den Debatten um Verfassungsreformen und Republikschutz für eine demokratische Selbstbehauptung gegen die Diktatur ein. Die Selbstgefährdung der Demokratie, d. h. die Überwindung des Parlamentarismus mit demokratischen Mitteln, war das große Thema der Epoche. Damit eng verbunden blieb die Frage, wie die Rechte von Minderheiten gegenüber dem demokratischen Willen der Mehrheit zu schützen sind.41 Hier liegt der Ursprung für die heute so vertraute Vorstellung von einer wehrhaften bzw. streitbaren Demokratie, die gern auf den Politikwissenschaftler Karl Loewenstein zurückgeführt wird, der im amerikanischen Exil 1937 eine Aufsatzserie über „militant democracy“ verfasste.42 Damit pointierte er eine Denkfigur, die spätestens seit der Weimarer Krise allgegenwärtig war, als Hermann Heller seine Studenten aufforderte, „die Weimarer VerfasFunk: Das faschistische Italien im Urteil der Frankfurter Zeitung (1920–1930), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven 69 (1989), S. 255–311. 40 Siehe dazu Jens Petersen: Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Eckhard Jesse (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 95–117. 41 Siehe etwa Moritz Julius Bonn: Die Zukunft der Demokratie in Europa. Das Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit, in: Neue Freie Presse (Wien), 15. Januar 1929, Morgenblatt, S. 2. 42 Karl Loewenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights (I + II), in: American Political Science Review 31 (1937), S. 417–432, 638–658. – Loewensteins begriffsprägender Aufsatz überdeckt die Allgegenwärtigkeit dieser Idee, und die Forschungsliteratur scheint seine Originalität bisweilen etwas zu überschätzen. Siehe etwa Jan-Werner Müller: Militant Democracy, in: Michael Rosenfeld / András Sajó (Hg.): The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford 2012, S. 1253–1269, sowie Markus Thiel (Hg.): The ‘Militant Democracy’ Principle in Modern Democracies, Farnham 2009.
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sung gegen alle Angriffe von Gewaltideologen“ zu verteidigen, nötigenfalls „mit der Waffe in der Hand“.43 Dolf Sternberger, einer der überzeugendsten Demokratielehrer der frühen Bundesrepublik, hat diesem Lernprozess kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich im Jahr 1946, in folgende Formeln gefasst: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Kein Kompromiß mit den Feinden des Kompromisses! Kein gleiches Recht für die Feinde des gleichen Rechts!“44 Es ist ganz offensichtlich, dass nicht nur die Erfahrung von Weimar, sondern auch die Debatte um die Befestigung, die Stabilisierung und den Schutz der parlamentarischen Demokratie in den 1920/30er Jahren auf die Diskussionen im Parlamentarischen Rat, auf das bundesrepublikanische Staatsrecht und auf die politische Kultur einwirkte.45 Drittens ist noch auf einen Konfliktherd der Weimarer Zeit hinzuweisen, der in der Anfangsphase der Bundesrepublik wenn nicht gelöscht, so doch zumindest wesentlich entschärft schien: das Streben nach einer Überwindung der Klassenkonflikte und das Bemühen um soziale Gerechtigkeit. Unter den Leitformeln der sozialen Demokratie bzw. des sozialen Rechtsstaat hatte sich nach 1918 ein neues Bewusstsein für die Lenkung von Modernisierungsprozessen artikuliert. Schon die Nationalökonomie, die Staatslehre und die politische Wissenschaft in der Weimarer Republik hatten das Nachdenken über den interventionistischen Sozialstaat, über die neue gesellschaftsgestaltende Rolle der Politik etabliert. Integration, soziale Homogenität, neue Formen bürgerlicher Selbstregierung avancierten zu Leitbegriffen sozialliberaler Neuansätze. Ihr praktisches Scheitern war und ist kein Argument gegen die Ernsthaftigkeit der Bemühung. Der Kompromisscharakter der klassen- und milieuübergreifenden konsensliberalen Politik der 1950er Jahre lässt sich aus der Perspektive der 1920er Jahre als eine omnipräsente Sehnsuchtsfigur beschreiben, als Sozialliberale und liberale Sozialdemokraten auf einen Ausbau der ursprünglichen Weimarer Koalition hofften und für die Kooperation zwischen den politischen Kräften von Arbeiterbewegung und Bürgertum warben. Nach der „Panik im Mittelstand“ (Theodor Geiger) schien die Bundesrepublik sich im Sinne von Helmut Schelskys Diagnose als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ zu konsolidieren. Unabhängig davon, inwiefern diese Sicht die nach wie vor existenten sozialen Unterschiede übertünchte, war doch entscheidend, dass die Aufstiegschancen in einer bald prosperierenden Ökonomie das Bewusstsein einer relativen sozialen und kulturellen Homogenität beförderten.
43 Hermann Heller: Freiheit und Form in der Verfassung (1929/30), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 371–377, hier S. 377. 44 Dolf Sternberger: Dreizehn politische Radio-Reden, Heidelberg 1947, S. 42f. 45 Siehe C. Bommarius, Grundgesetz (wie Anm. 21), S. 202f.
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GRÜNDUNG, ANSCHLÜSSE, NEUANFÄNGE Diese Aktivierung des Weimarer Erbes und der Wiederanschluss an die Diskussionen der 1920er Jahre waren eine ideelle Ressource liberalen Denkens in der frühen Bundesrepublik. Damit ist sicherlich nicht hinreichend die Genese einer neuen politischen Kultur zu erklären, die häufig mit den Schlagworten Liberalisierung oder Westernisierung beschrieben wird. Gegen eine Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus würde einiges sprechen, wenn man ein emphatisches Verständnis des Neuanfangs im Sinne Hannah Arendts favorisiert.46 Oder um es anders zu wenden: Wäre diese liberale Gründung so offensichtlich, wie es Arendts Lieblingsbeispiel von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassungsgenese tatsächlich ist, dann läge kein Grund vor, die lange gepflegte Kritik am bundesrepublikanischen Provisorium als Staat ohne Idee, am aufs Materielle fixierten Wirtschaftswunderland besonders ernst zu nehmen. Offensichtlich war die politische Identität – zumindest unter kritischen Intellektuellen rechts und links – lange Zeit so fraglich, dass einiges für die Plausibilität einer nachträglichen Selbstanerkennung bzw. einer verzögerten geistigen Gründung respektive „Umgründung“ (Manfred Görtemaker) spricht.47 Fraglos spielt das Symboljahr 1968 und die damit verbundene Infragestellung der bestehenden politischen Ordnung die entscheidende Rolle, wenn es darum geht, sich diese Neukonturierung einer geistigen Physiognomie vor Augen zu führen. Auf das Paradox, dass der Ansturm der Studentenbewegung und einer neomarxistisch inspirierten Neuen Linken gegen das Establishment antiliberal motiviert, aber liberalisierend in seiner gesellschaftlichen Wirkung war, ist oft hingewiesen worden.48 Daraus ergaben sich auch bestimmte Konsequenzen für den Liberalismus und das liberale Denken in Deutschland. Produktiv gewendet lässt sich in 1968 ein Katalysator der Verständigung über die Bundesrepublik erkennen.49 Zum einen forderte der massive Protest der Neuen Linken, die die parlamentarische Demokratie mit der Legitimationsfrage konfrontierte, die Verteidiger des Status quo heraus, ihre Position ausführlich neu zu begründen und auf Partizipationsbedürfnisse einzugehen. So gesehen lässt sich von einer nachträglichen intellektuellen Begründung der liberalen repräsentativen Demokratie sprechen, deren Funktionsprinzipien vorher unbestrit46 So vor allem Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965. 47 Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475ff. 48 Siehe dazu prägnant Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 252. 49 Siehe die weiterführenden Überlegungen bei Jens Hacke: Katalysator der Verständigung über die Bundesrepublik. Anmerkungen zum politischen Denken nach 68, in: vorgänge 47 (2008), Bd. 181, Heft 1, S. 4–12.
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ten, aber auf breiter Basis eben auch unzureichend reflektiert geblieben waren. Es ist zwar richtig, dass das politische Klima der 1960er Jahre sich auch davor schon unter dem Einfluss einer jungen reformbereiten Nachkriegsgeneration in Politik, Kultur und Wissenschaft zu wandeln begann. Aber es kam nun gewissermaßen zum „Stresstest“ der Konfliktfähigkeit, als junge Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Hermann Lübbe oder Wilhelm Hennis – um die möglicherweise bedeutendsten politischen Denker zu nennen – in Erscheinung traten und sich zur Positionierung gezwungen sahen. Was vorher konservativ oder progressiv war, sortierte sich neu und differenzierte sich aus. 1968 war damit auch das Entstehungsjahr eines verfassungspatriotischen Liberalkonservatismus und einer sozialliberalen Alternative.50 Die Meinungsfronten bildeten sich nun entlang neuer gesellschaftlicher Fragen, die das gute Leben zum Politikum machten – Familien- und Geschlechterrollen, Umwelt, Bildungsaspirationen, Stadt- und Infrastrukturplanung etc. Zum anderen gehörte zu den Langzeitfolgen der Studentenproteste auch die Einsicht in die staunenswerte Absorptionsfähigkeit der Bundesrepublik als liberaler Ordnung. Sicherlich, Minderheiten wanderten in den Untergrund und den terroristischen Kampf, einige Tausend linksradikal Entflammte organisierten sich in K-Gruppen und versuchten weiterhin an der Revolutionierung der Verhältnisse zu arbeiten. Aber insgesamt gelang doch eine relativ umfassende Inklusion der ehemaligen Systemgegner, von denen nicht wenige beeindruckende Karrieren in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft absolvierten. Eine beachtliche Zahl dieser „Renegaten“ und Bekehrten legt mittlerweile viel Wert auf ihr ostentatives Bekenntnis zu liberalen Grundwerten.51 Die Dynamisierung von politischen Protest- und Diskursformen bedeutete auch eine stetige Ausdifferenzierung – und das zeigte an, wie schwer es geworden war, den Liberalismus als eine konsistente, selbständige und unterscheidbare politische Idee zu isolieren. Insofern läuft man Gefahr, sich in Gemeinplätzen zu ergehen, wenn man den „Geist des Liberalismus“ in der Bundesrepublik orten möchte. Gleichwohl – so scheint es trotz der wiederkehrenden Krisen des parteipolitischen Liberalismus – bleibt das Normengerüst liberalen Denkens unverzichtbar. Die Ausdifferenzierung liberaldemokratischer Programmatiken vor dem Hintergrund eines weithin geteilten Verfassungskonsenses in der Bundesrepublik oder in vergleichbaren westlichen Staaten (solange sie prosperieren) gerät zusehends in Gegensatz zu einer außereuropäischen Welt, die dem uns Selbstverständlichen befremdet gegen50 Vgl. dazu Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 51 Prominente Beispiele für die Abarbeitung des eigenen Irrwegs liefern Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt/M. 2002; Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68, Köln 2008; Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt/M. 2008; Helmut Lethen: Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012.
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übersteht. Das von Francis Fukuyama skizzierte ideengeschichtliche Posthistoire sowie die erhoffte Universalisierung und die damit verbundene Finalität liberaler Weltbeglückung sind jedenfalls ausgeblieben.52 In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass der einst angenommene Konnex zwischen liberalen Werten, demokratischer Ordnung, freien Märkten und internationaler Kooperation keineswegs zwingend sein muss und dass nach dem Niedergang des realen Sozialismus ganz neue Feinde der Freiheit die liberale Demokratie bekämpfen – ob autoritäre Kräfte, die sich des kapitalistischen Systems bedienen, moderne Medien und Überwachungstechnologien nutzen sowie zudem ihre zynische Menschenrechtspolitik mit dem Vokabular der liberalen Moderne zu kaschieren suchen, oder ob religiöse Fundamentalismen, die sich als revolutionäre Gegenmacht zum Materialismus des Westens inszenieren. Die Einsicht in die Gefährdung der westlichen Demokratie sollte auch gegen die vermeintliche Langeweile einer liberalen Ankunftserzählung für die Bundesrepublik imprägnieren – einerseits, weil damit offensichtlich keinerlei Teleologie verbunden ist, sondern diese Perspektivierung einer normativen Intention unterliegt; andererseits, weil das Fortschreiben dieser Erzählung – die auf ein politisches Wollen gegründet bleibt – schwierig genug sein wird angesichts der Probleme, die die europäische Integration und die weltpolitischen Krisenherde tagtäglich vor Augen führen. Im Westen angekommen zu sein, reicht nicht mehr aus, wenn der Westen selbst an Geschlossenheit verliert, kein Leitbild mehr aufzurichten vermag und seine politische wie moralische Führungsrolle nicht mehr zu behaupten in der Lage ist. RESÜMEE Die liberalen Narrationen der bundesrepublikanischen Geschichte blenden gewiss einige Kontingenzen aus und können unterschiedliche Muster der Komplexitätsreduktion aufweisen. Vermutlich ist nicht jeder modernisierungsbedingte Wandel als Liberalisierung zu begreifen, aber trotz der Gefahr einer begrifflichen Überdehnung hat ein normatives Verständnis des Liberalismus gegenüber dem vorherrschenden Paradigma der Demokratie53 eine notwendige ergänzende Funktion: Das Kriterium der Freiheit und der Lebenschancen des Einzelnen kann besser erfasst werden, wohingegen die Demokratie eher 52 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 53 Es ist bemerkenswert, dass in den letzten Jahren die Ideengeschichte des Liberalismus kaum ein Thema war, während eine große Zahl von bedeutenden Arbeiten die Ideengeschichte der Demokratie problematisieren. Davon seien zumindest einige genannt: John Keane: The Life and Death of Democracy, London 2009; J.-W. Müller, Democracy (wie Anm. 12); Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012; Pierre Rosanvallon: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010.
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auf die Legitimität, Effizienz und Transparenz der „Selbstregierung“ zielt. Ein Grund für die Dauerhaftigkeit und die Stabilität der parlamentarischen Demokratie liegt allerdings in der Anschlussfähigkeit verschiedener Legitimationsquellen, von denen die Anknüpfungsmöglichkeiten an vorgefundene rechtsstaatliche Traditionen, an die deutsche Verfassungsgeschichte und an die Demokratie von Weimar nicht gering zu veranschlagen sind. Davon abgesehen, dass eine valide Bewertung der Relevanz von ideengeschichtlichen Genealogien kaum möglich ist, wächst ihre geschichtspolitische Bedeutung über die Zeit und kommt den Bedürfnissen historischer Identitätsstiftung zugute. Der historische Vergleich mit anderen Versuchen, die parlamentarische Demokratie etwa im ehemaligen Ostblock zu implementieren, zeigt, dass die politische Kultur – neben den sozioökonomischen Entwicklungsbedingungen einer Gesellschaft – der wesentliche Faktor für das Gelingen von Demokratisierung unter liberalen Auspizien bleibt. Um den schwer fassbaren „Geist des Liberalismus“ wenigstens schemenhaft zu orten, gilt es, den besonderen Umständen liberaler Traditionsbildung in Deutschland für die Bundesrepublik noch einmal in drei abschließenden Überlegungen Rechnung zu tragen. Erstens: Will man die Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus interpretieren, so ist dies allenfalls in zwei Etappen vorstellbar. Einerseits im Rahmen der Verfassungsgebung als der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, das zwar nationale Traditionen – und ganz besonders das Weimarer Erbe – berücksichtigte, sich aber doch im Korsett alliierter Vorgaben bewegte und damit einen Anschluss an die westlichen Demokratien präfigurierte. Andererseits gibt es das Moment einer nachträglichen „geistigen Gründung“, im Zuge derer die eigenständige Begründung und Legitimation der normativen Bestandsvoraussetzungen der liberalen Demokratie noch einmal rekapituliert, aktualisiert und im Meinungsstreit ausformuliert wurde. Die intellektuellen Auseinandersetzungen um das Wesen der bundesrepublikanischen Demokratie in den 1960/70er Jahren trugen insgesamt zur Selbstanerkennung, zur gesamtgesellschaftlichen Bewusstwerdung und zur Identifikation mit dem liberalen Grundgehalt der politischen Ordnung bei. Zweitens: Maßgeblich für den Liberalismus war seine Universalisierung, d. h. seine Diffusion in die vormals milieugeprägten Lager. Christdemokratie, Sozialdemokratie sowie die Mehrheit linksalternativer Politikentwürfe fanden grundsätzlich auf einem konsensliberalen Nenner zusammen. Insofern existiert in Deutschland zwar eine Partei, die sich mit dem Liberalismus verbunden sieht; die FDP vermag es aber kaum, sich zum alleinigen Erbwalter liberalen politischen Denkens zu inszenieren, weil der einstmals im Fadenkreuz stehende Begriff mittlerweile zum allgegenwärtigen Appendix geworden ist. Es ist deshalb kein Zufall, dass die FDP immer dann in Existenzkrisen gerät, wenn sie ihren programmatischen Gehalt auf marktliberale Forderungen verengt und den normativen Kern des Liberalismus vernachlässigt.
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Drittens: In Deutschland war nie Platz für einen reinen Marktliberalismus oder für dezidiert neoliberale Konzeptionen; dieser Umstand zeigt, dass der Liberalismus als Klassenideologie des Bürgertums kaum eine Durchsetzungschance besitzt, zumal inzwischen niemand mehr wüsste, wie das Bürgertum noch klar zu definieren wäre. Stattdessen streben alle politischen Parteien danach, sich als „bürgerlich“ zu profilieren und die Mitte für sich zu gewinnen. Mit dem Abschied des Liberalismus von seiner ökonomischen Fixierung ist eine Renormativierung verbunden, denn einer Reduktion des Liberalismus auf Freiheit vom Staat und ungehindertes Marktgeschehen würde heute kaum jemand das Wort reden. Mit dem Liberalismus in seiner universalen Lesart bleiben vor allem Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit, Verantwortung und Bürgerrechte verbunden. Kurz: Der Liberalismus taugt nicht mehr zum Feindbegriff wie noch in den 1960er Jahren; die negativen Energien zieht mittlerweile der Neoliberalismus auf sich, erst recht nach der 2008 ausgelösten Finanzkrise.54 Nachdem Ralf Dahrendorf in der Bundesrepublik jahrelang als einziger Intellektueller erschien, der sich explizit als Liberaler, ja sogar als Radikalliberaler bekannte, ist es heute wieder à la mode, sich intellektuell dem Liberalismus anzunähern.55 Dagegen spricht nicht, dass der Liberalismus ein umkämpfter Begriff bleibt: Die aus kommunitaristischer, zivilgesellschaftlicher oder bürgerrechtlicher Warte formulierten Kritiken in den Demokratien des Westens belegen dann eine Wandlungs-, Adaptions- und Modernisierungsfähigkeit, deren Hoffnung sich vor allem auf eine soziale Neubestimmung im Dreiecksverhältnis von Demokratie, Kapitalismus und der Freiheit des einzelnen Bürgers richtet.
54 Siehe etwa Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Berlin 2011. 55 Vgl. Herfried Münkler: Sozio-moralische Grundlagen liberaler Gemeinwesen. Überlegungen zum späten Ralf Dahrendorf, in: Mittelweg 36, 19. Jg., 2010, Heft 2, S. 22–37. Siehe weiterhin Wolfgang Kersting: Verteidigung des Liberalismus, Hamburg 2009.
LIBERALISM AND THE WELFARE STATE The Danish Case in a European Perspective Jeppe Nevers / Niklas Olsen INTRODUCTION The history of liberalism in the twentieth century is profoundly intertwined with the emergence, manifestation and transformation of the modern welfare state. The crisis of liberalism in the late nineteenth century was, among other factors, related to the emergence of the so-called ‘social issues’ and the call for a progressive social policy. The subsequent search for a ‘new liberalism’ in the British debate and in most of continental Europe in the early twentieth century was related to similar issues, and the rise of social democratic parties in North-Western Europe, most significantly in Scandinavia, in the 1920s and 1930s, was likewise rooted in a feeling that the age of liberalism had come to an end. Attempts to redefine liberalism in the post-war years were also deeply influenced by ambitions to integrate liberalism with social policies, ‘sozialer Marktwirtschaft’ and some kind of welfare state. And in the most recent decades, the welfare state with its high level of income tax and high degree of regulation of the economic sphere has been an important background for the development of neoliberal doctrines and practices since the 1970s and the 1980s. Thus, it seems impossible to write histories of liberalism in the twentieth century without including its multilayered and highly unstable relationship with the welfare state. This article explores the Danish case of how liberalism and the welfare state has related to each other. The method applied is a pragmatic version of conceptual history. With the aim to describe the development of Danish liberalism from the fall of a classical bourgeois liberalism with roots in the nineteenth century to the contemporary discourses of liberalism, the article asks the following questions: Who were the liberals in Danish politics? What did it mean to be a ‘liberal’, how was the notion of ‘liberalism’ defined, and what aims and visions were pursued with these concepts? It is the main argument of the article that this method applied to the history of Danish liberalism in the twentieth century puts the welfare state and the politics of regulation at the very center of the story. The article is divided into four sections. The first section illuminates the rise and fall of nineteenth century bourgeois liberalism and focuses especially
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on key factors that left the concept of liberalism almost deserted at the beginning of the twentieth century, thus conditioning later uses of the term. Against this background, the second section describes the emergence of strong state regulation during the First World War, which served as a background for the rise of an agrarian-based liberal tradition that was created by the political party Venstre and staged in opposition to state regulation. The third section deals with the revitalized debate on liberalism in the post-World War II-period and emphasizes in particular the eventual stabilization of the link between Venstre, liberalism and economically focused criticism of the welfare state. The fourth section shows how Venstre renewed its ideological profile and criticism of the welfare state from the 1970s by merging with neoliberal doctrines, among other things, and how liberal politics and ideology has transformed understandings and discussions of the welfare state in the past twenty years and today stands stronger than ever in a Danish context.1 1. THE RISE AND FALL OF NINETEENTH-CENTURY BOURGEOIS LIBERALISM As in other European countries, the concepts of ‘liberal’ and ‘liberalism’ emerged in the Danish language of politics in the first half of the nineteenth century.2 The initial context was the crisis of the absolute monarchy. An early introduction of ‘liberalism’ in Denmark, translated from Swedish and published in the journal “Tritogenia” in 1829, explained the concept as an application of Enlightenment principles, in particular the principle of reason, to the sphere of politics to reinforce the contemporary reaction against reactionary attempts to return to the ancien regime.3 Before this time, ‘liberal’ was only used as an adjective in a Danish context: being ‘liberal’ meant being open1
This article draws on a collaborative research project on Danish liberalism in international comparison: Jeppe Nevers / Niklas Olsen / Casper Sylvest, eds.: Liberalisme: Danske og internationale perspektiver, Odense 2013 – especially Jeppe Nevers: Frihed over by og land: De liberale og liberalismen i Danmark, 1830–1940, pp. 101–125; Niklas Olsen: Liberalismens revitalisering og afkulturalisering, 1945–1970, pp. 221– 245; and Jeppe Nevers / Niklas Olsen /Casper Sylvest: Liberalisme i Danmark siden ca. 1980, pp. 293–305. The first sections also draw on Jeppe Nevers: The Rise of Danish Agrarian Liberalism, in: Contributions to the History of Concepts, vol. 8/2 (2013), pp. 96–105. 2 Cf. Jörn Leonhard: Liberalismus: Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. For early Danish receptions cf. Henrik Horstbøll: Hvad hører der til at være liberal? Da liberalismen kom til København, in: John T. Lauridsen / Margit Mogensen, eds.: København: Porten til Europa, København 1996. 3 Om Liberalismen, in: Tritogenia: Et Maanedsskrift, udgivet som Fortsættelse af Minerva, vol. 3 (1829), pp. 123–137.
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minded, generous and noble. The connotations could vary from one context to another, but being ‘liberal’ always referred to moral qualities, something that related to the character of an educated and (therefore) open-minded person. From the 1820s onwards, this field of moral semantics was accompanied by more political references. In a Danish dictionary of foreign words from 1827, ‘liberal’ referred not only to the older moral semantics, the concept had also become a noun; it referred to nothing less than a “friend of a free form of government.”4 And in a dictionary from 1837, ‘liberalism’ was defined as “free-mindedness, love of free constitutions”.5 That same year another dictionary of foreign words defined liberalism as a “strive for a free form of government, for free development of mankind’s spiritual abilities and for free execution of inborn rights; free-mindedness (opposite of Servilismus).”6 Seven years later a second edition of the same dictionary defined a ‘liberalist’ as “a new word by which someone has wanted to define believers in a misconceived and too radical liberalism”.7 As indicated by these examples, the politicization of the term ‘liberal’ did not supplant the older field of moral semantics. Indeed, for many liberals there was an important connection between the self-understanding as an educated and free-minded citizen and the support of the liberal agenda, most notably the fight for a so-called ‘free constitution’. But in public discourse, the political connotation was now dominant. In another dictionary of foreign words from 1849, ‘liberals’ were defined as “the political party that wants a free constitution” and liberalism as a “strive for civic and political freedom.”8 This development was not only parallel to similar developments in other European countries, it was to a very high degree inspired from neighboring countries, not least from German and French vocabularies. This striving for civic and political freedom, which culminated in a transition to constitutional monarchy in 1848/49, has been studied by generations of Danish historians. Liberals from this period have generally been labeled ‘the national liberals’, although this term was not (as in Germany) used until later. 4 5 6 7 8
Carl Friedrich Primon: Lexicon over alle de fremmede Ord og Udtryk, der jevnligen forekomme i det Danske Sprog i enhver Green af Videnskaberne og Kunsterne, København 1827. Joh. Nik. Høst: Fuldstændig Fremmedordbog eller Lexicon over alle i vort Sprog brugelige fremmede Ord, med Angivelse af deres retskrivning, Udtale og Kjøn, samt Fordanskning, Omskrivning eller forklaring, i alphabetisk Orden, København 1837. Ludvig Meyer: Kortfattet Lexicon over fremmede, i det danske Skrift- og Omgangs-Sprog forekommende Ord, Konstudtryk og Talemaader; tilligemed de i danske Skrifter mest brugelige fremmede Ordforkortelser, København 1837. Id.: Kortfattet Lexicon over fremmede, i det danske Skrift- og Omgangs-Sprog forekommende Ord, Konstudtryk og Talemaader; tilligemed de i danske Skrifter mest brugelige fremmede Ordforkortelser, København 1844. Joh. Nik. Høst: Fuldstændig og udførlig Fremmed-Dansk ordbog for Hvermand, København 1849.
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And even if these liberals were central to the fall of the absolute monarchy, it is striking that this nineteenth-century Danish bourgeois liberalism disintegrated before it became an actual tradition. While liberals and liberalism was attacked in most of Europe in the second half of the nineteenth century, in Denmark, the crisis was so profound that only few claimed to be liberals by the year 1900. Likewise, if used at all, the term liberalism seemed to be a term of the past. But why? As we will see below, three factors arguably contributed to the fall of this more or less classical bourgeois liberalism. The first factor has to do with the fact that liberals and liberalism were under fire throughout Europe for having no response to what was called ‘the social question’. Not only early socialists connected liberalism closely to capi talist society and its social injustices; Christian conservatives also launched harsh criticism along the same lines. In Denmark, H. L. Martensen, the Bishop of Copenhagen, published his critique in 1878.9 For Martensen, liberalism was simply the root of all evils in modern society: it was an ideology of individualism that completely missed the importance of society and of the common good. More concretely, he saw liberalism as the philosophical foundation for the society of ‘free competition’, ‘laissez-faire’ and the struggle of everybody against everybody. Thus, he had some sympathy for socialism as a response to the calamites of liberalism. Nevertheless, he was skeptical towards ideas about the abolition of private property (what he termed ‘revolutionary socialism’) and positioned himself within ‘Christian socialism’. D. G. Monrad, another bishop, one of the founding fathers from 1849 and a leading liberal voice of the time, responded to Martensen, defending ‘liberalism’: “It is true that is has destroyed many strings and limitations that hindered the free movement of individuals, but it has not forgotten society.”10 In line with this, he listed a number of areas in which liberals had allegedly worked for the society and for the common good, for instance education, postal service, railroads, implementation of telegraph technology etc. and added that usable solutions to the social problems at hand would “find warm and loyal support” in the liberal camp.11 According to Monrad, when Martensen criticized the liberals for not seeking the common good, he simply did not understand what liberalism was about. The essence of liberalism – so Monrad argued – was precisely that the state should provide for the common good and only for the common good, and never take side for one or the other: “This is the reason why the state so often keeps back and lets the forces in the civil society fight for themselves. The fear is that interference will do more harm than good.”12 9
Hans Lassen Martensen: Den christelige Ethik: Den specielle Deel, vol. 1–2, København 1878. 10 Ditlev Gothard Monrad: Politiske Breve, nr. 14–18, København 1878, p. 71. 11 Ibid., p. 74. 12 Ibid., p. 126f.
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This type of answer to the social question led to a remarkable victory for the critics’ definition of liberalism as free competition and the survival of the fittest. Before the 1860s and the 1870s, ‘liberalism’ was in a Danish context only rarely identified with ‘laissez-faire’ and non-interference in the economy. To be sure, many ‘liberals’ aimed to demolish the old guild system in the 1840s and the 1850s (and they succeeded in 1857 with a law on free enterprise). But they never defined the free market as the essence of ‘liberalism’, and the ‘ism’ was rarely used in the heated debate on free competition. However, after ‘liberalism’ came under increasing fire in the 1870s, a liberal such as Monrad defended what he called “the great, economic law” that is “by God built into the human society.”13 This was the law of prices: that a price is determined by supply and demand. Since at least Jean-Baptiste Say and the French ‘industrialistes’, theorists of political economy had connected ‘liberal principles’ to the free-market doctrines of Adam Smith, who had contrasted ‘the liberal system’ to ‘the mercantile system’ (though, of course, never self-identifying as a ‘liberal’).14 Still, in a Danish context, a liberal like Monrad did not identify the free market as a key feature of liberalism before it came under fire in the age of industrialization. This “economization” of the term ‘liberalism’ was arguably an important factor for its demise. Second, many Danish liberals moved to the right in the political struggles over the question of democracy in the late nineteenth century. In Danish historiography, this period is known as the age of the constitutional battle, a parliamentary battle over the relationship between the government and the democratic forces in the parliament. At the one side of the parliament, ‘the right’ (Højre) argued that the government, according to the constitution, should be appointed solely by the King, whereas the growing section on ‘the left’ (Venstre) argued that the king should not be able to appoint a government and govern against a majority in the lower chamber. In 1901, after three decades of struggles and various attempts to stay in power, the right finally gave in and accepted a government that was backed by a majority in the lower chamber. The democratic alliance, self-identified as ‘the democracy’, consisted of two major groups (and a vast number of sub-groups): members of parliament elected as social democrats and members of parliament elected as members of the party Venstre. This party, the oldest in Denmark (the liberals never formed an actual party; most of them, not least Monrad, detested the very idea), was established in 1870 and consisted first and foremost of farmers and other representatives of the rural population. Against the background of a number of important agricultural reforms in the eighteenth century, the farmers and their representatives rose to become an important political fraction, already active 13 Ibid., p. 129f. 14 Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, vol. 1–2, Oxford 1976, pp. 538f and p. 671.
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on the democratic left in the late 1840s. However, throughout the nineteenth century, this political group did not proclaim ‘liberalism’ to be its ideology. In nineteenth century Denmark, ‘the liberals’ were the urban academics of Monrad’s type. Crucial is that many older liberals ended up on the losing side in the constitutional battle. Monrad continuously pursued a Hegelian balance-oriented strategy, and towards the end of his life he certainly moved towards Venstre, but the majority of the older liberals chose to side with the conservatives against the democrats. This surely contributed to the discrediting of ‘liberalism’ as an ideology and of ‘liberal’ as a political label. Although the British-style dichotomy of liberals vs. conservatives was sometimes used in the constitutional struggle, the term ‘liberalism’ was rarely, if ever, connected to the mobilization of the rural population in the second half of the nineteenth century. On the contrary, leaders of Venstre, often inspired by the writer N. F. S. Grundtvig, identified themselves in opposition to the academic environments, not least the liberal academic elite of the mid-nineteenth century. Third, the liberals were also the driving force behind the foreign policy that led to Denmark’s catastrophic defeat to Prussia in 1864. Here we must remember that the old Danish monarchy was a composite monarchy, stretching from the polar circle in the north to Hamburg and Lauenburg in the south. Norway gained independence after the Napoleonic wars. But with regard to the southern border, liberals (increasingly identified as ‘the national liberals’) such as Monrad sought to build a nation-state deep into the German-speaking areas in the duchy of Holstein, which led to a war with and defeat to Prussia in 1864. This defeat was considered a national tragedy and contributed significantly to the unpopularity of the liberals. For a few years, Monrad even immigrated to New Zealand. He later returned and resumed his political activities, for instance defending liberalism against Bishop Martensen in 1878. However, after 1864 celebrating the liberals or liberalism was no easy feat. Thus, around the turn of the century, the concept of ‘liberalism’ was largely abandoned. As in other European countries, there was a Danish urban environment of liberal academics, who, towards the end of the nineteenth century, sought to develop an ideology of social reform on the basis of the liberal-democratic state with its system of civil rights. However, as in France, this ideology of social reform was not labeled ‘new liberalism’ (as it was in England), but radicalism.15 This group of academics supported Venstre and became known as ‘the European Venstre’ (because of their international orientation) and ‘the radical left’ within their party. Politically, they gathered in Københavns liberale Væl15 Cf. Lars Andersen: Velfærdsmoral og solidaritet: Dansk socialliberalisme i europæisk kontekst, 1880–1910, in: J. Nevers / N. Olsen / C. Sylvest, Liberalisme (as in annot. 1), pp. 149–172.
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gerforening (The Liberal Voting Union of Copenhagen), which also housed the older generation of liberals. However, this new generation of academics never associated themselves with ‘liberalism’ (though occasionally with ‘liberal’ as a moral quality and as a political label against the conservatives). Hence, when this group finally broke with Venstre in 1905 and formed the party Det radikale Venstre (The Radical Left), their key concepts were not ‘liberalism’ or ‘liberals’, but ‘radicalism’ and ‘radicals’. So, the proponents of what in England was known as new liberalism, a liberalism based on a posi tive attitude towards social policy and social reform, were in a Danish context simply ‘the radicals’.16 This differs significantly from the Swedish case, where Liberale samlingspartiet (The Liberal Coalition Party) was founded in 1900 in relation to the fight for democracy and here joined forces with the social democrats. In Sweden, where there was a wide discussion of ‘new liberalism’, the semantics of ‘liberals’ and ‘liberalism’ took a path closer to the British than the Danish case. Hence, in the 1920s, there were two Swedish liberal parties that from 1934 joined forces in Folkpartiet (The People’s Party) with support from both urban and agrarian communities.17 2. THE POLITICS OF REGULATION AND THE REBIRTH OF LIBERALISM After the radicals left Venstre and formed their own party, Venstre became ever more closely tied to the farmers and their political and economic interests. In seeking to understand the development of Danish liberalism in the twentieth century, this development cannot be overemphasized, since the remaining fraction of Venstre was eventually to claim the concept of liberalism and assign to it new layers of meaning. In terms of historiography, many historians have argued that Venstre was a liberal party from the outset: they were democrats and they were also strong proponents of ‘free trade’. In this fashion, it is not difficult to reconstruct a liberal ideology in the early programs of Venstre. However, as mentioned, Venstre did not claim the concept of liberalism in the late nineteenth century. This happened only after the First World War, and the peculiar link between peasantry and liberalism was made possible because Danish farmers from the early days of Venstre were strong proponents of free trade, not least because of their large export of agricultural goods. 16 Cf. Helge Larsen: Fra liberalisme til radikalisme: Københavns liberale Vælgerforening, 1883–1908, Odense 1985. 17 Jussi Kurunmäki is working on the conceptual history of Swedish liberalism, cf. Jeppe Nevers / Jussi Kurunmäki: Nordic Liberalisms: Sweden and Denmark in Comparison (working paper).
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Economic interests were also central for Venstre’s ideological armament during and after the First World War and for the party’s subsequent embrace of the term ‘liberalism’. At the outbreak of the war, the Danish government was led by the ‘radicals’ (supported by the fast-growing social democratic group), who faced the difficult task of remaining neutral and at the same time trading with both sides. This necessitated a deep regulation of all Danish production and trade, especially of the large agricultural production and the export to the British Isles. In other words, the unregulated market of the nineteenth century was put on hold and the farmers were severely affected by this move. In this tense situation, prominent members of Venstre, especially Thomas Madsen-Mygdal, later a prime minister and for many historians the iconic Danish liberal of the twentieth century, launched a harsh rhetoric against the politics of regulation put forth by the government.18 This clash of interests was eventually given an ideological element, when the radical minister of the interior (who was in charge of the regulated economy) during the First World War expressed fascination with the possibilities in such regulation, and this brought his party, Det radikale Venstre, closer to the Social Democratic Party in both theory and practice.19 This rapprochement was an important background for the construction of a coalition of huge importance for Danish politics in the twentieth century: that between Det radikale Venstre (the social liberal urban academics with some support among peasants of minor wealth) and the Social Democratic Party. For Venstre, this was a coalition of ‘radicalism’ and ‘socialism’ that threatened to bring about a new age of tyranny. Against this background, in the highly polarized climate in the years following the First World War, Venstre developed an anti-socialist agenda. And from the early 1920s onwards different voices in the party began to speak of ‘liberalism’ as the ideology that Venstre embraced in opposition to the politics of regulation and the socialism of the radical-social democratic alliance. The youth organization of Venstre, Venstres Ungdom, was the first mover. Already in 1917, an article on “Dansk Liberalisme” was published in the journal of Venstres Ungdom that identified ‘state absolutism’ as the new enemy of liberalism.20 In Venstre, this rhetorical move seems to have happened a little later. However, in 1925, it was stated in official party materials that “the dividing line in politics goes between Liberalism (Venstre) and socialism (Social Democracy).”21 18 Cf. Jeppe Nevers: Landbrugsleder og liberalist: Thomas Madsen-Mygdal (1876–1943), in: Per Hansen / Kurt Jacobsen, eds.: Trangen til vækst: Danske erhvervsledere 1870–2010, Odense 2011, pp. 59–73. 19 Cf. Rigsdagstidende, Folketingets Forhandlinger 1916–17, col. 852. 20 Hans Nygaard: Dansk Liberalisme, in: Dansk Folkestyre vol. 13, 1917. 21 Venstres Valgbog 1925–26 (in Venstre’s archives).
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J. V. Christensen, a newspaper editor and from 1924 a member of the upper house, Landstinget, was one of the first important figures in the party to use liberalism as a key concept. In a book on Venstre’s history from 1922, he declared: “In the fight between the liberal and the socialist perception of society it is of the greatest importance that Venstre is strong”.22 He repeated this position in the second edition of the same book, published in 1924, and in both cases the connection between liberalism and Venstre was made in short final remarks on the contemporary political struggle.23 But in 1930, he published a book entitled “Liberalismen i Danmark” (Liberalism in Denmark), in which he portrayed Venstre as the heir to a Danish liberal tradition stretching back to the Enlightenment. He identified the essence of liberalism as the ideas of human rights as they were proclaimed in the French National Assembly in 1789. Thus, in a Danish context, the ideas of liberalism stood in opposition to the absolute monarchy and materialized with “the liberal constitution of 1849”.24 In the 1920s, it was not uncommon for Venstre politicians to stress that the coalition of radicals and social democrats in their present time was the ideological heir to the absolute monarchy and the old guild system, the structures that liberalism confronted in its earliest phase and that was now reappearing in modern disguise. Although Christensen made short references to contemporary contributions to liberalism, such as Ludwig von Mises’ Liberalismus from 1927 and L. T. Hobhouse’s Liberalism from 1911, it was his basic argument that liberalism had taken a special path in the Danish case. He argued that “liberal views came to dominate business and politics in a way that was only seen in few other countries”,25 although the concept of liberalism never was popular. In other words, according to Christensen, Danish liberalism was carried by Venstre, resulting in a special form of liberalism; a more practical form of liberalism, more down-to-earth than doctrinaire. Christensen thus talked of a certain “Danish liberalism” that firmly believed that “the state should intervene as little as possible in the people’s free development of its business possibilities”, but at the same time supported the social laws of the late nineteenth century: simple health insurance, economic support for the elder etc. Venstre’s increasing orientation towards liberalism, and similar lines of argument, is also found in another book entitled Liberalismen i Danmark. This book was published in 1935 by Erik Eriksen (chairman of the youth organization of Venstre and prime minister after the Second World War) and Harald Nielsen (also a later prominent member of Parliament for Venstre), and it contained a preface written by Madsen-Mygdal, the former Prime Minister. 22 Jørgen Valdemar Christensen: Venstres Historie i korteste Træk, Ringsted 1922, p. 52. 23 Id.: Venstres Historie i korteste Træk, København 1924, p. 59. 24 Id.: Liberalismen i Danmark, København 1930. 25 Ibid.
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Authoring each their sections, Eriksen and Nielsen launched similar arguments, but told a different narrative than Christensen (the historical chapters were written by Nielsen, who was, at this time, a teacher at the agricultural school in Dalum, Odense, where Eriksen had also been educated, and where Madsen-Mygdal was the principal before he entered politics). They saw the roots of liberalism in ancient Greece as well as the Jewish tradition and argued that modern liberalism was first and foremost born with the idea of religious freedom, which had been especially strong in the Netherlands and Great Britain from where it travelled to North America. Its essence was individual liberty and the idea of the state as the protector of this liberty. It was this idea that spread throughout Europe in the nineteenth century and which had its most important Danish impact in the Constitution of 1849. Hence, they defined the essence of liberalism with these words: “The liberal view is founded upon the principle that man is a social creature and it acknowledges that living together with others presupposes a limitation of each person’s liberty; but the special aspect of liberalism, that which distinguishes it from other perceptions of society, is that it wants these limits of each citizen’s liberty drawn as widely as possible, and that it views the state as an organization of power created to defend this liberty.”26
Interestingly, Nielsen and Eriksen presented their ideas as a ‘new liberalism’,27 reminding us that ‘pure liberalism’ or ‘old liberalism’ was in general viewed as an outdated ideology. They also argued that liberalism in modern Denmark had divided into two; on the one hand a ‘popular’ (folkelig) liberalism with roots in the agrarian tradition, ‘landboliberalismen’ (agrarian liberalism), and on the other hand a more intellectual and urban variety that came to be embodied by Det radikale Venstre. The first track had, according to the authors, its roots in a common Nordic tradition for popular freedom that paved the way for the important agricultural reforms in the late eighteenth century and for the rise of the Nordic agrarian political movements in the second half of the nineteenth century. Thus, Nielsen and Eriksen supported the idea of a certain Danish liberal tradition as the ideological foundation of Venstre: a practical and down-to-earth liberalism firmly rooted in attitudes of free-mindedness in the Danish population and in everyday life and the mentality of the common people. This ideological reorientation in some parts of Venstre took place in a period marked by intensive ideological debate and the construction of new political alliances. The former division between democrats and conservatives was transformed into a system of political parties with two parties on the right, Venstre and the new Conservative People’s Party (Det konservative Folkeparti) that was founded upon the ruins of the old right party, and two 26 Erik Eriksen / Harald Nielsen: Liberalismen i Danmark, Odense 1935, pp. 13f. 27 Ibid., p. 19.
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parties on the left: Det radikale Venstre and the fast-growing Social Democratic Party. The two blocks were more than anything divided over different attitudes towards state regulation. The disintegration of the urban liberalism of the nineteenth century and the rise of an agrarian-based liberalism in the early twentieth century is important for at least two reasons. First, it gave ‘liberalism’ a firm position in Danish political language as a counter-concept to socialism understood as strong state regulation and represented by the Radical-Social Democratic alliance. Second, it paved the way for what should become a rather strong liberal tradition: liberalism was now the ideology of the main opposition party. However, Venstre’s anti-regulation was definitely not a winning strategy. It received its first serious blows in the 1930s, when liberalism as anti-regulation by many, also within Venstre, was seen as the cause of the economic crisis. In response, the party’s program from 1938 stated that: “Modern economic liberalism is not, as it is falsely accused, a perception of society that puts the single individual in opposition to the society and its common interests – it is on the contrary a profoundly social perception of society”.28 On the one hand, Venstre clearly felt the need to defend the concept; on the other hand, this could only be done through a redefinition. In the 1930s and the 1940s, it became an increasingly accepted position that the economic crisis proved the shortcomings of the ‘old liberal system’. Madsen-Mygdal, who led the farmers in the opposition to the Radical-Social Democratic government in the 1910s and who served as prime minister from 1926 to 1929, was often described as a typical ‘gammelliberal’ (‘old liberal’). This rhetoric was especially strong among social democrats, which came to dominate Danish politics in the 1930s. Thorvald Stauning, who is often narrated as the founding father of the social democratic welfare state, was prime minister from 1929 until 1942, and in 1935 the Social Democrats gained more than 40 % in a general election. The political visions of the Social Democratic Party were presented in the crucial program Danmark for Folket (Denmark for the People) from 1934, in which the Social Democrats declared that “the old liberal system has broken down”.29 3. LIBERALISM REVITALIZED, MONOPOLIZED AND DECULTURALIZED The language of liberalism continued to be embedded in crisis-rhetoric in the early 1940s. As in many other European countries, liberalism was in Denmark considered to be an ideology of the past. Associated with laissez-faire capital28 Venstre’s party program of 1938, p. 3. 29 Danmark for Folket, 1934.
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ism, egoism and economic crisis, liberalism was considered unable to sustain a legitimate political order and effectively respond to the many challenges posed by the modern world. However, the meaning and status of liberalism was soon to change, and continued to do so, in the period from 1945 until 1970, in which the concept was first revitalized, then monopolized, and, in this process, deculturalized. Liberalism Revitalized The revitalization of liberalism taking place in Denmark in the 1940s had international parallels. Already during World War II, a wave of intellectual manifests appeared that promoted liberal visions and warned against collectivist, state-directed political agendas. Among these were The Road to Serfdom and The Open Society and its Enemies by Friedrich von Hayek and Karl Popper respectively.30 Moreover, a number of international organizations with declared liberal visions were established in the immediate post-war period. These included the Mont Pèlerin Society, an organization of economists, intellectuals and businessmen, founded on the initiative of Hayek in 1947, and of which Popper was also a member – and Liberal International, a political organization for liberal parties and individuals founded in Oxford also in 1947.31 Finally, liberal political agendas began to play crucial roles on national politi cal scenes. This was for example the case in Sweden in which the economist Bertil Ohlin in 1941 became leader of the People’s Party (Folkepartiet), which pursued a distinct social liberal agenda and manifested as the largest opposition to the Swedish social democrats in the post-war period. The revitalization of liberalism in Denmark took place from the end of 1943, where it became clear that German rule over Europe was coming to an end. A discussion ensued of the principles on which Danish society and poli tics was to be based in the future. In this discussion, at least two liberalisms were articulated – a ‘social’ liberalism and a market oriented ‘modern’ liberalism – that were to dominate the Danish political debate until the late 1940s. The revitalization of social liberalism to a large extent unfolded within the frames of the youth organization of Venstre, but involved politicians and intellectuals from many different backgrounds and parties. A number of prominent debaters, who were not associated with Venstre, was thus also on the program of a conference hosted by the youth organization of Venstre in February 1944, which marked the beginning of a more comprehensive revitalization of and 30 Friedrich von Hayek: The Road to Serfdom, London 1944; Karl Popper: The Open Society and its Enemies, London 1945. 31 Philip Mirowski / Dieter Plehwe, eds.: The Road from Mont Pèlerin: The Making of a Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009; Julie Smith: A Sense of Liberty: The History of the Liberal International, London 1997.
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positive attitude towards liberalism in the Danish political debate.32 These debaters included K. B. Andersen, who held a position in the State Broadcasting Service and was a member of the Social Democratic Party (in which he was to have a prominent career); theologian Hal Koch, who had manifested as one of the most active social-political debaters during the occupation and was beginning to embrace a social democratic identity; and economist Thorkil Kristensen, who soon after became a member of Venstre and the party’s Minister of Finance in October 1945, but was not a member of the party at the time. The viewpoints of Andersen, Koch and Kristensen (who was unable to attend the conference, but soon after published his contribution in various journals) on liberalism were strikingly similar and represented important transformations in the understanding of liberalism that took place near the end of the occupation. First of all, liberalism was no longer embedded in the crisis-rhetoric that had accompanied the concept since the 1930s. Instead, many political debaters – including debaters not associated with Venstre – viewed liberalism as an important and valuable ideology. However, most of the debaters found it necessary to transform the ideology into an ‘outlook of life’ (livssyn) that could be embraced by several classes (and not only the agrarian class). In addition, the debaters argued that this transformation demanded a harmonization of the cultural and economic dimensions of liberalism. More concretely, they argued that liberalism’s principles of political freedom were to be combined with a certain measure of state intervention in the economy, which should correct what many debaters viewed as flaws in the ‘old’ liberalism, meaning its lack of ability to handle conjectural changes and its tendency to create inequality. Thorkil Kristensen, who was to emerge as a key figure in the liberalism-debates in the mid-1940s, articulated this understanding of liberalism in the article Statsintervention og Økonomisk frihed (State Intervention and Economic Freedom) that appeared in the journal “Samfundets Krav” (Demands of Society) in the beginning of 1944.33 In the article, Kristensen portrayed the history of economic liberalism as an eternal oscillation between free markets and a more state controlled economy, and he described how free market liberalism had allegedly led to economic crisis and state intervention in the interwar period. He explained the causes of the crisis of free market liberalism with reference to modern society’s complexity, changeability and lack of balance, as well as to the strongly organized character of modern economy, which believed to be heavily influenced by strong interest organizations. 32 See Program for V. U.s Landskursus, 14–19. februar 1944, Dansk Folkestyre, Nr. 4, 1944, pp. 37f, and Erik Eriksen (1944): V. U.s Landskursus, Dansk Folkestyre, Nr. 5, pp. 53f, 58–69. 33 Thorkil Kristensen: Statsindgreb og Økonomisk Frihed, Samfundets Krav, Nr. 1–2, 1944, pp. 1–13.
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Against this background, Kristensen recommended a measure of state intervention in the economy and argued that the choice to be made in post-war Denmark was not one between a free market and a thoroughly state controlled economy, but between a model that involved state intervention and a model in which power was concentrated at interest groups. According to Kristensen, the first model had to be embraced if individual freedom was to be maintained: “If liberalism is to exist today, it must follow this line. The old liberalism of a hundred years ago could remain passive, because business life was largely unorganized. Today, passivity will lead to lack of freedom, condition by the power of interest organizations. It is in this respect that the state must guard the individual citizen’s possibility to unfold. This must the aim of a true liberal politics in a thoroughly organized society.”34
When a short version of Statsintervention og Økonomisk frihed was published in the journal “Dansk Folkestyre” that emanated from the youth organization of Venstre, it was in line with a series of articles about liberalism that the journal had published since the beginning of 1944. These articles thematized a common agenda, which was presented with the headline ‘new liberalism’.35 This liberalism, which was also labeled ‘social liberalism’ and ‘modern liberalism’, referred to a variant of liberalism that sought to maintain individual freedom, but also to assign the state a crucial role in solving economic and social problems by regulating and distributing the economy. The addition ‘new’ signaled thus an encounter with what debaters spoke of as ‘dogmatic’, ‘orthodox’ and ‘pure’ variants of liberalism as associated with Adam Smith and the Manchester School. The debaters embraced instead a more ‘realistic’, ‘pragmatic’ and ‘open-minded’ liberalism that concerned the entire society and allegedly was better equipped to respond to the complexity and changeability of modern life, referring to issues such as economic crisis, unemployment and poverty. In relation to these issues, the concepts of liberalism and socialism, which had been separated in the Danish political language since the 1920s, were fused in the social liberal agenda. It should be added that the agenda was not presented as a break in Venstre’s history, but as a continuation of a line that the party had pursued since its first contributions to societal-political reforms in the second half of the nineteenth century. Still, it is evident from reports in “Dansk Folkestyre” that Venstre-politicians were looking for inspiration outside of Denmark, first of all in Sweden, where the People’s Party with its program Efterkrigstidens Samhälle (The Society of the Postwar Period) was positioning a social liberal 34 Ibid., p. 11. 35 See Harald Petersen: Liberal Politik og Efterkrigstiden, Dansk Folkestyre, Nr. 6, 1944, pp. 63–73; Knud Hansen: Liberal Fremtidspolitik, Dansk Folkestyre, Nr. 7, 1944, pp. 85f; Thisted Knudsen: Et nyliberalt Fremtidsprogram, Dansk Folkestyre, Nr. 9, 1944, pp. 105f; Jørgen Antonsen: Nyliberalismen, Dansk Folkestyre, Nr. 11, 1944, pp. 133f; Henry Christensen: Nyliberalismen, Dansk Folkestyre, Nr. 15, 1944, pp. 197f.
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agenda against the social democrats. Likewise, liberalism in Denmark was oriented towards a more social liberal agenda, which made it possible for a broad spectrum of debaters to see new perspectives in and identify with the ideology. However, not all liberals in Denmark identified with social liberalism in the mid-1940s. This period also saw the rise of high-bourgeois ‘modern’ market-oriented liberalism, which was articulated by business organizations with strong positions against state regulation and economic distribution and became related to the emerging Cold War Constellation. The movement had already mobilized in the 1930s, and it was the chairman of a free trade club established in 1932, Alfred S. Halland, who published its key manifesto Planøkonomi eller liberalisme? (Planned Economy or Liberalism?) in 1943. In the book, Halland described planned economy as a phenomenon based on idolisation of state power, narrow class interests and utopian conceptions of society and economy, which would inevitably result in the loss of individual freedom, exploitation of certain societal classes and a crisis-ridden economy. According to Halland, a system of planned economy thus had to be avoided in favour of a liberal system that was based on free competition and would ensure a free, just and industrious society. Obviously, social policies were marginal in Halland’s program. A more favourable attitude towards a state regulated and planned economy was found in Fremtidens Danmark (Denmark of the Future), the programme with which the Social Democratic Party in August 1945 addressed Denmark’s economic-political future after the occupation. Employing a strong socialist rhetoric, the programme aimed to replace what it spoke of as the defect and crisis-ridden system of ‘private’ or ‘liberal’ capitalism with a system that called for a redistribution of income to finance an enlargement of the social sector, permanent state control of imports, and extensive socializations, i. e. nationalizations, of crucial parts of Denmark’s industry and financial sector. Behind the socialist rhetoric, which was partly launched to curb the communist success after the occupation, Fremtidens Danmark aimed at an extensive, state-driven modernization of the Danish economy that was to be carried out in coordination with the private sector and with a focus on the industrial sector.36 The programme was met by strong negative reactions in other political parties and in the trade and business-sector. It was thus as a response to it that representatives of this sector founded Erhvervenes Oplysningsråd, EO (Information Council of the Trades and Industries) in August 1945. The initiative came from the Chairman of Grosserer-Societetet (the Wholesaler-Society), Detlef Jürgensen, who gathered more than thirty of the most important organi 36 Niels Wium Olesen: Fremtidens Danmark – Tilbage på plads, Arbejderhistorie, Nr. 1, 1995, pp. 35–50.
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zations from the trades and industries for his initiative, such as Industrirådet (Council of the Industries), Landbrugsrådet (Agricultural Council), Handels kammeret (Danish Chamber of Commerce for the Provinces) and the major representatives of the shipping industry.37 EO soon established contacts to political parties and interests groups and launched a range of activities aimed at several and shifting groups of audiences. For example, a folder entitled F rihed og Fremtid (Freedom and Future), which was to illustrate the advantages offered by a system of free trade vis-à-vis the obstacles posed by a planned economy, was printed in 1,25 million copies, one for every four Danes. EO also established networks with similar information agencies in Norway and Sweden, where parallel discussions of planned economy vs. liberalism took place in the mid-1940s. In addition, it introduced to Danish audience books and articles authored by prominent people from the Mont Pèlerin Society, who were also invited to speak in Copenhagen. The first talk organized by EO was given by Hayek in January 1946 and was a great success in terms of attendance and publicity. Two years after, in 1948, the energetic secretary and later director of EO, Christian Gandil, became the first Danish member of the Mont Pèlerin Society. EO’s critique of planned economy – that Gandil to a great extent launched and coordinated – went hand in hand with an embrace of a Hayekian liberalism encompassing not only a limited state, individual freedom, the rule of law and free markets, but also the idea the state had to play an active role in establishing and upholding free markets and effective competition. In this sense, similar to ‘social liberalism’, the ‘modern’ market oriented liberalism tried to break with earlier liberal traditions. EO’s ‘modern’ liberalism was very visible in the immediate post-war political debate. However, as in Norway and Sweden, it proved impossible for EO to mobilise a free market liberalism that included all major representatives of the trades and business and those political parties it envisioned as its allies, including Venstre. The ideological aims pursued by EO were simply at odds with the more pragmatic politics pursued by the other political parties. Before the first post-war election in October 1945, Venstre had also reacted strongly to the social democratic visions of planned economy and embraced a liberal rhetoric similar to the one promoted by EO and more in the line with the rhetoric from the 1920s. However, its electoral programme turned out to be informed by a more pragmatic line of reasoning that resembled the social liberal agenda that came to dominate the public debate. Venstre’s 1945 electoral program did not talk of liberalism, but of a model in which state coordi37 An account of EO’s origins is found in Christian Gandil: Erhvervenes Oplysningsråd 1945–1970, København 1970. The following is based on Niklas Olsen: A Second Hand Dealer in Ideas: Christian Gandil and Scandinavian Contributions to European Neo-Liberalism, in: Id. / Hagen Schulz-Forberg, eds.: Re-Inventing Western Civilisation: Transnational Reconstructions of Liberalism in Europe in the Twentieth Century, Newcastle upon Tyne 2014, pp. 137–167.
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nation of the economy was to play a central role in the attempt to create an effective economy, societal modernization and social security, and its successful election and takeover of government owed to a variety of factors rather than to a distinct liberal profile.38 In fact, Det radikale Venstre was the only party that referred directly to liberalism in their program at the 1945 election, associating the concept with capitalism and economic crisis. This praxis – which had roots in the political languages of the 1930s – was widely disseminated in the immediate postwar-period. Hence, even if the liberalism had been revitalized and embraced by individual political actors in the public debate, no party on the Danish political scene wanted to identify with the concept. Liberalism monopolized The meaning and status of liberalism changed in the late 1940s. Here, the concept was embraced by the two political parties, Venstre and Det radikale Venstre, who sought to define and dominate Danish politics with reference to respectively a liberal and a social liberal agenda. Det radikale Venstre was inspired by the Swedish People’s Party and considered itself as taking part in a broad, European development toward a fusion of liberalism and socialism, when it began to label its profile as social liberal in the late 1940s.39 Two of its spokesmen were the economists Bertel Dahlgaard and Kjeld Phillip, who were both appointed as ministers in the 1950s (Dahlgaard had also been Minister of the Interior in the 1930s). According to Phillip, when it came to concrete politics, social liberalism sought at the same time to maintain personal freedom as well as the private initiative and to avoid huge unemployment and inequalities of income. The latter was to be avoided by means of progressive taxation, redistribution and social legislation.40 In other words, Phillip advocated a ‘modern’, ‘moderate’ and ‘broad’ liberalism, which fused demands of individual freedom with a responsibility for the entire population. Even if the specific points of orientation and measures were new, Det radikale Venstre’s social liberal agenda – which climaxed in the mid-1950s – was overall in accordance with the party’s founding program from 1905. And as back then – and in contrast to the Swedish People’s Party – this agenda was compatible with the agendas of both Venstre and the Social Democratic Party, when it came to practical politics. Between 38 Hanne Rasmussen / Mogens Rüdiger: Danmarks historie, vol. 8: tiden efter 1945, København 1990, pp. 52f. 39 Kristian Hvidt: Det radikale Venstre og brudfladerne i dansk politik, in: Sune Pedersen / Bo Lidegaard (red.): B. Radikalt: 1905–2005, København 2005, pp. 92–94. 40 See for example: Den sociale politik kan forenes med den liberale ide. Professor Kjeld Philip om den socialliberale politiks indhold og opgaver, Børsen, 20/7–1950; Kjeld Phillip: Nyt islæt i dansk politik. Socialliberalismen – en udogmatisk linje, Politiken, 1/9–1950.
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1945 and 1968, the party thus oscillated between supporting governments led by Venstre (two governments: 1945–47 and 1950–53) and the Social Democratic Party (seven governments in the mentioned period) and worked with a flexible understanding of the meaning of and relation between liberalism, socialism, freedom and equality. Indeed, rather than portraying Danish politics as a choice between liberalism and socialism, Det radikale Venstre tried to divide Danish politics in three trends: “a socialistic, a moderate conservative and a modern social liberal.”41 The aim was of course a social liberal coalition led by Det radikale Venstre. Det radikale Venstre’s social liberal agenda received a lot of positive attention in the press.42 However, it was criticized by liberal milieus and actors, who were dissatisfied with Det radikale Venstre’s support of the Social Democratic Party in the period after 1947. For example, in June 1948, the newspaper “Århus Stiftstidende” lamented that Det radikale Venstre was the only Danish member of Liberal International, since the party allegedly had “the main responsibility for the contemporary, gradual socialization taking place in Denmark.”43 Venstre also criticized Det radikale Venstre’s activities in Liberal International, of which Venstre also became a member in 1952. This criticism unfolded in the party’s internationally oriented journal “Venstres Månedsblad” (Venstre’s Monthly), which was launched in 1948, and in which liberal parties abroad and transnational liberal organizations were presented.44 The journal moreover published texts by liberal theoreticians such as Hayek and cultivated an intellectual profile that was not represented in the more economically oriented liberalism that Venstre articulated and pursued in a national context from the late 1940s onwards. Venstre’s economic liberalism represented first of all an alternative to the agenda of the Social Democratic Party and was focused on demands of more freedom for the trade and business sector and for the private initiative. Venstre thus to a high degree drew on means and aims that it had articulated already in the 1920s, but updated and modified from November 1947, where the Social Democratic Party came to power and the regulation debate was intensified, and until 1953, where Erik Eriksen for three years had been leader of Venstre and Prime Minister of a coalition between Venstre and Det Konservative Folkeparti. 41 Erik Rasmussen / Roar Skovmand: Det radikale Venstre. 1905–1955, København 1955, p. 33. 42 See for example: Ny-liberalismen har bud til hele Danmarks befolkning, Holstebro Dagblad, 5/1–1948; Socialliberalismen må tilfredsstille folkets brede lag, Politiken, 3/12–1949. 43 Århus Stiftstidende: Liberalt Verdensforbund, 9/6–1948. 44 See for example Per Federspiel: Dansk liberalismes udvikling: En berigtigelse af fhv. minister Per Federspiel, Venstres Månedsblad, November 1951, pp. 287–289.
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Eriksen, whose ideological principles had been formed in the 1920s, was to play an important role in creating Venstre’s liberal identity in this period. In the debates taking place from 1943 until 1945, he had also viewed Denmark’s future as depending on a choice to be taken between ‘planned economy’ and ‘liberalism’. As most other politicians, Eriksen eventually argued that a period of economic regulation was necessary in the post-war period, but he wanted a liberal economy to be established in time.45 Eriksen’s bipolar picture of Danish politics, as a battle between economic regulation and liberalism, was to provide the central fundament of Venstre’s liberal identity and language in the 1950s. The central concept in this language was ‘liberal’: Eriksen frequently emphasized that Venstre pursued a liberal politics, embodied a liberal view of life and worked for a united liberal front, which represented an anti-thesis to the ‘socialistic’ vision of the Social Democratic Party. The concept of liberal was further connected to a web of concepts, such as freedom, private initiative and individualism, which were contrasted to the restrictions, monopolizations and centralizations that allegedly characterized socialism.46 Venstre’s liberal visions were, among other places, programmatically stated in the party’s 1948-program. After Venstre in 1938 had embraced a Keynesian idea of a counter-cyclical fiscal policy to combat unemployment and create economic growth – and had attempted to protect the agrarian sector from the economic crisis – the party now re-launched liberal ideas and arguments from the 1920s. To begin with, Venstre again staged economic liberalism as it aim. The 1948-program thus aimed at an expansion of the private sector and of the individual citizen’s freedom, initiative and responsibility. Focus was especially on improving business conditions, which involved less state intervention in economics and society. The state was primarily to take care of the worst social cases. Venstre embraced a residual model based on means towards self-help. To this was coupled an ambition to revise the tax system in the direction of tax reliefs, which was placed in the center of Venstre’s politics in the 1950s, where Venstre only recognized other parties claim to the label of liberal, when these parties were willing to join a coalition that was led by Venstre and in opposition to the Social Democratic Party. Whereas Det radikale Venstre sought to divide the political landscape into socialistic, conservative and social liberal trends, Venstre and Eriksen only spoke of 45 See for example Erik Eriksen: Positive Standpunkter, Dansk Folkestyre, Nr. 8, 1944, pp. 95f og Planøkonomi eller Liberalisme: Forhandling mellem Fuldmægtig cand. polit. J. O. Krag og Folketingsmand Erik Eriksen, Middelfart Social Demokrat, 27/1–1945. 46 See for example: Jeg tror på frihed som drivende og skabende kraft, Børsen, 18/3–1948; Venstre mere end et parti – en folkebevægelse, Vestkysten, 11/11–1948; Statsministerens tale på Skamlingsbanken, Vestkysten, 30/6–1952; Vort livssyn bygger på frihedens værdier, Fyns Stiftstidende, 20/4–1953; Folketingets liberale flertal må nu samles om et arbejdsprogram, Fyns Tidende, 30/3–1954.
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liberalism and socialism and aimed at a liberal coalition, defined and led by Venstre. In the construction of its liberal identity in the 1940s and 1950s, Venstre did not bring into play new liberal ideology or theory, but pursued views and agendas from the 1920s. This is illustrated by the fact that no writings about liberalism’s ideological, theoretical or historical roots emanated from Venstre in this period. To this, we should add that there were few intellectuals to cultivate these roots. One exception was Thorkil Kristensen, who – as we will see – eventually left the party due to his disagreements with Erik Eriksen’s economic agenda. Kristensen had been a prominent figure in Venstre, when, in the second half of the 1940s, the party had criticized social democratic ambitions to modernize Danish society with a program of state-coordinated and planned economy. This ambition proved impossible to realize, as demands for increased liberalization of the Danish economy was raised internationally (in relation to the implementation of OEEC-programs and the Marshall-Plan) and nationally (by other political parties and the trade- and business sector).47 It was thus in defense of the attacks on the ‘socialistic’ social democratic politics that the current Prime Minister, Hans Hedtoft, declared in January 1948: “Yes, we are all liberalists.”48 With this declaration, Hedtoft not only argued that all decent Danish parties embraced liberalism’s political principles, but also that the doctrinaire concepts of socialism and liberalism were out of touch with reality: Venstre was not in favor of a total liberalization, and the Social Democratic Party did not seek a total socialization of the trades and business sector. Hedtoft was to a certain extent right. The most important renewal of Venstre’s liberalism after 1945 thus concerned its embrace of a modern fiscal policy in which the state plays a crucial role in the pursuit of economic stability and in solving social problems, related to unemployment, health and education. This renewal, which had its roots in the 1930s, but was given further emphasis and dimensions in the 1950s, gave Venstre flexibility in respect to practical politics. The party thus not only attempted to form alliance with Det konservative Folkeparti and Det radikale Venstre (and at times with both parties simultaneously); it also made several compromises with social demo cratic demands for further state intervention in and distribution of the economy. One example is the tax-financed and universal People’s Pension, which was ratified in 1956, and which by contemporaries, such as the conservative 47 Thorsten Borring Olesen / Poul Villaume: I blokopdelingens tegn, 1945–1972, Dansk Udenrigspolitiks Historie, vol. 5, København 2005, pp. 126–143. 48 Cited from Jens Otto Krag: Manddomsgerning, in: Hans Christian. Hansen / Julius Bomholt, eds.: Hans Hedtoft: Liv og Virke, København 1955, p. 115. The proclamation was a pun on the statement made by the conservative politician John Christmas Møller in 1945: “We are all socialists.”
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politician Poul Møller, was interpreted as the breakthrough of the welfare state.49 Venstre’s support of social democratic politics has raised the questions as to whether Venstre became a social democratic party in disguise in the 1950s.50 Since the difference between the two parties at times was marginal and primarily concerned the exact size of the public sector and redistributions-techniques, a de-ideologization of Danish politics arguably took place in this decade.51 This was at least the opinion of the party De Uafhængige (The Independents), which was founded in 1953 with the former Prime Minister for Venstre Knud Kristensen as its front man and acted as a ‘bourgeois-liberal’ opposition to Venstre and Det konservative Folkeparti.52 De Uafhængige argued that these two parties had abandoned bourgeois politics on behalf of a politics of compromise with the Social Democratic Party. And with the ambition to establish a more authentic bourgeois-liberal liberal front, De Uafhængige pursued an economically liberal program, which went much further than Venstre og Det Konservative Folkeparti in relation to liberalization and taxation. This agenda did not suit Erik Eriksen, who was of the opinion that De Uafhængige was obstructing the liberal efforts of his party, and who was not happy to be accused of leading a de-ideologized party. It is obvious that Venstre’s possibilities of influencing Danish politics in the 1950s were severely constrained by the competition against the strong social democratic welfare state ideology. Moreover, a more doctrinaire ‘liberal’ course might also discourage the more pragmatic Det radikale Venstre from cooperating with Venstre. In these constellations, the everyday politics demanded a course of action that diverged significantly from the rhetoric, visions and aims articulated in party programs and newspapers. On the other hand, Venstre’s liberalism in the 1950s cannot be reduced merely to flexibility and de-ideologization. In fact, Venstre took several initiatives to undermine the social democratic welfare state agenda with concrete proposals. One of the most famous proposals was the so-called VK-Plan, which Venstre launched with Det konservative Folkeparti, and which aimed to downscale the welfare state by substantial tax reliefs and reductions of state budgets and spending.53 The VK-Plan aimed to make the individual Danish citizen more responsible for his/her life, and, even if it was a purely economic program, formed 49 Klaus Petersen: Velfærdsstaten i dansk politisk retorik, Tidsskrift for Velferdsforskning, 4, 2001, p. 20. 50 Bo Lidegaard: A Short History of Denmark in the Twentieth Century, København 2009, p. 239. 51 Henrik S. Nissen: Landet blev by: 1950–1970, Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie, vol. 14., København 1991, pp. 131–134. 52 Hanne Eriksen: Partiet De Uafhængige, 1953–1960, Odense 1978. 53 Nye signaler i den økonomiske politik: Fællesudtalelsen af 4. oktober 1959 og dens finans- og pengepolitiske baggrund, 1959.
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part of the opposition’s moral critique as a “guardian state” that allegedly destroyed individual freedom and initiative.54 However, VK-Plan was generally spoken of as a ‘liberal’ alternative to the welfare state, which shows how Venstre to a large extent succeeded to define and monopolize the concept of liberalism in the political debate in the 1950s, where it was associated with the party’s economically focused counter-program to the political visions of the Social Democratic Party. As a result, Det radikale Venstre gradually abandoned the concept. Liberalism Deculturalized Venstre had limited success with its liberalism in the long period from 1953 to 1968, where the party was in opposition to the social democrats. This is witnessed by the destiny of the VK-Plan, which was not only criticized by social democrats, but also by members of Venstre. Most importantly, Thorkil Kristensen, who disagreed with the party’s economic politics and alliance with Det konservative Folkeparti, decided to leave Venstre in reaction to the VK-Plan. Soon after a group of sympathizers founded the forum Liberal Debat with the aim to pull Venstre away from its economic agenda and alliance with Det Konservative Folkeparti. Liberal Debat had roots in the Danish folk high schools (education institutions that were founded in the mid-nineteenth century, inspired by the need to educate those not fortunate enough to have an education, primarily the peasantry) and in intellectual milieus in Copenhagen. Its members argued that it was necessary to develop a broader social and cultural profile and a more positive ‘livssyn’ (outlook of life) to broaden Venstre’s appeal among the electorate. Hence a prominent member of the forum, business economist and later editor of the newspaper Ekstra Bladet, Sven Ove Gade, pointed to the fact that Venstre had been absent, when the artist and intellectual Bjørn Poulsen had discussed his book Ideernes krise i åndsliv og politik [The Crisis of Ideas in Intellectual Life and Politics] (which according to Poulsen created a vacuum that was filled out with the idea of a security-oriented welfare state) with the social democratic Prime Minister Viggo Kampmann at the museum Louisiana in 1962.55 Gade interpreted Venstre’s absence as a symbol of its general reservation towards the cultural-political sphere, which as a result was dominated by social democrats and conservatives. In addition, Gade noticed that Venstre recently had established a commission in order to discuss the issues Church, 54 K. Petersen, Velfærdsstaten (as in annot. 49), p. 22. 55 Sven Ove Gade: ”Liberal kulturpolitik, Liberal Debat, Nr. 11, 1962, p. 10; Bjørn Poulsen: Ideernes krise i åndsliv og politik, København 1960.
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School and Culture, but complained that it did not include a single represen tative from the cultural sphere. Moreover, he doubted that it would be possible to find a single author or artist with a liberal outlook of life. Hence, Gade found Venstre’s position in cultural and ideational spheres extremely weak. Similar observations of Venstre’s liberal profile were made in a review in Liberal Debat of the first book about liberalism to emanate from Venstre in the post-war period: the volume Frihed og Fremskridt from 1961 edited by Erik Eriksen.56 The reviewer, the lawyer Peter Bonnevie, not only noticed that the book mostly reproduced ideas from the 1920s and 1930s, but also that it did not contain chapters on liberal cultural politics and the history of liberalism or outlined a profiled and positive outlook of life. Bonnevie nevertheless read the book as an attempt to confront the dominant ideas of liberalism in Venstre as primarily an economic project and he attributed this attempt to the positive influence of Liberal Debat on the party. However, Erik Eriksen and Venstre were not happy with Liberal Debat’s challenges of the party profile. It was thus partly in response to these challenges that Venstre at the 1963 party convention changed its name into Venstre: Danmarks liberale parti (Venstre: Denmark’s Liberal Party), thus attempting once and for all to define what liberalism is and prevent other parties and internal critics from assigning other meanings to the concept.57 While political opponents complained that Venstre tried to monopolize the concept, a member of Liberal Debat suggested that Venstre should instead name itself ‘Danmarks liberale folkeparti’ (Denmark’s Liberal People’s Party) in order to emphasize its cultural and “popular” (folkelige) roots.58 Venstre’s rejection of Liberal Debat’s critique and suggestions animated two of its leading members, Niels Westerby and Børge Diderichsen, to form the party Liberalt Centrum (Liberal Centre) in 1965.59 Moreover, in the beginning of the 1960s, where economic growth increased the popularity of the social democratic welfare politics, attempts were made in Venstre to change its party profile. This is witnessed in the 1963-program, which expressed a more positive stance towards the social policies of the welfare state and illuminated cultural issues, and in a historical account of liberalism from 1964, in which Venstre portrayed itself as a social-political party of the people (‘folkeparti’).60 In addition, the theologian Poul Hartling, who in 1965 succeeded Erik Eriksen 56 Erik Eriksen, ed.: Frihed og Fremskridt, Liberale Perspektiver, København 1961; Peter Bonnevie: Et skridt frem mod hævdelsen af en selvstændig og midtsamlende politik, Liberal Debat, Nr. 6, 1962, pp. 1–4. 57 Erik Eriksens åbningstale ved Venstres landsmøde, Venstres Månedsblad, Nr. 5, 1963, p. 215. 58 Bent Vester: Danmarks liberale folkeparti, Liberal Debat, Nr. 2, 1963, p. 7. 59 The party was dissolved in 1969. 60 Program for Venstre – Danmarks liberale parti, 1963; Venstre: Danmarks liberale parti: en historisk redegørelse, 1964.
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and became the first leader of Venstre from a non-agrarian background, was to launch a more culturally and socially focused liberalism. But when Hartling in 1965 encouraged Det radikale Venstre to join a ‘liberal’ alternative, the aim was exclusively to join an economic alternative to the social democratic government.61 And even if Venstre together with Det radikale Venstre and Det konservative Folkeparti seized power from 1968 to 1971 and thus interrupted sixteen years of social democratic government, the change of power owed more to an exhausted Social Democratic Party and to Det radikale Venstre’s more independent line towards the social democrats than to Venstre’s ideological labor. Venstre’s liberalism in the 1960s thus continued to primarily represent an economic alternative to the Social Democratic welfare state politics. This politics had its roots in the 1880s, where social democrats had attempted to develop a broad social and cultural life form that encompassed the entire life of the worker: the aim was not only to conquer political power, but also social and cultural hegemony. The ambition to develop a specific social democratic culture was frequently debated in the first part of the twentieth century. During the 1950s, where the basic structures of the social welfare system were established, the ambition was transformed into the idea of a welfare state cultural politics. Among other things, this politics concerned the democratization of access to enjoy and perform art and involved comprehensive reflections on the significance of culture in the welfare state, including dialogues between politicians and artists. One outcome was the foundation of an independent Ministry of Culture in 1961. In a wider perspective, the welfare state cultural politics was important not only because it democratized the possibilities of enjoying and performing art in Denmark, but also because it offered a point of identification and discussion for authors and artists, who thematized the conditions and values of the welfare state in the work. That Venstre’s liberalism did not offer a similar cultural-political program and vision is probably a crucial reason for its lack of success after 1945. Simi lar to the social democratic working class culture, an agrarian culture had been vital for the development of the Venstre-parties in the second half of the nineteenth century. Here, the political and economic ‘awakening’ of the peasants had involved a cultural battle which had been fought by milieus (not least in the high school movement) that had created traditions of cultural mobilization and democratic participation in public life and thus contributed to the peasant’s social rise and power consolidation.62 61 See especially Hartling’s famous speech in Svanninge from August 1965; Poul Hart ling: Svanninge-talen 4. August 1965, in: Birgit Nüchel Thomsen, ed.: Temaer og Brændpunkter i dansk politik efter 1945, Odense 1994, pp. 163–174. 62 Niels Finn Christiansen: Da Venstre var venstrefløj, in: Claus Bryld / Søren Hein Rasmussen (red.): Demokrati mellem fortid og fremtid, København 2003, pp. 37–49; Uffe Østergaard: The Danish Path to Modernity, in: Thesis Eleven 77 (2004), pp. 34–39.
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During the twentieth century, the classical agrarian culture crumbled. Decisive for this development was the party’s down-toning of culture on behalf of economic interests, when the party in the first decades of the century became the landowner’s party and in this process excluded the lower societal layers on the country side and the workers in the city. Important were also a number of deeper structural-cultural transformations that took place in the twentieth century – including the reduction of the traditional farms on behalf of agrarian concentration, economic problems and the entry of women from the agrarian layers as wage earners on the open labor market. Moreover, many priests became social democrats, or even socialists, after 1945, and Venstre’s monopole on the high school movement was broken, as its teachers increasingly oriented themselves towards the Social Democratic Party and its students were recruited from much broader societal layers than before. Altogether, these developments signaled the final dismantling of the agrarian culture as a life form in the period between 1950 and 1970.63 And Venstre did not manage to connect its economic-political program to other cultural or intellectual trends or movements, which might have mobilized broader segments of the population in support of its liberalism. Tellingly, Venstre’s own high school, Breidablik, closed down in 1972 due to a lack of interest and support. 4. NEOLIBERALISM AND THE TRANSFORMATION OF THE WELFARE STATE In the beginning of the 1970s, concurrently with the crisis of the welfare state, a new liberal offensive was launched within the ranks of Venstre. More concretely, it was launched by a generation of politicians, who all envisioned a liberally oriented society focused on growth and criticized the welfare state that their own party had helped to consolidate. Key members of this generation included Bertel Haarder, Henning Christophersen, Uffe Ellemann-Jensen and Peter Brixtofte, who were all academics with a social science background and authored a flood of books and articles on liberal ideology and politics in the 1970s. These politicians, who found their liberal points of references in the liberal canon (from Hobbes, Locke and Montesquieu to Smith, Mill and Tocqueville – and N. F. S. Grundtvig, the great ideologist in the agrarian movement of the nineteenth century, in a Danish context), did not aim to abolish the welfare state, but to reduce its size and change its content. In this process, they launched new ideas concerning decentralization, free choice in the public sector and economic growth, and in the 1980s and 1990s they contributed 63 H. S. Nissen: Landet blev by (as in annot. 51), p. 37.
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to transforming Venstre from an agrarian party to a “business school party” (Handelshøjskoleparti) that appealed to a modern urban youth. As such, they paved the way for liberal new projects and identities, which became instrumental for Venstre’s takeover of political power in the beginning of the 2000s. Since then, liberal ideology and language have become increasingly popular in Danish politics, even if the meaning of the concept of liberalism – and Venstre’s claim to it – remains contested. As in many other European countries, Danish politics entered an atmosphere of crisis in the beginning of the 1970s. Crucial in a Danish context was the oil crisis in 1973 and a land slide election the same year, in which the four traditional parties lost a substantial part of their voters to new protest parties, leaving them bewildered in respect to how parliamentary work was to proceed and economic challenges to be met. The rest of the decade was characterized by shifting governments, who took different measures in order to create economic growth. From December 1973 to January 1975, in a government led by Poul Hart ling, Venstre tried to break the deadlock by introducing tax reliefs, which was to be followed up by massive cut backs in the public sector, but did not manage to solve the crisis. At the same time, the generation of politicians mentioned above launched a new liberal program, focusing on decentralization, free choice in the public sector and economic growth as means to transform the welfare state from within. Key ideas from this program, and the politicians launching it, were central to the government of four parties that Poul Schlüter from Det konservative Folkeparti formed in 1982, aiming to control the massive foreign debt and growing state budget deficit. Venstre and Det konservative Folkeparti had already launched a bourgeois-liberal ‘alternative’ in 1981, which, in the words of Schlüter, “was more than numbers and economics. It was a philosophy.”64 The economic visions of the plan were inspired by developments in Great Britain and the US, where Margaret Thatcher and Ronald Reagan had formed government in 1979 and 1981 respectively. But even if several members of government wanted to follow the announced visions, political changes were not realized in Denmark to the same degree as in Great Britain and the US. After a period of international economic expansion, which was favorable to the government’s new economic program, the visions of change was sidelined on behalf of a pragmatic view on politics. Already in 1983, Schlüter – who was more of a tactician than an ideologist – announced that “ideology is junk” (ideologier er noget bras), and he never directly confronted the welfare state. The pragmatic politics of the Schlüter-government caused a rebellion by a generation of young conservative and liberal free market politicians and intel64 Cited from Søren Hein Rasmussen / Poul Villaume: Et land i forvandling: Danmarkshistorie, 1970–2005, København 2005, pp. 276f.
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lectuals, who – inspired by Austrian economics and American anarcho-capi talism – promoted a liberalism that prioritizes individual freedom and seeks to minimize, or remove, state power on behalf of market anarchy. As it had been the case with EO in the postwar era, this variant of liberalism remained on the margins of the debate. More important for the development of Danish liberalism was the reception of neoliberal ideas by key members of Venstre, such as Bertel Haarder. Haarder had published harsh critiques of welfare state regulations and bureaucracy in the 1970s and became as Minister of Education in the 1980s famous for a comprehensive critique of current reform-pedagogical ideas, focused on equality, in the Danish primary school system.65 In the book, Ny-liberalismen – og dens rødder (New Liberalism – and its Roots), published in 1982, he introduced neoliberal ideas, including Hayek’s work, and tried to relate these ideas to current problems and challenges in Danish politics.66 The tradition of Venstre of defending individual freedom against state intervention was easily merged therein with ideas from neoliberal theory and the Anglo-American political debate. At the same time, in line with the ideological renewals taking place within Venstre in the 1970s, these ideas were directed towards limiting the size and changing the workings and services of welfare state by subjecting it to principles of effectiveness, competition and free choice. Instead of defining the state in purely negative terms, Venstre-ideologists now saw in it an instrument that could be utilized to create and disseminate market oriented thought and practice. This fusion of neoliberal ideas and traditional ideology and the attempt to limit and transform the welfare state was to provide the fundament of Venstre’s liberalism from the 1980s onwards. It was in this process that the party gradually changed its voting base from agrarian sections of society to a ‘business school party’ (Handelshøjskoleparti) with an increasingly urban profile. One of the key actors in this ideological and institutional transformation was Anders Fogh Rasmussen, who was to become Prime Minister for Venstre in 2001. In the early 1990s, Fogh Rasmussen published the book From Social State to Minimal State (Fra socialstat til minimalstat) in which, next to Grundtvig, he drew on Friedrich von Hayek, Milton Friedman and Robert Nozick in making a case for a liberal society based on limited government, individual liberty, the rule of law and free markets. In his book, Fogh Rasmussen made himself a spokesman of the moral foundation informing market oriented thought: the idea that the societal order created on the market is the most fair, as it is based on individual preferences and not by an elite minority. More over, he presented liberalism as an ideology that aimed to liberate the Danish 65 Bertel Haarder / Erik Nilsson / Hanne Severinsen: Ny-liberalismen – og dens rødder, Holte 1982. 66 Hayek’s The Road to Serfdom was republished in Danish by the liberal publisher Forlaget Haarby in 1981.
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population from what he spoke of as high-hatted and repressive experts. And, following neoliberal ideologists like Hayek, Fogh Rasmussen argued that the liberation battle was to be won via an ideational and cultural battle. Not long after he gained power in 2001, following the strategy outlined in From Social State to Minimal State, Fogh Rasmussen launched a cultural battle against the existing social-political system.67 He also argued for a liberal way of life in which individual self-management and self-development was to replace the ‘tyranny of experts’, thus continuing his criticism of elites, and, more generally, of the threats to individual responsibility and freedom allegedly posed by the welfare state. At the same time, Fogh Rasmussen turned to the strategy, first formulated in the 1970s, of not abolishing but downsizing and changing the welfare state. Tellingly, he spoke about a ‘welfare society’ instead of a welfare state. The idea was to gradually transfer obligations that had traditionally been taken care of by the state to civil society, the market and the individual initiative. Fogh Rasmussen’s cultural battle was received with enthusiasm in bourgeois-liberal circles, and his ideas of individual self-management and self-development proved to be in line with the methods of new public management that were implemented in the public and private sector in which evaluation, efficiency and responsibility had become keywords.68 Here, Fogh Rasmus sen’s liberalism converged with new trends in the Social Democratic Party, which already in the 1990s began to implement New Public Management in the public sector and executed a range of privatizations and liberalizations of state owned companies, such as the national airport and the national telecommunications company. Similar to the Social Democrats, Fogh Rasmussen pursued the politics of the third way. But as Prime Minister he also changed to a more social liberal course, followed a so-called contract politics, in which government views its election-pledges as a series of promises that constitute a contract with the voters, entered an alliance with the Danish People’s Party thus allowing the cultural battle to focus mainly on immigration, and supported the 2003 Iraq war. Altogether, these ideological-political developments launched a new debate on what liberalism is and whether Venstre is to be regarded as the true liberal party in Denmark. On the one hand, a number of new economic liberal actors, spearheaded by SAXO Bank (2001), the ‘bourgeois-liberal’ think tank Center for Political Studies (2004) and the party Liberal Alliance (2008), have tried to define liberal and liberalism as concepts associated to market oriented thought, arguing for increased liberalization, privatization and cuts in the public sector. On the other hand, a number of political debaters and parties from other ideological traditions, including the left wing, have also begun to 67 See for example: Kulturkamp, Weekendavisen, 17/3–2001. 68 Karen Lisa Salomon: Selvmål. Det evaluerede liv, København 2007.
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define themselves as liberals and claim to represent liberal values in a more authentic manner than Venstre.69 In other words, there are currently many liberals in Danish politics, and liberalism has gained many supporters, even if the meaning of the concept remains contested. Conversely the concept of the welfare state has in more recent years achieved almost total acceptance in Danish political discourse, and also liberal calls for reforms are now typically legitimized as necessary steps in order to save the welfare state. To this, we can add that Venstre since 2001 has been the largest party in parliament and that Liberal Alliance is doing better than anyone would have expected. At the same time, buzzwords such as individualism, market economy, decentralization and efficiency, seem to have displaced concepts such as solidarity, equality and social-policy in the political debate.70 It is thus possible to argue that, politically as well as rhetorically, liberalism stands stronger than ever in a Danish context, and that liberal actors and languages in the past twenty years have succeeded in changing the perception and structure of the welfare state, without seriously down-scaling or abolishing it. As demonstrated above, in a Danish context, liberalism and the welfare state have since the beginning of the twentieth century conditioned, thrived on and limited each other, and they will most probably continue to do so in the coming decades.
69 SF-minister: Vi er de ægte liberale, Politiken, 21/3–2012; Den liberale bacille, Information, 3/8–2012. 70 Tellingly, with reference to its politics and programs, commentators have accused the Social Democratic Party for promoting a neoliberal economic agenda. See ‘Neoliberale’ tanker sniger sig ind i nyt socialdemokratisk partiprogram, Politiken, 12/5–2012.
Liberalismus, Neoliberalismus und Neokonservatismus von der Krise der 1970er Jahre bis zur Wall Street-Krise 2008
KONSERVATIVE REVOLUTIONEN? THATCHER, REAGAN UND DAS FEINDBILD DES CONSENSUS LIBERALISM Dominik Geppert Etwa alle 30 Jahre gebe es so etwas wie einen Gezeitenwechsel in der Politik, behauptete im Frühjahr 1979 der damalige britische Premierminister James Callaghan. Dann sei es einerlei, was man als Politiker sage oder tue. Die Wünsche und Erwartungen der Öffentlichkeit an die Politik verschöben sich. Callaghan formulierte diesen Gedanken am Vorabend der Unterhauswahl vom Mai 1979, die Margaret Thatcher als Premierministerin einer konservativen Regierung an die Macht brachte.1 Callaghans Vermutung, dass damals ein derartiger Gezeitenwechsel bevorstand, hat sich nicht nur für Großbritannien als richtig erwiesen, sondern kurz darauf mit der Wahl Ronald Reagans auch für die USA. In den drei Jahrzehnten seither wurde das politische Koordinatensystem hier wie dort fundamental umgestaltet. Beide Länder erlebten Veränderungen von Regierung und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, über deren Reichweite, Deutung und Bewertung bis heute gestritten wird. Mittlerweile sind seit Callaghans Diktum erneut etwa 30 Jahre vergangen, und eine von Deregulierung, Privatisierung und der Begrenzung staatlicher Ausgabenpolitik geprägte Epoche scheint in der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise auf ähnliche Weise unterspült zu werden wie die Vollbeschäftigungspolitik und keynesianische Globalsteuerung des Nachkriegsbooms in den Weltwirtschaftskrisen der 1970er und frühen 1980er Jahre. Es mehren sich die Stimmen in Politik, Publizistik und Wissenschaft, die ein Ende der Ära von Thatcherismus und Reaganismus gekommen sehen.2 Mein Beitrag soll diese Ära in die Politik- und Ideengeschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert einordnen. Dabei knüpft er an Jörn Leonhards Beobachtung an, dass der Liberalismus nicht aus sich selbst heraus verstanden werden könne, sondern stets in seinen Wechselbeziehungen und Austauschverhältnissen mit anderen Ideologien begriffen werden müsse.3 Der Kon1 2 3
Die Bemerkung ist von einem engen Berater Callaghans überliefert; Bernard Donoghue: Prime Minister. The Conduct of Policy under Harold Wilson and James Callaghan, London 1987, S. 190. Siehe etwa Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ³2012. Siehe Einleitung in diesem Band, insbes. S. 17.
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servatismus, so Leonhard, tendiere dazu, den Liberalismus zu konservieren, während der Radikalismus ihn radikalisiere. Mit Blick auf den konservativen Liberalismus in der spezifischen Spielart von Thatcherismus und Reaganismus, so meine These, verhielt es sich genau umgekehrt: In den 1980er und 1990er Jahren radikalisierte der Liberalismus den britischen und amerikanischen Konservatismus, ja er machte ihn in mancher Hinsicht zu einer revolutionären Kraft. Neben „Konservatismus“ und „Liberalismus“ bildet der Terminus „Revolution“ deswegen den dritten Schlüsselbegriff dieses Beitrags. In einem ersten Schritt wird gefragt, was an Thatcherismus und Reaganismus eigentlich konservativ und was liberal war beziehungsweise wie sich Konservatismus und Liberalismus im Jahrzehnt von Thatcher und Reagan verändert haben. In einem zweiten Schritt wird untersucht, wie revolutionär Thatcher, Reagan und die mit ihnen verbundenen -ismen tatsächlich waren. Die Antwort, die uns die jüngere zeitgeschichtliche Forschung nahelegt, lautet: nicht so revolutionär, wie man vielfach angenommen hat. Im dritten Teil geht es schließlich um den Konsensliberalismus als Kurzformel für die politischen und ökonomischen Leitideen der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte. Die eigentliche konservative Revolution, so die These, bestand im Niedergang der Nachkriegsordnung des Konsensliberalismus. „Thatcherismus“ und „Reaganismus“ werden dabei nicht als in sich vollkommen schlüssige und bis ins Detail durchkonzipierte Weltanschauungen verstanden. Sie werden vielmehr als Strategien der politischen Machtgewinnung und Problemlösung begriffen, die stark von den – zum Teil durchaus widersprüchlichen, ja inkohärenten, aber dennoch wirksamen und bemerkenswert erfolgreichen – Überzeugungen Margaret Thatchers und Ronald Reagans geprägt waren. Ein solches Verständnis trägt der Tatsache Rechnung, dass die Entwicklungen, die hier zu behandeln sind, oft stark personifiziert und mit den Namen der beiden zentralen politischen Führungsgestalten in London und Washington verbunden werden.4 Auch in diesem Beitrag werden die beiden Politiker und die schillernden Ideenkonglomerate, denen sie ihren Namen geliehen haben, eine zentrale Rolle spielen.5 Dennoch sollte man nicht vergessen, dass es wichtige intellektuelle Trägergruppen des That4
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Auch in der Forschungsliteratur dominieren Titel, die die persönliche Beziehung zwischen Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken; vgl. zuletzt etwa Richard Aldous: Reagan and Thatcher. The Difficult Relationship, New York/London 2012; James Cooper: Margaret Thatcher and Ronald Reagan. A Very Political Relationship, New York 2012. Thatcher und Reagan waren die einzigen britischen und amerikanischen Politiker im 20. Jahrhundert, die einem „-ismus“ ihren Namen gaben; vgl. Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002, S. 10; Richard Reeves: President Reagan. The Triumph of Imagination, New York 2005, S. XVI.
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cherismus und des Reaganismus gab, die einer eigenen Betrachtung wert wären. Dabei ist vor allem an die personell und ideologisch eng miteinander verflochtenen Think Tanks auf beiden Seiten des Atlantiks zu denken: etwa an die Heritage Foundation, die Hoover Institution in den USA, das Institute of Economic Affairs oder das Centre for Policy Studies in England, um nur einige wenige zu nennen.6 1. WIE KONSERVATIV, WIE LIBERAL WAREN THATCHER UND REAGAN? Auf den ersten Blick ist die Frage, wie konservativ beziehungsweise wie liberal Thatcher und Reagan eigentlich waren, leicht zu beantworten. Schließlich standen beide an der Spitze von Mitte-Rechts-Parteien, die sich selbst als konservativ und nicht als liberal verstanden. „Liberal“ waren aus parteipolitischer Perspektive die anderen. Gerade für die britischen Tories im 19. Jahrhundert war der Gegensatz zu den Liberalen konstitutiv gewesen und hatte entscheidend zur Herausbildung einer eigenen konservativen Identität beigetragen.7 In ähnlicher Weise beinhaltete die amerikanische Bedeutung des Wortes „liberal“ all das, was die Republikaner als links ablehnten. Im Hinblick auf ihr Verständnis von Recht und Ordnung, von Moral, Familie, Gesellschaftspolitik, auch mit Blick auf ihre außenpolitische Kritik am Entspannungskurs gegenüber der Sowjetunion, gehörten Thatcher und Reagan zum dezidiert konservativen Flügel ihrer Parteien. Vor diesem Hintergrund hat der britische Politikwissenschaftler Andrew Gamble jüngst die These vertreten, die politische Nähe von Margaret Thatcher und Ronald Reagan habe weniger von dem wirtschaftlichen Liberalismus der beiden Politiker hergerührt als von ihrem sozialen und politischen Konservatismus. Beide hätten, so argumentiert Gamble, instinktiv der nationalen Sicherheit den Vorzug vor allen anderen politischen Werten eingeräumt; ihr ökonomischer Liberalismus sei nicht mehr gewesen als eine Sammlung von Prinzipien, um das Wirtschaftsleben ihrer Länder auf das hin auszurichten, was sie für deren wahren Nationalcharakter hielten.8 6
Vgl. Tim Hames / Richard Feasey: Anglo-American think tanks under Reagan and Thatcher, in: Andrew Adonis / Tim Hames (Hg.): Conservative Revolution? The Thatcher-Reagan Decade in Perspective, Manchester/New York 1994, S. 215–237. Für Großbritannien siehe neuerdings auch Ben Jackson: The think-tank archipelago: Thatcherism and neo-liberalism, in: Ben Jackson / Robert Saunders (Hg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 43–61. 7 Vgl. Dominik Geppert: Wie liberal ist der britische Konservatismus? Staat, Gesellschaft und Individuum in der Programmatik der Tory-Party im 19. und 20. Jahrhundert, in: Michael Grossheim / Hans Jörg Hennecke (Hg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken, Baden-Baden 2013, S. 210–229. 8 Andrew Gamble: Europe and America, in: B. Jackson / R. Saunders, Thatcher’s
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Zugleich jedoch steht außer Frage, dass Thatcher wie Reagan wirtschaftsund sozialpolitische Ideen verfochten, die zum Inventar des klassischen Liberalismus gehört hatten. Dazu zählten Steuersenkungen und die Förderung des freien Unternehmertums ebenso wie das Zurückdrängen des Staates aus der Wirtschaft. Aus dieser Perspektive erschienen Thatcher und ihre Anhänger innerparteilichen Kritikern eben gerade nicht als echte Konservative, sondern als Vulgär-Liberale, die ein seltsamer Zeitsprung aus dem 19. ins späte 20. Jahrhundert versetzt hatte.9 Parteigänger Thatchers haben die Dinge mitunter ähnlich gesehen. Milton Friedman etwa pflegte zu erklären, Thatcher sei eigentlich gar kein Tory, sondern eine Liberale des 19. Jahrhunderts.10 Thatcher selbst überraschte 1983 den konservativen Parteitag damit, dass sie erklärte, William Ewart Gladstone, der große liberale Premierminister des 19. Jahrhunderts, würde der Tory-Partei beitreten, wenn er in der Gegenwart lebte.11 Nach ihrem erzwungenen Rücktritt pflegte die Politikerin in den 1990er Jahren zu lamentieren, die Bezeichnung „konservativ“ passe nicht mehr zu der Partei, die sie hinterlassen habe. Die Tories seien jetzt die Partei von Erneuerung, Ideenreichtum, Freiheit, des Aufbruchs in neue Richtungen, erneuerten nationalen Stolzes und eines neuartigen Gespürs für politische Führungskraft.12 Tatsächlich standen einige der Prinzipien, die Thatcher verfocht, quer zu konservativen Grundsätzen einer „Politik der Unvollkommenheit“, wie sie beispielsweise der Philosoph Anthony Quinton in seiner Studie über die ‚säkularen und religiösen Traditionen konservativen Gedankenguts in Großbritannien‘ Ende der 1970er Jahre formuliert hatte.13 Zum einen setzte sich der Thatcherismus dem Vorwurf aus, ähnlich wie der liberale Freiheitsglaube des 19. Jahrhunderts und der staatsgläubige Sozialismus des 20. Jahrhunderts die Verstandeskräfte des Menschen zu überschätzen, also von der intellektuellen Vollkommenheit des Menschen auszugehen, weil er dessen Verhalten rein rationale Kriterien zugrunde legte und es auf diese Weise mit ökonomischen Theorien erklärbar zu machen versuchte. Zum anderen verstieß der Doktrinarismus der thatcheristischen Wirtschaftspolitik, die Orientierung an den Lehren Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans, gegen den Skeptizismus traditioneller britischer Konservativer. „Dogmatismus“ war
Britain (wie Anm. 6), S. 218–233, hier S. 232. 9 So etwa Francis Pym: The Politics of Consent, London 1996. 10 Vgl. Alan Sked / Chris Cook: Post-War Britain. A Political History, Harmondsworth 41993, S. 329. 11 Zit. nach Ewen Green: Thatcher, London 2006, S. 33. 12 Vgl. George Urban: Diplomacy and Disillusion at the Court of Margaret Thatcher, London 1996, S. 191. 13 Anthony Quinton: The Politics of Imperfection. The Religious and Secular Traditions of Conservative Thought in England from Hooker to Oakeshott, London 1978.
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einer der am häufigsten zu hörenden Vorwürfe innerparteilicher Gegner des Thatcherismus.14 In der konservativen Revolution, zu der sich Thatcher bekannte, sahen traditionellere Konservative nicht ganz zu Unrecht einen Angriff auf überkommene Bräuche und altehrwürdige Einrichtungen ihres Landes. Thatcher könne keine Institution sehen, ohne mit ihrer Handtasche draufzuschlagen, spottete der konservative Unterhausabgeordnete Julian Critchley einmal.15 Schließlich passte auch die kompromisslose Betonung persönlicher Freiheit schlecht zur Vorstellung vom organischen Charakter der Gesellschaft, die tief in der Tradition des britischen Konservatismus verankert war. Politischer Individualismus drohte in den Augen britischer Konservativer in gesellschaftliche Vereinzelung umzuschlagen. Die Privilegierung der Marktbeziehungen vor allen anderen Formen sozialer Kontakte zerstörte den organizistischen Zusammenhalt der Gesellschaft, der dem britischen Konservatismus am Herzen lag. Für das amerikanische Verständnis von Konservatismus stellten derartige Ansichten keinen so großen Kulturschock dar. In den Vereinigten Staaten spielte der Glaube an überkommene Institutionen und Hierarchien eine geringere Rolle als in England. Die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsgedanken war unter amerikanischen Konservativen weniger verbreitet. Auch die Überzeugung, es sei das Recht und die Pflicht traditioneller gesellschaftlicher Eliten, das Land zu führen, fand in den USA weniger Anklang.16 Insofern war die ideengeschichtliche und mentalitätshistorische Verbindung von klassischem Liberalismus und amerikanischem Konservatismus Reagan’scher Prägung enger als im britischen Fall. Daneben gibt es jedoch auch eine sozialgeschichtliche oder biografische Brücke zwischen Thatcherismus und Liberalismus, die man nicht vergessen sollte. Denn viele Protagonisten der Thatcher-Politik stammten aus nonkonformistischen, also nicht-anglikanischen Familien in den klassischen Stammlanden der alten Liberalen Partei außerhalb der traditionellen konservativen Hochburgen des englischen Südwestens. Die Premierministerin selbst etwa kam aus der mittelenglischen Provinz von Lincolnshire. Ihr Vater war nicht nur Krämer und methodistischer Sonntagsprediger, sondern auch ein langjähriger Wähler und politischer Aktivist der Liberalen Partei, für die er lange Zeit als Alderman im Rat seiner Heimatstadt Grantham gesessen hatte. Erst mit dem endgültigen Niedergang der Liberalen Partei nach dem Zweiten Weltkrieg fand er bei den Tories eine neue politische Heimat.17 Ähnliches gilt für 14 Siehe etwa Ian Gilmour: Dancing with Dogma. Britain under Thatcherism, New York 1992. 15 The Times, 21. Juni 1982. 16 Vgl. John Micklethwait / Adrian Wooldridge: The Right Nation. Why America is Different, London 2004, S. 13. 17 Vgl. John Campbell: Margaret Thatcher. Bd. 1: The Grocer’s Daughter, London 2000,
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Thatchers ersten Schatzkanzler und späteren Außenminister Geoffrey Howe, der aus einer nonkonformistischen Familie aus Wales stammte.18 In dieser Hinsicht unterschieden sich Thatcher und Reagan kaum voneinander. Denn auch Letzterer war alles andere als ein Vertreter des Establishments der Republikanischen Partei. Er war in seiner Jugend Anhänger der Demokraten gewesen und erst vergleichsweise spät im Leben zu den Konservativen gestoßen. Der amerikanische Historiker John Patrick Diggins hat ihn vor einigen Jahren als einen Liberalen in der Tradition von Ralph Waldo Emerson porträtiert, der sich für die Autonomie des Individuums gegen überkommene Autoritäten stark gemacht habe und bestrebt gewesen sei, den modernen Liberalismus von seinen blinden Flecken zu befreien: Staatsinterventionismus im Innern und Nachgiebigkeit gegenüber dem sowjetischen Totalitarismus nach außen.19 Wie Thatcher sah auch Reagan sich als politischen Außenseiter. Er hatte sein gesamtes Leben vor seiner Wahl zum Präsidenten außerhalb der Hauptstadt Washington verbracht und es mit Hilfe der Basis gegen den Widerstand der traditionellen Eliten seiner Partei an die Spitze geschafft. Das enge ideologische Bündnis zwischen britischen und amerikanischen Konservativen in der Reagan-Thatcher-Ära ist sicher auch durch den Außenseiterstatus der beiden Führungspersönlichkeiten zu erklären. Beide suchten und fanden auf der anderen Seite des Atlantiks Bundesgenossen, die ihnen gerade anfangs gegen die machtvollen Traditionsverbände in ihren eigenen Parteien und Administrationen wichtige Hilfe leisten konnten. Insofern ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute von so etwas wie einem angelsächsischen oder anglo-amerikanischen Modell des Kapitalismus sprechen, selbst ein Ergebnis dieser Epoche. Es gibt in der Geschichte der amerikanisch-britischen Beziehungen keine Parallele zu der ideologischen Allianz zwischen Reagan und Thatcher. Die britischen Konservativen hatten sich in der Zeit vor 1975 nie besonders interessiert daran gezeigt, mit den USRepublikanern Ideen oder politische Konzepte auszutauschen. Die britischen Tories waren vor 1975 nicht einmal besonders pro-amerikanisch gewesen. Die Kontakte, die Demokraten und führende Politiker der Labour-Partei im Zuge des Konsensliberalismus pflegten, waren in dieser Hinsicht viel enger.20 Auch darf man die wesentlichen strukturellen Unterschiede zwischen den USA und Großbritannien nicht vergessen, die es etwa mit Blick auf das politische System und auch in der politischen Kultur gab. So existierte beiS. 1–33, bes. S. 11ff. 18 Vgl. Geoffrey Howe: A Conflict of Loyalty, London 1994, S. 3–14. 19 John Patrick Diggins: Ronald Reagan. Fate, Freedom, and the Making of History, New York 2007. 20 Vgl. Dominic Sandbrook: The Baptist and the Messiah: Ronald Reagan and Margaret Thatcher, in: Cheryl Hudson / Gareth Davies (Hg.): Ronald Reagan and the 1980s. Perceptions, Policies, Legacies, New York 2008, S. 175–190, hier S. 178.
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spielsweise in Großbritannien keine Entsprechung zum amerikanischen spoils system, das es dem Wahlsieger in den Vereinigten Staaten ermöglicht, seine Anhänger mit Stellen in der öffentlichen Verwaltung zu entlohnen. Thatcher hatte daher stärker mit den Beharrungskräften der Ministerialbürokratie zu rechnen als ein amerikanischer Präsident.21 Anders als Reagan konnte sie ihre Administration auch nicht mit begeisterten Anhängern und ideologischen Überzeugungstätern ihrer Spielart marktradikaler Politik besetzen, sondern war auf die Abgeordneten einer konservativen Unterhausfraktion angewiesen, die erst im Verlauf der 1980er und dann vor allem unter ihrem Nachfolger John Major in den 1990er Jahren „thatcheristischer“ wurde.22 Umgekehrt aber konnte die britische Premierministerin, wenn sie denn die Fraktion hinter sich hatte, in der „gewählten Diktatur“ (elective dictatorship) der Westminster Demokratie ihre Vorhaben leichter durchsetzen als ein US-Präsident im amerikanischen System der checks and balances.23 Zu den Unterschieden zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien gehörte auch der Umgang mit den kulturellen Umbrüchen der 1980er Jahre. Ostentativ zur Schau gestellter Reichtum auf der einen und wachsende Armut auf der anderen Seite, die Kultur des hire and fire, des schnellen Geldverdienens und des schrankenlosen Konsums, personifiziert im Typus des young urban professional, des Yuppies – all das wurde in Großbritannien stärker als Kulturschock wahrgenommen als in den USA, wo diese Elemente des neuen Zeitgeistes nicht als etwas der Nation Wesensfremdes erschienen, sondern als Rückkehr zu den Ursprüngen des amerikanischen Traumes wahrgenommen werden konnten. Die amerikanische Version des Libertarismus sei, so die Feststellung Jan-Werner Müllers, einerseits populärer (oder auch populistischer) und andererseits tiefer philosophisch verankert gewesen als alle vergleichbaren Strömungen in Europa inklusive Großbritannien.24 Zugleich fehlte in England jedoch die Dimension des Kulturkampfes, welchen die Reagan-Ära in den USA mit sich brachte. Die amerikanischen Debatten um Abtreibung und Schulgebete fanden in Großbritannien keine Entsprechung; evangelikaler Fundamentalismus und die moral majority eines Jerry
21 Vgl. Ben Jackson / Robert Saunders: Introduction: Varieties of Thatcherism, in: Dies., Thatcher’s Britain (wie Anm. 6), S. 1–21, hier S. 11. 22 So etwa die These von Simon Jenkins: Thatcher & Sons. A Revolution in Three Acts, London 2006. 23 Vgl. Lord Hailsham: Dilemma of Democracy: Diagnosis and Prescription, London 1978, S. 9; stellvertretend zur breiten Rezeption von Lord Hailshams Diktum in der politikwissenschaftlichen Literatur siehe etwa auch Roland Sturm: Politik in Großbritannien, Wiesbaden 2009, S. 111f. 24 Jan-Werner Müller: The Cold War and the intellectual history of the late twentieth century, in: Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (Hg.): The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3, Cambridge 2010, S. 1–22, hier S. 16.
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Falwell stellten diesseits des Atlantiks keine Kräfte dar, mit denen die Politik zu rechnen hatte.25 2. WIE REVOLUTIONÄR WAREN THATCHER UND REAGAN? Die Zeitgenossen und auch die ersten Historiker, die sich mit der Reaganund Thatcher-Ära beschäftigten, haben den revolutionären Charakter der Umbrüche betont, die damals stattfanden. Der Präsident26 und die Premierministerin27 erschienen – im Guten wie im Schlechten – als treibende Kräfte tief greifender Umwälzungen. In den letzten Jahren hingegen haben neuere Studien eher das begrenzte Ausmaß der damals eingeleiteten Veränderungen herausgestrichen. Sie haben gerade im Falle Thatchers das vorsichtige Taktieren beschrieben, den opportunistischen Grundzug des Handelns betont, die Bereitschaft zum Kompromiss, die Kontextabhängigkeit und Kontingenz. Thatcher erscheint in diesen jüngeren Studien nicht mehr so sehr als Initiatorin denn als Produkt beziehungsweise Profiteurin des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umschwungs der 1970er und 1980er Jahre.28 Mit Blick auf Reagan wird der Persönlichkeitsfaktor aufs Ganze gesehen weiterhin immer noch stärker betont.29 Aber auch seine Wirtschaftspolitik wird 25 Siehe Michael Hochgeschwender: Libertäre, Evangelikale und die Paradigmen kapitalistischer Marktordnung in den USA, in: Ders. / Bernhard Löffler (Hg.): Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 119–149; Dominik Geppert: Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethische Fragen im Großbritannien der Thatcher-Ära, in: ebd., S. 171–186. 26 Zustimmend etwa Martin Anderson: Revolution, San Diego 1988; Jules Tygiel: Ronald Reagan and the Triumph of American Conservatism, New York 2005; aus kritisch-linker Warte vgl. Haynes Johnson: Sleepwalking Through History: America in the Reagan Years, New York 1992; Barbara Ehrenreich: The Worst Years of Our Lives: Irreverent Notes from a Decade of Greed, New York 1991. 27 Für eine kritische Sichtweise siehe beispielsweise den neomarxistischen Soziologen und Kulturwissenschaftler Stuart Hall; Stuart Hall / Martin Jacques (Hg.): The Politics of Thatcherism, London 1983; Stuart Hall: The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the left, London 1988. Ders.: The Great Moving Right Show, in: Marxism Today 23 (1), Januar 1979, S. 14–16. Auch frühe Anhänger Thatchers sahen im „Thatcherismus“ einen Traditionsbruch: vgl. Martin Holmes: Thatcherism. Scope and Limits 1983–1987, Basingstoke 1989; Kenneth Minogue / Michael Biddiss (Hg.): Thatcherism. Personality and Politics, London 1987; Nigel Lawson: The View from No. 11. Memoirs of a Tory Radical, London 1992. 28 Für Thatcher siehe mit weiteren Nachweisen den Literaturbericht in Dominik Geppert: Großbritannien seit 1979: Politik und Gesellschaft, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), Heft 1, S. 61–86, bes. S. 85. 29 Siehe etwa Paul Kengor / Peter Schweizer (Hg.): The Reagan Presidency. Assessing the Man and His Legacy, Lanham u. a. 2005.
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mittlerweile stärker als Reaktion auf die Krisenhaftigkeit der 1970er Jahre gedeutet und im Zusammenhang mit dem Aufstieg „neoliberaler“ Wirtschaftstheorie gesehen.30 Außerdem wertet die amerikanische Zeitgeschichtsschreibung tendenziell die Bedeutung der 1970er Jahre im Vergleich zu den 1980er Jahren auf; eine Reihe von Forschern relativieren die Dichotomie zwischen den beiden Jahrzehnten, wodurch die Reagan-Jahre in eine längerfristige Transformationsperiode eingebettet werden.31 „Pragmatisch“ ist ein Begriff, der neuerdings erstaunlich häufig zur Beschreibung von Reagans und Thatchers Regierungshandeln verwandt wird. Reagan wird als „pragmatischer Konservativer“32 oder auch als „pragmatischer Ideologe“33 tituliert. Seine Amtsführung sei eher durch Versöhnung (reconciliation) als durch Revolution gekennzeichnet gewesen, heißt es in einem der jüngsten Literaturberichte. Kulturell, politisch, gesellschaftlich habe es sich um eine „Ära der Erholung und Restauration“ (restoration) gehandelt.34 Ganz ähnlich lautet die Einschätzung im neuesten Sammelband über Thatchers Britannien. Wie alle Regierungen seien auch die ThatcherAdministrationen pragmatisch gewesen, heißt es dort. Sie hätten improvisiert und ihre Agenda den Erfordernissen der Tagespolitik angepasst. Eine mitunter verworrene und widersprüchliche Regierungsbilanz sei die Folge gewesen.35 Thatchers Erfolg rührte in dieser Sichtweise nicht zuletzt daher, dass sie es verstand „to talk the talk of radicalism while walking the walk of pragmatism“.36 Tatsächlich fällt im Rückblick immer stärker auf, wie sehr sich das, was die Zeitgenossen unter „Thatcherismus“ verstanden, im Verlauf der eineinhalb Jahrzehnte wandelte, in denen Thatcher an der Spitze der Konservativen Partei stand. Fast ist man versucht, von verschiedenen thatcheristischen Projekten zu sprechen, die sich nur teilweise überlappten.37 Themen wie die Kri30 So etwa Andrew E. Busch: Ronald Reagan and Economic Policy, in: ebd., S. 25–46. 31 In diesem Sinne etwa Edward D. Berkowitz: Something Happened: A Political and Cultural Overview of the Seventies, New York 2006; Philip Jenkins, Decade of Nightmares: The End of the Sixties and the Making of Eighties America, New York 2006; den Begriff der „Reagan Revolution“ relativierend vgl. etwa James T. Patterson: Afterword: Legacies of the Reagan Years, in: W. Elliot Brownlee / Hugh Davis Graham (Hg.): The Reagan Presidency. Pragmatic Conservatism and Its Legacies, Lawrence/ Kansas 2003, S. 355–375, hier S. 371. 32 W. E. Brownlee / H. D. Graham, Reagan Presidency (wie Anm. 31). 33 Robert M. Collins: Transforming America. Politics and Culture during the Reagan Years, New York 2007, Kapitel 2. 34 Gil Troy: Towards a Historiography of Reagan and the 1980s: Why Have We Done Such a Lousy Job, in: C. Hudson / G. Davies, Reagan (wie Anm. 20), S. 229–247, hier S. 236. 35 B. Jackson / R. Saunders, Varieties (wie Anm. 21), S. 15. 36 Richard Vinen: Thatcherism and the Cold War, in: B. Jackson / R. Saunders, Thatcher’s Britain (wie Anm. 6), S. 199–217, hier S. 215. 37 Vgl. hierzu und zum Folgenden Dominik Geppert: Der Thatcher-Konsens. Der Ein-
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minalitätsbekämpfung und die Begrenzung der Zuwanderung, die in der Oppositionszeit das öffentliche Bild der Konservativen stark mitbestimmt hatten, traten nach 1979 in den Hintergrund. Stattdessen rückten Inflationsbekämpfung und Haushaltskonsolidierung derart ins Zentrum, dass der Terminus „Monetarismus“ zwischenzeitlich fast zum Synonym für „Thatcherismus“ wurde.38 Jedoch ließ die Faszination Milton Friedmans und seiner Theorie der Geldmengenbegrenzung nach dem zweiten Wahlsieg 1983 in dem Maße nach, in dem sich die Tories von einer rigiden Sparpolitik verabschiedeten und die Chancen entdeckten, die ihnen die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Boom des Finanzkapitalismus nach der schlagartigen Deregulierung der City of London im Big Bang von 1986 eröffneten.39 Dabei hatten weder die Privatisierung noch die Finanzwirtschaft vor 1983 eine herausgehobene Rolle in der Programmatik und Regierungspraxis der Konservativen gespielt. Zunächst hatten die Tories viel stärker auf die Wiederbelebung einer international wettbewerbsfähigen britischen Industrie gesetzt und einen Konflikt mit den Gewerkschaften ins Visier genommen, den sie 1984/85 im großen Bergarbeiterstreik schließlich auch siegreich ausfochten.40 An die Umsetzung einer langfristig erfolgreichen Privatisierungsstrategie war schon deshalb nicht zu denken, weil man damit rechnen musste, bei der nächsten Wahl von einer Labour-Partei aus dem Amt gedrängt zu werden, die sich weitgehende Verstaatlichungsvorhaben auf die Fahnen geschrieben hatte, wodurch die Aktien privatisierter Staatsbetriebe äußerst schwer verkäuflich gewesen wären.41 Somit gingen die Etablierung der Konservativen an der Macht, der beginnende innere Wandel der Labour-Partei und die Transformation des marktwirtschaftlichen Reformprogramms in einer Weise miteinander einher, die vor 1983 kaum absehbar gewesen war. Zugleich leitete die tektonische Verschiebung der britischen Volkswirtschaft weg von den klassischen Industrien der ersten und zweiten Moderne (Kohle, Stahl, Chemie, Elektro und Automobil) hin zu Finanzdienstleistungen mittelfristig ein konservatives Umdenken in der Europapolitik ein. Denn die Begeisterung der Tories für Europa allgemein und für das „Modell Deutschland“ im Besonderen hatte immer auch in der Überzeugung gewurzelt, dass die britische Marktwirtschaft vom „rheinischen Kapitalismus“ der Bundes-
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sturz der britischen Nachkriegsordnung in den 1970er und 1980er Jahren, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 170–194. Siehe beispielsweise E. Green, Thatcher (wie Anm. 11), S. 55–82. Eine Langzeitperspektive eröffnet der Sammelband von Ronald C. Mitchie / Philip Williamson (Hg.): The British Government and the City of London in the Twentieth Century, Cambridge 2004. Siehe etwa Earl A. Reitan: The Thatcher Revolution. Margaret Thatcher, John Major, Tony Blair, and the Transformation of Modern Britain, 1979–2001, Lanham u. a. 2003, S. 61–66. Vgl. Richard Vinen: Thatcher’s Britain: The Politics and Social Upheaval of the 1980s, London 2009, S. 197.
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republik und Frankreichs viel lernen konnte. Bewunderung wie Lernbereitschaft wurden jedoch geringer, je erfolgreicher sich die Londoner City in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre als internationales Finanzzentrum – vor Paris und Frankfurt – durchsetzte und je deutlicher die Schwierigkeiten einer sozialen Marktwirtschaft nach kontinentaleuropäischem Vorbild zutage traten.42 Spätestens seit Ende der 1980er Jahre schien es vielen britischen Konservativen zunehmend so, als könnte der Rest der Europäischen Gemeinschaft mehr von Großbritannien lernen als umgekehrt. Dieses neu gewonnene Kraftgefühl lag dem letztlich gescheiterten Versuch einer „Thatcherisierung“ der EG über den Europäischen Binnenmarkt ebenso zugrunde wie der anti-europäischen Wendung Thatchers in ihrer dritten Amtszeit nach 1987.43 Es ist in diesem Kontext kaum als Zufall zu betrachten, dass führende Exponenten des euroskeptischen Flügels der Konservativen Partei wie John Redwood und Peter Lilley ihr beträchtliches Vermögen in der City of London gemacht hatten.44 Ähnliche Ambivalenzen lassen sich auch für Ronald Reagan konstatieren. Mit Blick auf die Außenpolitik verweisen jüngere Studien auf Reagans Wandlung vom auf Hochrüstung getrimmten „Kalten Krieger“ in seiner ersten Amtszeit zum Entspannungs- und Abrüstungspolitiker im zweiten Term.45 Hatten die USA in den Jahren von 1981 bis 1983 mit der Strategic Defense Initiative (SDI) und der Verabschiedung des größten Militärbudgets in der Geschichte der Vereinigten Staaten auf einen – auch rhetorisch – konfrontativen Kurs gegen die Sowjetunion gesetzt, forcierte die Reagan-Administration schon ab Januar 1984 eine auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Supermächten gerichtete Politik. Reagan setzte nun auf deeskalierende Rhetorik, Abrüstung und Dialog.46 Für Reagans Wirtschaftspolitik lassen sich ähnliche Ambivalenzen ausmachen. Die massiven Steuersenkungen, die der Präsident gern als Allheilmittel gegen die ökonomische Krise Amerikas der späten 1970er Jahre propagierte, hatten vor allem eine politische Stoßrichtung. Als Symbolpolitik, die das republikanische Lager bedienen sollte, waren sie mehr Ausdruck eines „populistischen Konservatismus“ als angebotsorientierter Wirtschaftspolitik.47 Dennoch erachtete Reagan die Senkung der Einkommensteuer, wie 42 Vgl. für die Bundesrepublik Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 223–288. Zum Aufstieg des Finanzplatzes London siehe David Kynaston: The City of London, Bd. 4: Club No More, 1945–2000, London 2001. 43 Vgl. Dominik Geppert: Die Rolle Deutschlands und Europas in Margaret Thatchers politischem Weltbild, in: Jürgen Luh / Vinzenz Czech / Bert Becker (Hg.): Preußen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, S. 234–250. 44 John Redwood: Singing the Blues. Thirty Years of Tory Civil War, London 2004. 45 Vgl. etwa Beth A. Fischer: Reagan and the Soviets: Winning the Cold War?, in: W. E. Brownlee / H. D. Graham, Reagan Presidency (wie Anm. 31), S. 113–132. 46 Vgl. ebd., S. 117f. 47 Vgl. hierzu und zum Folgenden Iwan Morgan: Reaganomics and its Legacy, in: C.
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sie im Economic Recovery Tax Act (ERTA) von 1981 beschlossen wurde, als Kern seines wirtschaftlichen Programms. Daran hielt er fest, auch als David Stockman, ursprünglich ein überzeugter Angebotstheoretiker, der von 1981 bis 1985 Reagans „Office of Management and Budget“ leitete, die massiven Steuersenkungen angesichts des immensen Haushaltsdefizits zunehmend kritisch betrachtete. Auf der anderen Seite billigte Reagan jedoch schon ein Jahr später Steuererhöhungen im Rahmen des Tax Equity and Fiscal Responsibility Act (TEFRA). Entschiedene „Supply-Siders“ bewerteten den Schwenk des Präsidenten als „Verrat ihrer Überzeugung“, da TEFRA, das vor allem auf eine striktere Durchsetzung der Steuergesetzgebung gerichtet war, ihrer Auffassung nach unnötigerweise die Wirtschaft schwäche. Ihre Erwartungen wurden weiter enttäuscht, als die Sozialabgaben 1983 erhöht wurden, um das durch ERTA entstandene Einnahmedefizit auszugleichen. Darüber hinaus beinhaltete das Tax Reform Act (TRA) aus dem Jahr 1986 neben weitreichenden Vereinfachungen des Steuerrechts und dem Trockenlegen von Steueroasen auch die Erhöhung der Körperschaftsteuer bei gleichzeitigen Steuerentlastungen für sechs Millionen Amerikaner der untersten Einkommensschicht. Dies ist als Beschwichtigungspolitik des demokratischen Lagers gedeutet worden, das Reagan vorgeworfen hatte, seine Steuerpolitik bevorteile einseitig die Reichen.48 All dies relativiert Reagans Image als marktradikaler Überzeugungstäter und lässt ihn eher als einen pragmatischen „mainstream type of leader“49 erscheinen, den es mit zunehmender Dauer seiner Regierungszeit politisch in die Mitte zog. Auch im Hinblick auf Reagans Kampf gegen das „big government“ betonen jüngere Forschungen Verschiebungen und Unstimmigkeiten. Ungeachtet seiner entschlossenen Rhetorik unternahm Reagan keine ernsthaften Schritte zur Demontage der großen staatlichen Sozialprogramme. Sozialversicherung und Medicare blieben unangetastet. Auch staatliche Unterstützungsprogramme für Arme stiegen, obwohl sie 1981 ausgesetzt worden waren, 1984 wieder an, und die Sozialstaatsausgaben insgesamt waren 1989 höher als 1981.50 Die ausufernde Staatsbürokratie, die Reagan unermüdlich als ein Grundübel bezeichnete, blieb konstant, die Zahl der staatlich Angestellten stieg unter Reagans Amtszeit sogar schneller als unter derjenigen Carters.51 Von seinem im Wahlkampf angekündigten harten Kampf gegen Abtreibung
Hudson / G. Davies, Reagan (wie Anm. 20), S. 101–118. 48 Vgl. ebd., S. 108. 49 Vgl. G. Troy, Historiography (wie Anm. 34), S. 235. 50 Vgl. Gareth Davies: The Welfare State, in: W. E. Brownlee / H. D. Graham, Reagan Presidency (wie Anm. 31), S. 209–232. 51 Vgl. Ted V. McAllister: Reagan and the Transformation of American Conservatism, in: W. E. Brownlee / H. D. Graham, Reagan Presidency (wie Anm. 31), S. 40–60.
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und affirmative action blieben im Amt nur Lippenbekenntnisse, was Teile der sozialkonservativen Basis gegen ihn aufbrachte.52 Für den opportunistischen Grundzug von Reagans und Thatchers Politik spricht auch, dass die eifrigsten Anhänger radikaler Lösungen ihre Beraterstäbe bald enttäuscht verließen. John Hoskyns, der zwei Jahre lang Thatchers Planungsstab in 10 Downing Street geleitet hatte, beklagte bei seinem Ausscheiden im Herbst 1981, die Premierministerin sei von der Bürokratie „absorbiert“ worden.53 Reagan erging es nicht anders. Schon im Februar 1981 forderten konservative Republikaner von ihm eine stärker „konfrontative Politik“.54 Der Präsident sei lediglich ein weiterer „Konsenspolitiker“ (consensus politician), mokierte sich David Stockman. Er verfüge über keinerlei Konzept für radikales Regieren.55 Nicht zufällig verließen überzeugte „Supply-Siders“ wie Paul Craig Roberts oder Norman Ture nach den Steuererhöhungen im Rahmen von TEFRA 1982 die Reagan-Administration – zum Vorteil der im Weißen Haus tätigen Pragmatiker, etwa Stabschef James Baker.56 Zugleich waren nicht alle Facetten des Wandels, denen Reagan und Thatcher zum Durchbruch verhalfen, von ihnen und ihren Regierungen beabsichtigt. Wichtige Versatzstücke begannen als nicht-intendierte Nebenfolgen ihrer Politik. Das galt insbesondere für die Deindustrialisierung der britischen Inseln in den 1980er Jahren. Sie wurde von einer Regierung vorangetrieben, die angetreten war, dem Industriestandort Großbritannien wieder auf die Beine zu helfen.57 Auch die zunehmende Dominanz des Finanzkapitalismus innerhalb der britischen Volkswirtschaft ist kaum als frühzeitig anvisierte Herzensangelegenheit der Thatcher-Regierungen zu betrachten. Jedenfalls verband die Premierministerin mit der Londoner City keine blinde Liebe. Sie weigerte sich lange Zeit, eine Kreditkarte zu benutzen, weil sie Leben auf Pump verabscheute. Gern zitierte sie ihren Vater, der Börsenspekulation als Zockerei abgelehnt hatte.58 Eine ähnliche Ambivalenz findet sich auch jenseits des Atlantiks. Einerseits trat Reagan für eine Rückkehr zu traditionellen Tugenden und Moralvorstellungen ein. Er proklamierte Familiensinn und Nachbarschaftshilfe. Andererseits beruhte der Wirtschaftsaufschwung, den sich seine Politik zugute schrieb, auf Kräften und Entwicklungen, die gesellschaftlichen Zusammenhalt auflösten, nicht stärkten. Konsumdenken, Materialismus, Individualismus, die Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche, das Informationszeitalter, der Niedergang der Schwerindustrie, der Sieg der Marktwirtschaft und das Ende 52 53 54 55 56 57 58
J. T. Patterson: Afterword (wie Anm. 31), S. 368. Zit. nach John Ranelagh: Thatcher’s People, London 1991, S. 241. Zit. nach G. Troy, Historiography (wie Anm. 34), S. 235. David A. Stockman: Why the Reagan Revolution Failed, New York 1986, S. 9. I. Morgan, Reaganomics (wie Anm. 47), S. 107. Vgl. E. Green, Thatcher (wie Anm. 11), S. 72. J. Campbell, Thatcher (wie Anm. 17), S. 30.
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des Kalten Krieges – all diese Phänomene trugen dazu bei, überkommene Bindungen zu schwächen und hedonistische Tendenzen in der Gesellschaft zu befördern.59 Wenn man heute im Abstand von 30 Jahren auf die amerikanische und britische Geschichte der 1980er Jahre zurückblickt, stößt man auf eine zentrale Paradoxie, die es nicht nur dort gibt, die aber dort besonders krass ins Auge sticht. Die Paradoxie besteht darin, dass die von Reagan und Thatcher propagierte Vision einer moralisch erneuerten Nation hart arbeitender Sparer und eigenständiger Familien mithalf, kommerzialisierte und zur sozialen Atomisierung neigende Gesellschaften herbeizuführen, in denen Glücksspiel an der Börse prämiert wurde und private Haushalte Rekordschulden aufhäuften. Thatchers Appell an viktorianische Werte und Reagans Loblieder auf ein älteres, einfacheres und idealistischeres Amerika mit stärkerem Gemeinsinn trugen dazu bei, zutiefst individualistische, manchmal selbstsüchtige Gesellschaften zu erzeugen. Thatcher und Reagan selbst haben dieses Spannungsverhältnis zwischen Markt und Moral nicht wahrgenommen oder jedenfalls behauptet, es nicht zu sehen. Stattdessen gingen sie davon aus, dass der unkontrollierte Markt wie in den angeblich guten, alten Zeiten (etwa in dem von Thatcher hochgelobten viktorianischen Zeitalter) die Marktakteure zu Verantwortungsbereitschaft und Selbstdisziplin zwingen würde. Im Rückblick betrachtet, unterschätzten sie mit dieser optimistischen Grundannahme die Erosion der bürgerlichen Tugenden, auch der Religion als Stützpfeiler der kapitalistischen Ethik, wie sie sich im Verlauf der ersten drei Viertel des 20. Jahrhunderts vollzogen hatte. Insofern war die Revolution, um die es ihnen ging, eine Revolution im vorneuzeitlichen Sinne des „revolvere“ – also des Zurückdrehens der Zeit zu einem früheren, idealisiert gesehenen Zustand.60 3. DER NIEDERGANG DES KONSENSLIBERALISMUS Der andere, nach vorne weisende Teil der Revolution, die mit den Namen Thatchers und Reagans verbunden ist, bestand im Niedergang dessen, was ihrer Ära vorausging: nämlich einer vom Konsensliberalismus geprägten Nachkriegsordnung. Diese Nachkriegsordnung war nicht in allen Ländern gleich. In den USA beispielsweise spielten Staatsunternehmen kaum eine Rolle, und auch der Sozialstaat war anders konstruiert. Dennoch gab es – Abweichungen im Detail zum Trotz – eine Vorstellung vom wünschenswerten Zusam59 Vgl. G. Troy, Historiography (wie Anm. 34), S. 243. 60 Vgl. Reinhart Koselleck u. a.: Artikel „Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653–788.
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menhang zwischen Staat und Wirtschaft, Individuum und Gesellschaft, die sich in den Jahrzehnten nach 1945 mit unterschiedlicher Geschwindigkeit fast überall in Nordamerika und Westeuropa durchgesetzt hatte. Diese Ordnungsvorstellungen eines gezähmten Kapitalismus, deren Wurzeln bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichen, sind in der jüngeren historischen Forschung inzwischen intensiver untersucht worden.61 Vielen Zeitgenossen hingegen waren diese Übereinstimmungen kaum bewusst. Erst als seit den 1970er Jahren die Fundamente des Konsenses erodierten und auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums konkurrierende Leitbilder auftauchten, wurde der Blick für die gemeinsamen Strukturmerkmale der westlichen Nachkriegsordnung geschärft.62 Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war der Siegeszug der Neuen Rechten in den USA und Großbritannien vor allem eine Niederlage der alten Linken, die sich stark mit dem Nachkriegskonsens identifiziert und in besonderem Maße von ihm profitiert hatte. Reagan wie Thatcher hatten es mit politischen Gegnern zu tun, die sich extrem schwer taten, mit den neuen Herausforderungen der Epoche „nach dem Boom“ zurechtzukommen. Die optimistischen Grundannahmen einer keynesianisch geprägten Sozialdemokratie, ob sie nun in der britischen Labour-Partei oder bei den amerikanischen Demokraten beheimatet war, waren unter dem Eindruck zweier Öl(preis)krisen, galoppierender Inflation, zunehmender Massenarbeitslosigkeit und dem Niedergang der traditionellen Industrien immer weiter erodiert. Thatchers wichtigste strategische Entscheidung bestand darin, sich an die Spitze des wachsenden Unmuts zu setzen, der sich vor allem gegen die Gewerkschaften richtete, aber auch gegen die Politik der Labour-Regierung, ja gegen die überkommenen wirtschafts- und sozialpolitischen Modelle insgesamt gewandt war. Als erste Führungsfigur der britischen Politik gab sie nicht als ihr Ziel aus, den Einsturz der alten Ordnung abzuwenden, sondern prangerte deren Konstruktionsfehler an und plädierte dafür, etwas Neues zu errichten. Thatcher war dabei nicht unbedingt die willensstarke Außenseiterin, als die sie sich selbst gern stilisierte. Wie der früh verstorbene Oxforder Historiker Ewen Green zu Recht betont hat, repräsentierte sie Strömungen, die an der Basis ihrer Partei seit langem virulent waren und lediglich in deren Establishment auf Ablehnung stießen, weil man dort befürchtete, sie könnten die Strahlkraft der Konservativen auf die strategisch entscheidende Bevölkerungsgruppe der Wechselwähler verringern.63 61 Siehe etwa Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought, Ithaca 2006. 62 Siehe etwa John Kenneth Galbraith: The Conservative Onslaught, in: New York Review of Books, 22. Januar 1981, S. 30–36, hier S. 30. 63 E. H. H. Green: Thatcherism. A Historical Perspective, in: Ders.: Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, Oxford 2002, S. 214– 239.
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Insofern profitierte Thatcher davon, dass sich die politisch-kulturellen wie die sozio-ökonomischen Koordinaten in Großbritannien zu ihren Gunsten verschoben und ein tief greifendes marktradikales Umgestaltungsprogramm möglich machten. Die harten Schnitte, die sie den Briten zumutete, waren nur vor dem Hintergrund der verbreiteten Wahrnehmung verständlich, dass die Nachkriegsordnung gescheitert sei. Thatchers Rosskur beruhte auf der Grundannahme, dass diese Ordnung derart brüchig geworden war, dass nur eine völlige Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik Aussichten auf Erfolg hatte. „[T]he reason why peacetime governments in democracy find it so hard to halt socio-economic disintegration (once it starts)“, schrieb Thatchers Berater John Hoskyns, „is that neither they nor most political commentators spot the moment when the rules of the game change, so that the established political thought and behaviour is suddenly obsolete.“64 Thatcher denunzierte die Gewissheiten der Nachkriegswelt und propagierte strikte Haushaltsdisziplin anstelle einer antizyklischen Stabilisierungspolitik à la Keynes.65 Sie schärfte ihr politisches Profil, indem sie nicht den Tugenden des Kompromisses und der Konsenssuche huldigte, sondern diese zurückwies. Nach ihrer Wahl zur Premierministerin bezeichnete sie einmal jeden „Konsens“ polemisch als Vorgang, bei dem man alles aufgebe, woran man glaube, „all seine Prinzipien, Werte und politischen Ansichten, und etwas anstrebt, woran niemand glaubt, aber wogegen auch niemand etwas einzuwenden hat. Der Vorgang, bei dem man genau die Probleme, die gelöst werden müssten, umgeht, nur weil man sich in einem bestimmten Punkt nicht einigen kann.“66 Diese vielfältigen Auflösungserscheinungen unterstreichen die These des britischen Historikers Dominic Sandbrook, das ausschlaggebende politische Phänomen der Epoche sei nicht so sehr der Aufstieg des Konservatismus gewesen, sondern der Kollaps der linken Mitte und all der Strategien, Arrangements und Attribute, die mit ihr assoziiert wurden.67 Eine solche Sichtweise hilft zu erklären, warum sowohl Reagan als auch Thatcher in demoskopischen Umfragen nicht besonders eindrucksvoll abschnitten. Reagans Zustimmungsraten bewegten sich während der ersten Amtszeit selten deutlich über 40 Prozent. Im Januar 1983 waren nicht weniger als 56 Prozent der Befragten mit seiner Amtsführung unzufrieden.68 Für Thatcher sah es Anfang der 1980er Jahre zwischenzeitlich noch übler aus. Ende 1981, als die Zahl der 64 Zitiert nach D. Geppert, Revolution (wie Anm. 5), S. 419. 65 Die Zitate stammen aus Reden vom 7. Februar 1978 und 8. September 1977, zit. ebd., S. 220f. 66 Margaret Thatcher: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 251. 67 Vgl. D. Sandbrook, Baptist (wie Anm. 20), S. 182. 68 Andrew E. Busch: Reagan’s Victory. The Presidential Election of 1980 and the Rise of the Right, Lawrence/Kansas 2005, S. 129.
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Arbeitslosen die Grenze von drei Millionen überschritt, hielten sie nur noch 25 Prozent der befragten Briten für eine gute Premierministerin. Schlechter hatte kein Regierungschef dagestanden, seit es Meinungsumfragen gab. Zwar begann sich die Wirtschaft Anfang 1982 zu erholen, und Thatcher profitierte wenig später vom Sieg der britischen Streitkräfte gegen Argentinien im Falklandkrieg. Dennoch überstiegen die Zustimmungsraten für sie und ihre Partei durch die gesamten 1980er Jahre hindurch zu keiner Zeit 50 Prozent. Ihre Wahlsiege verdankte die Premierministerin in erster Linie der Schwäche der Opposition (1983 auch dem Umstand, dass die Linke durch die Gründung einer sozialdemokratischen Alternative zur sich radikalisierenden Labour-Partei gespalten war). In dieses Bild passt der Umstand, dass auch die politischen Ziele der Neuen Rechten in den USA und Großbritannien durch die gesamten 1980er Jahre hindurch in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig wurden. Umfragen ergaben immer wieder große öffentliche Unterstützung für die Errungenschaften der Nachkriegsordnung – seien es Medicare und Medicaid in den USA oder der National Health Service (NHS) in Großbritannien. Noch 1988 wollten nur 43 Prozent der Briten in einer „kapitalistischen Gesellschaft [leben], in der private Interessen und freies Unternehmertum am wichtigsten sind“. 49 Prozent hingegen bevorzugten eine „überwiegend sozialistische Gesellschaft“.69 Auch in ihren eigenen Parteien haben sich Thatcherismus und Reaganismus – bei aller Verehrung für Thatcher und Reagan als politische Ikonen – nicht dauerhaft durchgesetzt. Thatchers Nachfolger John Major distanzierte sich nicht nur vom konfrontativen Image seiner Vorgängerin, sondern auch von zentralen politischen Strategien der Thatcher-Zeit. Zehn Jahre später versuchte David Cameron, seiner Partei eine ganz neue Richtung zu weisen. Unter der Eisernen Lady, so sein Kerngedanke, hätten sich die britischen Konservativen in eine Partei der Wirtschaftsinteressen, des individualistischen Profitdenkens und eines brachialen Marktradikalismus verwandelt. Dabei seien zentrale Elemente konservativer politischer Philosophie über Bord geworfen worden: Gemeinschaftssinn, Rücksicht auf sozial Schwache, die Bewahrung überkommener Traditionen und Institutionen gegen den Primat des Ökonomischen. In den USA setzte George W. Bush als „mitfühlender Konservativer“ (compassionate conservative) auf eine Strategie des „big government“, die in direktem Gegensatz zu Reagans Erkenntnis stand, der Staat sei das Problem, nicht die Lösung. Ihre größten Siege errangen Thatcher und Reagan nicht in ihren eigenen Parteien, sondern gegenüber dem politischen Gegner. Es spricht einiges für die These, dass Bill Clinton und Tony Blair die eigentlichen Erben Thatchers und Reagans gewesen sind. In den USA begann die Konversion spätestens mit der Gründung des Democratic Leadership Council (DLC) im Jahr 1985 – eine 69 D. Sandbrook, Baptist (wie Anm. 20), S. 183.
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direkte Konsequenz aus Reagans Wiederwahl wenige Monate zuvor. Die dort entwickelte Strategie einer unternehmerfreundlichen, marktwirtschaftlichen und speziell auf die prosperierenden Südstaaten ausgerichteten Politik führte Bill Clinton 1992 und 1996 zu zwei Wahlsiegen.70 In Großbritannien dauerte es etwas länger, bevor sich die Labour-Partei unter Tony Blair und Gordon Brown im zweiten Drittel der 1990er Jahre in dieselbe Richtung entwickelte. Aber auch hier erwies sich die Kombination von marktwirtschaftlichem Liberalismus und sozialem Engagement als überaus erfolgreiche Mischung, um Wahlen zu gewinnen. Tony Blair fuhr als „Thatcher in trousers“71 mit einem Programm, das als „Thatcherismus mit menschlichem Antlitz“72 bezeichnet worden ist, 1997, 2001 und 2005 drei Wahlsiege ein. In beiden Fällen brachten die 1990er Jahre einige der am weitesten reichenden Ausdehnungen des privaten Sektors auf Kosten des alten sozialdemokratisch geprägten Staates der Nachkriegsordnung.73 Bill Clintons Umbau des amerikanischen Sozialstaates 1996 („to end welfare as we know it“) ist hierfür ebenso ein Beispiel wie diverse Reformpläne für den britischen NHS oder die Unabhängigkeit der Bank of England, die eben nicht von einer konservativen, sondern von einer Labour-Regierung eingeführt wurde. RESÜMEE So betrachtet, erreichte der Gezeitenwechsel, den James Callaghan 1979 vorausgesehen hatte, seinen Hochwasserstand nicht in den 1980er, sondern in den 1990er Jahren. Nach dem Ende des Kalten Krieges, im Angesicht einer neuen langen Boomphase und im Zuge einer weiter vorangeschrittenen Individualisierung und Pluralisierung bekehrten sich auch die großen MitteLinks-Parteien in den USA und Großbritannien zum konservativ gewendeten Liberalismus der Ära von Reagan und Thatcher. Dieser Liberalismus unter konservativen Vorzeichen wurde, zumindest in den USA und Großbritannien, für knapp zwei Jahrzehnte zum neuen Konsens, auf den sich die politischen Parteien der linken und rechten Mitte einigen konnten. Wenn dies eine Revolution war, dann im vormodernen Sinne eines „revolvere“: das Rad der Geschichte sollte zurückgedreht werden – jedenfalls versuchten Thatcher und Reagan, dies zu tun. Dabei schufen sie jedoch etwas Neues, teilweise Uner70 Kenneth S. Baer: Reinventing Democrats. The Politics of Liberalism from Reagan to Clinton, Lawrence/Kansas 2000. 71 So etwa Eric Hobsbawm: Socialism has failed. Now capitalism is bankrupt. So what comes next?, in: The Guardian, 10. April 2009. 72 So Timothy Garton Ash in einem Interview mit dem „Spiegel“: Europa – ein einmaliges Modell, 25. Oktober 1999. 73 Für Großbritannien vertritt diese These prononciert S. Jenkins, Thatcher (wie Anm. 22).
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wartetes und leisteten damit in mancher Hinsicht Entwicklungen Vorschub, die im Widerspruch zu ihren eigenen ideologischen Grundüberzeugungen standen.
THE REBELLION OF CIVIL SOCIETY Liberalism and populism in Berlusconi’s Italy Giovanni Orsina Scholars both in Italy and abroad have found it difficult to make sense of Berlusconi’s political success and duration. Many have focused their attention on the instruments of Berlusconism and on its communication: Berlusconi’s massive financial resources, his control of commercial television and his business empire on the one hand; his intense, professional use of political marketing and opinion polls and his storytelling ability on the other.1 Others have tried to explain Berlusconism as an expression of a quasi-anthropologi cal and negative “Italian-ness”. In these analyses the Berlusconi vote either stems from irrational causes, such as the Italians’ supposed tendency to follow strong leaders and to identify themselves with wealthy and successful people. Or, alternatively, it is considered an entirely rational but unethical vote origi nating in the Italians’ individualism, “uncivicness” and anti-state attitudes: “We tolerate him and he justifies us”.2 These two sets of explanations, the “instrumental” one and the other one based on “Italian-ness”, are by no means completely wrong. Yet the first highlights a necessary but not a sufficient cause – it is hard to believe that a phenomenon lasting twenty years and getting millions of votes in six national elections has been entirely devoid of political content. The second is based 1
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Mauro Calise: Il partito personale, Rome-Bari 2000; Id.: La terza repubblica. Partiti contro presidenti, Rome/Bari 2006; Emanuela Poli: Forza Italia. Strutture, leadership e radicamento territoriale, Bologna 2001; Alessandro Amadori: Mi consenta. Metafore, messaggi e simboli: come Silvio Berlusconi ha conquistato il consenso degli italiani, Milan 2002; Alberto Abruzzese / Vincenzo Susca: Tutto è Berlusconi. Radici, metafore and destinazione del tempo nuovo, Milan 2004; Marco Belpoliti: Il corpo del capo, Parma 2009; Paolo Mancini: Between Commodification and Lifestyle Politics. Does Silvio Berlusconi Provide a New Model of Politics for the Twenty-First Century?, Oxford 2011; Sofia Ventura: Il racconto del capo: Berlusconi e Sarkozy, Rome/ Bari 2012. Beppe Severgnini: Mamma Mia! Berlusconi’s Italy Explained for Posterity and Friends Abroad, New York 2011, p. 53; but see also Alexander Stille: The Sack of Rome: How a Beautiful European Country with a Fabled History and a Storied Culture was Taken over by a Man Named Silvio Berlusconi, New York 2006; P. Mancini, Commodification (as in annot. 1); Paolo Ceri: Gli italiani spiegati da Berlusconi, Rome/ Bari 2011.
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on a national stereotype that is vague, value-laden and very difficult to test empirically. This essay will take another route to Berlusconism.3 Starting from the assumption that there was political content in it, and that its content was an essential part of its success, this article will try to capture the essence of Berlusconi’s politics, describing it in section 1 and proposing a definition of it in section 2. The third section will place Berlusconi’s political offer in a longer historical perspective, explaining why, when that offer was put forward in the mid-1990s, many could believe it a plausible solution to long-standing Italian problems. Seen from this perspective, it is argued here, Berlusconi’s political success and duration will make perfect sense. Considering Berlusconism for its political content and historical background is also necessary if we wish to understand it in a comparative perspective. Rolling back the state, what Berlusconi himself called “the liberal revolution”, was no doubt one of the most important (in 1994 the most important) elements of his rhetoric, as we shall see in the first section of this essay – even though it lost much of its relevance over time and was never translated into consistent and effective policies by the governments that he led. Looked at in this perspective, and keeping the wider European and Transatlantic picture in mind, Berlusconism can undoubtedly be considered one of the many instances of the free-market, neoliberal ideology that resurfaced in the early 1980s. This was emphasised by Berlusconi himself, who made frequent references in his speeches to Thatcher’s Britain and Reagan’s USA as examples to be imitated. Yet, if we wish to understand Berlusconism in a comparative perspective, we ought to take two further elements into account. Firstly, this is a phenomenon of the second half of the 1990s and of the early twenty-first century: it starts in 1994 and has a real opportunity to govern Italy only in 2001, more than two decades after Thatcher and Reagan had reached power. In the second place, and more importantly, Berlusconi’s neoliberal discourse has come after the Italian major political and institutional collapse of 1992–1994 – a very anomalous crisis, given that it was driven by the judiciary. And Berlusconi himself, a media tycoon turned into a political leader a mere two months before winning his first general elections, has been the anomalous historical answer to this anomalous political-judicial crisis. In the 1980s, Italy was fully partaking in the momentous cultural, social, and economic transformation that was occurring elsewhere in the West.4 The Italian political system however, while not entirely insensitive to the stimuli that it was receiving, was slow and inefficient in reacting to them. Not least 3 4
The arguments presented in this essay can be found in a much expanded form in Giovanni Orsina: Il berlusconismo nella storia d’Italia, Venice 2013 (English translation: Berlusconism and Italy: A Historical Interpretation, Basingstoke/New York 2014). Cf. Marco Gervasoni: Storia d’Italia degli anni Ottanta. Quando eravamo moderni, Venice 2010.
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because the previous decades had moulded it so that it could withstand the pressures of the Cold War, notably by accommodating the presence of the biggest and most successful Communist Party west of the Wall, and this had made it rather ecumenic, balanced, and – so to speak – elastic, not effective, sharp, and fast. As a consequence, the pressure of historical change on the political structures kept mounting throughout the 1980s – and it is by no means impossible to argue that the 1992–1994 crisis happened when that pressure was made intolerable by the end of communism and the evolution of the European economic and monetary framework. Public debt was one of the instruments that had helped an inefficient political system keep a fast changing and restless society under control. When the deepening of the European integration process made that instrument unusable and the political system collapsed, the issue of who should repay the debt took on an electorally crucial relevance: whether it should be the private sector, by paying more taxes, or the public sector, by enduring a severe diet. This is one of the reasons why in Italy the political conflicts on the relationship between state and market that elsewhere had characterised the 1980s presented themselves mostly in the 1990s. And this is also why Berlusconism, advocating a sharp reduction in taxation and public expenditure, can be interpreted as a belated manifestation of neoliberalism in Thatcher’s and Reagan’s mould. The “flood” of 1992–1994, however, also had more general effects. It swept away all the parties that had governed Italy for half a century, leaving only the post-communists and post-fascists standing. It confirmed and amplified that mistrust in politics, professional politicians and political parties which represents a deeply entrenched and long standing feature of the Italian political tradition. It also posed a number of institutional problems: both because in the post-war era the Italian political system had found its fragile stability thanks to the centrality of the parties that had foundered in 1992–1994, and because the “flood” tilted the balance between politics and the judiciary in favour of the latter. The argument on the boundaries of the political sphere vis-à-vis the economical that had dominated the Anglo-Saxon debate in the 1980s, therefore, one decade later in Italy was joined by a number of other arguments on the role of politics: concerning its boundaries vis-à-vis several other spheres – ethical, judicial, managerial –, but also its very function and autonomy. This provided the Italian political system of the 1990s and early twenty first century with a peculiar, and peculiarly complex, structure. That system was certainly split by a “European” cleavage dividing a left mostly in favour of the public sector, the welfare system, and state control of the economy, from a right mostly arguing for lower taxes and the free market. That cleavage, however, was cross-cut by at least two other, specifically Italian ones. The antifascism/anticommunism cleavage was a genetically modified leftover of the Cold War, even of the interwar period – but not less relevant for that.
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And the politics/antipolitics cleavage was a product of the 1992–1994 crisis. The defense of the nobility and autonomy of the political was mostly, although not only, present in the post-communist field, where party traditions, both organisational and cultural, had managed to withstand the “flood” reasonably well. Antipolitical discourses and mentalities, however, were robustly represented also in that field, as well as in the wider left-of-the-center side of the Italian political system, where it was argued that the political sphere should be subordinated primarily to the ethical and judicial ones. Berlusconism, as we shall see in the first section of this essay, was by all accounts a child of the antipolitical wave that had begun in the early 1990s. But its right-wing version of antipolitics, unlike its left-wing counterpart, argued that the political sphere should be subordinated to the economical, the managerial and the entrepreneurial ones. If we wish to understand Italian, and most notably Berlusconian, neoliberalism in a wider comparative perspective, in sum, we must take all these elements into account, conceptualising it as more than just the Italian version of the ideological “revolution” of the 1980s concerning the relationship between state and market – rather, as one of the Italian manifestations of the wider transformation of Western democracies that has started in the late 1970s, and which the change in economic cultures and policies as been just one element of. Neoliberalism not only had a significant political impact in Italy only fifteen to twenty years after Thatcher and Reagan had come to power, but it presented itself as part and parcel of a much more general institutional and cultural crisis of the political that, at least in its depth and seriousness, must be considered an Italian peculiarity, creating a peculiarly Italian web of cross-cutting political cleavages. This does not only help explain why Italian neoliberalism took on such a unique and bizarre form as Berlusconism. It also helps explain why Italian neoliberalism remained to a relevant extent a rhetorical phenomenon, and was largely incapable to translate itself into concrete reforms. 1. BERLUSCONI’S POLITICS: A DESCRIPTION The “sanctification” of the Italian people/civil society lies at the centre of Berlusconi’s politics. His ability to express that political core in the first seven words he pronounced as a political leader attests to his extraordinary communication skills: “L’Italia è il paese che amo” (Italy is the country that I love) is the opening sentence of Berlusconi’s recorded message sent to all televisions on January 26 1994, announcing that he would run in the parliamentary election that was to follow soon.5
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The text of his speech is reproduced in Silvio Berlusconi: L’Italia che ho in mente: i
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Italians, according to Berlusconi, are fine as they are, they are “virtuous people, both in a moral and a technical sense”,6 and there is no need whatsoever to change them. Italians, in short, are not the problem, they are the solution. It is the “legal country” not the “real country” that we must look at, if we wish to unveil the origin of all troubles and address them. Politics, political elites and public institutions are depressing the country, draining it of confidence by stressing its failures and hiding its successes, and are unable to give it a unifying aim or direction. They shackle it with petty rules and regulations. They squeeze way too many resources out of it and put them at the disposal of unproductive, parasitical oligarchies. Why, to take just one example, are the numbers of tourists in Italy decreasing while visitors to France and Spain are on the increase? In Berlusconi’s view, since “there is no way Italian tour operators could possibly be responsible for this or be less able or willing to work or less enthusiastic than their Spanish counterparts”, it must be down to the country’s political leaders.7 If the Italians do not trust their political elites and state institutions and the problem lies with the latter, solutions cannot be found by adapting the “real country” to the “legal country” but by doing the exact opposite – adapting the “legal country” to the “real one”. This adaptation needs to happen on three separate but connected levels: the transformation of the Italian state into a friendly, minimal one; the substitution of traditional Italian “hyper-politics” with “hypo-politics”; the construction of a new political elite made up of non-professional politicians. As regards the state, Berlusconi argues that changes would involve making it less burdensome by reducing the areas in which it can intervene, requiring it to do less but do it better, and introducing a radical discontinuity in the history of unified Italy: “something new in the history of the twentieth century, a history of state intrusion, of the administrative system that had been introduced after unification (…) I explained to the leaders of the European People’s Party that Forza Italia is also about a fight against state oppression, which has gone on for the whole of the twentieth century and which got stronger under Giolitti, Mussolini and even the Democrazia Cristiana.”8
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discorsi di Silvio Berlusconi, Milan 2000. For the message see http://www.youtube. com/watch?v=3OlQ762Qh-A. The quote is Gianni Baget Bozzo’s, one of the main ideologues of Berlusconism: see Gianni Baget Bozzo: L’identità di Forza Italia, and: Introduzione, in: Ragionpolitica. it, 1 June 2000, http://www.ragionpolitica.it/testo.2.html and http://www.ragionpolitica. it/testo.9.html. Silvio Berlusconi: La forza di un sogno: i discorsi per cambiare l’Italia, Milan 2004, p. 76 (speech at Federalberghi, November 2000). S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), p. 102 (speech to the national congress of the Forza Italia youth movement, December 1999). See also Silvio Berlusconi: Discorsi per la democrazia, Milan 2001, p. 25 (speech at the Senate, May 1994): “public power can be weakened in the same way in two opposite sets of circumstances: when it has too
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It is above all when he states his intention to roll back the state that Berlusconi, as we noticed before, mentions the Anglo-Saxon experiences of the 1980s, Ronald Reagan’s presidency in the US and Margaret Thatcher’s premiership in the UK, as models to be followed.9 Perhaps more importantly, however, according to Berlusconi the state also needs to be made qualitatively different – to change from being “arrogant and a stranger to the concrete lives of our people” to being “a friendly state at the service of its citizens”; it should not frighten the Italians but instead guarantee their “right not to be afraid”.10 Transforming the state into a minimal and friendly one would be instrumental also to healing the long-standing reciprocal lack of confidence between Italian citizens and public institutions. According to Berlusconi the much-lamented Italian habit not to abide by the rules is not the consequence of some strange, anthropological defect in the Italians, but because the laws themselves are vexatious, incomprehensible and unreasonable. Tax evasion is not the consequence of greed or selfishness but simply the result of taxes being too high overall and disproportionately high compared to the quality of the services they are supposed to be financing. It would therefore be not only pointless but wrong to try to sort out the “Italian question” by re-educating the country; instead taxes should be cut and laws simplified because “when the state asks you for something you think is right, you are the first to want to be at peace with the state and your own conscience”.11 Berlusconi’s search for a different way of doing politics – his second pathway for adapting the legal to the real country – never arrives at a total rejection of politics. He reiterates his support for the nobility of politics, which he describes as “something great”, “the highest moment of confirmation of man’s social character”, as having a “religious foundation, in the sense that its values, rituals and symbols are the perfect glue for binding a community together”.12 If Berlusconi’s politics is not anti-politics, however, it is what one might call hypo-politics, quite distinct from the Italian tradition of hyper-politics.13 There are three main areas of difference between hypo- and hyper-politics. The first, as has already been shown, is that hypo-politics is a less intrusive kind of politics produced by a smaller and more unassuming
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few modes of intervening or when it has too many: instruments that are out of date or impossible to understand, and punitive for the general public. The latter is our current situation”. See for instance S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), pp. 39 and 143–148; S. Berlusconi, La forza (as in annot. 7), p. 20. The citations are as follows: S. Berlusconi, Discorsi (as in annot. 8), p. 32; Id., L’Italia (as in annot. 5), pp. 38f and 131. S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), pp. 149f. Id., La forza (as in annot. 7), pp. 62 and 211f. Cf. Ernesto Galli della Loggia: L’identità italiana, Bologna 1998; Giuseppe Cantarano: L’antipolitica. Viaggio nell’Italia del disincanto, Rome 2000.
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state, and it aims at stimulus and growth rather than directing the spontaneous activities of civil society or taking them over. Secondly, as Berlusconi’s speeches demonstrate on numerous occasions, hypo-politics aims to concentrate less on itself, on its own ideological divisions and the power struggle, on politics as a self-referential game, and to focus more on policies and the concrete management of a community. This makes it a different kind of politics from the politics of “arguments, words, gossip, reciprocal vetoes and backstage negotiations”, and is much more concerned with “achievements and with doing things”.14 Thirdly, the language of Berlusconi’s hypo-politics, which in this case bears some resemblance to anti-politics, is no different from the simple, concrete, common-sense logic of the ordinary man.15 “I get asked what the new politics is”, he said in the Senate in 2001, continuing as follows: “It means forging consent on the basis of a carefully constructed commitment, it means transforming a promise into a written contract with no get-out clause, it means the end of mystification and of jargon which is incomprehensible to ordinary people, it means that our institutions have to get closer to communities and be subject to the same contractual obligations as the ones that underpin civil society”.16
“Our values” – he also said in 1998 during his closing speech to the first congress of Forza Italia, perhaps his most ideologically complete speech – “are not the complicated ideological abstractions of politicians and political scientists but the simple, basic values of good citizens and the founding values of all the great Western democracies”.17 The final area in which the legal country should be adapted to the real country is the training and selection of the political elite.18 The Berlusconi approach to this question is the natural consequence of what has been described above: if civil society is the depository of all virtues, then it must also be the only possible source of “good” politics and of a new and virtuous political class that is made up of people “with direct experience of life and its hardships rather than of the machinations of ‘backroom politics’” and epitomised by Berlusconi himself.19 This notion of a new political class is a continuing 14 S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), p. 20; Id., La forza (as in annot. 7), pp. 211f. 15 Cf. A. Amadori, Mi consenta (as in annot. 1); A. Abruzzese / V. Susca, Tutto è Berlusconi (as in annot. 1); Amedeo Benedetti: Il linguaggio e la retorica della nuova politica italiana: Silvio Berlusconi e Forza Italia, Genoa 2004; Sergio Bolasco / Nora Galli de’ Paratesi / Luca Giuliano: Parole in libertà. Un’analisi statistica e linguistica dei discorsi di Berlusconi, Rome 2006; S. Ventura, Il racconto del capo (as in annot. 1). 16 S. Berlusconi, La forza (as in annot. 7), pp. 192f. See also Id., Discorsi (as in annot. 8), p. 97. 17 S. Berlusconi, Discorsi (as in annot. 8), pp. 280f. 18 See particularly Donatella Campus: Antipolitics in Power: Populist Language as a Tool for Government, Cresskill N. J. 2010. 19 S. Berlusconi, Discorsi (as in annot. 8), pp. 33f.
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refrain in Berlusconi’s speeches. He often uses it as part of a diatribe against professional politicians and the excessive power of parties in post-1945 Italy, or when radically reversing the approach to public morality: “That is why we liberals, unlike the anti-liberals, do not think that the market is based on individual selfishness (…) markets need individual interests to be wedded to an acceptance of the moral principles of loyalty and of a work ethic. And we continue to say this and say it openly: if only there were the same morality in politics that there is in the market; when we say that we are the standard bearers of a new morality in politics, it means that we are standard bearers of a morality that we have learned in the market, and that is absent in politics, where we would like to introduce it.”20
Most of all, the theme of the new political class reconnects to the question of the efficiency of the institutions and the ability of the political class to focus on the real needs of the country. In his first public speech Berlusconi said “we know how to revive the economy of Italy! (applause) There is no one in Italy who can make this promise, who can make this claim with more credibility and more authority than the man standing before you now! (applause)”. A few months later in the Senate, he said: “referring to the Treasury and Industry ministers, people have joked about the ‘the culture of the mini-factories’; I tell them that the mini-factories are sometimes more useful than the mini-offices where they manufacture their ‘mini-speeches’”.21 Berlusconi’s claim to represent and lead a new political class that comes directly out of civil society’s “natural aristocracy” is tied to his ability to portray himself as an ordinary person that people can identify with – “the man next door, the one you get to know and learn to trust, just (…) unusually rich, able, and incredibly determined”.22 Arguing that he belongs to the “real country” and has never enjoyed the power and privileges of the “legal country”, Berlusconi presents himself as a common Italian citizen who is tormented by an oppressive bureaucratic state and is defending himself as best he could. The assumption that, as a victim among victims, he can sympathize with his fellow citizens – that is, share their same sense of anger and frustration – subsequently appears to them the best guarantee that he will try to change things.23 The new political class made of non-professional politicians, in sum, can present itself as the best-placed of all possible political classes for earnestly trying to both transform the Italian state in a friendly and minimal state and downgrade hyper- to hypo-politics. The “ordinary citizen” Berlusconi, victim of the state and distrustful of professional politicians, is also appreciated by his voters when he endeavours on the one hand to show that politicians are people just like everyone else and 20 S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), p. 116. 21 Ibid., p. 23; Id., Discorsi (as in annot. 8), p. 58. 22 Declaration of journalist Giuliano Ferrara in Berlusconi’s propaganda publication: Una storia italiana, Milan 2001, p. 39. 23 Domenico Mennitti, ed.: Forza Italia. Radiografia di un evento, Rome 1997, p. 8.
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in no way superior to them, on the other that politics should be taken lightly and on the understanding that real life is somewhere else. This can contribute explaining why Berlusconi’s lack of seriousness, his gaffes, inopportune jokes and fooling around did not damage him electorally and why it may even have made him stronger. This behavior is all the more appreciated in Italy because the country has got used to seeing politicians being introduced as exceptional people and politics as a terribly serious and important activity. Looking at Berlusconi’s three ways of adapting the “legal” to the “real country” – the friendly and minimal state, hypo-politics, and the new political class of non-professional politicians – can help make sense of his anticommunism. When discussing Berlusconi’s robustly anticommunist position, scholars frequently take an equally robust ironical stance: where was this famous communism after the fall of the Berlin Wall and the collapse of the Soviet Empire? The irony, however, is misplaced and makes an understanding of the Berlusconi phenomenon all but impossible. Berlusconi does not only target pre-1989 historical communism but also present-day post-communists which – he argues – have brought their mentality intact into the post-Cold War world. That is, the mentality of professional politicians from top to toe, convinced that there can never be too much politics, that politics and politicians are better than common people and civil society, and that the “legal country” has the duty and the right to control and correct the “real country”: Their credo is centralism, dirigism, statism, the opposite of ours, which is subsidiarity. From this credo of theirs you get the idea of a State which does everything, which controls everything, the professor State, the doctor State, the teacher State. It is a State which is the exact opposite of what we think: our State only looks after essential services, and does it properly, and gives its citizens total freedom to look after the rest.24
Berlusconi’s anticommunism, in sum, is by no means just an irrational leftover of the Cold War. Rather, it is a shortened and simplistic way to identify a real disagreement between the Italian left and right as to the importance of politics and what the “good” balance between state and society should be. 2. BERLUSCONI’S POLITICS: A DEFINITION Although using a simple formula to describe a complex phenomenon is always a risk, a definition of the Berlusconian ideology that we have illustrated above can now be attempted: Berlusconism is an emulsion of populism and liberalism (or at least a certain kind of liberalism). To this formula should be added three further elements. The two main components of the definition – populism and liberalism – have equal weight and for this reason it would be wrong to talk of “liberal populism” or “populist liberalism” because either 24 S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), p. 83.
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expression would unbalance the formula one way or the other; the two can be distinguished from a logical point of view but from a concrete historical perspective they are inseparable; they only managed to progress together without diverging because of a third, equally strong but problematic element to be discussed below: namely the conviction that the Italian people were already liberal. Berlusconism resembles an octopus with three tentacles. The head of the octopus is the myth of the “good” civil society and the three tentacles are the “friendly, minimal state”, hypo-politics and the identification of the new virtuous elite. The myth of the “good” civil society and hypo-politics contain both populist and liberal elements, the friendly minimal state is unbalanced on the liberal side and the new virtuous elite is markedly populist. The sanctification of the people, regarded as the depository of all virtues, and the corresponding attack on the elite that has “betrayed” it are typically populist themes. In the case of Berlusconism, however, given Berlusconi’s idea of the people as a diversified and pluralist collection of individuals open to the outside world rather than a homogeneous group with no internal splits and bound together by ethnic, historical and cultural links, the populism is mixed with liberalism.25 Berlusconi’s idea of Italy, to put it otherwise, is “suspended” between the notion of people and that of civil society. On the one hand, Berlusconi’s Italy is an articulate, modern and multiform civil society, made up of autonomous, mature and sociable individuals. It is hypo-political but not anti-political – that is to say, it accepts politics as an expression of disagreement and differing interests but it is hostile to excessive, ideological and polarizing forms of politics, which might introduce “artificial” and non-negotiable divisions. On the other hand, it is a people which, though not conceived of in ethnic or national terms, is regarded as unitary, homogenous and straightforward in its goodness and in its being wedded to certain basic human values. In this sense it is anti-political – tending to reject not just the excesses of politics but politics tout court, since its every form represents an element of division.26 25 There is a vast, stimulating but also somewhat inconclusive literature on populism. Despite many attempts to explain it, it remains an elusive phenomenon (for example: Margaret Canovan: Trust the People! Populism and the Two Faces of Democracy, in: Political Studies 47 (1999), pp. 2–16; Yves Mény / Yves Surel: Par le peuple, pour le peuple. Le populisme et les democraties, Paris 2000; Guy Hermet: Les populismes dans le monde. Une histoire sociologique. XIXe–XXe siècle, Paris 2001; Paul Taggart: Populism, Buckingham/Philadelphia 2002; Pierre-André Taguieff: L’illusion populiste, Paris 2002; Marco Tarchi: L’Italia populista: dal qualunquismo a Beppe Grillo, Bologna 2015). However, scholars agree that the theme of the “good people” as opposed to the “bad elite” is a key part of the definition, and the discussion here is based on this common denominator. 26 See also Baget Bozzo (Forza Italia dopo le ideologie, Ragionpolitica.it, 1 June 2000, http://ragionpolitica.it/testo.15.html): “The center-right is defined that way because the
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Whereas the head and the first two tentacles of the Berlusconi ideological octopus are a mixture of populism and liberalism, the third tentacle – the new elite and a new leader whose virtue is guaranteed because they come from civil society – is largely populist. Liberal theory is naturally anti-monopolistic and supportive of competition at every level; its problem is not to identify an elite but to open up competition between elites. Liberalism’s faith in civil society does not produce a conviction that it is able to express a good political class but that it is able to make the right choice between competing political classes.27 The new political class Berlusconism was proposing, on the contrary, was supposedly virtuous exactly because it was the direct expression of the virtues of civil society. And virtuous elites are designed to rule forever, not to compete and alternate in power. It is not surprising that Berlusconi, though he sometimes referred to the principles of liberal constitutionalism,28 notoriously tried to concentrate power and was critical of institutional checks on his sphere of action. The liberal elements in Berlusconi’s “emulsion” belong to the extreme right of the liberal ideological camp. Liberalisms of any shade believe that a civil society based on individual freedom is able to equip itself more or less spontaneously with a progressive and well-ordered structure. Within this framework, it can be argued that liberals are to be positioned on the left/right axis according to their degree of faith in, and patience with, this process. The liberal right has faith in the virtues of civil society and gives it time to resolve its problems, with the state and politics playing only a marginal role, while the left defines itself as the left, but in reality the twenty-first century party that Forza Italia wishes to be is not covered by this kind of semantics: left and right are spatial terms not conceptual ones. The language of left and right in its normal usage is a language which belongs to the left because it presupposes a social division and is directed at only one side of it. A party like Forza Italia is a political force aimed at all the citizens. In this way FI does not intend just to beat the left, but to go beyond it”. 27 The absolute incompatibility between populism and liberal constitutionalism is shown in William H. Riker: Liberalism Against Populism. A Confrontation Between the Theory of Democracy and the Theory of Social Choice, San Francisco 1982; Y. Mény / Y. Surel, Par le peuple (as in annot. 25), pp. 279–284; P. Taggart, Populism (as in annot. 25), pp. 190f. Many critics have claimed that Berlusconism is a threat to liberal democracy and a modern form of authoritarianism: see for example Vittorio Bufacchi / Simon Burgess: Italy since 1989: Events and Interpretations, Basingstoke/New York 2001; Furio Colombo / Antonio Padellaro: Il libro nero della democrazia. Vivere sotto il governo Berlusconi, Milan 2002; Gianpasquale Santomassimo, ed.: La notte della democrazia italiana. Dal regime fascista al governo Berlusconi, Milan 2003; Paul Ginsborg: Silvio Berlusconi: Television, Power and Patrimony, New York 2004; Nicola Tranfaglia: La resistibile ascesa di Silvio B. Dieci anni alle prese con la corte dei miracoli, Milan 2004; Antonio Gibelli: Berlusconi passato alla storia. L’Italia nell’era della democrazia autoritaria, Rome 2010; Paul Ginsborg / Enrica Asquer, eds.: Berlusconismo. Analisi di un sistema di potere, Rome/Bari 2011. 28 See for instance S. Berlusconi, L’Italia (as in annot. 5), pp. 111 and 280f.
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liberal left is more impatient, attributing much greater importance to the state and to politics.29 This is why Berlusconism, founded on an absolute faith in civil society and the idea of the “friendly state” and hypo-politics, is defined here as far-right liberalism. Berlusconi’s optimism, exaggerated and ridiculous though it may sometimes be, also has liberal features; pessimism and fears about the future are not liberal attributes. All the aspects of Berlusconism classified here as populist can be regarded as belonging to a utopia of immediacy. The term “immediacy” is meant in its current temporal usage, implying that Italian society is perfect in the hereand-now and can be subjected to a liberal program with immediate positive effects. Yet immediacy also means absence of mediation, that is, a rejection of professional politicians who construct unnecessary and parasitic worlds that are alien to the daily life of the man-in-the-street, and faith in the ability of the “people” to manage their own destiny directly.30 From the point of view of Berlusconism, then, the hard core of populism is this utopia of temporal and structural immediacy. We have stated above that liberalism and populism could only co-exist in Berlusconism on the basis of a precise and quite daring premise: that the Italian people was already liberal, that it was able to look after itself and was ready to do so. It was only on this assumption – that is, by postulating not only that the Italians were perfectly able to put up with a liberal program but that it was exactly what they were asking for –, that it became possible to reconcile the idea that the country was fine as it was, and did not need to be changed or re-educated in any way, with a program for the reconstruction of a “friendly state”. Without that postulate the emulsion of liberalism and populism would have exploded. 3. BERLUSCONI’S POLITICS: A HISTORICAL INTERPRETATION Why did millions of Italians find the Berlusconian ideological “octopus” so desirable that they voted for it repeatedly over twenty years? The short answer to this question is: because Berlusconi’s political proposal was the exact opposite of a 150 year-long Italian political tradition that, when he appeared onto the political stage in the mid-1990s, had reached its nadir. Being well aware of the failure of that tradition, the Italians found it reasonable to vote for a man 29 For a more complete and nuanced presentation of this argument, based on a study of the Liberal International, see Giovanni Orsina: La globalizzazione dal volto umano. L’ideologia dell’internazionalismo liberale, 1945–1989, in: Id., ed.: Culture politiche e leadership nell’Europa degli anni Ottanta, Soveria Mannelli 2012, pp. 65–168. 30 On these two meanings of “immediacy” in populism, see G. Hermet, Les populismes, and Y. Mény / Y. Surel, Par le peuple, pp. 73–75 (as in annot. 25).
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who promised to overturn it completely. The following pages will elaborate this short answer into a longer one. It is possible to identify throughout the history of Italy, since the Risorgimento, a strong and continuous thread of – so to speak – corrective and peda gogical approaches to the problem of the relationship between the “legal country” and the “real one”. The liberal elite that unified the country in 1861 was acutely aware of its social, economic and cultural backwardness in comparison with the “models” of modernity provided by Western Europe. This awareness was made all the more intense and painful by the fact that Italy had been at the vanguard of European civilization just a few centuries earlier. Creating an Italian nation-state, for many of those liberals, was not an end in itself, but the precondition for setting the country onto a path of forced and accelerated modernization – so that it would not miss the ever more distant train of progress and escape the fate of Mediterranean misery and stagnation to which it was destined otherwise. The only instruments by which the liberal elite could force and accelerate the modernization of Italy were political in nature (state, public administration, party mobilization, even a revolution) – the underlying and not unjustified assumption being that the legal country was way more advanced and progressive that the real one. This “jacobin” approach was made all the stronger by the addition of the South to the new nation-state. The Mezzogiorno was even more backward, in many cases much more backward than the rest of Italy; thanks to Garibaldi’s Mille expedition it had been politicized by the democrats and had become dangerous to the liberals; and it was unknown and incomprehensible to an elite originating from the Northern and Centre-North regions of the country, with the addition of just a few former exiles from the South. As a consequence the liberals, that were committed to self-government and municipal autonomy in theory, opted for a strongly centralized state, in the French tradition, in practice. From the Risorgimento, this corrective and pedagogical thread aimed at the forced political modernization of a backward country has continued running through Italian history. Of course, it cannot contain the whole of that history, nor can it explain the colossal differences between the liberal, fascist and republican regimes. However, the statist perspective on the relationship between the legal and the real country has had a considerable effect on the 150 years since national unification.31 It is extremely difficult to assess the extent to which this effect has been positive or negative. Historians looking at different phases of Italian history have good reason to argue that it was impossible for the political elites to adopt anything other than a corrective approach.32 Italy has made extraor31 For a complete presentation of this argument see G. Orsina, Berlusconism (as in annot. 3), chapters 1 and 2. 32 See for instance: Alberto Aquarone: Alla ricerca dell’Italia liberale, Naples 1972, for
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dinary progress since unification and those who think that the same or even greater success could have been achieved adopting other approaches must prove their case. Yet arguing that the corrective and pedagogical tradition bore positive fruits, or even that it was “necessary” and there were no real alternatives to it, does not imply that it did not have some serious drawbacks. Without wishing to minimize Italy’s exceptional moral and material growth, it is hard not to recognize that the three political-institutional systems between 1861 and 1992, however different from each other, were all to a great extent failures. In the first place, because they all ended badly – the republican regime better than the liberal one and the fascist one worst of all. In the three regime crises that have occurred during the twentieth century – 1922–1925, 1943–1945, 1992–1994 –, Italians have thrown out political classes overnight whose legitimacy had seemed solid until then. Secondly, because the very same political cultures that had inspired them often declared them to be a failure. Finally, because in the 150 years since unification Italy has still not been able to close down the historical gap between the legal country and the real one: the relationship between the elite and the people is still filled with deep mistrust, as is that between citizens and public institutions,33 so that at the start of the twenty-first century the “Italian question” continues to revolve around the very same issues that concerned it in the nineteenth century. The importance that the corrective and pedagogical approach had in Italian history helps explain why in Italy the liberal tradition has been both weak and peculiar.34 It has been weak because the belief that the country was immature and backward, and political elites should force its modernisation using public instruments, favoured an excess of politics, state and authority to the detriment of individual rights and the autonomy of civil society. That belief also injected a great deal of impatience in Italian history – that is, a conception of time that is at odds with liberalism.35 The Italian liberal tradition has liberal Italy; Pietro Scoppola: La repubblica dei partiti. Profilo storico della democrazia in Italia, 1945–1990, Bologna 1991, for the republican period. 33 Cf. Loredana Sciolla: La sfida dei valori. Rispetto delle regole e rispetto dei diritti in Italia, Bologna 2004. 34 For a general overview of Italian liberalism see Giovanni Orsina: Liberalism and Liberals, in: Mark Gilbert / Erik Jones / Gianfranco Pasquino, eds.: Oxford Handbook of Italian Politics, Oxford/New York, forthcoming. 35 For the role of impatience in Italian history see Guglielmo Ferrero: The Principles of Power: the Great Political Crises of History, New York 1942, p. 249: “National feeling (…) always wanted to push forward with all haste, was constantly impatient with the inevitable inferiorities of the youthful state, never accepted either the long delays in a necessary period of preparation or the momentary checks”. For the importance of patience in liberalism see Lord Acton: “Time is needed to overcome friction and to establish a delicate balance. Therefore it is wanted for liberty, not for absolutism. It is the natural cry of Liberalism” (in George Watson: Lord Acton’s History of Liberty. A
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been peculiar for two reasons connected with each other. On the one hand, Italian liberalism took on a robust jacobin character: it accepted the corrective and pedagogical premises in order to put them at the service of a liberal project – that is, it aimed at re-building Italians into individuals capable of freedom rather than at freeing Italians as they actually were.36 Alternative liberal traditions did of course exist (notably in Northern Italy, and more precisely in Lombardy, where Carlo Cattaneo expressed a form of nineteenth-century radicalism centred on the autonomy of civil society, its positive nature and its ability to progress independently of politically-driven and state-managed projects of correction and re-education), but they were much weaker and were defeated. On the other hand, rebellions against all corrective and pedagogical efforts in the name of individual and social autonomy could also exhibit some liberal characters. The cultural hegemony of corrective approaches, however, implied that those rebellions were incapable to produce a full-fledged and coherent liberal project. They exploited traditional Italian popular sentiments of mistrust and hostility towards public institutions – hardly liberal by themselves – and became mixed up with values and principles that belonged to non-liberal traditions: populist, conservative, reactionary, anarchic, revolutionary.37 The corrective and pedagogical tradition was also relevant in the republican period. The pre-fascist political elite exploited the state in order to correct the country; the fascists used the fascist single party and the state structures that they had tried to fascistise; after 1945 the corrective functions were entrusted to the parties and to the public institutions which the parties were gradually colonising. The early 1960s, with the rise of the new centre-left governing majority including the socialist party, was a watershed period in the post-war era. The centre-left put the party system firmly and finally at the centre of the public sphere while at the same time reiterating its corrective and pedagogical objectives, that Cold War pressures and domestic factors had Study of his Library, with an Edited Text of his History of Liberty Notes, Aldershot 1994, p. 56). 36 Cf. above all Raffaele Romanelli: Il comando impossibile. Stato e società nell’Italia liberale, Bologna 1988. 37 The most important rebellion to corrective projects that also exhibited some liberal characters was the Uomo qualunque (Common man) movement (1944–1948) – possibly Berlusconism’s closest forerunner. For the history of the Uomo qualunque see Sandro Setta: L’uomo qualunque, 1944–1948, Rome/Bari 2005. For a discussion of its liberal elements see Giovanni Orsina’s and Valerio Zanone’s introductions to Guglielmo Giannini: La folla: seimila anni di lotta contro la tirannide, Soveria Mannelli 2002 (Giannini was the movement’s founder and leader, and his “theoretical” book La folla was first published in 1945). Dino Cofrancesco: L’Uomo qualunque. Ragioni e ritardi di un movimento politico sui generis, in: Nuova Storia Contemporanea 16 (2012), p. 37, defines qualunquismo “A plebeian liberalism dressed in populist clothes”.
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made less prominent in the late 1940s and 1950s.38 The parties’ ability to infiltrate the institutions and to control sociopolitical dynamics, both of which had previously been relatively autonomous, became much greater.39 At the same time, the state machine was also expanding fast. In sum, the parties had taken control of a public instrument that was becoming larger, more pervasive and increasingly powerful. Yet the centre-left, by increasing the number of parties in the power-sharing majority, also made it all the more difficult to produce a coherent, long-term government policy.40 In the three decades that followed, the “legal country” thus became increasingly weighed down and less efficient. At the same time, however, it also became less representative of the “real country”. The revival of statist programs since the early 1960s coincided with the most radical social transformation that Italy had ever known. Economic development was not just making Italy a more modern and mature country, it was also becoming more complex and hard to come to grips with. Thus, the renewed corrective ambitions of the parties increased as their powers of representation decreased: the more tightly they squeezed the country, the more the country wriggled its way out of their grasp. Studies of public opinion show clearly that the 1968–1972 period was the first important phase in Italians’ gradual detachment from the parties.41 The processes of political mobilization and ideological polarization taking place during the 1970s can be interpreted in this light, as can the rise of the Radical Party and its use of the referendum, particularly the 1978 referendum on the abolition of public financing of parties, in which 43 % voted in favour despite most of the parties being against. The formation of the new centre-left governing majority in 1962–1964 also moved the Republic’s ideological centre of gravity to the left, giving 38 We have elaborated on this in Giovanni Orsina: L’alternativa liberale: Malagodi e l’opposizione al centrosinistra, Venice 2010. 39 See for example: Franco Chiarenza: Il cavallo morente. Storia della RAI, Milan 2002, and Giulia Guazzaloca: Una e divisibile. La Rai e i partiti negli anni del monopolio pubblico (1954–1975), Florence 2011, on party colonisation of the public broadcasting company; Fabrizio Barca, ed.: Storia del capitalismo italiano dal dopoguerra a oggi, Rome 1997, on party colonisation of public corporations; Gaetano Quagliariello, ed.: La politica dei giovani in Italia (1945–1968), Rome 2005, and Giovanni Orsina / Gaetano Quagliariello, eds.: La crisi del sistema politico italiano e il Sessantotto. Una ricerca di storia orale, Soveria Mannelli 2005, on party control over youth politics. 40 See for instance: Pier Luigi Ballini / Sandro Guerrieri / Antonio Varsori, eds.: Le istituzioni repubblicane dal centrismo al centro-sinistra (1953–1968), Rome 2006; Michele Salvati: Tre pezzi facili sull’Italia. Democrazia, crisi economica, Berlusconi, Bologna 2011. 41 Cf. Marco Maraffi: Per che cosa si è votato il 13 maggio? Le mappe cognitive degli elettori italiani, in: Mario Caciagli / Piergiorgio Corbetta, eds.: Le ragioni dell’elettore: perché ha vinto il centro-destra nelle elezioni italiane del 2001, Bologna 2002, p. 315.
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greater prominence to antifascism as the legitimising basis of the system and, conversely, making anticommunism less relevant. This change deprived a significant section of Italian public opinion of republican legitimacy. That section was politically heterogeneous: while unified by opposition to communism and dislike for the left-wing, radical twist that the centre-left had given to antifascist culture, it was a hodgepodge of neo-fascists of different shades, nationalists, conservatives, right-wing liberals and people who had a weaker ideological identity but were hostile to the excessive power of the parties and their corrective ambitions.42 These people – that we can call “anti-antifascists” – were not deprived of representation: they could vote either for the neo-fascist Movimento Sociale Italiano or for the Liberal Party that opposed the centre-left; or, as most of them did, for the Christian Democracy (DC) as the strongest and safest bulwark against communism. Yet they did not like the DC, that they considered politically ambiguous, too left-wing, statist, power-hungry and corrupt. As conservative journalist Indro Montanelli famously said in the 1976 elections, they voted DC while “holding their noses” – that is to say, without feeling culturally and ideologically represented by it and without granting it real consensus and legitimation. While anti-antifascism began to gain a foothold in the Republic and to carry political weight, it was also a potential source of anti-politics and anti-partyism, not entirely right-wing but certainly not left-wing either, and ready to pounce if the right circumstances should arise. Many of the tendencies that manifested themselves in the 1960s and that we have described above, consolidated and accelerated in the 1980s. In that decade Italians became particularly aware and proud of the extraordinary growth and modernization process begun in the 1950s.43 Political parties found it ever more difficult to represent and govern such a protean society. Yet party colonisation of public institutions and the overall weight of those institutions on society increased.44 Letting public debt grow became the only way to satisfy the needs of parties and their clienteles, and to maintain bloated public institutions without overtaxing the country. All this made the traditional corrective and pedagogical way to approach the Italian question, based as it was on the assumption that the “legal country” was better than the “real one” and entitled to force it, ever less plausible. Ironically, parties and politicians themselves contributed to making that approach even more implausible. Since the late 1970s some of them began claiming that Italian politics and institutions were outdated and needed reform, yet they were incapable to provide them with a new legitimacy by ac42 For an introduction to the Italian “plural right” of the republican period cf. Giovanni Orsina, ed.: Storia delle destre nell’Italia repubblicana, Soveria Mannelli 2014. 43 Cf. M. Gervasoni, Storia d’Italia (as in annot. 4). 44 See for example Maurizio Cotta / Pierangelo Isernia, eds.: Il gigante dai piedi di argilla. La crisi del regime partitocratico in Italia, Bologna 1996.
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tually reforming them. At the same time, sections and politicians of various parties – the socialists, the Christian democrats, the radicals, the communists – contributed building a mythical image of Italian civil society by arguing that it was a repository of positive energies and the only hope for the muchneeded renewal of politics.45 The collapse of the Italian party system determined by the initiatives of the judiciary between 1992 and 1994 brought this process to completion: the unearthing of diffuse political corruption and a gigantic mechanism for the illegal financing of political parties provided the final demonstration that the legal country was by no means better than the real one. It also opened up a huge gap at the centre of the Italian public sphere. Berlusconi’s political success follows naturally from this story. The judicial initiatives of 1992–1994 destroyed all the parties that had governed until then: liberals, Christian democrats, socialists, social-democrats and republicans. Millions of centre, centre-right and centre-left voters lost their traditional political representatives overnight, and were worried and angered at the idea that Italy should be governed by the only large party that had survived, the post-communist Partito Democratico della Sinistra. Many of those voters harboured anti-antifascist sentiments: they were particularly hostile to post-communists, which they thought had neither detached themselves from the communist legacy nor relinquished their communist mentality, and sensitive to right-wing and antipolitical battle-cries. Public opinion was disillusioned with politics; thought that positive energies for a new start could only come from civil society; looked at public institutions as a problem not a solution; believed that political elites had lost any right to pretend that they were better than the “real country” and should correct it. Thanks to his visibility, charisma, money, and televisions, Berlusconi could reach those voters and offer himself as their new representative. He told them that he could stop the post-communists. He promised them that he would channel the positive energies of civil society, put an end to all attempts to correct the Italians, roll back the state, reduce the excess of politics, build a new political class out of successful entrepreneurs and professionals. He was not ashamed to declare himself right-wing. With hindsight, one is bound to conclude that it would have been very surprising indeed if he had not met with political success.
45 Alfio Mastropaolo has commented a great deal on this: Antipolitica. All’origine della crisi italiana, Naples 2000; Id.: Italie: quand la politique invente la société civile, in: Revue française de science politique 51 (2001), pp. 621–636; Id.: A Democracy Bereft of Parties: Anti-Political Uses of Civil Society in Italy, in: Bruno Jobert / Beate Kohler-Koch, eds.: Changing Images of Civil Society. From Protest to Governance, London/New York 2008, pp. 32–46. See also Salvatore Lupo: Il mito della società civile. Retoriche antipolitiche nella crisi della democrazia italiana, in: Meridiana 38/39 (2000), pp. 17–38.
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Electoral studies attest to the plausibility of this historical interpretation of Berlusconism.46 They demonstrate that, while leadership, charisma and communication are undoubtedly important in explaining Berlusconism, its political content is also crucial. The Berlusconi electorate voted for him to a significant extent because they were interested in his political programme. They also showed a relatively consistent ideological profile made of anticommunism, right-wing values and economic liberalism. Moreover, electoral studies lend credibility to the argument that has been put forward here – that Berlusconism has its origins in the gulf between public institutions and civil society. They do this in the three following ways. Firstly, they point out the division between public employees and the self-employed as the most important socio-economic determinant of electoral choices. Consistently since 1994, the self-employed have tended to vote for Berlusconi and the public employees against him: on the one hand those who believed that civil society should be given greater autonomy and the public debt amassed in the 1980s be repaid by reducing the cost and weight of the state; on the other those who wanted to uphold the primacy of the state and proposed that the public debt be repaid by extracting more resources from civil society. Secondly, electoral studies demonstrate that on average Berlusconi voters have both a lower level of confidence in public institutions and a lower interest for, competence in and commitment to politics than other voters. In the last twenty years the Italian political arena – as we have already noticed in the introduction of this essay – has been divided not only by the left-right cleavage but also by the different relevance that competing groups have attributed to politics: Berlusconi voters were less “political” than non-Berlusconi voters (even when compared to those who voted for Berlusconi’s allies such as Alleanza Nazionale), and subsequently in a better position to appreciate Berlusconi’s insistence on the virtues of the people/civil society. Thirdly, research shows that the most significant correlation between television-watching and electoral choices links the Berlusconi vote with the preference for his network (Mediaset) and the left-wing vote with the pref46 Our arguments here are based on the following studies: Stefano Bartolini / Roberto D’Alimonte, eds.: Maggioritario ma non troppo. Le elezioni politiche del 1994, Bologna 1995; Roberto D’Alimonte / Stefano Bartolini, eds.: Maggioritario per caso. Le elezioni politiche del 1996, Bologna 1997; ITANES (Italian National Elections Studies): Perché ha vinto il centro-destra, Bologna 2001; Roberto D’Alimonte / Stefano Bartolini, eds.: Maggioritario finalmente? La transizione elettorale 1994–2001, Bologna 2002; ITANES: Dov’è la vittoria? Il voto del 2006 raccontato dagli italiani, Bologna 2006; ITANES: Sinistra e destra. Le radici psicologiche della differenza politica, Bologna 2006; Roberto D’Alimonte / Alessandro Chiaramonte, eds.: Proporzionale ma non solo. Le elezioni politiche del 2006, Bologna 2007; ITANES: Il ritorno di Berlusconi. Vincitori e vinti nelle elezioni del 2008, Bologna 2008; Roberto D’Alimonte / Alessandro Chiaramonte, eds., Proporzionale se vi pare. Le elezioni politiche del 2008, Bologna 2010.
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erence for the public network (RAI). Scholars tend to rule out the simple explanation that those who watch Berlusconi’s televisions are conditioned by his propaganda and vote for him. The link between television-watching and electoral choices seems to work both ways: the preference for Mediaset and the decision to vote for Berlusconi, as well as the preference for RAI and the decision not to vote for him, are both dependent on the viewer/voter’s more general value-system. That is, once again, on his/her confidence in a public television that is under heavy political control, is financed in public ways, gives great prominence to domestic politics and has been traditionally thought of as an instrument for correcting and re-educating an immature country – for “bringing the Italians out of the jungle”.47 Or, vice versa, on the viewer/ voter’s confidence in a commercial television that lives off advertisements, confines domestic politics to the margins, and above all has never harboured any explicit pretence to correct the Italians. 4. THE FAILURE OF CIVIL SOCIETY Berlusconi did not achieve what he had promised that he would achieve. The concluding months of his longest period in government – from 2001 until 2006 – represent a turning point in his political adventure: his voters are unhappy with him and disillusioned about the possibility that he set the relationship between the “legal country” and the “real one” on a new footing. His own rhetoric in the 2006 election campaign mirrors that disillusionment: he is more intent on stressing his past achievements, justifying his past shortcomings and attacking the left than on envisaging future actions and reforms.48 While this is certainly not the place for assessing Berlusconi’s performance in government and accounting for his failure – if failure it really was –, by way of conclusion we can point out one major contradiction in the politics of Berlusconism that we have described in the preceding pages. In section 2 we have commented on the ambiguous coexistence of populist and liberal elements in Berlusconism, arguing that they could live side by side only thanks to the premise that the Italian people was already liberal. Yet the idea that Italian society was ready to manage on its own and was asking for liberal recipes was largely a fiction, for three reasons. That premise, in the first place, was based on a geographically biased image of the country. Berlusconi’s political proposal could only have arisen in Lombardy – and more 47 This phrase (literally translated as “getting the Italians down from the trees”) is attributed to Ettore Bernabei, director general of the RAI from 1961 to 1974 (quoted in Jérôme Bourdon: Du service public à la télé-réalité. Une histoire culturelle des télévisions européennes 1950–2010, Bry-sur-Marne 2011, p. 321). 48 See the speeches reproduced in: Silvio Berlusconi: Verso il partito della libertà: l’identità, i valori, il progetto, Milan 2006.
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precisely in the area of Lombardy called Brianza – because Lombardy, more than any other region of Italy, is characterized by a lively, enterprising and organized civil society that is convinced it would do equally well, if not better, with less state intervention. It is well known, however, that civil society elsewhere in Italy is not as lively, enterprising and organized as it is in Lombardy. Yet Berlusconi’s approach to the long-standing problem of Southern Italy, the Mezzogiorno, was not different from his approach to Italy as a whole: “Our duty is to free up these spontaneous forces in the South that want to get ahead, that haven’t given up and that struggle every day in a hostile environment”.49 Secondly, the argument that Italian society was already liberal was difficult to maintain due to more general, long-standing reasons, which Berlusconism had been able to ignore in the second half of the 1990s when in opposition but could not ignore when in government. After 150 years of “statist correction” Italy had had its fill of state intervention. The country had been held back and angered by the state, but it had also been supported and subsidized by it. The relationship between public and private interests, the desire for freedom and the desire for protection and conservation of privilege had become a Gordian knot that could not be unraveled. Berlusconian populism, which was basically conservative, was obliged to take the expression “accept the country as it is” at face value: whatever its actual condition, Italy should not be forced to change in any way. Berlusconian liberalism, on the other hand, which was basically revolutionary, felt that “the country as it is” meant “as it would ‘naturally’ have been if state intervention had not ‘artificially’ distorted and corrupted it”, and that the state should therefore be dismantled. This would be an extremely painful process because the state apparatus had penetrated so deeply into society that it was difficult to eradicate, particularly if one did not want the country to suffer and wanted to maintain its electoral support at the same time. Reform would be costly in the short term and results could only be achieved over the long term. Italians had to be persuaded to be patient and accept that they would grieve now in order to be rewarded later, and this would require vast political resources, including pedagogical ones, and a lot of political mediation. That is to say, this clashed head-on with the “utopia of immediacy” that we have identified as the kernel of Berlusconi’s populism. Finally, the premise that Italy was liberal became all the more fictitious the further away the country drifted from the optimism of the 1980s and the closer it came to the twenty-first century, the pessimistic aftermath of 9/11 and the pending economic crisis. After the successes of the 1980s and 1990s, on the eve of the new century liberal culture entered a period of decline in Italy. 49 S. Berlusconi, Discorsi (as in annot. 8), p. 279 (closing speech after the first FI congress, Milan, 18 April 1998). It is of some significance that Berlusconi’s speeches published in the various books being cited here were all made in Rome or north of Rome, and that the Southern question does not represent a prominent element in them.
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Vast swathes of public opinion were no longer optimistic about globalization, that they considered not as an opportunity to be seized, but as a threat they needed to defend themselves against.50 It was no accident that from the late 1990s Berlusconism, following its “people”, started to tone down its liberalism. This, however, was not enough for it to resolve its internal contradictions, because the ideas of the friendly state and the minimal state were a crucial part of Berlusconi’s political presence and a unifying factor between his policy and his biography. The ambiguity between the populist and liberal elements of Berlusconism was therefore bound to remain. While it was extremely helpful in the ballot box, it should be considered one of the main factors of its relative failure as a governing force.
50 Cf. P. Ginsborg, Berlusconi (as in annot. 27), p. 160; Marc Lazar: L’Italia sul filo del rasoio, Milan 2009, pp. 96f.
POLISH (AND CENTRAL EUROPEAN) LIBERALISM: A “CONTINENTAL” OR AN “ANGLO-SAXON” MODEL? Maciej Janowski 1. THE TWO MODELS For some years now scholars have been taking note of the “non-classical” forms of liberalism. This development raises hopes for more a nuanced understanding of one of the most important intellectual currents in the past two centuries. As a crude approximation, one can start by discerning the classical English and the Continental models, and then perhaps proceed with more detailed analysis. Is Polish liberalism more “Anglo-Saxon” or “Continental”? Much depends of course on how we understand the notions that are as unclear as any concepts we may encounter in the history of ideas. For present purposes let us assume, quite arbitrarily and without attempts at justification, that “Anglo-Saxon” stands for “free-market” and “continental” stands for “statist”, and that between these poles there is a continuum rather than a sharp divide. This is easier to assume for the nineteenth than the twentieth century, and easier for British than for American liberalism. What is more, this approach bypasses certain first-rate thinkers that do not fit this categorization. Still, it may serve as a first approximation. Where is, then, the place of the Polish liberalism along this continuum? One classic text on relations between the European centre and periphery, more than fifty years after it was written, seems to shed much light on the problem, although it does not mention, let alone discuss, the Polish case. Alexander Gerschenkron in his essay “Economic Backwardness in Historical Perspective“1 has constructed a general scheme of the European modernization. To put it roughly, the necessity of external push grows in proportion to the level of backwardness, and in Europe that means that this external push is most needed in the East of the continent. Whereas in Britain industrialization took place spontaneously, in France the industrial ideology of Saint-Simon was needed. Further to the East, in the Germanic countries, even stronger leverage was necessary and the banks were 1
Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective, in: Id.: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge, MA, pp. 5–30.
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the main instrument to finance capitalist development. Finally, in the Russian Empire, the state had to initiate the whole movement by its direct intervention. Gerschenkron does not deal primarily with ideologies (although he stresses the role of Saint-Simonism as an ideology of industrialization in France). This is not the place to inquire whether Gerschenkron’s scheme of economic modernization passes empirical verification. As an initial interpretative framework it can be applied to theories of modernization as well as to modernization as such; the more difficult the process of “take-off” appeared to be, the more tempting were the statist ideas. As a general framework it helps, I believe, to explain one of the central features of liberalism on the European periphery and to place the Polish case within the broader structure of European ideas. It does not, naturally enough, give justice to the peculiarities of time and place; it is these peculiarities that give the flavour and that are usually the most interesting. 2. FROM THE 1980s TO THE PRESENT: THE RISE AND FALL OF MODERN POLISH LIBERALISM If we start with a bird’s-eye view of the story of the last three decades, we see, by and large, the following picture. In the 1980s the popularity of economic liberalism was growing among the younger generation of the intelligentsia as a reaction to the more and more visible economic collapse of communism. The stress on both individual human rights and individual economic initiative was understandable as a way of anti-communist self-definition. The stream was mainly intellectual, and in the situation of lack of open political parties it could go very well with anti-communist patriotic enthusiasm. The hope that Ronald Reagan’s USA and Margaret Thatcher’s Britain would prove to be the destroyers of the Soviet empire generated enthusiasm for foreign as well as domestic politics of both Anglo-Saxon countries. After 1989 it was generally accepted that liberal economics is the most obvious alternative to the former centrally commanded economics. The ground for this was being prepared some time earlier. Among the persons who did most to elaborate and propagate the ideas of economic liberalism the most interesting was perhaps the journalist, author and composer Stefan Kisielewski (1911–1991). For decades, whenever the censorship allowed during the various thaws and liberalizations of the regime, Kisielewski attempted, first of all in his column in the Cracow Catholic weekly “Tygodnik Powszechny”, to defend and propagate the ideas of liberal economics and to attack, in various guises, the existing state socialism. The “carnival of liberty” in 1980/81, when the Communist authorities were forced by a wave of strikes to legalize the Solidarity trade union, opened in Poland possibilities of relatively free expression of opinions (which lasted until the introduction of
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martial law in December 1981). Kisielewski was among the first to criticize both the trade-unionist and social-democratic ideas of parts of the opposition and the official ideas of command economy. He continued in the 1980s, especially in the second half of the decade, as censorship became more permissive. His witty, ironic texts, often conveying very serious thoughts in the form of seemingly pure-nonsensical humour, were widely read and discussed.2 In the debates of the 1980s the questions of social and cultural liberalism were mentioned only marginally. They became more important in the 1990s where the problem of the position of the Roman Catholic Church and its role in politics came to the centre of the public dispute. At the same time, the governments of the 1990s were more or less pursuing the economic politics started in 1989. The change in mental attitudes came around the year 2000 and was connected with the general pan-European (and not only Polish) turn toward the right, and the growth of popularity of more or less radical forms of nationalism. At the same time, socialist ideas were being resurrected, whose most important manifestation is the milieu around the journal “Krytyka polityczna” led by Sławomir Sierakowski and sharply criticising both the liberals and the right. This marked an important shift in intellectual atmosphere. In the 1990s one could perhaps discern a sort of liberal consensus among the intellectual and political elites. The reforms of Leszek Balcerowicz, supported from the United States by the authority of Jeffrey Sachs, had an air of something inevi table – of a recent recipe from the West, which only the ignorant can oppose and which provides the only chance of overcoming the dramatic mess produced by the less and less viable communist economic system. This consensus was never complete and was often accepted faute de mieux rather than from internal conviction. Such as it was, it started to fragment in the early 2000s. It should be noted that this was already happening in the midst of economic prosperity, before the great economic crisis of 2008/2009. With this transformation, Polish liberalism, so far as it continued to exist, changed its field of interests and its vocabulary. Its interests moved from problems of economics and politics to social and moral problems; state intervention in economic life was now seen as a necessity for redressing social and economic inequalities. In the past decade a type of discourse has appeared in which the problems of “classical” liberalism are not central. What dominates are questions of sexual minorities, of the place of religion in public life, of problems of social discrimination, criticism of national myths, growing popularity of feminist discourse. The intolerant attitudes of various segments 2
More than 1500 feuilletons published by Kisielewski in “Tygodnik Powszechny” between 1945 and 1953 and later between 1956 and 1991 (and signed by pen-name Kisiel) never appeared in a collected edition. There are numerous selections available, e. g. Stefan Kisielewski: Rzeczy małe, Warszawa 1956, and Id.: Lata pozłacane, lata szare. Wybór felietonów z lat 1945–1987, Kraków 1989.
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of the public opinion are in this perspective much more dangerous than oppression by the state. It is, in the last resort, a matter of interpretative framework, whether this discourse is best included in a history of liberal thought or whether it should not be qualified as a broader centre-leftist cultural and politi cal discourse that encompasses certain points of liberal thought but cannot be treated just as an element of liberal tradition. The classification is all the more unclear, since no political party today, as opposed to the 1990s, acknowledges liberal principles in its name or programme. The Union of Liberty, led by Tadeusz Mazowiecki and later by Leszek Balcerowicz, and one of the most important political parties of the 1990s, sank into oblivion in the first years of the 21st century. The Liberal Democratic Congress, led by Jan Krzysztof Bielecki, Donald Tusk and others, after various mutations, became one of the founding pillars of the Civic Platform which does not appeal to liberal ideas anymore, being fearful of their unpopularity in society. Thus today we may identify various more or less loose and more or less liberal circles, rather than a single unequivocal formalized liberal voice. “Przegląd polityczny”, a serious theoretical quarterly journal devoted to politics and culture, started under the auspices of the then Kongres Liberalno-Demokratyczny, and various people connected with that party are still present on its advisory board. It now belongs to the most important intellectual periodicals in Poland, broadly covering various cultural and political matters. However, it is hardly justified to call it “liberal” except in a broadest sense. More self-asserting are two periodicals, “Kultura liberalna” and “Liberté”, two recent intellectual manifestations of liberalism – mainly “cultural”. Another important feature of “continental” liberalism, i. e. anticlericalism, also plays a more and more prominent part: with the growth of controversies about the role of the Catholic Church in society, positions polarise and the problem of the place of religion in the public sphere becomes more and more central. The growth of disillusionment with economic liberalism expressed itself in various forms. Andrzej Walicki, one of the best Polish historians of ideas, and an eminent participant in various polemics on current political and cultural matters, has put his immense intellectual authority on the scales many times, arguing for the social form of liberalism, renouncing entirely the ideas of laissez faire. In one of his recent texts3 he attempted to draw a pedigree to this sort of liberalism, claiming that radical free-market ideology was, in fact, rather a marginal thread in the great tradition of the European liberalism. In his opinion, it is John Stuart Mill rather than Herbert Spencer who stays at the roots of the modern liberal way of thinking. His argument is as follows: Mill’s liberalism is basically about liberation of man in every sphere of life, and economy is just one aspect among many. In this, Mill is the heir of En3
Andrzej Walicki: Neoliberalna kontrrewolucja, “Gazeta Wyborcza”, 30 Nov./1 Dec. 2013, pp. 30f.
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lightenment rationalism. By contrast, Spencer’s laissez-faire ideology comes from a very different tradition of thinking. According to Walicki it originates in Christian Protestant utopianism and presents a secularised vision of salvation – a world in which the free market plays the role of Providence. Such a semi-religious ideological belief has as little in common with science as did the communist utopia, which also claimed for itself the status of objective scientific truth. It is a mistake due to the Austrian School of economics to believe that free-market economics is a scientific truth. Walicki’s text is directed notably against the ideas of Leszek Balcerowicz as the leading architect of the economic reforms after 1989. In recent years Balcerowicz has spoken out many times in defence of “classical” free-market liberalism and recently has published an anthology of classical economic thought,4 which was the immediate motive for Walicki’s polemic. Many times he has reminded us, in the Hayekian tradition, of the interplay of economic and political freedom. At the same time, one can easily notice that there is a difference between Hayek and Balcerowicz in their criticism of socialism.5 Hayek’s anti-socialist argument is based upon pessimism: we do not know exactly how such a system as complicated as society operates, therefore we should be very careful in trying to influence it, since our interference may bring about results opposite to those desired. The title of a late book by Hayek, “The fatal conceit”, summarises well his way of thinking. Balcerowicz, by contrast, is more optimistic about the possibilities of economics as a science. In his view, economic science has positively proven that liberal economic politics brings better results than state interventionism. Reforms that liberalise the economy – he wrote – are in fact part of “an elementary schoolbook, [i. e. obvious and commonsensical] as is proven by researches and by experience. The mutiny against the elementary schoolbook comes from vested interests”, or from ignorance.6 Balcerowicz’s economic liberalism grows from optimistic belief in the possibility of understanding the mechanisms of economic processes rather than from a sceptical stance toward such belief. Clearly, between the 1990s and the second decade of the 21st century Polish liberalism not only lost much of its earlier attraction but also transformed itself from “classical” economic to cultural.
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Leszek Balcerowicz, ed.: Odkrywając wolność. Przeciw zniewoleniu umysłów, Poznań 2012. This was noticed en passant by journalist Rafał Woś in his review of the Polish translation of one of Hayek’s books: cf. Rafał Woś: Przewrotny morał z lektury F. A. Hayeka, “Dziennik Gazeta Prawna”, 10 May 2013, Internet: http://forsal.pl/artykuly/703172, przewrotny_moral_z_lektury_f_a_hayeka_recenzja_ksiazki_naduzycie_rozumu.html, accessed 21 February 2014. Leszek Balcerowicz: Walka o elementarz, http://www.balcerowicz.pl/pliki/artykuly/25_walka_o_elementarz.pdf , accessed 11 March 2014.
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3. LONG-TERM PERSPECTIVES. At this point, a historian of the 19th century like myself starts to notice something familiar. After all, this kind of transformation was not the only one throughout the history of the Polish liberal thought. Aren’t there certain longterm general patterns in the transformation of ideas? A few points deserve attention here.7 a) The lack of clear-cut liberal groupings, mentioned above, seems to be a traditional element of the history of the Polish liberal thought. With some exceptions (notably a liberal opposition in a short period after 1818, a liberal-democratic grouping in Austrian Poland in the late 19th century, and some groupings at the turn of the 1980s and 1990s), there was hardly any political group that would call itself liberal. Polish liberalism is thus always partially a construct of the researcher. The recent situation, as presented above, is hardly unique. b) The interchange of “classical English” and “continental” liberalism patterns. Now it is time to complicate the simple scheme of Gerschenkron (i. e., the more to the East in Europe, the stronger the necessity of active state economic politics). One could probably notice a certain sequence in which the popularity of “classical” liberalism concentrated on liberal economics and individual “negative liberty” gives way to a more “social” liberalism concentrated on fighting traditional morality and defying the tyranny of the public opinion rather than the tyranny of the state. One could perhaps risk a generalization that “classical” liberalism in Poland develops best when two conditions are fulfilled: when it is a tool of the opposition and when its proponents have no possibility to engage in practical politics. Thus, one could look for etatist Enlightenment modernizing tendencies as a proto-liberalism of sorts. In the same way as Austrian or German liberals were looking at the enlightened-absolutist reforms of Joseph II or Frederick the Great as predecessors of Austrian and German liberalism, the Polish liberal tradition through the 19th century and later was looking back to the years of King Stanislaus Augustus, a contemporary of Frederick and Joseph (ruled from 1764 to 1795). What was to become, in the eyes of the royalists, a “new Augustan age”, ended with the catastrophe of the final partition of Poland/ Lithuania in 1795. Before that happened, however, the King together with some members of the nobility and of the nascent (proto-)intelligentsia as well as the enlightened part of the clergy (notably members of teaching orders, Pi7
I elaborated the history of 19th century Polish liberalism in: Maciej Janowski: Polish Liberal Thought until 1918, Budapest 2004. For a different interpretation cf. Włodzimierz Bernacki: Liberalizm polski 1815–1939. Studium doktryny politycznej, Krakow 2004.
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arists and [ex-]Jesuits) envisaged a plan of modernizing reforms, culminating in the Constitution of 3rd of May 1791. In the conditions of a decentralized “republic of the gentry” any modernizing attempt had to be a centralist one, attempting to build a strong power centre and conduct reforms from above. In the Napoleonic period, the same enlightened activists, now a decade older, accepted with enthusiasm the French-type centralization imposed in the Duchy of Warsaw, a small state created by Napoleon at the Treaty of Tilsit (1807). The Duchy developed a bureaucratic system of government based on French and partially Prussian musters. Somehow counter-intuitively, this system was seen by the adherents of the new order not only as a modernizing but also as a liberating force. It destroyed the fetters of the old system, liberating the tradesmen and artisans from the guilds, introducing legal equality, abolishing personal dependence of peasantry (without endowing the peasants with full property of land, so the duty of labour on the landlord’s lands was retained); it even introduced civil marriages, although it had to withdraw from it due to the Church’s resistance. Thus, the main enemy of individual liberty is not the state but remnants of feudalism – i. e. the estate system which ascribes different legal status to various groups of population as well as the preponderance of secular and ecclesiastical lords who keep the majority of the population in legal and economic dependency. The state, weakening the position of those old elites, is in the eyes of the Enlightenment era reformers an ally of individual liberty – not an enemy, as Herbert Spencer believed. The concept of “liberal” in the Polish language gradually transforms its meaning from “broad”, “educated” (as in Latin artes liberales) through “tolerant” to clearly political meaning, which it acquires between 1815 and 1820. A different liberalism appears after 1815 – more “classical” if we insist on using this term. At the Congress of Vienna in 1815 the former Duchy of Warsaw, diminished mainly in favour of Prussia, was reorganized as the so called Polish Kingdom, under the rule of the Russian emperor as a Polish king, with separate state institutions such as army, administration, and – most important from the point of view of political thought – the diet. The separate status of the Kingdom was much diminished in 1832 (after a lost Polish uprising of 1831) and abolished through the late 1860s (after another lost uprising in 1863/64). Initially, after 1815, it created space for relatively free political debates. This space was diminished by introduction of preventive censorship in 1820, but not abolished through the 1820s, and in 1831, during the uprising a temporary abolishment of censorship once again permitted free expression of political opinions. The diet, which gathered four times (1818, 1820, 1825, 1830/31) had limited legislative competence and no possibilities of influencing the executive (besides, the elections after 1818 were rigged). The liberal opposition at the diet was composed of the landed gentry from the region of Kalisz (close to the then-Prussian border) and formed an excellent example of the liberal nobility,
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interested mainly in retaining independence from the central government and in gradual modernization of the agrarian economy (without, however, immediately abolishing serfdom). In this context, it is important that they were very well read in recent Western, mainly French (Benjamin Constant) but also British and German political literature. There was also a group of Warsaw intelligentsia, publishing in the first years after 1815 (before censorship) liberal newspapers and sympathising with the above gentry group. Thus, two very different groups, a rather traditional gentry and a very occidentalist intelligentsia (often, but not exclusively, with gentry roots) formed a sort of common front of liberal opposition. Oppositional liberalism of nobility is of course a phenomenon that appears in various countries. Hungarian oppositional nobility in the 1840s (before the 1848/49 Revolution) would be an obvious candidate for a comparative study. In both cases it was not just an instinctive resistance of “feudal” stratum against the governmental attempts at centralization; it had a deeper ideological basis in contemporary Western liberal ideas. One of the leaders of the Kalisz group actually translated some works of Benjamin Constant and published them in Warsaw in 1831, during a short insurrectionary period when censorship was abolished. The ideas of constitutional monarchy could be interpreted in a way that resonated well with the nobility’s resistance against the royal power. Similarly, the gentry politicians reading Adam Smith took from him the idea that the state should not intervene in economic life – i. e. in the relations between manor and peasants. In Hungary the case was somehow different as the gentry liberalism with time became more and more etatist. This comparison, however, cannot be undertaken here Let us pass quickly over the 1830s and 1840s, a period dominated by Romantic messianism in Polish culture. Radical democratism with strong chiliastic element, aiming at nothing less than total transformation of the whole world and at universal moral regeneration, was not impressed by attempts at partial and gradual amelioration, as preached by the liberals. The centre of Polish Romantic thought was in Paris, with the poets Adam Mickiewicz, Zygmunt Krasiński and Juliusz Słowacki, as well as thousands of émigrés after the 1831 uprising. Liberal politics was already there, in the French “July Monarchy”, and the Polish emigrants considered it barren, base and devoid of higher ideas. There were liberal threads among various authors and groups, both on the right and left side of the “Great Emigration”, but there was no system of thought that could be classified as a variant of liberalism. Some interesting ideas close to liberalism were developed by two Hegelian philosophers from Prussian Poland, August Cieszkowski and Karol Libelt. Cieszkowski’s place in European philosophy is determined by his association of the concept of “act” with Hegelian philosophy, thus preparing ground for the Marxist idea of praxis. In the Polish context the importance of both Cieszkowski and Libelt lies mainly in the fact that they both tried to
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connect the romantic philosophy with a gradualist approach in political and social reforms. In general, however the mental atmosphere of Romanticism favoured “great” ideas rather than everyday virtues. Important intellectual developments took place in Warsaw at the turn of 1850s and 1860s, under the conditions of a general political liberalization after the death of Russian Emperor Nicholas I in 1855. Debates abounded in press and in social life, initially on purely socioeconomic questions, then on more and more politicised ones. This movement of ideas was broken by the repressions after the uprising of 1863/64.8 And here the story becomes really interesting. Paradoxically, the period of strong repressions in late 1860s and 1870s witnessed also a growth of liberal thought (this situation may bear certain analogies to the blossoming popularity of liberal ideas among many intellectuals during the last decade of communism in the 1980s after the introduction of martial law). Thus, it may be argued that the most “Anglo-Saxon” form of Polish liberalism was the so called “Warsaw positivism” that appeared in Russian Poland at the turn of the 1860s and 1870s. It combined the stress on individual liberty with reception of most recent British political philosophy, elements of utilitarianism and, most of all, an unqualified protest against gentry domination of Polish culture. It believed that individual activities are the surest form of individual and social well-being; therefore the most that can be demanded from a state is not to obstruct individuals. It believed that society should develop from below, by voluntary associations. It hoped that economic growth may, in due course, solve the existing social problems, such as the Jewish or peasant question, better than a private or public philanthropy. Thoroughly secular, its proponents hoped for a limited co-operation of the Catholic Church in the field of enlightening the peasants, but did not see religion as important element of national identity. As mentioned, all these classically liberal ideas developed in a situation of strong Russification of the public life after the defeat of the insurrection of 1863. Under the heavy repressions between the 1860s and 1890s no legally allowed collective action was possible. The press was not allowed to discuss matters of current politics. Thus, we may say, the classical liberalism was, in a certain measure, an effect of impossibility of any practical activity. If no compromise is likely to allow one to join the practical politics, then one may allow oneself to be an impeccable liberal. The Warsaw positivists could not act, only write, and they could write either on every-day matters or on abstract theories of politics but not on politics as it was played in the Russian Empire of their days. It should be also noted that there is a subtle difference between Herbert Spencer and his admirers from Warsaw. Spencer wanted to limit the scope 8
Cf. on these debates Jerzy Jedlicki: The Vicious Circle 1831–1864. A History of the Polish Intelligentsia, part 2, Frankfurt/M. 2014, pp. 211–282.
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of activities of the British state, i. e. of a state that he obviously considered his own, whereas the Warsaw positivists wanted to limit the scope of a state they considered alien, i. e. the Russian state. Would they behave in a similar way if they had a state at their disposal? Difficult to say, as most of them did not live long enough to see Polish independence in 1918, and those who did naturally changed their opinions through the decades. Nevertheless many of them abandoned their anti-etatism in 1905, when the Russian revolution gave them hope that a democratized Russian state might be induced to undertake measures that would benefit its Polish subjects. So, the most classically liberal stream of Polish liberalism was born precisely at the moment (and precisely for the reasons) when the strongest repressions and lack of possibilities for any political action prevailed. Nevertheless, from the view of intellectual history it was a remarkable achievement. After all, repression does not always result in the growth of liberal thought. Whereas the Russian intelligentsia, not being able to secure state jobs, turned to socialism, the Polish intelligentsia under similar conditions turned towards classical liberalism. This difference is interesting and, as far as I know, not yet analysed in depth.9 Warsaw positivism declined in the 1880s and 1890s, as European positivism in general fell into crisis. The new generation of liberals, or post-liberals, active in the first years of the 20th century (notably after the 1905 revolution in Russia) were more sympathetic to socialist ideals than the positivists, and more eager to secure the help of the state in modernization. For many of them secularization of the public life and cultural transformation were more central issues than “classical” liberal problems of economics and politics. This evolution from Warsaw positivism to various broadly “liberal”, “progressivist” and “radical” groups seems to display numerous analogies with the transformation of Polish liberalism in the early 21st century. c) The constructivist element within the liberal thought. This problem was already hinted when the scheme of Alexander Gerschenkron was mentioned. Jerzy Szacki has noticed that Polish liberalism after 1989 faced the paradoxical task of building the institutional fundaments of a state, in spite of its professed anti-statist attitude.10 Mutatis mutandis, this was also the problem of liberal movements in the 19th century, where the individualist and libertarian aspect of the doctrine was more than once put on trial when it was clear that the modernizing effort is hopeless without strong state engagement. The most interesting element of the doctrine of Warsaw positivism is the idea of so-called organic work. The phrase was introduced in the early 1840s 9
But cf. Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006. 10 Cf. Jerzy Szacki: Liberalism after communism, Budapest 1995.
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in Prussian Poland (Grand Duchy of Posen) and the idea is, as is usually accepted by historians, older still. The main point is that local and decentralized activities should be made into the common good, understood in an economic, educational, and social-emancipatory sense. Thus, if we cannot assert the political independence of the country, we should strengthen its inner forces. The thread becomes more and more common (although still without the name of “organic work”) in the second half of the 18th century, as the danger of political collapse lingers more and more clearly. Were we to look for its intellectual genesis, we should perhaps look closer at the neo-Stoic ideas that formed so important a part of the Enlightenment frame of mind. This, however, does not concern us here. There is nonetheless much more in the idea of organic work than just “striving toward independence” by non-violent means (this definition was used in 1931 by one of the classics of Polish historiography, Michał Bobrzyński, and has been repeated more than once). The Warsaw positivists provided it with deeper theoretical justification. Society can only function if it develops organically, that is, when all the members develop in harmony. Therefore it is especially necessary to turn attention to the development of the lower strata of the society, where the people suffer poverty and ignorance, unable to develop normally (“normally” for the Warsaw positivists means always “in the Western way”, or rather “in the idealized Western way”). The organicism of the Warsaw positivists, it should be noted, is a democratic one. It differs much from the classical, conservative use of the organic metaphor which goes back to antiquity and usually means to prove the necessity for the lower strata to remain in a subordinate position. For the positivists to the contrary, the organic metaphor serves a justification for an emancipatory ideology. Emancipatory, of course, does not mean revolutionary: both the reaction and the revolution, both the ideas of the conservatives and the socialists, destroy, according to the positivists, the organic development of the society. In a certain sense, there is an affinity between the understanding of organicism by the Warsaw positivists and by Herbert Spencer. Spencer, let it be reminded, developed a detailed parallel between a social structure and individual anatomy, with one important distinction. In the human organism the wealth of any given cell is subordinated to the wealth of the whole, whereas in the social organism it is the individual, not the whole, whose wellbeing is the aim of development.11 While the Warsaw positivists did not pronounce that openly on the relation of the individual to common interest (they clearly hoped that these interests, mediated by the invisible hand, are complementary and not opposing one another), they also saw the organic analogy as a tool of the democratization of society. 11 Herbert Spencer: The Social Organism (1860), in: Donald MacRae, ed.: The Man versus the State, Harmondsworth 1969, pp. 195–233, esp. p. 205.
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It should be also a tool of economic development. The positivists believed that the ideology of organic work could stimulate the necessary accumulation of capital that would secure the take-off for economic growth. Gerschenkron wrote about substitutes that could be used in various countries or regions to facilitate take-off: if a given condition is absent, something else may provide a substitute and the start to growth may take place. In this sense the idea of organic work can be treated as an attempt to find substitute for the lack of state economic policy. Its proponents hoped that even in the absence of state protective measures the individuals would be able to understand their country’s long-term interest and act in accordance with it. In this aspect, it may also be argued that the economic liberalism of the Warsaw positivists was only the “second best” option: if there is no possibility of state economic politics, this politics must be, so to say, introduced by the individuals. Hence numerous appeals to customers to buy local products abound in journalism and theoreti cal works. There was, however, no unanimity in this matter. To quote an example, Bolesław Prus at times called for support of the local production12; at other places he stressed the necessity of foreign imports that would bring down the prices and make various goods affordable for broader strata of the population (this was the argument used by the hero of his most important novel, “The Doll”, when arguing for the establishment of a company importing textile goods from Russia).13 It should be noted that for the liberals in Russian and Austrian Poland “local” means “produced at home” and not “produced by the (ethnic) Poles”. Until the end of the 19th century the appeal to buy local product is predominantly seen as part of economic policy, a proxy for non-existent state protectionism, not as a part of ethnic conflict. With the Warsaw positivism we are still before the growth of radical nationalism: the idea of economic growth is not understood in a strong ethnic sense. In spite of occasional criticism of foreign, mainly German, investments, the general tenor is that the modernization of the country helps all the inhabitants and should, if necessary, use foreign capital and skills. This attitude changes at the turn of the century, with the growth of radical nationalism, but this will already be after the time of Warsaw positivism is gone. Speaking about organic work, we have reached one of the most interesting problems in the history of Polish, and East-Central European in general, liberal thought. Authors (not that numerous) writing about Polish liberalism 12 Cf. Bolesław Prus: Nasze Grzechy (1872), reprinted in: Ryszard Wroczyński, ed.: Pozytywizm warszawski. Zarys dziejów oraz wybór publicystyki i krytyki, Warszawa 1948, pp. 103–108, esp. p. 105. 13 Among the immense literature concerning “The Doll” a recent book that especially deserves attention is Józef Bachórz: Spotkania z “Lalką”. Mendel studiów i szkiców o powieści Bolesława Prusa, Gdańsk 2010.
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have often turned their attention to those writers who could be classified as more or less orthodox economic liberals. They are not the most interesting ones, however. One could perhaps risk a generalization: many of those who defended economic liberalism in the 19th century were actually conservatives rather than liberals. In a traditional milieu, with a preponderance of landed nobility, state non-interference in economic life was bound to conserve the traditional system of noble preponderance rather than give any spur to economic growth. In a traditional milieu the liberals, whether they liked it or not, had to lean more or less on state help. Apart from the perspectives of economic “modernization from above” there were some other factors too. There was a German fascination with the state as an idea that came with various forms of the German idealist tradition; this fascination may well go together with the economic-modernizing approach. Another element, coming from this German tradition, is a fascination with bureaucratic institutions. It also had an important practical side, since the intelligentsia was a “client” of the modern state, looking for state jobs, whereas on the other side, the state needed the intelligentsia as a social stratum that kept the state going. This social reality was a background of the ideology. We can see this symbiosis between the intelligentsia and the liberal parties having the state jobs at their disposal very clearly in the Bulgarian, Serbian and Romanian cases, as recently exposed by Diana Mishkova.14 Thus, the most interesting and perhaps also the most original are those authors in Poland and other parts of European periphery who tried somehow to square liberal principles with the realities of a backward country and started to discuss an economic situation that was obviously very different from the situation of Britain, where the classical school of the economic thought was born. To what extent these ideas of the Polish economists are close to, say, the ideas of Friedrich List, was never researched in detail. Even within this peripheral liberalism various variants were possible. The Polish liberals, contrary to the liberals in Hungary, Romania, Bulgaria or Serbia, were not running a state, therefore they could not conduct the politics of state-driven modernization “from above”. Therefore, they did not have any jobs in the state bureaucracy to offer, and thus they were devoid of a very important tool to build a political camp. They could only invent ideas without possibilities of implementing them, or alternatively, they could try to invent other ideas, applicable to the Polish situation. Etatist ideas could develop in Habsburg Galicia, where after 1867 the Poles had won a privileged position internally vis-à-vis the Ukrainians, but also externally, winning strong position in Viennese political configurations. 14 Cf. Diana Mishkova: The interesting anomaly of Balkan liberalism, in: Iván Z. Dénes, ed.: Liberty and the search for Identity. Liberal Nationalisms and the Legacy of Empires, Budapest 2006, pp. 399–456.
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Due to the constitutional transformation of the Austrian state, the local administration of the province came into Polish hands and there were more or less realistic hopes of using central state politics to the benefit of Galician economic development. The most interesting Polish economic thinker of the 19th century, Stanisław Szczepanowski, advocated an active state economic policy. His book from 1888, “Nędza Galicji w cyfrach” (Poverty of Galicia in numbers), belongs to the classics of Polish economic literature: more economic journalism than a professional academic study, it combined literary skills and emotional appeal with masterful use of statistics. It described Galicia as a backward country (without using the term) in which the nobility, peasantry, Polish middle class and the Jews were remaining in a stable equilibrium of mutually conditioned poverty. This equilibrium can be challenged only by a big, systemic spur that initiates economic growth. In a different way than Walt Rostow three quarters of a century later, Szczepanowski would see the state as initiator of the take-off. In this he was clearly less interested in the problem of profitability of investments; he was fascinated by the broadness of scale and believed in the role of investments as multipliers of growth: any investment demands hiring a labour force which causes growth in the purchasing power in the population, which in turn creates demand for everyday goods. Szczepanowski was far from being a Social Democrat; he supposed that individual initiative is, in the last resort, the source of economic growth. However, he managed to connect this with the belief in the importance of state support of individual undertaking. Another stream of the economic thought, associated with such names as August Cieszkowski and Józef Supiński, dealt with the problem of lack of capital (a problem addressed in a broader context by István Széchenyi in Hungary at the same period). Cieszkowski advocated a co-operative movement as a way to gather small individual savings into a capital that could be used for broader attempts at modernization. Supiński, although an occidentalist and supporter of capitalist development, stressed the danger of wasting the local capitals for great investments that promise gains only in the distant future and may anyway be mistaken (here he differed from Szczepanowski, mentioned above). He hoped for the slow process of capital accumulation through the modernization and growth of the traditional rural crafts. He was clearly wrong, as the development of railways and connection to the more developed Western markets soon brought the traditional rural crafts to bankruptcy. Nevertheless his analysis of alternative (as compared with the highly developed West) ways of accumulating capital is interesting and deserves notice. A special interest was aroused by possibilities of rural modernization that would have helped to avoid the miseries of industrial capitalism. Some thinkers, including Supiński, were wondering whether the modern capitalist market-oriented village would not be a better option than heavy industry.
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One could continue the analysis of similar discussions through the first years of the 20th century and the interwar period; it would add some new arguments but would hardly transform the general picture (and make this essay unduly long). So let us end the chronological overview here with two more general observations. First, the etatist tendency of the liberals could be displayed in various forms. Sometimes it appears in unexpected places; thus, it was already noticed that both Supiński and the Warsaw positivists hoped that individuals would protect the home economy even without protectionist laws. In a sense, it was interventionism on an individual rather than a state level. An opposite example is provided by the liberal economic reforms of Leszek Balcerowicz in the early 1990s. Free-market reforms were introduced by the state from above. Although the conscious point of reference was the Britain of Margaret Thatcher, one can still see a certain continuity with the long-living tradition of etatist reforms from above: like the reformers of the Enlightenment, like the Warsaw positivists, the reformers of the early 1990s most probably believed themselves to be entitled (or better to say: morally obliged) to impose on society, in a benign enlightened-paternalist way, the proper direction of development that is the best for this very society (although the society itself may not yet understand it). Thus, even economic liberalism is in a sense accompanied with an air of regulation from above. Second, it seems to me that Polish liberal thought of the 1980s and 1990s was – from a purely intellectual, not political or economic point of view – less innovative than the Polish liberalism of the 19th century in terms of attempting to readjust the Western economic theory to the Polish situation. It was assumed (perhaps correctly) that the social and economic structure of Poland, in spite of deep crisis, is not fundamentally different from the one that prevails in the West – consequently, no specific theory is needed. d) The ebbs and flows of liberalism. For the generation who has lived more or less consciously through the last thirty years, the fortunes of liberal thought present an interesting phenomenon that should be placed in a broader historical perspective. The popularity of liberalism in the 1980s and 1990s was replaced after 2000 by more or less rightist/nationalist ideas on the one hand and leftist/feminist/socialist on the other. The nature of this intellectual transformation is not quite clear for me and as far as I know has not been investigated by historians. It should be, since it sheds light on various analogous situations in the past. There were at least two, perhaps three similar situations in the history of East Central Europe when a period of seemingly deep popularity of liberal ideas was followed by their decline. The period after the constitutional reforms in the Habsburg state circa 1870 is one such period – we have already mentioned its importance for the history of Polish liberalism. The period of the early 1920s is another worth mentioning. The general historical view of the interwar period in Europe
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stresses the growth of radicalisms, mostly of the right but also of the left, that eventually, by 1930s, makes liberal-democratic ideas in most of Europe rather marginal. This view, useful as a first approximation, omits the fact that in the first years after the Great War liberal ideas were considered an obvious winner. The prestige of France as a winning power had grown high, the Polish constitution was mirroring the constitution of the French Third Republic, Thomas Masaryk as the president of Czechoslovakia saw the triumph of humanitarian ideals in the collapse of Austria-Hungary, and in Romania it seemed that the victory and acquisition of Transylvania had vindicated the politics of the ruling liberal party and strengthened its position for the future as well. Half a decade elapsed and virtually nothing was left (at least outside of Czechoslovakia) of these liberal expectations. Why was it so? Why at a certain historical moment did intelligent students read Mill or Spencer (in the 1870s) or Hayek and Milton Friedman (in the 1980s) whereas fifteen years later their half-a-generation-younger colleagues consider these books hopelessly obsolete and read Nietzsche or Žižek instead? While a historian can analyse how this transformation happens, he is completely at loss when he is asked why it does happen, if we put aside such general truths as “every generation has its own ideals”, or “fashions change” and the like. I do not think a consistent theory of intellectual changes is possible, but I would be happy if historians of ideas turn more attention to the mechanisms of such changes. 4) CONCLUSION Trying to put relatively recent developments into a longer historical perspective is a precarious task. I tried to suggest some points which may be helpful in this undertaking. The longer chronology should be of course accompanied by the broader comparison with other countries in East-Central Europe. Such comparison can be developed from various perspectives and organized according to various categories that may serve as tertium comparationis – the “axis” of the comparison. In my opinion, the problem of statist and nationalist transformations of liberal ideology fits best to build the comparison on. The “constructivist element within the liberal thought” belongs to inherent elements of classical liberalism which can be described, from a certain point of view, as a doctrine of a modern state. This is a perspective that sees Machiavelli and Hobbes rather than Locke or Montesquieu as founding fathers of liberalism. In the periphery it is perhaps strengthened by consciousness of backwardness and by the will to speed up economic development – but it is by no means limited to the periphery. Another topic to compare would be the type of reception of Western liberal ideology in various East-Central European countries by various liberal
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generations. For some reason liberalism seems to be much less interested in its own local traditions than conservative or socialist streams. Perhaps the inherent tendency to support modernization makes the liberals indifferent to their own past and receptive to external ideas. (It is telling that the above quoted anthology of liberal thought by Leszek Balcerowicz does not contain any Polish text earlier than second half of the 20th century.) It can be argued that political doctrines which are unclear, which fuse various threads, which are internally inconsistent and strive to adapt imported theoretical principles to unfertile local soil, are, in the last resort, more interesting than clear and coherent models. If that were the case, one could re-evaluate the peripheral versions of great European ideologies. Polish and East-Central European liberalism was through the 19th and 20th centuries a much more important phenomenon than it is usually assumed. It produced numerous interesting texts and influenced many interesting people, although it did not succeed in creating a broadly liberal political atmosphere that would ensure the survival of liberal political institutions even when liberalism in a strict sense is in decline. On the other hand, in most of the Western European countries such a broadly liberal consensus was more or less created only after the Second World War.
Schlusskommentar
SCHLUSSKOMMENTAR Lutz Raphael Die Diskussionen der Tagung und die in diesem Band versammelten Beiträge beleuchten in aller Deutlichkeit die Vielgestaltigkeit des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Die Existenz zahlreicher nationaler bzw. regionaler Varianten politischer Parteien oder Strömungen, die sich auf die Traditionen des Liberalismus beriefen, hat im 20. Jahrhundert noch einmal das Problem vertieft, angesichts der Heterogenität dieser Erscheinungsformen an der Vorstellung eines Zusammenhangs, eben einer Geschichte des Liberalismus festzuhalten. Die Beiträge haben auf dieses Dilemma ganz unterschiedlich reagiert. Dabei lässt sich eine beachtliche Breite von Zugängen beobachten. Das Spektrum reicht von klassischen Ansätzen der politischen Ideengeschichte bis hin zu Fallstudien spezifischer nationaler politischer Systeme. Jenseits dieser ganz unterschiedlichen Zugänge zum Phänomen „Liberalismus im 20. Jahrhundert“ lässt sich jedoch mit aller Vorsicht eine gewisse Konvergenz, sicherlich noch kein Konsens, in methodischer Hinsicht beobachten: Die meisten Beiträge kombinieren einen strikt „nominalistischen“ Zugang (als „liberal“ wird untersucht, was auch zeitgenössisch so fremd- oder selbstbezeichnet worden ist) mit einem gemäßigt „realistischen“ oder essentialistischen Zugang (man unterstellt die Existenz eines Kernbestands von politischen Argumenten und einer politischen bzw. ideengeschichtlichen Tradition, auf die sich „liberale“ Autoren, Parteien, Gruppen im 20. Jahrhundert rückbeziehen lassen). Die Kombination dieser beiden theoretisch natürlich keineswegs widerspruchsfreien Ansätze erlaubt es, das Untersuchungsfeld hinreichend breit anzulegen, um die Weiterentwicklung von politischen Ideen und Sprachen mit Familienverwandtschaft zum „klassischen“ Liberalismus, wie er vor 1914 als politische Weltanschauung oder Parteidoktrin bestand, in den Blick zu nehmen. Nur so lässt sich auf die für das 20. Jahrhundert ganz typische Tendenz reagieren, dass liberale Denkfiguren durch die Übernahme von Argumenten und Sichtweisen aus anderen politischen Sprachen bzw. von wissenschaftlichen Theorien und Erklärungsmodellen verändert und weiterentwickelt wurden. Das 20. Jahrhundert erwies sich insgesamt als ein Jahrhundert, das breite und machtpolitisch bzw. ideengeschichtlich sehr erfolgreiche antiliberale Bewegungen erlebt hat. Erst an seinem Ende sind ganz so wie zu seinem Beginn liberale Ideen und Politik international wieder äußerst erfolgreich gewesen. Dabei verdichteten sich die Herausforderungen zeitlich zu drei „Momenten“, Phasen intensiver Herausforderungen bzw. krisenhafter Erneuerung liberaler
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Ideen und Politikentwürfe. In ihnen traten Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte liberaler Politik in dramatischer Weise auseinander, und während dieser „Momente“ lassen sich entsprechend dramatische Umorientierungen bzw. Innovationen liberalen Denkens beobachten. Die erste Zäsur stellte der Erste Weltkrieg dar. Der Kriegsverlauf und seine vielfältigen Handlungszwänge spülten etablierte Routinen und Normen liberaler Verfassungsordnungen und liberale Handlungsmaximen hinweg: Freiheitsrechte des Einzelnen sowie der Eigentumsschutz der Besitzenden wurden eingeschränkt, und die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat erwies sich als unvermeidliche Konsequenz der Kriegsführung. Die sozialen Hierarchien, auf deren Stabilität liberale Politik setzte und aufbaute, verloren mit der Dauer des Kriegs und angesichts der enormen Belastungen für die breiten Mehrheiten der Bevölkerung zusehends an Legitimität, gleichzeitig ebnete die Kriegsinflation Einkommens- und Vermögensunterschiede ein. Am Ende dieser Erschütterung stand aber mit dem Sieg der Westmächte die internationale Stärkung des Liberalismus. Mit der Versailler Friedensordnung wurde die enge Verbindung des Liberalismus mit dem Nationalismus auf internationaler Ebene gestärkt. Nationalliberale und liberaldemokratische Kräfte gestalteten die politische Neuordnung in vielen Ländern Europas, voran den neugegründeten Staaten Ost- und Mitteleuropas. Der Triumph nationaler Demokratien in der Versailler Nachkriegsordnung stärkte international zweifellos den Liberalismus, dieser Erfolg veränderte aber zugleich auch grundlegend den Bezugsrahmen liberaler Politik und liberaler Ideen. Seit 1918 war die parlamentarische Demokratie (häufig als republikanische Staatsform), nicht mehr die konstitutionelle Monarchie die verbindliche, zeitgemäße Verfassungsnorm liberaler Politik. Dabei war die Versöhnung zwischen Liberalismus und Demokratie noch längst keine Selbstverständlichkeit, weder in Europa, wo allein die Schweiz und Frankreich vor 1914 längerfristige praktische Erfahrungen mit der Kombination beider Ideenwelten gemacht hatten, noch auf dem amerikanischen Kontinent, wo den liberalen Demokratien Nordamerikas schroff die lateinamerikanischen Republiken gegenüberstanden, in denen sich liberale Politik in einem deutlichen Spannungsverhältnis bzw. zähen Abwehrkampf gegen eine Ausweitung politischer Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten befand. Ähnliches gilt auch für Asien, wo – etwa in Japan oder Indien – ebenfalls das Zensuswahlrecht Grundlage liberaler Politikmodelle geblieben war. Der militärisch-diplomatische Triumph des Liberalismus 1919/20 stellte also eine weitere Herausforderung an die Routinen liberaler Politik dar und erhöhte den Druck, sich den neuen „Realitäten“ zu stellen. Kurz: der momentane Sieg lässt sich auch als Fortsetzung der bereits im Krieg angebahnten Krise des „klassischen“ Liberalismus und seiner sozialen, verfassungspolitischen und weltanschaulichen Grundlagen verstehen. „Wilsons Augenblick“ (Wilsonian moment) 1919 eröffnet Einblicke in eine weitere Dimension: Die Berufung koreanischer, chinesischer, ägyptischer
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und vietnamesischer Nationalisten auf das Friedensprogramm Wilsons zeigte blitzartig die Schwächen bzw. die Brüchigkeit des liberalen Triumphs auf der internationalen Ebene auf. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sich ganz entgegen den Erwartungen und Hoffnungen einiger westlicher Liberaler bereits im Osten Europas als wirkungsmächtige Mobilisierungsformel gegen die alten Imperien erwiesen hatte, wirkte nun auch auf die nationalistischen Minderheiten in den Kolonien bzw. den imperial beherrschten Nationen Asiens als Fanal. Die liberalen Vertreter der westlichen Siegermächte ignorierten diese Irritation und vertrauten auf die politischen Ideen eines liberalen Imperialismus, der alles daran setzte, die Zivilisierungsmission in der kolonialen Praxis und die internationale Kooperation in der imperialen Konkurrenz durchzusetzen. In beiden Fällen scheiterte er rasch und gründlich an den Realitäten ökonomischer und machtpolitischer Interessen, aber auch rassistischer Ordnungsmuster. Daraus ergaben sich wiederum nachhaltige Folgen für die internationale Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Denn die antikolonialen Befreiungs- und Nationalbewegungen verbanden sich fortan nur noch sehr oberflächlich und eher zufällig mit liberalen Ideen; das alte europäische und amerikanische Bündnis zwischen Nationalismus und Liberalismus zerbrach. Die vielfältigen Veränderungen der Jahre 1914 bis 1920, vor allem jedoch die vielfach bloß defensive Reaktion liberaler Politik und nicht zuletzt die Beharrungskraft militärisch erfolgreicher Politiker machen verständlich, warum auf die erste Zäsur, den Ersten Weltkrieg, schon bald eine zweite Zäsur folgte, als deren Scheitelpunkt symbolisch die Weltwirtschaftskrise 1929– 1933 benannt werden kann. Die internationale ökonomische Krise der liberal organisierten kapitalistischen Weltwirtschaft stürzte zugleich zahlreiche parlamentarische Demokratien in Krisen, an deren Ausgang autoritäre Regime bzw. eine „moderne“ Diktatur wie der Nationalsozialismus entstanden. Antiliberale Doktrinen dominierten im Europa der 30er Jahre und selbst in seinen Heimatländern, Großbritannien und den USA, geriet der Liberalismus alter Prägung in die Defensive. Ideengeschichtlich reicht diese Krisenphase bis in die 1940er und frühen 1950er Jahre. Sie wird von allen Beiträgern dieses Bandes als eine Periode der Neuformierung des Liberalismus verstanden, zu der sowohl praktische politische Erfahrungen wie der New Deal oder die sozialdemokratische Reformpolitik skandinavischer Länder gehören als auch „neo-liberale“ politische Konzepte und Ordnungsideen. Als Kernelement dieses atlantisch-westlichen Umbaus des Liberalismus lässt sich die sozial-liberale Zähmung des Kapitalismus identifizieren. Deren große Stunde kam dann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Krieges. In der ideologischen Konfrontation mit dem Kommunismus war diese sozialdemokratische bzw. sozialliberale Westernisierung die überzeugendste Antwort in den entwickelten westlichen Industrienationen. Seine internationale Variante schwankte
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zwischen einer spätkolonialen Entwicklungsideologie und einer auf Dekolonisation setzenden Modernisierungstheorie und Entwicklungslehre. Zu notieren ist weiterhin in globalgeschichtlicher Perspektive, dass in dieser Umbruchphase (national)liberale Parteien endgültig ihre Positionen als relative Mehrheitsparteien verloren und zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele auf Koalitionen mit stärkeren politischen Kräften des rechten wie des linken Parteienspektrums angewiesen waren. Nationalistische oder sozialdemokratische Parteien wurden zu typischen Bündnispartnern liberaler Parteien. Die dritte Zäsur in der internationalen Geschichte des Liberalismus markieren die 1970er und 1980er Jahre. In ihnen formierte sich ideengeschichtlich das Phänomen des „Neoliberalismus“, dessen zentrale Elemente die Abkehr vom korporativen Konsens der Wachstumsjahre mit seinen typischen Erscheinungsformen wie Staatsinterventionismus, ausgebauter Sozialstaat und breite öffentliche Sektoren in der Wirtschaft waren. Privatisierung, Deregulierung und die Renaissance marktliberaler Doktrinen (voran in der radikalen Variante von Hayek) avancierten zu langfristig wirksamen Kennzeichen des „Neoliberalismus“ jener Zeit. Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Erscheinungsformen des Liberalismus in dieser dritten Umbruchphase, aber es ist kaum überraschend, an dieser Stelle festzustellen, dass anders als bei den beiden früheren Umbruchzeiten für die „Epoche“ des „Neoliberalismus“ noch keine konvergenten Interpretationslinien zu erkennen sind. Vielmehr weisen die verschiedenen Beiträge völlig zu Recht auf die großen nationalen Unterschiede hin. Angesichts der weiter anhaltenden (relativen) Schwäche liberaler Parteien verbanden sich neo-liberale Positionen mit ganz verschiedenen politischen Strömungen. Hier reicht das Spektrum von der Republikanischen Partei in den USA über die britischen Tories zu christdemokratischen, aber auch sozialdemokratischen Parteien unterschiedlicher nationaler Prägung. Das Phänomen des „Neoliberalismus“ gibt einmal mehr Gelegenheit, Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Situation am Anfang des 20. Jahrhunderts zu benennen: Auch vor 1914 lassen sich unschwer Elemente liberaler Ordnungsmuster identifizieren, die ihre direkte Verbindung mit liberalen Parlamentsfraktionen oder Parteien längst verloren hatten. Zu denken ist an die liberal imprägnierte Sozialexpertise sozialwissenschaftlicher Reformer oder aber Prinzipien internationaler Regulierung von Handelsbeziehungen und Währungsfragen. Anders als am Beginn des 20. Jahrhunderts ist jedoch der Liberalismus als politische Strömung, als Parteienfamilie deutlich schwächer als seine Konkurrenten. Er hat sich – und dies führt mich zum zweiten Punkt – letztendlich nicht dauerhaft als mehrheitsfähige politische Strömung in der Demokratie etablieren können. Insofern muss die Geschichte des Liberalismus – anders als noch im 19. Jahrhundert – als Bestandteil und in Wechselbeziehung zu Ordnungsmodellen betrachtet werden, die sich letztlich als dynamischer und durch-
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setzungsfähiger erwiesen haben. Ich nenne nur zwei Fälle: Demokratie und Nation. Der Liberalismus musste seit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs zunächst europaweit, dann weltweit mit der Herausforderung zurechtkommen, welche die Demokratie als konkretes Politikmodell für seine Anhänger (in der politischen Praxis wie in der politischen Theorie) bereithielt. Mit Demokratie sind hier die politischen Verfassungsordnungen gemeint, welche ihre Legitimität aus der Volkssouveränität, dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, dem Mehrheitsprinzip als Grundlage für Regierungshandeln und Gesetzgebung aufbauen. In der politischen Praxis etablierten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Modelle und Spielarten der Demokratie, deren historische Grundlagen immer auch in die Hochphase des Liberalismus, das 19. Jahrhundert, zurückreichen. Die liberale Politiktheorie, vor allem unter Führung der US-amerikanischen Politikwissenschaft, entwickelte sich zu einer Demokratiewissenschaft weiter, welche die vielfältigen Wandlungen parlamentarischer Demokratien im 20. Jahrhundert mehr oder weniger kritisch begleitet und kommentiert, in einigen Fällen auch orientiert hat. Hingegen fällt das Schicksal des Liberalismus als politische Bewegung und politische Ideenwelt deutlich zwiespältiger aus. Aus dem liberalen Denken des 19. Jahrhunderts übernahmen beide, liberale Politiker wie Theoretiker, ihre „elitären“ rationalistischen Vorbehalte gegen das Prinzip unbeschränkter Mehrheitsherrschaft, die Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts und generell alle Formen sogenannter „Massenpolitik“. Nur selten artikulierten sich liberale Strömungen glaubwürdig als Pioniere in den vielfältigen Prozessen der Demokratisierung, welche für die politischen Konflikte des 20. Jahrhunderts so prägend sind. Bei den neuen und alten sozialen Bewegungen, denen es neben der Durchsetzung spezifischer sozialer, ökologischer oder politischer Themen immer auch um die Durchsetzung von mehr Partizipation und besserer Kontrolle der Regierungen und Parlamente ging, standen Liberale vielfach abseits oder als sympathisierende Beobachter am Rande. Die Beziehungen zwischen Liberalismus und Demokratie lassen sich – anders als eine angelsächsische Whig history uns glauben machen will – nicht als langanhaltende glückliche Ehe beschreiben. Bereits die kontinentaleuropäischen Erfahrungen sprechen eine andere Sprache, aber auch der Blick nach Südamerika, erst recht nach Asien und Afrika bringt anderslautende Befunde hervor. Damit ist an dieser Stelle keineswegs eine Art summarische Gesamtbilanz der komplexen Beziehungen zwischen Liberalismus und Demokratie beabsichtigt, sondern hier geht es allein darum, ein wichtiges Problemfeld für die Geschichte des Liberalismus zu benennen. Der Durchsetzung zahlreicher liberaler Ordnungsideen in den demokratischen Verfassungsordnungen steht die anhaltende Distanz des Liberalismus gegenüber den vielfältigen Bewegungen zur Ausweitung politischer Partizipation und demokratischer Kontrolle entgegen.
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Ganz offensichtlich wird die Spannungszone zwischen Demokratie und Liberalismus im Prozess der Dekolonisation. Vielfach setzten Liberale in der Hoffnung auf weichere Übergänge auch nach 1945 auf eine längere Phase spätkolonialer Entwicklungspolitik. Sie redeten bevormundenden Weisungen westlicher liberaler Experten und Regierungen das Wort. Dieser Sicht blieben auch nach 1960 viele liberale Experten internationaler Entwicklungsorganisationen treu, wenn sie nun als Modernisierungsexperten in die neuen postkolonialen Staaten reisten. Offensichtlich waren die Spannungen zwischen Liberalismus und Demokratie auch dort, wo demokratische Partizipationsforderungen wirtschaftsliberale Doktrinen bedrohten. Mitbestimmung oder Wirtschaftsdemokratie blieben Felder, welche der Liberalismus mehr oder weniger kampflos seinen sozialdemokratischen, korporatistischen oder sozialistischen Gegnern im 20. Jahrhundert überließ. Als zweite grundlegende, eigenständige Kraft ist der Nationalismus bzw. der Nationalstaat im 20. Jahrhundert zu benennen. Der Liberalismus hatte im 19. Jahrhundert seinen Aufstieg aufs engste mit dem Konzept der Nation und des Nationalstaats verbunden. Dieses Erfolgsmodell triumphierte 1919. Jener Triumph stoppte aber keinesfalls die Abtrennung des Nationalismus bzw. der Nationalbewegungen vom Liberalismus. Die Anfänge dieses Ablösungsprozesses liegen weit vor dem Ersten Weltkrieg. Spätestens seit den 1880er Jahren verlor der Liberalismus zusehends an Dynamik gegenüber dem Nationalismus. Dieser löste sich seit der Jahrhundertwende immer mehr aus den Bindungen an den Liberalismus und entfaltete im 20. Jahrhundert seine politische Durchschlagskraft primär in Verbindung mit völkisch-konservativen und sozialistischen Ideen. Die Kontinuitäten des Bündnisses zwischen Liberalismus und Nationalstaat brachen natürlich nicht ab. Gerade auf internationaler Ebene gelang es dem liberalen Internationalismus, eine Rahmenordnung zu etablieren, in der jeder neue Staat (als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker) seinen „souveränen“ Platz einnehmen konnte. Dieser liberalen Gestaltung zentraler Elemente der im 20. Jahrhundert gültigen Ordnung internationaler Beziehungen und internationaler Organisationen (vom Völkerbund über die UNO bis hin zu NGOs) steht jedoch eine deutliche Schwäche des Liberalismus gegenüber, wenn wir die Ebene der Binnenordnung dieser Nationalstaaten betreten. Vor allem die nationalen Befreiungsbewegungen erwiesen sich immer wieder als dezidiert antiliberale Bewegungen, und das Bündnis zwischen Liberalismus und Nation, das so typisch für die atlantische und westeuropäische Welt des 19. Jahrhunderts war, verlor im 20. Jahrhundert an Mobilisierungskraft und Plausibilität. Darüber ist in diesem Band – auf Grund seiner geographischen Fokussierung auf Europa – nur wenig zu erfahren. Für das Verständnis des Liberalismus in einer Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts erscheint mir jedoch diese Scheidung ganz zentral.
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Die Tagung und die hier versammelten Beiträge unterstreichen eindrucksvoll die Notwendigkeit, Studien auf dem Feld der liberalen Ideen fortzusetzen. Zum einen brauchen wir mehr Studien, welche die spezifischen nationalen Sprachen des Liberalismus analysieren und diese Vielfalt der Sprachen in eine vergleichende Perspektive einbringen. Wir brauchen zweitens noch viel mehr Studien über die liberalen Traditionen in scheinbar so peripheren oder kleinen Ländern wie Dänemark und Polen. Und schließlich brauchen wir drittens dringend eingehendere Studien über die Verbindungen, welche liberale Strömungen und Ideen mit anderen lokalen bzw. nationalen politischen Idiomen und Strömungen vor allem außerhalb Europas eingegangen sind.
DIE AUTOREN DES BANDES Anselm Doering-Manteuffel, Dr. phil., Professor für Zeitgeschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte der Eberhard Karls-Universität Tübingen Michael Freeden, Ph.D., Prof. em. für Politik an der Universität Oxford Dominik Geppert, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Jens Hacke, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung Maciej Janowski, Professor am Tadeusz Manteuffel Institut für Geschichte, Polnische Akademie der Wissenschaften Jörn Leonhard, Dr. phil., Professor für Westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Marcus Llanque, Dr. rer. soc., Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg Philipp Müller, Dr. phil., Doktorassistent im Bereich Zeitgeschichte des Departements Historische Wissenschaften an der Universität Fribourg Tim B. Müller, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung Jeppe Nevers, Ph.D., Professor am Institut für Geschichte an der Süddänischen Universität in Odense Niklas Olsen, Ph.D., Assistant Professor am Centre for Modern European Studies der Universität Kopenhagen Giovanni Orsina, Ph.D., Professor für Geschichte an der Universität LUISS (Libera Università Internazionale degli Studi Sociali Guido Carli) in Rom
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Die Autoren des Bandes
Lutz Raphael, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier Maurizio Vaudagna, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Ostpiemont und Direktor des CISPEA (Centro Interuniversitario di Storia e Politica Euro-Americana) der Universitäten Bologna, Florenz, Rom, Triest und Ostpiemont Andreas Wirsching, Dr. phil., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München
PERSONENREGISTER Acton, Lord (John Emerich Edward Dalberg-Acton) 304 Adorno, Theodor W. 208, 215 Agamben, Giorgio 131 Allemann, Fritz René 225 Alterman, Eric 191 Andersen, Knud Børge 251 Angell, Norman 80 D’Annunzio, Gabriele 82 Anschütz, Gerhard 228 Arendt, Hannah 206, 234 Asquith, Herbert 74, 79, 83, 87, 190 Baget Bozzo, Gianni 295, 300 Baker, James 283 Balcerowicz, Leszek 315–317, 327, 329 Bastiat, Frédéric 49f Bauer, Gustav 135 Bauman, Zygmunt 131 Bäumer, Gertrud 178 Bebel, August 171 Beckerath, Erwin von 231 Benn, Gottfried 224 Bentham, Jeremy 41, 57 Berlin, Isaiah 192 Berliner, Cora 142 Berlusconi, Silvio 291f, 294–302, 308–312 Bernabei, Ettore 310 Best, Gary D. 193 Bethmann Hollweg, Theobald von 57, 75, 85 Bielecki, Jan Krzysztof 316 Bismarck, Otto von 16, 165, 190 Blair, Tony 287f Bobrzyński, Michał 323 Boltanski, Luc 100 Bondy, François 216 Bonn, Moritz Julius 226, 229–231 Bonnevie, Peter 261 Borchardt, Knut 150f Borkenau, Franz 216 Borsig, Ernst 111 Brandeis, Louis 189
Brecht, Arnold 226 Brentano, Lujo 231 Briand, Aristide 86 Bright, John 39, 49 Brinkley, Alan 186 Brixtofte, Peter 263 Brown, Gordon 288 Brüning, Heinrich 142 Bücher, Hermann 108, 111 Buchheim, Christoph 99 Burnham, James 216 Burns, James MacGregor 195 Burns, John 79 Bush, George W. 56, 287 Cadorna, Luigi 75 Callaghan, James 271, 288 Cameron, David 287 Camus, Albert 224 Carter, Jimmy 282 Cassel, Gustav 145 Cattaneo, Carlo 305 Chafe, William H. 183, 191, 198 Chiapello, Ève 100 Christensen, Jørgen Valdemar 247f Christophersen, Henning 263 Cieszkowski, August 320, 326 Clemenceau, Georges 86, 105 Clinton, Bill 287f Cobden, Richard 39 Constant, Benjamin 320 Critchley, Julian 275 Croly, Herbert 88f, 93 Cuno, Wilhelm 142 Dahl, Robert 157 Dahlgaard, Bertel 255 Dahrendorf, Ralf 235, 238 Dante Alighieri 188 David, Eduard 144 Dewey, John 88f, 192 Diderichsen, Børge 261 Diggins, John Patrick 276
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Personenregister
Dirks, Walter 223 Duchemin, René-Paul 119, 124 Duguit, Léon 59 Durkheim, Émile 59 Eisenhower, Dwight D. 184 Ellemann-Jensen, Uffe 263 Emerson, Ralph Waldo 276 Eriksen, Erik 247f, 256–259, 261 Erkelenz, Anton 166, 180 Eschenburg, Theodor 223 Eucken, Walter 43 Falwell, Jerry 278 Faulkner, William 224 Feger, Otto 223 Feldman, Gerald 143 Fisher, Irving 145 Foner, Eric 197, 199 Foucault, Michel 65f Fraenkel, Ernst 209, 215 François-Poncet, André 109, 111 Freeden, Michael 28f, 101 French, John 74 Freud, Sigmund 209 Freyer, Hans 168f Friedländer, Ernst 225 Friedman, Milton 40, 43, 50, 97, 265, 274, 280, 328 Friedrich II. (Friedrich der Große) 318 Friedrich, Karl J. 206 Fukuyama, Francis 55f, 236 Gade, Sven Ove 260f Galbraith, John Kenneth 44 Gamble, Andrew 273 Gandil, Christian 254 Garibaldi, Giuseppe 303 Gay, Peter 229 Geddes, Eric 76 Geiger, Theodor 233 Gerschenkron, Alexander 313f, 318, 322, 324 Giannini, Guglielmo 305 Gignoux, Claude-Joseph 113, 123 Gilbert, Felix 214f Giolitti, Giovanni 73, 82, 295 Gladstone, William Ewart 274 Glum, Friedrich 107 Goethe, Johann Wolfgang von 13
Goldwater, Barry 193 Goodwin, Doris Kearns 197 Görtemaker, Manfred 234 Götz, Norbert 160 Green, Ewen 285 Green, Thomas Hill 60 Greven, Michael Th. 223 Grey, Edward 80 Groener, Wilhelm 108 Grundtvig, Nikolai Frederik Severin 244, 263, 265 Haarby, Forlaget 265 Haarder, Bertel 263, 265 Haas, Ludwig 166, 180 Habermas, Jürgen 235 Haig, Douglas 74 Hall, Peter 100 Halland, Alfred S. 253 Hamilton, Alexander 88 Hamm, Eduard 104, 111, 113, 118, 122, 141 Hardtwig, Wolfgang 137 Hartling, Poul 261f, 264 Haussmann, Conrad 166 Hayek, Friedrich August von 27, 37, 43f, 50, 97, 125, 131, 189, 250, 254, 256, 265f, 274, 317, 328, 336 Hayes, Peter 99 Hedtoft, Hans 258 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 127 Heidegger, Martin 224 Heller, Hermann 136, 228, 231f Hemingway, Ernest 224 Henderson, Arthur 85 Hennis, Wilhelm 235 Herkner, Heinrich 231 Herz, John H. 211, 215 Herzl, Theodor 160 Heuss, Theodor 13f, 25, 157–159, 162, 164f, 170–172, 175, 179f, 225 Hindenburg, Paul von 75, 178, 226 Hirsch, Julius 138, 140–142, 145f, 149–151, 153 Hitler, Adolf 166f, 189f, 205 Hobbes, Thomas 15, 263, 328 Hobhouse, Leonard Trelawny 57, 61, 64, 247 Hobsbawm, Eric 21, 175 Hobson, John Atkinson 61f, 92
Personenregister Hodgson, Geoffrey 183, 185 Holborn, Hajo 214 Hont, Istvan 154 Hook, Sidney 216 Hoover, Herbert 190, 193f Horkheimer, Max 208, 215 Hoskyns, John 283, 286 Howe, Geoffrey 276 Hughes, H. Stuart 211, 215 Hulme, Thomas Ernest 81 Humboldt, Wilhelm von 60 Hume, David 39, 45 Hunold, Albert 47 Ignatieff, Michael 154 Jefferson, Thomas 88 Joseph II. 318 Josten, Paul 142 Judt, Tony 14, 17, 32 Jünger, Ernst 224 Jürgensen, Detlef 253 Kant, Immanuel 15, 56 Kampmann, Viggo 260 Katznelson, Ira 184 Kelsen, Hans 228 Kent, Frank R. 193 Keynes, John Maynard 27, 80, 139, 145, 147, 149, 153, 210, 231, 286 Kielmansegg, Peter Graf 221 Kirchheimer, Otto 147, 208, 211, 215 Kisielewski, Stefan 314f Koch, Hal 251 Koch-Weser, Erich 180 Koestler, Arthur 216 Kohl, Helmut 28 Kok, Wim 51 Koselleck, Reinhart 62 Krasiński, Zygmunt 320 Krieger, Leonard 128 Kristensen, Knud 259 Kristensen, Thorkil 251f, 258, 260 Lammers, Clemens 115, 120f Landon, Alfred 193 Laski, Harold 230 Lasky, Melvin 216 Lautenbach, Wilhelm 142 Lavergne, Alexandre de 105, 111
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Leeson, Nick 53 Lenin, Wladimir Iljitsch 84, 230 Leonhard, Jörn 271f Libelt, Karol 320 Lilley, Peter 281 Lippmann, Walter 88f, 93, 124, 197 List, Friedrich 325 Litt, Theodor 168 Lloyd George, David 74, 83, 86f, 190 Locke, John 15, 55, 60, 160, 263, 328 Loewenstein, Karl 232 Löwenthal, Richard 216 Lübbe, Hermann 220, 235 Ludendorff, Erich 75, 85, 166 Ludwig, Emil 231 Lundberg, Ferdinand 189 MacDonald, Ramsay 80 Machiavelli, Niccolò 178, 328 Madsen-Mygdal, Thomas 246–249 Maier, Charles 143 Major, John 277, 287 Mandela, Nelson 194 Mann, Thomas 13f, 71, 84, 91 Marcuse, Herbert 208f, 211, 215 Marlio, Louis 107, 111, 120f Martensen, Hans Lassen 242, 244 Marx, Karl 209 Marx, Wilhelm 104 Masaryk, Thomas 328 Masterman, Charles Frederick Gurney 57 Mazowiecki, Tadeusz 316 Meinecke, Friedrich 159, 162–164, 170, 172–174, 176–179 Merton, Richard 108, 116, 120 Michelet, Jules 46 Mickiewicz, Adam 320 Mill, John Stuart 58, 60, 63, 263, 316, 328 Millerand, Alexandre 85, 107 Mills, Ogden L. 193 Mises, Ludwig von 131, 147, 247 Mishkova, Diana 325 Mitterrand, François 28 Moering, Ernst 166 Mohl, Robert von 41, 46 Møller, John Christmas 258 Møller, Poul 259 Monrad, Ditlev Gothard 242–244 Montanelli, Indro 307 Montesquieu, Charles de 15, 263, 328
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Personenregister
Morley, John 79 Müller, Jan-Werner 224, 277 Müller-Armack, Alfred 43 Musil, Robert 69 Mussolini, Benito 230–232, 295 Myrdal, Alva 130 Myrdal, Gunnar 130 Naphta, Leo (Roman) 71 Napoleon Bonaparte 70, 319 Naumann, Friedrich 19, 59, 85, 138, 171f Neumann, Franz Leopold 208f, 211, 215 Nielsen, Harald 247f Nietzsche, Friedrich 328 Nikolaus II. 72, 321 Nivelle, Robert 86 Nolte, Paul 160 Nozick, Robert 265 Ohlin, Bertil 250 Pechel, Rudolf 216 Pétain, Philippe 98 Petersen, Carl 164, 166 Peukert, Detlef J. K. 127 Peyerimhoff, Henri de 104, 106, 109, 111, 121f Phillip, Kjeld 255 Pinot, Robert 105, 112 Plessner, Helmuth 136, 168 Popper, Karl 250 Poulsen, Bjørn 260 Preuß, Hugo 159, 162, 164, 169–172, 177–180, 228 Prus, Bolesław 324 Quinton, Anthony 274 Rasmussen, Anders Fogh 265f Rathenau, Walther 76, 154, 178 Rawls, John 55 Reagan, Ronald 14, 28, 50, 264, 271–279, 281–288, 292–294, 296, 314 Redwood, John 281 Renan, Ernest 177 Renault, Louis 111 Reuther, Walther 194 Ribot, Alexandre 86 Ricardo, David 145 Ritchie, David George 57, 61
Roberts, Paul Craig 283 Rockefeller, John D. 42 Rodgers, Daniel 195 Romier, Lucien 116, 117, 119 Roosevelt, Franklin Delano 88, 183–199, 209f Roosevelt, Theodore 88, 187 Röpke, Wilhelm 43, 45f, 223, 226, 231 Rosenberg, Hans 214 Rosselli, Carlo 58 Rousseau, Jean-Jacques 15 Rosanvallon, Pierre 136 Rostow, Walt 326 Rothschild, Emma 154 Ruggiero, Guido de 58 Russell, Bertrand 80 Rüstow, Alexander 43, 46, 142, 231 Rüstow, Hans-Joachim 142 Sachs, Jeffrey 315 Saint-Simon, Henri de 313 Samuelson, Paul A. 42 Sandbrook, Dominic 286 Sartre, Jean-Paul 224 Savigny, Friedrich Carl von 160 Say, Jean-Baptiste 243 Schäffer, Hans 142 Scheidemann, Philipp 84 Scheler, Max 81 Schelsky, Helmut 233 Scherner, Jonas 99 Schievelbusch, Wolfgang 131 Schildt, Axel 221 Schleiermacher, Friedrich 160 Schlesinger Jr., Arthur M. 184f Schlüter, Poul 264 Schmid, Carlo 216 Schmidt, Robert 138, 141–143, 145 Schmitt, Carl 22, 92, 228, 230f Schneider, Eugène 111 Schumpeter, Joseph 47 Schwarz, Hans-Peter 221 Settembrini, Ludovico (Roman) 71 Sierakowski, Sławomir 315 Siemens, Friedrich Carl von 111 Simon, Jules 47 Skocpol, Theda 184, 198 Słowacki, Juliusz 320 Smend, Rudolf 228
Personenregister Smith, Adam 36f, 39, 45, 134, 145, 154, 243, 252, 263, 320 Sokrates 15 Sorel, Georges 70 Soskice, David 100 Spencer, Herbert 316f, 319, 321, 323, 328 Stalin, Josef 189, 205, 212 Stanislaus II. August 318 Stapel, Wilhelm 175 Staudinger, Hans 142 Stauning, Thorvald 249 Sternberger, Dolf 233 Stockman, David Stolleis, Michael 228 Stone, Oliver 52 Streeck, Wolfgang 100 Stresemann, Gustav 85 Supiński, Józef 326 Szacki, Jerzy 322 Szczepanowski, Stanisław 326 Széchenyi, István 326 Tänzler, Fritz 105, 111, 114, 117, 123 Thatcher, Margaret 14, 28, 50, 264, 271–279, 281, 283–288, 292–294, 296, 314, 327 Thoma, Richard 228 Tocqueville, Alexis de 19, 40, 230, 263 Tönnies, Ferdinand 81, 136, 168 Tooze, Adam 139, 150 Trendelenburg, Ernst 142
347
Trevelyan, George Macaulay 64 Troeltsch, Ernst 77–79 Truman, Harry S. 184, 186, 197f Ture, Norman 283 Tusk, Donald 316 Vandenberg, Arthur 189 Veblen, Thorstein 205 Vierkandt, Alfred 168 Walicki, Andrzej 316f Wallace, Henry A. 187 Weber, Alfred 231 Weber, Max 15, 58, 69f, 75, 88, 91, 230f Weber, Petra 151 Welcker, Carl Theodor 41 Westerby, Niels 261 Weyl, Walter 93 Wiese, Leopold von 231 Wigforss, Ernst 64 Wilson, Woodrow 20, 84, 86, 88f, 93, 187, 334f Winkler, Heinrich August 221, 224 Wirsching, Andreas 221 Wissell, Rudolf 136 Wittgenstein, Ludwig 102 Wolfe, Tom 52 Wolff, Theodor 178, 231 Wolfrum, Edgar 221 Žižek, Slavoj 328
s t i f t u ng b u n d e s p r ä s i d e n t t h e o d o r h e u s s - h au s
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wissenschaftliche reihe
Die Bände 1–6 sind bei der Deutschen Verlagsanstalt (München) erschienen.
Franz Steiner Verlag
7.
8.
ISSN 1861–3195
Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hg.) Geschichte für Leser Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert 2005. 408 S., 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08755-1 „Die Veröffentlichung von Hardtwig und Schütz leistet Grundlagenarbeit für ein b islang viel zu stark vernachlässigtes Thema.“ Stefan Jordan, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56, 2008/1 „Den vorliegenden Sammelband möchte man mit dem Ausruf Endlich! begrüssen. […] Historisch interessierte Leser/innen und lesende Historiker/innen [werden ihn] gleichermaßen mit großem Gewinn studieren.“ Winfried Halder, H-Soz-u-Kult, 23. Juni 2006 Frieder Günther Heuss auf Reisen Die auswärtige Repräsentation der B undesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten 2006. 178 S., 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08819-0 „Günther’s study is a welcome addition to the literature on Theodor Heuss and on the Federal Republic’s relations with the wider world in the 1950s. It successfully uses the medium of state visits to provide important insights on West German society during the same era.“ Thomas W. Maulucci, jr., German Studies Review 32, 2009/1
9.
Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.) Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft 2008. 330 S., geb. ISBN 978-3-515-09110-7 „This stimulating essay collection seeks to breathe new life into the concept of Vernunftrepublikanismus.“ Eric Kurlander, www.h-net.org, 16. März 2009
10. Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum (Hg.) Liberalismus und Emanzipation In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2010. 224 S., geb. ISBN 978-3-515-09319-4 „Most of the findings here complement Anglo-American research quite well, reminding us of the many complexities of class, religion, ethnicity, and place in defining the relationship between liberal theory and practice. These rich contributions provide both a useful summary of existing views and, in some cases, effective models for future research on German liberalism.“ Eric Kurlander, L’Homme. Euro päische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22, 2011/209 11. Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.) Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik 2012. 231 S., 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10142-4
Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter ideologischer Extreme, stand der Liberalismus mehrfach vor der Herausforderung, seine Grundprinzipien an veränderte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen. Der Kampf um die Geltung liberaler Prinzipien bewegte sich vielfach in einer paradox anmutenden Parallelität zum Bedeutungs- und Funktionsverlust des organisierten Liberalismus in Parteien und Parlamenten. Doch wie reagierten die Liberalen in den Gesellschaften Europas und Nordamerikas auf die ideologischen, ökonomischen und sozialen Krisenmomente des Jahrhunderts? Die
verschiedenen nationalen Variationen verbieten es, ungeprüft von „dem Liberalismus“ zu sprechen. Vielmehr gilt es, die länderübergreifenden Gemeinsamkeiten liberaler Konzepte und Bewegungen herauszuarbeiten, bevor die Eigenheiten des liberalen Weltbilds beschrieben werden können. Die Beiträge internationaler Forscher in diesem Band diskutieren das Problem aus der einzelstaatlichen und transnationalen Perspektive. Sie bestimmen den historischen Ort des Liberalismus im wechselvollen 20. Jahrhundert genauer, indem Kongruenzen und Divergenzen einer prägenden Leitidee der Moderne aufgedeckt werden.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11072-3