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German Pages 322 Year 2020
Gerlinde Irmscher Die Touristin Wanda Frisch
Histoire | Band 183
Gerlinde Irmscher (Dr. habil.), geb. 1950, lehrte bis 2013 als Privatdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte und Kultursoziologie. Sie forschte und publizierte zuletzt zur Identität von DDR-Bürgern nach 1990, zur Geschichte reisender Frauen, zu den Pionieren der Tourismusforschung in Deutschland und zum Tourismus in der DDR.
Gerlinde Irmscher
Die Touristin Wanda Frisch Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert
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Inhalt
Vorwort ............................................................................ 7 Einleitung .......................................................................... 9 1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus ...................................... 21 1.1. Ungleichzeitigkeiten .......................................................... 35 1.2. Alleinreisende ................................................................ 40 2. 2.1. 2.2. 2.3.
Reisebiografien .............................................................. Biografie, Lebenslauf und Generation in der Tourismusforschung .............. »Reisebiografie« oder »Reisen im Lebenslauf«?............................... Ein Archivar und eine Chefsekretärin..........................................
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3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins« ............ 81 3.1. Von der Jahrhundertwende zur Weimarer Zeit .................................. 81 3.2. Von 1933 bis zur Etablierung des Massentourismus um 1970................... 109 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
5.
»Sie reiste, wie sie lebte« ................................................... 117 Lebensstil und Habitus........................................................ 117 Urlaubsfreuden .............................................................. 130 Eine Pionierin des Massentourismus? ........................................ 149 Generation und Reisestil ..................................................... 159 Zwischen bürgerlichen Werten und massenkulturellen Verlockungen......................................... 168
(Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit .......................................... 183 5.1. Touristische Bilderwelten in der Geschichte ................................... 197
5.2. Die Reisen des jungen Franz Simon Meyer aus Rastatt (1799-1871) ............. 199 5.3. Von »Gemälden« in Worten und Bildern ...................................... 208 5.4. Die Schaulust im 19. Jahrhundert ............................................. 212 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.
Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos ..................... 221 Urlaubsfotos ................................................................. 221 Symbolische Kreativität: ästhetische Strategien im Fotoalbum ................ 235 Erben der Aufklärung ........................................................ 245 Ästhetik der Dynamik .........................................................261
Zum Schluss...................................................................... 287 Literaturverzeichnis.............................................................. 295
Vorwort
Alltagskultur materialisiert sich in alltäglichen Dingen. Von den jeweiligen Zeitgenossen kaum beachtet, solange sie funktionieren und in Gebrauch sind, werden sie zuweilen zum bewunderten oder anrührenden Gegenstand, wenn sie schon längst aus dem Alltag verschwunden sind. Das gilt sowohl für Ältere, die sie als Teil ihres Lebens wiedererkennen wie für die Jüngeren, denen sie als Anzeichen einer kaum mehr verständlichen Welt erscheinen. Als sprichwörtliche Funde auf dem Dachboden in Gestalt von Kartons mit vergilbten Fotos, Kisten mit zerschlissenen Büchern, Schränken mit altmodischer Kleidung oder Christbaumschmuck und den Spinnweben überantworteten, zerbrochenen Möbeln können sie neben nostalgischen Gefühlen auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregen. Sie sind schließlich Zeitzeugen und führen eine eigene Sprache, die es zu verstehen gilt. Ähnliche Gedanken können Archivgüter erwecken, im vorliegenden Fall der Nachlass einer Angestellten aus dem Ruhrgebiet, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Reisekarriere hingelegt hat. Die Urlaubsreise ist im Laufe ihrer Lebenszeit zu einer Form kultureller Praxis geworden, die in den Alltag aller eingezogen ist. Das mindert die Anstrengungen nicht, die zu ihrer Interpretation unternommen werden müssen. Bekanntlich waren die Theorien und Methoden dafür erst zu entwickeln. Doch eröffnet sich damit auch ein Experimentierfeld, gebahnte Wege finden sich neben Trampelpfaden. Die Verlockung, diesen Nachlass zum Gegenstand einer Spurensuche in mehr oder weniger bekanntem Terrain zu nutzen, erwuchs nicht zuletzt aus dem Gefühl, es mit handfesten Zeugen einer vergangenen Reisepraxis und touristischen Welt zu tun zu haben, die freilich ihrerseits in die Geschichte weisen wie in die Gegenwart ausstrahlen. Noch können sich viele Zeitgenossen daran erinnern, wie es war, im Urlaub mit einer Kleinbildkamera zu hantieren und darauf zu hoffen, dass die Fotos auch etwas geworden sind.
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Experimentierfeld ‒ das heißt, unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge auszuprobieren und sich damit gleichzeitig an Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen zu wenden. Das sind, über die engere Tourismusforschung hinaus, vor allem Kultur- und Sozialhistoriker, Soziologen, Ethnologen und Kunsthistoriker. Es interessierten, bezogen auf das Reiseleben der Protagonistin, die Geschlechterverhältnisse, Konstrukte wie Biografie, Lebenslauf und Habitus sowie Konzepte, die die Ergebnisse alltäglicher Bilderproduktion in Gestalt von Urlaubsfotos zum Gegenstand haben. Die Alltäglichkeit der Reise und des Sammelns von Erinnerungen daran hat allerdings auch eine Kehrseite. Wohin damit, wenn Wohnungen und Dachböden geräumt werden müssen? Eine Antwort ergibt sich zuweilen auf einfache Weise. In unserem Fall waren es aufmerksame Töchter von Freundinnen der Protagonistin, denen der erwähnte Nachlass archivwürdig erschien. Deshalb danke ich Frau Teresa Bühner für das Übersenden des Konvoluts an das Historische Archiv zum Tourismus in Berlin samt wichtiger Informationen. Von besonderer Bedeutung waren aber die Gespräche mit Frau Gisela Rott-Fuchs, die einiges über Wanda Frisch erzählen konnte. Meine Kollegen im Archiv, Kristiane Klemm und Hasso Spode, unterstützten mein Vorhaben durch viele Gespräche und Hinweise, durch Ermunterung und praktische Handreichungen. Dafür danke ich ihnen herzlich. Dem Förderkreis des Archivs verdanke ich einen großzügigen finanziellen Beitrag zur Drucklegung des Manuskripts und dem Leiter des Archivs, Hasso Spode, die unbürokratisch eingeräumte Erlaubnis, das Buch reichhaltig mit Abbildungen zu versehen. Auch die Kolleginnen und Kollegen des Forschungskreises Kulturgeschichte der Kulturinitiative’89 haben in mehreren Diskussionsrunden das Projekt gefördert. Der transcript-Verlag hat das Erscheinen des Buches zügig ermöglicht, besonders Julia Wieczorek danke ich für die freundliche Unterstützung dabei. Reiner Petzoldt half in ehelicher Solidarität immer dort, wo es besonders nötig war. Gerlinde Irmscher Berlin, im März 2020
Einleitung
Im Historischen Archiv zum Tourismus (HAT) in Berlin finden sich neben Fachliteratur zur Theorie und Geschichte des Tourismus, neben Reiseprospekten und -plakaten auch Konvolute mit sehr persönlichen Urlaubserfahrungen wie Fotoalben und Dia-Sammlungen von Privatleuten.1 Bisher wurde nur ein solches Ensemble systematisch ausgewertet und für wissenschaftliche Zwecke genutzt. Der Nachlass eines Bäckerehepaares bildete das Quellenreservoir für einen Abschnitt in Pagenstechers Dissertation zur Visual History des bundesdeutschen Tourismus.2 Vor einiger Zeit wurde dem HAT ein Konvolut übersandt, das einen inzwischen aufgearbeiteten Korpus von disparaten Materialien enthält, die das Reiseleben einer ehemaligen Chefsekretärin im Ruhrgebiet dokumentieren. Die von Wanda Frisch zu jeder Reise selbst geordneten Hinterlassenschaften bestehen aus Fahrkarten und Flugtickets bis hin zu Skipässen, aus zur Reisevorbereitung wie zur nachträglichen Information gesammelten Zeitschriftenartikeln über den Urlaubsort, aus Rechnungen und Briefwechseln mit den Reiseveranstaltern. Parallel dazu entstanden etliche Fotoalben, die neben Post-
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Historisches Archiv zum Tourismus an der Technischen Universität Berlin: www.histsoz.de/hat/archivtxt.html. Das Konvolut wurde für die vorliegende Studie anonymisiert. Es besteht zwölf Ordnern mit chronologisch geordneten Reiseunterlagen von 1935 bis 1995. In vier weiteren Ordnern wurden besonders wichtige Urlaubsziele dokumentiert. Bei der Bearbeitung wurden die Daten aus den Reiseunterlagen mit denen aus den Fotoalben korreliert, um erstens die Quellenbasis zu erweitern und zweitens auch diejenigen Reisen zu erfassen, von den keine Unterlagen, sondern nur Fotos existieren. Für die Protagonistin wurde der Name »Wanda Frisch« gewählt. Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990, Hamburg 2003, besonders S. 421ff.
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karten die eigentlichen Selbstzeugnisse darstellen.3 Ergänzt wird dieser Korpus durch Reiseliteratur und kleinere Souvenirs. Bei näherer Besichtigung entstand der Gedanke, diese Quellen für eine kultur- und sozialwissenschaftliche Studie zur Entfaltung des Massentourismus im 20. Jahrhundert zu nutzen. Dabei eine einzelne Touristin in den Mittelpunkt zu stellen, scheint zunächst nicht besonders originell zu sein. Gehört doch die wissenschaftliche Bearbeitung und Interpretation von Reisezeugnissen und -modi, die Herausgabe und Kommentierung von Reiseberichten seit langem zum Repertoire der Reiseforschung vor allem literaturwissenschaftlicher, ethnografischer und geschichtswissenschaftlicher Provenienz. Allerdings ‒ und das wird mit dem Begriff der »Reiseforschung« angedeutet ‒ handelt es sich dabei vor allem um Zeugnisse aus vergangenen Zeiten und um die Überlieferungen einer Minderheit. Für das gegenwärtige Zeitalter des Massentourismus scheint es dagegen geradezu widersinnig zu sein, nicht auf statistische Daten zurückzugreifen, die noch dazu reichhaltig erhoben werden. »Masse bedeutet, dass viele das Gleiche tun«, so Spode und »Massentourismus« sei deshalb letztlich ein »weißer Schimmel«. Das liege im Charakter des Touristen begründet, der weder »Entdecker« noch »Einzeltäter« sei. »Dem Tourismus ist die Nachahmung, die Wiederholung eigen: gleiche Wege, gleiche Ziele, gleiche Praktiken. (Wählt man freilich einen engeren Betrachtungsabstand, erweist sich jede Reise als individuell, da die Praktiken stets etwas abweichen vom Vorgegebenen, quasi um einen hypothetischen Mittelwert oszillieren, zum anderen, da das Erleben per definitionem ein individuelles ist).«4 Aus dieser Perspektive repräsentiert der Begriff Massentourismus »den Durchbruch des Urlaubsreisens zur gesellschaftlichen Massenerscheinung« und soll im Weiteren so verstanden werden.5 3 4 5
Es sind 17 Fotoalben aus den Jahren 1928-2003 vorhanden, die in den frühesten Jahren von den Eltern überlieferte Fotos enthalten. Spode, Hasso: Die Zukunft des Tourismus: Vom »Massenurlaub« zur »Individualität? In: Universitas 65(2010)767, S. 449f. Kopper, Christopher: Eine komparative Geschichte des Massentourismus im Europa der 1930er bis 1980er Jahre. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 49(2009), S. 139. Selbstverständlich hat die Tourismusforschung zur Bestimmung des Begriffs wie zur Periodisierung weitergehende Überlegungen angestellt. Hier sei nur auf Keitz verwiesen, die seine »Formierungsphase« in die Weimarer Republik verlegt und frühestens für die 1950er Jahre vom »Beginn des modernen Massentourismus« sprechen will. Keitz, Christine: Die Anfänge des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 33(1993), S. 182 und S. 181.
Einleitung
Es gibt jedoch auch ein engeres Verständnis von Massentourismus, an dem einerseits die »Ferienmacher« und andererseits die Kulturkritik interessiert sind. Es dominiert zugleich die öffentliche Meinung. Mag auch noch so oft betont werden, dass weder historisch noch aktuell eine Mehrheit der Urlauber in Deutschland Pauschalreisen bucht ‒ die Vorstellung des Massentouristen wird aufs engste damit verbunden.6 »Es gibt aber keinen Grund, die vom Reiseführer im Eiltempo an Sehenswürdigkeiten vorbeigeführten Gruppen […] als ›Prototyp des Reisenden der Massengesellschaft‹ anzusehen; dies ist lediglich der Prototyp des Pappkameraden der spiritualisierten Version von Kulturkritik Frankfurter Provenienz.«7 Dieses gallige Verdikt ergänzte Scheuch seinerzeit durch den Vorschlag, über die Bedingungen der Wahrnehmung erdrückender Massenhaftigkeit nachzudenken, wie etwa Komprimierungserscheinungen zeitlicher und räumlicher Art. Dennoch scheint der als Pauschalurlauber auftretende Tourist im Zeitalter der Individualisierung immer noch einer Art Ehrenrettung zu bedürfen.8 Für die Tourismusbranche hat die Einteilung in Pauschalurlauber, Veranstalterreisende oder Gesellschaftsreisende auf der einen Seite und Individualreisende auf der anderen einen pragmatischen Hintergrund. An manchen Individualreisenden verdient sie wenig bis nichts, findet man diese doch weder 6
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Doch gerade in jenen Jahren, als sich die Kulturkritik am Massentourismus besonders heftig gebärdete, war der Anteil der Pauschalurlauber in der Bundesrepublik besonders niedrig und stieg von 1958 bis 1970 nur von 13 auf 17 % (um sich, vor allem dank des Überwiegens der Auslandsreisen bis 1992 auf 44 % zu erhöhen). Kopper, Eine komparative Geschichte des Massentourismus im Europa der 1930er bis 1980er Jahre, S. 147. Vgl. auch: Kopper, Christopher: Die Reise als Ware. Die Bedeutung der Pauschalreise für den westdeutschen Massentourismus nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4(2007), S. 61-83. Scheuch, Erwin: Soziologie der Freizeit, in: König, René: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 11: Freizeit und Konsum, 2. völlig überarbeitete Auflage, Stuttgart 1977, S. 135. Zur Geschichte des deutschen Pauschaltourismus vgl. auch: Lesczenski, Jörg: Urlaub von der Stange. Reiseveranstalter und der Wandel des Pauschaltourismus in beiden deutschen Staaten (1960-1990), in: Plumpe, Werner; Steiner, André (Hg.): Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960-1990, Göttingen 2016, S. 173-257. Fabian, Sina: Massentourismus und Individualität. Pauschalurlaube westdeutscher Reisender in Spanien während der 1970er- und 1980er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13(2016), S. 61. Schon vor bald sechzig Jahren hatte Knebel vom »individualisiertem Serientourismus« gesprochen, der für die Gegenwart charakteristisch sei. Vgl. Knebel, Hans-Joachim: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960, S. 156.
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in Reisebüros oder Hotels noch bedürfen sie eines Reiseführers leibhaftiger Art oder in Buchform. Pauschalreisende sind dagegen nicht nur kalkulierbare Urlauber, sondern machen, wie schon Knebel feststellte, die Hauptkundschaft der Reisebüros und -veranstalter aus.9 Tourismusforscher haben sich bemüht, Bestimmungen des Massentourismus zu entwickeln, die solchen Bedürfnissen entgegenkommen.10 Dabei finden Individualreisende unter diesem Label durchaus ihren Platz. Insofern wird es kein Widerspruch sein, wenn gerade am Beispiel von Wanda Frisch und ihrer Familie, die nur selten Pauschalpakete nutzten, die Geschichte des deutschen bzw. bundesdeutschen Massentourismus diskutiert wird. Blickt man in die Schweiz, so konnte Schumacher am Beispiel des Reiseveranstalters »Hotelplan« zeigen, dass hier in den 1940er Jahren »Ferien als jenes individualisierte, für alle zugängliche, aber von gemeinschaftlichen Vorstellungen befreite Konsumgut konzipiert« wurde, dass man nach dem Krieg als »Massentourismus« bezeichnet habe.11 Erweist sich der Tourismus auch als ein wirkmächtiges und statistisch greifbares Phänomen, über den zahlreiche Theorien entwickelt wurden, ergibt der Blick auf den Touristen ein widersprüchliches Bild. Schon die Verwendung von Singular oder Plural verweisen auf unterschiedliche Abstraktionsniveaus und Anliegen. Als »Sozialfigur«12 , als »Mensch des 20. Jahrhunderts«13 , als »a Methaphor of the Social World«14 , als Symbol der Postmoder-
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Vgl. ebd., S. 73. Vgl. etwa die Übersichten bei Scherrieb, Heinz Rico: Der westeuropäische Massentourismus. Untersuchungen zum Begriff und zur Geschichte des Massentourismus insbesondere der Verhaltensweisen bundesdeutscher Urlaubsreisender, Würzburg 1974, S. 129-148 oder Fink, Christian: Der Massentourismus. Soziologische und wirtschaftliche Aspekte unter besonderer Berücksichtigung schweizerischer Verhältnisse, Bern und Stuttgart 1970, S. 11-28. Schumacher, Beatrice: »Genuss im Überfluss«. Entwürfe von »Massentourismus« in der Schweiz 1935 bis 1948, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1(1997), S. 131. Moebius, Stephan; Schroer, Markus: Einleitung, in: Moebius, Stephan (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010, S. 7-11. Spode, Hasso: Der Tourist, in: Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 111-137. Dann, Graham M.S. (Ed.): The Tourist as a Methaphor of the Social World, Wallingford 2002.
Einleitung
ne15 oder eine neue Ausdrucksform der »leisure class«16 wird er mehr oder minder zum Idealtypus erhoben, der berufen ist, ein Zeitalter zu repräsentieren. Löfgren stellt unter der Überschrift »Looking for Tourists« zwar fest: »We are different«, arbeitet jedoch mit den von Urbain vorgeschlagenen Idealtypen Robinson Crusoe und Phileas Fogg.17 Auf die eigenartigen Folgen der Singularform hat kürzlich d’ Eramo hingewiesen: »Aus Tradition und aus Gewohnheit benutzt die angelsächsische Soziologie immer den Singular, um eine soziale Figur zu bezeichnen: So finden sich in den soziologischen Klassikern der USA etwa Der polnische Bauer, Der Hobo, Der jugendliche Straffällige, Das unangepasste Mädchen, Der randständige Mann, und nicht Die polnischen Bauern oder Die unangepassten Mädchen. Die subtile Operation, die hinter diesem Gebrauch des Singulars steckt, nimmt man besser wahr, wenn man beispielsweise Die randständigen Männer schreibt. Denn die Einsamkeit, die in der Singularbezeichnung so plastisch ist, wird im Plural problematisch. Dekliniert man sie im Singular, wird eine soziale Gruppe zum menschlichen Typus, zu einer Art Charakterbild des Theophrast (der Geizhals, der Schmeichler, der Eifersüchtige).«18 Die Singularform hat ihren heuristischen Wert, verleitet manchmal aber in verführerischer Weise auch dazu, die geschichtlichen Umstände und das soziale und kulturelle Umfeld auszublenden, in denen sich Touristen (im Plural) bewegen und handeln. Das mag Bachleitner zu folgendem Befund bewogen haben: »Der Wissensstand über den heutigen ›Touristen‹ ist höchst paradox, kontrovers und unbefriedigend […]. Der Tourist gilt einerseits als das unbekannte Wesen, andererseits existieren über ihn und zu seiner Charakterisierung alle nur erdenklichen statistischen Kennwerte und typenspezifischen Klassifikationen.«19
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Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997. MacCannell, Dean: The tourist: a new theory of the leisure class, Berkeley, Calif. 1999. Löfgren, Orvar: On Holiday. A History of Vacationing, Berkeley, Calif. 1999, S. 9 und 260. Vgl. Urbain, Jean-Didier: L’Idiot du voyage: Histoires du touristes, Paris 1991. D’ Eramo, Marco: Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2018, S. 294. Bachleitner, Reinhard: Der Tourist, in: Moebius, Diven, Hacker, Spekulanten, S. 423.
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Was könnte besser aus diesem Dilemma helfen als den oben zitierten Betrachtungsabstand tatsächlich zu verringern und die Reisebiografie einer konkreten Touristin zu untersuchen? Wanda Frisch wurde im Jahre 1923 als einziges Kind eines mittleren Angestellten und seiner Ehefrau in Essen geboren. Sie besuchte eine bekannte katholische Mädchenschule bis zum Alter von sechzehn Jahren ‒ eine Tatsache, die lebenslang bedeutsam blieb. Danach absolvierte sie eine Büro-Lehre, die es ihr ermöglichte, zu einer geachteten Chefsekretärin aufzusteigen. Schon früh verreiste sie mit ihren Eltern, um später selbständig eine beachtliche Reisekarriere hinzulegen. Dafür hat sie einen beträchtlichen Aufwand betrieben, von dem auch die überlieferten Materialien Zeugnis geben. Im Laufe der Jahrzehnte entstand auf diese Weise eine Dokumentation dessen, was sie für ihr Leben als charakteristisch ansah, denn die Urlaubsreisen gehörten zu den zentralen Ereignissen ihres Lebens. Und so wurde sie auch von ihrer Mitwelt, von Freunden und Bekannten wahrgenommen, als Reisende zu interessanten, zuweilen extravaganten Zielen. Vor allem als alte Frau stieß sie damit auch auf Unverständnis. Sich diesen Überlieferungen aus der Perspektive einer kultur- und sozialwissenschaftlich inspirierten Tourismusforschung zu nähern, kann manches voraussetzen, was dort in den letzten Jahrzehnten erarbeitet wurde. Dabei wurde häufig ein fächerübergreifendes Miteinander beschworen, das aber schwer zu realisieren ist. Hier soll nun der umgekehrte Weg gegangen werden und Wanda Frischs touristisches Leben als Exempel genommen werden, an dem sich Befunde unterschiedlicher Disziplinen bewähren können. Das geht allerdings nur, wenn es mehr darstellt als ein zufälliges Beispiel. Dafür spricht einiges. Wanda Frisch ist Tochter eines Angestellten und selbst als Angestellte tätig gewesen. Bekanntlich ist es gerade diese soziale Gruppe, der eine Pionierrolle beim Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert, besonders aber nach dem 2. Weltkrieg zugeschrieben wird. Vor allem berufstätige, unverheiratete junge Frauen erregten dabei die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen.20 Anfragen an das HAT belegen zudem, dass gegenwärtig eine Generation von der historischen Bühne verschwindet, die über lebenslange Reiseerfahrungen verfügt. Deren Zeugnisse gelten vielen (wie
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So auch Spode, Hasso: Der Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert, in: Haupt, Heinz-Gerhard; Torp, Claudius (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 121.
Einleitung
eben auch unserer Protagonistin) als Teil ihrer Lebensleistung und damit bewahrungswürdig. Aus diesen Gründen scheint es sinnvoll und möglich, Wanda Frisch zum einen als Typus, als die Touristin aufzufassen, wobei der bisher unüblichen weiblichen Form des Singulars eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Zum anderen wird sie als historische Figur aufgefasst, an der sich die Bedingungen und die spezifische Gestalt der touristischen Entwicklung im 20. Jahrhundert als Teil der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands bzw. der Bundesrepublik nachzeichnen lassen. Zum Dritten interessiert sie als Subjekt, an dem demonstriert werden kann, wie die gesellschaftlichen Vorgaben je individuell umgesetzt wurden. Das deutet in Richtung Alltagsgeschichte und Mikro-Historie: »Akteure sind beweglich, wenn auch nicht im luftleeren Raum. Sie nutzen und interpretieren situativ und auf ihre Weise Anweisungen wie Anreize. In ihren Aneignungen produzieren sie Eigenes, sie zeigen Eigensinn.«21 Allerdings gibt es auch einen gewichtigen Grund, Wanda Frisch die Möglichkeit abzusprechen, Allgemeingültiges repräsentieren zu können: Sie heiratete nicht und blieb kinderlos. Dabei scheint gerade die reisende Kernfamilie typische Erscheinungsform des Homo touristicus zu sein. Der Urlaub sei sogar jener Lebensbereich, »der die moderne Kleinfamilie erst konstituierte.«22 Nachweislich führt der Familienzyklus zu veränderten Reisegewohnheiten bis hin zu sinkender Reiseintensität. Schließlich müssen die zunächst knappen Mittel anders eingesetzt werden. Mit der Gründung einer neuen Haushaltung oder der Versorgung kleiner Kinder hatte sich Wanda Frisch nicht auseinanderzusetzen, ihre Reisebiografie ist über Jahrzehnte als aufsteigender Graph darstellbar. Für manchen Beobachter mag es deshalb so aussehen, als habe sie durch das Reisen ein Defizit ausgeglichen. Nachweisen lässt sich das nicht.23 21 22 23
Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 566. Spode, Der Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert, S. 119. Ein Blick in die Statistik hilft nicht viel weiter. Zwar wird immer auf die kriegsbedingten Verluste in bestimmten Altersgruppen hingewiesen, aber das sagt noch nichts über die konkreten Möglichkeiten aus. Nach der Volkszählung von 1954 standen allerdings den knapp 1,4 Millionen Frauen im Alter von 35-40 Jahren nur reichlich eine Million Männer gegenüber. Im Jahre 1964 waren 11,3 % der Frauen im Alter von 40-45 Jahren ledig, bei den Männern nur 5,2 %. Rund ein Fünftel der Frauen dieser Altersgruppe waren ledig, aber nur etwa 7 % der Männer. Wanda Frisch gehörte zweifellos zu einem Jahrgang, in dem das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter besonders prekär war. Ihre Freundinnen waren allerdings alle verheiratet und sie selbst der Meinung, zu selbstbewusst
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Zudem ist die besondere Rolle der Kernfamilie kaum belegt und es ließe sich einiges dagegen ins Feld führen. Zunächst ist das reisende Ehepaar mit kleineren Kindern im Lebenslauf der Betroffenen selbst eine wichtige, aber eben doch endliche Phase. Meist wird dabei an die Eltern gedacht, die den Urlaub im Hinblick auf die im Maße ihrer Entwicklung ständig veränderten Bedürfnisse der Kinder organisieren. Wenig systematisch Erforschtes ist dagegen über die Kinder bekannt, die doch so ihr Reiseleben beginnen.24 Für Jugendliche, die mit ihren Eltern verreisen, gilt Ähnliches. Gerade ihr Leben als lediges Fräulein lädt dagegen dazu ein, an alternative Formen gemeinsamen Reisens zu denken, an Kinder und Jugendliche, die mit Gleichaltrigen unterwegs sind und nicht mit den Eltern oder an Urlaubsreisen mit Großeltern, Geschwistern und anderen Verwandten, mit Freundinnen und Freunden und deren Kindern, mit früheren Reisebekanntschaften oder Kolleginnen. Selbstverständlich repräsentieren auch reisende Ehepaare die Kernfamilie noch nicht oder nicht mehr. Zudem sind es, wie gesagt, gerade allein reisende junge Frauen, die im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Bleibt die Frage, aus welcher kulturwissenschaftlichen Perspektive auf die »eigensinnig« handelnde Protagonistin geblickt werden soll. Hierzu haben Kramer und andere in den 1970er Jahren einen theoretischen Ansatz formuliert, der eine brauchbare Ausgangsbasis liefert. Im Zuge einer Neubestimmung des Kulturbegriffs ging man seinerzeit daran, das Verhältnis von Tourismus und Kultur näher zu bestimmen und den Tourismus als Kulturerscheinung theoretisch, historisch und politisch als Forschungsgegenstand der Empirischen Kulturwissenschaft zu legitimieren. »Viel spannender aber noch ist die Frage nach den Touristen selbst. Gemeint ist damit nicht die marktorientierte Sezierung ihrer Wünsche, Motive und Verhaltensweisen, sondern die nach der kulturellen Bedeutung des Tourismus für seine Träger, nach den mit ihm verbundenen Formen der Umweltaneignung und des Beziehungsreichtums, nach seinen Erlebnisformen und seinem Beitrag zur Persönlichkeits- und Bewußtseinsentwicklung. Umfas-
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für einen Ehemann zu sein. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1956, S. 40 und 1966, S. 40. Löfgren wurde angesichts eines Fotoalbums, das er selbst mit zwölf Jahren angelegt hatte, daran erinnert, dass »albums like these tell the story of learning to be a tourist.« Löfgren, On holiday, S. 73.
Einleitung
sender: Wie hängt Tourismusentwicklung als Kulturerscheinung mit der Gesamtkulturentwicklung zusammen?«25 Das hat Kramer später mit seinem Vorschlag, Reisen als »kulturelle Tätigkeit im Wandel« zu begreifen, nochmals bekräftigt.26 Die Urlaubsreise unserer Tage sieht er dominiert durch den Aspekt »des Genusses, des genußvollen individuellen Konsums von gesellschaftlichem Reichtum«.27 Dafür ist Wanda Frisch ein bemerkenswert kohärentes Beispiel. Eingedenk dieser Überlegungen wendet sich das erste Kapitel der die ganze Studie begleitende Frage nach den Geschlechterverhältnissen im Tourismus zu. Neben einer Bestandsaufnahme wird geprüft, welcher Nutzen sich aus den Ergebnissen der gender-basierten Reiseforschung ziehen lässt. Dabei wurden zwei Aspekte herausgefiltert, die mit Blick auf die Protagonistin Wanda Frisch wie auch auf die bisherigen Diskurse zum Thema in der Tourismusforschung von besonderer Bedeutung sind: Ungleichzeitigkeiten in den Reisebiografien von Frauen und Männern und das »Problem« allein reisender Frauen. Im zweiten Kapitel wird versucht, das auch in der Tourismusforschung virulente Thema der Reisebiografie in den soziologischen und historischen Diskurs zu Biografie und Lebenslauf einzubetten und einen entsprechenden theoretischen Unterbau zu sichern. Zugleich wird dieser Abschnitt für einen historischen Vergleich zwischen einer Reisebiografie des 19. und des 20. Jahrhunderts genutzt.
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Kramer, Dieter: Aspekte der Kulturgeschichte des Tourismus, in: Kramer, Dieter: Tourismus-Politik. Aufsätze aus 12 Jahren Tourismus-Diskussion, Münster 1990, S. 41f. Der Aufsatz erschien zuerst im Jahre 1982 und bezieht sich auf die damalige Forschungssituation. An der grundsätzlichen Berechtigung dieses Ansatzes hat sich aber nichts geändert. Vgl. auch Gyr, Ueli: Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 84(1988), S. 224-239. Damit waren methodologische Konsequenzen verbunden. Vgl. Gyr, Ueli: Kultur für Touristen und Touristenkultur. Plädoyer für qualitative Analysen in der Reiseforschung, in: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.): Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung, Frankfurt a.M. 1992, S. 19-38. Kramer, Dieter: Was bedeutet die Theorie des Tourismus für die Kulturwissenschaften? In: Burmeister, Hans-Peter (Hg.): Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, Loccumer Protokolle 5/98, Loccum 1998, S. 156. Ebd., S. 157.
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Welchen wissenschaftlichen Nutzen eine biografische bzw. Lebenslaufperspektive erbringen kann, zeigt sich aber erst richtig in den empirischen Betrachtungen des vierten und fünften Kapitels. Das dritte Kapitel ist der Sozial- und Kulturgeschichte der Angestellten in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts gewidmet, wobei der Blick auf die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen gerichtet ist, die es ihnen ermöglicht (und erschwert) haben, Pioniere des Massentourismus zu werden. Im Mittelpunkt stehen die weiblichen Angestellten ‒ Tipp-Fräuleins, die Wanda Frischs Kindheit und Jugend begleiteten oder Chefsekretärinnen aus jener Zeit, als sie selbst zu einer aufgestiegen war. Im vierten Kapitel wird auf unterschiedlichen empirischen Wegen am Typus »der Touristin« gearbeitet und der zoom weiter und enger gestellt. Es gilt, den Reisestil von Wanda Frisch zu skizzieren. An ihm wird zugleich ihr Habitus als reisende Angestellte abgelesen, die gerade im Touristischen eine wesentliche Ausdrucksform ihres Lebens gefunden hatte ‒ so jedenfalls die Annahme. Dies geschieht unter dem Dach von Bourdieu und seiner Theorie der Distinktion.28 Schon im ersten Kapitel wurde der zeithistorische Rahmen des 20. Jahrhunderts, der die Lebenszeit von Wanda Frisch und ihrer Eltern umspannt, weit überschritten. Auch das in den Fotoalben überlieferte Material legt es nahe, den zeitlichen Fokus zu erweitern und damit kulturgeschichtlichen Aspekten Raum zu geben, die bisher nicht diskutiert wurden. Im fünften und sechsten Kapitel wird eine Spurensuche nach dem Erbe der bürgerlichen Reisekultur im modernen Tourismus angetreten. Umgekehrt interessieren die touristischen Momente im Reiseverhalten seit etwa 1780, wobei vor allem die bürgerliche Mittelschicht in ihrem Verhältnis zu Bildung, Konsum und Vergnügen ins Zentrum gerückt wird. Nicht zuletzt soll so der im dritten und vierten Kapitel herausgearbeiteten konsumistischen Einstellung ein Gegengewicht erstehen, indem Strategien zur Bildung und Selbstaufklärung mit jenen Mitteln und in jenen Grenzen herausgearbeitet werden, die
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Dem Alltagshistoriker Lüdtke erscheint dessen Theorie allzu »zweipolig«, »linear« und »hierarchisch« und beschränkt anscheinend allzu sehr mögliche Alternativen. Vor allem die »Inkonsistenz individueller Wahrnehmungs- und Handlungsweisen« bleibe ausgeblendet. Wer an den »Eigensinn« appelliert, muss zweifellos so argumentieren, doch auch diesem sind strukturelle Grenzen gesetzt, denn niemand wird behaupten, dass jeder alles machen kann oder will. Vgl. Lüdtke, Alltagsgeschichte, S. 566.
Einleitung
vor dem Siegeszug des Internets einer Urlaubsreisenden wie Wanda Frisch im 20. Jahrhundert zur Verfügung standen. Das Medium Fotoalbum impliziert, sich dabei auf die Entwicklung touristischer Bilderwelten und ihrer Rezeption seit dem Ausgang des 18. Jahrhundert zu konzentrieren. Welche Formen waren fast jedermann zugänglich, wie entwickelte sich ihr touristisches Potenzial und welche Rolle spielten sie in der Praxis, im Reiseverhalten? In den ersten beiden Abschnitten des sechsten Kapitels wird diskutiert, warum private Fotoalben mit Urlaubsbildern »schwierige Quellen« sind und welche aussichtsreichen theoretischen Konzepte zur Verfügung stehen. Der dritte Abschnitt widmet sich den von reisenden Aufklärern entwickelten Praxen und identifiziert ihre Spuren im Verhalten fotografierender Touristen. Im abschließenden Teil dienen kulturgeschichtliche Befunde zu einer Ästhetik der Dynamik der Interpretation von Fotoserien aus Wanda Frischs letztem Album. Eine streng systematische Abhandlung ist dabei nicht entstanden und erscheint angesichts der Disparatheit der Quellen und der sich daraus ergebenden zahllosen Anknüpfungspunkte auch wenig sinnvoll. Praktisch wird ein ständiger Perspektivenwechsel vollzogen zwischen den Anregungen, die sich aus naheliegenden wissenschaftlichen Diskursen ebenso ergeben wie aus den Assoziationen, die sich bei näherer Betrachtung des Nachlasses eingestellt haben. Noch ein Wort zu den Quellen, die sowohl für Historiker wie Soziologen von eher unüblicher Art sind. Sie sind keine Selbstzeugnisse wie etwa Autobiografien und Memoiren, Tagebücher und Chroniken, Reiseberichte oder Briefe. Sie erfüllen auch nicht jene Kriterien von »Ego-Dokumenten« im weiteren Sinn, wie sie Schulze seinerzeit vorgeschlagen hat.29 Sie wurden nicht in qualitativen Interviews erhoben und berichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht über Gefühle, Einstellungen oder Motive. Schon eher scheinen sie ins ethnologische Fach zu schlagen, doch letztlich gilt auch hier: Was Wanda Frisch für sich selbst ausdrücken wollte oder uns sagen kann, muss vor allem aus dem abgelesen werden, was sie gesammelt und aufbewahrt hat und in welcher Weise sie es tat. Einerseits ist das Überlieferte in hohem Maße objektiv und geeignet, als historische Quelle zu fungieren. Hier ist eine
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Vgl. dazu den Überblick von Rutz, Andreas: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: zeitenblicke 1 (2002)2, (20.12.2002), S. 2 URL: www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html, Zugriff am 7.10.2018.
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Sammlung von Dingen vorhanden, an denen konkret und bis hin zu den Preisen nachvollzogen werden kann, wie Urlaubsreisen von den Fünfzigern bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts funktionierten.30 Andererseits wird angenommen, dass es sich um ein Selbstzeugnis, ja eine Chronik in Form unterschiedlichster Zeugnisse handelt, bei dem es durchaus um freiwillige und bewusste Mitteilungen geht, die über Selbstwahrnehmung und Weltverhältnis der betreffenden Person Auskunft geben, als Reaktion auf sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse wie Veränderungen im Lebenslauf.
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Damit repräsentieren sie »materielle Kultur im Tourismus«, wie es in einem Tagungsband über das neue Interesse an den materiellen Dingen heißt, ohne die keine Urlaubsreise stattfindet. Vgl.: Moser, Johannes; Seidl, Daniella (Hg.): Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus, Münster/New York/München/Berlin 2009.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
In der Einleitung wurde begründet, warum es sinnvoll ist, eine weibliche Angestellte zu wählen, um die Entfaltung des Massentourismus in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen. Damit gerät zugleich das Thema der Geschlechterverhältnisse im Tourismus in den Fokus. Es ist nicht zu leugnen, dass damit einer Konvention gefolgt wird, die schon vielfach zu Recht kritisiert wurde. Beim Thema gender werde allein an Frauen gedacht, stellte Swain in einem Übersichtsartikel zum Thema »Gender in Tourism« angesichts einer Sonderausgabe der Annals of Tourism Research aus dem Jahre 1995 fest. Das sei gefährlich, die Frauen würden so zu einer »peculiar species« gemacht. »However, studies just about women or men can be written from a gender perspective putting the subject into the context of gendered society«1 Dafür gab es Mitte der 1990er Jahre einige hoffnungsvolle Ansätze, die sowohl die Perspektive der Touristen (guests) und der Bereisten (hosts) einnahmen und in Form von theoretisch-strategischen Arbeiten und Fallbeispielen das neue Forschungsfeld akzentuierten. Einflussreich wurde ein von Kinnaird und Hall 1994 herausgegebener Sammelband, in dessen Einleitung davon ausgegangen wird, dass touristische Prozesse in von Geschlechterverhältnissen geformten Gesellschaften stattfinden und damit »are gendered in their construction, presentation and consumption, and the form of this gendering is configured in different and diverse ways which are both temporally and spatially specific.«2 Es gehe um die Frage, was touristische Entwicklung
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Swain, Margaret Byrne: Gender in Tourism, in: Annals of Tourism Research 22(1995)2, S. 247. Vgl. auch den Forschungsüberblick von Maurer, Mechthild: Tourismus im Visier der Gender-Debatte, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 2(1998), S. 153-160. Kinnaird, Vivian; Kothari, Uma; Hall, Derek: Tourism: gender perspectives, in: Kinnaird, Vivian; Hall, Derek (Ed.): Tourism: A Gender Analysis, Chichester 1994, S. 2.
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Die Touristin Wanda Frisch
für Frauen und Männer in unterschiedlichen Gesellschaften bedeutet und das sowohl in ökonomischer wie sozio-kultureller Hinsicht.3 Doch zunächst einige Beobachtungen zu den Reaktionen auf die wachsende Zahl von Frauen unter den »Freizeitreisenden« im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Ist das aus kulturkritischer Perspektive formulierte und nach wie vor virulente schlechtere Image des Touristen im Vergleich zum Reisenden vielleicht nicht nur auf die Beteiligung gesellschaftlich Unterprivilegierter zurückzuführen, sondern auch auf die des weiblichen Geschlechts? Wurde die Abwehr des Touristischen am Reisen, die Klage über deren Massenhaftigkeit möglicherweise zunächst sogar durch das hinzugekommene weibliche Element (samt anhängender Familie) provoziert? Als drittes Moment wäre die Anwesenheit fremder, d.h. anderer ausländischer Touristen hinzu zu rechnen, wobei man sich vor allem an den Briten abarbeitete. Alle drei Stränge konnten sich in verwirrender Weise verbinden und resultierten in der Figur des blinden Touristen in ihrer Erscheinungsform der »schwärmerisch-schwatzhaften Frau, die entweder gar nichts, nur das Falsche oder das Richtige auf falsche Weise sagte.«4 Sie wurde von Männern wie Frauen kritisiert und zwar einmal von oben herab, als sozial Unterlegene, andererseits vor allem von Frauen aus derselben Schicht als in ungebührlicher Weise die männliche Bildungshoheit Verleugnende. Der Diskurs hat sowohl einen quantitativen wie einen qualitativen Aspekt. Der quantitative betrifft die Verteilung einer sich theoretisch mehr als verdoppelnden Anzahl von Reisenden auf eine nicht in gleichem Maße wachsende Anzahl von Destinationen, wovon zumindest für das 19. Jahrhundert ausgegangen werden kann.5 Da konnte es schon eng werden, wie der Kritik Otto Benekes, eines wichtigen Protagonisten im folgenden Kapitel zu entnehmen ist. Am Ende seines Lebens fühlte er sich »›durch das allgemeine Reise-
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Ebd., S. 8. Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster 2005, S. 139. Das soll für die Destinationen auf dem »Kontinent« gelten. Die Wahrnehmung englischer Touristen auf dem europäischen Festland und die sich an ihnen entzündende Tourismusschelte ist bisher nicht aus der Geschlechterperspektive bedacht worden. Dabei galt für Annegret Pelz schon um 1800: »Italien- und rheinreisende Engländerinnen waren zu sprichwörtlichen Touristinnen ihrer Zeit geworden.« Pelz, Annegret: Reisen Frauen anders? Von Entdeckerinnen und reisenden Frauenzimmern, in: Bausinger, Hermann; Beyrer, Klaus; Korff, Gottfried (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 177.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
fieber der modernen Welt‹ abgeschreckt. Der Andrang ›ganze(r) Philisterfamilien mit allen Kindern, Affen, Hunden u. Papageien‹ in Verkehrsmitteln und Gasthäusern oder vor Sehenswürdigkeiten machten es ihm unmöglich, Reisen noch länger zu genießen.«6 Der qualitative Aspekt hat etwas mit dem Bild des Reisenden zu tun, wie er etwa von Urry im »romantic gaze« kolportiert wird ‒ »solitude, privacy and a personaly, semispiritual relationship with the object of the gaze«. Dem stehe der »collective gaze« gegenüber. »Other people also viewing the site are necessary to give liveliness or sense of carnival or movement.«7 Es drängt sich auf, hier an Zuschreibungen und Inszenierungen wie männlich strebende Zurückgezogenheit auf sich selbst einerseits und weibliche, auf Außenwirkung berechnete Vergnügungssucht andererseits zu denken. Daran änderten auch die aus der Feder weiblicher Reisender stammenden Bemühungen nichts, es den Männern gleichzutun. Die Anwesenheit des weiblichen Elements scheint die Ernsthaftigkeit männlicher Anstrengungen zu stören, ja zu zerstören. Das irritierte vor allem im Übergang zum Massentourismus, den Knebel mit Wehmut, zeitdiagnostischem Gespür und dem damaligen Kenntnisstand entsprechend auch als Geschlechterangelegenheit beschrieb: »War einst das Reisen eine Männersache, an der das weibliche Geschlecht erst mit dem Eindringen des Vergnügungsmotivs in die touristischen Verhaltensweisen teilhatte, so beobachten wir heute den Abschluss der touristischen Emanzipation der Frau, der sich vor allem im Überwiegen des weiblichen Geschlechts bei den Gesellschaftsreisen dokumentiert.«8 Solche Zuschreibungen erinnern im Übrigen an den in den 1990er Jahren geführten Diskurs um (männliche) Halbstarke mit ihren vermeintlich konsumkritischen Ausbrüchen aus der braven bundesdeutschen Wirtschaftswunderwelt der 1950er Jahre und den (weiblichen) Teenagern, die deren Angebote ohne Bedenken aufgriffen. Dagegen wandte Maase ein:
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Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 171. Urry, John: The Tourist Gaze, Second Edition, London/Thousand Oaks/New Delhi 2002, S. 150. Jüngst wurde auf einer Tagung an verschiedenen Beispielen über »Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht« nachgedacht ‒ auch der Tourismus würde hier ein interessantes Feld abgeben. Vgl. Tagungsbericht: Historische Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht. 06.07.2017-07.07.2017 Bochum, in: H-Soz.-Kult, 08.01.2018, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7485, Zugriff am 25.5.2018. Knebel, Hans-Joachim: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960, S. 86.
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»Der Unterschied ist keiner des emanzipatorischen Gehalts.« Der Kommerzverdacht, der den Blick auf die Teenager bestimmt, wäre gleichermaßen auf die Halbstarken anzuwenden.9 Auf unseren Fall übertragen bedeutet dies, sowohl die weiblichen wie die männlichen Konnotationen der Reisepraxis als Konstruktionen gesellschaftlich einzuordnen und zugleich nach ihren Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu fragen. Dabei ist sowohl die Fremdwahrnehmung durch andere (männliche und weibliche) Reisende, durch eine interessierte Öffentlichkeit wie durch die Wissenschaft gemeint. Es soll vermieden werden, Frauen entweder nur als wie auch immer begründete Nachahmerinnen männlicher Praktiken und Selbstdarstellungen oder als bessere Hälfte zu deuten. Vielmehr geht es um die Frage, ob sich die »Geschlechtsspezifik des Blicks«, deren Abwesenheit Pagenstecher in den von ihm analysierten Theorieansätzen zum Tourismus anmerkt, durch die Hintertür eingeschlichen hat ‒ als unhinterfragte männliche Perspektive, die für das Ganze stehen will.10 (Schon Mitte der 1990er Jahre hatte Swain die »›genderless‹ masculine perspectives«11 prominenter Theoretiker des Tourismus herausgearbeitet.) So kritisierte Pagenstecher: »Ein Blick in ein einschlägiges Handbuch zeigt: Die Kategorie Geschlecht ist in der deutschen Tourismusforschung bislang völlig marginal.« Sie würde selbst bei Themen wie »sozialdemographische Bedingungen, Alleinreisenden und Familienurlaub vernachlässigt«.12 Und weiter: »Ob männliche und weibliche Reisende möglicherweise unterschiedliche Motive oder Wahrnehmungen haben könnten, ist der Tourismusforschung kaum eine Zeile wert.«13 Welche Folgen das habe, zeige sich in der geschlechtsneutralen Skizze von Hennig zum Camping.14 Dort könne man lesen: »Man hört Radio und liest die Zeitung, spielt Karten und Federball oder kümmert sich um Einkauf und Abwasch. […] Auf dem Campingplatz ‒ wie am Strand ‒ entsteht eine flüchtige Welt außerhalb der Alltagszwänge.« Dagegen halte Löfgren: »Family leisure still meant woman’s work«15 Ähnlich realistisch hatte auch schon Scheuch argumentiert. »Für die Frau eines
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Maase, Kaspar: BRAVO Amerika, Hamburg 1992, S. 162. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 37. Swain, Gender in Tourism, S. 257. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 19. Ebd., S. 37. Pagenstecher bezieht sich auf: Hennig, Christoph: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt a.M. 1999, S. 33. Löfgren, On holiday, S. 64.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
Arbeitnehmers sind die vier Mahlzeiten des Tages in einer Pension, der Verzicht auf Hausarbeit, eine ebensolche Distanzierung vom Alltag, wie für ihren Mann der Sonntagsanzug eine Distanzierung von der Arbeitskleidung ist.«16 Noch zu Beginn der 1990er Jahre war das den Teilnehmerinnen einer Diskussionsrunde »Frauen im Tourismus« ein Statement wert. »Es sind ja sehr viele gesellschaftliche Korsetts, in denen Frauen immer noch stecken, sie können gar nicht heraus, auch wenn sie mit der Familie reisen. Es ist nicht nur in den Ferienhäusern und Ferienwohnungen, daß natürlich die ganze Familie sagt: ›Aber wir helfen Dir doch, Mama, was denkst Du!‹ Und wer tut nachher die Hausarbeit, die Frau tut es doch, und ob sie das mit Lust tut, wie manche Männer glauben, das weiß ich nicht, ich bezweifle es.«17 Die Tatsache, dass nun mehrheitlich Frauen die Urlaubsziele auswählen und die Reise organisieren wird häufig als Anzeichen ihrer Gleichberechtigung gedeutet. Die oft zitierte Studie von Smith lässt eigentlich anderes vermuten ‒ zur Aufgabe des Haushalts- und Familienmanagements gehört nun auch noch die Urlaubsgestaltung.18 Als Reaktion auf seinen Befund bemüht sich Pagenstecher, die Lücke zu verkleinern. Das ist eine undankbare Aufgabe, wenn es an der notwendigen theoretischen und historischen Fundierung fehlt. Um die weibliche Reiseintensität zu belegen und soziodemografisch festzumachen, kann er noch auf einige statistische Angaben zurückgreifen. Tourismus sei scheinbar schon in 1950er Jahren »Feld vollendeter weiblicher Gleichberechtigung« gewesen. Es sei aber notwendig, präziser zu differenzieren, wofür sich vor allem qualitative Analysen anbieten. Vermerkt wird der hohe Anteil der Frauen an Gesellschaftsreisen der 1950er Jahre, sowohl bei Bildungsreisen als auch geselligen Touropa-Fahrten nach Ruhpolding. »Mehrere Erhebungen zeigen fortdauernde Unterschiede in der Reiseart: Frauen reisten etwas häufiger mit Bus und Bahn; sie bereiteten sich intensiver auf den Urlaub vor und informierten sich mehr; sie waren mehr an Sehenswürdigkeiten interessiert als Männer. Vor allem bei unverheirateten Frauen gehörten Besichtigungen neben Wandern und Schwimmen
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Scheuch, Soziologie der Freizeit, in: König, Handbuch der empirischen Sozialforschung, S. 145. Frauen im Tourismus. 14. Kirchenforum der ITB Berlin 1991 (= Bensberger Protokolle 74), Bensberg 1992, S. 22. Smith, V.L.: Women. The taste-makers in tourism, in: Annals of Tourism Research, 6(1979) Jan/Mar, S. 49-60.
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zu den beliebtesten Urlaubsaktivitäten, weit vor Tanzen, Shopping oder Geselligkeit.«19 Die Trierer Studie von 1993 habe ergeben, dass die Reiseerfahrung der Geschlechter fast gleich sei. In den meisten Zielgebieten lägen die Männer leicht vorn, nicht aber bei typischen Bildungsreisezielen wie Griechenland, Ägypten und dem italienischen Binnenland. »Frauen folgten offensichtlich ein wenig stärker als Männer dem romantischen Blick auf die unberührte Geschichte. Ihre touristische Gleichberechtigung stärkte also den etablierten romantischen Blick.«20 Das ist eine spekulative Schlussfolgerung, die altbekannte Geschlechterdichotomien aufgreift. Wanda Frisch jedenfalls forderten die in der Presse vorgetragenen hämischen Kommentare über die Inferiorität führerlos reisender Touristinnen zu einer (seltenen) schriftlichen Stellungnahme heraus. Zum Abschluss der USATour von 1978 notierte sie sich auf dem Papier des The Royal Orleans Schlagzeilen der Bild-Zeitung aus jenem Zeitraum, in dem sie selbst unterwegs war. Diese »Meldungen« betreffen nahezu ausschließlich Touristinnen, die in den USA oder Mexiko unterwegs waren.21 Ihr Kommentar am Ende des dreiseitigen Papiers: »Amerika ‒ Mexiko ‒ Amerika (New Orleans). Reise zweier […] Frauen lief ab wie am Schnürchen.« (Abb. 1) Da das Geschlecht zum festen Bestand der soziodemografischen Merkmale gehört, wurde und wird es in einschlägigen Befragungen wie denen des Studienkreises für Tourismus e.V. Starnberg bzw. den der nachfolgenden Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (F.U.R.) regelmäßig erhoben. Die leichten Unterschiede und Schwankungen in der ausgeglichenen Bilanz der Reiseintensität von Frauen und Männern werden in den Berichtsbänden seit 19 20 21
Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus, S. 133. Ebd. Neben dem Versagen der touristischen Infrastruktur ‒ kaputte Fahrstühle, untätiges Reisebüro, Abzocke usw. werden besonders die Gefahren thematisiert, denen allein reisende Frauen ausgesetzt sind (Vergewaltigung durch mexikanische Polizei; blonde Deutsche fällt beim Fotografieren von Einheimischen fast einem Raubmord zum Opfer). Aber auch über die »Dummheit« der Touristinnen wird reichlich »berichtet«: Zwei Touristinnen kommen mit der Zeitumstellung nicht klar und verpassen den Rückflug; kaufwütige Urlauberinnen wissen am Ende nicht, wie sie alles nach Hause transportieren sollen. Am 16.5.78 meldete »Bild«, eine deutsche Reisegruppe von Neckermann sei in Cocoyoc eingefallen und habe die »idyllische Ruhe« gestört. Vgl. zu diesem Thema auch: Wittich, Thomas: Reisegefahren und Urlaubsängste: die touristische Erfahrung von Bedrohung und Unsicherheit als Gegenstand narrativer Darstellungen, Münster 2004.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
Abb. 1: Kommentar zur Reise 1978
Jahrzehnten ebenso vermerkt wie die Tatsache, dass wegen des aus verschiedenen Gründen vorhandenen Frauenüberschusses immer mehr Frauen als Männer verreisen. Insofern scheint es für die Tourismuswissenschaft auf diesem Feld keinen Anlass zu geben, die Geschlechterverhältnisse zu thematisieren.22 Wer hier vorankommen will, könnte auf die Erfahrungen der Reisefor22
Diese Einschränkung ist wichtig, denn das Machtgefälle zwischen Reisenden und Bereisten und innerhalb des Bereichs der im Tourismus Arbeitenden ist seit langem Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen vor allem im angelsächsischen Sprachraum. Vgl. die Übersicht bei Schlehe, Judith: Geld und Gefühl: Interkulturelle Geschlechterbeziehungen im Tourismus, in: Tourismus Journal 2(1998)2, S. 283-297.
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schung zurückgreifen. Bisher kam es allerdings zu keiner Verschränkung der Perspektiven, was einerseits daran liegen mag, dass sich die Reiseforschung vornehmlich auf die Zeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts konzentriert, während die letzten Jahrzehnte Domäne der Tourismusforscher sind. Für deren Diskurs der Geschlechterverhältnisse trifft zu, was auf einer Tagung dreißig Jahre nach der Veröffentlichung des bahnbrechenden Aufsatzes von Scott über die Nützlichkeit der Kategorie Gender für die historische Forschung resümierend festgestellt wurde. Während »geschlechterhistorische Ansätze« für Forschungen zur Zeit vor 1900 »als etabliert gelten können, zeigt sich vor allem in empirisch ausgerichteten Untersuchungen zur bundesdeutschen Zeitgeschichte nach 1945 nur eine zögerliche Übernahme solche Zugänge.«23 Auch fachspezifische Eingrenzungen haben daran ihren Anteil: hier dominieren Literaturwissenschaft und Ethnologie, dort die Soziologie. Mit Henderson benannte Swain fünf Phasen, die seit der Mitte der 1960er Jahre in Untersuchungen zum Thema Geschlechterverhältnisse auszumachen sind: In der ersten Phase wurde zu Bewusstsein gebracht, dass die Abwesenheit der Frauen männliche Erfahrungen zu universellen mache. In der zweiten wurden Frauen hervorgehoben, die männliche Standards erfüllten, während in der dritten die Differenz der Geschlechter betont worden sei. Auf dem vierten Level seien aus feministischer Perspektive in neuer Weise weibliche Erfahrungen analysiert worden, während auf dem fünften »true gender scholarship, moves to an interactional view of human expectations, behavior, and power relationships.«24 Diese Phasen vor Augen soll nun untersucht werden, inwiefern der Geschlechterblick auf den Tourismus von den Erkenntnissen der Frauenreiseforschung bzw. einer Geschlechtergeschichte des Reisens profitieren kann. Wurde tatsächlich mit der »vergessene(n) Hälfte ‒ die Hälfte vergessen«, wie Habinger es formulierte?25
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Katharina Eger: Rezension zu Förster, Gabriele: (Hg.): Gender im Fokus historischer Perspektiven. »Besonders tüchtig erscheint die holde Weiblichkeit.« Frankfurt a.M. 2016, in: H-Soz.-Kult, 10.01.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25815, Zugriff am 17.03.2018. Vgl. Scott, Joan Wallach: Gender: A Useful Category for Historical Research, in: The American Historical Review 91(1986)5, S. 1053-1075. Swain, Gender in Tourism, S. 253. Swain bezieht sich auf: Henderson, Karla: Perspectives on Analyzing Gender, Women, and Leisure, in: Journal of Leisure Research 26(1994), S. 119-137. Habinger, Gabriele: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006, S. 109.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
Weil die bürgerliche Geschlechterordnung Frauen den Platz im Hause zuwies, gelten weibliche Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts noch heute als spektakuläre Ausnahmen von der Regel. (Sie unter dem Stichwort »starke Frauen« dem Dunkel der Geschichte zu entreißen, ist deshalb eine erfolgversprechende Strategie populärer Darstellungen). Nach dem Motto, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte, argumentieren auch neuere Arbeiten zur Tourismusgeschichte. So gesteht Hachtmann zu, dass es »zwar immer reisende Frauen gegeben« hat, jedoch werden danach nur die Beschränkungen aufgezählt.26 Ein möglicher Widerspruch zwischen dem Geschlechterdiskurs und der Empirie weiblichen Reisens musste erst einmal erkannt und verarbeitet werden. Das vermerkt auch Maurers kritischer Rückblick auf etwa zwei Jahrzehnte wissenschaftlicher Arbeit zur »Geschlechtergeschichte des Reisens«. Da habe sich einerseits ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, das Reisen geschlechtsspezifisch zu untersuchen, etabliert.27 Andererseits sei die Frage, ob es Besonderheiten des weiblichen Reisens gäbe, oft »ideologisch« beantwortet worden. Mit anderen Worten, den reisenden Frauen zugeschriebene neue Verhaltens- und Erfahrungsweisen teilten diese in Wahrheit mit den Männern, sie waren epochentypisch oder Artefakte, die aus der unkritischen Vermengung von Sollen und Sein entstanden. Es sei jedoch ertragreicher zu zeigen, wie Frauen seit dem späten 17. Jahrhundert »das Reisen zu einem Programm individueller Bildung mit gesellschaftlicher Ausstrahlung« gemacht hätten, freilich in Aneignung einer »männlichen Kulturform«. Das Reisen habe dem neuen Anspruch besser entsprochen als die Bereiche der »institutionalisierten Bildung«, von denen Frauen ausgeschlossen blieben.28 Für Habinger hatte die Frauenreiseforschung diesen »ideologischen« Zugang allerdings schon in den 1990er Jahren überwunden. In einem frühen Stadium habe die Frauenreiseforschung ihre Protagonistinnen tatsächlich als »Heldinnen, Ausnahmefrauen und ›Proto-Feministinnen‹« präsentiert.29 Solche Idealisierungsstrategien sind bald einer kritischen Sicht sowohl auf die Produzentinnen wie Interpretinnen der entsprechenden Texte gewichen. Das betraf vor allem jene Vorstellungen, die weiblichen Reisenden per se unterstellte, durch ihr Tun zur Emanzipation der Frauen beizutragen und beitragen 26 27
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Hachtmann, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 63. Vgl. Maurer, Michael: Reisen interdisziplinär ‒ Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Maurer, Michael (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 333. Ebd., S. 334. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 115.
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zu wollen.30 Eine Begründung findet sich bei Siebert: »Durch das Bestreben, Frauen als Subjekte zu begreifen und das vorhandene Defizit an positiven weiblichen Leitfiguren, über die kaum Forschung und damit noch wenig Wissen existierte, zu beheben, trug diese Frauenreiseforschung ungewollt oder auch beabsichtigt dazu bei, reisende Frauen zu idealisieren.«31 Ein wenig von der Ausgangslage widerspiegelt sich auch im Resümee der an einer verdienstvollen Bibliografie zum Thema Frauen und Reisen beteiligten Annegret Pelz. Zahlreiche Reiseaktivitäten von Frauen hätten stattgefunden, »ohne größeres Aufsehen, Skandale, Konflikte oder Reibungspunkte und auch ohne kritischen Nachhall in der Reiseöffentlichkeit des 18. und frühen 19. Jahrhunderts«. Und das trotz gegenteiliger bürgerlicher Ideologie. Auch die Protagonistinnen selbst stellten »die Reise als eine unspektakuläre, geradezu alltägliche Erfahrung dar, die die Reisenden so gut wie niemals an den Rand jenes Abgrundes führte, an dem sich unterwegs das Neue und Nie-Gesehene auch der eigenen ‒ weiblichen ‒ Identität offenbarte.«32 Praktisch hatte sich die aufblühende Reiseforschung seit den 1970er Jahren zunächst den Überlieferungen von Männern zugewandt.33 In den 1980er Jahre begaben sich in der Mehrheit forschende Frauen auf die Suche nach
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Ebd., S. 116ff. Das solche Darstellungsstrategien sich aber hartnäckig halten, zeigt beispielsweise die Arbeit von Karnath, Lorie: Verwegene Frauen. Weiblicher Entdeckergeist und die Erforschung der Welt, München 2009. Allerdings treffen solche Titel auch leichter das Interesse des Publikums. Siebert, Ulla: Grenzlinien. Selbstrepräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914, Münster/New York/München/Berlin 1998, S. 19. Siebert vergleicht deshalb auch die Selbstrepräsentationen zweier Reisender mit unterschiedlichen Ansprüchen: die »Forschungsreisende« Therese von Bayern und die aus dem gehobenen Bürgertum stammende »Vergnügungsreisende« Sophie Döhner. Pelz, Annegret: »Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?« Das »reisende Frauenzimmer« als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts, in: Griep, Wolfgang (Hg.): Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Heide 1991, S. 125f. Vgl. auch Griep, Wolfgang; Pelz, Annemarie: Frauen reisen. Ein bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Frauenreisen 1700 bis 1810, Bremen 1995. So etwa Piechotta, Hans Joachim (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, Frankfurt a.M. 1976; Griep, Wolfgang; Jäger, Hans-Wolf (Hg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1983 oder Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1989. Noch im schon erwähnten Sammelband von Bausinger, Beyrer und Korff werden weibliche Reisende fast ausschließlich in jenem Beitrag behandelt, der ihnen ganz gewidmet ist.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
weiblichen Reisenden, deren aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwundene Berichte neu herausgegeben wurden. Der Klappentext einer ersten richtungweisenden Publikation mit Beiträgen von einem interdisziplinären Symposium in Bremen 1993 verdeutlicht die Ausgangslage. »Waren die großen Reiseschriftsteller und Ethnographen, Entdecker und Eroberer alle Männer? So jedenfalls scheint es, will man Historiographie, Ethnographie und Literaturwissenschaft Glauben schenken. Die Frauenforschung hat diese einseitige Darstellungsweise jedoch längst in Frage gestellt: Frauen haben bereits im 18. Jahrhundert und früher entweder allein oder in Begleitung anstrengende, bisweilen gefährliche Reisen unternommen. Das 19. Jahrhundert wurde schließlich zu dem Reisejahrhundert von europäischen Frauen, in dem sie sich nicht nur Zugang zur Welt, sondern auch verstärkt zu den Medien verschafften. Ihre Reiseaufzeichnungen und Erfahrungsberichte waren gern gelesene Lektüre.«34 An der öffentlichen Wahrnehmung haben diese Arbeiten allerdings wenig geändert, die neue Bekanntheit weiblicher Reisenden in der Geschichte ist bestenfalls akademischer Natur. Dies konstatiert auch Habinger in ihrem 2006 erschienenen vorläufigen Resümee: »Auch in neueren Untersuchungen werden reisende und forschende Europäerinnen kaum berücksichtigt oder oft nur als ›Sonderkategorie‹ angeführt.«35 Es ist also nicht gelungen, reisende Frauen in gängigen Darstellungen zur Geschichte des Reisens oder in wissenschaftlichen Interpretationen des Erbes zu etablieren. Die von Kuczynski am Ende der 1980er Jahre formulierte Einsicht, die Reiseberichte der von ihr untersuchten englischen Frauen des 18. 34
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Jedamski, Doris; Jehle, Hiltrud; Siebert, Ulla (Hg.): »Und tät‹ das Reisen wählen!« Frauenreisen ‒ Reisefrauen, Zürich/Dortmund 1994. Da hier nicht beabsichtigt ist, die Geschichte feministischer Reiseforschung zu schreiben, seien nur einige bedeutsam gewordene Arbeiten erwähnt: Potts, Lydia (Hg.): Aufbruch und Abenteuer. Frauen-Reisen um die Welt ab 1785, Berlin 1988; Jehle, Hiltrud: Ida Pfeiffer ‒ Weltreisende im 19. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte reisender Frauen, Münster/New York 1989; Pelz, Annegret: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln/Weimar/Wien 1993; Deeken, Annette; Brösel, Monika (Hg.): »An den süßen Wassern Asiens«. Frauenreisen in den Orient. Frankfurt a.M. 1996; Pytlik, Anna: Träume im Tropenlicht. Forscherinnen auf Reisen, Reutlingen 1997; Siegel, Kristi (Ed.): Gender, Genre, & Identity in Woman’s Travel Writing, New York 2004; Hodgson, Barbara: Die Wüste atmet Freiheit. Reisende Frauen im Orient 1717 bis 1930, Hildesheim 2006. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 109f.
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Jahrhunderts sollten und könnten als Teil der Gattungsentwicklung betrachtet werden, blieb demnach folgenlos.36 Mehr noch, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen haben selbst die populärsten Reiseschriftstellerinnen jenen Status öffentlicher Bekanntheit verloren, den sie bei ihren Zeitgenossen erreicht hatten. Ihre in Büchern oder Journalen veröffentlichten Reiseberichte waren seinerzeit eine ernst zu nehmende Konkurrenz für männliche Kollegen, die in diesem so überaus beliebten Genre nach Brot und Ruhm suchten. Ihr Verschwinden mag auch daran liegen, dass die männlichen »Forscher und Entdecker« des 18. und 19. Jahrhunderts quantitativ das Feld dominierten und zudem nicht nur als Schriftsteller, sondern (im Gegensatz zu den Frauen) auch im akademischen oder politischen Feld reüssieren konnten, was ihrer Verankerung im kulturellen Erbe und damit in der Überlieferung dienlich war.37 Unschwer ist zu erkennen, dass diese Diskurse das Level der Phasen drei und vier in der oben zitierten Einteilung von Henderson nicht überschritten haben. Doch immerhin, so wie die Beteiligung von Frauen praktisch zu einer, wenn auch oft nicht gern gesehenen Normalisierung des Reisens im 19. Jahrhundert geführt hat, haben sich dem wissenschaftlichen Blick neue Perspektiven eröffnet.38 Nicht nur die Frauenreiseforschung musste das Paradigma vom emanzipativen Sinn des Reisens, von der (gefahrvollen) Reise als Leistung an sich in neuer Weise angehen. Die neue Bequemlichkeit, die sich zunächst durch verbesserte Kutschen und Straßen, später durch Eisenbahnen und Dampfschiffe einstellte, goutierten selbstverständlich auch Männer. Beide Geschlechter verhalfen der »Freizeitreise« und damit dem Tourismus zum
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Kuczynski, Ingrid: »The Ladies Travel to Much Better Purpose than their Lord’s«. Reisebeschreibungen englischer Frauen des 18. Jahrhunderts, in: Hirsch, Hartmut (Hg.): Gesellschaft ‒ Literatur ‒ Sprache in Großbritannien und Irland, Halle/S. 1987, S. 58. Zit. nach Maurer, Reisen interdisziplinär, S. 144. Dazu vermerkt Habinger, inzwischen sei die Erkenntnis gereift, dass auch viele männliche sogenannte Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts Autodidakten waren, denen die Reise erst das Sprungbrett zu einer wissenschaftlichen Karriere eröffnete. Dieser Weg blieb den Frauen bekanntlich verschlossen. Vgl. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 108. Für Annegret Pelz galt schon um 1800: »Für Frauen wie Dorothea Schlegel, Henriette Herz, Rahel Varnhagen, Fanny Mendelssohn, Angelika Kauffmann, Louise Seidler oder die junge Dorothea Schlözer waren Städtereisen, Badereisen, Italienreisen eine Begleiterscheinung ihres geselligen, künstlerischen und intellektuellen Lebens.« Pelz, Reisen Frauen anders? S. 177f.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
Aufschwung.39 So definierte Victor Goldschmidt um die Jahrhundertwende ganz im Sinne des »nervösen Zeitalters« die Suche nach dem »Reizwechsel« als Grundmotiv der Reisenden. Sie sei ein Mittel der »Lebenssteigerung«, auch der erotischen, dass »dem Manne oder wenigstens der überwiegend männlich gerichteten Individualität zu entsprechen« scheint, während »die weibliche […] mit diesem Surrogat nichts anzufangen weiss.«40 Doch ließen sich die vielen weiblichen Reisenden ebenso wenig ignorieren wie der bequeme Stil vieler männlicher. »Darum darf man vielleicht trotz der reichlichen Gegenbeispiele, die jeder Reisetag scheinbar bringt, das Reisen in höchster Potenz als eine männliche Angelegenheit überhaupt bezeichnen, wobei es unnötig ist, einzuschalten, dass Frauen, die einen guten Teil männlicher Art haben, die Abenteuer der Reise suchen und finden, während Männer, die Weiber sind, auf Reisen kaum anderes erleben als gutes und schlechtes Essen im Hotel, ordentliches Bridge, Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und was sonst noch der Baedeker für den Hausbedarf vorzeichnet.«41 Das konnte in einem gewandelten Umfeld wissenschaftlich nicht unbemerkt bleiben. Altbekannte Reiseformen wurden umgedeutet, neue erweckten Interesse. Wenn in der Freizeitreise des 19. Jahrhunderts die Unterschiede der Geschlechter in Bezug auf die Reiseintensität schon verschwimmen, so drücken sie sich nun im Verhalten unterwegs, in Vorlieben und Abneigungen, in Wahrnehmungen und im Verarbeiten des Erlebten aus. Prein resümiert, dass Frauen als ungebildeter und emotionaler galten und Männer als Lehrer und Führer auftraten. Frauen erwähnen öfter Hilflosigkeit und Gotterfahrung, Männer Lernfähigkeit und Souveränität. Frauen reden und schreiben über Mode, Konsum und Manieren, Männer über Politik, Wirtschaft, Kunst. Frauen sind fasziniert vom Adel und schotten sich ängstlich und unversöhnlich nach 39
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Ich folge hier zustimmend Prein, der seine Protagonisten, Angehörige des Wirtschaftsund Bildungsbürgertums in Hamburg und Basel, bereits im 19. Jahrhundert »Freizeitreisen« unternehmen lässt, obwohl die »Freizeitgesellschaft« erst ins 20. Jahrhundert datiert wird. Schon diese Klientel musste aber ihr Reiseverhalten an den Notwendigkeiten ausrichten, die aus ihrem Arbeitsleben erwuchsen. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 2f. Goldschmidt, Viktor: Schule des Reisens. Gute Lehren des Globetrotters W. Fred, 2. Aufl., München und Berlin 1914, S. 31f. Ebd., S. 32
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unten ab. Männer bemühen sich dagegen, gegenüber Fremden kulturelle Bildung und weltläufige Gelassenheit zu demonstrieren.42 Die weibliche Reisenden formulieren den Gegensatz zur Erwerbsarbeit weniger ausgeprägt als die Männer, artikulieren aber durchaus die Freiheit von den Zwängen des alltäglichen Lebens.43 Geschlechterdifferenzen prägen auch die biografische Bedeutung, die dem Reisen zugeschrieben wurden. »Kapitel über kürzere oder weitere Reisen gehörten im 19. Jahrhundert, besonders im späten, fest zum Aufbau einer Lebenserinnerung, wobei dies allerdings bei Männern ausgeprägter war als bei Frauen.«44 Andererseits waren Reiseerinnerungen für beide Geschlechter ein »Rahmen für die Reflexion über die eigene Identität« und man machte sich Reiseberichte gegenseitig zum Geschenk. Frauen versuchten außerdem, mit einer Veröffentlichung der Aufzeichnungen ihrer Ehemänner diesen ein Denkmal zu setzen.45 Solche Vergleiche sind seltene Ansatzpunkte zu einer Geschlechtergeschichte des Reisens, die allein klären kann, ob und wie Unterschiede in Reiseformen, Verhalten und Wahrnehmungen aus einer gesellschaftlich kodierten Geschlechterdichotomie erwachsen oder ganz andere Gründe haben. So kritisierte Hüchtker an den bisherigen Analysen von Reiseberichten, sie würden das Geschlecht voraussetzen, statt es zu einem Teil des Textes zu machen. Damit »bleibt ein dichotomisches Geschlechtermodell bestehen, und Unterschiede innerhalb der Geschlechter verschwinden ebenso leicht, wie die Möglichkeit, dass es diverse marginalisierte Standpunkte gibt.«46 Deshalb strebt sie einen »intergeschlechtlichen« Vergleich an und zwar anhand der Reiseberichte von Bertha Pappenheim und Saul Raphael Landau über Galizien um 1900. Es habe sich dabei gezeigt, dass »erst die Analyse des ›Gebrauchs‹ von Geschlecht, sowohl im Hinblick auf Geschlechterbilder und Wahrnehmungen der ›Bereisten‹ als auch im Hinblick auf die Präsenta-
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Vgl. Prein, bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 25. Ebd., S. 104. Ebd., S. 79. Ebd., S. 79f. Hüchtker, Dietlind: Frauen und Männer reisen. Geschlechtsspezifische Perspektiven von Reformpolitik in Berichten über Galizien um 1900, in: Bauerkämper, Arnd; Bödeker, Hans Erich; Struck, Bernhard (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 375.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
tion der Autorschaft, die verschiedenen Ebenen der Geschlechterdifferenz« zeige.47 Das wäre immerhin ein wichtiger Schritt, um der ständigen Bestätigung von Stereotypen selbst durch ihre Kritik und der ungewollten Essentialisierung von Geschlechterunterschieden zu entkommen. Sie würden voraussetzen, das Thema Reisen zwar einerseits geschlechtergeschichtlich zu fundieren, aber andererseits auch davon auszugehen, dass Männer und Frauen trotz aller Arbeitsteilung und trotz allen Machtgefälles doch in derselben Gesellschaft leben und ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Wie viele Männer wollten und wollen keine Abenteuertour machen und lieber vergnüglich mit Frau und Kindern unterwegs sein ‒ wie viele Frauen suchten und suchen das einsame Erlebnis der Berge? Überblickt man die Reise- wie die Tourismusforschung sind es zwei Themenfelder, die mit Blick auf Wanda Frisch von besonderem Interesse sind: Erstens Reisen im Lebenslauf und zweitens allein reisende Frauen und Männer.
1.1.
Ungleichzeitigkeiten
Die Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen in Reisebiografien arbeitet dem folgenden Kapitel vor. Einen Blick ins 19. Jahrhundert ermöglicht, wie eben resümiert, die Dissertation von Prein, mit der explizit auch ein Beitrag zur Geschlechtergeschichte des Reisens geleistet werden soll. Allerdings zeigt sich auch, wie schwierig es ist, die tradierten Deutungsmuster hinter sich zu lassen. Seine Untersuchungen ergeben, dass Frauen und Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Bäder, zu Verwandten oder in die Sommerfrische fuhren, sondern auch an Rundreisen teilnahmen. Innerhalb bestimmter Formen seien sich die Geschlechter ähnlich gewesen, beim Genuss von Bildung und Freizeit auf Reisen. »Grenzerlebnisse auf Ausbildungstouren« seien den Frauen allerdings verwehrt geblieben.48
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Ebd., S. 388. Vgl. Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 25. Solche »Grenzerlebnisse« bestanden aber nicht etwa in einem lebensbedrohenden Schiffbruch, sondern in Geldmangel oder Einsamkeitsgefühlen. Distinktion muss sein, gegen die bequeme Kutschenfahrt wurde der Fußmarsch in Anschlag gebracht.
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Die Alltagshelden seines Buches sind fast durchweg Männer. Das mag auch an den Quellen liegen ‒ ein von der Frauenreiseforschung intensiv diskutiertes Problem. Die theoretische Perspektive, eine sich auftuende Dichotomie von Arbeit und Freizeit im gehobenen Bürgertum nachzuweisen, schließt zudem scheinbar aus, die weibliche Seite ins Zentrum zu stellen. Letztlich erhebt Prein deshalb seine Befunde längs eines männlich konnotierten Lebenslaufmodells, bei dem Ausbildung und nachfolgende berufliche Karriere das Vorbild liefern. Diese erheischen, so behauptet es die Reiseforschung, eine selbständige Behauptung in der Welt, vor allem in der Jugendphase und in männlichen peer-groups. Die von ihm untersuchten Frauen seien dagegen so gut wie nie allein oder in gleichaltriger und gleichgeschlechtlicher Gesellschaft gereist. Als Kinder waren sie mit Eltern, als Jugendliche mit Pädagoginnen, als Unverheiratete mit Eltern oder männlichen Verwandten, als Ehefrauen mit ihren Männern, als Mütter mit Kindern unterwegs. »Ihre Reisen reichten deshalb bis zur Hochzeitsreise nicht sehr weit, es sei denn, die Eltern oder älteren Verwandten nahmen sie auf eine größere Tour mit. Nach der Hochzeit mit etwa Anfang zwanzig, folgten auch für Frauen die Aufbaujahre, in denen sie mit ihren Kindern im Sommer auf dem Lande oder in einem Kurort weilten. Umfangreichere Reisen unternahmen sie erst später, etwa ab Mitte dreißig, wenn ihre Kinder älter waren und ihre Männer sich auch wieder Zeit zum Reisen nahmen. Wenn sie allerdings bedeutend ältere Männer geheiratet hatten, konnte es ihnen passieren, dass diese Reisen bald nur noch in naheliegende Kurorte führten, wo sie sich um ihre altersschwachen Gatten kümmern mussten. Andererseits konnte ihnen der frühe Tod des Gatten bei entsprechendem Vermögen die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Reisen eröffnen.«49 Bei genauerem Hinsehen relativiert sich der Geschlechterunterschied allerdings. Auch die Männer waren als Kinder mit den Eltern und als Jugendliche mit älteren Reiseleitern unterwegs, oft mit dem Vater oder anderen Verwandten. Als Ehemänner verreisten sie trotz einiger Alleingänge meist mit ih-
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Ebd., S. 49. Machtemes zitiert eine verwitwete Protagonistin, die einer Wiederverheiratung kritisch gegenüberstand. Würde diese sie doch daran hindern »im Fluge ein Stückchen von dieser schönen Erde zu sehen, und nicht wie ein brütendes Weibchen daheim das Nest hüten«. Machtemes, Ursula: Leben zwischen Trauer und Pathos. Bildungsbürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert, Osnabrück 2001, S. 32.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
ren Frauen. Die auch bei Prein unterschwellig mitlaufende Vorstellung, dass Frauen per se von den für die individuelle Entwicklung so essentiell befundenen prominenten Reiseformen wie der Grand Tour, den Bildungsreisen oder der Kavalierstour ausgeschlossen waren, wird durch seine eigenen Ergebnisse konterkariert. Vielleicht sind die den Frauen zugänglichen Möglichkeiten zur Selbstbildung bisher nur nicht systematisch untersucht worden? Als ein wesentliches Hindernis könnte sich der männliche Normallebenslauf erweisen. Würde man die in der Lebenslauf- und Biografieforschung erreichten und im zweiten Kapitel zu diskutierenden Ergebnisse in der Reiseforschung anwenden, wäre ein neuer Zugang möglich. Er würde darauf hinauslaufen, die bisherigen Definitionen als Vorurteile im genauen Sinn des Wortes zu kritisieren. Haben Frauen tatsächlich keine Bildungsreisen unternommen oder fallen sie nur durch das bisher angewandte Raster?50 Als vor wenigen Jahren auf einer Tagung die Reisen hochadliger Frauen untersucht wurden, konnte eine erstaunliche Vielfalt solcher Betätigung jenseits der »Brautfahrt« nachgewiesen werden. Im Tagungsbericht resümiert Christina Sasse: »Als grundsätzliches methodisches Problem kristallisierte sich heraus, dass die häufig besser dokumentierten und intensiver erforschten männlichen Reisen schnell in die Funktion einer Folie oder Norm geraten, was überspitzte und verzerrende Geschlechterdichotomien zur Folge haben kann.«51 Für das späte 18. Jahrhundert hatte Maurer bei der Analyse des Reiselebens und -diskurses von Sophie von La Roche festgestellt, dass Praxis und Theorie scheinbar auseinanderfallen. Im Gegensatz zu ihrer Forderung, bürgerliche Eheleute sollten paarweise verreisen, war sie selbst stets ohne ihren Ehemann unterwegs. Frauen- wie Männerrollen seien durch sie und andere »gewissermaßen in den Raum der Mobilität hinein« verlängert worden.52 Damit folgt er der Einschätzung von Pelz: »Das heißt, es wurde zunehmend auch von Frauen Erfahrung, Weltkenntnis und geographische Bildung ver-
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Ähnliches gilt auch für die Grand Tour. Vgl. die Kritik von Habinger an der bekannten Darstellung von Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die »Grand Tour«, Berlin 1997. Siehe Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 111f. Tagungsbericht: Prinzessin, unterwegs ‒ Reisen (hoch)adliger Frauen zwischen 1450 und 1850, 21.01.2016-22.01.2016 Gießen, in: H-Soz.-Kult, 18.07.2016, www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-6615, S. 5f., Zugriff am 22.1.2017. Maurer, Reisen interdisziplinär, S. 146.
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langt.«53 Allerdings scheint es eine Phasenverschiebung gegeben zu haben. Während Männer in jungen Jahren auf Reisen geschickt wurden, um sich derart zu bilden und damit auch für ihr berufliches Weiterkommen zu sorgen, hat so manche der reisenden Frauen im 18. und 19. Jahrhundert ihre »Bildung« vor allem im Sinne tiefgreifender und lustvoller Selbstbildung erst im späteren Erwachsenenalter erworben. Überblickt man den Kreis der von der Frauenreiseforschung ans Licht geholten Ikonen, eröffneten sich für (bürgerliche und adlige) Frauen einige Möglichkeiten zum selbständigen Reisen. Sie hängen alle mit der gesellschaftlichen Erwartung zusammen, Kinder in die Welt zu setzen. Dem konnte man sich in jüngeren Jahren vor allem dadurch entziehen, dass finanzielle Unabhängigkeit oder Kränklichkeit in Anschlag gebracht wurde. Wichtiger aber war die Lebenszeit nach der Reproduktionsphase. Als Älteren mit erwachsenen Kindern, als Witwen oder ledig gebliebenen Töchtern eröffneten sich Frauen neue Möglichkeiten. Im Übrigen ließen sich auf Reisen auch lesbische Beziehungen ausleben. Das ist schon früh aufgefallen. Birkett hatte für ihre Darstellung der »Victorian Lady Explorers« einundzwanzig Biografien reisender Frauen aufgetan, mehrheitlich aus Großbritannien. Von diesen waren immerhin zehn überhaupt nie verheiratet, von den Verheirateten gingen mindestens sechs erst jenseits der dreißig die Ehe ein. Es blieb deshalb genügend Zeit, vor der Ehe zu verreisen. Einige wurden bereits nach kurzer Zeit wieder Witwe und setzten ihr Reiseleben fort, andere begaben sich mit den Ehemännern auf Expeditionen. Auch der Tod der Eltern, für deren Wohlergehen die Unverheirateten zu sorgen hatten (eine Ursache ihrer Ehelosigkeit) konnte den Weg für eine Reisekarriere freimachen.54 Sophie von La Roche reflektierte als Endfünfzigerin die herr53 54
Pelz, Reisen Frauen anders? S. 177. Vgl. Birkett, Dea: Spinsters Abroad. Victorian Lady Explorers, Oxford 1989. Die Bürgermeisterstochter Antonie Petersen aus Hamburg war, was nicht selten vorkam, unverheiratet im Hause der Eltern verblieben. Ihre ersten dokumentierten Reisen führten sie als Jugendliche mit den Eltern nach Berlin, Dresden und in den Harz. Später unternahm sie als Begleiterin ihres Vaters Touren durch Süddeutschland, Österreich, Italien, die Schweiz und England. Erst nach dessen Tod und mit beinahe sechzig Jahren verließ sie erstmals Europa zu einem Besuch in Ägypten und Palästina. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 47. Grenzen und Möglichkeiten »normaler« verheirateter Touristinnen zeigt wohl das Beispiel der Ehefrau eines Archivars, die Mitte des 19. Jahrhunderts einen dreiwöchigen Urlaub auf Helgoland verbrachte, ohne Mann, aber nicht ohne männliche Begleitung durch ihren Bruder. Nach dieser glücklichen Zeit in Freiheit hatte sie Mühe, an das bisherige Leben mit ihrem (ebenfalls verreisten) Mann wieder anzuknüpfen. Ebd., S. 105.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
schenden Vorstellungen über legitime Reisemotive, um ihren eigenen Platz zu definieren: »Alle staunen, daß eine Frau, in meinen Jahren, die Gelegenheit und den Willen hat, solche Reisen zu machen, welche sonst ganz allein die Sache der Jugend, des Reichthums, der Freiheit und der Geschäfte sind.« Yorik habe noch zwei Arten von Reisenden hinzugefügt: Kranke und »Wißbegierige, welche sich, auch ausser ihrem Wohnort, nach der Erde und ihren Kindern umsehen.«55 Aus der Perspektive einer »Bildungsreise« könnte im Übrigen auch die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Mode gekommene Hochzeitsreise betrachtet werden. Dieser gerade für Frauen so wichtigen Reiseform ist bisher erstaunlicherweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. An ihr könnte aber, so zeigt ein kleiner Überblick, dargestellt werden, wie sich Geschlechterverhältnisse als Machtgefälle zwischen dem oft viel älteren Mann und der jungen, unerfahrenen Frau bemerkbar machen.56 Die Verspätung der reisenden Frauen ist ein Phänomen, das auch noch für den Tourismus zu Wanda Frischs Zeiten Relevanz besaß. In einer Diskussionsrunde zum Thema »Frauen im Tourismus« sagte Heidi Hahn, Pressereferentin des Studienkreises für Tourismus e.V. Starnberg: »Das Merkwürdige ist, daß ab fünfundsechzig die Frauen keine Rücksicht mehr nehmen. Dann sagen sie: ›So, jetzt habe ich nun lange genug…. und jetzt hauen wir nun wirklich auf die Pauke und machen alles.‹. Das sind dann sehr engagierte Reisende.«57 Vorher hatte eine andere Disputantin, Chefin der »FrauenReisebörse Köln« festgestellt, sie beobachte bei den älteren Kundinnen »einen Nachholebedarf beim Reisen, den Horizont zu erweitern, auch dort werden beispielsweise Studienreisen bevorzugt, aber individuell organisierte Reisen, die dem Bedürfnis entgegenkommen, das Land und seine Menschen kennenzulernen.« Nach einem Leben voller Arbeit in Beruf und Familie hätten sie nun zum ersten Mal die Möglichkeit, »intensiv zu reisen«.58 Das sind allerdings keine statistisch abgesicherten Befunde, denn die deutsche Tourismusforschung hat sich dieses Themas nicht systematisch angenommen.
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La Roche, Sophie von: Tagebuch einer Reise durch Holland und England, Offenbach 1788, S. 3f. Zit. nach: Holländer, Sabine: Reisen ‒ weibliche Dimensionen, in: Maurer, Impulse der Reiseforschung, S. 198. Vgl. dazu Härtwig, Nadine: Auf den Spuren der Hochzeitsreise, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2006. Frauen im Tourismus, S. 23. Ebd., S. 19.
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Doch kann auf die Studie von Gibson und Yiannakis verwiesen werden, die der oben erwähnten fünften Phase wohl am ehesten entspricht. In ihrer Untersuchung bekommt die Verteilung unterschiedlicher Reisestile zwischen den Geschlechtern durch die Kategorie der Zeitlichkeit (hier verkörpert durch den Lebenslauf respektive die Reisebiografie) eine spezifische Dynamik, die das Festlegen von Stilen als weiblich oder männlich erschwert. Es zeigt sich, dass der Unterschied in den Vorlieben der Geschlechter zu einem bestimmten Zeitpunkt auch von der Lebenssituation abhängt und im weiteren Verlauf mancher Ausgleich stattfindet. So ergab sich für den »Anthropologist«59 : »For example, while male Anthropologists peak in their interest for this role during the age 50 transition, women follow about five years later. […] However, by the time many women are in their late 50s they may be less constrained by their familial roles and have the freedom to take vacations where they can explore and learn about the ways of people in other cultures.«60 Das heißt aber auch, solange es typische »männliche« und »weibliche« Lebensläufe gibt, werden sich Geschlechterdifferenzen erhalten. Mit Blick auf Wanda Frisch zeigt sich nun, dass die Abwesenheit von Ehemann und Kindern sie davor bewahrt hat, Jahrzehnte warten zu müssen, um nach eigenem Gusto Urlaub machen zu können. Andererseits hat sie, wie damals üblich, als Frau schon früh das Ende der Karriereleiter erreicht und auf weiteres nicht gehofft. Mit anderen Worten, der Wandel in ihrer Art zu reisen hat nichts mit neuen beruflichen Horizonten zu tun.
1.2.
Alleinreisende
Wanda Frisch, unverheiratet und kinderlos, lenkt die Aufmerksamkeit wie von selbst auf die Diskurse und Daten zu »allein reisenden« Touristen. Doch die Sache ist alles andere als einfach. Die oben erwähnten älteren Frauen, die sich nun ihre Reisewünsche erfüllten, waren häufig verheiratet, jedoch nicht mit dem Ehemann unterwegs. Die Repräsentantin des Studienkreises für Tourismusforschung kommentierte dieses Phänomen mit den Worten:
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Dieser Typus macht etwa ein Drittel des untersuchten Samples aus. Vgl. Gibson, Heather; Yiannakis, Andrew: Tourist Roles. Needs and the Lifecourse, in: Annals of Tourism Research 29(2002)2, S. 365. Solche Touristen seien »mostly interested in meeting the local people, trying the food and speaking the language«. Ebd., S. 377.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
»Aber die über sechzigjährigen Frauen, selbst wenn sie verheiratet sind, reisen öfter allein, denn aus irgendeinem Grunde nimmt das Interesse am Reisen bei allen über sechzigjährigen Frauen zu und das Interesse der Männer am Reisen nimmt ab.«61 Der Familienstand sagt also nicht notwendig etwas darüber aus, ob »allein« oder in Gesellschaft gereist wird und wer die Reisebegleiter sind. Hachmann veröffentlichte 1977 Ergebnisse einer Untersuchung zum Reiseverhalten unverheirateter Frauen. Sie resultieren in Merkmalen wie »viele Zweitreisen, höhere Ausgaben, mehr Wunsch nach Reisebüroinformationen und keine Angst vorm Fliegen«.62 Nimmt man noch »Traumziel Amerika« hinzu, klingt das wie ein Steckbrief von Wanda Frisch. Die Tourismusbranche hatte entdeckt, dass jede dritte Frau über zwanzig Jahre unverheiratet ist ‒ ein beachtlicher Markt und bis dahin unerforscht. Die aufgeführte Statistik belegt für das Jahr 1975 (da war Wanda Frisch 52 Jahre alt) noch einmal das Überwiegen der Frauen in den Altersgruppen ab 45 Jahren ‒ kriegsbedingt und verursacht durch die höhere Sterblichkeit der Männer.63 Die meisten dieser unverheirateten Frauen verreisten nicht allein, manche hatten einen festen Partner, andere wurden von Freunden und Bekannten oder den eigenen Kindern »mitgenommen«, waren mit Verwandten, Freundin oder Freund unterwegs ‒ das hing vom Lebensalter ab. In der Gruppe der 50-60jährigen lag »der Anteil der absolut einsamen Urlauberinnen bei 52 %.«64 Allerdings könnte ein Teil von ihnen wiederum in einer Reisegruppe Gesellschaft gefunden haben. Die über Sechzigjährigen waren zu zwei Dritteln mit Freundinnen oder in einer Gruppe mit Bekannten und Verwandten unterwegs. Für das Jahr 1976 wurde ermittelt, dass die Mehrzahl aller Touristen zu zweit verreist war, aber mehr als drei Millionen allein (wobei auf zwei Frauen ein Mann kam).65 Es zeigte sich insgesamt, dass das Alleinreisen einer Sache älterer Frauen und jüngerer Männer war (weit mehr als die Hälfte der allein reisenden Frauen waren über 60 Jahre, weit mehr als die Hälfte der allein reisenden Männer waren unter 35 Jahren). Die Frage nach Reisegefährten gehörte von Anfang an zum Setting der Starnberger Urlaubsanalysen. So wurden in der »Reiseanalyse 1989« (jetzt war 61 62 63 64 65
Frauen im Tourismus, S. 22. Hachmann, Horst: Urlaub ‒ Station einer Sehnsucht? In: Der Fremdenverkehr (1977)11, nachgedruckt in: Frauen im Tourismus, S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 61. Ebd.
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Wanda Frisch 66 Jahre alt) für die Altersgruppe der 60-69jährigen 21 Prozent allein reisende Frauen (und 9,2 Prozent allein reisende Männer) ermittelt. Alleinreisende, ihre soziodemografische Struktur wie ihre Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen waren von Steinecke/Klemm schon Mitte der 1980er Jahre in einer speziellen Studie untersucht worden.66 Danach ergab sich, wie auch eben dargelegt, ein hoher Anteil von Frauen und Alleinlebenden und eine Dominanz von Reisenden im Rentenalter. Als Trend wurde eine Zunahme allein reisender Männer jüngeren Alters, von verheirateten und gebildeten Alleinreisenden vorausgesagt. Doch auch bei älteren Personen wurde noch ein weiterer Anstieg erwartet.67 Man könnte erwarten, Wanda Frisch als Ledige in dieser Arbeit repräsentiert zu finden, doch das ist nur bedingt der Fall. Erst am Ende ihrer Reisekarriere, als ihre langjährigen Begleiter entweder verstorben waren (Eltern, Verwandte, Kolleginnen) oder sich ausschließlich der eigenen Familien zugewandt hatten (was für ihre Freundinnen zutraf), war sie allein unterwegs ‒ mithin trifft die Einschätzung zu, man habe vor allem von demografischen »Steuerfaktoren« auszugehen.68 Sie gehörte auch nicht zu jener Gruppe von Alleinreisenden, denen diese Reiseform »Selbstbestätigung und Experiment« war, dafür gibt es keinerlei Anzeichen.69 In einer kleineren oder größeren Gruppe unterwegs zu sein, war sie von Kindheit an gewöhnt. Das gilt nicht nur für die traditionellen Jugendreisen in Gemeinschaft Gleichaltriger. Ihre Eltern waren regelmäßig nicht nur in der Kleinfamilie, sondern gemeinsam mit ledigen Verwandten oder befreundeten Paaren und Familien im Urlaub. Jahrelang buchte man in denselben Pensionen. Die Intimität mit den Vermieterinnen ging so weit, dass man sich Ansichtskarten von anderen Ferienorten schrieb. Von Freunden, seien es die der Eltern oder eigene, in die Ferien mitgenommen zu werden, war deshalb für Wanda Frisch auch noch als junge Frau normal ‒ zumal sie nicht über ein Auto verfügte. Bei ihren späteren großen Reisen wurde sie dagegen jeweils nur von einer Person begleitet, in erster Linie von einer ebenfalls unverheirateten Kollegin. 66
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Steinecke, Klemm, Allein im Urlaub. Für die Untersuchung wurden die Reiseanalysen von 1973 bis 1982 genutzt, aber auch Interviews. Im Jahre 1982 lag die Quote der Alleinreisenden bei 18,5 %. Vgl. ebd., S. 3. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 84. Steinecke und Klemm unterschieden drei »Stereotypen«: »Problemgruppe«, »Swinging Singles« und »Selbstbestätigung und Experiment«. Ebd., S. 7.
1. Geschlechterverhältnisse im Tourismus
Solange die Eltern lebten, blieb sie Gast in deren Sommerfrische oder begleitete später die Mutter wenigstens kurzzeitig zum Kuraufenthalt. Ein kleiner Teil ihrer Reisen galt auch dem Besuch von Freunden, mit denen Ausflüge unternommen wurden. So kam sie bis ins Alter nie in die Verlegenheit, Strategien des Alleinreisens zu entwickeln. Die Geselligkeit einer Reisegruppe hat sie nur gesucht, wenn es unumgänglich war und das Reiseziel dies erforderlich machte wie in China oder der Sowjetunion. Noch am Ende der 1980er Jahre kam der Diskurs über allein reisende Frauen nicht ohne die Figur der ängstlichen Touristin aus. Sie spielt als »Problemfall« in der Studie von Steinecke/Klemm eine Rolle. Wie bei Jurczek nachzulesen, wurde gerade diese Perspektive (aus einer Vielzahl anderer) übernommen, um diese Touristinnen zu charakterisieren. Sie passte ebenso gut ins vorgefasste Bild, wie eine, im Vergleich zu Männern, vermeintlich geringere »Innovationsfreundlichkeit«. Männer seien auch als sogenannte Meinungsmacher anzusehen, die »besonders häufig grundlegende touristische Informationen weitergeben«. Aber immerhin: »Am Urlaubsort sind die weiblichen Singles durchaus aktiv und nehmen das Freizeitangebot, insbesondere des Nahraums, gerne in Anspruch.«70 Das Bedürfnis, in einer Gruppe Schutz zu suchen, schien allein reisende Frauen in den 1950er und 1960er Jahren zu Nutznießerinnen von Gesellschaftsreisen zu machen. Gesellschaftsreisen sind aber nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, identisch mit Pauschalreisen. Es geht nur um verbilligte Fahrpreise in Bahnen und Bussen, die angesichts der nach wie vor geringeren Einkommen von Frauen besondere Bedeutung hatten. Vor Ort trennten sich die Wege, man wurde zur Individualtouristin. Später kam die feministische Kritik hinzu, in der es um die Benachteiligung allein reisender Frauen ging. Das erwähnte Kirchenforum ist dafür ein gutes Beispiel. Angesprochen wurden dort Respektlosigkeit des Personals, schlechtere Unterbringung, abwertendes Verhalten von Reisegenossinnen mit Ehemann. Auch in diesem Diskurs spielte Angst eine Rolle – vor Anmache, vor Überfällen, die Frauen vor allem in arabischen Ländern angeblich den Schutz und die Solidarität der 70
Jurczek, Peter: Die soziodemographische Struktur und regionale Herkunft der Urlaubsreisenden der Bundesrepublik Deutschland, in: Storbeck, Dietrich: Moderner Tourismus. Tendenzen und Aussichten (= Materialien zur Fremdenverkehrsgeographie, Heft 17, 2. unveränderte Aufl.), Trier 1996, S. 262. Dieses Bild mutet Mitte der 1990er Jahre antiquiert an. Es bezeugt eher den vom Feminismus erzeugten Druck, nun auch etwas zum Thema zu sagen, statt zu bekennen, dass es an belastbaren Informationen nach wie vor mangelt und entsprechende Projekte anzumahnen.
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Die Touristin Wanda Frisch
Gruppe suchen lassen. Allerdings ist auch das kaum belegt, denn, wie Hahn formulierte, gehörten nordafrikanische Länder wie die europäischen längst zum »Reisekulturkreis« der Deutschen, wo Unterschiede zwischen den Geschlechtern statistisch kaum mehr eine Rolle spielten. Wie dem beigefügten Pressespiegel zu entnehmen ist, wurden der Öffentlichkeit aber gerade die mehr oder weniger nur vermuteten Ängste mitgeteilt. Noch wäre es möglich, empirische Fakten einzuholen und nachzufragen, ob die ängstliche Touristin vor dreißig Jahren vielleicht nur ein Artefakt war und mögliche Unsicherheiten bei reisenden Frauen und Männern nicht nur gleichermaßen vorhanden sind, sondern aus ganz anderen Ursachen, als den genannten, erwachsen. Es sollte bis hierher hinlänglich deutlich geworden sein, dass für die Untersuchung des sozialen und kulturellen Phänomens Tourismus ein Blick auf die Geschlechterverhältnisse ertragreich ist. Am Beispiel von »Gender und Tourismus«, so Heuwinkel, könne diskutiert werden, »wie Unterschiede etabliert werden resp. existierende Differenzierungen aus der Gesellschaft übernommen und gegebenenfalls variiert oder verstärkt werden.«71
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Heuwinkel, Kerstin: Tourismussoziologie, Konstanz und München 2019, S. 175.
2. Reisebiografien
»Reisebiografien« ist ein kurzer Beitrag von Becker im verdienstvollen Handbuch zur Tourismuswissenschaft überschrieben. Der Plural verweist auf die Erhebung solcher Biografien in einem vom Autor verantworteten Projekt. Es sollte der »Marktforschung in der Tourismuswirtschaft« dienen, nachdem solche auf die Zeit abhebende Untersuchungen in anderen Bereichen der Konsumforschung schon durchgeführt worden seien.1 Eine Bestimmung des Begriffs sucht man vergebens, ebenso eine Einordnung in entsprechende Forschungsfelder. So verbleibt der Terminus im Umgangssprachlichen und was er bedeuten soll, ergibt sich aus der Untersuchung selbst und den mit ihr verknüpften Erwartungen. Doch ist die Rede von »Reisebiografien« im vorliegenden Fall überhaupt legitim? »Generell sollte eine theoriegeleitete Verwissenschaftlichung ihres Fachs, wie bei den meisten Kunstlehren, im Interesse der TourismusforscherInnen liegen.« So lautete das Fazit Spodes bei seinem Versuch, Stellung und Reichweite der Tourismusforschung zu bestimmen.2 Der Metaebene angemessen, auf der diese angesiedelt ist, kann das nur heißen, sich einerseits der Diskussion gesellschaftlicher Großtheorien zu bedienen, um ernst zu nehmende Fortschritte im eigenen Fach zu erzielen. Andererseits kann daran gedacht werden, sich mit eigenen Ergebnissen einzumischen, um diese Theorien zu untermauern, zu erweitern oder auch zu kritisieren. Biografie- und Lebenslaufforschung wurde in der Bundesrepublik seit dem Ende der 1970er Jahren in einigen Disziplinen vorangetrieben: in der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Psychologie, aber auch Bildungs-, 1
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Becker, Christoph: Reisebiographien, in: Hahn, Heinz; Kagelmann, H. Jürgen (Hg.): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, München 1993, S. 564-566. Spode, Hasso: »Grau, teurer Freund…«. Was ist und wozu dient Theorie, in: Burmeister, Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, S. 36.
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Migrations- und Geschlechterforschung.3 Das ging einher mit einem neuen wissenschaftlichen Interesse am Alltäglichen und der Erschließung entsprechender Quellen. Wenn im folgenden Abschnitt von »Reisebiografien«, von Reisen im Lebenslauf und Touristengenerationen gesprochen wird, liegt es nahe, danach zu fragen, in welchem Verhältnis diese zur Lebenslauf- und Biografieforschung stehen. Mit den Begriffen Lebenslauf und Biografie seien hohe Erwartungen verbunden, stellte Kohli seinerzeit fest und dies in dreifacher Hinsicht. Erstens käme das ganze Leben einschließlich der jeweiligen Perspektiven auf die eigene Vergangenheit und Zukunft in den Blick ‒ die Fixierung auf die Gegenwart wie auf einzelne Lebensphasen würden so überwunden. Zweitens verbinde sich damit ein Plädoyer für die Einbindung in die historische Zeit. Drittens könnte via Biografie »der ›Subjektivität‹ wieder zu ihrem wissenschaftlichen Recht verholfen werden.«4 In der Folgezeit ging es zunächst um »Institutionalisierung« des Lebenslaufs in der Moderne, um seine Dreiteilung entlang eines Lebens, dessen zentraler Teil durch abhängige Arbeit gebildet wird, durch den »Erwerb«: »Unter dem Gesichtspunkt des Normallebenslaufs steht die Prozessierung durch Arbeitsmarkt und staatliche Leistungssysteme im Vordergrund.«5 Dies war zunächst rein männlich gedacht. Der Blick auf weibliche Lebensläufe wie auch grundlegende Veränderungen in der Arbeitswelt und in deren gesellschaftlichem Umfeld mit ihren Folgen für berufliche Laufbahnen hat dann entscheidend dazu beigetragen, auch Deinstitutionalisierung und Diversifizierung von Lebenslaufmustern in den Blick zu nehmen.6 Doch nach wie vor spre3
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Es existieren inzwischen zahlreiche Überblicksdarstellungen. Im gegebenen Fall vgl.: Völter, Bettina; Dausien, Bettina; Lutz, Helma; Rosenthal, Gabriele (Hg.): Biographieforschung im Diskurs, 2. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 7. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes stehen selbst für die verschiedenen Anwendungsgebiete. Siehe auch: Apitzsch, Ursula: Biographieforschung, in: Orth, Barbara; Schwietring, Thomas; Weiß, Johannes (Hg.): Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Ein Handbuch, Opladen 2003, S. 95-110. Kohli, Martin: Erwartungen an eine Soziologie des Lebenslaufs, in: Kohli, Martin (Hg.) Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt/Neuwied 1978, S. 9. Kohli, Martin: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37(1985)1, S. 20. Vgl. Sackmann, Reinhold: Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, S. 18ff.; Mayer, Karl Ulrich: Lebensverläufe und sozialer Wandel. Anmerkungen zu einem Forschungsprogramm, in: Mayer, Karl-Ulrich (Hg.): Le-
2. Reisebiografien
chen empirische Ergebnisse für die »Beharrlichkeit des institutionalisierten Lebenslaufs« in den Bereichen Beruf und Familie.7 Wenn Lebenslaufmuster in der Moderne sich einerseits langfristig verändern und andererseits kurzfristig durch singuläre historische Ereignisse geprägt werden, dann ist es sinnvoll, das Konzept der Generation bzw. Kohorte einzuführen. »Es zeigt sich, daß die historische Veränderung von Lebensverhältnissen mit ihrer Kennzeichnung durch strukturelle Grobkategorien ‒ mögen sie ›moderne Industriegesellschaft‹, ›post-industrielle Gesellschaft‹ oder ›Spätkapitalismus‹ heißen ‒ keineswegs adäquat erfaßt wird.«8 Über den Generationen-Ansatz könne es gelingen, »langfristige Entwicklungen über kurzfristige Veränderungen hinweg und kurzfristige Veränderungen als Teil langfristiger Entwicklungen zu erfassen.«9 Zudem könnten die Spuren gesellschaftlichen Wandels in den Lebensläufen der Kohorten aufgesucht werden. Das ist, gleichsam von der anderen Seite her gefragt, auch ein genuines Feld historischer Generationsforschung.10 Auch das »soziale Konstrukt ›Biographie‹« erlebte in der Folge einen raschen Aufstieg als soziologisches Forschungsfeld.11 Zunächst als schriftlich fixiert gedacht, verschob sich der Fokus auf erzählte Lebensgeschichten, genauer, auf alltägliche Lebensperspektiven. Ziel solchen biografischen Bemühens sei die (Selbst)Erzeugung von Kontinuität oder auch Normalität, wozu
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bensverläufe und sozialer Wandel, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 1990, S. 7-21; Ecarius, Jutta: Individualisierung und soziale Reproduktion im Lebensverlauf. Konzepte der Lebenslaufforschung. Opladen 1996; Tölke, Angelika: Historische Ausgangssituation und Veränderungen im Ausbildungs- und Erwerbsverhalten junger Frauen in der Nachkriegszeit, in: Voges, Wolfgang (Hg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 389-412; Berger, Peter A.; Sopp, Peter (Hg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995; Dausien, Bettina: Biographie und Geschlecht: zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten, Bremen 1996. Saake, Irmhild: »Lebensphase Alter«, in: Abels, Heinz; Honig, Michael-Sebastian; Saake, Irmhild; Weymann, Ansgar (Hg.): Lebensphasen. Eine Einführung. Wiesbaden 2008, S. 533ff. Kohli, Soziologie des Lebenslaufs, S. 20. Ebd. Kohli unterscheidet in dieser frühen Arbeit nicht zwischen Kohorten und Generationen. Vgl. dazu stellvertretend Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte, München 2003. »›Biographie‹ hat sich in den letzten Jahren zu einem reputierlichen Gegenstand soziologischer Forschung gemausert.« Fischer, Wolfgang; Kohli, Martin: Biographieforschung, in: Voges, Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, S. 25.
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gesellschaftliche Vorgaben für richtiges (oder falsches) biografisches Handeln genutzt werden. Diese wertende Perspektive diene der Sinnproduktion, die angesichts einer Vielfalt von Verhaltensoptionen bei der eigenen Lebensplanung immer wichtiger werden solle. Aus der Perspektive einer fortschreitenden Individualisierung ergebe sich nicht nur ein Zwang »Biografisierung« der Lebensführung, »Biographie« werde ein »Mittel der Artikulation neuer soziale Orientierungsmuster par excellence.«12 Diese Verschränkung von Lebenslauf und Biografie veranlasste Thomas Etzemüller, gerade aus biografischer Perspektive den Begriff der »Lebenslaufforschung« zu präferieren: »Im Alltag (Alltagszeit) entwirft man individuelle Lebenspläne und unterliegt kollektiven Lebensmustern; das zielt in die Zukunft (präskriptiver Entwurf). Bezogen auf das gesamte Leben (Lebenszeit) durchläuft man einen kollektiv geprägten Lebenslauf, auf den man in Form einer individuellen Biographie rückblickt (deskriptive Bilanz).«13 Will man den Topos der Reisebiografien näher bestimmen, sollte ein Blick auf die »Biografiegeneratoren« geworfen werden. Dieser von Hahn kreierte Begriff will die Vielzahl der Anlässe in den Fokus rücken, die ein wie immer geartetes mündliches oder schriftliches biografisches Erzählen motivieren. Dazu zählt der Wunsch des Autobiografen ebenso wie die Aufforderung von nahestehenden Personen oder seitens einer Institution, z.B. durch empirisch forschende Wissenschaftler. Die Reaktionen sind jeweils so spezifisch wie die Generatoren selbst. Zugleich leisten diese ebenfalls biografische Arbeit, indem sie nach Maßgabe ihrer Interessen ein Bild des Individuums entwerfen, um dessen Lebenslauf es geht. Um diesen Charakter des Biografischen als Konstrukt, um das Wechselverhältnis zwischen autobiografischem Erzähler und biografischem Konstrukteur hat sich eine breite methodologische Diskussion entfaltet.14 Letztere kommt um die Reflexion auf den Status seiner Quellen ebenso wenig herum wie, je nach Art der Quelle, um ein hohes Maß an Selbstreflexivität. Ein Blick auf die vorherrschenden Strömungen und Problemstellungen in der Lebenslauf- und Biografieforschung macht deutlich, dass sie auf anderes 12 13 14
Ebd., S. 41 und S. 46. Etzemüller, Thomas: Biographien, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 56. Vgl. für die Diskussion unter Historikern den Überblick ebd., S. 102ff., für Soziologen und Bildungsforscher die einschlägigen Beiträge in: Hoerning, Erika M. (Hg.): Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000. Literaturwissenschaftliche Probleme der Biographik werden dargestellt in: Zimmermann, Christian von; Zimmermann, Nina von (Hg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts, Tübingen 2005.
2. Reisebiografien
fokussiert ist als auf Reisen und Tourismus. Lebenslaufforscher interessieren sich, wie erwähnt, vor allem für Lebensmuster, die um kontinuierliche oder diskontinuierliche Erwerbsbiografien kreisen. Anhand weiblicher Lebensläufe und biografischer Erzählungen kommen Entscheidungen ins Spiel, die mit einem angenommenen oder abgelehnten Familienzyklus zusammenhängen. Es interessieren durch Krankheit oder, vor allem in der neueren pädagogischen Literatur, durch Migrationserfahrung verhinderte »Normallebensläufe«, ihre Probleme und Chancen. Eine theoretische Brücke zur Untersuchung von Reisebiografien ist erst noch zu schlagen. In einem nächsten Schritt soll deshalb dargestellt werden, wie Tourismusforscher vor allem hierzulande die Gemengelage von Lebenslauf, Biografie und Generation behandeln und welche Interessen sie dabei leiten. Das bereitet eine Diskussion der Frage vor, wo eine qualitative Analyse der »Reisebiografie« von Wanda Frisch ihren Platz finden kann und ob dieser Begriff legitimiert werden kann.
2.1.
Biografie, Lebenslauf und Generation in der Tourismusforschung
Das Leben wird schon lange metaphorisch als Reise beschrieben, im Folgenden geht es darum, wie das Reisen im Leben bisher unter Tourismusforschern diskutiert wurde.15 Die Rolle der Urlaubsreise oder des Reisens überhaupt im Lebenslauf und ihre Bedeutung für biografisches oder autobiografisches Erzählen hat bisher nur kursorisch Aufmerksamkeit gefunden. Eher handelt es sich um verstreute Ansätze, die nun aufgesammelt und zusammengeführt werden sollen.
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Absichtlich ausgespart bleiben die zahlreichen Darstellungen zu Reisenden, die das Unterwegssein zur »Lebensform« erhoben hatten und haben. Vgl. dazu etwa Boomers, Sabine: Reisen als Lebensform. Isabelle Eberhardt, Reinhold Messner und Bruce Chatwin, Frankfurt a.M./New York 2004. Sie eignen sich aus verschiedenen Gründen nicht zum Vergleich. Bei Wanda Frisch handelt es sich um eine Figur des Alltags, für die das Reisen zwar vielleicht das Wichtigste in ihrem Leben war, aber dennoch nicht den Lebensinhalt ausmachte. Weder geistig (als »Erweckungserlebnis«, »Abenteuer«) noch materiell (mit Reiseberichten Geld verdienen) stellten ihre Reisen etwas Anderes dar als der Urlaub einer Angestellten im Takt ihres normalen Daseins.
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Tradiert ist das Interesse am Reiseverhalten in bestimmten Lebensphasen wie Jugend oder Alter.16 Der beobachtete sozialdemografische Wandel in Deutschland führte jedoch seit geraumer Zeit zu einer Erweiterung der Perspektive. Unter dem Motto »Wer soll in Zukunft noch reisen? Tourismus in Deutschland zwischen Geburtenrückgang und Überalterung« erweckt das Reisen im Lebenslauf die Aufmerksamkeit von Tourismusforschern.17 Dabei spielt der seit dem Aufkommen des Massentourismus zusammen getragene Datenfundus eine entscheidende Rolle. Er ermöglicht es, anhand der methodisch gleichartigen Reiseanalysen der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. (F.U.R.) die Untersuchungen zum Reiseverhalten in einzelnen Lebensphasen gleichsam zu dynamisieren. Dies geschieht über Kohortenbildung. Entsprechende Analysen »wollten herausfinden, wie sich die Urlaubsreisetätigkeit im Lebenslauf ändert, um so eine Basis für Abschätzungen des Verhaltens zukünftiger Generationen zu haben. Also: Wie reisen die 65 bis 75-Jährigen Deutschen heute und wie sind diese Personen vor 20 Jahren, im Alter von 45 bis 55 Jahren gereist?«18 16
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So etwa Mundt in seiner »Einführung in den Tourismus«. Alter, Lebensphasen und Familienzyklus werden unter der Rubrik »Entwicklungsfaktoren privaten Reiseverhaltens« behandelt und vor allem aus der Perspektive zu- oder abnehmender Reiseintensität betrachtet. Vgl. Mundt, Jörn W.: Einführung in den Tourismus, München/Wien 1998, S. 70ff. Um die touristische Nachfrage geht es auch bei Steinecke, der lebensphasenspezifisches Reiseverhalten und Reisebiographien als Momente seiner Betrachtung zu »Zielgruppen und Teilmärkten« einführt. Vgl. Steinecke, Albrecht: Tourismus. Eine geographische Einführung, Braunschweig 2006. Zielgruppenanalysen zu Jugendlichen und Senioren hätten schon eine längere Tradition und seien »Beispiele für eindimensionale (und damit methodisch relativ einfache) Marktsegmentierungen«. Vgl. ebd., S. 65. In einer kritischen Bilanz der pädagogischen Tourismusforschung stellte Nahrstedt 1991 fest, man habe bisher vor allem Jugendforschung betrieben. Für die Zukunft müsse man sich aber, auch angesichts der demographischen Entwicklung, allen Altersgruppen zuwenden. Nahrstedt, Wolfgang: Von der Erlebnispädagogik zur Reisepädagogik. Defizite pädagogischer Tourismusforschung, in: Freizeitpädagogik 13(1991)2, S. 106-120. So die Überschrift eines Beitrags anlässlich einer wissenschaftlichen Tagung der DGT Ende 2005. Vgl.: Schröder, Achim; Widmann, Torsten; Brittner-Widmann, Anja: Wer soll in Zukunft noch reisen? In: Haeling von Lanzauer, C; Klemm, K. (Hg.): Demographischer Wandel und Tourismus. Zukünftige Grundlagen und Chancen für touristische Märkte, Berlin 2007, S. 57-89. Zahl, Bente; Lohmann, Martin; Menken, Imke: Reiseverhalten zukünftiger Senioren: Auswirkungen des soziodemographischen Wandels, in: ebd., S. 96. Dieser Forschungsansatz wird ständig aktualisiert und findet seinen Niederschlag sowohl in immer neu-
2. Reisebiografien
Die Mängel des Voraussagewertes eines punktuellen Vergleichs zwischen Urlaubsreiseintensität und Alter, ob sich nämlich diese Reiseintensität während des Lebenslaufs einer Kohorte verändert, könnten so behoben werden. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Die Samples bestehen nicht aus denselben Personen. Um also »die Frage in voller Tiefe beantworten zu können, wäre eine sorgfältig vorbereitete Langzeit-Kohorten-Studie vonnöten. Eine solche Studie könnte das Reiseverhalten der betreffenden Subjekte während des gesamten Lebens aufzeichnen.« Das sei aber sehr teuer und man müsse Jahrzehnte auf Ergebnisse warten. Aus dieser Perspektive wäre die von den Autoren durchgeführte »Langtrendstudie (mit jährlich wechselndem Sample), die auf einer Serie unabhängiger Untersuchungen basiert, die jeweils repräsentativ für die Bevölkerung sind, eine denkbare Lösung.«19 Entscheidend für den Voraussageerfolg ist die Möglichkeit, im heutigen Verhalten Muster für die Zukunft erkennen zu können: »Diejenigen, die heute 50 Jahre alt sind, werden noch viele Jahre genauso verreisen wie sie es heute tun.«20 Im Vergleich der Kohorten zeichne sich dagegen ein dynamischer Verhaltenswandel ab, der heutige und zukünftige Kohorten mit unterschiedlichen Bedürfnissen auf dem Markt agieren lasse. Eine Rolle bei der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung des »Seniorentourismus« spielt die Beobachtung, dass diese Klientel inzwischen »sehr reiseerfahren und durch neue Medien informiert« ist.21 Der solchen Voraussagen zugrunde liegenden »Kohortenregel« steht allerdings der »Lebensphasenansatz« gegenüber, der von einem grundlegenden Wandel des Urlaubsverhaltens mit dem Eintritt ins Ren-
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en Analysen lebensphasenspezifischen Reiseverhaltens und seiner absehbaren Veränderungen wie auch entsprechenden Langzeittrends. Vgl. die einschlägigen Publikationen des Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in der Nordeuropa GmbH (N.I.T.) unter www.nit-kiel.de (Zugriff am 13.8.2018) und die inzwischen vierte Prognose: Lohmann, Martin; Schmücker, Dirk; Sonntag, Ulf: Urlaubsreisetrends 2025. Entwicklung der touristischen Nachfrage im Quellmarkt Deutschland, Kiel 2014. Zu den Entwicklungstendenzen vgl. auch den Beitrag von Haeling von Lanzauer, C.; Belousow, A.: Entwicklungstendenzen und Szenarien der touristischen Nachfrage bis 2030, in: Haeling von Lanzauer, Klemm, Demographischer Wandel und Tourismus, S. 9-55. Ebd., S. 98. Ebd., S. 102. Schröder, Widmann, Brittner-Widmann, Wer soll in Zukunft eigentlich noch reisen? In: ebd., S. 76.
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tenalter ausgeht.22 Bezüglich der zu erwartenden Anzahl alter Reisender differieren die mit Hilfe dieser beiden theoretischen Ansätze erhobenen Daten zwar, in der Tendenz gibt es aber eine Übereinstimmung.23 Doch nicht nur die Sorge um einen gesicherten Nachschub an Reisewilligen, sondern auch Veränderungen in den Reisemustern und -motivationen treiben die Tourismusforscher um. Immer wieder mussten sich die Verantwortlichen in den Urlaubsdestinationen um ihre Kundschaft sorgen, so in der Schweiz in den 1930er und in Italien Mitte der 1960er Jahre.24 Im Übrigen waren diese Verwerfungen stets nicht nur mit einer Zunahme der Urlauberzahl insgesamt, sondern auch veränderten Reiseformen verbunden. Mitte der 1980er Jahre sahen deutsche Reiseprofis eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Reiseverhalten der älteren, aber auf Grund sinkender Reiseintensität zahlenmäßig weniger ins Gewicht fallenden Generation, die inländische Ziele präferierte und den Jungen, die es via Pauschalreise in die Ferne zog.25 Schon damals stellten Reisejournalisten fest: »Inzwischen ist eine Generation herangewachsen, die gewissermaßen von Kindesbeinen an Erfahrungen mit dem Ferienerlebnis gemacht hat.«26 Tatsächlich ist es unübersehbar. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich Massentourismus erst seit den 1960er Jahren entwickelte27 , so sind heute die 22
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Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hg.): Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Tourismus und Schlussfolgerungen für die Tourismuspolitik 2009, S. 9. Ebd., S. 38. Vgl. die Untersuchungen von Gölden zum Rückgang der Attraktivität der Schweiz als Reiseziel seit 1910 und die von Manning geschilderten Sorgen der italienischen Fremdenverkehrsindustrie angesichts rückläufiger Zahlen bei den deutschen Italienurlaubern seit 1963. Gölden, Hubert: Strukturwandlungen des schweizerischen Fremdenverkehrs 1890 ‒ 1935, Zürich 1939, S. 24; Manning, Till: Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011, S. 219ff. Vgl. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 106. So der Leiter der FAZ-Reiseredaktion Theodor Geus in: Der Fremdenverkehr 38 (1) 1986, S. 13. Zit. nach ebd., S. 107. Ich folge hier Spode, der unter der Überschrift »Das Zeitalter des Massentourismus« für die Deutschen feststellte: »Zur Jahrhundertwende waren der Homo touristicus und der von ihm besiedelte Raum weitgehend ausgebildet gewesen. Die Zwischenkriegszeit konzipierte und erprobte die Expansion dieser Sozial- und Raumtypen […]. Erst in der späteren Nachkriegszeit sollte Fontanes Wort vom ›Massenreisen‹ für die Bevölkerungsmehrheit wahr werden.« Spode, Hasso: Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003, S. 131. Pagenstecher bemühte sich um eine Spezifizierung. Unter Berufung auf die gängige Periodisierung
2. Reisebiografien
meisten Menschen in Deutschland (bis auf die ältesten Jahrgänge) von Kindheit an gereist und zwar mehr oder weniger regelmäßig. Mit Erreichen des Erwachsenenalters sind sie heutzutage sogar schon überall gewesen. Selbst wer nicht jährlicher Stammgast an einem Ferienort oder in einer bestimmten Region ist, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit im Laufe des Lebens mehrmals an denselben Orten vorbeikommen und bemerken, wie sie oder er sich selbst oder wie sich das Reiseziel verändert hat. Dem Reisen als Charakteristikum einer Lebensphase und konstitutivem Teil der Biografie, wie etwa der Grand Tour junger Adliger, dem Gesellenwandern oder der jugendlichen Bergfahrt könnte heute das (fast) lebenslange Reisen von jedermann entgegengestellt werden, für das allerdings die vergleichsweise knapp bemessene arbeitsfreie Zeit ausreichen muss. Diese historisch einmalige Situation ermöglicht es, Fragen nach dem Sinn des Reisens in neuer Weise zu stellen. Verändert er sich im Laufe des Lebens, ebenso wie Reiseformen und die Art und Weise des Erlebens? Gibt es Lernprozesse im Sinne einer »Reisekarriere« oder Zeichen von Übersättigung? Was passiert, wenn eine (fast) lebenslange Reisepraxis zur Norm wie zur Normalität geworden ist? Welche Auswirkungen hat das auf die Sicht des Lebens, auf den eigenen Platz in der Gesellschaft? Welche Rolle spielen die entsprechenden biografischen Erfahrungen bei der Konstitution von Lebensstilen, der Ausgestaltung sozialer und kultureller Unterschiede? Wie verändert sich das ästhetische Empfinden? Welchen Einfluss haben die Strukturen des Lebenslaufs auf das Reiseverhalten und umgekehrt, werden möglicherweise Biografien mittels Reisepraxis generiert? Man mag seinen Stil durchhalten, aber dennoch der Lebensphase gemäß auf je spezifische Weise verreisen. Welche Formen der Urlaubsreise haben das Zeug, als biografischer Leitfaden zu dienen? Reisebiografien sind zudem Langzeitstudien über Jahrzehnte, Moden bilden sich hier ebenso ab wie langfristige Trends. Derlei Fragestellungen überschreiten das wissenschaftlichen Interesse der bisher betrachteten Studien. Anders ein Anfang der 1990er Jahre am der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland stellte er fest: »Insbesondere der umwelthistorisch und alltagsgeschichtlich auf die Zeit um 1960 datierte Beginn der Konsumgesellschaft markierte den materiellen Take-Off des Massentourismus.« Dies sei aber nur eine quantitative soziale Zäsur gewesen im Vergleich zur qualitativ kulturellen um 1970, als das Bürgertum auf dem Felde des Reisens seine kulturelle Hegemonie verloren habe. Vgl. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 67.
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Europäischen Tourismus Institut GmbH an der Universität Trier gestartetes Projekt »Reisebiographien. Repräsentativbefragung zum lebenslangen Urlaubs-Reiseverhalten der deutschen Bevölkerung«, das allerdings singulär geblieben ist. Mehrfach wurde seinerzeit über das Vorhaben berichtet, so Becker unter der Überschrift: »Reisebiographien und ihre unendlichen Auswertungsmöglichkeiten«.28 »Das lebenslange Reisen von Einzelpersonen zu erkunden und systematisch auszuwerten, ist eine Idee, die schon seit Jahrzehnten in Diskussionen immer wieder geäußert wurde.«29 Die ersten Ergebnisse einer Pilotstudie wurden in einem Sammelband vorgestellt, der Beispiele für eine Adaption von Methoden der empirischen Sozialforschung in der geografisch fundierten Freizeit- und Tourismusforschung dokumentierte. Neben den allfälligen Querschnittsanalysen sei es notwendig und sinnvoll, für mittel- und längerfristige Prognosen des Urlaubsreiseverhaltens auch Längsschnittanalysen einzusetzen. Natürlich stelle sich die Frage, warum das nicht schon längst geschehen ist. »Es ist wohl einmal der befürchtete hohe Aufwand für eine solche Erhebung, die ja als repräsentativ für ein Land gelten soll. Und dann bestehen Zweifel, ob die Erinnerungsfähigkeit der Probanden ausreicht, alle unternommenen Urlaubsreisen in den einzelnen Jahren exakt zu benennen.«30 Entgegen allen Erwartungen erwiesen sich die Erinnerungen als ziemlich zuverlässig.31 In seinem Beitrag zum Handbuch Tourismus-Management ging Becker noch einmal auf die Möglichkeiten der Methode ein und stellte Ergebnisse vor. Das Dilemma der Marktforschung im Tourismus bestehe darin, »dass 28
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Becker, Christoph: Reisebiographien und ihre unendlichen Auswertungsmöglichkeiten, in: Bachleitner, Kagelmann, Keul, Der durchschaute Tourist, S. 128-137. Der Beitrag stellt Studien vor, in denen die Ergebnisse ausgewertet wurden: Marktsegmentierung nach der Reisehäufigkeit, Trendsetter, Fernreisen in die Dritte Welt, »Heimwehtourismus«, Potenzialanalysen. Ebd., S. 128. Becker, Christoph: Lebenslanges Urlaubsreiseverhalten – Erste Ergebnisse einer Pilotstudie, in: Becker, Christoph (Hg.): Erhebungsmethoden und ihre Umsetzung in Tourismus und Freizeit (= Materialien zur Fremdenverkehrsgeographie, Heft 25), Trier 1992, S. 72f. Die von dafür Becker angeführten Gründe entsprechen eigenen Erfahrungen aus der Erhebung von Reisebiografien und hängen wesentlich mit dokumentierten Reiseerinnerungen in Form von Fotos, Filmen, Postkarten, Souvenirs, aufbewahrten Reiseunterlagen etc. zusammen. Tatsächlich mag es bei den so genannten »Reisefanatikern« (so die entsprechende Typologie) mit einer ausgefüllten Reisebiografie und mehreren Reisen pro Jahr einen Schwund geben. Vgl. ebd., S. 74ff.
2. Reisebiografien
sich die Gründe für das Reisen des einzelnen durch Repräsentativbefragungen nur ungenau erheben lassen.«32 Urlaubsreisen seien ein individuell »weitgehend frei« gestaltbare Lebensbereich. Das grob erhobene Motivationsspektrum und die Frage nach dem Interesse an zukünftigen Reisezielen erlaubten höchstens, den Marktanteil einzelner Länder an den Reisezielen zu bestimmen und Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, nicht aber, etwas darüber zu erfahren, »in welchem Kontext« ein bestimmtes Reiseland »bei den einzelnen Befragten steht.«33 Ist es beispielsweise das Land, das man immer wieder besucht hat und besuchen möchte oder nur ein zufälliges Reiseziel unter vielen? In der Werbung für kommerzielle Interessenten der Studie wurden die Vorteile gegenüber den herkömmlichen Verfahren besonders hervorgehoben. »Indem das Urlaubs-Reiseverhalten bei Befragungspersonen während des ganzen Lebens ermittelt wird, kann das mittel- und längerfristige Reiseverhalten von Individuen und Gruppen herausgearbeitet und als Basis für Prognosen verwendet werden. Auch wenn sich teilweise zwischen den verschiedenen Lebensphasen oder innerhalb einzelner Lebensphasen (z.B. Jugendphase, Familiengründungsphase, Seniorenphase) Veränderungen und gelegentliche Brüche ergeben – verursacht durch die politische oder konjunkturelle Entwicklung –, ermöglicht der reisebiographische Ansatz bessere mittel- und längerfristige Prognosen, da mit erheblicher Gewissheit vom bisherigen Reisestil auf das zukünftige Verhalten geschlossen werden kann.«34 Dementsprechend wurden die Daten hauptsächlich für Potenzialanalysen genutzt. Hier tauchen neben soziodemografischen Merkmalen, Landschaftspräferenzen, Reisemotiven, Wohnwünschen und dem touristischen Verhalten »Lebensphasen« als selbständige Auswertungskategorie auf. »Das Konzept der Lebensphasen erlangt im Rahmen der Konsumgüterforschung ei-
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Becker, Christoph: Reisebiographien, in: Haedrich, G.; Kaspar, C.; Klemm, K.; Kreilkamp, E. (Hg.): Tourismus-Management, 3. erweiterte Auflage, Berlin/New York 1998, S. 195. Ebd. Europäisches Tourismus Institut GmbH an der Universität Trier (Hg.): Reisebiographien. Repräsentativbefragung zum lebenslangen Urlaubs-Reiseverhalten der deutschen Bevölkerung, Trier 1993, Manuskriptdruck 6 S., S. 2f., (Herv. i.O.). Die Massenbefragung von 6000 Personen wurde nach zwei Pilotstudien im Februar und März 1993 durchgeführt. Vgl. ebd., S. 4ff. Ich bedanke mich bei Kristiane Klemm und den Kollegen aus Trier für die Hilfe bei der Beschaffung des Materials.
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ne immer größere Bedeutung, auch in der Tourismusforschung wird in zunehmendem Maße auf dieses erklärungsstarke Konzept zurückgegriffen. Der Grund für den Erfolg des Lebensphasenkonzepts ist sicher darin zu sehen, dass neben dem Alter zusätzlich die sozialen Lebensumstände in die Gruppenbildung einbezogen werden.«35 Im Einzelnen handelt es sich um die Korrelation von Alter, Zivilstand und Haushaltsgröße, um ertragreiche Zielgruppen für das Marketing herauszuarbeiten. Diese Marktorientierung hat letztlich dazu geführt, dass das Potenzial des erhobenen Materials nicht ausgeschöpft wurde. Eine Dissertation, die die Reisebiografien mit Lebensphasen- bzw. Lebenszyklusmodellen korrelieren sollte, kam nicht zu Stande.36 Unter historischen Tourismusforschern weckte das Projekt Begehrlichkeiten, die ins Leere liefen. Bei der Sichtung von Daten für seine Darstellung der quantitativen Entwicklung des bundesdeutschen Tourismus erhoffte sich Pagenstecher eine Ergänzung durch die Repräsentativerhebung aus Trier. »Sie könnte die Formierung und biografische Entwicklung verschiedener Urlaubertypen und Reisestile aufzeigen und den relativen Einfluss der Reiseerfahrung, des Lebenszyklus oder der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bestimmen helfen.« Allerdings erschien bei genauerer Betrachtung der Aufwand bei ungewissem Ausgang zu hoch. Das liege nicht zuletzt daran, dass die Ergebnisse bislang nur »kommerziellen Interessenten« zur Verfügung standen und deshalb »kaum wissenschaftlich ausgewertet« seien.37 Immerhin konnte Pagenstecher einige für die vorliegende Studie relevante Befunde erheben. Dazu gehört die Analyse und Wertung der »Erinnerungsschwierigkeiten«, die ein Drittel der Befragten zugaben und die
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Braun, Ottmar: Potentialanalyse für das Reiseland Österreich, Trier 1993, Manuskriptdruck, 22 S., S. 18. In Brauns Potentialanalyse für die Schweiz wurde für die westdeutschen Teilnehmer der Studie ein Vergleich zwischen den Lebensphasengruppen (die nach Alter und Familienstand gebildet wurden) »hinsichtlich der im Leben bereits kennengelernten Reiseziele« angestellt. Vgl. Braun, Ottmar: Potentialanalyse für das Reiseland Schweiz, Split West, Trier 1994, Manuskriptdruck, 21 S., S. 19. Zum Anliegen vgl. Becker, Reisebiographien und ihre unendlichen Auswertungsmöglichkeiten, S. 136. Vgl.: Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 115. Die Daten schienen ihm aber auch »als zu wenig ergiebig«, was einerseits mit dem quantitativ ausgerichteten Forschungsinteresse, andererseits mit der Hauptthese seiner Arbeit zusammenhängt: Der frühere »touristische Blick« sei durch heutige Einstellungen überdeckt.
2. Reisebiografien
genaue Jahreszahlen und die Reihenfolge der Reisen betrafen. »Nur an wenige andere Ereignisse dürften sich bei einer Erhebung nach Jahrzehnten noch fast zwei Drittel, bei den Älteren immerhin noch die Hälfte der Befragten ohne Schwierigkeiten erinnern können.« Offensichtlich zählen Urlaubsreisen zu den besonders einprägsamen Höhepunkten im Lebenslauf. Bemerkenswert sind die sozialen Unterschiede ‒ gerade in den weniger reiseerfahrenen Schichten trugen die selteneren Urlaube maßgeblich dazu bei, die biografische Erinnerung zu strukturieren. Doch sei auch ein zeitliche Differenz im Erinnerungsvermögen relevant: die ersten und die allerjüngsten Reisen sind besser im Gedächtnis als Reisen in den mittleren Jahren.38 Sein Resümee: »Obwohl für die 1970er und 1980er Jahre eine detaillierte Auswertung der Reiseanalysen möglich und sinnvoll wäre, dürften exemplarische und qualitative Ansätze insgesamt ergiebiger sein als quantitative Überblicke.«39 Für die vorliegende Studie sind jene Ergebnisse der Trierer Studie von besonderem Interesse, die die Entwicklung des Reiseverhaltens in Deutschland dokumentieren. Mit ihnen kann belegt werden, was oben behauptet wurde: »Bei jüngeren Alterskohorten kann ‒ entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung ‒ von früher Jugend an eine rasch wachsende Reiseintensität beobachtet werden; dabei erreicht die 1961er-Kohorte von Beginn an deutlich höhere Werte als die 1951er-Kohorte.« Interessant sind auch die Angehörigen des Jahrgangs 1923, die bei Kriegsende zweiundzwanzig Jahre alt waren. Sie reisten schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit und setzten damit einen Trend fort, der in ihrer frühen Jugend begonnen hatte. Auch während des Krieges lag die Reisehäufigkeit bei ihnen um die 20 Prozent! Im Vergleich zur Kohorte von 1911 gibt es hier eine stetigere Reisebiografie, während die 1911er lange Zeit (bis zum 40. Lebensjahr) in ihrer Reiseintensität annähernd auf Vorkriegsniveau verharrten. Möglicherweise aber sind es gerade sie, die mit ihrem rasanten Anstieg der Reiseintensität das Bild vom Aufstieg des Massentourismus in den 1960er Jahren bestimmt haben.40 Mundt bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Reisesozialisation« ins Spiel. Die Bedingungen seien für unterschiedliche Alterskohorten verschieden gewesen. »Wer zum Beispiel 1960 zwanzig geworden ist, wurde dies in einer Gesellschaft, der eine Mehrheit noch keine Urlaubsreise machte. Als zwei Jahrzehnte später die nächste Generation so alt wurde, war das
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Ebd., S. 116. Ebd., S. 483. Becker: Reisebiographien 1998, S. 199f.
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Reisen in weiten Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft bereits fast zu einer sozialen Selbstverständlichkeit geworden.«41 Es sei ein Fahrstuhl-Effekt über verschiedene Generationen beim Einstieg in das aktive Reiseleben auszumachen. Für Zwanzigjährige des Jahrgangs 1940 (also 1960) habe die Reiseintensität 28 Prozent betragen, für Zwanzigjährige des Jahrgangs 1950 (also 1970) bereits 42 Prozent, von den 1960 Geborenen verreisten 1980 58 Prozent, vom Jahrgang 1970 69 Prozent und vom Jahrgang 1980 80 Prozent. Auch die Wahl des Reiseziels erweise sich als Kohorten spezifisch.42 Von der Bedeutung touristischer Reisen für autobiografische Erzählungen und die Konstruktion moderner Identitäten ging auch das Lebensgeschichtliche Archiv für Sachsen am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden aus, als es sich im Jahre 2008 mit einem Schreibaufruf an die Bevölkerung wandte, um Erinnerungen an den Urlaub in der DDR zu generieren.43 Dabei ließ man sich von zwei Annahmen leiten. Erstens seien kulturelle Prozesse und Praxisformen im Tourismus besonders gut zu erfassen – »der Tourismus bündelt kulturelle Entwicklungen der Gegenwart und erlaubt zeitdiagnostische Rückschlüsse auf den Zustand von Gesellschaft.« Zweitens gehöre Reisen heutzutage zur modernen Lebensführung und habe zweifellos identitätsstiftende Wirkungen.44 »Damit gilt auch das individuelle Leben in seiner spezifischen Gestalt als zunehmend durch die Reiseaktivität geprägt.« Viele der Reisen stünden in Verbindung mit biografisch bedeutsamen Ereignissen, die Abschnitte im Lebenslauf markieren. Doch wurden umgekehrt auch Reiseerlebnisse selbst als lebensgeschichtlich einschneidend dargestellt wie die Erfahrung des Fremdseins und der eigenen Grenzen.45 Als freiwilliger Auslandsaufenthalt könne das Reisen zudem eine »Profilierung des Lebenslaufes« bewirken.46 Allerdings seien diese Zusammenhänge von der Volkskunde bisher kaum erforscht worden, werde das Reisen von dieser doch bisher vor allem als »kollektives Phänomen« wahrgenommen. »Es steht daher zu fragen, inwieweit eine biografisch orientierte volkskundliche Forschung, die sich mit alltäglichen ›Normallebensläufen‹ befasst, zur Aufhellung der Beziehung zwischen 41 42 43 44 45 46
Mundt, Einführung in den Tourismus, S. 87 (Herv. i.O.). Vgl. ebd., S. 88. Friedreich, Sönke: Urlaub und Reisen während der DDR-Zeit. Zwischen staatlicher Begrenzung und individueller Selbstverwirklichung, Dresden 2011, S. 13. Vgl. ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 9.
2. Reisebiografien
Identität und touristischem Reisen beitragen kann.« Dazu müsse man vom Stellenwert des Reisens im jeweiligen Leben ausgehen und eine diachrone Sichtweise einnehmen.47 Einige der Teilnehmer der Studie, die meist den Jahrgängen 1920-1940 angehörten, haben, so Friedreichs Einschätzung, regelrechte »Reisekarrieren« mit vierzig oder mehr Urlaubsreisen beschrieben.48 Eine Vertiefung von Befunden zum Reiseverhalten einzelner Kohorten, bei der »Reisepioniere« mit durch »Reisesozialisation« geprägten »Reisekarrieren« ausgemacht werden können, verspricht die von Manning aufgeworfene Frage, ob die ersten Massentouristen der Nachkriegszeit eine »Stilgeneration« gebildet hätten, die nicht nur Vorbild waren für kommende Touristen, sondern vor allem mit der Vorgängergeneration der Reisenden gebrochen hätten. An der Italienreise wird das genauer untersucht. »Italien als Reiseziel war dabei konstitutiv für die Hervorbringung dieses Stils, spiegelten sich hier doch einerseits die massentouristischen Bedürfnisse nach Erholung und Vergnügen in einem traditionellen Sehnsuchtsraum für die Deutschen wider, der unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft umgedeutet und aktualisiert wurde.«49 Allerdings verbleibt Manning mehr auf der Ebene der Diskurse, der Kulturkritik der alten Eliten. Um den Begriff der »Generation« als analytische Kategorie zu halten, für den im sozialwissenschaftlichen Bereich auch immer das Moment der Selbstreflexion konstitutiv war, muss Manning immer wieder begründen, warum es dessen nicht bedarf.50 »Im Sinne einer ›stillen Generationalität‹ offenbart sich die Generationszugehörigkeit allein in der Praxis über einen bestimmten, kollektiv geübten Stil […] ohne als Selbstzuschreibungsformel expliziert zu werden.«51 »Generationenbildung« wird so zur Fremdzuschreibung sei47 48
49 50
51
Ebd., S. 10. Ebd., S. 20. Ein Projekt wie dieses ist nicht vergleichbar mit den reisebiografischen Darstellungen in Wort und Bild, die von den Printmedien oder im Fernsehen generiert oder selbständig und unaufgefordert ins Internet gestellt werden. Sie sind als Faktum durchaus von Interesse, aber im Gegensatz zur Überlieferung von Wanda Frisch wissenschaftlich nur schwer zu fassen. Manning, Die Italiengeneration, S. 9. »Die Stilgeneration des Massentourismus kam in Deutschland als Italiengeneration daher, die sich nicht programmatisch erfand, die sich jedoch ‒ einem kollektiv geteilten Bedürfnis nach Erholung und Geselligkeit mit Sonne, Strand und Meer folgend ‒ über individuell praktizierte und massenhaft antizipierte Verhaltensmodi manifestierte.« Ebd., S. 361. Ebd., S. 25.
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Die Touristin Wanda Frisch
tens des Forschers, der sich dazu aber vor allem zeitgenössischer Kulturkritik bedient, mithin der Selbstzuschreibungen der »alten«, abgelösten Stilgeneration. Vor diesem Hintergrund darf tatsächlich gefragt werden, welchen heuristischen Wert das verwendete Konzept der Stilgeneration hat. Für die vorliegende Studie liegt er eher in einem anderen Begründungszusammenhang: »Nicht die vermeintlich natürlich gegebenen Gemeinsamkeiten einer Alterskohorte halten die Stilgeneration zusammen. Der generationsspezifische Charakter ergibt sich dabei einerseits durch einen antizipierten bzw. praktizierten Urlaubsstil, dessen Ausgestaltung entlang eines touristischen Alters gedacht wurde.52 Das »touristische Alter« der ins Auge gefassten Generation ist, unabhängig vom Lebensalter, ein junges, haben sie doch gerade erst angefangen, sich in der Welt des Reisens umzusehen. Sie scherten sich nicht um die bisherigen Zuschreibungen sowohl des richtigen Reisens wie der Gründe für einen Italienaufenthalt. Dass die Neuen nicht die (altersmäßig) Jungen sein müssen, ist ein Gedanke, der über den von Manning ins Feld geführten Argumentationszusammenhang hinaus bedeutsam sein könnte.
2.2.
»Reisebiografie« oder »Reisen im Lebenslauf«?
Kann die Tourismusforschung im Allgemeinen und das Projekt der Reisebiografie von Wanda Frisch im Besonderen von den Erkenntnissen der Lebenslauf- und Biografieforschung profitieren? Und umgekehrt: Was könnte es bringen, wenn sich Biografie- und Lebenslaufforschung dem Thema des massentouristischen Reisens zuwenden würde? An dieser Stelle soll zunächst nur kommentiert werden, was die bisherige Recherche erbracht hat und unter welchen Bedingungen es möglich sein soll, mit Blick auf die Protagonistin biografisch zu arbeiten. Legt man die Entwicklungsstränge der Biografie- und Lebenslaufforschung und der oben skizzierten Tourismusforschung nebeneinander, ergibt sich eine interessante zeitliche Koinzidenz. Fast gleichzeitig wird ein Unbehagen daran artikuliert, das Leben in einzelne Phasen zu zerlegen, die jeweils separat diskutiert werden, ohne zu bedenken, dass es in modernen Gesellschaften mit hoher Lebenserwartung eine Mehrheit der Menschen ist, für die Vorstellungen von Lebenszyklen nicht nur theoretisch existieren,
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Ebd., S. 34.
2. Reisebiografien
sondern auch praktisch durchlaufen werden können und müssen.53 Das wird für beide Seiten als drängendes Problem diskutiert. Aus der Perspektive der Tourismusforschung liegt der Sinn aber darin, einerseits lebenslang für touristische Aktivitäten zu sorgen und deshalb alle Altersphasen zu untersuchen. Andererseits geht es um mögliche Veränderungen im Lebenszyklus, wobei eine Vielzahl von Gründen eine Rolle spielt. Das Ziel ist letztendlich, eine hohe Reiseintensität zu sichern und den Destinationen einen entsprechenden Besucherandrang. Mit anderen Worten: Tourismusforschung orientiert sich nicht an der Lebenslauf- und Biografieforschung, die sich für »Struktur, Verlauf und Zusammenhang des Lebens« interessiert und das Verbindende der einzelnen Lebensphasen in der »Entwicklung und Lösung von Widersprüchen« sieht.54 Sie bewegt sich auf der Metaebene der Konsumforschung und findet hier meist ihr Genügen. Dort ist ‒ und das soll die neueste Entwicklung abbilden ‒ auch von »Konsumbiografien« und »Identitätskonsum« die Rede. Doch das sind, wie Schramm nachweisen kann, die altbekannten Zeichen der Moderne.55 Gleichwohl zeigt die Verwendung von Begriffen wie Reisesozialisation, Reisekarriere oder Reisebiografie an, dass ein Widerschein der gesellschaftlichen Großtheorien in der Tourismusforschung zu entdecken ist. Studien wie die von Desforges sind Beispiel dafür, dass es nicht dabei bleiben muss.56 Doch ist die Reise nicht nur eine Ware und Freizeit nicht nur Konsumzeit.57 Die Tourismusforschung könnte mit Fug und Recht auf ein anderes Moment zurückgreifen, mit dem die Freizeit arbeitender Menschen in Industriegesellschaften von Anfang an assoziiert wurde. Gemäß dieser langen emanzipativen Tradition sollte Freizeit ganz in dem von Marx gemeinten Sinn das »freie Spiel der menschlichen Kräfte« fördern und jenseits von Fabrik und Büro die dort unterdrückten Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen entfalten helfen.58 Unter dem Topos der »Freizeitgesellschaft« wurden Zukunfts53
54 55 56 57 58
Vgl. Irmscher, Gerlinde: Lebenszyklen/Generationenfolge, in: Cancik, Hubert; Groschopp, Horst; Wolf, Frieder Otto (Hg.) Humanismus: Grundbegriffe Berlin/Boston 2016, S. 250. Ebd., S. 243. Schramm, Manuel: Ich bin ein Warenkorb, in: der Freitag, Nr. 51/52 vom 21. Dezember 2017, S. 15. Desforges, Luke: Traveling the World. Identity and Travel Biography, in: Annals of Tourism Research 27(2000)4, S. 926-945. Kopper, Die Reise als Ware, S. 61-83. Dieses weite Feld kann hier nur kurz porträtiert werden. In West und Ost entstand eine einschlägige Literatur.
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Die Touristin Wanda Frisch
visionen entworfen, die davon ausgingen, dass die arbeitsfreie Zeit nicht nur weiter zunehmen, sondern auch in neuer, besserer Weise genutzt werden wird. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der täglichen und Wochenendfreizeit. Erst später kam der Urlaub dazu. Die Tourismusforscher ihrerseits, das zeigen etwa die ersten Jahrgänge der Annals of Tourism Research, sahen sich zunächst als Freizeitforscher. Ist die These, dass Reisen bildet, wirklich hoffnungslos veraltet? Kritik an mangelnder Bildungsfähigkeit und -willigkeit von Reisegenossen gehörte zur Kulturkritik des 19. Jahrhunderts. Dem aufkommenden vergnügungssüchtigen Massentourismus wurden immer diverse Formen »bildender« Reisen entgegengehalten, sei es im Arbeiter- und Jugendtourismus, bei den »Naturfreunden«, im Alternativtourismus, der das Zusammentreffen mit der einheimischen Bevölkerung fördert oder durch Marken wie »Studiosus«. Ende der 1980er Jahre entdeckte die Freizeitpädagogik den Tourismus und setzte sich mit »Bildungs- und Lernchancen im Tourismus der 90er Jahre« auseinander.59 Schließlich ließen die Urlauber das Bedürfnis erkennen, auf Reisen auch etwas lernen zu wollen. Das steht nur in einem scheinbaren Widerspruch zur These, gerade Freizeit und Urlaub seien ein Reich der Freiheit. Im Gegenteil. Wie sehr seit den 1990er Jahren das Gewicht des Konsums auch zugenommen hat ‒ Urlauber trinken nicht nur Bier, sondern machen auch Erfahrungen und gewinnen Erkenntnisse, ob unter Anleitung oder nicht. In den folgenden Kapiteln werden sowohl konsumistische wie »bildende« Facetten im Reiseleben von Wanda Frisch näher beleuchtet. Die Erhebung von Lebenslaufmustern als Reisemuster oder die analytische Arbeit an Reisebiografien könnte nicht nur das wissenschaftliche Ansehen der Tourismusforschung stärken und etwas zur Theoriebildung beitragen, sondern eben auch zur Fundierung der eigenen empirischen Absichten. Allerdings sind Arbeiten wie die bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnte von Gibson und Yiannakis ebenso aufwendig wie rar.60 Weitgehend unbeachtet blieb eine Studie von Oppermann, ein Pilotprojekt der Universität Tübingen, bei der an 2.000 Haushalte in Tübingen und Reutlingen Fragebögen zum Reiseverhalten ausgeteilt wurden, um Wandlungen in der Reisehäufigkeit, bei den Reisezielen, Verteilung der Reisen im 59 60
Vgl. Steinecke, Albrecht (Hg.): Lernen. Auf Reisen? Bildungs- und Lernchancen im Tourismus der 90er Jahre, Bielefeld 1990. Vgl. Gibson, Yiannakis, Tourist Roles, S. 358-383.
2. Reisebiografien
Lebens- und Jahreslauf sowie Generationsdifferenzen zu erfassen. Letztlich wurden 124 Fragebögen ausgewertet, in denen etwa 3.300 Reisen von mindestens drei Tagen dokumentiert waren. Es wurden also soziale Zeit, Lebenslauf und Generation miteinander verknüpft.61 Wo findet im Vergleich zu diesen Ansätzen die Darstellung einer einzelnen Reisebiografie wie der von Wanda Frisch ihren Platz? Wie kann sie von der Lebenslauf- und Biografieforschung profitieren? Zunächst ist zu klären, wie das zur Verfügung stehende Quellenmaterial einzuordnen ist ‒ einleitend wurde dazu bereits einiges ausgeführt. Es handelt sich weder um eine schriftliche noch mündliche Darstellung eines Lebenslaufs, es finden sich somit keine expliziten Reflexionen auf Vergangenheit und Zukunft, auf Motive und Wünsche. Zwar sind, wie erwähnt, Selbstzeugnisse wie Fotos oder Postkarten vorhanden, doch sind sie kaum selbstreflexiv. Das ist, verglichen mit den »performativen« Quellen, die von Historikern oder Soziologen erhoben werden oder ihnen zur Verfügung stehen, eine ungewöhnliche Situation.62 Informationen über die Lebensdaten von Wanda Frisch stammen aus zweiter Hand, aus zufällig mitgeliefertem Material oder wurden mühsam deduziert. Die kurzen Statements auf den Postkarten lassen keine elaborierte Auseinandersetzung mit deren Inhalten zu wie dies für Briefe oder gar Tagebücher praktiziert wird. Außer für die Fotos und Postkarten sind die vorhandenen methodologischen Erfahrungen nicht nutzbar. Ist jede Biografie, ob vom Subjekt selbst verfertigt oder ihm zugeschrieben, ein Konstrukt, so sind angesichts dieser Quellenlage sowohl neue wie auch bekannte Wege zu beschreiten. Inhaltlich spricht einiges dafür, sich an die von Kohli entwickelten Thesen zu halten. Die vorhandenen Daten ermöglichen es, ein Reiseleben über mehrere Jahrzehnte zu verfolgen und einzelne Lebensphasen mit ihren Besonderheiten zu identifizieren. Darüber erbrachte der gewählte biografische Ansatz neue, kaum erwartete Einsichten. Andererseits ist es nicht möglich, jenen besonderen Vorzug zu nutzen, der mit den Reflexionen des Individuums auf seine Vergangenheit oder Zukunft einhergeht. Dafür wird es möglich sein, das Bleibende im Wandel (in diesem Fall repräsentiert durch Lebensstil und Habitus) darzustellen und diesen Wandel mit der historischen Zeit in
61 62
Vgl. Oppermann, Martin: Travel Life Cycle, in: Annals of Tourism Research 22(1995)3, S. 535-552. Vgl. Etzemüller, Biographien, S. 80ff.
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Die Touristin Wanda Frisch
Beziehung zu setzen. Das betrifft sowohl die objektiven Umstände des Reisens wie die Ausbildung neuer Moden. Im Vergleich mehrerer Reisen zum selben Ziel, bei der Identifikation von Lieblingsdestinationen, im Überblick über das Reisemuster und anhand der Modi des Fotografierens ist so etwas wie ein Sozialisations- und Individualisierungsmuster ablesbar in Form einer spezifischen Reisekarriere. Schließlich kann ‒ und das ist vielleicht das stärkste Moment ‒ über die Darstellung des Reiselebens einer konkreten Person dem Moment der Subjektivität zu seinem Recht verholfen werden, auch wenn es letztlich um typische Seiten gehen soll. Das macht vielleicht das Faszinosum der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Einzelnen aus, mag er oder sie nun eine weltbewegende Biografie vorweisen oder eine Alltagsgestalt sein: Im konkreten Leben fügt sich »natürlicherweise« letztlich eins zum anderen. Das erhöht die Plausibilität und fordert zu Stellungnahmen und Vergleichen heraus ‒ anders als bei statistischen Verfahren, deren Ergebnissen diese Plastizität fehlt. Als Fazit kann festgehalten werden: Es wäre legitim, von einem »Reiselebenslauf« Wanda Frischs zu sprechen. Doch dieses Wortungetüm gibt es nicht, der Begriff »Reiseleben« mag ausdrücken, was damit gemeint ist. Zu einer »Reisebiografie« im tradierten Sinn fehlen wichtige Voraussetzungen, wie auch im folgenden Vergleich mit einem Hamburger Reisenden deutlich wird. Dennoch wurde von der Protagonistin selbst Autobiografisches übermittelt und es wird an ihrer Reisebiografie gearbeitet. Das soll sich begrifflich niederschlagen.
2.3.
Ein Archivar und eine Chefsekretärin
Welcher Gewinn kann daraus erwachsen, die Reisebiografien einer Touristin des 20. Jahrhunderts und eines Reisenden aus dem 19. Jahrhundert zu vergleichen, als nur Minderheiten zum Vergnügen unterwegs waren? Immerhin war deren rege Mobilität aber durchaus alltäglich, also ein ebenso typisches Verhalten wie für die »Massen« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.63 Insofern handelt es sich um einen Versuch, das tourismusgeschichtliche Tableau von Hachtmann empirisch zu unterfüttern: »Das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert bilden die Sattelzeit des modernen Tourismus. Sie markieren eine Umbruchsphase, die dem Massentourismus 63
Ebd., S. 2.
2. Reisebiografien
vorausgeht. Zudem wurde der ›Tourismus‹ damals dem heute üblichen Tourismus immer ähnlicher.«64 Diese Veränderungen im 19. Jahrhundert seien aber bisher kaum untersucht worden, bemerkt Philipp Prein in der einleitenden Begründung seiner Dissertation. Zum bürgerlichen Reisen lägen für einzelne Bereiche überzeugende Arbeiten vor. Man sei bisher auf das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert fokussiert gewesen, während »der reisehistorische Übergang vom frühen zum späten 19. Jahrhundert, von den Innovationen in Aufklärung und Romantik zur Popularisierung im Fin de Siècle […] wenig beleuchtet« seien. Untersuchungen zum aufstrebenden Massentourismus im 20. Jahrhundert streiften dagegen frühere Entwicklungen »meist nur mit einleitenden Worten«.65 Mit seiner Arbeit will er diese Lücke schließen helfen. In diesem Sinne soll eine Reisekarriere, die fast das ganze 19. Jahrhundert umgreift, mit einer in Beziehung gesetzt werden, die drei Viertel des 20. Jahrhunderts überspannt. Dabei wird an folgende Denkfigur angeknüpft: Der Tourismus ist ein spezifisch modernes Phänomen, das im 18. Jahrhundert auch unter Verwendung »vorhandener Bilder, Wünsche und Praktiken« Gestalt annahm. »Doch die überkommenen Motive und Praktiken flossen ein in ein neues Ganzes: eine Struktur eigenen Rechts entstand ‒ der Tourismus, der wiederum auf die älteren Reiseformen zurückwirkte, um schließlich das ›Verreisen‹ generell zu prägen.«66 Dieser Wandel, das Aufheben des Alten im Neuen bei gleichzeitiger Veränderung des Erbes, kann im Vergleich zwischen zwei Touristen des 19. und 20. Jahrhunderts alltagstauglich und detailreich nachvollzogen werden. Das liegt nicht zuletzt an der Art der von Prein ausgewerteten Quellen, die einen Einblick in die Reisepraxis von Angehörigen der Oberschichten in Hamburg, Basel und London ermöglichen, in erster Linie des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, aber auch des Adels. Es handelt sich um meist unveröffentlichte Dokumente, deren Verfasser normale Vertreter dieser das Gros der Reisenden stellenden Gruppe waren. Ihre meist langjährigen Reiseerfahrungen versuchten seine Protagonisten »in einem gemeinsamen Erzählrahmen unterzubringen«, von »der flüchtigen
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Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S 59f. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 3f. Er macht sich für sein Vorhaben die Fortschritte der historischen Freizeit- und Konsumforschung zu Nutze, um das Reisen als Teil der bürgerlichen Lebensführung zu betrachten, wie es seinerzeit Ursula Becher vorgeschlagen hat. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 12.
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Die Touristin Wanda Frisch
Notiz bis zur über Generationen gepflegten Erinnerung«.67 Strukturierung und Erzählung der Biografie anhand der Reisen wird möglich und akzeptabel, vor allem, wenn diese als »die schönste Zeit« nicht nur des Jahres, sondern auch des Lebens gewertet wurden. Prein weist in seiner Situierung des eigenen Projekts zu Recht darauf hin, dass die bisherige Reiseforschung häufig nicht nur auf einzelne Reisetypen fokussiert war (etwa die Bildungsreise), sondern auch auf wenige Reiseziele (etwa Italien). Damit kann weder betrachtet werden, wie sich verschiedenen Arten des Reisens biografisch verschränken, noch welche Destinationen in einem solchen Reiseleben insgesamt eine Rolle gespielt haben. Im 19. Jahrhundert sei es aber »einer der größten Reize des Reisens« gewesen, »räumlich und zeitlich weit auseinander liegende Ansichten mit immer größerer Geschwindigkeit aneinander zu reihen.«68 Das zeichnet auch das Urlaubsverhalten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Immerhin, und auch das ist bis heute gültig, führte dieses exzessive Reisen dazu, dass bestimmte Touren geradezu zur Routine geworden sind. Dennoch haben sie ihre biografische Bedeutung nicht verloren, was daran abgelesen werden könne, dass sie weiterhin beschrieben wurden.69 Seinerzeit waren die städtischen Oberschichten »nicht nur viel unterwegs, sondern in manchen Lebensabschnitten häufiger, weiter und zweckgebundener als in anderen.«70 Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts seien sie schon als Kinder regelmäßig auf Reisen gewesen, an Wochenenden und Feiertagen ging es mit Eltern oder Verwandten auf Ausflüge ins Umland, im Sommer fuhr man für einige Wochen in nahegelegene Kurorte oder aufs Land. (Männliche) Jugendliche erkundeten mit Freunden die nähere Heimat. Auf größere Reisen wurden Kinder bis ins späte 19. Jahrhundert nur selten mitgenommen worden, allenfalls zur Kur in die Alpen oder ans Mittelmeer. Väter übernahmen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Arbeit am kollektiven Gedächtnis und reisten mit den jugendlichen Söhnen in ihre Heimat oder besuchten nationale Sehenswürdigkeiten.71 Schon lange tradiert war die intensive Reisephase während der Ausbildungszeit. »Aber im 19. Jahrhundert wurden die Wege weiter, die Zahl der Reisenden größer und die Motive der allgemeinen Bildung, des ästhetischen 67 68 69 70 71
Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 18f.
2. Reisebiografien
Genusses und der Erholung neben dem der Ausbildung stärker.«72 Die Umgebung der Ausbildungsorte wurde erkundet, der Heimweg als ausgiebige Rundreise gestaltet. Studenten, damals wie heute, absolvierten die größte Fahrt nach dem Examen im Stile einer Bildungsreise. Das galt, etwas abgewandelt, auch für die jungen Kaufleute.73 In der folgenden Lebensphase, dem Einstieg ins Berufsleben, sei weniger gereist worden, auch wenn Erholungsreisen selten ganz aufgegeben wurden. Eine Ausnahme bildete die meist nach Italien führende Hochzeitsreise. »Weitere Erholungs- und Bildungsreisen unternahmen die Männer zunächst alleine. Erst mit zunehmendem Wohlstand nahmen sie ihre Ehefrauen auf Rundreisen mit […]. So zogen die Männer mit und ohne Familien allmählich wieder weitere Kreise, bis sie sich die Zeit und das Geld für größere Rundreisen leisten konnten. Unter Umständen knüpften sie dabei an Erfahrungen aus der Ausbildungszeit an.«74 Ein zweiter Höhepunkt des Reisens im Lebenslauf großbürgerlicher Männer begann meist erst nach dem vierzigsten Lebensjahr und wurde durch Altersbeschwerden beendet.75 Nun zu einem Protagonisten, der besondere Aufmerksamkeit erhält. Es ist der Hamburger Otto Beneke. Er hat in Preins Studie über weite Strecken eine ähnliche Funktion wie Wanda Frisch für die vorliegende: Er gilt in mancherlei Hinsicht als typisch. Dazu gehört nicht zuletzt die Wertschätzung des Reisens als Teil oder gar Hauptstück der Biografie. Besonders im späten 19. Jahrhundert, so das Fazit von Prein, gehörten »Kapitel über kürzere und längere Reisen […] fest zum Aufbau einer Lebenserinnerung […]. Nicht selten wurden gerade solche Reisekapitel ausführlicher und lebendiger erzählt, weil die Autoren in ihnen auf Briefe und Tagebücher zurückgreifen konnten. Manche beschränkten sich ganz darauf, Reiseerinnerungen zu hinterlassen. Noch lange nach den eigentliche Reisen dienten diese also als Rahmen für die Reflexion über die eigene Identität.«76 An Beneke lässt sich das besonders gut belegen. Kurz vor seinem Tode hatte er ein »Summarisches Register meiner 72 73 74 75
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Ebd., S. 21f. Vgl. ebd., S. 29. Ebd., S. 33. Davon abweichend gestaltete sich das Reisemuster der adligen Londoner Oberschicht. Diese verkörperte überwiegend die klassische leisure class im Sinne von Thorstein Veblen. Reisen sind hier keine »Auszeiten von einem arbeitssamen Alltag«, sondern »Zwischen-Zeiten in einer Abfolge von Vergnügungen«. Ebd., S. 41. Ebd., S. 79.
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Reisen und mehrtägigen Landtouren seit 1813« verfasst. Da war er fast achtzig Jahre alt (er starb 1891). Dieses Register liefert einen Rahmen, in den die Belege seiner Reisen eingeordnet werden können. Hatte er doch die Winterhalbjahre häufig damit verbracht, aus Briefen, Tagebuchnotizen, Zeichnungen und Ansichtskarten handgeschriebene, reich bebilderte Bücher zusammenzustellen, »als Erholung durch Rückerinnerung genossener Reisefreuden«.77 Otto Beneke war der älteste Sohn von Ferdinand Beneke, einem Juristen mit öffentlichen Ämtern in Hamburg. Er war selbst sowohl als Jurist und Senatssekretär tätig wie auch als Archivar und Geschichtsgelehrter und gehörte damit im wirtschaftsbürgerlich geprägten Hamburg zu einer Minderheit.78 Als Gelehrter schien er die Fron einer nicht selbst bestimmten Arbeitswelt besonders hart zu empfinden, dessen »Druck« es »auf kurze Zeit« zu entrinnen galt, wie er als Mittfünfziger an seinen Bruder schrieb.79 Diesen Gegensatz von Arbeit und Freizeit betonte er immer wieder.80 Die Zeit, die er dem Reisen widmen konnte, empfand er als ebenso beschränkt wie die verfügba-
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Beneke, Otto: Summarisches Register meiner Reisen und mehrtägigen Landtouren seit 1813. Zit. nach ebd., S. 78. Die umfangreichsten Berichte umfassen fast 500 Seiten, z.B. von den Reisen in die Schweiz 1853 und 1862 und nach Österreich und Bayern 1860. Als Leiter des Senatsarchivs veranlasste er, dass die Tagebücher seines Vaters, die dieser lebenslang geführt hatte, dort eingelagert wurden. Seit einigen Jahren werden sie publiziert als wichtige Quelle zur Dokumentation bürgerlichen Lebens in der Stadt. Otto Beneke trat auch mit eigenen Publikationen hervor, die kürzlich wieder aufgelegt wurden, etwa mit: Von unehrlichen Leuten. Kulturhistorische Studien und Geschichten aus vergangenen Tagen deutscher Gewerbe und Dienste, Hamburg 2011. Ebd., S. 1. So hieß es 1869 an den Bruder weiter: »Reisen als ideales Mittel gegen ›1. BörsenVersauerung,/2. Rathaus-Vertrauerung,/3. Gelehrten-Ummauerung,/4. Sonstige Verbauerung‹« empfohlen. Seinen Vater zitierte er 1849 mit einem Gedicht von 1816: »Ruhe von dem Werkeltage,/Freiheit von der Arbeitsplage,/Ausflug aus dem dunkeln Keller,/Reisen durch die duft’gen Fluren,/sinnig, sorg’entladners Reisen,/heiters Schwärmen dort in Thälern.« Ebd., S. 91f.
2. Reisebiografien
ren finanziellen Mittel.81 Deshalb wurde jede Gelegenheit genutzt, um in den Modus der Freizeit zu verfallen. Befand er auf einer Dienstreise, wie etwa 1842 in Köln und Aachen, so blendete er in seinem Tagebuch das »Geschäftsmäßige« bewusst aus und widmete sich der Beschreibung kurioser Menschen, merkwürdiger Begebenheiten und der einschlägigen Sehenswürdigkeiten.82 Das oben skizzierte Reisemuster der bürgerlichen Oberschicht, d.h. die Anordnung und spezifische Gestalt der Reisen im Lebenslauf kann anhand der Aufzeichnungen Benekes exemplarisch nachvollzogen werden.83 Zwischen 1822 und 1890 war er »mindestens ein, in der Regel zwei- bis vier-, vereinzelt bis zu sechsmal im Jahr unterwegs.«84 Als Kind reiste er in Gesellschaft seiner Eltern, Geschwister und anderer Verwandter, später mit Freunden und nach der Hochzeit 1845 mit seiner Frau Marietta. Kürzere Ausflüge wurden an Festtagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten unternommen, mehrwöchige Touren im Sommer und Herbst. Bei längeren Rundreisen wurden größere Städte ebenso berührt wie bekannte Kur- und Badeorte in den Mittelgebirgen und im Rheintal (Baden-Baden) oder in den Alpen (Interlaken). Auch Besuche von Verwandten und Bekannten (Thüringen, Niedersachsen) gehörten zu seinem Reiseleben. Während seines Jurastudiums 1833-1936 hatte er Berlin und die weitere Umgebung der Stadt (Potsdam, Brandenburg, Dresden, Sächsische Schweiz,
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Vgl. ebd., S. 36. Solche Informationen über Reisekosten bzw. deren Anteil an den Lebenshaltungskosten können für diese Zeit nur anhand von Beispielen gewonnen werden. Statistiken zu den Lebenshaltungskosten der Haushalte, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland erhoben wurden, weisen noch für die 1920er Jahre den Anteil der Urlaubskosten an den Ausgaben für die Freizeit nicht speziell aus. Auch die vorliegenden volkswirtschaftlichen Daten über die Ausgaben von Touristen im In- und Ausland können wohl kaum dazu genutzt werden, diesen Mangel zu beheben. Ergänzend zu den eher vagen Aussagen Benekes findet sich bei Prein die Haushaltsrechnung des Juristen Leo Lippmann vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Für die Hochzeitsreise nach Venedig, Wien und Berlin gab das junge Paar 1906 11 % seines Jahreseinkommens aus (das zudem wesentlich von den Eltern gesponsert war). Zwischen 1907 und 1914 und auch noch während des Weltkriegs lag der Anteil der jährlichen Urlaubsreise bei durchschnittlich 10 % des »jährlichen Verbrauch (exklusive Steuern)«. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 69. Von den anderen Probanden unterschied er sich allerdings dadurch, dass er im Wesentlichen in den Grenzen des Deutschen Bundes verblieb. Auch scheint seine Ehe kinderlos geblieben zu sein, auf Nachkommen war also keine Rücksicht zu nehmen. Ebd., S. 1.
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Weimar, Erfurt, Thüringer Wald) und Heidelberg (Rheintal, Odenwald) erkundet. Nach dem Examen absolvierte er wie viele Studenten eine größere Tour und war 1836 für zwei Monate von Heidelberg aus über München, Wien, Prag, Dresden und Berlin unterwegs.85 Im nächsten Jahrzehnt unternahm Beneke nur kleinere Reisen an die Nord- und Ostsee und durch die Mittelgebirge, erst 1846 fand wieder eine größere statt. Die umfangreichsten Touren sind zwischen 1853 und 1869 zu verzeichnen. Mehrere Male wurden der Rhein, Süddeutschland, Österreich und die Schweiz besucht. Danach begnügte er sich mit Kurreisen im norddeutschen Raum oder nach Böhmen, so 1881 nach Teplitz.86 Otto Beneke war, wie erwähnt, ein Mitglied der guten Hamburger Gesellschaft, aber nicht der reichsten. Genau genommen gehörte er eher zur gebildeten Mittelschicht und repräsentiert damit jenen Vorgang der Touristifizierung im 19. Jahrhundert, der die Vergnügungs- oder Freizeitreise auch für breitere Kreise des Bürgertums in Deutschland zum Stil- und Ausdrucksmittel machte. Das brachte freilich Distinktionsprobleme mit sich und fachte die Tourismuskritik an. In seinen ausführlichen Reisebeschreibungen hat er sich vielfach mit seinen Mitreisenden auseinandergesetzt, wobei der Blick, wie Prein schreibt, vor allem nach oben und zu Seite gerichtet war. Bekannte Topoi tauchen auf: das Beschwören von Brüderlichkeit über alles Standesschranken hinweg beim gemeinsamen Bezwingen eines Berges, Kritik an Dünkel und Überheblichkeit des Adels, Behagen im Kreise gebildeter Gleichgestellter. Hinzu kommen eine Vorliebe für Naturerleben ohne laute Mitmenschen, für den Genuss historischer Schätze und die Abwehr des »Industriemässigen«.87 Wie erwähnt, vergällten ihm im höheren Alter die so zahlreich auftretenden »Philisterfamilien« das Reisen. Nichtsdestotrotz erhielt sich die alte Reiselust in einer Art utopischen Form, projiziert auf junge Leute, die noch einen »unverdorbenen« Blick auf Natur und Menschen zu werfen in der Lage sind. »›Solchen jungen Leuten werde ich immer rathen zu reisen.‹«88 Wanda Frisch wurde, wie erwähnt, im Oktober 1923 geboren. Sie gehört damit einer Kohorte an, die nach den oben dargestellten Erkenntnissen der
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Ebd., S. 23f. Ebd., S. 36 und S. 67. Vgl. ebd., S. 112ff., 156f., 196ff., 217f. Ebd., S. 171.
2. Reisebiografien
Reisebiografie-Studie aus Trier eine selbst durch Krieg und Nachkriegszeit wenig beeinflusste Reiseintensität auf einem relativ hohen Niveau aufweist. Die Stetigkeit in der Reiseintensität dieses Jahrgangs wird anhand der Reisebiografie von Wanda Frisch konkret vorstellbar. Sie ermöglicht einen Einblick in die näheren Umstände und liefert Belege für die Behauptung, es hier mit einer Vertreterin der ersten Generation jener Massentouristen zu tun zu haben, für die das Reisen praktisch schon immer zum Leben dazu gehörte. Zugleich kann sie als »Pionierin« beschrieben werden, wie ein Blick in die Reisestatistiken zeigt. Doch dazu später. Als kleines Mädchen verbrachte sie im Sommer 1928 einige Zeit einem DRK-Heim in Graal, das von 1921 bis 1940 jährlich von etwa 1.000 Kindern aus Essen bevölkert wurde. Wanda Frisch hat dieses Heim nach 1990 noch einmal aufgesucht. Im Jahre 1936 lassen sich zwei Ferienaufenthalte in katholischen Einrichtungen in Bayern nachweisen, 1939 in einer Jugendherberge in Mönchen-Gladbach, ein Jahr später in Ladbergen im Tecklenburger Land. Sicher handelte es sich um Schulausflüge. Sie absolvierte dann eine Ausbildung zur Sekretärin bei einem Traditionsunternehmen in Essen, in dem sie mit der Zeit zur Chefsekretärin aufstieg. Später kam ihr Betrieb zu Krupp, wo sie nach einer Phase der Arbeitslosigkeit bis zur Pensionierung tätig blieb.89 In den Jahren zwischen 1929 und 1945, also in der Zeit des Heranwachsens und wirtschaftlicher Unselbständigkeit bis zum 22. Lebensjahr, verreiste sie im Sommer mit den Eltern und anderen Verwandten.90 Erstmalig gibt es 1942/43 auch Fotos von einem Winterurlaub in Garmisch. Schon 1947 wurde praktisch nahtlos an dieses touristische Vorkriegsleben angeschlossen. Die Reiseziele liegen an der Nordsee und in den bayrischen Alpen (1950).91 Ab 1951 fanden in der Regel sogar zwei Reisen statt, nun auch ins benachbarte Ausland (Schweiz, Österreich, Belgien, Norditalien). Immer noch war sie mit Vater und Mutter unterwegs, erst ab 1953 begann ein selbständiges Urlaubsleben. Die Eltern begingen den Jahreswechsel schon vor dem Krieg gern in Garmisch, als Stammgäste nur selten gewechselter Pensionen, sozusagen mit »Familienanschluss«. Oft verbrachten sie dort auch die Sommerferien. Die
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Brief Teresa Bühner vom 24. Juni 2013. Reiseziele waren Ahrweiler (1929), Juist (1933 und 1939), Fahlhofen (1937), Norderney (1938), Hausen/Westerwald (1940), Garmisch (1941, 1943 und 1944), Ansberg (1942), Keitum (1943) und Gut Frielentrop (1944). Borkum (1947), Sylt (1949 und 1950).
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Tochter ersetzte ab dem Jahreswechsel 1971/72 bis 1975/76 den inzwischen verstorbenen Vater und fuhr in diesem Zeitraum zweimal jährlich ins winterliche Gebirge ‒ wie gewohnt mit Freunden und zusammen mit der Mutter. Auch zu anderen Zeiten des Jahre war Wanda Frisch mit ihr unterwegs.92 Im Vergleich zum Urlaubsverhalten der Eltern fand ein zeittypischer Wandel statt: besuchten diese vor allem deutsche und deutschsprachige Feriengebiete ersten (Nordsee, Alpen) und zweiten Ranges (Mittelgebirge in Nordrhein-Westfalen oder Hessen), zog Wanda Frisch weitere Kreise und kreierte ein anderes Reisemuster. Es entfaltete sich entsprechend dem Rhythmus ihres Arbeitslebens und der vergönnten arbeitsfreien Zeit und wurde über viele Jahre beibehalten. Im Februar oder März brach die sportbegeisterte Protagonistin zu einem ausgedehnten, meist dreiwöchigen Winterurlaub in prominente alpine Skigebiete auf, wo sie in Pensionen oder kleinen Hotels nächtigte. Sie reiste bis Anfang der 1960er Jahre vornehmlich mit dem Zug (Schlafwagen) oder im Auto der Begleiter. Diese Tradition des ausgiebigen Winterurlaubs wurde über zweieinhalb Jahrzehnte fortgesetzt, mit zwei Ausnahmen in den Jahren 1966 und 1976. Dabei tauchen dieselben Destinationen selten zweimal, nie mehrmals auf. Dagegen traten die sommerlichen Aktivitäten zunächst zurück. Für 1955 gibt es Hinweise auf eine motorisierte Rundreise (Schweiz, Italien) mit Freunden, 1958 eine im Reisebüro gebuchte Fahrt nach Florenz, Padua, Pesaro und Venedig, 1960 reiste sie zu den Olympischen Spielen nach Rom, 1962 an die niederländische Küste. In den folgenden Jahren ist Lungern in der Schweiz ein Ziel, das anscheinend mit den Eltern angesteuert wurde. Ein neuer Wohlstand ermöglichte in den 1960er Jahren die Bereicherung des Reiselebens durch eine jährliche Städtereise, die stets zu Ostern oder Pfingsten stattfand.93
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Bei der Kurzreise zu Ostern 1973 nach Monaco war sie ebenso dabei wie auf dem Schiff nach Oslo 1974. Zwei Wochen wurden 1974 gemeinsam in Bernkastl-Kues verbracht und weitere Urlaubstage in den Jahren 1971-1975 und 1979 in Lungern (Schweiz), ebenso wie Garmisch ein tradiertes Ferienziel der Eltern. Für 1977 kann ein Aufenthalt der beiden Frauen in Wien und für 1978 ein Kurzurlaub im Kurhotel Bad Neuenahr nachgewiesen werden. Die Mutter war inzwischen 80 Jahre alt. Paris (1963), Rom (1964), Berlin (1965), London (1966), Wien (1967), Prag (1968), Madrid und Toledo (1969), Kopenhagen (1970), Luxemburg (1971), Mailand und Pavia (1972), Monaco (1973), Oslo (1974). Die Fahrten nach Kopenhagen und Oslo fanden per Schiff statt, ansonsten wurde das teure, aber schnelle Flugzeug benutzt. Das gilt auch für Kurzurlaube in der Schweiz in Hohfluh (1977), Alp Nachstad (1976) und Lungern (1979).
2. Reisebiografien
Das Jahr 1965 markierte einen weiteren Wendepunkt in der Reisebiografie von Wanda Frisch. Sie brach zu einer mehrwöchigen USA-Reise auf ‒ ihrer ersten Fernreise. Da war sie zweiundvierzig Jahre alt. Es ist jenes Alter, in dem die 1911er Kohorte in den Massentourismus mit deutschen und europäischen Zielen einstieg.94 Unsere Protagonistin scheint, dank ihrer bisherigen Reiseerfahrungen, einen Schritt voraus zu sein. Doch der Eindruck täuscht, das Fernabenteuer ist nur ein Besuch bei der Familie einer ausgewanderten Klassenkameradin in Seattle, der dann zu gemeinsamen touristischen Erkundungen im Land genutzt wurde. Der Gewinn an freier Zeit und finanziellen Mitteln lässt sich auch an zwei Flugreisen nach Brüssel und London im Jahre 1966 ablesen. Im Sommer 1967 führte eine Kreuzfahrt zum Nordkap, es folgen Flugreisen nach Schweden (1968) und 1969 Spanien (Madrid, Toledo). Das zeugt neben dem Winterurlaub, den Städtereisen und zusätzlichen Ausflügen wie etwa 1967 nach Hamburg zum »Weltstadtwochenende« mit den Eltern von einer weit überdurchschnittlichen Reiseintensität. In den 1970er Jahren hielt sie an diesem Reisemuster fest. Es fand eine weitere USA-Reise per Flug und Schiff statt, 1972 führte eine kombinierte Schiffs- und Flugreise über Wien und Budapest zur Krim. Noch 1974 auf einer Schottland-Rundreise konnte sich Wanda Frisch als Pionierin fühlen. Nur kurz ist ein Ausflug zum aufsteigenden Reiseziel Mallorca (ebenfalls 1974). Ein absoluter Höhepunkt war dagegen eine Flugreise nach Hongkong und Bangkok. Die 1970er Jahre wurden mit einer ausgedehnten Reise durch die USA und Mexiko beschlossen. In der Mitte des folgenden Jahrzehnts hatte sich das Reisemuster gewandelt, ohne dass die Reiseintensität nachgelassen hätte. Die Reisen in bedeutende europäische Städte zu Ostern/Pfingsten hörten auf, nicht dagegen die Fahrten zum Wintersport, die letzte führte 1994 nach Winterberg. Unsere Protagonistin war da immerhin schon einundsiebzig Jahre alt und kann damit wohl den neuen Alten zugerechnet werden, die bei guter Gesundheit keinesfalls nur verreisen, um bei Kuraufenthalten ihre Leiden zu lindern. Die Fernziele wurden mit der Zeit ausgefallener. Mit einer Freundin ging es 1984 nach Asien (Japan, Hongkong, China, Thailand), 1985 nach Istanbul und in die Sowjetunion, 1988 in die Königsstädte von Marokko. In den Jahren 1984/85 verbrachte Wanda Frisch 39 bzw. 40 Tage auf Reisen ‒ sie war nun 94
Die Unterschiede zwischen der 1911er und 1923er Kohorte belegen eindrücklich, wie abhängig das Reiseverhalten im Lebenslauf, neben der allgemeinen Entwicklung des materiellen Wohlstandes und der freien Zeit, auch vom Familienzyklus ist.
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pensioniert. Eine Rundreise durch die USA beendete die 1980er Jahre. In den 1990er Jahren wurden Fernreisen dann rar. Die Reiseziele lagen nun vor allem in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder den ebenfalls benachbarten Niederlanden. Nach Spanien (1990) und Malta (1992) trat Wanda Frisch 1994 eine letzte Reise in die USA an, wo sie sich jedoch auf ausgetretenen Pfaden bewegte. Neu sind dagegen die Erkundungen deutscher Kultur- und Naturlandschaften auf kürzeren Fahrten und in Tagesausflügen.95 Damit scheint sich ein Kreis geschlossen zu haben. Nach einem langen Reiseleben wurden nun Orte aufgesucht, die sie ihr bereits aus Kindertagen vertraut waren. Doch ist es nur eine scheinbare Wiederholung, denn diese Destinationen repräsentieren nur einen Bruchteil der Reiseziele im In- und Ausland. Im Vergleich zum Reisemuster während der Berufstätigkeit wurden die Fahrten zudem regelloser. Nur in wenigen Monaten des Jahres war sie überhaupt nicht unterwegs. Tagesausflüge, Kurzreisen und längere Fahrten wechselten sich in buntem Durcheinander ab. Städtereisen fanden innerhalb Deutschlands statt und gingen nach Hamburg, Lüneburg, München und Berlin oder führten sie nach Barcelona (1996), Nizza und Cannes (1998), Mailand (1999), Amsterdam (2000) und Bologna (2001).96 . Zuletzt reiste sie im Jahre 2003 als immerhin Achtzigjährige per Schiff nach Helsinki. Was verbindet Wanda Frisch und Otto Beneke als Reisende? Ist ein solcher Vergleich überhaupt zulässig in Anbetracht der Lebensumstände, des Ansehens und Selbstverständnisses eines Gelehrten auf der einen und einer kleinbürgerlichen Angestellten auf der anderen Seite? Hier kann der »Verlust der Muße« in Anschlag gebracht werden, dem Beneke wie viele seiner Zeitgenossen ausgesetzt war.97 Er war gezwungen, »geistige Arbeit« (ein Begriff, der Anfang des 19. Jahrhunderts aufkam) gegen Bezahlung zu leisten. Für
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Romantische Straße 1987, Schwarzwald 1987, Neckarfahrt 1988, Hochsauerland 1988, Nürnberg 1989, Sylt 1991, Bayrischer Wald 1992, Cuxhaven 1994, Norderney 1995. Berlin, wo Wanda Frisch Freunde hatte, schien eine besonders Anziehung auszuüben, 1986-1988 war sie zweimal jährlich dort. Hatte sie im Juni 1990 bei einem Schiffsausflug noch die zur DDR gehörigen Ufer von Berliner Seen mit ihren historischen Bauten aus der Ferne bestaunt, ließ sie sich wenige Monate später von ihren Freunden durch Ostberlin, Neubrandenburg und die Altmark führen, 1991 wurde von Berlin aus ein Ausflug nach Rostock organisiert. So der Titel einer Studie von Timm, Albrecht: Verlust der Muße. Zur Geschichte der Freizeitgesellschaft, Buchholz-Hamburg 1968. Klassisch auch die Kritik in Pieper, Josef: Muße und Kult, München 1958.
2. Reisebiografien
ein Leben als »Privatmann« fehlten ihm die finanziellen Ressourcen. Während Wanda Frisch aber in einer Gesellschaft mit ausgeprägter Trennung von Arbeitszeit und Freizeit samt tariflichem Urlaubsanspruch verreiste, steckte dieser Prozess zu Benekes Zeiten noch in den Kinderschuhen. Von der Sozialgeschichtsschreibung wird er der fortschreitenden Industrialisierung und den Kämpfen zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zugeordnet. Allerdings waren gerade Beamte und Angestellte lange vor der Arbeiterschaft in den Genuss von Urlaubsregelungen gekommen ‒ Abbild der Freiheiten des gehobenen Bürgertums früherer Zeiten.98 Gemeinsam ist Beneke und Frisch bei allen historischen Unterschieden also das regelmäßige, langjährige Verreisen in der arbeitsfreien Zeit und die Bedeutung, die sie ihm zumessen haben. Um diese herauszuarbeiten, können sowohl quantitative wie qualitative Kriterien ins Feld geführt werden. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Freizeitreise in beider sozialer Schicht zum »normalen« Leben dazugehörte, so kann die Reiseintensität als indirekter Beleg für ihre Bedeutung gewertet werden. Man hätte die Zeit und die finanziellen Mittel ja auch legitim für andere Dinge einsetzen können. Andererseits hätte es angesichts dieser Normalität schon einer Begründung, eines Entschlusses bedurft, sich überhaupt nicht daran zu beteiligen.99 Folgt man dieser Argumentation, scheinen beide Protagonisten den Rahmen des zeitlich und finanziell Möglichen ausgereizt zu haben. Wanda Frisch hat jedenfalls die zur Verfügung stehende Urlaubstage weitestgehend zum Reisen genutzt. Auch ihr Geld hat sie außer für ihre Reisen nur noch für eine damenhafte Bekleidung ausgegeben, nicht aber für Eigenheim, Auto etc. Konkreter zu werden ist schwierig, da ihr Einkommen und die jeweiligen Reisekosten nicht beziffert werden können. Doch hat sie keinen Billigurlaub gebucht. Die Behauptung, sie habe im Vergleich zu anderen Bundesbürgern einen überdurchschnittlichen Aufwand betrieben, ergibt sich schon aus der Quantität ihrer Reisen und den frühen Fernreisen per Schiff und Flugzeug. Vergleiche mit Zeitgenossen sind schwierig. »Die Statistik liefert mithin nur
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Vgl. Reulecke, Jürgen: Vom blauen Montag zum Arbeiterurlaub. Vorgeschichte und Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 16(1976), S. 205-248. Kann die Normalität des Verreisens im Urlaub besser ausgedrückt werden als durch den Begriff »Reiseverweigerer«?
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begrenzte Möglichkeiten zur Erfassung der Urlaubsausgaben.«100 Für die Jahre 1965-85 können aber die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Laufenden Wirtschaftsrechnungen Auskunft geben. Die Haushalte, die überhaupt Geld für Urlaubsreisen (von mehr als fünf Tagen) ausgaben, wandten für Individualreisen ca. 5 Prozent und für Pauschalreisen 8-10 Prozent ihres Budgets auf. Das dürfte Wanda Frisch schon in den 1960er Jahren weit übertroffen haben, während erst die 1970er Jahre als »Jahrzehnt der Urlaubsreisen […] für den Arbeitnehmerhaushalt« gelten.101 Qualitativ bedeutsam ist die Aufmerksamkeit, die sie ihren Touren geschenkt haben. Sie haben sie direkt (Otto Beneke) und indirekt (Wanda Frisch) zur besten, freiesten Beschäftigung erklärt. Allerdings »in Maßen«, möchte man hinzufügen. Prein verweist zu Recht darauf, dass die Reisen von seinen Protagonisten nicht nur platt als »Gegenwelten« zum Arbeitsalltag aufgefasst wurden, sondern eher als »eine Zwischenwelt definiert durch die Pole ›Arbeit‹ einerseits und falsche Freizeit beziehungsweise ›Nicht-Arbeit‹ andererseits.«102 Freizeit musste in »respektabler Form« verbracht werden, durfte nicht einfach in Faulenzerei ausarten. Deshalb galt es richtig zu reisen und Geist und Körper im Genuss von Natur und Kultur zu bilden. Spuren und Verwandlungen dieses Grundsatzes finden sich bei Wanda Frisch. Als Lebensbilanz galten Otto Beneke das Verzeichnis der Reisen und die aus den Reiseandenken entstandenen unveröffentlichten Berichte. Gleiches gilt für Wanda Frisch, denn diese hat ihre Reisen akribisch dokumentiert und das entstandene Konvolut viele Jahre aufbewahrt. Betrachtet man die Verteilung der Reisen im Lebenslauf, sind viele Gemeinsamkeiten augenfällig. Beide sind schon als Kinder mit den Eltern unterwegs, als Jugendliche mit Freunden bzw. Freundinnen. Nach der erfolgreichen Etablierung im Beruf folgt eine längere Phase hoher Reiseintensität (etwa zwischen dem 40. und dem 55. Lebensjahr), in der die spektakulärsten Touren stattfinden. Städtereisen und Kurzurlaube gehörten für beide zur Reisebiografie. Im Alter wurden die zurückgelegten Distanzen kürzer, die Zahl der Reisen wird geringer. Dieses Muster hat sich trotz grundlegend gewandelter Reisemöglichkeiten erhalten. Jedoch gibt es auch augenfällige Unter100 Reckendrees, Alfred: Konsummuster im Wandel. Haushaltsbudgets und Privater Verbrauch in der Bundesrepublik 1952-1998, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2007, S. 52. 101 Ebd., S. 51. Jetzt seien die Urlaubsausgaben deutlich schneller als die verfügbaren Einkommen gestiegen, nicht zuletzt wegen der Auslandsreisen. 102 Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 102.
2. Reisebiografien
schiede. Sie betreffen die fürs Reisen genutzten Lebensjahre, die Verteilung der Reisen im Jahr, Reisedauer, -ziele und -ausgestaltung, Erwartungen, Motive und Aufbereitung. Auch der Wandel der Geschlechterverhältnisse ist bemerkbar. Aus reisebiografischer Perspektive ist vor allem interessant, dass Wanda Frisch ihre Reiseabenteuer noch in einem Alter bestand, als Beneke längst nur mehr zur Kur unterwegs war. Das mag hier individuelle Ursachen haben, entspricht jedoch gewandelten Möglichkeiten und einer veränderten Mentalität. Kuraufenthalte sind die einzige historisch überlieferte Form fürs Verreisen im Alter. Sie haben mit dem konkreten Gesundheitszustand des Reisenden nichts zu tun, anders zu reisen erscheint jedoch als Kühnheit. Noch ihre Mutter hat von dieser legitimen Möglichkeit der Altersreise regen Gebrauch gemacht. Wanda Frisch versuchte dagegen, ihr bisheriges Reiseleben weiterzuführen, über eine »schickliche« Altersgrenze hinaus. Dazu mögen die bequemen Reisemöglichkeiten weniger beigetragen haben als die erworbene Reisekompetenz und ein daraus erwachsener Einstellungswandel. Wozu nicht fortführen, was man gewohnt ist und beherrscht? Oder eben auch nicht, welche Auswirkungen hat es, wenn man schon überall gewesen ist, vielleicht sogar mehrmals am selben Ort? Lohnt sich das Reisen noch, wenn es nicht mehr halten kann, was es verspricht? Für Wanda Frisch (ein Nachteil der verfügbaren Quellen) konnte jedenfalls nicht ermittelt werden, warum sie ihre Reisebiografie trotz annehmbaren Gesundheitszustands mit achtzig Jahren beendet hat. Fehlte die Reisebegleitung, verinnerlichte sie das Verdikt ihrer Umgebung, dass sie nun zu alt sei oder wurde sie »reisemüde«?103 Genau genommen haben die Verteilung der Reisen im Jahr ebenso wie Veränderungen in der Reisedauer nur mittelbar mit Reisebiografien zu tun. Doch konstituieren sie Zeitstrukturen und werden deshalb an dieser Stelle diskutiert. Otto Beneke war vor allem im Sommer und Herbst unterwegs, für Wanda Frisch war der winterliche Urlaub in den Alpen der Einstieg in ihr selbständi103 Das wurde etwa zur gleichen Zeit vom damaligen Hamburger BAT-FreizeitForschungsinstitut reflektiert: »Die älter werdende Gesellschaft kann zum Problem für die erfolgsverwöhnte Tourismusbranche werden. Der Anteil der Reiseverweigerer wird immer größer. […] Hinter der wachsenden Zahl dieser Reiseverweigerer kann sich auch Reisemüdigkeit bzw. lebenslange Reiseerfahrung verbergen: Wer im Leben fast alles schon bereist hat, setzt mit zunehmendem Alter andere Akzente.« Vgl. Reisemüde? In: Forschung aktuell, 20(1999)145, S. 9 (BAT Freizeit-Forschungsinstitut Hamburg).
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ges Reiseleben. Dahinter verbirgt sich die gut dokumentierte Einbeziehung der Alpen in den Kanon erstrebenswerter Reiseziele, einschließlich der vor Ort entwickelten Infrastruktur. Das war verbunden mit einem neuen Reisemotiv: dem Sport, zunächst als sommerliche Klettertour, später als Skiabenteuer. Beneke und Frisch trennen hier also anscheinend Welten. Doch das häufig diskutierte Problem jeder Geschichte des Tourismus, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf der einen Seite, die ständige Verwandlung und Adaption seiner Gestaltungen auf der anderen, legt es nahe, statt nach schroffen Differenzen eher nach Übergängen zu suchen. So wurden zwischen 1854 und 1865, in der Hauptreisezeit Benekes, fast alle Alpengipfel bezwungen.104 Auch unser Protagonist hatte Anteil am »Bezwingen« der Berge, allerdings in einer gemäßigten und tradierten Form.105 Seiner Naturbegeisterung frönte er noch im Stile Rousseaus, bei eher gemütlichen Wanderungen jenseits gewagter Kletterpartien. Jedoch gehörten eben auch schon sportliche Anstrengungen zum Verhaltensrepertoire, allerdings nicht im Schnee. Leider sind Angaben über die Dauer der Touren von Otto Beneke rar. Aus dem Kontext lässt sich jedoch schließen, dass sie sich über mehrere Wochen, mit einer Ausnahme aber nicht über Monate erstreckten. Das ist kürzer, als im 19. Jahrhundert vom Adel gewohnt, jedoch länger als die gewöhnlichen Reisen von Wanda Frisch. Die Verkürzung der Aufenthaltsdauer am Reiseziel ist ein anhaltender Prozess, der schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts konstatiert und beklagt wurde.106 Auch die Zunahme potenziell für Reisen nutzbarer Urlaubszeit seit den 1950er Jahren hat daran nichts geändert. Die vom Studienkreis für Tourismus bzw. der F.U.R. (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen) für ihre statistischen Erhebungen festgelegte Mindestdauer von fünf Tagen für einen »normalen« Haupturlaub kann als Reaktion auf diesen Trend interpretiert werden. Wenn die hinzugekommenen Urlaubstage fürs Reisen verwendet werden, dann nicht für die Verlängerung der Hauptreise,
104 Vgl. stellvertretend für viele Darstellungen Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 37f. oder Hachtmann, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, S. 85ff. (Zahlen aus S. 86). 105 Vgl. So »bestieg« er 1863 den ersten Touristenberg der Schweiz, die Rigi, per Bahn und fühlte sich von den vielen Touristen dort nicht gestört. Der Berggipfel, so prosaisch sein Erklettern auch war, vermittelte ihm die Vorstellung, dort sei man Gleicher unter Gleichen. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 215. 106 So Gölden, Strukturwandlungen des schweizerischen Fremdenverkehrs 1890-1935, Zürich 1939, S. 44. Das hänge damit zusammen, dass durch das Ausbleiben »guter Familien« auf eine mehr »flottante, grössere Masse« gesetzt werden musste.
2. Reisebiografien
sondern für den Zweit- und Dritturlaub, für verlängerte Wochenendausflüge etc. Wanda Frisch ist ein gutes und frühes Beispiel für diesen stetigen Wechsel unterschiedlicher Reiseformen im Jahr. Die drei Wochen des Winterurlaubs gehören dagegen einer älteren Tradition an. Vom Verkürzungsdiktat allgemein ausgenommen blieben zunächst Fernreisen ‒ dem längeren Reiseweg und der Exotik des Ziels wurde auf diese Weise Rechnung getragen.
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3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
3.1.
Von der Jahrhundertwende zur Weimarer Zeit
Die reisende Frau scheint in den 1920er Jahren eine ebenso normale wie auffallende Figur gewesen zu sein. Betrachtet man die Illustrationen in Paula von Rezniceks »Die perfekte Dame« von 1928, präsentiert sie sich mondän im und am Auto, als Badenixe am Strand, mit Tropenhelm vor den Pyramiden, rittlings auf einem Schrankkoffer sitzend, im Schlafcoupé, am Steuer eines Motorbootes und im Begriff, ein Flugzeug zu besteigen. Man sieht sie beim Skifahren und im Faltboot, letzteres unterstreicht ihre sportliche Note. Manchmal ist sie in männlicher Begleitung zu sehen, oft aber auch in weiblicher oder allein.1 Die »perfekte Dame« ist selbstverständlich ein vermögendes, wenn auch nicht unbedingt reiches weibliches Wesen, die sich um nichts zu kümmern braucht als darum, ihre Mußezeit stilvoll zu gestalten. Das war nur wenigen vergönnt, doch zeigt sich in diesem Sittenbild, in welcher Weise die Moderne den Spielraum gutbürgerlicher Frauen verändert hatte.2 Zwar werden auch in den 1920er Jahren die grundsätzlichen Einwände der »wahren« Reisenden gegenüber weiblichen Touristen nicht gänzlich verstummt sein, wie sie noch zu Beginn des Jahrhunderts formuliert wurden. Ein Blick in eine Reiseanleitung aus dem Jahre 1902, »allen Naturfreunden und Wanderlustigen dargeboten von Leo Woerl, Herausgeber der Woerl’schen Reisebücher« belehrt jedoch darüber, dass Frauen längst als alltägliches touristisches Klientel wahrgenommen wurden. Doch nicht nur das, die Darstel1 2
Vgl. Reznicek, Paula von: Die perfekte Dame, Reprint der Ausgabe Stuttgart 1928, Bindlach 1997. Vgl. auch den Diskurs ums »Alleinreisen« bei Siebert, Grenzlinien, S. 37.
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lungen hübscher junger Frauen wurden nur zu gern für Werbezwecke eingesetzt.3 Im Anhang vermerkt Woerl, welche Ausrüstung für Wander- und Radtouren wünschenswert ist ‒ geschlechtsneutral! Nur bei »größeren Reisen« gibt es für »Damen« und »Herren« gesonderte Empfehlungen, die einerseits etwas mit den unterschiedlichen Bekleidungsvorschriften der »höheren Stände« zu tun haben, aber auch mit spezifisch männlichen oder weiblichen Aufgaben auf Reisen: die »Blumenpresse« für die Dame, die »Banknotentasche« für den Herrn, doch beiden wurde die Mitnahme von »Zeichengeräten« empfohlen.4 Eher ungewöhnlich war es, dass sich Frauen an die Verfertigung von mehr oder weniger kurzweiligen Reiseanleitungen wagten, auch wenn sie sich in ihren Reisebeschreibungen häufig mit der »Kunst des Reisens« auseinandersetzten. Das ist vielleicht der Grund, warum das im Jahre 1914 in zweiter Auflage erschienene Handbuch Helene Keßlers unter einem männlichen Pseudonym veröffentlicht wurde. Es kam ohne grundsätzliche Bemerkungen zur Eignung der Geschlechter aus und rekurrierte schon im Titel auf zwei Säulen gutbürgerlichen Reisens: Kursbuch und Scheckbuch.5 Die Wanderer und Radfahrer verweisen auf neue Gruppen von Touristen: Mittlere und kleinere Angestellte, Beamte und Arbeiter. Sie unterschieden sich von den Kaufleuten, Bankiers, Ärzten und Akademikern, die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Bäder, Kurorte und andere touristische Zentren dominiert hatten in mehrerlei Hinsicht. Für sie interessierten sich seit den 1970er Jahren Tourismushistoriker mit sozialhistorischer und ethno-
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Es begann jene Zeit der touristischen Bildwerbung, in der permanent als »Mädchen« bezeichnete Frauen »primär als sexuelle oder dekorative Objekte« gezeigt wurden. »Verborgene geschlechtsspezifische Darstellungen« finden sich dort, wo Touristen und Touristinnen ausschließlich als heterosexuelles Paar oder Kleinfamilie auftreten, während Frauen für die Darstellung der Bereisten benutzt würden, um deren Gefälligkeit und geringes Bedrohungspotenzial auszudrücken. »Der Gegensatz zwischen kämpferisch-arbeitender Rationalität und verwöhnend-spielerischer Emotionalität kennzeichnet in der westlichen Moderne nicht nur den touristischen Blick, sondern auch die polare Konstruktion der Geschlechter und der ›Rassen‹.« Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 38. Vgl.: Woerl, Leo: Die Touristik oder Das Wanderleben in unserer Zeit, Leipzig 1902, S. 100ff. Kahlenberg, Hans von (Pseudonym von Helene Keßler): Mit Kursbuch und Scheckbuch, 2. Aufl., Berlin 1914.
3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
logischer Perspektive.6 Ihre Ergebnisse werden kritisch resümierend dargestellt und um neuere Erkenntnisse ergänzt. Zeitlich erfolgt eine Eingrenzung auf die Zwischenkriegszeit, inhaltlich auf die Angestellten. Mit anderen Worten, es geht um jene Zeit, in der Wanda Frisch aufwuchs, mit ihren Eltern auf Urlaubsreise ging und die ersten selbständigen Reiseerlebnisse sammelte. Der Schwerpunkt liegt auf den »objektiven« Möglichkeiten, den sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen und ihrer kulturellen Ausgestaltung. Die vorliegenden Daten erlauben es allerdings nicht, passgenau und direkt die Verhältnisse abzubilden, in denen die Familie Frisch lebte. Sie bilden nur die Basis, auf der sich die sozialen, kulturellen und letztlich auch touristischen Möglichkeiten entfalteten. Das hat Auswirkungen auf die Darstellungsweise, in der konkrete Bezugspunkte entsprechend rar sind und möglicherweise zuweilen vermisst werden. Die im Folgenden aufgespannte sozialgeschichtliche Folie soll erstens dazu dienen, Wanda Frisch als Kind einer Familie, die dem »neuen Mittelstand« zuzurechnen ist, sozial und kulturell ihren Platz zu geben.7 Zweitens er6
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Vgl. Spode, Hasso: »Der deutsche Arbeiter reist«: Massentourismus im Dritten Reich, in: Huck, Gerhard (Hg.): Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1980, S. 281-306; Spode, Hasso: Arbeiterurlaub im Dritten Reich, in: Sachse, Carola; Siegel, Tilla; Spode, Hasso; Spohn, Wolfgang (Hg.): Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 275-326; Langewiesche, Dieter: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik, Stuttgart 1979; Kramer, Dieter: Arbeiter als Touristen: Ein Privileg wird gebrochen, in: Zimmer, Jochen (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung, Köln 1984, S. 31-65; Keitz, Christine: Organisierte Arbeiterreisen und Tourismus in der Weimarer Republik. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung über Voraussetzungen und Praxis des Reisens in der Arbeiterschicht. Unveröffentlichte Dissertation, Berlin 1992; Keitz, Christine: Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München 1997; Pils, Manfred: »Berg frei!«: 100 Jahre Naturfreunde, Wien 1994 Die Rede vom »neuen Mittelstand« spiegelt die Auseinandersetzung um das politische, soziale und kulturelle Gepräge der Angestellten in den 1920er Jahren wider. Die Gegenseite sprach vom »neuen Proletariat« und hob damit den abhängigen Arbeitnehmerstatus hervor. Vgl. Speier, Hans: Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918-1933, Frankfurt a.M. 1988, S. 24. Wie die einzelnen Gruppen im hierarchisch breit gefächerten Feld der Angestellten gesellschaftlich eingeschätzt wurden oder sich selbst verorteten, hing von der Möglichkeit ab, ihre Klassenzugehörigkeit auf Grund gewährter Privilegien zu »verdecken«. Vgl. ebd., S. 115ff. Der Vater von Wanda Frisch dürfte sich als leitender
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schienen die für sie als Heranwachsende erlebbaren touristischen Aktivitäten von ledigen weiblichen Büroangestellten relevant, einer Berufsgruppe, der sie selbst einmal angehören würde. Der familiäre Hintergrund regt drittens zu einer weiteren Überlegung an. Zwar scheint die Familienreise für den Massentourismus geradezu die paradigmatische Form zu sein, doch welche Auswirkungen das im Nacheinander und Wechselspiel der Generationen hat, ist bisher kaum untersucht worden.8 Hier wird davon ausgegangen, dass Wanda Frisch zwar einerseits maßgeblich vom Elternhaus geprägt wurde, sich aber andererseits auch neu auftuende Chancen im Rahmen ihres Habitus aneignete. Freilich hätte sich der Massentourismus nicht entfalten können, wenn nicht ständig neue Urlauber aus bisher »reisefernen« Schichten hinzugekommen wären. Doch sollte auch die Vorbildrolle der Pionierinnen und Pionieren in ihren jeweiligen Milieus und die Wirkungen über engere familiale Grenzen hinweg nicht unterschätzt werden. Zahlreiche Erhebungen zum touristischen Verhalten haben belegt, wie wichtig Familie, Freunde und Bekannte für die Wahl des Reiseziels sind.9 Doch sollen nicht nur die »harten« sozialen Daten zur Sprache kommen. Es interessiert die konkrete Ausgestaltung der Reisen, ihre Einbettung in den Alltag, die sich in ihnen widerspiegelnden Mentalitäten und Wertmuster. Die historische Tourismusforschung hatte sich zunächst den Arbeitern zugewandt, schien diese doch jene soziale Gruppe zu verkörpern, deren Einbindung in den Tourismus notwendig war, um von »Massentourismus« sprechen zu können.10 Sie untersuchte, ab wann, in welcher Weise und mit welchen Motiven Arbeitern Urlaub gewährt wurde, worin der Anteil und die Ziele der Arbeiterbewegung auf diesem Feld bestanden, welche eigenen Organisationsformen für Arbeiterreisen entwickelt wurden, wie das Einkommen be-
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Angestellter deshalb eher dem »neuen Mittelstand« zugerechnet haben als dem Proletariat. Schmidt, Harald: Jugend und Tourismus, in: Hennig, Werner; Friedrich, Walter (Hg.): Jugend in der DDR. Daten und Ergebnisse der Jugendforschung vor der Wende, Weinheim 1991, S. 129f. Die Frage, wodurch die Wahl des Reiseziels zu Stande kam, ist natürlich für die Tourismusbranche und ihre Werbestrategien von existentieller Bedeutung. Stellvertretend sei auf die detaillierte Analyse in einer vom Verein für Tourismusforschung Starnberg e.V. herausgegebenen Spezialstudie hingewiesen: Reiseentscheidung. Eine verlaufsanalytische Untersuchung, Tabellenband 1, Starnberg 1980, besonders Fragen 17 a/b, 31 und 32. So etwa die Argumentation von Keitz, Die Anfänge des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik, S. 180.
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schaffen sein musste, um Arbeitern prinzipiell eine Urlaubsreise zu ermöglichen. Schwerpunkte waren die Entwicklung der »Naturfreunde« als alternativer Form des Tourismus sowie Anspruch und Realität im Bestreben von KdF, Arbeiter im Urlaub auf Reisen zu schicken und damit vermeintlich ein bürgerliches Privileg zu brechen. Dabei gerieten auch die Angestellten ins Blickfeld. Es zeigte sich, dass etwa in Österreich die touristischen Angebote der sozialdemokratischen Bildungszentrale in Wien zunehmend nicht von Arbeitern, sondern von Angestellten und Beamten genutzt wurden.11 Der Versuch, eine »spezifische ›Arbeiterurlaubskultur‹« zu schaffen, sei in mehrfacher Hinsicht fehlgeschlagen. »Auch die Zielorte und der Verlauf der Reisen rechtfertigen es nicht, von einem Bruch mit den Urlaubsgewohnheiten des Bürgertums zu sprechen.«12 Das wird vor allem am Beispiel der männlichen Reisenden herausgearbeitet, ein Blick auf die weiblichen hätte den Gegensatz von Absicht und Realität jedoch noch stärker hervortreten lassen. Danach lag der Anteil der Arbeiterinnen 1924 bei immerhin 18,1 %, 1930 war er auf 4,4 % gesunken ‒ ein größerer Rückgang als bei den Männern. Bei den Angestellten und Beamten deutet sich dagegen ein weibliches Übergewicht an, denn zu ihrem Anteil müssen noch jene Hausfrauen dazugerechnet werden, die die Kategorie »ohne Beruf« dominiert haben dürften, auch wenn ihre soziale Zusammensetzung nicht ausgewiesen ist.13 Für Spode war der hohe Anteil von mittelständischen Urlaubern bei den »besseren, d.h. den teureren ›KdF‹-Reisen« und die Dominanz der Arbeiter bei den billigeren Tagesausflügen Ausweis der Tatsache, dass die ideologisch motivierten Versprechungen nicht eingelöst wurden. Es sei aber »eine neue, ›mittlere‹ Ebene touristischen Verhaltens ‒ zwischen Bäderreise und Proletarierausflug ‒ installiert worden«. Das verweist auf einen Massentourismus, den vor allem Angestellte, Beamte und die »Arbeiteraristokratie« gestalteten.14
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Im Jahre 1924 stellten die männlichen Arbeiter noch 38,2 % der Reiseteilnehmer, 1930 nur noch 16,1 %. Vgl. Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters, S. 357. Ebd., S. 365. Ähnliches galt auch für Deutschland. Der Frauenanteil der Reisenden, die das Angebot des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit nutzten, habe sich ständig vergrößert und sei 1930 auf 52 % gestiegen. In eben dieser Größenordnung bewegte sich auch der Anteil der »Kopfarbeiter«. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 47 und Tabelle 19, S. 329. Allerdings geht aus den Ausführungen nicht hervor, wie das Verhältnis von weiblichen Angestellten und mitreisenden Ehefrauen war. Vgl. ebd., Tabelle 101, S. 358. Spode, Arbeiterurlaub im Dritten Reich, S. 327f.
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Auch Keitz setzte in ihrer Dissertation zum Tourismus in der Weimarer Republik den Fokus zunächst auf Arbeiterreisen.15 Zwar wird dieser in der darauf basierenden Publikation »Reisen als Leitbild« nicht aufgegeben, doch nehmen dort die Angestellten und Beamten, einerseits als Vergleichsgruppe, andererseits als Vorreiter und Ausgestalter des Massentourismus bis in die Gegenwart, einen breiten Raum ein.16 Deshalb bezieht sich die folgende soziale und kulturelle Einordnung des Reiseverhaltens der Familie Frisch vor allem auf ihre Ergebnisse und ihr theoretisches und methodologisches Vorgehen. Keitz lenkte den Blick auf eine prägnante Figur, die seit der Weimarer Zeit zu verwunderten, wohlwollenden, mitleidigen und abwehrenden Kommentaren Anlass gab: die reisende Angestellte. Als Sekretärin (wahlweise auch als »Tipp-Fräulein«, Stenotypistin, Verkäuferin oder Lehrerin) und ausgestattet mit 100 Reichsmark wurde sie als tatsächliche oder potentielle Kundin von Reisebüros wahrgenommen, bevölkerte sie die Eisenbahnwaggons und dominierte manchen deutschen Urlaubsort.17 Die Aufmerksamkeit gehörte damit nicht den »mitreisenden« Ehefrauen, sondern Urlauberinnen mit eigenem Geld, die zudem allein oder in weiblicher Begleitung unterwegs waren. Das besondere Interesse an ihnen verschwand erst gegen Ende der 1960er Jahre, ein Zeichen für ‒ je nach Blickwinkel ‒ die Normalisierung des Reisens, die volle Entfaltung oder »Krise« des Massentourismus. Auch in der Fremdenverkehrsbranche bediente man sich also jener »Sozial- und Kulturfiguren« der Weimarer Zeit, die sich in »massenmedial vermittelten alltäglichen Klassifizierungs- und Selbstklassifizierungsprozessen der Akteure« herausgebildet hatten. Dazu gehören neben den geradezu die »Normaltypen« repräsentierenden Stenotypistinnen und Tippfräuleins, den Verkäuferinnen und Konfektionären auch die Privatsekretärin, der Bankbeamte oder Ingenieur.18 Wanda Frisch wurde in einen Angestelltenhaushalt hineingeboren, der recht ausgiebig von der sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland stärker entfaltenden Chance zur Urlaubsreise für mittlere Beamte und Angestellte Gebrauch machte. Dieser »neue Mittelstand« konnte nicht mehr damit rechnen, in eine auskömmliche Selbständigkeit abwandern 15 16 17 18
Vgl. Keitz, Organisierte Arbeiterreisen und Tourismus in der Weimarer Republik. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild. Vgl. ebd., S. 47. Band, Henri: Mittelschichten und Massenkultur. Siegfried Kracauers publizistische Auseinandersetzung mit der populären Kultur und der Kultur der Mittelschichten in der Weimarer Republik, Berlin 1999, S. 165.
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oder weiter aufsteigen zu können.19 Sie besetzen, darin sind sich trotz aller Differenzen in der Begriffsbestimmung, wohl Soziologen und Historiker einig, die durch Rationalisierung und Arbeitsteilung neu entstehende »Stellungen« in Industrie, Handel, Staat und Dienstleistungsgewerbe. Die Rede ist von Abteilungsleitern, Verkäufern, Bankbeamten, Ingenieuren, Lehrern, Versicherungsmaklern, Prokuristen und Buchhaltern. Neben formalen Bestimmungsversuchen und historischen Herleitungen ist es eine rechtliche Bestimmung, die den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bilden scheint und eine eigene empirische Wirksamkeit entfaltete: In der Diskussion um das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) von 1911 »verlor der Angestelltenbegriff seine bisher noch mögliche Anwendbarkeit auf alle Arbeitnehmer und verfestigte sich mit der Gruppe, die er meinte.«20 Doch ist ein anderes Merkmal fast genauso kennzeichnend: der Anspruch auf Urlaub. Sollte das AVG die Sonderstellung der Angestellten im Vergleich zu den Arbeitern betonen, mit denen sie viele Merkmale ihrer Beschäftigungsverhältnisse teilten ‒ der Urlaubsanspruch erlaubte es ihnen, sich zumindest ideologisch am »bürgerlichen« Lebensstil zu orientieren.21 Dieser Umstand spielte in der Diskussion um den gesellschaftlichen Standort, um das Selbstbild der Angestellten und ihrer Lebensverhältnisse kaum eine Rolle, obwohl er doch auf eine mögliche
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Vgl. Braun, Siegfried: Zur Soziologie der Angestellten, Frankfurt a.M. 1964, S. 9f. Kocka, Jürgen: Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980, Göttingen 1981, S. 135. In der Tatsache, dass die öffentlichen Beamten, die ursprünglich auch unter die Angestellten subsumiert wurden, von der Versicherungspflicht befreit waren, weil sie Pensionen bezogen, sieht Kocka einen Grund für deren künftige Sonderstellung, die sich auch in den Urlaubsstatistiken niederschlägt. Ähnlich alltagsweltlich differenzierend war der Unterschied zwischen dem Wochenlohn der Arbeiter und dem Monatsgehalt der meisten Angestellten. In seiner Diskussion über Vor- und Nachteile eines Versuchs, Bürgertum und Bürgerlichkeit »durch eine spezifische Kultur und Lebensführung« zu definieren, verweist Kocka auf »die große Wichtigkeit symbolischer Formen für die Identität des Bürgertums: Tischsitten und Konventionen, Titel und feine Lebensart.« Dazu gehört zweifellos das Reisen und dessen Verarbeitung. Anhand des Reisens könnte auch die Feststellung diskutiert werden, dass »die bürgerliche Kultur […] nicht beliebig in andere sozialökonomische Bedingungen transferiert werden« kann, »trotz ihrer unbestreitbaren Attraktivität für viele Nicht-Bürger«. Kocka, Jürgen: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 44 und 47.
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kulturelle Kontinuität verweist: Reisen zu können war ein überaus prestigeträchtiges Privileg, weil es in vielfältiger Weise den bürgerlichen Habitus und seine Werte verkörperte: Freiheit, Bildung und Weltkenntnis, Naturund Kunstgenuss, möglichst in Begleitung Gleichgestimmter, sollten sich am besten auf Reisen erleben bzw. erwerben lassen, selbst wenn die Realität sich weit weniger ambitioniert gestaltete. Die Ergebnisse der Sozialgeschichtsschreibung sind eindeutig: Diskussionen und Kämpfe um die Höhe der Bezahlung, die Länge der Arbeitszeit, die Sicherheit der Arbeitsplätze und die Ausgestaltung der Arbeitslosigkeit führten Angestellte und Arbeiter gleichermaßen, im Hinblick auf den Urlaub blieben Angestellte und Beamte lange privilegiert.22 Freilich reichte es für die Mehrheit weder zeitlich noch finanziell zu einer längeren Urlaubsreise alten Stils. Die Untersuchung dieser beiden Faktoren ‒ Länge der Urlaubsdauer und Einkommenshöhe ‒ wurde im Zuge einer stärkeren Berücksichtigung kultureller Perspektiven um eine dritte Voraussetzung ergänzt: um die Frage nach Urlaubsbedürfnissen und -motiven, nach Erlebnisweisen und Verhaltensstrategien. Die Urlaubsdauer für Angestellte wurde bis in die Weimarer Zeit durch Tarifverträge geregelt. Auf Schwierigkeiten, die sich damit auftun, ist schon mehrfach hingewiesen worden. Ihre Reichweite konnte das ganze Land, einzelne Gebiete, aber auch nur Städte und Gemeinden betreffen und war branchenspezifisch. Inhaltlich waren sie oft nach Lebensalter oder Betriebszugehörigkeit bzw. Dauer der Arbeitstätigkeit überhaupt (darüber wurde gestritten) geregelt, manchmal aber auch in einer Kombination von beiden. Als drittes differenzierendes Merkmal konnte die Einkommenshöhe hinzutreten.23 Auch das Geschlecht spielte direkt oder indirekt eine Rolle, dazu weiter unten. Unklar bleibt, wie in Branchen bzw. Betrieben ohne Tarifbindung verfahren wurde.24 Dennoch lassen sich Durchschnittswerte ermitteln, die allerdings noch beträchtliche Spielräume für individuelle Entscheidungen ließen, 22 23 24
Vgl. Kocka, Die deutschen Angestellten in der Geschichte 1850-1980, S. 145ff.; Spode, Arbeiterurlaub im Dritten Reich, S. 277ff. Sehr informativ ist in dieser Hinsicht Hörbrand, Maria: Die weibliche Handels- und Bureau-Angestellte, Berlin 1927, S. 134ff. Besonders benachteiligt waren jugendliche Angestellte bis 18 oder gar 21 Jahre, sie bekamen unterdurchschnittlich wenig Urlaub, obwohl entsprechende staatliche Stellen gerade für sie aus gesundheitlichen Gründen mindestens drei Wochen forderten. Dabei muss bedacht werden, dass viele schon mit vierzehn Jahren ins Arbeitsleben eintraten ‒ mit 24 waren sie schon »altgedient«.
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da, ähnlich wie beim Einkommen, nur Mindest- und Höchstdauern festgelegt sind. Die Einordnung der einzelnen Angestellten war zudem auch Verhandlungssache. Für die Weimarer Zeit sind, als weitere Unsicherheitsfaktoren, drohende oder reale Arbeitslosigkeit zu nennen, die häufige Arbeitsplatzwechsel erzwangen. Vor dem Hintergrund all dieser Einschränkungen ist es zwar einerseits wichtig, die statistischen Daten zu berücksichtigen. Um aber deren Bedeutung einzuschätzen, ist es unerlässlich, auf andere Quellen zurückzugreifen. Die am Tourismus interessierte Sozialgeschichtsschreibung bezog sich bisher, wie im Falle von KdF auf Berichte über die Reisenden und zeitgenössische Wahrnehmungen von wissenschaftlicher Seite.25 Keitz präsentierte und kommentierte Erfahrungsberichte von Urlauberinnen, die in der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Verbandspresse veröffentlicht wurden.26 Natürlich wird es mit Hilfe von Erlebnisberichten und Meinungsäußerungen nicht gelingen besser abzuwägen, wie groß die Gruppe war, die die zugestandene freie Zeit für eine Urlaubsreise hätte nutzen können oder sich tatsächlich auf den Weg machte. Jedoch erlauben sie es, Bedürfnisse und Motive, Hemmnisse und Strategien in alltagsweltlichen Kontexten freizulegen, also die konkreten Handlungsbedingungen der Zeitgenossen. Das kann durchaus Gewinn auch fürs Große und Ganze erbringen. Jedenfalls resümierte Benninghaus in der Einleitung ihrer Untersuchung zu Arbeitermädchen in der Weimarer Republik: »Von einer historischen Studie über Arbeitermädchen hätte man in den 1970er Jahren vermutlich eine Geschichte der Benachteiligung und Unterdrückung, der Sozialisation und Disziplinierung erwartet. Am Ende der 1990er Jahre würde ein solches Buch, das die Jugendlichen nicht
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Vgl. etwa Spode, Arbeiterurlaub im Dritten Reich. Spode benutzt Berichte von NSFunktionären und beruft sich auf Stimmungsbilder der Exil-SPD, jedoch nicht auf »alltägliche« Meinungsäußerungen. Dennoch ist der Vorwurf von Keitz nicht zu treffend, die Untersuchungen zum KdF wären »vornehmlich« politikgeschichtlich motiviert und würden die Weimarer Zeit ausblenden. Vgl. Keitz, Christine: Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit, in: Brenner, Peter J.(Hg.): Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«, Tübingen 1997, S. 50. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 191ff.
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auch als historische Subjekte wahrnähme […] hoffnungslos antiquiert wirken.«27 Im Folgenden wird versucht, einerseits anhand von bereits erhobenen sozialgeschichtlichen Daten, aber mit einer Erweiterung speziell für weibliche Angestellte, und andererseits mit Hilfe einer zumindest rudimentären Auswertung von individuellen Stellungnahmen das oben eingeführte Bild des reisenden Tipp-Fräuleins genauer zu zeichnen. Nur so lässt sich abwägen, welche sozialen und kulturellen Veränderungen, aber auch Kontinuitäten das Reisen von Wanda Frisch bestimmten. Zuvor jedoch noch zwei Ergänzungen. Mit Blick auf die Statistik gilt es, deren Befunde in einen größeren Kontext einzuordnen, um Betriebsblindheit zu vermeiden. Im vorliegenden Fall ist die auch von Spode und Keitz diskutierte Frage von Belang, welchen Stellenwert etwa der Kampf der Arbeiterund Angestelltenorganisationen um bezahlten Urlaub hatte28 und viel mehr noch, was den Beschäftigten selbst am wichtigsten war. Erst dadurch würde die forschungsleitende These von Keitz empirisch belegbar: »Für die Entwicklung des modernen Lebensstils und die Beeinflussung sozialer Ungleichheitsprozesse durch Lebensstile stellt das Reisen einen besonders aussagekräftigen Indikator dar, ist es doch das Leitbild des modernen Lebensstils.«29 Die Urlaubstage sind für abhängig Beschäftigte nur ein Teil ihrer Arbeitsbedingungen und bekanntlich nur ein Teil der ihnen zugestandenen arbeitsfreien Zeit. In den 1920er Jahren war Urlaubsgewährung für Arbeiter wie Angestellte eher ein Nebenfeld der Auseinandersetzung der Tarifparteien, sowohl in »normalen« wie in Krisenzeiten. Der Kampf um arbeitsfreie Zeit (z.B. für verkürzte Samstagsarbeit oder gegen die Aushöhlung des Achtstundentages) musste mit dem Kampf um Arbeit und Einkommen konkurrieren. In Zeiten der Arbeitslosigkeit favorisierten auch die Gewerkschaften eher Modelle wie die 40-Stunden-Woche, die neue Arbeitsplätze versprachen. Gegenstand der Auseinandersetzungen war also eher die tägliche und wöchentliche
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Benninghaus, Christina: Die anderen Jugendlichen. Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 7. Vgl. den Überblick von Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, S. 557-578. Vgl. Spode, Arbeiterurlaub im Dritten Reich, S. 279. Ausführlicher setzte sich Keitz mit dem Unwillen führender Gewerkschafter auseinander, sich mit den Themen Urlaub und Arbeiterreisebewegung inhaltlich und programmatisch auseinanderzusetzen. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 186ff. Ebd., S. 16 (Herv. i.O.).
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als die Jahresarbeitszeit. Dazu war ihr arbeitsmarktpolitisches Gewicht wie ihre Bedeutung für die Beschäftigten zu gering.30 Ebenso einer Einordnung bedürfen die zu Rate gezogenen Verlautbarungen der Fremdenverkehrsverantwortlichen. Sie können über das tatsächliche Ausmaß der Mobilisierung neuer Kunden hinwegtäuschen, zumal nur wenige historische Zeitreihen zu ermitteln sind. Wenn es um die Verbreitung der Urlaubsreise unter Angestellten und Arbeitern, um deren Gewicht im Kanon der Sehnsüchte, Bedürfnisse und Verhaltensweisen geht, dann sind es bis in die 1970er Jahre andere Lebensbereiche wie etwa die Wohnung oder das Eigenheim und Konsumgüter wie Fernseher oder Auto, die im Sinne eines »modernen Lebensstils« umgestaltet wurden und in der Wertehierarchie den vordersten Platz belegten. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, einen Zusammenhang zwischen Autobesitz und Massentourismus herzustellen, wie kürzlich in aller Ausführlichkeit geschehen.31 Andererseits spricht für die Urlaubsreise als Leitbild gerade ihr konkreter historischer Platz im Kanon der Möglichkeiten und ihr Anschein von (verzichtbarem) Luxus, der sich nach ihrem Siegeszug ins Gegenteil verkehrt hat. »Weg sein muss sein« wirbt eine Reise-Website und trifft damit den Nagel auf den Kopf: Wenn es finanziell eng wird, kann heutzutage an der Urlaubsreise zwar gespart werden, doch sie wird nicht gestrichen. Im Urlaub nicht wegfahren zu können, ist ein akzeptierter Beleg von Armut geworden und ein Armutszeugnis für den Sozialstaat. Doch lässt sich das schon für die Zwischenkriegszeit belegen, wie Keitz behauptet? Lassen es die von ihr selbst so angesprochenen dürftigen Quellen zu, von einer völligen »Neubewertung des gesellschaftlichen Stellenwertes des Reisens« zu sprechen, das »nun als wirtschaftliche Notwendigkeit und als Bedürfnis aller« galt?32
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Vgl.: Irmscher, Gerlinde: Zur Arbeiterfreizeit um 1930, in: Vorwärts und nicht vergessen nach dem Ende der Gewißheit. 56 Texte für Dietrich Mühlberg zum Sechzigsten (= Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 37), Berlin 1996, S. 263-270. Vgl. Fabian, Sina: Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970-1990, Göttingen 2016. Ähnliches gilt für die bürgerlichen Reisen und die Eisenbahn bzw. das Dampfschiff im 19. Jahrhundert. Keitz, Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit, S. 70. Es ist ja bekannt, dass sowohl Volkswirtschaftler wie Fremdenverkehrsverbände den Fremdenverkehr als wirtschaftlichen Rettungsanker ins Gespräch brachten. Die Urlaubsreise mochte vielleicht auch einer Mehrheit der Bevölkerung als Wunschbild vorschweben, hier von einem Bedürfnis zu sprechen, ist zu weit gegriffen.
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Eine Strategie, ihre Thesen zu beweisen, ist quantitativer Natur und zielt auf den Nachweis einer erhöhten Reiseintensität. Doch sollte, abgesehen von der mageren Datenbasis, auch darüber nachgedacht werden, ob dieser heute so wichtige Indikator sinnvolle Einblicke liefert, wenn er sich zwischen 10 und 15 % bewegt. Gerade die vielen widersprüchlichen Einsichten, die die zeitgenössischen Stellungnahmen liefern, veranlassen zur Methodenkritik. Bei einer ziemlich dauerhaften Reiseintensität von um die 70 % kann davon ausgegangen werden, dass eine Mehrheit Jahr für Jahr oder zumindest regelmäßig verreist. Hinter einer Reiseintensität von 10 %, die für einen Zeitraum von zehn Jahren ausgewiesen wird, können sich dagegen ganz unterschiedliche Szenarien verbergen: der stete Ausschluss von 90 % der Bevölkerung oder die Annahme, dass alle einmal in zehn Jahren verreist sind. Die Wahrheit liegt, wie zumindest angedeutet werden soll, irgendwo dazwischen.33 Wandas Vater war kein reicher Mann. Als leitender Angestellter in einem renommierten Kaufhaus profitierte er aber möglicherweise von großzügigen Urlaubsverhältnissen »in gewissen kaufmännischen Betrieben«, die ein Zeitgenosse schon 1904 beschrieben hatte.34 Wenige Jahre später hatte eine süddeutsche Zeitung folgendes Stimmungsbild gezeichnet: »Die Tausende von Besitzenden samt einem großen Teil des höheren und niederen Mittelstandes haben in diesen Wochen die Pforten der Städte verlassen und sich über Land und Strand ergossen. Viele Angehörige der genannten Schichten sehen sich freilich genötigt, vorderhand daheim zu bleiben, aber auch ihnen winkt in Kürze der ersehnte Urlaub«.35 Solche Wahrnehmungen lassen sich sozialstatistisch untermauern. Früher als technische sind kaufmännische Angestellte in den regelmäßigen Genuss von Urlaub gekommen, zu Beginn des Jahrhunderts schon 40 % (und 10 % auf Wunsch).36 Lassen es diese Zahlen zu, davon auszugehen, dass »der Urlaub bei den Angestellten von Anfang an den Erwerbstätigenstatus mitdefinierte«, wie Keitz unter Berufung auf Kocka mitteilt?37 Vielleicht im Erwartungshorizont vor allem bei denjenigen, die aus dem Milieu der Selbständigen kamen. Die vielen Arbeitertöchter unter den 33 34
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Was den historischen Vergleich angeht, so ist hier an zu berücksichtigende demografische, arbeits- und berufsstatistische Veränderungen noch gar nicht gedacht. Zit. nach Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (Hg.): Arbeiterferien unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Metallindustrie. Nach einer im Jahre 1912 veranstalteten Erhebung, Stuttgart 1913, S. 74. Württemberger Zeitung vom 25. Juli 1912, zit.n. ebd. Vgl. Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 100. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 34.
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Angestellten brachten dagegen die kulturellen Wertmuster ihrer Herkunftsklasse ein. Sie scheinen eher an den proletarischen Wochenendausflug gedacht zu haben. Darüber ist wenig bekannt. So kritisierten offenbar vor allem die aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Büroangestellten die Arbeit im »dumpfen« Kontor. Sie verglichen sich mit gleichaltrigen Haustöchtern und Schülerinnen und griffen bei der Bewertung ihrer Lage »Vorstellungen der Jugendbewegung und der Lebensreformbewegung auf, die den Aufenthalt in der ›freien‹ Natur als Inbegriff einer persönlichen Befreiung und Reise- und Wanderlust als Wesensmerkmale der Jugend verstanden.[…] In den Aufsätzen der Arbeiterinnen sucht man solche Argumentationen vergebens.«38 Zwar hätten auch jugendliche Arbeiterinnen ein von der Arbeiterjugendbewegung gefördertes »enthusiastisches Naturverhältnis« an den Tag gelegt, doch blieben »Wanderungen und Naturerlebnis für Arbeiterinnen Mittel zum Zweck.« An »Selbstverwirklichung« dachten sie nicht.39 In der Weimarer Republik enthielten fast alle Tarifverträge Urlaubsklauseln, die Angestellten behielten jedoch ihren Vorsprung bei. Am Ende der 1920er Jahre konnte nur eine Minderheit der Arbeiter mit einem tariflichen Höchsturlaub von mehr als 12 Tagen rechnen (12,4 %), jedoch eine Mehrheit der Angestellten (87,4 %).40 Doch lässt sich mit diesen Angaben noch nicht belegen, dass die Urlaubszeit auch von den Angestellten mehrheitlich touristisch genutzt wurde. Ebenso wichtig ist die finanzielle Seite. Ab welchem Einkommen können abhängig Beschäftigte in eine Urlaubsreise investieren? Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Ausgaben für den Tourismus erst »jenseits des Existenzminimums« beginnen. Unteren Einkommensgruppen blieb nichts Anderes übrig, als sonntags »ins Grüne« zu fahren, an verlängerten Wochenenden zu wandern oder Verwandte auf dem Land zu besuchen. Nach der Nomenklatur der Sozialstatistik des Deutschen Reiches sind es die »Bemittelten (der Mittelstand)« und erst recht die »Wohlhabenden« und »Reichen«, die an eine regelmäßige Urlaubsreise denken konnten.41 Auskunft über private Haushaltsbudgets, die Verteilung der Ausgaben, den Umgang mit Einkünften bieten Haushaltsrechnungen, die in den 1980er 38 39 40 41
Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 262. Ebd., S. 262f. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 35f. Triebel, Armin: Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Band 1, Berlin 1991, S. 196.
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Jahren von der historischen Wirtschafts-, Sozial- und Konsumforschung entdeckt wurden.42 Dem »neuen Mittelstand« oder der »Aufstiegsschicht« widmete man besondere Aufmerksamkeit. Allerdings spielen in diesen Untersuchungen Angaben zum Reisen kaum eine Rolle und das nicht ohne Grund. Für das Kaiserreich liegen in allen Datenkonvoluten nur wenige Belege zu Reiseausgaben vor. Deshalb ist man auf Fallstudien angewiesen.43 Für die Weimarer Zeit gibt es etliche Surveys, doch nur die Erhebung des Statistischen Reichsamtes von 1927/28 wies Ausgaben für Sport, Erholung und Reisen als Einzelposten für jeden Haushalt aus.44 Wichtiger aber, weil
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Vgl.: Pierenkemper, Toni (Hg.): Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive, St. Katharinen 1987; Pierenkemper, Toni (Hg.): Zur Ökonomik des privaten Haushalts. Haushaltsrechnungen als Quelle historischer Wirtschafts- und Sozialforschung, Frankfurt a.M./New York 1991. Vgl. Heil, Susanne: Der Haushalt des Erbdrosten Clemens Heidenreich, Graf Droste zu Vischering, nach den Haushalts- und Ökonomie-Etats der Jahre 1860-1920, in: Pierenkemper, Zur Ökonomie des privaten Haushalts, S. 210 und S. 215; Forstmann, Wilfried: bürgerliche Haushalte im 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Frankfurter Familie Bethmann, in: Ebd., S. 230. Da die Reiseausgaben mit anderen Haushaltsposten vergesellschaftet sind, ist es ohne konkrete Aufstellungen der Ausgaben nicht möglich, genaue Zahlen zu nennen. Eine Übersicht über die Kosten einer der Reisen ihrer Protagonistin Therese von Bayern bietet Siebert, Grenzlinien, Abb. 25. Fischer setzt in seiner Metaanalyse bei den Clustern, die nennenswerte Ausgaben für »Freizeit und Vergnügen« generieren können, auf andere Schwerpunkte wie etwa den vergleichsweise hohen Aufwand für die Wohnung. Vgl. Fischer, Hendrik K.: Konsum im Kaiserreich. Eine statistisch-analytische Untersuchung privater Haushalte im wilhelminischen Deutschland, Berlin 2011. Reisen werden nur für zwei Gruppen erwähnt: beim Cluster »Freizeitbezogener Konsum« (19 Fälle) und beim Cluster »Luxuriöser Konsumtypus«. Beim Cluster »Freizeitbezogenen Konsum« wird viel Geld »für teurere Kleidung und für kostspieligere Freizeitveranstaltungen wie das Reisen ausgegeben« (im Vergleich zu den Angehörigen von Clustern mit ähnlichem Einkommen), nämlich durchschnittlich 2149 Mark. Das hänge mit der geringeren Kinderzahl zusammen. Ebd., S. 249 und S. 252. Der »Luxuriöse Konsumtypus« vermag nur zur Illustration dienen, »um einen Eindruck zu gewinnen, was man sich unter luxuriösem Konsum im Kaiserreich vorstellen kann«. Ebd., S. 253. Es kann mithin ohne neuerliche Primäranalyse der Quellen nicht entschieden werden, ob Angaben über Reisen von den sozialen Gruppen überliefert sind, die es sich theoretisch hätten leisten können. Jedoch legt die Auswahl von Fischer die Annahme nahe, dass Reiseausgaben erst beim »Komfortablen Konsumtypus« eine Rolle spielten, mithin für etwa 475 Fälle (von 3981 erfassten). Ebd., S. 117 Spode, »Der deutsche Arbeiter reist«, S. 288 und Keitz, Reisen als Leitbild, S. 46 und Tabelle 17/18. Diese Angaben zeigen immerhin, dass Angestelltenhaushalte ohne Kinder jährlich nur rund 73 RM für Reisen und Erholung aufwenden konnten. Erst ab einer
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ein inhaltliches Statement, ist, dass der Tourismus für die Sozial- und Konsumgeschichtsschreibung ein randständiges Thema blieb, im Fokus befanden sich ganz andere Entwicklungen. So wurde etwa die Frage nach Modernisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit von Spree nicht mittels des Urlaubsverhaltens, sondern anhand ehelicher Fruchtbarkeit und von Ausgaben für Bildung und Hygiene behandelt .45 Triebel beschäftigte sich mit dem »differentiellen Konsum«, das heißt mit der Frage, ob Angestellte ein »eigenes Konsumprofil« entwickelten vor allem anhand der Ausgaben für Nahrung, Kleidung und Wohnung.46 Die dabei identifizierte »Aufstiegsschicht« ist allerdings auch tourismusgeschichtlich von Belang. Am Beginn der 1980er Jahre hatte Spree festgestellt, die Sozialgeschichte der Angestellten wie die Angestellten-Soziologie seien kein neues Forschungsfeld. »Dennoch sind unsere historischen Kenntnisse wesentlicher Dimensionen der Angestellten-Existenz, ihrer zunehmenden Differenzierung und ihres langfristigen Wandels seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
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Einkommenshöhe von über 5.000 RM machen sie 141 RM oder 2,5 % des Jahresbudgets aus. Die bei Suhr auftauchenden Ausgaben für »Reisen« beziehen sich ausdrücklich nicht auf jene »von den einzelnen Familien unternommenen mehrwöchigen Erholungsreisen zu Verwandten.« Gedacht war eher an sporadische Wochenendausflüge des Städters, für die die aufgebrachten 1,8 % der »Kulturausgaben« gerade gereicht haben dürften. Suhr, Otto: Die Lebenshaltung der Angestellten. Untersuchungen auf Grund statistischer Erhebungen des Allgemeinen freien Angestelltenbundes, Berlin 1928, S. 24f. Die Ausgaben für »Reisen« von DHV-Mitgliedern waren auch nicht höher. Spree, Reinhard: Modernisierung des Konsumverhaltens deutscher Mittel- und Unterschichten während der Zwischenkriegszeit, in: Zeitschrift für Soziologie 14(1985)5, S. 400-410. Es lohnt sich, über das Desinteresse an Urlaubsausgaben nachzudenken. Ist es vor allem der schmalen Datenbasis geschuldet, die möglicherweise einen Haupttrend der Modernisierung, oder, wie Keitz behauptet, den fundamentalen Trend übersehen ließ? Oder verhilft die Besichtigung der Haushaltsbudgets zu mehr Realismus bei der Einordnung touristischen Geschehens? Triebel, Achim: Soziale Unterschiede beim Konsum im Ersten Weltkrieg und danach ‒ Bruch mit der Vergangenheit? In: Pierenkämper, Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive, S. 108 und 117. Vgl. auch Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Coyner, die sich in ihrer Dissertation schon in den 1970er Jahren mit der »neuen Mittelklasse« und ihren Konsumstrategien in der Weimarer Zeit beschäftigte, widmet in einem zusammenfassenden Aufsatz den Ausgaben für »Sport und Erholung« ebenfalls nur einen kleinen Abschnitt. Nahezu alle hätten irgendeine Art von Ausflug gemacht. Für Familienferien hätten Beamte öfter und mehr Geld ausgegeben als Arbeiter. Vgl. Coyner, Sandra J.: Class consciousness and consumtion: the new middle class during the Weimar Republic, in: Journal of Social History (1977)1, S. 322.
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dürftig und diffus. Das gilt besonders für fast alle Bereiche des Alltagslebens«.47 Er favorisierte die Charakterisierung der Angestellten als einer Gruppe, die sich »in fast allen Belangen des alltäglichen Lebensstils« sowohl von den Beamten wie von den Arbeitern unterscheide.48 In der Streitfrage, ob sich die Angestellten im betrachteten Zeitraum mehr an einem bürgerlichen Habitus orientiert und damit eher traditionalistisch verhalten hätten oder im Gegenteil bestimmte bundesrepublikanische Verhältnisse als »Modernisierungsagenten« vorweg genommen haben, gelangt Spree zu der Schlussfolgerung: »Die Angestelltenschaft scheint sich wenig Hoffnungen auf eine langfristige, durch beamtentypischen rigiden Konsumverzicht zu ›erzwingende‹, intergenerationelle Verbesserung des kollektiven Sozialstatus gemacht und dafür auch keine verhaltenswirksamen Leitbilder entwickelt zu haben.« Stattdessen sei man auf Angebote der kommerzialisierten Freizeitkultur eingegangen in »spontaner Lust auf Konsum«.49 Diese Auseinandersetzung hat ihre Geschichte und von Anfang an ging es nicht nur um die »harten« Fakten der Sozialgeschichte, sondern es ist umgekehrt nach dem Anteil der symbolischen Kämpfe bei ihrer Ausprägung zu fragen. Eine hedonistische Lebenseinstellung könnte bei Familie Frisch leicht nachgewiesen werden. Sie leistete sich nur ein Kind, ein Mädchen, in dessen Bildung zwar einiges, aber nicht so viel investiert wurde, dass ein sozialer Aufstieg aus eigener Kraft möglich gewesen wäre.50 Die Eltern strebten kein
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Spree, Reinhard: Angestellte als Modernisierungsagenten. Indikatoren und Thesen zum reproduktiven Verhalten von Angestellten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jahrhundert, Göttingen 1981, S. 279. Jordans Sittenbild versucht ebenfalls auszuloten, welche Relikte einer »verschollenen Bürgerlichkeit« sich in den berufsständischen Ideologien der Angestellten erhalten hatten und literarisch ad absurdum geführt wurden. Vgl. Jordan, Christa: »Wir stellen doch was vor« ‒ Angestelltenleben und dessen Spiegelung in der Prosa am Ende der Weimarer Republik, in: Althaus, Thomas (Hg.): Kleinbürger. Zur Kulturgeschichte eines begrenzten Bewußtseins, Tübingen 2001, S. 223. Spree, Angestellte als Modernisierungsagenten, S. 290. Das ist Coyners Schlussfolgerung. Ihr hält Spree allerdings kritisch entgegen, der unmittelbare Schluss von quantitativ ermittelten Konsummustern auf »typische Mentalitäten und Wertmuster« sei doch zu spekulativ und willkürlich. Ebd., S. 293. Ebd., S. 306. Wanda Frisch besuchte eine angesehene höhere Schule, verließ sie jedoch vor dem Abitur. Ihr Beruf als Sekretärin war mit einer Lehrzeit verbunden. Damit hielten sich die
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eigenes Haus an, sondern verblieben über Jahrzehnte in derselben Wohnung, aber sie verreisten oft. Allerdings kann man der Frage nicht ausweichen, ob in kultureller Hinsicht nicht doch Sehnsüchte nach »verschollener Bürgerlichkeit« virulent blieben und eher zu einer Melange von Neuem und Altem führten. Ein demonstratives Festhalten an der Vorstellung, etwas Besseres zu sein, lässt sich nicht allein aus Statistiken über die Lebensbedingungen ablesen. Das war den Zeitgenossen wohl bewusst und macht bekanntlich den Grundkonflikt in Kracauers bekanntem Essay aus. Die zahlreichen Romane, Dramen, Filme, Fotos und Artikel, die sich in mehr oder weniger kulturkritischer Absicht dieses Themas annahmen, prägen nicht nur, ob wissenschaftlich angemessen oder nicht, immer noch die heutigen Vorstellungen, sondern wirkten erst einmal auf die Zeitgenossen und konnten so zu Vorbildern werden.51 Die Angestelltenkultur entwickelte sich selbst zu einem Feld der Auseinandersetzung zwischen traditionellen und »modernisierten« Lebensauffassungen und Verhaltensweisen, nach Meinung von Band wohl am ehesten in der Abfolge der Generationen.52 Für Wanda Frisch und ihre Eltern kann das gerade am Reiseverhalten einerseits bestätigt werden, andererseits überrascht die Kontinuität zwischen Eltern und Kind. Wie sich noch zeigen wird, treten auch in ihrem »modernisierten« Reiseverhalten solche Widersprüche zutage ‒ vor allem in dem, was sie nicht ausprobiert hat.
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Eltern und Wanda an das, was in der Weimarer Zeit in ihren Kreisen üblich geworden war. Nach einer Berufszählung von 1933 waren fast vier Fünftel der ledigen Frauen, also auch die Töchter aus »besseren Kreisen« mit 18/19 Jahren berufstätig. Vgl. Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 131. Die nur eine Trendaussage ermöglichenden Ergebnisse eines sozio ‒ ökonomischen Panels zeigen, dass aber auch die Töchter von qualifizierten Beamten und Angestellten nach 1920 oft nur eine Volksschulausbildung erhielten (die dann für zukünftige Kontoristinnen um den mehr oder weniger langen Besuch einer Handelsschule ergänzt werden musste). Eine höhere Schule besuchte ein knappes Viertel und nur eine anschließende Universitätsausbildung führte zu qualifizierter Arbeit, andere blieben einfache Angestellte. Ebd., S. 163. Im Hinblick auf einen sozialen Aufstieg ist auch zu bedenken, dass seinerzeit nur für Arbeitermädchen, aber nicht für bürgerliche Jugendliche die Arbeit im Kontor, wie Wanda sie antrat, in höchstem Maße wünschenswert war. Die »höheren« Töchter strebten eher in soziale und künstlerische Berufe. Ebd., S. 259. Zur Kritik vgl. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 177ff. Band, Mittelschichten und Massenkultur, S. 221.
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Familie Frisch, eben noch als Vertreterin der neuen, traditionslosen Angestelltenkultur zitierbar, verkörperte auch traditionell Bürgerliches. Die Kleidung wurde nicht »von der Stange« gekauft, auch nicht selbst hergestellt, sondern individuell vom Schneider angefertigt. Die Reiseziele entsprachen denen des gehobenen Bürgertums, die Quartiere (Pensionen) aber wiederum nicht. Alten Stils ist die Angewohnheit, Theater und Opern am Urlaubsort aufzusuchen und Tennis zu spielen, neuen Stils ist die Begeisterung für Fußball ‒ allerdings für einen »bürgerlichen« Verein. All dies lässt sich nicht nur punktuell feststellen, sondern als Verhaltensmuster über einen langen Zeitraum verfolgen. Wie stark oder auch schwach der Wandel in Wanda Frischs Verhalten gewesen sein mag, auf sie könnte die Anekdote zutreffen, die Kracauer seiner Angestellten-Studie voranstellte: Um die Entlassung einer Angestellten zu rechtfertigen, habe ihr ehemaliger Vorgesetzter vor Gericht festgestellt: »›Die Angestellte wollte nicht als Angestellte behandelt werden, sondern als Dame‹.«53 Auch Wanda Frisch trat als Dame auf, allerdings scheint ihr das, im Gegensatz zu Kracauers Protagonistin, eher zum Vorteil ausgeschlagen zu sein. Ausdruck dafür war auch ihr für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts eher anachronistisch wirkendes Festhalten an der Anrede »Fräulein«. Benninghaus konnte anhand ihre Materials nachweisen, dass der Traumberuf der Verkäuferin für Arbeitermädchen auch deshalb so verlockend war, weil im Geschäft ein anderer Umgangston herrschte. Man war mit »Damen« zusammen und selbst ein »Fräulein«, während Arbeiterinnen sich duzten.54 Verkäuferinnen wie Kontoristinnen hatten oft weiblichen Vorgesetzte, die meist ledig waren und ebenfalls mit »Fräulein« angeredet wurden, sich aber beruflich durchgesetzt hatten.55 Die sich später für jede Erwachsene gebräuchliche Anrede »Frau« verdeckt diese feinen Unterschiede. Die erwähnten sozialwissenschaftlichen Surveys der Weimarer Zeit beschäftigten sich mit der Gliederung der Angestellten, ihrer Stellung im Ensemble der erwerbstätigen Bevölkerung, ihren Lebensbedingungen, Vorlieben und Hoffnungen.56
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Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Kulturkritischer Essay, Leipzig und Weimar 1981, S. 9. Vgl.: Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 245. Ebd., S. 272. Eine Ursache für die insgesamt intensive Beschäftigung mit den Angestellten sieht Speier auch in der »sozialen Nachbarschaft«. Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, S. 18.
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Im Vergleich zur Vorkriegszeit hatte deren Anteil an Erwerbstätigen bis 1939 zwar nur um 3 % zugenommen ‒ der eigentliche Qualitätssprung ereignete sich erst zwischen 1960 und 1970.57 Aus der Perspektive der Zeitgenossen aber war der Anstieg von 1,5 Millionen im Jahre 1907 auf 3,5 Millionen im Jahre 1925 so unübersehbar wie interpretationsbedürftig, zumal die Angestellten sich im Vergleich als die am schnellsten wachsende Klasse der Erwerbstätigen erwiesen hatten.58 Vor allem weiblichen Angestellten zogen das Interesse auf sich.59 Sie dominierten die Wahrnehmung der »Massen« in den Städten: »Sie geben der Stadtstraße das beherrschende Bild, sie geben dem Warenhaus, dem Schreibbüro des Betriebes die charakteristische Prägung ‒ mehr noch: sie sind heute eigentlich zum Typus der berufstätigen Frau geworden: Die weibliche Angestellte ist die typische erwerbstätige Frau der Masse.60 Allerdings ist das eine kulturell motivierte Einschätzung, denn quantitativ stellten sie keineswegs die größte Gruppe unter den berufstätigen Frauen. Blieben die dominierenden »mithelfenden Familienangehörigen« der Öffentlichkeit verborgen, weil sie im ländlichen Bereich und im häuslichen Umfeld tätig waren, kann man das von den Arbeiterinnen und Hausangestellten nicht sagen. Doch eigneten sie sich offensichtlich nicht zur Verkörperung gesellschaftlichen Wandels und gehörten schon zum altgewohnten Straßenbild: »Für diese ›traditionellen‹ Frauen interessierten sich in der Weimarer Republik weder Medien noch Sozialpolitik.«61 Unter den jungen Angestellten, die »als Kinder der neuen Zeit gefeiert 57
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Vgl. Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte, S. 199. Ihrer sozialen Herkunft nach sind sie in der Weimarer Zeit Kinder von Angestellten mit steigender Tendenz seit dem Kaiserreich, Kinder von Arbeitern zu 25 %, Kinder von Selbständigen mit abnehmender Tendenz. Vgl. ebd., S. 201. Vgl. Band, Mittelschichten und Massenkultur, S. 133. Bei der Berufszählung von 1925 ermittelte man 1,2 Millionen weibliche Angestellte. Ihre Zahl hatte damit seit 1907 um 224 % zugenommen, während die der männlichen Angestellten nur um 104 % gestiegen war. Ihr Anteil lag im Handel bei ungefähr 40 % und in der Verwaltung bei fast 50 %. Vgl. ebd., S. 135. Suhr, Sabine: Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse. Eine Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten, Berlin 1930, S. 3f (Herv. i.O.). Frevert, Frauen-Geschichte, S. 172. Dieses Verdikt mag für die Medien gelten, für sozialpolitische Bestrebungen und Untersuchungen greift es zu kurz. Frevert wird hier selbst zum Opfer des Mythos, den sie zu Recht kritisiert. Genauere Zahlen finden sich bei Benninghaus. Danach waren 1925 81 % der 20-24jährigen Frauen erwerbstätig, davon fast ein Viertel in der Landwirtschaft, vor allem (15 %) als »mithelfende Familienangehörige«, 15 % als Dienstmädchen, 22,5 % als Arbeiterin und nur 7,3 % als kaufmännische oder sonstige Angestellte. Unter den »technischen Angestellten« gab es 5.500 Tele-
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oder, je nach Weltanschauung, gescholten wurden« suchte man die »Prototypen weiblicher Emanzipation«.62 Blieben, wie eben gezeigt, die zeitgenössischen Sozialwissenschaftler und -politiker auch nicht ganz unbeeinflusst von der mit einigem Aufwand betriebenen Diskussion, so waren sie doch bestrebt, die Tagesprobleme nüchtern anzugehen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Suhr sieht Anhaltspunkte für eine veränderte Struktur der Frauenarbeit: junge Mädchen, die früher in Haushalten und später in Fabriken arbeiteten, strebten nun in Angestelltenberufe. Auf der anderen Seite müssten sich die Töchter des verarmten Mittelstandes nach bezahlter Arbeit umsehen ‒ im Angestelltenbereich.63 Es sei, so Suhr im Vorwort ihrer Studie, »für die Arbeitsbedingungen der gesamten Angestelltenschaft unerträglich«, wenn Frauen schlechter gestellt sind.64 Die »Feminisierung des Büros« (Pirker) wurde nicht als emanzipativer Akt bewertet, sondern als Ausfluss einer neuen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Hierarchie: Die weiblichen Angestellten übten eben jene im Zuge der Maschinisierung, Mechanisierung und Bürokratisierung entstehenden Funktionen in Büro und Verwaltung aus, die den Lohnarbeiterstatus der Angestellten unterstreichen. Sie hätten die neuen »proletarisierierten« Arbeitsplätze »ohne beruflichen Gehalt« eingenommen und damit gleichzeitig zur »Erhaltung des spezifischen Angestelltenstatus für die Männer« beigetragen, »deren Arbeit die Richtschnur dafür bleibt, was Angestelltenarbeit sei.«65 Das traf besonders auf die ohne Ausbil-
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fonistinnen, 13.000 Lehrerinnen, 16.000 Krankenschwestern und 6.000 Kindergärtnerinnen, die aus bürgerlichen Familien stammten. Vgl. Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 126f. Frevert, Frauengeschichte, S. 172. Vgl. Suhr, Die weiblichen Angestellten, S. 4f. Der Zustrom von Arbeitertöchtern hatte schon vor dem Weltkrieg eingesetzt. Während Verkäuferinnen über 30 Jahre zur Hälfte aus dem Kleinbürgertum kamen, stammten bei den Berufsanfängerinnen zwei Drittel von Handarbeitern ab. Vgl.: Nienhaus, Ursula: Von Töchtern und Schwestern. Zur vergessenen Geschichte der weiblichen Angestellten im deutschen Kaiserreich, in: Kocka, Angestellte im europäischen Vergleich, S. 315. Suhr, Die weiblichen Angestellten, S. 2. Braun, Zur Soziologie der Angestellten, S. 99. Benninghaus kann allerdings zeigen, dass solche Wertungen in zweifacher Hinsicht an der Realität vorbeigingen. Die Beschäftigung »im Großraumbüro eines Großbetriebs«, die hier suggeriert wird, sei nicht der »Normalfall« gewesen. Nur mit Schreibarbeiten waren die wenigsten betraut. Diese kulturkritische Außensicht steht zudem im Widerspruch zur Binnensicht der Kontoristinnen, die ihre »Arbeit als prestigeträchtig und auf Grund der weiblich geprägten Arbeitskultur oft auch als angenehm« ansahen, zumal sich vor allem die jugendlichen
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dung einströmenden Arbeitertöchter zu, denen somit ein sozialer Aufstieg verwehrt blieb.66 Eine wichtige Quelle, um zu ermessen, welche Spielräume zur Lebensgestaltung sich den weiblichen Angestellten eröffneten, aber wichtiger noch, welchen Zwängen sie unterlagen, sind Dokumente, in denen sie selbst zu Wort kommen.67 Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung soll zwar die Frage stehen, welche Bedingungen eine Urlaubsreise beförderten oder behinderten, aber, um die oben erwähnte Verengung des Blicks zu verhindern, eingebettet in eine Besichtigung das Gesamt der Lebensverhältnisse und ihrer Interpretation durch die Frauen selbst. Es interessiert nicht nur, in welchen Zusammenhängen die Rede auf Urlaub und Reisen kommt, sondern welche Sorgen und Nöte offensichtlich daran hindern, dieses Thema überhaupt zu erwähnen. Das kann allerdings nur angedeutet werden. Die vorliegenden Selbstzeugnisse sind häufig Beiprodukte von schriftlichen Befragungen oder entstammen aus an die Berufsorganisationen adressierten Berichten. In den vorliegenden, sie verarbeitenden Untersuchungen werden sie nur auszugsweise zitiert, um bestimmte Aussagen illustrieren. Diese auch heute noch zuweilen anzutreffende Vorgehensweise hindert sowohl daran, die Zahl der Stellungnahmen zu Urlaubsfragen im Gesamt der Meinungsäußerungen zu ermitteln als auch ihr Gewicht in den einzelnen Berichten. In der an Quantifizierung interessierten Studie des Zentralverbandes der Angestellten zu Arbeits- und Lebensverhältnissen der weiblichen Angestellten von 1930 werden Urlaub und Reisen nur am Rande behandelt. Vielmehr geht es einerseits darum, die schlechtere Bezahlung und das ungerechte Arbeitszeitregime herauszuarbeiten, andererseits aber zu zeigen, dass viele Frauen
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Angestellten an ihren Geschlechtsgenossinnen orientierten (und nicht an den männlichen Kollegen). Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 267. Die Behauptung, »höhere Töchter« hätten sich ihre besondere Eignung zum Maschineschreiben beim Klavierspiel erworben, dürfte sich kaum praktisch belegen lassen. Sie hatten eindeutig bessere Chancen, nicht ins Angestelltenproletariat abzusinken. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 173 und sogar mit einer Illustration versehen: Berger, Franz Severin; Holler, Christiane: Von der Waschfrau zum Fräulein vom Amt. Frauenarbeit durch drei Jahrhunderte, Wien 1997, S. 192. Dazu gehören Schulaufsätze ebenso wie Briefe an Zeitungen und Zeitschriften sowie andere Selbstdarstellungen, die im Zuge von Erhebungen generiert wurden. Methodisch liegt hier vieles im Argen, dazu ausführlich Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 19ff.
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keineswegs nur »dazuverdienen«, sondern gerade in Krisenzeiten eine Familie ganz oder teilweise unterhalten müssen.68 Die Urlaubsfrage wird am Ende der Darstellung zur Arbeitszeit diskutiert, nicht ohne den Hinweis auf die »Nebenarbeit« im eigenen Haushalt. »Wird dieser lange Arbeitsalltag ausgeglichen durch eine genügende Urlaubszeit? Wie soll Spannkraft und Berufsfreude, Körperfrische und Arbeitswille erhalten werden ohne Ausgleich durch Entspannung, Erfrischung, Durchsonnung nach den Monaten und Jahren von Büroluft? Zwar können nur wenige Angestellte es ermöglichen, diese Urlaubstage durch eine Reise, durch ein paar Tage Seeluft oder Gebirgssonne zu einer wirklichen Kräftigung für das ganze lange Berufsjahr zu gestalten.« Jedoch »auch schon eine Zeit des Herauskommens aus dem gewohnten Trott, ein Sich-ausschlafen-können bedeutet eine notwendige Entspannung.«69 Zwar hatten 37 % der Probandinnen im vergangenen Jahr 7-12 Tage Urlaub gehabt und 30 % 13-18 Tage, doch erscheint es Suhr angesichts der teilweise jahrelangen Betriebszugehörigkeit eher ein Armutszeugnis zu sein, dass immerhin zwei Drittel weniger als 12 Tage Urlaub hatten. »Armselig« sei es, dass jüngeren Angestellten mit nur 6 Urlaubstagen kaum eine »schöpferische Pause« gewährt werde, während ältere Angestellte mit weniger Urlaub auskommen müssten als 30-40 jährige.70 Die Tatsache, dass einige der Probandinnen trotz langjähriger Betriebszugehörigkeit (15-20 Jahre) angegeben hatten, im letzten Jahr keinen Urlaub bekommen zu haben, kommentiert Suhr mit dem Ausruf: »Wieviel dumpf ertragenes Alltagselend, wieviel Entsagung spricht aus diesen Berichten!«71 Augenscheinlich ist die Vorstellung eines Rechtes auf ausreichenden Urlaub bei Gewerkschaftsfunktionären und Sozialwissenschaftlern um 1930 schon tief verankert, doch zeigt sich, dass den Angestellten ein anderes Ziel näher lag
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Das betrifft das Gros der jungen, ledigen Angestellten, die überhaupt nur existieren können, weil sie zu Hause wohnen, andererseits aber auch einen Teil des Einkommens abgeben, nicht zuletzt, um Brüdern eine Ausbildung mit zu finanzieren. Vor allem ältere Angestellte müssen aber auch Mutter und Geschwister erhalten, besonders nach dem Tod oder bei Krankheit des Vaters. Verheiratete Frauen tauchen (wieder) auf dem Arbeitsmarkt als billigere Arbeitskräfte auf, wenn die Männer auf die Straße gesetzt wurden. Vgl. Suhr, Die weiblichen Angestellten, S. 39. Ebd., S. 28 (Herv. i.O.). Natürlich werden im Sinne zukünftiger Tarifforderungen vor allem negative Beispiele genannt. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30.
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als auskömmlicher Urlaub oder sogar eine Reise: eine eigene Wohnung und bestehe sie auch nur aus einem Raum, um selbständig leben zu können.72 In der Freizeit dominierte der Sport. Immerhin hatten aber 53 % der Befragten angegeben, im letzten Jahr (also 1929) verreist gewesen zu sei, jedoch meist nur, wenn sie das ganze Jahr über gespart und auf andere Vergnügungen verzichtet hatten. Häufig habe diese »Reise« aber nur zu Verwandten oder in die nähere Umgebung geführt, sei eine Wanderung mit Zeltlager und Jugendherberge gewesen. Die (wenigen) verheirateten Angestellten konstatierten: »›Reisen? Solange ich verheiratet bin, nein, vorher ja‹«.73 Als Verkäuferin nicht an den in ihren Quellen häufig erwähnten Wanderfahrten und Wochenendausflügen teilnehmen zu können, sieht Benninghaus als wichtigen Grund, eher im Büro arbeiten zu wollen.74 Andererseits hat sie den Eindruck, dass die Verfügung über freie Zeit »in der Wahrnehmung der Mädchen männlich konnotiert war. Sie stand den erwerbstätigen Jugendlichen gleichsam nur leihweise zu, während sich Weiblichkeit in ihrer Vorstellung mit dem Ideal der rastlos tätigen Hausfrau verknüpfte.«75 Auf diesen Umstand verweist auch Schuhmacher bei ihren Untersuchungen zur Durchsetzung der Ferien in der Schweiz. Hier deutet sich an, wo eine an Geschlechterverhältnissen interessierte Tourismusgeschichte ansetzen könnte. Die Tatsache einer allgemein gewordenen Urlaubsgewährung für unselbständig Erwerbstätige kollidiert zwangsläufig mit der Vorstellung, 72
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Ebd., S. 40. Dem widerspricht Benninghaus: »Als Alleinstehende eine eigene Wohnung zu haben, war in der Weimarer Zeit nicht üblich.« Sie versucht zu belegen, dass ältere Ledige durchaus die finanziellen Mittel gehabt hätten, allein zu leben. Heutige Bedürfnisse nach Unabhängigkeit würden in die 1920er Jahre projiziert, wenn der geringe Lohn als Grund für den Verbleib im Elternhaus angeführt würde. Der Widerspruch löst sich möglicherweise auf, wenn man bedenkt, dass auf der einen Seite Berufsschulaufsätze sehr junger Mädchen und im anderen Fall Einsendungen von Gewerkschaftsfunktionärinnen als Quelle dienten. Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 197 und S. 199. Suhr, Die weiblichen Angestellten, S. 46. Mag das Interesse an ausreichendem Jahresurlaub auch groß gewesen sein, näher lag die Forderung nach einem frühen Arbeitsschluss am Sonnabendmittag, der nur 28 % der Probandinnen zugestanden wurde. (Vgl. ebd., S. 26) Der Kampf gegen die Durchlöcherung der Sonntagsruhe, für den Sieben-Uhr-Ladenschluss und den Sonnabend-Frühschluss gehörte deshalb auch zu den vornehmsten Zielen des (christlichen) Verbandes der weiblichen Handels- und Büroangestellten. Vgl.: Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten e.V.: Vierzig Jahre VWA 1889-1929, Berlin 1929, S. 53, S. 55, S. 57. Vgl. Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 247. Ebd., S. 295.
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dass gerade die Familie der Ort von Rekreation sei, für die vor allem die Frauen zuständig sind. Folglich müsse man fragen, ob sich Ferienbedürfnis und -anspruch bei Frauen und Männern unterschiedlich ausgewirkt hätten.76 Letztlich zeige sich: »Das arbeitsrechtliche Feriendenken ist mit der naturrechtlich Frauen zugeschriebenen und zugedachten Arbeitsleistung grundsätzlich nicht vereinbar.«77 Die ihrer »natürlichen Bestimmung« folgenden Frauen wurden entweder als Nicht-Erwerbstätige vom der Urlaubsgewährung ausgeschlossen oder blieben auch in den Ferien Mutter und Hausfrau.78 Das ist aufmerksamen Zeitgenossen frühzeitig aufgefallen. So gewährte ein Schweizer Unternehmen seinen Arbeiterinnen keine bezahlten Ferien, da sie diese wegen Haushalt und Heimarbeit sowieso nicht zur Erholung nutzen könnten. Stattdessen wurde im betriebseigenen Ferienheim ein kostenloser zwei wöchiger Aufenthalt angeboten, der die Rekreation sicherstellen sollte.79 Wie dem auch sei, bestimmte Fraktionen der weiblichen Angestellten konnten auf eine längere Tradition der Urlaubsreise zurückblicken, die ihnen durchaus angemessen und normal erschien. Allerdings konnte die einmal errungene Reisefreiheit angesichts widriger Verhältnisse auch wieder verloren gehen. Statistiken belegen, dass die Kinderzahl maßgeblichen Einfluss darauf hatte. Die Angestellten mit ihrem frühen Trend zur Ein-Kind-Familie und ihrem späteren Heiratsalter waren deshalb auch aus dieser Perspektive prädestiniert, den Massentourismus voranzutreiben. Immerhin verblieben so auch den Frauen theoretisch etwa acht bis zehn ehelose Jahre. Das habe, so zitiert Frevert zustimmend Zeitgenossinnen wie Gertrud Bäumer, ein »Zwischenstadium der persönlichen Unabhängigkeit«, ein »Interim persönlicher Freiheit« eröffnet, das mit einer Ferienreise auszufüllen im Bereich des Möglichen lag.80 Ähnlich argumentiert Keitz: »Oftmals waren es Frauen, weibliche Angestellte vor allem, ledig und ohne Kinder, die über ›ihre‹ Urlaubsreise berichteten. Die Betonung des persönlichen organisatorischen
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Vgl. Schumacher, Beatrice: Ferien. Interpretation und Popularisierung eines Bedürfnisses Schweiz 1890-1950, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 67 und S. 69. Ebd., S. 105. Die Lage offenbart sich auch bei der Frage nach dem Urlaubsanspruch, die allen Befragten im Rahmen der alljährlichen F.U.R.-Studie gestellt wird ‒ regelmäßig waren es nur etwa 50 %, wobei natürlich aber auch an Studenten oder Pensionäre zu denken ist. Vgl. ebd., S. 126. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 180 und S. 197.
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Geschicks und der Überwindung finanzieller Schwierigkeiten durch eifriges Sparen zeigten, daß ›frau‹ die Reise auch als ein Stück praktischer Emanzipation verstand.«81 Insofern steht Wanda Frisch als einziges Kind eines Angestellten und als ledige Sekretärin in einer längeren Tradition. Hörbrand zitiert in ihrem »Berufsbild« der weiblichen Handels- und Büroangestellten zahlreiche Stellungnahmen weiblicher Angestellter.82 Buchhalterinnen, Kassiererinnen, Lagerverwalterinnen, Stenotypistinnen und Verkäuferinnen berichten über ihren Lebensweg oder Arbeitsalltag.83 Nur selten berühren sie das Thema Urlaub und Reisen. Eine 1890 geborene und im Hotelgewerbe tätige Angestellte hatte zunächst einen guten Start. Ihr wurde im Jahre 1912 vom VWA (der sogar eine Ortsgruppe in Paris unterhielt) eine Stellung in Bordeaux vermittelt. »An den vielen katholischen Feiertagen, die auch uns Protestanten sehr erwünscht kamen, fuhren wir dann in die Bäder am Atlantischen Ozean, und die 14 Tage Urlaub wurden zu einer Pyrenäenreise benutzt, die mit einem Abstecher nach Spanien verbunden war.«84 Während des 1. Weltkrieges leitete sie im Rheinland eine kleine Fabrik, waren doch die Chefs eingezogen. Nach dem Krieg begann eine Odyssee durch verschiedene Stellungen, die ihrer Qualifikation nicht entsprachen und schlecht bezahlt wurden, unterbrochen von Arbeitslosigkeit. Zum Berichtszeitraum 1925 war sie mit 35 Jahren eine unverheiratete »ältere Angestellte« mit schlechten Chancen. Von Urlaubsreisen ist keine Rede mehr. Eine um 1876 geborenen Auslandskorrespondentin aus Nürnberg verlor nach anfänglichem Aufstieg und guter Bezahlung mit dem Krieg die Geschäftsgrundlage, jedoch wurde sie Hauptkassiererin. Damit war nach 1918 Schluss, nun wurde sie mit schlecht bezahlten Arbeiten betraut, die ihrer Qualifikation nicht entsprachen und musste sich auch noch mit dem zehnprozentigen Abzug für weibliche Angestellte zufriedengeben. Ihre Sprachkenntnisse setzte sie im privaten Bereich ein und las »gute Werke der Auslandsliteratur« im Original. Deren größter Reiz liege aber darin,
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Keitz, Reisen als Leitbild, S. 27. Vgl. Hörbrand, Die weibliche Handels- und Bureau-Angestellte. Vermutlich wurden sie Materialien entnommen, die der VWA zur Unterstützung seiner Politik gesammelt hatte, da sich die Berichtenden immer wieder auf ihn beziehen. Viele von ihnen sind Töchter von Selbständigen. Diese sind keineswegs repräsentativ, sind doch ältere Angestellte, denen eine Karriere gelungen ist, überdurchschnittlich vertreten. Hörbrand, Die weibliche Handels- und Bureau-Angestellte, S. 20.
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ins Ausland reisen zu können und die Welt kennenzulernen, wenn nicht Familien- oder Gesundheitsverhältnisse daran hindern.85 Im Jahre 1983 wurden auf einem Dachboden in Cham Beschreibungen einer Italienreise aus dem Jahre 1912 entdeckt. Sie gehörten neben weiteren Berichten, Fotos und Ansichtskarten zum Nachlass einer Freundin der Urlauberin Elsa Wiesner. Ein solches Konvolut ist eine große Kostbarkeit. Immerhin wurde es über sechs Jahrzehnte aufbewahrt und sicher hat nur ein Zufall verhindert, dass es beim Entrümpeln weggeworfen, sondern dem örtlichen Museum übergeben wurde. Doch nicht nur das. Mögen in vielen Archiven und Museen derlei Nachlässe unbeachtet in einem Regal lagern, die Aufzeichnungen der etwa fünfundzwanzigjährigen Versicherungssekretärin aus Stuttgart schafften es in eine volkskundliche Ausstellung und wurden gekürzt in deren Begleitheft publiziert.86 Wiesner hatte ihre Fahrt selbst organisiert und war allein unterwegs. Sie berichtet von überfüllten Zügen, von überbuchten Hotels und fragwürdigem fremden Geld mit dem Stolz einer Frau, die für alle diese Probleme eine Lösung gefunden hat. Die Reise begann am Gründonnerstag, dem 4. April und dauerte bis zum 21. April. Die abgedruckten Ausschnitte dokumentieren Aufenthalte in Lugano, Mailand, Genua, Lerici (Hauptort) und Venedig. Von Lerici aus unternahm sie zahlreiche Ausflüge in die Umgebung und aufs Meer, wobei sie sich »zwei Doktoren« aus München und einer segelnden Familie anschloss. Wiesner schrieb nicht nur eifrig, aber gänzlich unsentimental an ihrem Tagebuch, sie versandte auch Postkarten und suchte Gelegenheiten, um den Alltag den Einheimischen abzulichten, denen sie Abzüge zuzuschicken versprach. Sie konnte sich notdürftig auf Französisch verständigen und hatte den Ehrgeiz, anhand eines italienischen Wörterbuchs zu kommunizieren. Allerdings war sie auch sehr froh, wenn man »deutsch sprach«. Doch die Geste zählt, wobei die Sprachbemühungen eine große Rolle in den Erzählungen spielen. Immer wieder werden auch die Kosten erwähnt: Welche Erlebnisse rechtfertigten den mit ihnen verbundenen finanziellen Aufwand, wo war sie 85 86
Ebd., S. 59. Ob das eine allgemeine Wendung oder individuelle Erfahrung ist, war nicht zu ersehen. Berwing, Margit; Roser, Sebastian: Reisetagebücher, in: Berwing, Margit; Köstlin, Konrad (Hg.): Reise-Fieber. Begleitheft zur Ausstellung des Lehrstuhls für Volkskunde der Universität Regensburg, Regensburg 1984, S. 179-201. Etwas voreilig meinen die Herausgeber, nur »gefühlsbetonte Mädchen und Frauen« hätten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein Reisetagebuch geführt. Vgl. ebd., S. 180.
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sogar (im Vergleich zu anderen Reisenden) besonders preiswert zurechtgekommen? Elsa Wiesner war gewiss keine Bildungsreisende. Zwar erwähnt sie, nun »in dem ersehnten Land, wo die Zitronen blühen« zu sein, doch ihr Interesse galt nicht den Kulturstätten oder gewissenhaften Erkundungen der Natur.87 Als sie in der Umgebung von Lerici unterwegs war, erwähnt sie »Böklin«, Byron, Nietzsche und Dante, die an den von ihr besuchten Orten verweilt hatten ‒ vermutlich hatten die »beiden Doktoren« diese Namen erwähnt. Dass sie keine »höhere Tochter« war, die nur durch unglückliche Umstände gezwungen wurde, sich als Sekretärin zu verdingen, zeigt sich nicht einmal in erster Linie in den Bildungslücken, sondern die Art und Weise, wie sie damit umgegangen ist. Diese wurden zwar registriert, aber auch selbstbewusst negiert, ja, lächerlich gemacht und die eigenen, eher lebenspraktischen Interessen dagegengesetzt. So fragte sie sich auf einem Friedhof angesichts der Skulptur einer trauernden Witwe, wie die sich wohl fühlen mag, wenn sie in der Zukunft als neuerlich Verheiratete das Grab besucht. Auf dem Monte Salvatore, den sie mit der Drahtseilbahn erreicht hatte, erkletterte sie den Turm und amüsierte sich im Stillen, »wie sich die Leute über die Namen der Berge herumstritten. Das ist mir so wurscht wie nur was, wie die Gipfel alle heißen, ich schaue keine Orientierungstafel an, ich lasse das ganze so herrliche Bild auf mich wirken und freue mich daran.«88 In ihrer Vorstellung existierten Bilder von »echten« Italienern, die jedenfalls nicht in den Städten zu finden waren und zur italienischen Landschaft passende ländliche Szenen. Auf einem Spaziergang entdeckte sie eine Schafherde samt kindlichem Hirten. »Das war ein malerischer Anblick. Blutige Tränen könnte ich weinen, dass ich das nicht fotografieren konnte. Der hübsche braun gebrannte Junge mit schwarzen Haaren und blitzenden Augen und blendend weißen Zähnen sah aus, wie aus einem Bild von Murillo herausgeschnitten.«89 Was für Sekretärinnen schon eine längere Tradition gewesen sein mochte, war nach dem Krieg für Verkäuferinnen noch ungewohnt. So lassen sich die Erfahrungen eines weiblichen Lehrlings deuten, die von Ferien in der Fort-
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bildungsschule berichtete. »Die alten Verkäuferinnen bei uns sagen, was das für neue Moden wären.«90 Die »neuen Moden« waren trotz aller Probleme nicht mehr wegzudenken und der Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten demonstrierte den Erfolg seiner Arbeit in einer Jubiläumsschrift zum vierzigjährigen Bestehen mit Fotos der eigenen Erholungsheime, die sich am Rhein, bei Berlin, in der Lüneburger Heide und im Erzgebirge befanden.91 Andererseits zeigt diese kleine Blütenlese aber auch, dass die Einschätzung Spodes, die »neue hedonistische Konsumgesellschaft war eine Angelegenheit der Mittelschichten, zumal der Angestellten« vor allem auf (ledige) weibliche Angestellte in der Weimarer Zeit kaum zugetroffen hat.92 Bei manchen dürften weniger die neuen Gegebenheiten der Weimarer Zeit als die Erinnerung an »bessere« Zeiten vor dem Krieg die Sehnsucht nach der Ferienreise angefacht oder wachgehalten haben. Nüchtern oder auch ernüchtert resümierte Kracauer eine Erhebung des VWA von 1927, in der »verschiedene Haushaltsbudgets« zusammengestellt seien: »Aus ihnen geht hervor, was auch ohne Beleg leicht erschlossen werden könnte: daß für Ferienreisen, Theater, Kinos, Konzerte usw. so gut wie nichts übrig bleibt. Wenn die Mädchen solche luxuriösen Bedürfnisse haben, deren Befriedigung in Wahrheit kein Luxus ist, sind sie einfach darauf angewiesen, freigehalten zu werden. Der Freund ist eine erotische und materielle Notwendigkeit zugleich.«93 Solche Beobachtungen und ein Blick in die Einkommensverhältnisse der weiblichen Angestellten lassen Zweifel daran aufgekommen, ob das oben als typische Konsumentin des sich entfaltenden Massentourismus eingeführte »Tipp-Fräulein« mit einer Reisekasse von 100 RM nicht doch nur ein ideologisches Phantasieprodukt war.94 Folgt man den Statistiken, kann resümiert 90 91 92
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Ebd., S. 97f. Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten e.V. (Hg.): Vierzig Jahre VWA, Anhang. Spode, Hasso: Ein Seebad für zwanzigtausend Volksgenossen. Zur Grammatik und Geschichte des fordistischen Urlaubs, in: Brenner, Peter J. (Hg.): Reisekultur in Deutschland: von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«, Tübingen 1997, S. 19. Kracauer, Siegfried: Mädchen im Beruf, in: Kracauer, Siegfried: Schriften, Band 5.3 (hg. von Inka Mülder-Bach), Frankfurt a.M. 1990, S. 63. Schon Speier hatte herausgearbeitet, dass die weiblichen Angestellten die Basis der »pyramidenartigen Form des sozialen Aufbaus« in der Angestelltenschaft bildeten. Nach der Berufszählung von 1925 wurden 72 % der unteren und 25 % der mittleren Tätigkeitsgruppen von Frauen besetzt, während von den Männern 32 % die unteren, 47 % die mittleren und 20 % die oberen Posten innehatten. 1930 habe sich die Situati-
3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
werden: Weiblichen Angestellten jeden Alters blieben jene Gehaltsgruppen prinzipiell verschlossen, die es erlaubt hätten, einen solchen Betrag anzusparen. Doch offensichtlich war das Leben vielfältiger.
3.2.
Von 1933 bis zur Etablierung des Massentourismus um 1970
Das gilt auch für die Zeit nach 1933. Entgegen aller Propaganda hatten sich die Trends der Weimarer Zeit fortgesetzt. Der Anteil von Frauen, die in Industrie, Handel und Dienstleistungssektor arbeiteten, war weiter gestiegen, wie sich auch die weibliche Erwerbsquote bis 1939 auf 36,7 % erhöht hatte.95 Die Gruppe der Angestellten und Beamtinnen hatte seit 1925 am meisten zugelegt (von 12,6 auf 15,6 %).96 Es kann davon ausgegangen werden, dass weibliche Reisende und vor allem auch ledige Angestellte maßgeblich zum Wachstum des Tourismus in Oberstdorf und Berchtesgaden beigetragen haben (Zuwachsraten zwischen 1929-1937 von 159 % bzw. 129 %). Dafür spricht der von den örtlichen Vertretern des Fremdenverkehrs nicht gern gesehene Ausbau von Privatquartieren.97 In Berchtesgaden, das sich seit Ende der 1920er Jahre von einem gemächlichen Kurort in eine quirlige Destination des Massentourismus verwandelte, wurde ab 1934 jährlich der 100.000ste Kurgast ermittelt. Schon im ersten Jahr war es eine anscheinend allein reisende Frau Frey aus der Nähe von Bielefeld, 1935 ein Fräulein Therese Schenk aus München, 1936 Frau Neidhardt aus Fürth. Im Jahre 1937 wurde Fräulein Lisa Wilcke aus Hamburg als 150.000ster Kurgast beglückwünscht.98 In Bad Schandau verzeichnete man
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on noch verschärft. Vgl.: Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, S. 75f. Konkret bedeutete das: Nach der Untersuchung von Suhr verdienten 46 % der erfassten Angestellten weniger als 125 Mark monatlich, nur 20 % hatten mehr als 200 Mark. Das sei nicht nur dem Altersaufbau und dem im Vergleich zu den Männern 10-15 % betragenden Abschlag geschuldet. Auch viele Dreißig- und Vierzigjährige verdienten unter 150 Mark. Vgl. Suhr, Die weiblichen Angestellten, S. 35f. Männliche Angestellte erreichten mit zwanzig Jahren ein Durchschnittsgehalt von 129 RM, mit dreißig 272 RM, mit vierzig 330 RM, Frauen dagegen jeweils 115/195/221 RM. Vgl. Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, S. 78. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 210. Ebd., S. 191. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 319 (Tabelle 6). Vgl. Schöner, Hellmut: Berchtesgadener Fremdenverkehrschronik 1923-1945, Berchtesgaden 1974, S. 98, S. 105, S. 108, S. 115. Handelte es sich bei den Ausgezeichneten um
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zwischen 1929 und 1937 eine veritable Steigerung der Übernachtungsgäste aus dem Milieu der Beamten und Angestellten (von 1.775 auf 2.797).99 Für die KdF-Reisen lässt sich anhand weniger Statistiken und Berichte zeigen, dass der Anteil weiblicher Reisender beachtlich blieb. So zeigte sich bei drei zweiwöchigen Landreisen im Sommer 1939, dass von den 777 Teilnehmern einer Fahrt in den Schwarzwald 33,1 % weibliche Angestellte waren (bei 8,3 % männlichen). Fast 61 % der Teilnehmer waren Frauen (39,1 % Männer). Auch bei den beiden anderen Reisen in die Steiermark bzw. Wachau lag der Frauenanteil um die 50 %, wenn auch mehr männliche als weibliche Angestellte unterwegs waren.100 Bei den überaus prestigeträchtigen Seereisen des Sommers 1938/39 war das Geschlechterverhältnis der teilnehmenden Angestellten mit Ausnahme der Mittelmeerreisen fast ausgeglichen.101 In der Propaganda wurde das durchaus positiv bewertet. Im einem Bericht von einer Madeirafahrt 1936 heißt es: »Wohin der Blick geht, überall begegne ich Gestalten jenes Volkes, das man das kleine nennt, Arbeiter, Angestellte, Beamte, Ladenmädchen, Verkäufer, Handwerker, Stenotypistinnen, lauter Menschen, von denen kaum einer sonst in der Lage wäre, aus eigener Kraft sich eine solche Reise zu verschaffen.«102 Ein Spitzelbericht über eine einwöchige Landreise in die Sächsische Schweiz im Jahre 1937 vermerkte, dass die Teilnehmer überwiegend Angestellte, Büroarbeiter und Verkäufer gewesen seien, davon in der Mehrzahl Frauen.103 So viel zu den möglichen touristischen Vorbildern von Wanda Frisch. Im Jahre 1939 war sie sechzehn Jahre alt und hatte schon etliche Reisen mit ihren
Männer mit Familie, hieß es, wie für das Jahr 1938, »Kaufmann Kahl-Railhet aus Genf mit Frau und Tochter«. Vgl. ebd., S. 122. 99 Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, S. 320 (Tabelle 7). Allerdings sank ihr Anteil an den Reisenden, weil andere Gruppen, darunter die alten Eliten, aber auch Arbeiter und Handwerker, noch stärkere Wachstumsraten vorweisen konnten. 100 Vgl. ebd., 332 (Tabelle 22). 101 Vgl. ebd., S. 331 (Tabelle 21). 102 Schaffner, Jakob: Volk zu Schiff. Zwei Seefahrten mit der »KdF«-Hochseeflotte, Hamburg 1936, S. 13. An anderer Stelle wird das Schicksal der kleinen »Erna« kolportiert, die sich tagsüber als Verkäuferin mit misslaunigen Kundinnen herumschlagen muss und abends mit Kursen in Stenographie oder Maschineschreiben am Weiterkommen arbeitet. »Und jetzt fährt man mitten auf der hohen See hin mit Kurs auf Madeira. Es gibt also wirklich noch Wunder auf der Welt. Kleine Erna, es werden noch ganz andere Wunder kommen.« Ebd., S. 112. 103 Vgl. ebd. S. 256.
3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
Eltern oder einer Jugendgruppe unternommen. Ihr eigenständiges Reiseleben begann aber erst in den 1950er Jahren. Sobald sich die touristischen Voraussetzungen nach dem Krieg, angefangen von der Infrastruktur bis hin zur privaten Überwindung materieller Einbußen, zu normalisieren begannen, besann man sich wieder auf die reisenden Fräuleins. Zur Gästestruktur der berühmten Touropa-Destination Ruhpolding des Jahres 1952 vermerkt Pagenstecher, unter den Gästen hätten sich ungewöhnlich viele, auch jüngere Frauen und überdurchschnittlich viele Angestellte befunden, »fast kann die ledige Sekretärin als typische Gesellschaftsreisende der 1950er und 1960er Jahre gelten.«104 Pagenstecher beruft sich auf eine Untersuchung von Christl in 24 oberbayrischen und schwäbischen Fremdenverkehrsorten von 1951/52. Danach gab es Orte, in denen die Männer als Fremdenverkehrsgäste überwogen (»M-Orte«), Orte mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis und »W-Orte«, wo die weiblichen Besucher in der Mehrheit waren. Bei genauerem Hinsehen ist es allerdings fraglich, ob Pagenstechers Diagnose wirklich zutrifft. »W-Orte« ergeben sich erstens vor allem daraus, dass dort kaum (männlich dominierter) berufsbedingter Fremdenverkehr stattfand. Zweitens kam der Frauenüberschuss in diesen Ferienorten vor allem durch die mitreisenden Hausfrauen zustande. Es dominierten zwar die Angestellten aus den Bereichen Handel/Verkehr und Verwaltungs- und Rechtswesen, aber die weiblichen Anteile bleiben teilweise erheblich hinter den männlichen zurück.105 Tatsächlich bildete Ruhpolding aber als Destination von preiswerten Gesellschaftsreisen eine Ausnahme. Hier war im Sommer (nicht im Winter) das Geschlechterverhältnis besonders unausgewogen ‒ fast zwei Drittel der Feriengäste waren weiblich ‒ ein solches Ungleichgewicht wiesen »M-Orte« nur im Winter auf (und das vermutlich zumindest teilweise wegen des beruflichen Fremdenverkehrs).106 Sekretärinnen, Stenotypistinnen und andere unverheiratete oder verwitwete allein reisende Frauen gehörten auch zu den Reisegenossinnen jener Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die, gesponsert von großen Reiseunternehmen, ab 1962 dem Studienkreis für Tourismus wichtige InsiderInformationen lieferten. Trotz aller Bemühungen um disziplinäre Objektivi-
104 Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 138. 105 Vgl. Christl, Artur: Die Publikumsstruktur in 24 bayrischen Fremdenverkehrsorten und einige ihrer Gestaltungsfaktoren, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 4(1955/56)1, S. 26ff. 106 Ebd., S. 27.
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tät widerspiegeln die Beobachtungen mal mehr mal weniger auch den kulturkritischen Zeitgeist. Pfarrer Paul Rieger musste sich bei einer ScharnowSonderzugreise nach Rimini der Zudringlichkeit einer dreißigjährigen Sekretärin erwehren. Sie fuhr, wie manch andere Gäste auch, nur auf Empfehlung eines Reisebüros nach Rimini und hoffte, dort etwas (Erotisches) zu erleben und sonniges Wetter zu genießen (andere weibliche Teilnehmerinnen wiederum fürchteten die »aufdringlichen« italienischen Männer). Überhaupt befanden sich unter den überwiegend sehr jungen Touristen viele Frauen, die meist in Gesellschaft einer Kollegin oder Freundin unterwegs waren. Sie arbeiteten als Sekretärin, Buchhalterin, Telefonistin oder im Geschäft des Vaters ‒ fast wie in der Weimarer Zeit, nur wäre damals eine Reise nach Italien unerschwinglich gewesen. Allerdings äußerten diese »typischen« Rimini-Urlauber keinerlei Interesse an dem, was klassisch mit der Destination Italien verbunden wird.107 Das stellte sich bei zwei ebenfalls 1962 beschriebenen Rundreisen anders dar. An einer sommerlichen Gesellschaftsreise durch Italien nahmen 28 Frauen und 15 Männer teil, wobei fast die Hälfte der weiblichen Teilnehmer alleinreisend war. Altersmäßig dominierten die mittleren Jahrgänge zwischen 35 und 55 Jahren. Allein fünf der allein reisenden Frauen gehörten den Geburtsjahrgängen 1917-1926 an, auch Wanda Frisch hätte hier hineingepasst. Das berufliche Spektrum der Angestellten unter ihnen war breiter und qualifizierter als in Rimini, aber dennoch typisch: Psychologin, Lehrerin, Erzieherin.108 Einen Frauenüberschuss beobachtete der Psychologe Suitbert Ertel bei seiner Rundfahrt.109 Ähnlich war auch die Berufsstruktur: Angestellte (5), Lehrerin, Fürsorgerin, Heimleiterin, Graphikerin.110 107 Vgl. Rieger, Paul: Urlaub in Rimini. Beobachtungen eines Theologen an der italienischen Adria, München 1962, S. 11ff., (Materialien für Tourismusforschung, hg. vom Studienkreis für Tourismus e.V. Starnberg). 108 Vgl. Molnos, Angela von: Eine Reise durch Italien. Beobachtungen einer Psychologin während einer Gesellschaftsreise, München 1962 (Materialien für Tourismusforschung, hg. vom Studienkreis für Tourismus e.V. Starnberg). 109 Von den 38 Teilnehmern waren 23 weiblich., davon reisten fünf allein, vier mit Freundin oder Freund. Von den Ehepaaren waren eines mit einer verheirateten Tochter und zwei mit einer unverheirateten Bekannten unterwegs. Altersmäßig dominierten die 46-65jährigen. Vgl. Ertel, Suitbert: Romantische Italienfahrt. Beobachtungen eines Psychologen-Ehepaares während einer Gesellschaftsreise durch Italien, München 1962 (Materialien für Tourismusforschung, hg. vom Studienkreis für Tourismus e.V. Starnberg), S. 6f. 110 Ebd.
3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
Drei der vier von ihm vorgeschlagenen Verhaltenstypen lässt er durch Frauen verkörpern, voran den »Erlebenstyp«, für den er den Blick auf eine Stenotypistin lenkt. Das größere kulturelle Interesse der Frauen sieht er besonders bei ihr verwirklicht, die doch keine entsprechende formelle Ausbildung mitbringt. Wie die ambitionierten Angestellten der Weimarer Zeit versuchte sie aber, sich weiter zu bilden, dazu diente ihr auch die Reise: Sie stand bei allen Exkursionen neben dem Führer und notierte sich seine Worte, um sie zu Hause nachzulesen. Und wie ihre historischen Vorgängerinnen musste sie ängstlich darauf achten, dass das Reisegeld reicht, denn auch eine im Voraus bezahlte Gesellschaftsreise birgt noch etliche finanzielle Unwägbarkeiten. Dennoch sei sie »nüchtern und realistisch« geblieben: Sehenswürdigkeiten, die ihren Namen nicht verdienten, wurden entsprechend kritisiert.111 Resümiert man die frühen qualitativen Untersuchungen zwischen 1960 und 1975, so fällt auf, dass die Angestellten, und hier besonders die Frauen, sowohl die »Vergnügungsreisen« wie die »Bildungsreisen« zu dominieren scheinen. Scherrieb ging seinerzeit der Frage nach, ob die von ihm 1973 untersuchten »Studienreisen« tatsächlich »Lehrerreisen« sind, wie landläufig angenommen wurde. Tatsächlich lag der Lehreranteil bei 26 %, doch 57 % der Teilnehmer verfügten »nur« über einen unteren oder mittleren Schulabschluss (mehrheitlich: »mittlere Reife«). Die meisten waren zwischen 1903 und 1923 geboren ‒ es könnten die Angestellten der Zwischenkriegszeit und ihre Kinder sein.112 Fast zwei Drittel der Reisenden waren Frauen und 66 % waren entweder allein oder mit Freunden und Bekannten unterwegs. Dem kontrastierte die Altersstruktur der Bewohnerinnen eines Bungalowdorfes auf Mallorca, die 1967 teilnehmend beobachtet wurden. Sie waren mehrheitlich unter Dreißig und seien ausschließlich am Vergnügen interessiert gewesen (Ausgehen, Tanzen), Sonne und Meer einbegriffen. Auch hier dominierten die Angestellten.113 Ihren Rückblick auf »Frauenarbeit durch drei Jahrhunderte« beendeten Berger und Holler mit einem Kapitel über weibliche Angestellte. »Traumjob Chefsekretärin« ist der einleitende Abschnitt überschrieben, der ein kleinstädtisches Sittengemälde um die Mitte der 1960er Jahre zeichnet. Mädchen 111 112 113
Ebd., S. 30. Vgl. Scherrieb, Der westeuropäische Massentourismus, S. 211ff. Scherrieb überlieferte allerdings, außer bei den Lehrern, nicht die Berufsgruppen. Vgl. Hallwachs, Henning: Urlaub auf Mallorca. Bericht über eine teilnehmende Beobachtung in einem Bungalowdorf auf Mallorca, Starnberg 1967 (Materialien für Tourismusforschung, hg. vom Studienkreis für Tourismus e V. Starnberg), S. 8f., S. 17.
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einer vierten Klasse, von der Lehrerin aufgefordert, ihre Berufswünsche zu äußern, wollten Friseurin, Schneiderin, Verkäuferin oder Säuglingsschwester werden. Eines der Kinder nannte jedoch »Chefsekretärin« als Berufsziel. Das sei »in den Wirtschaftswunderjahren […] für Mädchen ein attraktives und von der Unterhaltungsliteratur her ein zu Lebensglück und -erfolg führendes« Vorhaben gewesen.114 Durch amerikanische Spielfilme vermittelte Bilder zeigten sie als attraktives junges Fräulein mit langen, spitzen Fingernägeln, die ihrem Direktor Kaffee koche, für ihn telefoniere, stenografiere und an der Schreibmaschine sitze mit der Option, von ihm geheiratet zu werden. Hervorzuheben ist auch ein eigenes Büro ‒ das Vorzimmer. Tatsächlich hat diese Beschreibung etwas für sich. Sie markiert eine der wenigen Aufstiegsmöglichkeiten für weibliche Angestellte und ist zudem aus mehreren Gründen attraktiv. Zunächst ist es eine vergleichsweise gutbezahlte Tätigkeit, die definitiv »weiblich« konnotiert ist. Sie passt ins Bild der »mithelfenden« Frau, die den Mann in seinem beruflichen Streben unterstützt. Die Nähe zum Chef verschafft ihr als immaterielle Zugabe nicht nur eine besondere »Geltung«, sondern »beeinflußte Haltung und Bewußtsein«, wie Speier es für die Stenotypistinnen der Weimarer Zeit formulierte.115 Anders als für ihre männlichen Kollegen und anders als für weibliches Verkaufspersonal waren die Aufstiegschancen für Büroangestellte besonders gering. Für die Stenotypistin bürgerlicher Herkunft lag sie darin, »Privatsekretärin« zu werden und damit eine »Vertrauensstellung« zu erobern, die einer Rangerhöhung gleichkam.116 Tatsächlich waren die Angehörigen der Vorkriegsjahrgänge unter den weiblichen Angestellten hinsichtlich ihres sozialen Status besonderen »Mobilitätschancen« unterworfen ‒ eine euphemistische Bezeichnung für entsprechende Hemmnisse. Auch als Töchter aus relativ gutem Hause mussten sie damit rechnen, als Frau eines Arbeiters oder in untergeordneten beruflichen Stellungen zu enden. Gerade weil Frauen, vor allem auch als Angestellte, so wenige berufliche Aufstiegsmöglichkeiten hatten, »eröffnen Heiratsbeziehungen […] bessere Chancen auf sozialen Aufstieg als die eigene Erwerbstätigkeit.«117 Die hier diskutierten Ergebnisse des Mikrozensus 114 115 116 117
Berger, Holler, Von der Waschfrau zum Fräulein vom Amt, S. 182. Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, S. 51 und S. 115. Ebd., S. 70. Aus der »Privatsekretärin« scheint nach 1945 die »Chefsekretärin« geworden zu sein. Handl, Johann: Berufschancen und Heiratsmuster von Frauen. Empirische Untersuchungen zu Prozessen sozialer Mobilität, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 168.
3. Zur Sozial- und Kulturgeschichte des reisenden »Tipp-Fräuleins«
von 1971 betreffen Wanda Frisch unmittelbar. Sie zeigen für entsprechende Geburtskohorten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass selbst kontinuierlich erwerbstätige Töchter von höheren und gehobenen Angestellten (wozu ihr Vater zu rechnen ist), nur mittlere oder einfache Angestelltenpositionen erreichten.118 Wenn aus dem Kind eines Abteilungsleiters eine Chefsekretärin wurde, dann ist das zwar ein sozialer Abstieg, doch hat Wanda Frisch noch Glück gehabt. Ohne akademische Vorbildung hat sie eine angesehene Lebensstellung erreicht. Andererseits haben die eher geringen Bildungsinvestitionen der Frischs in ihre einzige Tochter lebensentscheidende Bedeutung gehabt. Benninghaus hat nach dem Sozio-ökonomischen Panel der Bundesrepublik für Frauen der Geburtsjahrgänge 1900-1920 (zu denen zur Not auch noch Wanda Frisch gezählt werden könnte) die »Bildungs- und Berufsfindungsprozesse […] in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft« untersucht und ist zu einem nicht überraschenden Ergebnis gekommen. Von den neunzehn Frauen mit Realschulabschluss konnten nur sieben »qualifizierte Angestellte« werden, von den dreizehn mit »höherer Schule« waren es vier, dazu kamen zwei Beamtinnen im mittleren und eine im gehobenen Dienst.119 Aber immerhin, die lebenslange Bedeutung des Schulabschlusses, auf die schon Speier hingewiesen hatte, verhinderten ein Dasein ganz unten.
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Ebd., S. 214. Benninghaus, Die anderen Jugendlichen, S. 163. Selbst ein Universitätsbesuch von vier Absolventinnen einer höheren Schule führte nur in ein Berufsleben als »qualifizierte Angestellte« oder in den »gehobenen« Dienst.
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4. »Sie reiste, wie sie lebte«
4.1.
Lebensstil und Habitus
Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Arbeits- und Lebensbedingungen von Angestellten seit Beginn des 20. Jahrhunderts konstituierten Verhaltensdispositionen, deren kulturelle Ausdrucksformen es nun am Beispiel der Urlaubsreisen von Wanda Frisch zu besichtigen gilt. Dazu wird anhand ihrer Art zu Reisen der Habitus als weibliche Angestellte herausgearbeitet und zugleich ihr Reisestil als wichtige, vielleicht prägnanteste Ausdrucksform ihres Lebensstils kenntlich gemacht. Zunächst ist zu klären, in welcher Weise von »Habitus« und »Lebensstil« die Rede sein soll. An der sich in den 1980er Jahren etablierenden westdeutschen Lebensstilforschung hatte die kommerzielle Marktforschung einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Sie begann, wie es Schrage ausdrückte, das alltäglichen Leben von Konsumenten »aufwendig und auch mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung zu erheben, um dem Marketing und der Werbung eine den Wertewandel berücksichtigende Zielgruppenansprache zu ermöglichen.«1 Auch in der Freizeitsoziologie entwickelte sich seinerzeit der Diskurs über ein »qualitatives Defizit«, dem Lebensstilforschung abhelfen sollte.2 Der Lebensstil schien zunehmend allein in der Freizeit seinen Ausdruck zu finden, so zustimmend Opaschowski.3 Die Interessen der öko1 2
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Schrage, Dominik: Der Konsum in der deutschen Soziologie, in: Haupt, Torp, Die Konsumgesellschaft in Deutschland, S. 331. Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in Vester, Heinz-Günter: Zeitalter der Freizeit. Eine soziologische Bestandsaufnahme, Darmstadt 1988, S. 58ff. Selbstverständlich ist hier nur von einer bestimmten Variante soziologischer Tourismusforschung die Rede. Vgl. dazu: Vester, Heinz-Günter: Tourismussoziologie, in: Hahn, Kagelmann, Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie, S. 36-43. Opaschowski, Horst W.: Lebensstile, in: Ebd., S. 175-179. Zur grundsätzlichen Kritik am Narrativ einer Ablösung der Arbeitsgesellschaft durch die Konsumgesellschaft vgl.
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nomisch orientierten Tourismusforschung legten es nahe, diesen Weg weiter zu verfolgen. In der Starnberger Reiseanalyse 1989 wurde, wie später näher erläutert wird, erstmals versucht, Alltagseinstellungen und Reiseinteressen miteinander zu verknüpfen. Die aufwändige Methodik und Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse durch »Tourismuspraktiker« stellten sich als Nachteil heraus, so kritisch Steinecke. Eine theoretisch abgespeckte Variante ist die gängige Erarbeitung von Urlaubertypologien, die auf der Basis von Reisemotiven ermittelt werden.4 Über Reisestile als Teil des Lebensstils wurde im Gefolge der Karriere dieses Begriffs verschiedentlich nachgedacht. Mitte der 1990er Jahre diagnostizierte Georg seitens der Soziologie ein geradezu »inflationäres Interesse« an der Lebensstilforschung, getragen von der Hoffnung, »mit diesem Hilfsmittel die divergierenden Theoriestränge des Strukturalismus und Interaktionismus […] zu integrieren.« Für die Tourismusforschung bedeute dies, dass das »spezifische touristische Handeln« in einen ganzheitlichen Lebensstil eingefügt werden müsse, um seine soziale Bedeutung kenntlich zu machen. Alltagsund Urlaubsverhalten dürften nicht rigide getrennt werden.5 Genau das, nur viel kürzer ausgedrückt, wollte eine intime Kennerin unserer Protagonistin mitteilen, als sie deren Reisestil beschrieb: »Sie reiste, wie sie lebte.« Eine Prüfung soziologischer Theorien auf ihre Brauchbarkeit für die Tourismusforschung unternahm auch der Soziologe Vester im ersten Band der Zeitschrift Voyage, die ein »länder- und fächerübergreifendes Forum« bieten
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Bänziger, Peter-Paul: Von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft? Kritik eines Leitmotivs der deutschsprachigen Zeitgeschichtsschreibung, in: Zeithistorische Forschungen 12(2015), S. 11-38. Steinecke, Tourismus, S. 66. Vgl. auch: Schrand, Axel: Urlaubertypologien, in: Hahn, Kagelmann, Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie, S. 547-553. Georg, Werner: Lebensstile in der Freizeitforschung ‒ ein theoretischer Bezugsrahmen, in: Cantauw, Christiane (Hg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster/New York 1995, S. 19f. Diese Perspektive hat wenig gemein mit der Identifizierung des Touristen als »Leitfigur der Moderne«, wie ihn Köstlin im Anschluss an Bauman im selben Band vorgenommen hat. Vgl. Köstlin, Konrad: Wir sind alle Touristen ‒ Gegenwelten zum Alltag, in: Ebd., S. 1. »Auch der Tourist weiß, daß er dort, wo er landet, nicht lange bleiben wird. Diese Bemerkung gilt heute nicht nur für das Reisen, sondern sie gilt für das Leben überhaupt«. Allerdings meinte Bauman gerade nicht die »modernen« Lebensformen, sondern »postmoderne«. Vgl. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
sollte und gleich die Probe aufs Exempel lieferte.6 Davon könnten beide Seiten profitieren, die Soziologie, indem sie ihre Theorien an einem von ihr bisher kaum beachteten, aber doch unbestreitbar wichtigen »Phänomenbereich« überprüfen könne und die Tourismuswissenschaft, die bisher »ziemlich theoriearm« daherkomme.7 Nur nebenbei, diese Art von Klagen hat Tradition. So begann Knebel seine im Jahre 1960 veröffentlichte berühmte Dissertation mit der Feststellung: »Das geringe Interesse der Sozialwissenschaften am Urlaub ist umso erstaunlicher, wenn man an die sprichwörtliche ›Reisewelle‹ unserer Gegenwart denkt.«8 Inzwischen wurden zahlreiche soziologische Theorien genutzt, um dem Phänomen des Tourismus beizukommen. Heuwinkel hat erst kürzlich einen Überblick über Theorien und Methoden, über soziologische Zugänge und Anwendungsfelder vorgelegt.9 Doch zurück zu Vester, der seinerzeit die Vorschläge von Bourdieu für besonders geeignet hielt, weil sie »Brücken zwischen der Mikro- und der Makrosphäre des Sozialen, zwischen den Akteuren und Strukturen der Gesellschaft« bauen.10 Er entwickelte ein ganzes Bündel von Möglichkeiten, das Konzept des Habitus im Sinne Bourdieus auf den Tourismus anzuwenden. Der Versuch, einen »touristischen Habitus« zu etablieren, soll hier allerdings nicht aufgegriffen werden. Es geht ja nicht darum, das Touristische zu habitualisieren, sondern zu zeigen, wie sich ein Habitus im und mittels des Touristischen entfaltet. Der Rückgriff auf Bourdieu kam nicht von Ungefähr. Die Diskurse über die Lebensstilforschung, ihren Sinn und ihre Grenzen wurden maßgeblich durch die ablehnende oder zustimmende Rezeption seines Werkes geprägt.
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Spode, Hasso: Zur Einführung: Wohin die Reise geht, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1(997), S. 11. Vester, Heinz-Günter: Tourismus im Lichte soziologischer Theorie. Ansätze bei Erving Goffman, Pierre Bourdieu und der World-System-Theory, in: Ebd., S. 67. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. V. Kritisch reflektiert auch Gyr diese Behauptung unter Verweis auf soziologische Tourismuskonzepte aus den 1960er und 1970er Jahren. Vgl. Gyr, Ueli: Reisekultur und Urlaubsanalyse. Standorte und Forschungstrends in neueren Untersuchungen, in: Lauterbach, Burkhart (Hg.): Auf den Spuren der Touristen. Perspektiven auf ein bedeutsames Handlungsfeld, Würzburg 2010, S. 15. Heuwinkel, Tourismussoziologie. Vester, Tourismus im Lichte soziologischer Theorie, S. 74.
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Das gilt vor allem für Die feinen Unterschiede.11 Die Entsorgung der Klassengesellschaft durch den mainstream westlicher Soziologen hatte Bourdieu gerade durch die Einbeziehung kultureller Phänomene und ihrer Deutung als Herrschaftsverhältnisse nicht mitgemacht. Galt es einige Zeit als ausgemacht, dass die ungleiche Verwendung von Ressourcen bedeutsamer sei als ihre ungleiche Verteilung, so Otte, zeige sich darin nur ein besonderer, die Nachkriegsjahrzehnte glorifizierender Blick seitens der »akademischen Soziologie«.12 In der Lesart von Müller fand in den 1980er Jahren auf deutscher Seite eine heftig geführte Diskussion »zwischen klassischen Schichtungs- und Mobilitätsforschern auf der einen Seite und den Vertretern der so genannten Individualisierungsthese auf der anderen Seite […]« statt. Bourdieus Konzept schien es zu erlauben, eine Brücke zu schlagen.13 Heute ist die Anerkennung sozialer und kultureller Ungleichheit und die »Rückkehr der Klasse« mit einer Renaissance des Oeuvres von Bourdieu verbunden. Allerdings hat Bourdieu die Urlaubsreise weder in seine theoretischen Überlegungen noch in seine empirischen Analysen einbezogen. Dabei führt sie, gleich einem »zweiten Leben auf Zeit« doch all jene Momente, die ihn als Ausdrucksformen von Lebensstilen interessieren, wie in einem Mikrokosmos zusammen: Essen und Trinken, Kunst und Unterhaltung, Sport und Fotografieren. Ein weites Feld von Distinktionsmöglichkeiten ist eröffnet, von der Wahl des Verkehrsmittels, des Reiseziels und der Unterkunft bis hin zur konkreten Gestaltung des Urlaubstages und dem Prestigegewinn, der im sozialen Umfeld zu Hause zu erzielen ist. Diese Abstinenz teilte Bourdieu mit dem Gros der Freizeit- und Konsumforschung, die dieses Feld erst spät entdeckt haben.14 11
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Zur Rezeption vgl. Bremer, Helmut; Lange-Vester, Andrea; Vester, Michael: »Die feinen Unterschiede«, in: Fröhlich, Gerhard; Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Sonderausgabe, Stuttgart/Weimar 2014, besonders S. 305ff. Otte, Gunnar: Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? Eine Auseinandersetzung mit aktuellen Bilanzierungsversuchen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57(2005)1, S. 4. Letzteres ist ein Resümee von Eribon. Er erinnert an die Vorwürfe, denen sich sowohl der Engländer Hoggart wie der Franzose Bourdieu angesichts ihres Festhaltens an der Evidenz von Klassenteilung ausgesetzt sahen. Vgl. Eribon, Didier: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Frankfurt a.M. 2017, S. 216ff. Müller, Hans-Peter: Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Frankfurt a.M. 2014, S. 143f. Für die Konsumgeschichte vgl. Spode, Hasso: Zur Geschichte der Tourismusgeschichte, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 8(2009), S. 17. Für die Freizeitfor-
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Ungeachtet dieses Desinteresses erweisen sich seine Theorie des Habitus und der Lebensstile und seine Überlegungen zu den verschiedenen Fraktionen des Kleinbürgertums als sehr brauchbares Instrumentarium, um die Reisebiografie von Wanda Frisch als soziales und kulturelles Gebilde zu interpretieren. Dafür spricht auch das Votum eines der »kulturalistischen Wende« in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte kritisch gegenüberstehenden Historikers wie Wehler. Er attestierte Bourdieus Konzept des Habitus, es handele sich nicht nur um ein heuristisches Instrument, sondern um eine »anspruchsvolle Theorie. Ihr Ziel ist es, Kultur und Sozialstruktur, individuelle und klassenspezifische Prägung und soziale Praxis miteinander zu verbinden, wie es die Doppelnatur der sozialen Welt verlangt.«15 Sozialgeschichte und Kulturanalyse könnten so »versöhnt« werden. Über die wissenschaftsgeschichtlichen Wurzeln und die Adoption des Habitus durch Bourdieu liegt inzwischen eine umfangreiche Sekundärliteratur vor.16 Müller sieht ihn in der Traditionslinie des von Marx gebrauchten Begriffs der »Charaktermaske«, mit dem der Zusammenhang von Struktur und Handeln vermittelt werden sollte.17 Die den Habitus prägenden Dispositionen sind danach die klassenspezifisch einverleibte Geschichte der sozialen Akteure. Sie sind ein systematischer Reflex gesellschaftlicher Machtverhältnisse, der sozialen Lage und Lagerung im gesellschaftlichen Raum, wie sie sich in konkreten Lebensbedingungen wiederfinden. Seine Leistung besteht in der »Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen.«18 Diese sind in sich kohärent, wirken nach außen abgrenzend und repräsentieren einen Lebensstil, der sich »von den konstituierenden Praxisformen eines anderen Lebensstils« systematisch unterscheidet.19 Am Ende er-
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schung ist Vester selbst ein gutes Beispiel. In seinem Klassiker »Zeitalter der Freizeit. Eine soziologische Bestandsaufnahme« wird »Urlaub« nur auf einer Seite erwähnt. Wehler, Hans-Ulrich: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 33. Vgl. das Literaturverzeichnis zu: Rehbein, Boike; Saalmann, Gernot: Habitus (habitus), in: Fröhlich, Rehbein, Bourdieu-Handbuch, S. 110-118. Vgl. Müller, Hans-Peter, Pierre Bourdieu, S. 36f. und auch Müller, Hans-Peter: Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt a.M. 1992, S. 255. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1989, S. 278. Ebd.
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zeugen diese den sozialen Raum mit seinen Positionen und Auseinandersetzungen. Somit ist der Habitus auch »verinnerlichte Gesellschaft«.20 Bourdieu hat den Habitus gern als »Spiel-Sinn« bezeichnet, der es den sozialen Akteuren in unterschiedlichsten, sich verändernden Situationen ermöglicht, adäquat zu reagieren.21 Was etwa sind die angemessenen Strategien und Investitionen, um das eigene Prestige in Szene zu setzen, dauerhaft zu repräsentieren oder zu verteidigen? Diese Art ständig neuer Selbsterfindung hat allerdings ihre Grenzen. Die konkreten Habitusformen sind ihrer Entstehungszeit verhaftet, können deshalb »unzeitgemäß« werden. Diese grundsätzliche Eigenschaft nennt Bourdieu bekanntlich Hysteresis: »Durch ihre dauerhafte Inkorporation passen sich die Dispositionen nur verzögert an veränderte äußere Strukturen an. Der Habitus ›hinkt‹ also den äußeren Entwicklungen immer etwas hinterher, zeigt eine verspätete Anpassung und verrät auch dadurch seine Herkunft.«22 Wenn nun mit diesem Konzept von Habitus und Lebensstil gearbeitet werden soll, ist noch eine grundsätzliche Frage zu klären. Bourdieu hatte wohl Subjekte als Akteure vor Augen, jedoch in Gestalt sozialer Gruppen, nicht als Individuen. Das wird einerseits theoretisch begründet, hängt aber auch mit den in den Feinen Unterschieden ausgewerteten Quellen zusammen. Doch wurde auch mit Fallstudien gearbeitet, deren Ergebnisse ‒ grau unterlegt ‒ dem gesamten Werk Überzeugungskraft und Lebensnähe verleihen.23 Bleiben statistisch generierte Typologien oft akademisch und lassen sich nicht lebensweltlich einordnen, so gelingt das, ob mit Zustimmung oder Befremden, bei der Lektüre der Statements, beim Betrachten von Fotos (scheinbar) sofort. Wanda Frisch soll deshalb als ein solches »Fallbeispiel« behandelt werden. Zur Beschreibung und Deutung ihres Reisestils und ihres Habitus werden sowohl die Ergebnisse des vorigen Kapitels, in dem sie und ihre Familie 20
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22 23
Krais, Beate: Soziales Feld, Macht und kulturelle Praxis. Die Untersuchungen Bourdieus über die verschiedenen Fraktionen der »herrschenden Klasse« in Frankreich, in: Eder, Klaus (Hg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Theoretische und empirische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 53 (Herv. i.O.). Vgl. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 83f. Müller bezeichnet ihn als »stabil und dauerhaft, aber nicht starr und rigide.« Müller, Hans-Peter: Pierre Bourdieu, S. 41. Barlösius spricht von »Abgestimmtheit ohne Abstimmung«. Vgl. Barlösius, Eva: Pierre Bourdieu, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 45. Suderland, Maja: Hysteresis (hystérésis), in: Fröhlich, Rehbein, Bourdieu-Handbuch, S. 127. Vgl. Bremer, Lange-Vester, Vester, »Die feinen Unterschiede«, S. 296.
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vor dem Hintergrund der sozialen und kulturellen Welt von Angestellten im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts porträtiert wurden, wie auch Beispiele und Ergebnisse genutzt, die Bourdieu zur Charakterisierung des französischen Kleinbürgertums verwandte. Die nicht nur chronologische, sondern zugleich generationelle Perspektive einer Familiengeschichte impliziert die Frage nach den Mechanismen sozialer und kultureller »Vererbung«. Die Unfähigkeit wohlhabender bäuerlicher Familien seiner Heimat, ihre gehobene Position in der gesellschaftlichen Hierarchie zu reproduzieren, war für Bourdieu bekanntlich Anlass, über deren Bedingungen nachzudenken. Die jeweilige familienspezifische Praxis generiere sich bei ihm, so Brake und Kunze, auf der Basis eines klassenspezifischen Habitus. »Was überhaupt in den Horizont des Vorstellbaren tritt, was zum Bestand an fraglos akzeptierten Grundüberzeugungen zählt, welche Wünsche als legitim wahrgenommen werden, welche Verhaltensweisen als angemessen betrachtet werden usw., sind alles Fragen, die ihre Antworten durch den Filter des Habitus finden.«24 Die Dialektik von Möglichkeiten und Grenzen erscheint besonders geeignet, um intergenerationelles Verhalten zu deuten. Brake und Kunze fanden in ihrem empirischen Projekt Familien, deren Art kultureller Reproduktion sie mit der Formel »Transmission zum Identischen« bezeichnen konnten.25 Die Beziehungen zwischen Wanda Frisch und ihren Eltern lassen eine solche Herangehensweise als aussichtsreich erscheinen, wobei klar sein muss, dass vor dem Hintergrund sich verändernder Gesellschaften »Identisches« keinesfalls »Gleiches« meinen kann. Wenn der im Historischen Archiv zum Tourismus (HAT) hinterlegte Nachlass dazu genutzt wird, Züge eines Reisestils herauszuarbeiten, der für (weibliche) Angestellte charakteristisch war, dann wird damit zugleich ein Bild des aufstrebenden und sich durchsetzenden Massentourismus in der Bundesrepublik Deutschland gezeichnet und zwar in der Annahme, dass gerade Frauen an seiner Ausprägung beteiligt waren. Mit anderen Worten, es geht um Parallelitäten zwischen Wanda Frischs Reisebiografie und dem geschichtlichen Werdegang eines wichtigen Symbols gesellschaftlichen Fortschritts. Der 24
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Brake, Anna; Kunze, Johanna: Der Transfer kulturellen Kapitals in der Mehrgenerationenfamilie. Kontinuität und Wandel zwischen den Generationen, in: Engler, Steffani; Krais, Beate (Hg.): Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus, Weinheim und München 2004, S. 71. Ebd., S. 79.
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»Mittelstandsbauch« des bundesdeutschen Tourismus in Vergangenheit und Gegenwart legitimiert diese Fokussierung.26 Ihr in sechzehn dick gefüllten Ordnern, siebzehn Fotoalben, Hunderten von Postkarten und zahlreichen Andenken überliefertes Reiseleben ermöglicht sowohl eine Gesamtschau wie die vertiefende Nachfrage anhand charakteristischer Beispiele. Sie betreffen Reisevorbereitungen, Reisegestaltung und das »Nachleben«, d.h. die Jahre währende Auseinandersetzung mit dem Gesehenen und Genossenen. Die entsprechenden Informationen werden in diesem Abschnitt Zeugnissen wie Zeitungsartikeln und Postkarten oder Erinnerungsstücken wie Eintrittskarten, Rechnungen, Souvenirs entnommen. Im Gegensatz zu den Fotoalben und den Urlaubsfotos, die im folgenden Kapitel auch als Quelle gewürdigt werden, werden die Potenzen von Postkarten, Reiseführern oder Souvenirs für die Untersuchung von Urlaubspraxen nicht explizit herausgearbeitet. Deshalb erscheint es an dieser Stelle angebracht, wenigstens kursorisch darauf hinzuweisen. Die Beschäftigung mit Souvenirs ist zwar immer noch eine Domäne der Volkskunde, doch im Zuge einer neuerlichen Aufmerksamkeit für Materielles oder besser für Dinge rücken sie aus der kitschigen Kuriositätenecke, zumal, wenn ein großer geschichtlicher Bogen geschlagen wird.27 Fotos, Ansichtskarten und eine Vielfalt anderer »Reiseandenken« gehören zu den Souvenirs, den Dingen, die »auf Reisen gehen«, nämlich von den Urlaubern mit nach Hause gebracht werden.28 In einem Übersichtsartikel kritisierte Gyr vor wenigen Jahren die stiefmütterliche Behandlung dieses Materials durch die Tourismusforschung, die im Gegensatz zu ihrer Bedeutung stehe. »Das unterschwellig häufig noch immer als ›Un-Ding‹ diskriminierte Souvenir ist von einer negativen (und elitären) Geschmackslogik endlich abzulösen und in seinen Kontexten adäquat zu durchdringen.«29 Dazu ge26 27
28 29
Vgl. Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 156. Vgl. etwa die Beiträge von Schröder, Stefan: Reiseandenken aus Jerusalem. Funktionen sakraler und profaner Dinge nach spätmittelalterlichen Wallfahrtsberichten, in: Bracher, Philip; Hertweck, Florian; Schröder, Stefan (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, Berlin 2006, S. 87-114 oder von Siebers, Winfried: Was vom Reisen übrigbleibt. Bemerkungen zu den Quellen und Sachzeugen adlig-fürstlichen Reisens im 18. Jahrhundert, in: Ebd., S. 115-128. Vgl. Moser, Seidl, Dinge auf Reisen. Gyr, Ueli: Souvenirs. Erfahrungsträger im Spiegel diverser Forschungszugänge, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 111(2015), S. 115. Vgl. auch: Gyr, Ueli: »Alles nur Touristenkitsch«. Tourismuslogik und Kitsch-Theorien, in: Voyage. Jahrbuch für Reise& Tourismusforschung 7(2005), S. 92-102.
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höre es, nicht nur auf die Ding-Seite des Souvenirs zu schauen, die nur eine »unvollständige Dekodierung« zulasse.30 Schon Lauterbach hatte die Seite des Gebrauchswertes stark gemacht: »Welche Gedanken speichern Touristen, welche Erzählungen produzieren sie und welche Objekte benutzen sie, um eigene Reisen nicht zu vergessen oder nicht vergessen zu machen? Und warum tun sie das?«31 Wie Pöttler in einem empirischen Projekt nachweisen konnte, sind die Gebrauchsweisen vielfältig, wobei im vorliegenden Zusammenhang drei Momente hervorzuheben sind: das teilweise sogar intergenerationell Biografische, der an die barocken Wunderkammern erinnernde Aufbau privater Sammlungen und die Rolle von Verpackungen.32 Als Interpretationsrahmen für die Handhabung von Souvenirs durch Wanda Frisch könnte das Changieren zwischen allgemeiner Erkennbarkeit und subjektiver Vorliebe gut funktionieren. Von den Dingen, die sie von ihren Reisen mitgebracht hat, ist nur der kleinste Teil ins HAT gelangt, nämlich vor allem leichte und platzsparende Sachen. Vornehmlich handelt es sich um eine erkleckliche Menge von Einwickelpapier für Würfelzucker aus aller Herren Länder und um Streichholzheftchen aus diversen Hotels, teilweise sorgsam arrangiert und aufgeklebt, teilweise ungeordnet. (Abb. 2) Nicht zuletzt sind auch die überlieferten Tickets, Eintrittskarten oder Prospekte als Erinnerungsstücke einzuordnen. Außerdem ist bekannt, dass sie auf Reisen gern Bekleidungsstücke oder Schmuck eingekauft hat, luxuriöse oder »landestypische« Dinge wie einen Kimono in Japan oder eine Schottenmütze samt passender Tasche in Schottland.33 Mag das Sammeln bedruckter Papierchen seltsam erscheinen, offensichtlich teilte Wanda Frisch solche Vorlieben mit anderen Touristen. Welche Objekte als »touristische Erinnerungsgegenstände« fungieren können, sei im 30 31 32
33
Vgl. Gyr, Ueli, Souvenirs, S. 114. Lauterbach, Burkhart: Tourismus. Eine Einführung aus Sicht der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Würzburg 2006, S. 101. Pöttler, Burkhard: Der Urlaub im Wohnzimmer. Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen ‒ Reiseandenken und Souvenirs, in: Moser, Seidl, Dinge auf Reisen, S. 125 und S. 130. Darauf bezieht sich auch die Kulturkritik des Massentourismus. Die Inferiorität der Touristen, ihre Unfähigkeit, das Wahre und Echte auf Reisen zu erringen, scheint sich in ihnen zu verdoppeln, indem vermeintlich authentische Souvenirs fortan im heimischen Wohnzimmer der Täuschung Dauer verleihen. Schottland scheint im Jahre 1974 noch wenig für die Befriedigung der touristischen Kauflust getan zu haben. Schottenstoffe waren »spottbillig«, ansonsten gab es wenig Gelegenheit zum Geldausgeben. Vgl. Postkarten an die Mutter vom 20.8. und 26.8 1974.
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Abb. 2: Souvenirs
»Zeitalter der fortschreitenden Industrialisierung des Souvenirwesens« letztlich nicht festgelegt, so Lauterbach.34 Besondere Bedeutung erlangten Gegenstände, die man nicht käuflich erwerben könne ‒ Handtücher mit dem Logo des Hotels, Zuckerpapier mit dem Namen eines angesagten Cafés. Letzteres verschafft durch seine zarte, seidige Konsistenz oder durch Aufdrucke in kyrillischen Buchstaben ein ästhetisches Erlebnis und erinnert an den Genuss eines möglicherweise besonders wohlschmeckenden Cafés oder an ein überraschendes Ambiente, an eine Ruhepause für die müde gelaufenen Füße, an die Geräuschkulisse einer belebten Straße. »Eine Stunde ist nicht nur eine 34
Vgl. Lauterbach, Tourismus, S. 106.
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Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß.«35 Das gilt auch für die Zeit der Urlauber. Mithin hätten Souvenirs grundsätzlich das Zeug, die bisher nur bruchstückhaft untersuchten sinnlichen Erlebnisqualitäten der Urlaubsreise (im Vordergrund stehen bisher Sehen und Schmecken) und ihrer Funktion beim »Suchen und Wiederfinden der Zeit« näher zu kommen. Proust legt den Gedanken nahe, dass gerade die bevorzugten »objektiven« optischen Medien wie Fotografie oder Film hier hinderlich sein könnten. Letztendlich verleiht auch die Erwerbssituation den gekauften Souvenirs eine besondere Aura, wenn sie beispielsweise in einem weltbekannten Geschäft erworben wurden. Unübersehbar ist die Bedeutung, die Wanda Frisch den Ansichtskarten beigemessen hat, denn schon als Jugendliche forderte sie ihre Eltern auf, alle aufzuheben. Insgesamt sind 950 Stück überliefert, davon 131 von ihr selbst versandte, die überwiegend an die Eltern gerichtet sind. Interessant ist vielleicht auch die zeitliche Verteilung, die wohl ebenso mit einer »großen Zeit« der Ansichtskarte zu tun hat, welche den Aufstieg des Massentourismus ebenso begleitete wie repräsentierte, wie mit dem Lebenslauf der Protagonistin. 672 Karten von Freunden und Verwandten, aber auch den Eltern und konnten genau zugeordnet werden. Davon stammen 13 aus den 1930er Jahren, 8 aus den 1940ern, 101 aus den 1950ern, 224 aus den 1960ern, 139 aus den 1970ern, 107 aus den 1980ern, 78 aus den 1990ern und 2 aus den 2000er Jahren. Wanda Frisch hat in den Jahren 1937-1939 17 Ansichtskarten geschrieben, 1940/1941 nur 2, in den 1950er Jahren 28, in den 1960ern 57, in den 1970ern 27.36 In der Sammlung der Reiseführer dominiert der Anbieter Polyglott mit 33 Exemplaren, die zwischen 1968 und 1995 erschienen sind. Viele von ihnen enthalten neben Anstreichungen auch Kurzkommentare, in manche wurden zusätzlich Informationsmaterialien oder Zeitschriftenausschnitte eingelegt. Polyglott-Reiseführer zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass sie nur das Notwendigste, dass sie einen Überblick vermitteln. Entsprechend sind
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Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7, Frankfurt a.M. 2004, S. 292. Allerdings befinden im Bestand noch weitere Postkarten, auch einige wenige Briefe sind vorhanden. Sie wurden von Wanda Frisch zwischen den Reisematerialien eingeordnet und dort belassen.
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sie dünn und leicht, passen gut ins Reisegepäck und eignen sich für den Gebrauch unterwegs. Für Reflexionen oder Alternativen bieten sie keinen Raum. Vor allem aber widmen sie sich nicht so ausführlich Kunstmuseen und ähnlichen Hochburgen der Kultur wie andere Anbieter. Wanda Frisch nutzte daneben in geringem Maße auch Reiseführer anderer Verlage, so von Grieben (5 Exemplare) oder Dumont Extra (2 Exemplare). Für einzelne Destinationen (etwa Venedig und Florenz 1957) oder Sehenswürdigkeiten (Eremitage 1983) erwarb sie spezielle Führer. Einige Exemplare, vor allem zu bayrischen Reisezielen oder Lungern in der Schweiz stammen sicher von den Eltern. Prominent mit 15 Exemplaren ist auch die Reisezeitschrift Merian vertreten, mit Destinationen wie Marokko, China, Japan Prag oder Hongkong und Macao, für die es vermutlich noch keine Reiseführer gab. Doch zurück zum Konzept des Habitus. Ein vom Habitus generiertes Verhaltens- und Wertesystem definiert sich, wie erwähnt, wesentlich auch über seine Grenzen, über das, was gerade noch angestrebt oder das, was kategorisch ausgeschlossen wird. Welche Verhaltensweisen galten als »legitim« für Angestellte, zumal für weibliche und ledige? Welche Spielräume eröffneten sich und wurden ausgelotet im Sinne der Annahme, es hier mit den »Konsumpionieren« der Massengesellschaft zu tun zu haben, die aber eben auch in einer gesellschaftlichen Übergangszeit agieren und welche Spannungen ergaben sich daraus? Und nicht zuletzt: In welchem Verhältnis stand der Reisestil von Wanda Frisch zum touristischen Verhalten ihrer Zeitgenossen? Schwieriger gestaltet sich die Analyse der Bewältigung des Verhältnisses von Wandel und Konstanz, weil die Veränderungen sowohl aus ihrem Lebenslauf als auch aus dem Wandel der Reisebedingungen resultieren.37 Diese beeinflussen sich wechselseitig, sind aber auch inkongruent. Das konnte zuträgliche Ergebnisse zeitigen wie beispielsweise die Erweiterung des Spektrums möglicher Reiseziele, aber auch negative. Der Aufstieg des Flugzeugs zum massentouristischen Beförderungsmittel etwa verhagelte Wanda Frisch letztendlich die Lust am Reisen. Neue Generationen von Touristen, mit denen sie das immer weniger luxuriöse Ambiente von Flughafen und Flugzeug teilen musste, waren gar nicht erst in die Lage gekommen, mit der Flugreise
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Mit den drei hier thematisierten Zeitdimensionen im Wandel von Lebensstilen beschäftigte sich systematisch: Wahl, Anke: Die Veränderung von Lebensstilen. Generationenfolge, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt a.M./New York 2003.
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einen Prestigegewinn verbinden. Welchen Sinn machte da noch das extra für Flugreisen vorrätig gehaltene Kostüm? Angesichts der Quellenlage war eine Entscheidung zu treffen, wie methodisch zu verfahren ist. Bourdieu war von der Überlegung ausgegangen, dass für die von ihm beabsichtigte Konstruktion des Raums der Lebensstile (und damit des kulturellen Konsums) für jede Klasse bzw. Klassenfraktion eine »generative Formel des Habitus zu ermitteln« sei, »die die für eine jeweilige Klasse (relativ homogener) Lebensbedingungen charakteristischen Zwänge und Freiheitsräume in einen spezifischen Lebensstil umsetzt.«38 Anschließend wäre auszumachen, wie sich diese Dispositionen auf den verschiedenen Feldern stilistisch verwirklichen und zwar dadurch, dass sie die von diesen angebotenen Möglichkeiten je spezifisch nutzen. Ein solches Feld ist auch der Tourismus, eine Welt, die in ihrer Gesamtheit und Vielfalt dazu einlädt, sich als Lehrer, Sekretärin oder Bäckersfrau auszudrücken. Letztendlich erschien ein Methodenmix angezeigt. Zunächst wird anhand kleiner Miszellen versucht, mit einer Art »dichten Beschreibung« sowohl die Vorlieben wie auch die Grenzen ihrer Reiselust darzustellen. Zum Zweiten: Um das Verhältnis zum Reiseverhalten der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik zu klären und die Rolle der Angestellten zu bestimmen, folgt ein Vergleich ihres Reiseverhaltens mit statistisch ermittelten und nach Möglichkeit sozial konkretisierten Datensätzen. Dazu werden vor allem die Ergebnisse der Reiseanalysen des Starnberger Studienkreises für Tourismus genutzt, die ab 1970 zur Verfügung stehen.39 Um drittens zu zeigen, wie Angestellte die Ausdrucksformen ihres Habitus in Reaktion auf den Wandel in ihren eigenen Reihen, im Verhältnis zu konkurrierenden sozialen Gruppen wie auch im Feld des Tourismus verändert haben, wird ein Vergleich mit Reisestilen vorgenommen, die zwar von derselben sozialen Gruppe geteilt werden, aber von einer anderen Generation und in einem anderen zeitgeschichtlichen Kontext. Das ist zugleich eine gute Gelegenheit, den Hysteresis-Effekt herauszuarbeiten. Es geht einerseits um eine fiktive Nachfolgergeneration und andererseits um den Reisestil der realen Vorgänger, also von Wanda Frischs Eltern.
38 39
Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 332 (Herv. i.O.). Für das vorhergehende Jahrzehnt sei auf folgende Erhebungen verwiesen: Koch, Alfred: Der Urlaubsreiseverkehr. Eine Untersuchung über das Konsumverhalten der Erholungsreisenden 1958, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 7(1959), S. 5-71 und Anhang sowie Hoffmann, Herbert: Tourismus der Deutschen 1969, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 17(1969), S. 68-98.
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4.2. 4.2.1.
Urlaubsfreuden Am Beginn
Die Zeugnisse der ersten dreißig Jahre ihres Reiselebens ließen sich in einem Ordner unterbringen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Reisen mit den Eltern vor allem fotografisch dokumentiert sind, auf andere gibt es nur wenige Hinweise. Nähere Einblicke sind erst ab Anfang der 1950er Jahre möglich und markieren damit eine Zeit größerer Selbständigkeit. Einen Reisepass ließ sich Wanda Frisch 1951 ausstellen. Er belegt, wie sich ökonomische und politische Gegebenheiten auf »nichtgeschäftliches Reisen« ins Ausland auswirkten: Für einen Winterurlaub in Österreich mussten Devisen eingetauscht werden und zwar der Jahreshöchstbetrag von 300 DM. (Abb. 3) In Bregenz wurde eine »Einreisebewilligung in die französische Besatzungszone Österreichs« erteilt, während der Besuch Wiens und der sowjetischen Besatzungszone Österreichs verwehrt blieb.
Abb. 3: Erster Reisepass 1951
Derlei Schwierigkeiten waren bereits Vergangenheit, als sich Wanda Frisch im Spätfrühling 1958 mit der Eisenbahn auf eine klassische Tour
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
durch Norditalien begab: Mailand, Florenz, Padua, Pesaro, Venedig.40 Von der Last oder dem Glück des kulturellen Erbes, dem sie sich damit stellte, ist allerdings in ihren Überlieferungen wenig zu spüren. Vier Eintrittskarten für Museen in Florenz stehen neunzehn Rechnungen aus Bars und Restaurants in Florenz, Padua, Mailand und Venedig gegenüber. Das Kulturelle verbürgt ein beigelegter Zeitschriftenausschnitt: »Michelangelo, Marmor, Mona Lisa« von Franz-Josef Oller.41 (Abb. 4 und Abb. 5)
Abb. 4: Erinnerungen an Venedig 1958; Abb. 5: Eröffnungsveranstaltung Olympische Spiele Rom 1960
Doch bezeugen ihre Postkarten nach Hause, wie bezaubert sie gerade von Florenz war, wo sie nur sehr wenigen Deutschen, aber vielen Engländern begegnete. Das verregnete Venedig, ihre Endstation, scheint dagegen einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen zu haben: »Venedig ist ein Märchen, man weiß nur nicht, ob gut oder schlecht.«42 Nicht uninteressant sind 40 41 42
Es war ihre zweite Begegnung mit diesem Land, die erste führte sie 1955 mit einem befreundeten Ehepaar durch die Schweiz nach Südtirol. Es konnte nicht ermittelt werden, um welche Zeitschrift es sich handelt. Auch das Jahr ist unklar. Postkarte an die Eltern vom 12.6.1958.
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die Mühen, die ihr die Fahrt nach Italien bereitete: ein mit heimreisenden Italienern überfüllter Zug, Doppelbelegung des gebuchten Bettes, eine dreizehnstündige Verspätung. Zuvor hatte Wanda Frisch bereits zweimal, in den Jahren 1955 und 1957, norditalienische Strände angesteuert: Alassio nahe der französischen Grenze und Cattolica, wenige Kilometer südlich von Rimini, wo sie auch ein Jahr später Station machte, um sich von den Strapazen der Stadtbesichtigungen zu erholen. Ganz dem Klischee entsprechend war sie auf der Suche nach dem »ewig blauen italienischen Himmel«, wie sie nach Hause schrieb. Allerdings sind diese Belege für einen Badeurlaub unter südlicher Sonne in ihrer Reisebiografie ziemlich singulär, der mit dem Massentourismus häufig verbundenen Figur des Strandurlaubers, dem es egal ist, wo auf der Welt er sun, sand and sex findet, entspricht Wanda Frisch gerade nicht. Die erste Reise nach Rom galt nicht der Metropole mit reicher Geschichte, sondern den Olympischen Spielen 1960. Ursprünglich als Ausflug einer sportbegeisterten Familie mit Übernachtung in einem Augustinerinnen-Kloster geplant, machte sich Wanda Frisch zuletzt allein auf den Weg. Sie besuchte nicht nur die Eröffnungsveranstaltung am 25. August, sondern zahlreiche Wettkämpfe. Das muss ziemlich teuer gewesen sein. Dagegen ist ein nur sehr schmales kulturelles Rahmenprogramm dokumentiert: Besichtigungen im Vatikan und ein Ausflug ins antike Rom (Tivoli).
4.2.2.
Weltstadt Konsum
Den Reigen der Städte-Kurzreisen eröffnete eine Fahrt nach Paris zu Ostern 1963. Wanda Frisch buchte eine FTS-Pauschalreise, Transport per Liegewagen, Hotelunterkunft, einen Opernbesuch und die Stadtrundfahrt inbegriffen. Natürlich musste auch das berühmte Café de la Paix am Opernplatz besucht werden. An den Kunstschätzen scheint sie weniger Interesse gehabt zu haben als an französischen Nationaldenkmälern wie dem Invalidendom. (Abb. 6) Bisher war sie nur ein wenig weiter als ihre Eltern gereist (Norditalien, Rom), die sie in ihrer Kindheit und Jugend in die Alpenregion und an die Nordseeküste begleitet hatte. Nun war sie zu neuen Horizonten unterwegs und in einer Reiseform, die kaum Tradition hatte ‒ der Kurzreise in bedeutende Metropolen. Im Jahre 1973 war deren Analyse Tourismusforschern im Rahmen der Reiseanalyse eine gesonderte Zählung wert: »Städtekurzreisen gewinnen seit einigen Jahren als neue Spielart des Tourismus zunehmend an
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Abb. 6: Städtereise Paris 1963
Bedeutung«.43 Die Beschreibung »begünstigender Merkmale« für diese Reiseform durch Aderhold liest sich fast wie eine Charakterisierung von Wanda Frisch: Städterin, Angestellte, Besuch einer höheren Schule, ledig, ohne schulpflichtige Kinder, für die eine Städtereise nur eine von mehreren Kurzreisen ist, die die Haupturlaubsreise ergänzen.44 Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass eine andere Klientel das Gros dieser Reisen bestritt. Es sind die jungen »Besserverdienenden«, zu denen sie gewiss nicht gehörte. Andererseits zeigt sich so die »Pionierleistung« der Protagonistin umso deutlicher, zumal sie 1973 schon zahlreiche europäische Metropolen besucht hatte, während in der Untersuchung vor allem an Hamburg oder Berlin gedacht wurde. Ab 1964 wurde für diese Städtetrips, an denen sich bis zu vier Frauen (Freundinnen und Kolleginnen) beteiligten, auch das zeitsparende, aber noch teure Transportmittel Flugzeug benutzt. Nach Paris, Rom und Berlin wurden im Jahre 1966 zu Ostern und Pfingsten sogar zwei Städte besucht: London und Brüssel. Es folgten Wien und Prag, Madrid, Luxemburg, Mailand/Pavia, Monaco. Damit folgte sie einem Muster, dass auch noch im Jahre 1994 Bestand
43 44
Aderhold, Peter: Kurz- und Städtereisen, in: Urlaubsreisen 1973. Auswertungstagung, Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1974, S. 196. Ebd., S. 213.
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hatte: Zusätzliche Urlaubsreisen verteilen sich übers Jahr mit Schwerpunkt auf Weihnachten, Ostern/Pfingsten (und, für sie nicht zutreffend, auf die Herbstferien).45 Bei diesen Reisen durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Die »Damen« buchten jahrelang beim Hapag-Lloyd-Reisebüro in der Abteilung »Reisen à la carte«: Flug, Übernachtung, Stadtbesichtigung, Theateroder Konzertbesuch, alles mit genauem Plan. Jedoch blieb noch Zeit für einen Besuch in namhaften Kaufhäusern, Cafés und der einen oder anderen Sehenswürdigkeit. Das hieß für London 1966: Harrods und St. Paul’s-Cathedral. Im August 1966 würdigte ein längerer Artikel in der FAZ die Royal Festival Hall, in der Wanda Frisch und ihre Begleiterinnen ein Konzert besucht hatten ‒ sie legte ihn zu den Reiseandenken.
4.2.3.
»Schnee mäßig!«
Überblickt man das Reiseleben von Wanda Frisch, will es fast scheinen, als ob der Skiurlaub am wenigsten verzichtbar war. Seit Anfang der fünfziger Jahre bangte sie, wie ihre Postkarten nach Hause erkennen lassen, um Schnee und gutes Wetter in diversen alpinen Wintersportgemeinden. Sie besuchte von Anfang an Orte, die angesagt waren und nicht billigere Nebenschauplätze. Bis zum Ende der 1970er Jahre reiste sie in Gesellschaft befreundeter Paare, in deren Auto sie mitgenommen wurde. Man wohnte in Pensionen. Als sie dann allein unterwegs war ‒ vielleicht fühlten sich die Bekannten zu alt fürs Skifahren ‒ benutzte sie den Zug und leistete sich bessere Hotels. Der letzte Winterurlaub in Winterberg datiert auf das Jahr 1994 ‒ mit einundsiebzig Jahren gehörte sie gewiss zu den ältesten Skifahrern auf der Piste. Es ist nicht bekannt, wie viel Urlaub Wanda Frisch im Laufe ihres Arbeitslebens jeweils erhielt, doch dürften die dafür genutzten drei Wochen in den 1950er Jahren nahezu ihren ganzen Anspruch ausgeschöpft haben. Wanda Frisch bewegte sich auf einem relativ neuen touristischen Feld. Noch am Ende der 1970er Jahre wird in den Analysen des Studienkreises für Tourismus vermerkt, die »Wintersportreise« spiele in Relation zur Gesamtheit der Urlaubsreisen eine bescheidene, aber vor dem Hintergrund des Ansteigens von Reisehäufigkeit und Reiseintensität wachsende Rolle. Nur für eine Minderheit unter den 6 % aller Reisenden, die sie überhaupt durchgeführt hätten,
45
Vgl. Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V.: Urlaub + Reisen 95, Hamburg 1996, S. 78 (im Folgenden Urlaub+Reisen 95).
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
sei sie identisch mit der Haupturlaubsreise gewesen. Für etwa ein Drittel war sie die Zweitreise.46 Winterreise und Wintersportreise waren und sind nicht identisch. Im Jahre 1971 war in den Monaten zwischen November und April überhaupt nur für knapp 8 % der Urlauber Reisezeit, davon besuchte ein reichliches Drittel Wintersportgebiete, während fast ein Fünftel »Bade- und Sommerreisen« in wärmere Gefilde unternahmen.47 Das hatte sich bis 1994 geändert, nun fanden 20 % sämtlicher Urlaubsreisen im Winterhalbjahr statt.48 »Winterurlaub im Schnee« wollten immerhin 17,5 % der befragten 14-29jährigen »bestimmt« in den nächsten drei Jahren machen (aber nur 4,6 % der über Fünfzigjährigen).49
4.2.4.
»Ein wunderbares Land«
Wanda Frisch war eine ehrgeizige Reisende. Das zeigt sich einerseits an der Vielfalt der Reiseziele und andererseits in deren »Exotik«. Während die Mehrheit der Westdeutschen sich noch überwiegend im eigenen Land, Österreich oder Italien aufhielt, steuerte sie mit Schottland, der Krim oder Marokko eher ungewöhnliche Destinationen an.50 Ihr ganzer Stolz waren jedoch Fernreisen in die USA und nach Asien. Fünfmal bereiste sie die USA, das erste Mal 1965, zuletzt im Jahre 1994. Hätte sie sich Mitte der 1960er Jahre an ein Reiseziel gewagt, mit dem etliche
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Vgl. Urlaubsreisen 1978. Analyse des Urlaubs- und Reiseverhaltens der westdeutschen Bevölkerung 1978, Berichtsband. Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1979, S. 126. Vgl. Urlaubsreisen 1971. Analyse des Urlaubs- und Reiseverhaltens der westdeutschen Bevölkerung 1971, Berichtsband. Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1972, S. 42 und S. 49. Der Skilift war dementsprechend eine eher selten genutzte »öffentliche Einrichtung«, wobei Wanda Frischs Altersgruppe mit 6,2 % aber an der Spitze lag. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. Urlaub+Reisen 95, S. 78. Vgl. ebd., Tabellenanhang, S. 43. Noch 1985 hatten erst rund 4 % der Befragten schon einmal Urlaub in den USA gemacht, 11 % in Großbritannien, 6 % in Nordafrika und knapp 2 % in Süd-, Südost- und Fernost-Asien. Vgl. Spohrer, M.: Urlaubsreisen 1986. Kurzfassung, Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1986, S. 39. Im Jahre 1979 waren durch verbilligte Flugreisen in die USA rund eine halbe Million Menschen mehr in außereuropäische Länder gereist, als in den Jahren zuvor. Vgl. Hartmann, Klaus Dieter: Urlaubsreisen 1979, Kurzfassung. Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1980, S. 28.
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Die Touristin Wanda Frisch
Deutsche durch Heiraten deutscher »Frolleins« mit GIs oder durch eine neue Auswanderungswelle aus der kriegszerstörten Heimat zwar verbunden waren, wenn nicht auch für sie durch eine Freundin Sicherheit und Betreuung verbürgt gewesen wären?51 Zudem war eine solche Tour teuer ‒ schon allein wegen der Transportkosten. Die USA fanden als Reiseziel um 1970 ein geteiltes Echo. Während sie für 22 % der 14-19jährigen ein »Traumziel« waren, wurden sie von einem höheren Prozentsatz älterer und weniger gebildeter Menschen grundsätzlich abgelehnt. 29 % der Befragten machten »allgemeine politische Gründe«, also politische Unsicherheit geltend, 27 % meinten, das Land interessiere oder gefalle ihnen nicht. Knapp ein Viertel hob dabei auf Ressentiments der Deutschen gegen die Menschen in den USA ab.52 Die erste USA-Reise 1965 führte Wanda Frisch in eine amerikanische Stadt, die fernab der Touristenrouten lag: Seattle.53 Auf der Vorderseite der Speisekarte ihres Flugzeugs der Pan American prangte ein Gruß aus der Heimat, eine Darstellung des »Castle Neuschwanstein in Bavaria«. (Abb. 7) Zusammen mit der Familie ihrer Freundin wurden Ausflüge in die Umgebung bis nach Vancouver gemacht, dann ging es nach Süden, in den Raum Los Angeles und San Francisco. Von diesen Ausflügen künden zahlreiche Prospekte (meist auf Deutsch) und einige Landkarten. Dann flog Wanda Frisch zu einem Kurzaufenthalt nach New York, wo sie ein Schiff bestieg, um nach Europa zurückzukehren. (Abb. 8 und 9)
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Im Jahre 1970 hatten nur 1 % der Reisenden ein außereuropäisches Urlaubsziel. Vgl. Urlaubsreisen 1970, Analyse des Urlaubs- und Reiseverhaltens der westdeutschen Bevölkerung 1978, Berichtsband. Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1971, S. 44. Der Anteil der Verwandten- und Bekanntenbesuche lag hier besonders hoch, bei 31 %, während er für Besuche in Westeuropa nur bei 11,2 %, in Osteuropa bei 20,5 % lag. Vgl. Urlaubsreisen 1971, S. 47. Vgl. Urlaubsreisen 1970, S. 35ff. Gefragt wurde: »Wohin würden Sie bei einer Traumreise fahren, wenn Geld keine Rolle spielen würde«. In dieser Form wurden »Länderimages« in der Zukunft nicht mehr erfragt. Die Ergebnisse verdienten aber mehr Aufmerksamkeit. So träumte sich die Jugend über die Grenzen Europas hinaus, besonders nach Nordamerika und Australien, im Gegensatz zu den 60-69jährigen, die sich solche Reisen eher leisten konnten. Interessant ist die Begründung für eine Ablehnung von Italien als Ziel einer »Traumreise«: 24 % benannten neben einer Abneigung der Deutschen gegen Italiener, es gebe dort zu viel Tourismus. Die geringe touristische Vermarktung der Stadt zeigt sich in den Ansichtskarten, die eigentlich nur ein Motiv kennen: den Space Needle mit dem Mt. Rainier im Hintergrund.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Abb. 7: Speisekarte Pan American-Flug 1965
Abb. 8: Holland-America Line 1965; Abb. 9: Informationsblatt USA 1965
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Die Touristin Wanda Frisch
An diese Reise erinnern zahlreiche Prospekte, die über das Schiff, die Linie, den Speiseplan des abschließenden »Gala Dinners« und das Unterhaltungsprogramm informieren.54 (Abb. 10) In den folgenden Jahren fügte Wanda Frisch etliche Zeitungsausschnitte hinzu, die sich mit dem Autoverkehr oder den neuen Wolkenkratzern in den USA beschäftigen.
Abb. 10: Speisekarte 1965
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The Ocean Post, eine täglich erscheinende Zeitung für die Passagiere der HollandAmerica-Line informierte am 7. Juli 1965 über westdeutsche Destinationen: »WestBerlin Has Many Attractions« oder »Bavaria and Its Capital Rich In History, Art and Romance«. Natürlich durfte auch ein Artikel über den »Romantic Rhin River« nicht fehlen.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Auf den Ansichtskarten an ihre Eltern schilderte sie ihre Eindrücke: Verwundert stellte sie fest, dass ihre amerikanischen Freunde nur zehn Tage bezahlten Urlaub hatten. Einen Ausflug zum Grand Coulee-Staudamm kommentiert sie mit den Worten, er liege in der trostlosesten Landschaft, die man sich vorstellen könne. »Es ist überhaupt fast alles für unsere Verhältnisse unwahrscheinlich.«55 Jedes Motel auf der Reise nach San Francisco habe Fernsehen, Radio, Bad und Toilette gehabt und dazu ein Schwimmbad.56 Das war weit mehr Luxus, als sie zu Hause genießen konnte. Dort wohnte sie zusammen mit den Eltern in einer Zweizimmerwohnung. Das Bad befand sich eine halbe Treppe tiefer und musste mit anderen Mietern geteilt werden. Sie machte Erfahrungen mit dem Farbfernsehen, durfte in Hollywood bei einem Filmdreh zusehen und in der auch von den »Stars« besuchten Kantine essen. In Disneyland schwirrte ihr der Kopf angesichts der vielen Attraktionen. Dennoch empfand sie schließlich San Francisco als Höhepunkt ihrer Reise: »San Francisco ist einmalig schön. Es ist ein wunderbares Land.«57 Schon fünf Jahre später machte sie sich erneut auf den Weg in die USA, dieses Mal in Begleitung eines Teenagers aus ihrem Freundeskreis. Sie war zum Reisebüro Burkhardt gewechselt, das die Tour vorbereitete. In einem vierseitigen Reiseplan ist nachzulesen, wo genau man sich aufhielt und wie die Tage gestaltet waren. Die ersten Schritte ohne den Schutz der befreundeten Familie wagte Wanda Frisch mit Hilfe einer geradezu minutiösen Vorbereitung, in der nichts dem Zufall überlassen blieb. Die Flugreise führte von Köln über London wiederum nach Seattle, wo die beiden Reisenden etliche Tage bei der Freundin Station machten. Von dort ging es nach San Francisco, Santa Anna, Las Vegas, in den Grand Canyon und über Phoenix nach New York. In San Francisco steuerte Wanda Frisch in etwa dieselben Sehenswürdigkeiten an wie 1965, doch dann betraten die beiden Reisenden Neuland ‒ allerdings ein touristisch durchkomponiertes. Die achttätige Rückfahrt führte auf dem damals größten italienischen Passagierschiff nach Genua,58 wobei die Passage im Mittelmeer zu einer Art 55 56 57 58
Postkarte vom 14.6.65. Postkarte vom 20.6.65. Postkarte vom 29.6.65. Vom Schicksal dieses Schiffes künden zwei von Wanda Frisch eingefügter Zeitungsartikel. Schon am 6. August 1971 hatte Die Zeit ein Bild des Dampfers gebracht mit der Unterschrift: »Für Italien zu teuer: Luxusdampfer Michelangelo«. In der Welt am Sonntag vom 27. August 1978 wurde es unter dem Titel: »Das traurige Ende der See-Ungetüme« nochmals erwähnt. Danach fuhr die »Michelangelo« nur elf Jahre unter italienischer
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Die Touristin Wanda Frisch
Kreuzfahrt wurde mit Landungen in Südspanien, Cannes und Neapel wurde. Via Frankfurt und Düsseldorf ging es zurück nach Essen. Dafür waren rund 3.500 DM pro Person zu zahlen (Flug in der 1. Klasse), wogegen die Übernachtungskosten für eine Woche an verschiedenen Orten mit 450 DM kaum ins Gewicht fielen. Doch erlebte sie viel Wunderbares, wodurch ihr das Reiseziel USA lieb und Wert wurde. In San Francisco fühlten sie sich »wie Millionäre«. »Das Hotel ist ein Märchenland für sich. Man muss da wirklich sehr dankbar sein, dass man das alles erleben darf.«59 Eher sparsam sind die Kommentare zu Naturschauspielen. Allerdings empfing sie der großartige Grand Canyon mit strömendem Regen und Gewitter, obwohl dort im Jahr nur 20 mm Niederschlag zu erwarten sind. Auch für die Vorbereitung und Durchführung der dritten Reise vom 29. April-28. Mai 1978 in Begleitung einer Freundin und Kollegin wurden die Dienste eines Reisebüros intensiv genutzt. Mitte März erhielt Wanda Frisch von dort einen Zwischenbericht, den Aufenthalt in New York betreffend.60 (Abb. 11) Schließlich machten sie sich mit einem fünfseitigen Reiseplan auf den Weg, Prospekte, Flug- und Bustickets sowie Hotelgutscheine inbegriffen. So belegt diese Reise einerseits gewachsenes touristisches Selbstvertrauen, andererseits war die Eigenverantwortung gering ‒ nur Taxis, Theaterkarten und das Essen waren nicht vorbestellt. Ein erster Höhepunkt war der Besuch in New York, wo die beiden Reisenden von einem wahren Theaterrausch erfasst wurden. Natürlich musste auch Tiffany’s ein Besuch abgestattet werden. Per Greyhound wurden Ausflüge nach Washington D.C., nach Buffalo und zu den Niagara-Fällen unternommen.
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Flagge zur See und wurde dann als stationäre Unterkunft für seine Offiziere und deren Familien an den Schah von Persien verkauft. Fünf Speiskarten, meist von Ausschnitten aus Michelangelos Gemälden geziert, etliche Tagesprogramme und einige Ausgaben der Bordzeitung Latest News zeugen von den Unterhaltungs- und Informationsmöglichkeiten auf See. Postkarte vom 16.8.70. Der Partner des deutschen Reisebüros in New York hatte seinerseits ein zweiseitiges Schreiben verfasst. Es enthält Informationen über das Hotel, über Preise und Programme der Musical-Theater am Brodway und Verhaltensregeln: »Therefore, should the wish to go outside the hotel for dinner or an evening walk, they will not be on deserted streets.« Schreiben von Roy C. Mayer an Heinrich & Co. in Essen vom 28. Februar 1978.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Abb. 11: Informationsbrief des Reisebüros
Wie dem Reiseplan und den regelmäßigen Postkarten an die Mutter (insgesamt sechzehn Stück, dazu kamen Telegramme und Telefongespräche) zu entnehmen ist, ging es dann über Seattle und die Westküste nach Mexiko. In San Francisco bemerkte Wanda Frisch nicht nur, dass viele alte Hochhäuser inzwischen durch neuere und höhere ersetzt worden waren. Von der »Kleidung bis zum letzten Klimbim« erschien ihr dort alles »sehr elegant«, man könnte »die ganze Stadt leerkaufen«.61 Mit dem Abstecher nach Mexiko erfüllte sie sich einen Traum, den sie schon zu Beginn ihrer Reisekarriere gehegt hatte. Konkret scheinen die Pläne 61
Postkarte vom 9.5.78 an die Mutter.
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Die Touristin Wanda Frisch
geworden zu sein, als in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele von 1968 auf den Reiseseiten der Tagespresse öfter über Mexiko berichtet wurde. Seit 1965 sammelte Wanda Frisch entsprechende Berichte. Das Interesse blieb auch nach der Reise lebendig, die letzten archivierten Zeitungsausschnitte stammen von 1991. Ein »Itinerary specially prepared for Mrs. F.«, ausgestellt durch ein mexikanisches Reisebüro, sorgte für genaue Planung und Sicherheit. Von Acapulco ging es nach Taxco und dort zu einer Hazienda, die umgeben von Park und Wäldern mitten in einer Wüste gelegen war ‒ ein Landschaftserlebnis, das sie nach Hause vermeldete. (Abb. 12) Diese ausgiebige Reise der Mittfünfzigerin, wohl der Höhepunkt in ihrem Reiseleben wie auch der Besuche in der »Neuen Welt«, beschloss ein Aufenthalt in New Orleans, das lange in Erinnerung blieb, wie zahlreiche Zeitschriftenausschnitte aus späteren Jahren belegen.
Abb. 12: Itinerary Mexico
New York gehörte zweifellos zu den Sehnsuchtsorten von Wanda Frisch. Im Jahre 1989 besuchte sie die USA zum vierten Mal. Doch Zeitungsausschnitte von der Eröffnung des Trump-Towers (!) 1983 und aus dem Jahre 1988 bezeugen, dass sie sich in der Zwischenzeit regelmäßig über Veränderungen informiert hatte. Gebucht wurde die Reise beim Reisebüro Heinrich & Co, dessen Stammkundin sie inzwischen geworden war. Alles, von den Theaterkarten bis zur Übernachtung wurde vorher bezahlt ‒ in diesem Falle sogar mit der persönlichen Kreditkarte einer Mitarbeiterin. Wanda Frisch leistete sich einen Aufenthalt im renommierten Marriott Marquis Hotel, natürlich am
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Broadway gelegen. Dann reiste sie nach Seattle, von dort nach Chicago, wo sie im Ritz Carlton abstieg. Da die Mutter inzwischen verstorben war und Wanda Frisch anscheinend die Lust verloren hatte, sich von jedem ihrer Schritte und Erlebnisse ein kleineres oder größeres Andenken aufzubewahren, erscheinen sowohl Reiseverlauf wie Erinnerung nüchtern, eine Quintessenz dessen, woran sie interessiert war: die Freundin zu besuchen und neben New York eine weitere bedeutende Stadt.62 Ähnliches gilt auch für die letzte Reise im Jahre 1994. Dieses Mal stand Boston auf dem Reiseplan, dann Seattle und zum guten Schluss New York. Die Übernachtung im Mayfair Hotel war wohlüberlegt, denn dort befand sich eines jener Restaurants, in denen man sich in New York »zum Tee« traf, wie eine Kolumnistin zu berichten wusste.63
4.2.5.
»Aber Goethe hat niemals Hongkong gesehen!«
Im Dezember 1971 veröffentlichte Dieter Vogt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Bericht über seine »erste Begegnung mit Hongkong«.64 Nur wenige Wochen zuvor hatte Wanda Frisch diese Stadt bereist. Vogt schrieb: »Aus dem Traum wird ein Rausch. Hongkong sehen und möglichst nicht sterben: das Erlebnis lohnt höchste Spesensätze.« Dem fügte sie eine Fußnote hinzu: »Ich habe gesagt: ›Goethe sagt, Neapel sehen und sterben!‹ Aber Goethe hat niemals Hongkong gesehen!« (Abb. 13) Ihre Reise stand unter einem besonderen Stern. Offensichtlich hatte die Deutsche Lufthansa für den Jungfernflug des neuen Jumbo-Jet einen Platz für Vertreter der international agierenden Firma Heinrich Koppers GmbH reserviert. Er fiel, sicher auf Betreiben ihres Chefs, an Wanda Frisch. Dieses triumphale Ereignis wurde von ihr selbstverständlich gebührend dokumentiert, von der Ankunft am 7. November 1971 bis zum Abflug nach
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Allerdings verfolgte sie nach wie vor, was auf den Reise-Seiten über »ihre« Städte veröffentlicht wurde: New York, San Francisco, New Orleans, Chicago, Seattle und den Bundesstaat Washington. Vgl. die von ihr einem Hotel-Prospekt beigefügte »Lebens-Art-Kolumne« von Sylvia Poorth aus der WAMS vom 11. Dezember 1994. Vgl. Vogt, Dieter: Die Weiber vom Kam Tiun und andere Kuriositäten, FAZ vom 16.Dezember 1971, Reiseblatt 1f.
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Die Touristin Wanda Frisch
Abb. 13: Flugreise mit dem Jumbo-Jet 1971
Bangkok am 12.11., wo sie am 13.11. den Rückflug antrat.65 Die Freude an diesem Aufenthalt war jedoch nicht ganz ungetrübt. (Abb. 14 und 15)
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Dazu gehören neben entsprechenden Flugplänen eine Ansichtskarte vom Flugzeug, ein Foto der Passagierkabine und ein Plan des Unterhaltungsprogramms an Bord der 747. Es finden sich eine Postkarte von Freunden aus den USA, die von früheren Besuchen in Hongkong erzählen und diverse Zeitungsausschnitte, die darüber berichten, dass die »Traumziele« nun in Fernost liegen und mit dem »Jumbo« für wenig Geld erreichbar sind.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Abb. 14 und 15: Postkarte Hongkong, Vorder- und Rückseite
Ihr besonderes Interesse für Hongkong und Fernost hielt an.66 Mit ihrer langjährigen Reisebegleiterin begab sie sich deshalb vom 3.-29. März 1984 erneut auf eine Asien-Tour, die alles bisher Erlebte übertrumpfen musste. Das begann schon beim Preis ‒ reichlich 10 000 DM. Darin waren neben den Flugtickets auch alle Übernachtungen, Rundreisen und Besichtigungen eingeschlossen, wieder ein Rundum-Sorglos-Paket. Zunächst stand Tokio auf dem Reiseplan mit einigen Ausflügen in die Umgebung, dann Hongkong.67 Dort residierte man im Mandarin Hotel, das in einer Reisebeilage der »Welt am Sonntag« von 1977 zu einem der besten Hotels der Welt erklärt worden war.68 Danach Abflug nach Peking, wo sie sich offenbar einer Reisegruppe anschlossen. Auf der Rückseite des Reiseplans vermerkte Wanda Frisch, was die Reiseleitung zum Besten gab über Bekleidungsgewohnheiten, Geburtenpolitik, Autoverkehr und Hundehaltung, über Mieten und Rentenalter. In und um Peking wurden die bekanntesten Sehenswürdigkeiten besucht, einschließlich der Chinesischen Mauer. Die Speisekarte in ihrem Hotel konnte sie nur als grafisches Dokument rezipieren. (Abb. 16) Nach vier Tagen ging es weiter zu einem Kurzbesuch in Schanghai. Die Asien-Tour wurde von einem siebentägigen Aufenthalt in Thailand (Bangkok und Pattaya) beschlossen. Eine Stadtrundfahrt durch die Haupt66
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Eine Bekannte versorgte Wanda Frisch noch in den 1990er Jahren mit Berichten über einen »wahnsinnig lauten« Urlaub in Hongkong und Thailand und die Probleme bei einer China-Reise. Sie sammelte zahlreiche Zeitungsberichte etwa über den schwierigen Landeanflug in Hongkong, den Machtwechsel 1997, über Japan, Thailand und Veränderungen in China (»Vom Ende der Bescheidenheit«). Die auf der Rückseite des Reiseplans überlieferten Notizen umfassen nur wenige Zeilen. Ein Foto koste 4,50 DM, man sah Leute ohne Schuhe im Schnee laufen und die Preise wären »schwindelerregend«. Welt am Sonntag vom 16. Januar 1977.
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stadt absolvierten sie mit Reiseleitung. Wanda Frisch notierte, der Taxifahrer habe bei »Rot« ein Buch gelesen und 75 % der Thailänder seien arm. Diese Notizen und viele Erinnerungsstücke zeigen, wie fasziniert sie von ihrer AsienTour war. Sie ersetzen die an die Eltern bzw. die Mutter gerichteten Postkarten, die trotz ihrer Konventionalität doch einen Eindruck vermittelten, was im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
4.2.6.
Mut zum Risiko?
Wenn Wanda Frisch die weite Welt bereiste, dann galt das im Freundeskreis als mutig, blieb ein Wagnis. Trotz aller Planung im Voraus ‒ man war meist ohne Reiseführer unterwegs und konnte nicht den Schutz einer Reisegruppe beanspruchen. Das mag für sie einen Teil des Reizes ausgemacht haben, man konnte sich so als kompetente Reisende beweisen. Während der Asienreise, unmittelbar vor dem Besuch in Japan, hatte sich dort ein Erdbeben ereignet, das in deutschen Zeitungen als schwerstes seit sechzehn Jahren qualifiziert wurde. Wanda Frisch hat die entsprechenden Artikel aufgehoben. Sie belegen ihre Bereitschaft, bei Schwierigkeiten nicht gleich zu kneifen. Der zweite Besuch in Hongkong hinterließ eine weniger euphorische Stimmung. In einem Schmuckgeschäft wurden die Reisenden eingeschlossen und mussten befürchten, ausgeraubt zu werden. Die Preise seien fast so hoch wie im Westen und um seine Kamera müsse man bangen. Zwischen Faszination und Unbehagen schwankte sie beim Besuch »kommunistischer« Länder wie China oder der Sowjetunion. In China überwog die Faszination. Mögliche Ängste bei der Ein- und Ausreise erwiesen sich als gegenstandslos. Die Kontrolleure seien freundlich und hilfsbereit gewesen, notierte die Reisende. Auch beim Geldwechsel brauchte man keine Sorge haben, übervorteilt zu werden ‒ zwei bis drei Personen prüften die Unterschrift und zählten das Geld nach. Ein Thema, an dem Asienreisende aber nicht vorbeikamen, waren die ungewohnten Toiletten. In der Sowjetunion scheint dagegen das Unbehagen überwogen zu haben. Dabei spielten politisch motivierte Ängste eine geringere Rolle als ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit, gepaart mit einem daraus entspringenden Anspruchsverhalten. Misstrauisch wurde auf Pünktlichkeit geachtet und darauf, für »sein Geld« auch ein äquivalentes Erlebnis geboten zu bekommen. Bei der Städtereise nach Leningrad und Moskau im Frühjahr 1985 notierte sich Wanda Frisch genau, wie lange das Besichtigungsprogramm jeweils gedau-
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
ert hatte, einmal waren für 45 Minuten Besichtigung 70 DM zu entrichten gewesen. Zudem wurden zwei Verspätungen vermerkt. Derlei Beobachtungen entsprangen einer Erwartungshaltung, die durch die Berichterstattung der Medien vorgeprägt war. Dafür gibt ein von ihr archivierter Beitrag aus der NRZ ein gutes Beispiel. Der journalistische Moskau-Besucher zeichnete das Bild einer Stadt, die zwar um Touristen wirbt (natürlich zählen nur die westlichen), aber auf sie nur mangelhaft eingestellt sei. Die »rote Realität« verdoppelte die gefühlte Fremdheit ‒ Vorstellungen vom zaristischen Russland und das Erlebnis sowjetischer Gegenwart führten zur »Konfrontation mit einer anderen Welt, die dem westlichen Besucher fremd und in mancher Hinsicht einfach unzugänglich bleibt.«69 Die »rote Realität« wurde als das abzuweisende Fremde konstruiert, die man in Kauf nehmen muss, um sich dem »legitimen« Fremden, den Schlössern und Kirchen der Zarenzeit, zuwenden zu können. Dennoch, dass Wanda Frisch diese Reisen überhaupt unternommen hat, reiht sie in die Gruppe derjenigen ein, die schon im Jahre 1970 auf die Frage, wohin man bei einer »Traumreise« auf keinen Fall fahren würde, Zustimmung zur Feststellung »Solch ein Land gibt es nicht« geäußert hatten. Das waren 43 % der Abiturienten/Hochschulabsolventen und 41 % der Befragten mit Mittelschulabschluss. Doch hatten 12 % der Befragten eine Reise in die UdSSR und 5 % eine Reise nach China kategorisch ausgeschlossen. Von diesen nannten um die 40 % politische Gründe, rund 20 % Desinteresse.70 Dass die sozialistische Gegenwart nicht nur uninteressant, sondern auch lästig sein kann, zeigte sich auch in den Hinweisen des Veranstalters einer Schiffsreise »Von den Alpen zum Schwarzmeer«, an der Wanda Frisch im September 1972 teilgenommen hatte. »Wundern Sie sich auch nicht, wenn Sie bei Ihren Ausflugsfahrten oft und sehr ausgiebig Neubauviertel gezeigt bekommen. Man ist sehr stolz auf den Fortschritt und möchte Ihnen etwas davon zeigen.« Und ein Hinweis auf Probleme mit der Pünktlichkeit durfte nicht fehlen: »Ärgern sollten Sie sich auch nicht, wenn einmal das Mittagessen um 12.00 Uhr anstatt um 13.00 Uhr eingenommen wird und die Ansage erst 11.30 Uhr aus dem Lautsprecher ertönt. Nehmen Sie es mit dem gleichen Nitschiwo (Was solls), wie es Ihre Gastgeber tun.«71
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Gerd Wiegand: Moskau ‒ rote Realität, NRZ vom 6. August 1985. Vgl. Urlaubsreisen 1970, S. 37f. Hinweise des Reiseveranstalters Seetours HAPAG-Lloyd, o.J., o. S. Solche Bemerkungen sind umso verwunderlicher, als zur selben Zeit auch viele westdeutsche Städte mit
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Die Touristin Wanda Frisch
Diese Flussreise wurde ab 1971 mit zwei neuen, in Österreich gebauten und unter sowjetischer Flagge fahrenden Schiffen angeboten, die einen höheren Komfort versprachen als ihre Vorgänger. (Abb. 17) Zwischen Mai und September pendelte man zwischen Jalta und Passau. Vor Reiseantritt konnte Wanda Frisch aber in der Welt am Sonntag lesen, dass trotz der neuen Schiffe von Kreuzfahrt-Luxus wenig zu spüren sei und es an abendlicher Unterhaltung mangele.72 Sie flog zunächst über Wien nach Budapest, wo sie im bekannten Hotel Gellert abstieg. Von dort führte der Weg über Kiew auf die Krim, wo ein Tag zur Besichtigung von Jalta zur Verfügung stand. Nach einem Schiffstransfer zur Donaumündung begann die siebentägige Rückfahrt nach Wien über Galati (Rumänien), Russe (Bulgarien), Orschewo, Belgrad (Jugoslawien) und Bratislava (ČSSR) mit entsprechenden Ausflügen vor Ort.
Abb. 16: Speisekarte »Peking-Hotel« 1984; Abb. 17: Werbematerial Morflot 1972
Ohne Zweifel und trotz aller Kritik ‒ diese Reise war ein weiterer Höhepunkt in der Reisebiografie von Wanda Frisch, auf die sie sich per Zeitungslektüre intensiv vorbereitet hatte. Sie war begehrt ‒ die Nachfrage überstieg das Angebot. Zudem umgab Kreuzfahrten zu dieser Zeit noch die Aura des Luxuriösen, verständlich bei einem Preis von bis zu 1700 DM allein für die Flussfahrt. Die angesteuerten Ziele konnten als exotisch gelten, obwohl eine Reise auf der Donau (etwa Richtung Osmanisches Reich) oder nach Jalta für die Oberschichten vergangener Zeiten etabliert war. Nun aber war die Donau
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ihren Neubauten warben, wie ein Blick in zeitgenössische Prospekte belehrt. Die Stadt Esslingen etwa präsentierte sich so 1976 unter dem Slogan »Esslingen sympathisch«. Welt am Sonntag, Beilage »Modernes Reisen« vom 4. Juni 1972.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
ab Wien zum »roten Strom« geworden und an den Rand der westeuropäischen touristischen Welt gerückt.73
4.3.
Eine Pionierin des Massentourismus?
Um diese Frage zu klären, wird im Folgenden der Versuch unternommen, das Reiseverhalten von Wanda Frisch im Kontext der seit 1970 vorliegenden Ergebnisse repräsentativer Erhebungen zum Urlaubs- und Reiseverhalten der Bundesbürger zu interpretieren.74 Selbstverständlich ist es nicht möglich und beabsichtigt, die Ergebnisse statistischer Untersuchungen mit der Reisebiografie von Wanda Frisch in toto zu vergleichen. Zwar taucht unsere Protagonistin theoretisch im Repräsentativen auf ‒ als Frau, als Angestellte, als Reisende mit bestimmten Zielen und deren Rangordnung, als Vertreterin von Altersgruppen, als Nutzerin von Verkehrsmitteln und Unterkunftsmöglichkeiten, als Individual‒ oder »Veranstalterreisende« mit einem spezifischen Urlaubsbudget und was das Interesse der Reisestatistiker sonst noch erregt. An dieser Stelle geht es aber nur darum, die vorhandenen Daten heranzuziehen, um das Reiseleben der Protagonistin in den zeitgeschichtlichen, hier tourismusgeschichtlichen Kontext einzubetten. Dazu sind einige methodologische Bemerkungen notwendig. Genutzt wurden ausschließlich die Berichtsbände der entsprechenden Untersuchungen des Studienkreises für Tourismus e.V. in Starnberg für die Jahre 1970, 1971, 1978 und 1989 bzw. rückblickende Zusammenfassungen sowie, für das Jahr 1994, die entsprechende Erhebung der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (F.U.R.). Dieser Zeitraum umfasst die Jahre, in denen unsere Protagonistin auf dem Höhepunkt ihrer Reisebiografie angekommen war. Die statistischen Daten ermöglichen es, ihr Reiseverhalten auf unterschiedlichen Ebenen einzuordnen: im Vergleich zum Durchschnitt der verreisenden Urlauber, im Vergleich zu anderen Angehörigen derselben sozialen Gruppe, 73 74
Die Zeit vom 30. Januar 1970. Jüngst reflektierte Villinger darauf, ob es statthaft sei, den aus »qualitativen Quellen gewonnenen Erkenntnissen eine quantifizierende Relevanz« dadurch zu verleihen, dass »sozialwissenschaftliche Deutungsangebote« genutzt werden. Dabei wurde auf einen entsprechenden Diskurs unter Zeithistorikern verwiesen. Clemens Villinger: Rezension zu: Voges, Jonathan: »Selbst ist der Mann.« Do-it-yourself und Heimwerker in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2017, in: H-Soz.-Kult, 23.02.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25903 (Zugriff am 24.2.2018).
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im Vergleich zu ihrer jeweiligen Altersgruppe oder anderen Altersgruppen. Nicht zuletzt interessiert, wo sie jeweils mit der Wahl ihrer Reiseziele stand. Entsprechend wurden die Beispiele aus dem statistischen Material ausgewählt ‒ der Bezug zu Wanda Frisch sollte erkennbar sein, ohne dass ständig auf sie verwiesen wird. Die Darstellung erfolgt als Fließtext. Das ist zwar nicht gerade übersichtlich und gut lesbar, aber eine Tabellenform ließ sich nicht realisieren. In diesem Abschnitt geben Ziele und Werkzeug der Tourismusforscher letztlich die Richtung vor. So wird zwischen Reiseintensität und Reisehäufigkeit unterschieden. Zur Messung der Reiseintensität werden nur Urlaubsreisen von mindestens 5 Tagen gezählt, während bei der Reisehäufigkeit auch Kurzreisen (3-5 Tage) ins Gewicht fallen. Nicht unproblematisch gestaltete sich die soziale Identifizierung von Wanda Frisch als Angestellte. Die benutzten Quellen arbeiten teilweise nach dem »INFRATEST-Punktgruppen-Schichtungsverfahren«.75 Hier erhalten alle Haushalte in den drei Bereichen Einkommen, Beruf und Schulbildung Punkte, die addiert werden und im Ergebnis zu fünf Schichten führen. Der Einfachheit halber wurde Wanda Frisch zum »Haushaltungsvorstand« gemacht, obwohl sie nach 1970 noch Jahre mit ihrer Mutter zusammenlebte. Über ihr Einkommen ist nichts bekannt und es ist ungewiss, ob sie das Abitur gemacht hat oder als Absolventin der »Mittelschule« gelten muss. Beruflich gesehen steht sie zwischen Schicht II (leitende Angestellte) und III (qualifizierte Angestellte, z.B. Buchhalter und Kassierer).76 Doch findet die Schichtzuordnung in den Quellen nicht systematisch statt, oft wird nur zwischen »leitenden« und »sonstigen« Angestellten unterschieden, zuweilen werden Angestellte zusammen mit den Beamten ausgewiesen. Auch hinsichtlich des wichtigen demografischen Faktors »Alter« wird in den
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»Ordnungselement des Schichtsystems ist Sozialprestige, in dem sich zum großen Teil objektive Tatbestände widerspiegeln: wirtschaftliche Lage (Haushaltseinkommen), Berufszugehörigkeit (Stellung im Beruf des Haushaltungsvorstandes) und kulturelles Niveau (Schulbildung des Haushaltungsvorstandes).« Urlaubsreisen 1971, S. XVI. Bei ihrer Zuordnung wirkt sich auch die vermeintliche Geschlechtsneutralität des Modells aus. Die schlechteren schulischen Möglichkeiten, beruflichen Aufstiegschancen und Einkommensverhältnisse von Frauen würden diese in eine niedrigere Kategorie verweisen, als ihnen angesichts ihrer Herkunft und des Milieus zustehen würde, in dem sie ihr Leben verbringen. Wanda Frisch in Schicht III zusammen mit Facharbeitern oder in untere Angestelltenverhältnisse aufgestiegenen Arbeitertöchter einzuordnen, wie es »objektiv« angezeigt ist, wäre deshalb verfehlt.
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Berichtsbänden unterschiedlich verfahren. Manchmal werden die Altersgruppen nach Lebensjahrzehnt angegeben, manchmal zu Gruppen wie »50+« zusammengefasst.77 Im Jahre 1989 wurde ein weiteres Differenzierungsmerkmal eingeführt: nach Life-Style-Typus. Man habe damit Überlegungen aufgegriffen, »die seit einiger Zeit innerhalb der (angewandten) Marktforschung, aber auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung erörtert und diskutiert werden.«78 Als Arbeitsdefinition wurde eine Begriffsbestimmung von Lohmann genutzt: »Ein Lebensstil ist ein Muster/Set von Einstellungen und Verhaltensweisen, die für das tägliche Leben relevant sind und die bei einer Gruppe von Personen ähnlich sind.« Die Marktsegmentierung mit Hilfe von Lebensstilen erlaube es, »Alltag und Lebenswelt« der Befragten in den Blick zu bekommen und ihr Urlaubsverhalten in den »gesamten Lebenszusammenhang« einzuordnen.79
4.3.1.
Reiseintensität
Wanda Frisch wurde als Protagonistin der vorliegenden Untersuchung ausgewählt, weil sie als Pionierin in einer sozialen Gruppe porträtiert werden kann, die die treibende Kraft im aufsteigenden Massentourismus verkörpert. Deshalb erscheint es wünschenswert, sie sowohl in ihrer »Schicht« zu besichtigen als auch das Verhalten dieser Gruppe im Gesamt der Reisenden zu verdeutli-
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Es wäre angesichts des Anliegens überzogen gewesen, mühsam in die Tabellenbände einzutauchen, um eventuell Genaueres in Erfahrung zu bringen. Das gewählte Verfahren ist hinreichend, um sowohl einen Überblick zu gewinnen und Trends zu identifizieren, aber auch wichtige Einzelheiten herauszuarbeiten. Urlaubsreisen 1989. Analyse des Urlaubs- und Reiseverhaltens der westdeutschen Bevölkerung 1989, Berichtsband. Arbeitskreis für Tourismus e V. Starnberg 1990, S. 743. Ebd., S. 744. Methodisch lehnte man sich weitgehend an entsprechende Fragen in der Gruner + Jahr-Untersuchung »Dialoge 2« an und folgte den Selbsteinschätzungen der Befragten. Daneben wurden unter dem Titel »Reisephilosophie« generelle Einstellungen zum Urlaub und zur Urlaubsreise untersucht. Es wurden folgende Lebensstiltypen ermittelt: 1. Die anspruchsvollen, mobilen Genießer, 2. Die passiven, häuslichen Unauffälligen, 3. Die sozial, kulturell und beruflich Engagierten, 4. Die fremdbestimmten Familienorientierten, 5. Die egozentrischen Freizeitorientierten, 6. Die gesundheitsund umweltbewussten Arbeitsorientierten, 7. Die biederen, fleißigen Genügsamen. Alle liegen zwischen 11 und 17,1 %. Vgl. ebd., S. 756.
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chen.80 Der Einfluss von Generation und Lebenslauf wird, wie erwähnt, durch Vergleiche mit der eigenen Altersgruppe bzw. jüngeren oder älteren Reisenden abgebildet. Mit ihrer Reiselust gehörte Wanda Frisch am Anfang ihrer selbständigen Reisekarriere zu einer Minderheit ‒ 1955 begaben sich nur 24 % der erwachsenen Bevölkerung im Alter von 18-79 Jahren auf eine Reise von mindestens fünf Tagen, 1970 lag ihr Anteil bei den über Vierzehnjährigen bei rund 42 % und ihre Zahl hatte sich mehr als verdoppelt. Im Jahre 1989 wurde schließlich die 2/3 Marke überschritten.81 Weniger herausragend, aber immer noch beachtlich stellt sich Reiseintensität unserer Protagonistin im Vergleich zu anderen Angestellten dar.82 Am Beginn der Erhebungen der Starnberger Tourismusforscher zählte Wanda Frisch zu den 40-49jährigen. Diese Altersgruppe verreiste seinerzeit seltener als Jüngere, um diese zwanzig Jahre später mit der höchsten Reiseintensität zu übertreffen. Da war Wanda Frisch schon unter die 60-69jährigen gewandert, die von allen Jüngeren überrundet wurden.83 Die F.U.R. ermittelte schließlich 1994 für die 14-29 jährigen eine Urlaubsreiseintensität von 82 % und bei der Generation 50+ von 72 %. Unverheiratete Senioren über 60 Jahre hatten die geringste Rate, sie lag bei 39 %.84 Während Wanda Frischs Reiseleben hatte also in ihrer jeweiligen Altersgruppe die Reiseintensität zugenommen, ein Vorgang, der von den jüngeren Jahrgängen aber noch übertroffen wurde. Ihr Reiseverhalten verlor so in zweierlei Hinsicht seinen exklusiven Status. Andererseits konnte sie ihn im Alter und als Angehörige der Gruppe unverheirateter Senioren nochmals bestätigen.
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Natürlich würde die Darstellung gewinnen, wenn auch die Nichtreisenden und ihre soziale Zusammensetzung einbezogen würden. Das bedeutet aber eine weitere Verkomplizierung. Die Nichtreisenden tauchen also nur indirekt auf. Urlaubsreisen 1954-1991. Dokumentation soziologischer Stichprobenerhebungen zum touristischen Verhalten der Bundesdeutschen, zusammengestellt von Franz Dundler und Ralf Keipinger. Studienkreis für Tourismus e.V., Starnberg 1992, Tabelle 1 (im Folgenden: Dundler/Keipinger). Immerhin war noch 1971 ein knappes Viertel der Befragten noch nie verreist. Vgl. Urlaubsreisen 1971, S. 16. Die Reiseintensität der Angestellten lag 1970 bei 57 %, wobei sie nur 26 % der Bevölkerung stellten. Noch 1989 wurde ihre Übermacht betont. Vgl. Urlaubsreisen 1970, S. 6 und Urlaubsreisen 1989, S. 21. Vgl. Urlaubsreisen 1970, S. 6; Urlaubsreisen 1971, S. 12, Urlaubsreisen 1989, S. 32. Vgl. Urlaub+Reisen 95, S. 31f.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
4.3.2.
Reisehäufigkeit und Kurzreisen
Im Jahre 1970 waren 85 % der Urlauber nur einmal verreist, 12 % zweimal und 3 % dreimal.85 Acht Jahre später hatten sich die Verhältnisse nur wenig geändert, dagegen wurde 1989 ein Rekordergebnis erzielt: 15 % aller erwachsenen Bundesbürger hatten zwei oder mehr Urlaubsreisen unternommen.86 Häufig waren diese Zweit- und Drittreisen Kurzreisen.87 Es ist durchaus sinnvoll, zwischen der längeren Urlaubsreise und der Kurzreise zu unterscheiden, denn im Jahre 1970 hatten die meisten Kurzreisen dem Besuch von Verwandten und Bekannten gegolten (38 %) und waren häufig die einzigen Reisen der Befragten gewesen.88 Wie sieht es bei Wanda Frisch aus? Das Jahr 1965 war ein außergewöhnliches Reisejahr, für das ihr Urlaubsanspruch nicht ausreichte. Die Haupturlaubsreise in die USA dauerte 23 Tage, der Skiurlaub in Tirol ebenfalls. Über Ostern fand ein Kurzurlaub in Berlin statt. Ähnlich opulent war das Jahr 1970 mit einem Winterurlaub von 22 Tagen, drei Kurzurlaubsreisen nach Kopenhagen, ins Sauerland und nach Oberammergau und dem 41tägigen Urlaub in den USA. Auch 1978 verreiste sie mehrfach, über Silvester nach Garmisch, zum 14tägigen Skiurlaub nach Österreich und dann für 30 Tage in die USA und nach Mexico. Daneben unternahm sie dreimal eine Kurzreise im Inland. Die USA-Reise von 1989 (19 Tage) wird zeitlich übertroffen von einer Winterreise in die Schweiz (23 Tage) und umrahmt von zwei Kurzreisen nach Berlin und Bad Zwischenahn. Zuletzt ein Blick auf das Jahr 1994 mit dem nur 16 Tage währenden Urlaub in den USA, einer ebenfalls recht kurzen (7 Tage) Wintersportreise und zwei Kurzreisen innerhalb der Bundesrepublik.
4.3.3.
Reiseziele
Als wichtiger Indikator für Veränderungen im Urlaubsverhalten gilt das Verhältnis der In- und Auslandsreisenden. Im Jahre 1956 verblieb die Mehrheit der über Achtzehnjährigen im Inland (80 %). Bekanntlich kehrte sich das 1968
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Urlaubsreisen 1971, S. 14. Dundler/Keipinger, Tabelle 2. 1970 waren 23 % ,1978 28 %, und 1989 39 %. der erwachsenen Bevölkerung Kurzreisende. Ebd., Tabelle 3. Urlaubsreisen 1970, S. 153.
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um, erstmals stieg der Anteil der Auslandsreisenden auf über 50 % und lag 1970 bei 54 %, 1978 bei 61 % und 1989 bei 71 %.89 Urlaubsreisen ins Ausland gelten als Ausweis von Wohlstand und einer gewissen kulturellen Kompetenz, wie umgekehrt die im Lande verbleibenden unter den weniger Gebildeten, Älteren und wirtschaftlich Schwächeren ausgemacht wurden. Die Zahlen scheinen für sich zu sprechen.90 Die soziale Schicht II hatte im Jahre 1971 den höchsten Anteil an Auslandsreisen, in Schicht III und IV überwogen dagegen noch die Urlaubsreisen im Inland.91 Im Jahre 1971 verreisten nur knapp 16 % aus der Altersgruppe zwischen 40-49 Jahren ins Ausland. Mittelschulabsolventen verbrachten ihren Urlaub etwas öfter jenseits der Grenzen als im Inland, Abiturienten und Hochschulabsolventen dagegen mehr als doppelt so häufig.92 Im Jahre 1994 lagen die Relation zwischen Auslands- und Inlandszielen in der Altersgruppe 50+ bei 56 %:44 %. Am größten war wohl der Unterschied zwischen unverheirateten Senioren (wie es Wanda Frisch war) mit einem nur leicht erhöhten Anteil der Auslandsaufenthalte und jungen Unverheirateten, von denen nur wenige (15 %) ein deutsches Urlaubsziel auserkoren hatten.93 Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass den Westdeutschen ausländische Reiseziele zur Verfügung standen, die keine kulturelle Herausforderung darstellten. Sowohl in der Schweiz wie in einigen Regionen Norditaliens konnte man sich auf Deutsch verständigen. Österreich war nach dem Anschluss 1938 sogar zu einem beliebten Urlaubsland für KdF-Reisende geworden, wie jeder an den entsprechend umfangreicher gewordenen Katalo-
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Dundler/Keipinger, Tabelle 4. Wie immer steckt jedoch der Teufel im Detail. Zahlreiche Auslandsreisen galten dem Besuch von Verwandten und Bekannten, bei Zielen in Westeuropa für 11,2 %, in Osteuropa für 20,5 % und in außereuropäische Ländern für 31 %. Vgl. Urlaubsreisen 1971, S. 47. Zugleich bestand noch ein enger Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der Wahl des Reiseortes. Immerhin 38 % mit einem Haushaltseinkommen von unter 600 DM verreisten zu Verwandten und Bekannten, bei Einkommen über 2000 DM lag diese Quote nur noch bei 11 %. Vgl. Reiseanalyse 1970, S. 6. Die Kosten für eine Reise in außereuropäische Länder lagen 1971 durchschnittlich bei 2032 DM, fürs europäische Ausland bei 1272 DM und fürs Inland bei 864 DM. Vgl. Reiseanalyse 1971, S. 86. Schicht II: 42 % Auslandsreisen zu 32 % Inlandsreisen, Schicht III: 21 % Auslandsreisen zu 29 % Inlandsreisen und Schicht IV: 8 % Auslandsreisen zu 13 % Inlandsreisen. Urlaubsreisen 1971, S. 25. Vgl. Urlaubsreisen 1971, S. 24. Urlaub+Reisen 95, S. 74 und S. 77.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
gen nachprüfen kann. Entsprechend lag es 1970 mit 15 % an der Spitze. Erst Ende der 1980er Jahre rutschte es nach Spanien und Italien auf den dritten Platz. Außereuropäische Länder konnten die 5 %-Marke erst 1980 überschreiten. Osteuropäische Länder erreichten zwischen 1970 und 1988 nie mehr als knappe 3 %.94 Die zunehmende Tendenz zum Auslandsurlaub und die Konzentration auf relativ wenige Länder führte rasch zur Akkumulation von Erfahrungen. So hatten im Jahre 1978 schon 50 % der Bundesbürger Österreich kennengelernt, jeweils 20 % waren schon einmal in der Schweiz, in den Niederlanden, Frankreich oder Spanien gewesen.95 Dagegen waren nur ein verschwindend geringe Zahl der Befragten schon einmal in die UdSSR, nach Marokko, Mexiko oder Asien gereist. Wenig bekannt waren aber auch Großbritannien oder Irland.96 Am Ende des hier überblickten Zeitraums war die »Reisezielkenntnis« der Bundesbürger weitergewachsen. Mehr als die Hälfte war schon einmal in Spanien und 46 % waren in Italien gewesen.97 Im Ranking der Ziele für die Haupturlaubsreise hatten die außereuropäischen Länder mit 13 % die zweite Position erobert.98 Sie wurden überdurchschnittlich oft von den 20-29jährigen, von Menschen mit Abitur bzw. Hochschulausbildung, einem Einkommen von 5.000 DM und mehr und Angehörigen der Schicht I besucht. Österreich dagegen wurde überdurchschnittlich oft von den 60-70jährigen und Menschen mit einem monatlichen Einkommen zwischen 3.500-4.000 DM bereist.99 Dieser Trend sollte sich fortsetzen. Immerhin 19 % der 1429jährigen hielten es für »ziemlich sicher« bzw. »wahrscheinlich«, in den nächsten drei Jahren in die USA zu reisen und 10 % nach Asien. Die Älteren über fünfzig Jahre waren weniger ambitioniert, nur 6 % interessierten sich für die USA und 4 % für Asien.100
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Dundler/Keipinger, Tabelle 6. Die Schweiz lag 1970 gleichauf mit Jugoslawien, Griechenland, den Niederlanden und Frankreich bei 2 % ‒ eine Zahl, die allerdings innerhalb der Schwankungsbreite bzw. Fehlerquote liegt und deshalb nur eine Verweisfunktion hat. Vgl. Urlaubsreisen 1971 S. 122. 95 Urlaubsreisen 1978, S. 88. 96 Urlaubsreisen 1978, S. 103f. und S. 51. 97 Urlaub+Reisen 95, S. 119. 98 Urlaub+Reisen 95, S. 72. 99 Vgl. Urlaubsreisen 1989, S. 71. 100 Vgl. Urlaub+Reisen 95, Tabellenanhang S. 31.
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Wie bereits erwähnt, diese Auswahl aus dem weiten Feld statistischer Daten geschah schon mit Blick auf Wanda Frisch. Für eine Zuordnung ihres Reiselebens wurde die Gesamtzahl ihrer Reisen und das Verhältnis von In- und Auslandsreisen ermittelt. Für die Regionen und Länder, in denen sie sowohl im Sommer wie im Winter Urlaub gemacht hat, wurde der Skiurlaub extra bestimmt. Über lange Jahre kann man, wie eben gezeigt, von zwei Haupturlaubsreisen sprechen, begleitet von meist mehreren Kurzreisen. Von den ermittelten 154 Reisen (ab drei Tagen) führten insgesamt 63 ins Inland und 89 ins Ausland, wobei die Auslandsreisen seit den 1950er Jahren überwogen. Das Ranking der Inlandsreisen führen Berlin und Bayern an, mit jeweils fünfzehn bzw. vierzehn Aufenthalten.101 Bayern interessierte vor allem im Winter (acht Aufenthalte). Berlin war Wanda Frisch schon immer »eine Reise wert«, die Besuche konzentrieren sich aber auf die 1980er und 1990er Jahre. Im Allgemeinen wurde die Zeit mit Freunden verbracht. Nach der Wiedervereinigung unternahm sie mit ihnen Ausflüge nach MecklenburgVorpommern und nach Brandenburg. Die deutschen Küsten, vor allem an der Nordsee, waren ebenfalls beliebt: acht Mal Nordsee, einmal Ostsee. Dort war sie auch schon mit den Eltern gewesen. Die meisten Inlandsreisen waren Kurzreisen, hauptsächlich wurde im Ausland Urlaub gemacht.102 Damit lag Wanda Frisch zunächst weit über dem Durchschnitt. Diese Sonderstellung ging im Laufe der Zeit weitgehend verloren, doch in ihrer jeweiligen Altersgruppe behielt sie einen Spitzenplatz. Rein rechnerisch nimmt die Schweiz den ersten Platz unter Wanda Frischs ausländischen Reisezielen ein, in der sie sieben Mal ihren Skiurlaub verbrachte. Die restlichen dreizehn, teilweise sehr kurzen Aufenthalte im Sommer haben meist etwas mit den Eltern zu tun, die öfter in Lungern/Schweiz bei Freunden zu Besuch waren. Es folgen Österreich als Ziel des Winterurlaubs (15:4) und Italien mit dreizehn Reisen, wobei sich Winter und Sommer in etwa die Waage hielten (6:7). Längere Ferien in Italien konzentrierten sich auf die Frühphase ihrer Reisebiografie. Im Ranking der Reiseziele stehen die USA an fünfter Stelle, gefolgt von Spanien (Madrid und Toledo, Mallorca, Gran Canaria, Andalusien, Barcelona).
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Nicht eingerechnet sind hier die quantitativ nicht eindeutig zu bestimmenden Aufenthalte mit Eltern und Freunden in Garmisch-Partenkirchen. 102 Diese Aussage gilt allerdings nicht für die letzten Jahre, in denen Aufenthalte an der Nordseeküste sich mit Städtereisen ins Ausland bzw. nach Berlin und Dresden abwechselten.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Viermal reiste sie in die Niederlande und nach Frankreich, dreimal nach Belgien, zweimal nach Asien, Großbritannien, in die Sowjetunion, Ungarn, Norwegen. Jeweils einmal besuchte sie die ČSSR, Schweden, Dänemark, Luxemburg, Monaco, Türkei, Portugal, Marokko, Malta, Mexiko und Finnland. Das war auch noch Mitte der 1990er Jahre eine überdurchschnittliche Bilanz an Weltläufigkeit. Vor allem die außereuropäischen und osteuropäischen Reiseziele hoben sie aus der Menge heraus, was sich auch in der Kenntnis von Städten niederschlug, die noch im Jahre 1994 dem Gros ihrer Altersgenossen unbekannt waren und, betrachtet man die Reisewünsche, auch unbekannt bleiben würden. London, New York oder Los Angeles und San Francisco, Hongkong, Singapur und Bangkok waren jeweils nur einer Minderheit bekannt. Anders sah es mit Städten wie Paris oder Rom aus, denen sie aber wiederum keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.103 Und wie steht sie in ihrer sozialen Gruppe, den Angestellten, da? Objektiv gesehen ist sie hinsichtlich Ausbildung, beruflicher Stellung und wahrscheinlich auch beim Einkommen wohl der Schicht III zuzuordnen. Doch ihr Reiseverhalten entspricht eher der Schicht II und angesichts des finanziellen Aufwandes der Schicht I. Im Urlaub gelang es ihr also, gemessen an den hier betrachteten Kriterien, ein veritabler sozialer Aufstieg. Wenn die Lebensstiltypologie von 1989 zu Grunde gelegt wird, kommt man zu einem ähnlichen, wenig eindeutigen Ergebnis. Wanda Frisch kann zwar in keine der drei als besonders reiselustig ausgemachten Lebensstilgruppen passgenau eingeordnet werden. Die größten Übereinstimmungen ergeben sich mit Typ 1 und Typ 5.104 Diese Unschärfe ist auch nicht weiter 103 Rom war 13,9 % der Generation 50+ bekannt, Paris 18,5 % (zum Vergleich die 1429jährigen mit 11 % bzw. 22,5 %). New York kannten nur 3,9 % der Älteren (aber schon 4,2 % der Jungen), Los Angeles und San Francisco ebenfalls 3,9 % (Jüngere 4,6 %), die genannten asiatischen Städte 1,2 % der Älteren und 1,6 % der jungen Generation. Vgl. Urlaub+Reisen 95, Tabellenanhang S. 37. 104 Die Probleme der Zuordnung werden deutlich, wenn folgende Charakteristika bedacht werden: Der Lebensstiltyp 1 (13,1 %) gönnt sich im Urlaub viel und hat eine überdurchschnittliche Reiseintensität. »Zentrale Urlaubserwartungen sind der Wunsch nach Abwechslung, Komfort und Amüsement, das Interesse an anderen Ländern, der Wunsch nach Sonne und schließlich die Erwartung, braun zu werden und etwas für die Schönheit zu tun.« Im Vordergrund steht der Bade- und Sonnenurlaub. Es gehören mehr Frauen und Jüngere, dazu, kleine und mittlere Selbständige, mittlere, qualifizierte und leitende Angestellte, höhere Beamte, Freiberufler. Vgl. Urlaubsreisen 1989, S. 760. Der Lebensstiltyp 5 (14,3 %) hat eine überdurchschnittliche Reiseintensität, ihn zieht es in fremde Länder, aber man ist mit weniger Komfort zufrieden. Großes In-
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verwunderlich, widerspiegelt die Typologie doch den Stand der Entwicklung des Massentourismus am Ende der 1980er Jahre. Neue Generationen sind herangewachsen, für die alltäglich geworden ist, was seinerzeit neu war. Im Vergleich zu jungen Leuten fällt der Hysteresis-Effekt ins Gewicht, im Vergleich zu den Altersgenossen erweist sie sich nach wie vor als »fortschrittlich«.
4.3.4.
Reiseverkehrsmittel
Von den Reiseverkehrsmitteln interessiert vor allem das Flugzeug. Wie erwähnt, war Wanda Frisch in den 1950er und 1960er Jahren häufig mit Freunden und Bekannten in deren Auto unterwegs. Sonst nutzte sie die Bahn und sehr zeitig auch das Flugzeug. Sie flog zuweilen sogar erster Klasse, ohne den Aufpreis bezahlen zu müssen ‒ Absprachen ihres Arbeitgebers mit maßgeblichen Fluggesellschaften machten es möglich. Während 1960 nur 1 % der Reisenden in den Urlaub geflogen war, war der Anteil 1970 auf 8 %, 1978 auf 14 % und 1988 auf 22 % gestiegen.105 Im Jahre 1994 schließlich benutzten 27 % ein Flugzeug.106 In der Reiseanalyse von 1978 findet sich zu dieser Entwicklung folgende Einschätzung: »Mit dem Flugzeug fliegen dagegen eher die Angehörigen der mittleren und oberen sozialen Schichten. In erster Linie Angestellte und Beamte, die überwiegend in Städten und deren Vororten zu Hause sind.«107 Doch gab es bei der Benutzung von Flugzeugen feine Unterschiede, nämlich zwischen Linien- und Charterflügen. Letztere wurden viel häufiger genutzt, um ans Urlaubsziel zu gelangen. Für außereuropäische Destinationen lag der Anteil bei 61 % gegenüber 11 % Linienflügen, wie sie von Wanda Frisch gebucht wurden. Das entsprach eher der von ihr bevorzugten Individualreise.108
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teresse besteht an Camping-Urlaub, Winter-Urlaub im Schnee und Städtereisen. Vgl. Urlaubsreisen 1989, S. 795 und S. 797. Dundler/Keipinger, Tabelle 7. Vgl. Urlaub+Reisen 95, S. 78. Urlaubsreisen 1978, S. 226. Urlaubsreisen 1978, S. 111.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
4.4.
Generation und Reisestil
4.4.1.
»Sehnsucht Abenteuer«?
Die Vielzahl der gleichzeitig vorfindlichen Urlaubertypen, wie sie von Tourismusforschern ermittelt werden, gibt keine Auskunft über ein Nacheinander im Lebenslauf oder in der Generationenfolge. Mögen in einigen Clustern mehr ältere und in anderen mehr die jüngeren Urlauber dominieren, letztlich bleibt unaufgeklärt, ob die so Typisierten in ihrem früheren Leben anders eingeordnet worden wären und wohin ihre Lebensreise die jeweils Jugendlichen führen wird. Das zeitliche Problem wird dadurch verschärft, dass die Einzelnen gemeinsam mit Altersgenossen ihr Leben bestreiten. Sowohl zur synchronen Seite des Phänomens (mehrere Generationen existieren gleichzeitig) wie zur diachronen (die Abfolge der Generationen) können solche Urlaubertypologien wenig beitragen. Nicht nur Individuen altern, sondern auch Generationen.109 Mannheims Konzept ist dieses Altern als Bedingung der Möglichkeit inhärent, Generation überhaupt als soziologische Kategorie einzuführen. Generation werden oder einer im sozialen Sinne alternden Generation angehören können Menschen nur in einer sich verändernden geschichtlichen Welt. Dadurch sollen (oder wollen) sie eine bestimmte historische Konstellation nicht nur repräsentieren, sondern auch maßgeblich gestalten.110 Einer zeitlichen Dynamik 109 Dazu Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt a.M. 1995. 110 »Wir unterscheiden also dementsprechend zwei wesentlich verschiedene Typen des ›neuartigen Zugangs‹ zum sozialen Raum und dessen Gehalten: einmal den, der durch soziale Verschiebungen und den, der durch vitale Momente (Generationswechsel) fundiert ist.«. »Aus all diesen Tatbeständen geht hervor, daß nicht einer jeden Generationslagerung eine ihr eigene Gestaltung und Formierungstendenz entsprechen muß, daß den im wesentlichen durch die biologische Rhythmik geschaffenen Lagerungen keineswegs eine ihnen korrespondierende Rhythmik der neuen Generationswollungen und Gestaltungsprinzipien entsprechen muß. […] Ob alle Jahre, alle 30 Jahre, alle 100 Jahre, ob überhaupt rhythmisch ein neuer Generationsstil zustande kommt, das hängt von der auslösenden Kraft des gesellschaftlich-geistigen Prozesses ab. Es ist hierbei ein besonderes, für sich zu behandelndes Problem, ob diese gesellschaftliche Dynamik ihre Dominante in der ökonomischen oder in irgendeiner geistigen Sphäre hat.«. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen, in: Mannheim, Karl: Schriften zur Wirtschafts- und Kultursoziologie, hg. von Amalia Barboza und Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2009, S. 139 und S. 155.
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unterliegt sogar der lebensgeschichtliche Zeitpunkt, an dem die Betroffenen sich in einen Generationszusammenhang einordnen, wie andererseits meist der Jugend oder besser bestimmten jugendlichen Gruppen die Fähigkeit zur Generationsbildung zugeschrieben wurde. Hatten Historiker und Soziologen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eher Generationsgestalten nach politischen oder historischen Prämissen identifiziert, wurde der Diskurs über Brauchbarkeit oder Nutzen des Konzepts nach 1990 belebt durch neue, öffentlichkeitswirksam vorgetragene, aber außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge konstruierte Generationen.111 In der Konsum- oder Mediengesellschaft schienen es nunmehr Produkte und Marken zu sein, die gerade da, wo die »Angehörigen einer Generation über ihre ›eigene‹ Kultur« verhandelten, zur Herstellung eines Generationenzusammenhangs benutzt werden.«112 Freilich, so Gries, stelle diese Generation nur »die begeisterten Träger, nicht aber die Initiatoren eines signifikanten Wertewandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.«113 Die heroischen würden durch konsumtive Generationen abgelöst. So neu ist dieses Phänomen allerdings nicht. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es Produkte, die am Markt überdauert haben und die den Menschen mittels einer generationsübergreifenden Kommunikation präsent sind. Sie sind notwendig, um »Produkthorizonte« konstituieren zu können, nach denen ganze Generationen konsumgeschichtlich ausdifferenzierbar seien. »Unter dem Produkthorizont einer Generation sei hier das emotional belegte sowie durch Erfahrungen und durch Erwartungen begründete Aneignungsmuster von Waren samt deren sozialen Konnotationen verstanden, das eben diese Altersgruppe prägt und von anderen unterscheidet.«114 111
112 113 114
Zum überaus reichhaltigen Diskurs unter Historikern und Soziologen: Reulecke, Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert; Fietze, Beate: Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009; Ehmer, Josef: Generationen in der historischen Forschung: Konzepte und Praktiken, in: Künemund, Harald; Szydlik, Marc (Hg.): Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven), Bielefeld 2009, S. 59-80; Bebnowski, David: Generation und Geltung. Von den »45ern« zur »Generation Praktikum« ‒ übersehene und etablierte Generationen im Vergleich, Bielefeld 2012. Gries, Rainer: Generation und Konsumgesellschaft, in: Haupt, Torp, Die Konsumgesellschaft in Deutschland, S. 191. Ebd., S. 197. Ebd., S. 195. Sie ist, wie Tourismushistoriker bei der Betrachtung der 1920er-1960er Jahre immer wieder herausgearbeitet haben, ein solches »Produkt der Sehnsucht«.
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Produkthorizonte haben eine zeitliche Tiefendimension, betreffen die in gegenwärtigen Produkten »aufgehobene« Vergangenheit (die von den gleichzeitig existierenden Generationen aber jeweils unterschiedlich rezipiert und bewertet werden) und sind mittels der in der Warenwelt verankerten Verheißungen auch für in die Zukunft gerichtete Erwartungen fundierend ‒ »Produkte der Sehnsucht«. Es braucht nicht erst die von Gries erwähnte und für die westdeutsche »Aufbaugeneration« vorgeblich so prägende Erzählung von der »ersten Reise über die Alpen«, um zu erkennen, dass eine Betrachtung der Ware »Urlaubsreise« im Produkthorizont der Menschen des 20. Jahrhunderts erhellend sein könnte. Lebenslauf, Biografie oder Generation sind theoretisches Konzept und Konstrukt. Durch die Verwendung im Plural wird man darauf gestoßen, dass sie ebenso empirische Phänomene sind, was ihnen zugleich eine historische Tiefendimension verleiht. Mit den Reisebiografien ist es dann so wie mit den Lebensläufen. Mag die Antike, mag das Mittelalter beeindruckende symbolische Darstellungen davon entworfen haben ‒ wenn Menschen die Phasen von der Kindheit bis ins hohe Alter mehrheitlich tatsächlich durchleben können, verändert sich ihre empirische Prägnanz. Reisebiografien hatten auch schon Menschen des 18. oder 19. Jahrhunderts, doch erst am Ende des 20. Jahrhunderts kann damit gerechnet werden, dass sie bei der Mehrheit der Bevölkerung anzutreffen sind. Die Pioniere dieses Prozesses versterben nun. Sie hinterlassen, ähnlich wie Wanda Frisch, massenhaft Konvolute, die ihre Reisen in der einen oder anderen Form dokumentieren und die Nachkommen mit der Frage konfrontieren, was damit geschehen soll.115 Haben sie denen überhaupt etwas zu sagen? Die Hinterlassenschaften von Wanda Frisch wirken angesichts neuer Medien und Praktiken hoffnungslos altmodisch. Postkarten, Zeitschriftenartikel und gedruckte Reiseführer verweisen auf das nun untergegangen geglaubte »GutenbergUniversum« des auf Papier Verewigten. Die Fotoalben sind gefüllt mit kleinformatigen, vergilbten Fotos (verblasste Dias gehören nicht zum Konvolut). Dieses Gefühl kultureller Fremdheit stößt mit der Nase darauf, es hier mit dem Erbe einer »gealterten« Generation zu tun zu haben. Gealtert ist deren Lebensstil, in den dieser Reisestil eingebettet war. Doch sind sie den gegenwärtigen Massentouristen im Lande genealogisch verbunden, sind ihre Mütter oder Väter. Nehmen die Nachfahren homologe Positionen im inzwischen veränderten sozialen Raum ein, sind sie ihnen auch in Verhalten und Werten 115
Die schon zu Lebzeiten verfassten Berichte sind nicht vergessen.
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homolog. Dieses Neben- und Nacheinander verführt zu der Frage, wie sich die neuen Möglichkeiten einerseits und das kulturelle wie soziale Erbe andererseits im Reisestil fiktiver Kinder und Enkel von Wanda Frisch entfalten könnte. Eine solche Folge- wie Gegenwelt könnten jene Probanden darstellen, die Köck für seine Studie »Sehnsucht Abenteuer« untersucht hat.116 Auf sie wird auch deshalb zurückgegriffen, weil sich hier eine Möglichkeit auftut, den Reisestil von Wanda Frisch aus einer anderen Perspektive schärfer zu fassen. Abenteuerurlaub hätte sie auch zu »ihrer Zeit« machen können, sie wäre damit nicht allein gewesen: Der älteste Proband von Köck war sogar etwa zehn Jahre älter als sie, blieb allerdings angesichts einer Mehrheit von Endzwanzigern und Mittdreißigern die Ausnahme. Der »Abenteuerurlaub« schien dem Stil der »Erlebnisgesellschaft« zu entsprechen, von der seit Ende der 1980er Jahre so viel die Rede ist. Die Gesprächspartner waren überwiegend Angestellte oder Studenten. Mochten sie auch besser ausgebildet sein, die Probanden repräsentieren in erstaunlichem Maße die oben beschriebene Welt der Angestellten. Sie sind Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen, Bankangestellte, Sekretärin oder Telefonistin.117 Letztere spricht wie ihre Kollegin aus den 1920er Jahren davon, dass die durch das Reisen erzeugte Welt- und Sprachgewandtheit sich beruflich auszahlen könne und den Neid der Kollegen errege.118 Köcks Protagonisten grenzten sich, wie nicht anders zu erwarten, vor allem von den »Massenurlaubern« ab. Diese fertigten nur schnelle Knipserbilder, nähmen sich keine Zeit für die Einheimischen, suchten nur überdreht nach Sensationen, forderten unangemessenen Luxus oder würden andererseits mit ihrer Suche nach einem möglichst preiswerten Urlaub keine Rücksicht auf die Bereisten nehmen.119 Der Einstieg in den Abenteuerurlaub war den männlichen Teilnehmern leichter gemacht worden als den weiblichen. Wie bei Prein für das 19. Jahrhundert beschrieben, bereiteten gemeinsame Touren mit den Vätern auf das spätere Reiseleben vor.120 Mädchen wurden dagegen ausgebremst. Eine Anfang der 1960er Jahre geborene Protagonistin berichtet vom Widerstand der
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Köck, Christoph: Sehnsucht Abenteuer. Auf den Spuren der Erlebnisgesellschaft, Berlin 1990. 117 Ebd., S. 165. Leider ist der Autor mit seinen Angaben zu den Probanden sehr geizig. 118 Ebd., S. 156. 119 Ebd., S. 94f. 120 Ebd., S. 97.
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Mutter gegen einen Ausflug nach Schottland, den sie nur mit einer Freundin und ohne die Sicherheit einer Reisegruppe unternehmen wollte.121 Eine Reise ohne Eltern in relativ frühen Jahren bildete zumeist den Ausgangspunkt einer als »Karriere« zu beschreibenden Reisebiografie. Zunächst war man im näheren Umfeld Europas unterwegs, aber schon mit der Gewissheit, sich von den »anderen« zu unterscheiden. Doch boten Reisen in (West-)Europa bald keine Herausforderungen mehr. »Das unorganisierte, Auf-eigene-Faust-Reisen in exotische Regionen gilt als die Krönung der ›Traumkarriere‹ der Abenteurer, auf die langfristig hingearbeitet wird.« Ein »verinnerlichtes Aufstiegsdenken« wirke erstaunlicherweise in ein Verhaltensfeld hinein, dass doch gerade als Ausstieg aus dem Alltag angelegt sei.122 Freilich bedürfen solche Grenzübertritte einer ausgefeilten Vorbereitung, denn sie sind nicht mit den Erfahrungen eines normalen Lebens zu meistern. Ein spezielles Wissen und technische Vorkehrungen sollen die Abenteuerreise zu einem »kalkulierbaren Risiko« machen.123 Am Ende winkt nicht nur die Bestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit, sondern auch ein Prestige-Gewinn, der gegenüber anderen »kompetenten« Reisenden oder »inkompetenten« Bekannten, Verwandten und Arbeitskollegen zu erzielen ist.124 Letztlich stellt sich auch die Abenteuerreise als Konsumgut dar, dass mit anderen, etwa Eigenheim oder Auto, konkurrieren muss. »›Du kannst dich nur für eins entscheiden: entweder du baust ein vernünftiges Haus oder du wohnst in einer Mietwohnung und investierst das Geld in Reisen.‹«125 Dieses Statement eines seinerzeit Mittdreißigers könnte auch von Wanda Frisch stammen, die zum Zeitpunkt der Befragung die Mitte ihres fünften Lebensjahrzehnts erreicht hatte. Jedenfalls ist sie genauso verfahren. Neben Unterschieden zu den hier als Nachfolgegeneration imaginierten »Abenteuerreisenden« gibt es erstaunliche Parallelen. Teure Reisen werden jeweils als jenes
121 122
Ebd., S. 100. Ebd., S. 103. Den ultimativen Endpunkt solcher Entwicklungen repräsentieren nicht nur jene Globetrotter, unter denen ein Wettbewerb darüber ausgetragen wird, wer am längsten auf Reisen ist. Unübertroffen ist die Rangliste der Reisenden mit den extravagantesten, weil nur schwer zu erreichenden Reisezielen unter: https://mosttraveledpeople.com/und ihrem bekannten Vertreter Don Parrish. (Für den Hinweis danke ich Herbert Pietsch.) 123 Ebd., S. 143. 124 Ebd., S. 153. 125 Ebd., S. 155.
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exklusive Konsumgut betrachtet, durch das man vor sich und anderen zum Ausdruck bringen kann, »›aus seinem Leben etwas gemacht zu haben.‹«126 Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Außergewöhnlichem scheint nur in Asien oder Afrika zu gelingen. Die Reisebiografie wird zur »Karriere«, allerdings unter historisch je anderen Bedingungen und Möglichkeiten. Mit der Zeit wird der Wettbewerb um Prestige immer ausgefeilter. Ausgewiesene Abenteuerreisen boten sich als zeitgemäße Form an, hier mitzuhalten. Dagegen galten am Beginn des Reiselebens von Wanda Frisch und damit in der Phase des Aufstiegs des Massentourismus noch andere Kriterien. Die jährliche Urlaubsreise, die Auslandsreise, die Flugreise selbst verbürgten noch eine gewisse Ausnahmeposition. Allerdings spricht ein wesentlicher Befund gegen die angenommene intergenerationelle Kontinuität. Während die Abenteuerreisenden ihr Heil in exzeptionellen Naturereignissen oder Begegnungen mit »exotischen« Einheimischen suchten, goutierte Wanda Frisch eher die fortgeschrittene Zivilisation. Strapazen waren nicht vorgesehen, Naturerlebnisse eher nettes Beiwerk. Besucht wurden angesagte touristische Orte und nicht abgelegene Destinationen. Deshalb mussten auch keine speziellen Kenntnisse angeeignet werden, sondern nur so viel Allgemeinwissen, dass die ausgewählten Orte und Regionen eben als bedeutsame erscheinen konnten. Stehen die Unterschiede im Mittelpunkt, repräsentieren beide Reisestile kein Nacheinander, sondern sind nur zwei von gleichzeitig mögliche Formen, in denen sich Angestellte ausdrücken. Innerhalb des Settings der Reisearten stehen Abenteuerreisende in einer anderen Tradition als Genussreisende. Allerdings zeigt gerade auch die sportive Seite der Reisebiografie von Wanda Frisch, dass ein Wechsel in gewissen Grenzen möglich ist.
4.4.2.
Sommerfrischler
Nun ein Blick zurück, auf die Generation der in den 1890er Jahren Geborenen. Hier kann, welch seltene Gelegenheit, auf die Eltern als reale Vorgänger zurückgegriffen und die »Vererbung« tatsächlich beobachtet werden. Dabei ist einerseits zu klären, in welcher Weise die oben erwähnte »Transmission zum Identischen« stattgefunden hat und andererseits, wodurch diese verhindert wurde.
126
Ebd., S. 159.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Die Eltern von Wanda Frisch repräsentierten bis ans Lebensende einen Reisestil, in dessen Zentrum die »Sommerfrische« stand. Erfreulicherweise haben sich Tourismushistoriker dieses Themas in den letzten Jahren vielfältig angenommen. Göttsch betrachtet sie als eine am Ende des 19. Jahrhunderts etablierte »Gegenwelt« (zur Arbeit, zur Stadt), die einen neuen Typus des Reisens beschreibe. Zunächst Bestandteil bürgerlicher Lebensführung sei sie von anderen bürgerlichen Schichten adaptiert worden. Eingezwängt in ein engeres materielles und zeitliches Korsett führte sie nicht für Monate in teure Hotels oder repräsentative private Villen an die Küsten oder aufs Land, sondern für wesentlich kürzere Zeiträume in bescheidene Pensionen.127 Oder man quartierte sich, wie Seidl mitteilt, bei Bauernfamilien ein, die ihre Wohnräume vermieteten.128 Die Sommerfrische folgte einerseits der Tradition des Landaufenthalts, andererseits gibt es Überschneidungen zum Kuraufenthalt in mehr oder weniger mondänen Badeorten. Das lasse sich an der Rolle von Ärzten und Hygienikern ablesen, die sowohl die Deutungsmacht über den Aufenthalt im Bad wie in der Sommerfrische beanspruchten.129 Im Vergleich zu den Kurorten, die eines heilenden Brunnens bedurften, konnte jede Landschaft zur Sommerfrische werden. Neue Destinationen wurden erschlossen, die früher gemieden wurden. Das betraf die Höhenlagen deutscher Mittelgebirge, Heide-, Wald- und Moorgebiete, Küstenabschnitte wie Binnenlandschaften, die nun durch Sitzbänke und Sichtachsen touristisch aufgewertet wurden und zu einfacher Erholung einluden.130 Kröncke untersuchte die Sommerfrische als Übergangsform zwischen dem typischen männlichen Reisenden des 19. Jahrhunderts und dem (massentouristischen) Familienurlaub der Nachkriegszeit. Dabei geraten sowohl die vom Bürgertum dominierte Entstehung der Sommerfrische wie ihre 127
Vgl. Göttsch, Silke: »Sommerfrische«. Zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98(2002), S. 9-15. 128 Vgl. Seidl, Daniella: Ein Ort und eine Zeit für die Familie. Bürgerlicher Familienurlaub von der »Sommerfrische« zum Ferienhaus, in: Voyage, Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 8(2009), S. 46-56. Andere Formen der Sommerfrische, wie sie sich vor allem in Skandinavien oder Großbritannien entwickelten, behandelt Löfgren unter der Überschrift »Cottages Cultures«. Vgl. Löfgren, On Holiday, S. 109ff. 129 Vgl. Mai, Andreas: Die Ordnung des Sommerfrischens als Ordnung bürgerlichen Lebens. Ärzte und Hygieniker als Ferienmacher im 19. Jahrhundert, in: Gilomen, HansJörg; Schumacher, Beatrice; Tissot, Laurent (Hg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 273-278. 130 Dazu Göttsch, »Sommerfrische«, S. 11f.
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Adaption durch weniger wohlhabende Fraktionen des Bürgertums in den Blick. »Die Sommerfrische, so die Annahme, war aufgrund ihres spezifischen Charakters besonders geeignet, die in ihr zum Ausdruck kommenden bürgerlichen Wertvorstellungen bis in klein- und unterbürgerliche Schichten hineinzutragen.«131 Die idealisierte Bescheidenheit und Einfachheit habe es auch Menschen mit geringerem kulturellen und sozialen Kapital ermöglicht, sich dieser Form des Urlaubs zuzuwenden. »Und gute Luft konnte auch genießen, wer seinen Goethe nicht im Tornister hatte.«132 Schon im Urlaub mit ihren Eltern konnte Wanda Frisch ein Verhaltensmuster beobachten, dass auch für sie selbst über viele Jahre bedeutsam war. Es betrifft die Frage, wer mit wem die Sommerfrische gestaltet. Die von Kröncke genutzten Ego-Dokumente von Bürgern aus Hamburg und Bremen erbrachten ein aus heutiger Sicht ungewöhnliches Ergebnis: »Während eine bevorzugte Zielgruppe des modernen Massentourismus die Kleinfamilie ist, war in der Sommerfrische des 19. Jahrhunderts in Beziehung auf Geschlecht, Alter, Zahl der Reisenden und ihr Verhältnis zueinander fast jede Zusammensetzung der Reisegesellschaft denkbar.«133 Geschwister, Neffen und Nichten der Eheleute, alleinstehende Tanten eines Ehepaares oder auch Mündel, Kinder befreundeter Familien und nicht zuletzt die Eltern (die häufig einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung leisteten) seien mit von der Partie gewesen ‒ nicht immer zum Vergnügen der anderen Sommerfrischler. Für das Kleinbürgertum könne anhand von zeitgenössischen Medien wie bebilderten Zeitschriften, Romanen oder Ratgebern auf eine abgespeckte Variante geschlossen werden. Die Sommerfrische fand in der Kernfamilie in räumlicher Nähe zum Wohnort statt, um den berufstätigen Männern das Pendeln zu ermöglichen.134 131
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Kröncke, Elke: Die Sommerfrische ‒ vom ›reisenden Mann‹ zum ›Familienurlaub‹, in: Voyage, Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 8(2009), S. 36. Zur bürgerlichen Ausgestaltung siehe auch den opulent bebilderten Band von Ast, Hiltraud: Sommerfrische in der Kaiserzeit. Die bürgerliche Sommergesellschaft und ihre einheimischen Gastgeber, Begegnung zweier sozialer Schichten, Augsburg 1993. Ein neueres Projekt untersuchte die Sommerfrische als »ein Phänomen und zugleich als ein Konstrukt der urbanen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts«: Kabak, Nevin; Wacha, Mareike; Wochinger, Gabriele: Sommerfrische. Bedeutungen und Dimensionen eines kulturellen Phänomens, in: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken, Wien 2014 Ebd. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 40f.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Für die Charakterisierung der Eltern von Wanda Frisch als »Sommerfrischler« spricht nach diesen Befunden einiges. Als Quellen stehen Postkarten und Fotoalben zur Verfügung, die über mehrere Jahrzehnte deren Reiseverhalten dokumentieren. Die ersten zwei Bände der überlieferten Fotoalben informieren zumindest über die Reiseziele der Familie Frisch und mögliche Begleitpersonen, leider nicht über die Dauer der Aufenthalte. Seit 1929 hielt man sich im August regelmäßig, das heißt jedes Jahr entweder in einem Nordseebad oder in Garmisch auf, das sich schon Ende des 19. Jahrhunderts als Ort der Sommerfrische empfohlen hatte. Gewohnt wurde in Pensionen. Regelmäßig waren neben der Kernfamilie andere (nicht identifizierbare) erwachsene weibliche Personen anwesend. Einigermaßen typisch war auch die partielle Abwesenheit des Vaters. Wanda und ihre Mutter schickten ihm aus verschiedenen Urlaubsorten Kartengrüße, so im Sommer 1937 aus Oberstdorf und Hindelang und 1941 von der Partnachalm, wobei die Unterschriften auf den Postkarten auf weitere Mitglieder der Reisegesellschaft hindeuten. Im Jahre 1944 wohnte man, wie immer, in Garmisch in der Pension »Wolfram’s Ruh«. Man unternahm Ausflüge ins Ettal, nach Oberammergau, auf den Wank und die Zugspitze. Die anwesenden jungen Mädchen spielten »Fliegeralarm«. Einzig für die Jahre 1945 und 1946 gibt es keine Fotos. Die 1940er Jahre, bei denen man an Krieg und Nachkrieg denkt, waren sogar der Zeitraum einer wichtigen Erweiterung der Sommerfrische. Ab 1942 fanden zuweilen jährlich zwei Reisen statt, in die Sommerfrische und zum Wintersport, ab 1949 lässt sich dieses Muster über Jahre verfolgen. Weihnachten und Neujahr wurden mit einer befreundeten Familie in Garmisch verbracht, der Sommerurlaub an der Nordsee oder wieder in Garmisch. In den 1950er Jahren wurde der Aktionsradius der Ausflüge vergrößert. Zusätzlich unternahm man Rundreisen durch den Schwarzwald (1951), im Salzburger Land (1952) oder durch die Schweiz (1955). Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Eltern sich über den Alpenraum hinausbewegt hätten. Schließlich fanden sie Ende der 1950er Jahre in Lungern bei Zürich einen zweiten Ort für ihre Sommerfrische, ohne dass Garmisch aufgegeben worden wäre. Nach dem Tod des Ehemannes Ende der 1960er Jahre setzte die Mutter diese Tradition allein fort. Diese rege Reisetätigkeit scheint auf eine Familie mit einigen materiellen Ressourcen hinzudeuten. Jedoch nutzte man die verbilligten Urlaubsreiseangebote der Bahn und lebte in bescheidenen Unterkünften. Dafür mussten, wie erwähnt, keine Abstriche im Komfort hingenommen werden ‒ wohnte
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man doch zu Hause auch beengt. Jedenfalls kostete der Aufenthalt für 22 Tage in der Pension Haus St. Josef in Lungern die Eltern 1958 nur 179,30 DM, das waren pro Nacht weniger als 9 DM.135 Wenig extravagant waren auch die in den 1970er Jahren von der Mutter aufgesuchten Kurorte. Fast scheint es so, als habe Knebel Familie Frisch vor Augen gehabt, als er die Sommerfrische der weniger vermögenden Angehörigen des »neuen Mittelstandes«, von kleinen Handwerksmeistern, Händlern und Beamten als eine über einige Wochen ausgedehnte Serie von Tagesausflügen charakterisierte, die der Erholung und nicht der Beteiligung am »Vergnügungsbetrieb« dienten. Die Gewohnheit sei stärker gewesen als der Hang zur Abwechslung, man habe jeden Sommer dasselbe Dorf besucht und das Haus der Wirtsfamilie sei so etwas wie die zweite Heimat gewesen.136 Ein Blick auf die Reisegewohnheiten der Tochter zeigt, dass diese zweigleisig verfahren ist. Einerseits hat sie es nie aufgegeben, zusammen mit den Eltern die Sommerfrische (oder »Winterfrische«) zu verbringen oder sie dort zumindest zu besuchen. Die »Vererbung« ist gelungen, was sicher auch der Tatsache zu verdanken ist, dass sie keine eigene Familie gründete. Andererseits wurde die Sommerfrische zunehmend zu einem Nebenschauplatz, gehörte Wanda Frisch, wie oben dargelegt, doch gerade zu den Pionierinnen der touristischen »Welteroberung«. Anders sieht es mit dem Winterurlaub aus. Er scheint die Praxis der Sommerfrische in gewandelter Form fortzusetzen, angefangen von der relativ langen Dauer bis hin zur Tatsache, dass man »in Gesellschaft« fuhr.
4.5.
Zwischen bürgerlichen Werten und massenkulturellen Verlockungen
4.5.1.
Reisen und Prestige
Im dritten Kapitel ging es darum, ein sozial- und kulturgeschichtliches Panorama zu zeichnen, in das Urlaub und Tourismus von Angestellten bis etwa 1970 eingeordnet werden können. Auf diesem Boden entfalteten sich, so die
135 136
So die in einem Reiseführer über Lungern steckende Rechnung. Vgl. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 39f. Damit gehört dieser Reisestil in die untergehende Welt der »innen-geleiteten« Touristen.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Annahme, die konkreten Reisemöglichkeiten von Wanda Frisch. Nun gilt es, sie kulturell prägnanter zu charakterisieren. Betrachtet man Bourdieus berühmte Darstellung des dreidimensionalen Raumes der sozialen Positionen und der Lebensstile als Momentaufnahme und als dritte, zeitliche Dimension die Auf- und Abstiegskämpfe, mit denen die jeweiligen Positionen erreicht wurden, dann fällt die mittlere Lage einer Angestellten wie Wanda Frisch ins Auge. Sowohl ökonomisch wie kulturell befindet sie sich in einem Fadenkreuz, wo sich alle widerstrebenden Kräfte aufzuheben scheinen, an einem Ort der Unbestimmtheit. Das hat System. Bourdieu sieht hier einen dynamischen Ort, dessen Gegebenheiten durch die hier durchlaufenden Individuen selbst verändert werden, »genauer: dadurch, daß sie die Wirklichkeit oder Vorstellung ihrer Position verändern und in bestimmten Fällen durch ihre eigene Entwicklung auch weiterentwickeln.«137 Entscheidend für die Dynamik sind kulturelle Faktoren. Drei Fraktionen des Kleinbürgertums sind in diesem zentralen Raum angesiedelt: die mit wenig kulturellem Kapital ausgestatteten absteigenden traditionellen Händler und Handwerker, die als Platzhalter fungierenden Angehörigen des exekutiven Kleinbürgertums (Verwaltungsangestellte, Techniker, Büroangestellte, Grundschullehrer) mit ihrer asketischen, bildungsbeflissenen Lebenseinstellung und die (jungen) neuen Kleinbürger, die in wenig festgelegten Berufen reüssieren und sich dem Lebensgenuss verpflichtet fühlen. »Ihr berufliches und persönliches Heil erwartet die neue Kleinbourgeoisie von der Durchsetzung neuer ethischer Heilslehren und übernimmt deswegen die Avantgarderolle in den Auseinandersetzungen, bei denen es um Fragen des Lebensstils geht, genauer: um den häuslichen Bereich und um Konsum, um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen und um die Reproduktion der Familie und ihrer Werte.«138 Vor allem Frauen finden hier ihren Platz, ergreifen Berufe in den mittleren Etagen des medizinischen und sozialen Bereichs, werden Kulturvermittler oder Sekretärin.139 Kann Wanda Frisch hier angemessen eingeordnet werden, zumal ihre »große Zeit« des Reisens in Bourdieus Untersuchungszeitraum fällt? Als Frau mit guter schulischer Ausbildung und einer gehobenen Stellung als Chefsekretärin, als genussfreudige Fernreisende, als Tennisspielerin und Skifahrerin erfüllte sie durchaus einige Bedingungen und Merkmale,
137 138 139
Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 537 (Herv. i.O.). Ebd., S. 575. Vgl. ebd., S. 570.
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die Bourdieu für das neue Kleinbürgertum im Frankreich der 1960er Jahre herausgearbeitet hat. Betrachtet man ihren »Anlage-Sinn« zur Vermehrung des überkommenen Kapitals, dann hat sie mit dem Reisen (statt mit weiterer formaler Bildung) ein Feld gewählt, das vieles verheißt. Weltkenntnis ist anerkanntes Bildungsgut, das auch noch zählt, wenn es im Massentourismus erworben wird. Die dafür zu leistenden Anstrengungen sind gering und verlangen keinen langen Atem.140 Die Belohnungen für eine solche Investition winken zudem nicht erst in ferner Zukunft (obwohl auch dort), sondern sofort. Neben dem eigenen Vergnügen dienen sie der Pflege sozialer Kontakte, der Behauptung im angestammten sozialen Umfeld. Freilich erfordert diese Strategie hohe finanzielle Aufwendungen, die bei mäßiger Verfügung über ökonomisches Kapital Verzicht in anderen Lebensbereichen erheischt. Der Erwerb von formellem kulturellen Kapital (etwa höhere Bildungstitel) wurde damit nicht angestrebt. Die Reisen dienten auch nicht, wie für andere Berufsgenossinnen beschrieben, der betrieblichen Karriere. Letztlich erwarb sich Wanda Frisch damit vor allem soziales und symbolisches Kapital, das sowohl unter Kolleginnen und Kollegen wie im privaten Bereich als »Lebensleistung« für Ansehen sorgte und den Austausch mit anderen Weitgereisten beförderte.141 Allerdings verlor das Kulturgut »Reisen« in dem Moment an Prestige, in dem es von den Massen gepflegt wurde. Das wird Wanda Frisch nicht entgangen sein, auch wenn ihr Verhalten natürlich nicht der Reflexion des zeitgenössischen kulturkritischen Diskurses zu verdanken ist, sondern einem Habitus, der sie bevorzugen ließ, was ihr angemessen und erreichbar schien. Als Ausweg erwies es sich, die Insignien des gutbürgerlichen Reisens auch im heraufziehenden Zeitalter des Massentourismus einerseits beizubehalten und andererseits Neues zu adaptieren. Dabei kam es, wie so oft, nicht nur auf das Was an, sondern vor allem auf das Wie. Auffallend ist ihr Bedürfnis, einen fast persönlichen Service zu aktivieren, der jedoch, wie nicht anders zu erwarten, vielen zugänglich war.142 Voraussetzung ihres individuellen Reisens unter dem Schirm der Dienstleistungen 140 Vgl. ebd., S. 151. 141 Das zeigt sich eben nicht zuletzt darin, dass ihr »touristischer« Nachlass zwei Freundinnen der Familie als wertvoll und archivwürdig erschien und deshalb dem HAT übereignet wurde. 142 Die zeitgenössischen Statistiken belegen allerdings, dass nur Minderheiten solche Dienste nutzten. Selbst der Gang ins Reisebüro erforderte Kompetenz und Anspruchsverhalten.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
eines Reisebüros war neben der Möglichkeit und Bereitschaft, einen entsprechenden finanziellen Aufwand zu betreiben, das Vertrauen in die eigene kulturelle Kompetenz. Dazu dürften die Schulbildung, die Kindheitserfahrungen mit dem Reisen, ein Auslandsreisen fördernder Bekanntenkreis ebenso beigetragen haben wie ihre berufliche Aufgabe, als »rechte Hand« des Chefs Entscheidungen zu fällen und Menschen zu dirigieren. Andererseits teilt Wanda Frisch in vielem nicht die ästhetischen Vorlieben, die Bourdieu der neuen Kleinbourgeoisie zuschreibt. Sie erscheint kulturell etwas aus der Zeit gefallen, nicht avantgardistisch, sondern traditionell, eher als Platzhalterin auf verlorenem Posten denn als Kämpferin für die Anerkennung neuer Werte. Es sieht so aus, als repräsentiere sie eher das »etablierte« oder »exekutive« Kleinbürgertum, wären da nicht ihre Neigung zum Konsum (wenn auch vielleicht nur im Urlaub) und der Mangel an Bildungseifer im klassischen Sinn.143 In ihren Reisepräferenzen gehört sie weder zur absteigenden, noch zur aufsteigenden Fraktion des Kleinbürgertums. Dafür lassen sich in den Feinen Unterschieden einige Belege finden. Da lebt eine ältere, schlecht ausgebildete Krankenschwester einfach und bescheiden, so auch in den Ferien, wo sie sich in Frankreich ein Häuschen am Meere mietet, um sich auszuruhen.144 Eine sparsame ältere Bäckersfrau fuhr mit ihrem Mann nie in Urlaub, bevor sie sich einen Wohnwagen zugelegt hatten. Mit diesem verbringen sie zwei oder drei Wochen auf einem französischen Campingplatz, wo der Mann Boule und Karten spielt, sie dagegen verfertigt Handarbeiten.145 Beide stehen für die ins Hintertreffen geratenen Kleinbürger. Der verbissen um sozialen Aufstieg ringende Techniker verkörpert das »nach oben« orientierte exekutive Kleinbürgertum. Er fährt mit seiner Frau fast jedes Jahr in das Ferienhaus seines Vaters in Spanien. Dort ist er zu kaputt für das, was er sich eigentlich vorgenommen hat: Lesen und Sport treiben. Seine Frau lobt einen Urlaub, den sie mit dem Club Méditerranée in Rumänien verbracht haben, wo sie nette Leute und ein wenig das Land kennengelernt haben.146 Die 143
Natürlich tut sich hier wieder die Schwierigkeit auf, einen individuellen Fall mit statistisch relevanten Werten ins Verhältnis zu bringen. Wenn unsere Protagonistin nicht zufällig kinderlos geblieben wäre, hätte sie vielleicht die bei Bourdieu beschriebene asketische Haltung eingenommen, alles in die bessere Zukunft der Kinder zu investieren. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 549ff. 144 Vgl. ebd. S. 509. 145 Ebd., S. 547. 146 Ebd., S. 527.
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junge Krankenschwester mit Abitur dagegen trampt durch Europa, will etwas anderes und andere Leute sehen als zu Hause.147 Sie steht geradezu paradigmatisch für die »neue« Kleinbourgeoisie. Es bietet sich an, die unterschiedlicher Präferenzen bei den beiden Krankenschwestern mit der Differenz zwischen Wanda Frisch und der oben zitierten jungen Sekretärin in Köcks Untersuchung in Beziehung zu setzen. Gegensätze zwischen verschiedenen Altersgruppen, die in vielen Berufen anzutreffen seien, führt Bourdieu hauptsächlich auf die differente schulische »Generierung« zurück, die Folgen für die soziale Laufbahn und damit den Lebensstil habe.148 In unserem Fall dürfte die Entwicklung, die Ausdifferenzierung des touristischen Feldes mit seinen »Belohnungen« und der HysteresisEffekt dafür verantwortlich sein, dass der Reisestil Wanda Frischs von der jungen Kollegin vermutlich als wenig innovativ eingestuft worden wäre.149 Im Bestreben, einerseits die Auf- und Abstiegskämpfe innerhalb des weiten Feldes der »Mittelschichten« zu analysieren und andererseits dies vor allem anhand »legitimer« bzw. »illegitimer« Kulturgüter aufzuzeigen, wird die Kunst bei Bourdieu zwar nicht zum alleinigen, aber doch zum wichtigsten Referenzfeld. Das geschichtliche Verhältnis von »Reisen« und »Kunst« ist sowohl in produktiver wie rezeptiver Hinsicht gut untersucht. Für Wanda Frisch ist die Bilanz widersprüchlich. Zwar zeigte sie keine kunsthistorischen Interessen, aber es lassen sich zwei, ihre Urlaubsreisen tangierenden Felder ausmachen, die das Ringen um Prestige, um den angestammten Platz verdeutlichen: die Welt des Theaters und des Sports. Sie besuchte Opern-Aufführungen in renommierten Häusern ‒ so in München, wo sie regelmäßig auf der Durchreise Station machte. Die Attraktivität einer Stadt wie New York war für sie maßgeblich durch die weltbekannten Theater bestimmt. Auf der Seite der herrschenden Klassen stehen sich, so Bourdieu, zwei oder besser drei Lebensstile und Kulturen gegenüber, die durch einen »Ab147 Ebd., S. 558. 148 Vgl. ebd., S. 506. 149 Inzwischen sind auch die »Abenteuer-Urlauber« oder »Backpacker« wissenschaftlich endgültig entzaubert, was nichts an der Attraktivität dieser Reisestile ändert. Nach wie vor gilt das Reisen als unverzichtbarer Bestandteil des Lebensstils der kulturellen Eliten und es gehört immerhin schon einiges dazu, das zu erreichen, was die Vorgänger vorgelegt haben. Der Wert »authentischer« Erfahrung ist unübertrefflich. Vgl. dazu etwa Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a.M. 2017, S. 320ff.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
grund« getrennt sind. Auf der einen Seite die mit viel ökonomischem Kapital ausgestatteten Unternehmer, auf der anderen Seite die Lehrkräfte an höheren Schulen mit beträchtlichem kulturellen Kapital sowie die Angehörigen der freien Berufe, die von beidem genug haben. Interessanterweise sind es gerade touristische Unternehmungen und ihre Insignien, die Bourdieu mit der Kenntnis und Rezeption von Kunst und anderen geistigen Produkten zusammenführt: Bei den Lehrkräften die Rezeption avantgardistischer Stücke, von Lyrik und philosophischen Texten und die Neigung zum Wandern und Camping, zu Ferien auf dem Lande oder im Gebirge. Bei der alten Bourgeoisie korrelieren das Boulevardtheater oder Varieté und »die Lektüre von Geschichtserzählungen, Abenteuerromanen oder Illustrierten« mit dem Besuch teurer Badeorte, mit Ferien in hochpreisigen Hotels oder auf der eigenen Yacht. Die freiberuflich Tätigen können sich sowohl einem avancierten kulturellen wie materiellen Konsum zuwenden: »Kunstbücher, Kameras, Tonbänder, Boote, Ski, Golf, Reiten, Wasserski«.150 Auf Grund ihrer sozialen Stellung hat Wanda Frisch in diesen gesellschaftlichen Regionen scheinbar nichts verloren, doch ihr Reisestil ähnelt tatsächlich dem der alten Bourgeoisie, wenn auch materiell nicht so üppig ausgestaltet. Ihr Kunstgeschmack lässt sie, wie die Lehrkräfte, klassische Theaterstücke goutieren, jedoch keine avantgardistischen. Aber auch das Boulevardtheater besuchte sie gerne. Die Lektüre von Illustrierten, die sie zur Reisevorbereitung wie -nachbereitung nutzte, teilt sie mit den weniger Gebildeten. Ihre sportlichen Präferenzen verweisen eher auf die moderneren Freiberuflichen. Doch alle diese Ausflüge ins »Höhere« sind sozusagen nur die Lichtpunkte in einem insgesamt bescheideneren, aber dennoch auf soziales und kulturelles Prestige ausgerichteten Leben, die besonders im Urlaub ausgelebt werden. Dessen begrenzter Zeitrahmen steht dafür, dass sie einen solchen Lebensstil materiell durchhalten konnte. Die Unentschiedenheit des Geschmacks mag Ausdruck der kulturellen Allodoxia sein, als deren »designiertes Opfer« Bourdieu den Kleinbürger sieht. Von den legitimen Kulturgütern werden die trivialeren angeeignet. Diese »mittlere Kultur«, teils durch Autoritäten vermit-
150 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 442f. Diese Form wird längst als »midcult« klassifiziert, »der Kultur und Kommerz verbindet, geht doch von den angebotenen Gütern ein Reiz aus, der zwei unvereinbare Eigenschaften glücklich vereint: die leichte Zugänglichkeit und die äußeren Anzeichen der legitimen Kultur.« Müller, Pierre Bourdieu, S. 168.
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telt, gewinne ihren Reiz auch daraus, durch ihre Nähe zur legitimen Kultur mit dieser verwechselt werden zu können.151 Die konkreten Formen, in denen Wanda Frisch dies lebte, hinterlassen einen merkwürdig widersprüchlichen Eindruck, denn sie sind einerseits in Grenzen modern, andererseits schon in »ihrer« Zeit veraltet. Mit Bourdieu liegt es nahe, einen Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Laufbahn, von sozialem und biologischem Alter zu vermuten. Gerade eine biografische Perspektive ermöglicht es, nicht nur auf diejenigen zu schauen, die ein Feld neu betreten und gestalten, sondern auch im Auge zu behalten, was aus denen wird, die sich dort behaupten wollen und müssen. Schließlich bestimmen auch sie, welche »Kämpfe« um Anerkennung dort ausgetragen werden. Die kollektive Geschichte von Angestellten war, wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, immer ambivalent. Im Berufsfeld der Sekretärinnen tummelten sich Abgestiegene und Aufsteigerinnen, zwar insgesamt an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnend, doch auch stets prekär und im Ganzen wohl eher durch Stagnation geprägt. Die im angesehensten Fall der Chefsekretärin gegebene persönliche Abhängigkeit verhinderte und verhindert eine offene und unbestimmte Zukunft, wie sie Bourdieu den Berufen der neuen Kleinbourgeoisie attestiert, die von diesen selbst mit produziert und mit Wert versehen werden.152 Eine solche Konstellation lädt zum Bewahren des Ererbten ein, ist aber nicht konservativ genug, um Veränderungen zu verhindern. Werden die Investitionen in einem dynamischen Feld wie dem Tourismus gemacht, dann öffnen sich Türen für Experimente, etwa die Entfaltung eines innovativen Reisestils ‒ selbstverständlich nach Maßgabe des habituell Möglichen. Das soll nun genauer betrachtet werden.
4.5.2.
Massentourismus als Ausdrucksform einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«?
Als Wanda Frischs Reisekarriere Ende der 1950er Jahre an Fahrt gewann, erschien Knebels vielbeachtete und kritisierte soziologische Untersuchung über »Strukturwandlungen im modernen Tourismus«. Beabsichtigt war nicht weniger als der Versuch, anhand des Massentourismus und seiner Träger ein Gesellschaftsbild der sich verändernden Bundesrepublik zu zeichnen. Vor dem 151 152
Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 503f. Vgl. Ebd., S. 538f.
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Hintergrund einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, in der vorgeblich jeder alles wollen darf und kann, erschien der Tourismus als ein Feld, auf dem sich das ganz besonders gut vorführen ließ. Dafür nutzte Knebel bekanntlich die von Riesman vorgelegte idealtypische Konstruktion des traditions-, innen- und außen-geleiteten Menschen, deren touristische Ausgestaltung er näher ins Auge fasste.153 Ein sozialhistorischer Teil liefert die Vergleichsfolie für die im Hauptteil analysierte Rolle des »totalen« Touristen, in die der außen-geleitete Mensch während der Urlaubsreise schlüpfen sollte. Diese erwachse aus grundlegenden Strukturwandlungen der Gesellschaft, die sich darin äußern, dass sich die »neuen« Touristen aus Städtern rekrutieren, die den Urlaub aus einem laufenden und durch unselbständige Arbeit erworbenen Einkommen finanzieren und die dem »neuen Mittelstand« angehören. Der neue Touristentypus werde zunehmend durch Frauen und Erwachsene repräsentiert. »Die Wandlungen in der Sozialstruktur des Touristen sind im Grunde, wie wir sahen, nichts anderes als Funktionen der gewandelten Sozialstruktur überhaupt, wobei es offensichtlich so ist, daß diejenigen Schichten und Gruppen, die die Struktur der Gesellschaft wesentlich prägen, auch als Hauptkonsumenten auf dem touristischen Markt auftreten.«154 Ein Blick auf Wanda Frisch belehrt, dass sie sozial perfekt in die von Knebel charakterisierte Gruppe passt, aus der die außen-geleiteten Touristen hervorgehen sollen. So weit, so gut. Worin liegt nun der wissenschaftliche Reiz einer Studie, die, wie der Autor selbst vermerkt, aus Mangel an empirischen Quellen weitgehend spekulativ bleibt und nicht nur für heutige Leser ideologisch überformt erscheint, für das Vorhaben, den Habitus der Touristin Wanda Frisch noch deutlicher herauszuarbeiten? Er liegt gerade in der Zeitgenossenschaft. Die Verwunderung über das, was damals touristisch geschah, ist heute kaum mehr nachzuvollziehen. Überraschende, oft durch »harte« Fakten kaum belegbare Einschätzungen erhellen dennoch die Szenerie. Gerade dort, wo die Folgerungen unzutreffend sind, widerspiegeln sie die Widersprüche einer Aufbruchsphase.155 153 154 155
Vgl. Riesman, David; Denney, Reuel; Glazer, Nathan: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek bei Hamburg 1958. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 87. Das zeigt sich am deutlichsten in seiner Einschätzung des Winterurlaubs zu einer Zeit, als der »Skizirkus« noch in den Kinderschuhen steckte. So stellte Schildt für die 1950er Jahre fest: »Die ›Lust und Freude am Winter‹ in den Luftkurorten blieb vornehmlich einem bürgerlichen Publikum vorbehalten.« Schildt, Axel: »Die kostbarsten Wochen
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Knebel zeichnet eine (Reise)Welt im Übergang vom innen-geleiteten Touristen zum außen-geleiteten. Der eine ist idealtypisch verkörpert durch den Einzelreisenden, der nur eigenen Wünschen folgt und eine Reise gestaltet, die Langsamkeit und »inneres Erleben« ermöglicht, der andere durch den oder besser die Pauschalreisende mit vorprogrammierten Urlaubserlebnissen. Er findet dafür prägnante Worte und Bilder: »Von persönlicher Neigung zu Modediktatur«, »Vom Verstehen zum Stereotyp« oder »Von Kommunikation zu Information«. Seine Schilderungen des Einerseits und Andererseits ermöglichen es, Habitus und Reisestil von Wanda Frisch einzuordnen. Allerdings erscheint bei ihr gleichzeitig, was Knebel eher als historisches Nacheinander darstellt, auch wenn er innen-geleitete Urlauber noch in der Gegenwart ausmacht.156 Ältere bürgerliche Tugenden und massenkulturelle Orientierungen gingen eine eigenartige Symbiose ein und sind oft nur durch ein »Sowohl als auch« zu erfassen. Zugleich verloren die Traditionsbewussten an Boden und passten immer weniger in die Zeit ‒ so generiert sich der Hysteresis-Effekt. Dabei ist auch für Knebel die »alte Zeit« noch nicht vergangen und in seiner Kulturkritik präsent, die den Modus objektiver Analyse immer wieder unterläuft ‒ der Theoretiker und die Protagonistin vertreten zwar sozial und kulturell unterschiedlicher Fraktionen der »Mittelschicht«, doch teilen sie auf je eigene Art und Weise ähnliche Ambitionen. Für den Soziologen lassen sich der männliche, bürgerliche Naturfreund auf Wandertour leicht als geheimes Urbild des innen-geleiteten Touristen ausmachen, das schon zur Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert vor allem dem Wunschdenken entsprang. Wenn er suggeriert, die Pauschalreisenden als typische zeitgenössische Vertreter des außen-geleiteten Tourismus seien für eine sich schon in den 1950er
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des Jahres«. Urlaubstourismus der Westdeutschen (1945-1970), in: Spode, Hasso (Hg.): Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989, Berlin 1996, S. 78. Für Knebel war der Winterurlaub dagegen »Sozialanspruch unserer Zeit« und wegen seiner Selbstverständlichkeit zur Distanzierung vom Massentourismus ungeeignet worden. Man laufe Ski, weil es Mode ist und Kontaktbedürfnisse aller Art befriedige. Vgl. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 160ff. Und nicht nur das. Der Wintertourist sei geradezu idealtypisch für reine Außenleitung. Für ihn seien die Mittel ‒ Konsum von Waren, Dienstleistungen und (erotischen) mitmenschlichen Beziehungen ‒ genauso wichtig geworden wie für den Innengeleiteten das individuelle Naturerlebnis. Das scheint zumindest die Werbung zu suggerieren. Vgl. ebd., S. 93f. Er qualifiziert sie als »dünne soziale Oberschicht«, für die der demonstrative Konsum noch verbindliche Verhaltensnorm sei, besonders in den Kurorten. Vgl. ebd., S. 173.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Jahren entwickelnde »Reisewelle« verantwortlich, so entspricht das nicht den historischen Tatsachen.157 Es scheint, als habe er die althergebrachte Tourismuskritik nun den unglücklichen Pauschalreisenden aus den unteren Etagen der Gesellschaft aufgebürdet. Die Chefsekretärin andererseits gehört danach zwar ins Spektrum der Außen-geleiteten ‒ etwas Anderes blieb ihr als Frau und Angestellte verwehrt ‒ doch wollte sie gerade nicht wie »Jedermann« verreisen und erst recht nicht als eine Art Paket in die Unterkünfte des Massentourismus verschickt werden, wie ein prominentes Bild suggerierte. Der zentralen Behauptung Knebels, moderner Tourismus sei »sozial relevanter Konsum« auf materieller und ideeller Ebene, für den die Reiseanbieter ein »abgestuftes Leistungssystem« bereithielten, wird niemand widersprechen wollen.158 Die immaterielle Ebene wird durch den Begriff des »demonstrativen Erfahrungskonsums« (»conspicious experience«) der »leisure-masses« repräsentiert, eine Art Weiterentwicklung der bekannten Thesen Veblens.159 Der Sinn des Reisens besteht hier in der Akkumulation von »Sozialisierungssymbolen«, die sich letztendlich darin bewähren, mitreden zu können. In den Urlaubserlebnissen aufzugehen, bringt aus dieser Perspektive keinen Gewinn, denn erst zu Hause, nach dem eigentlichen Konsumvorgang, erhalten sie ihre soziale Bedeutsamkeit.160 Die geselligen Momente der Reise, die Knebel als ehemaliger Werbefachmann anhand der Analyse von VeranstalterProspekten ausweist und das Ziel, nach der Reise im gesellschaftlichen Verkehr eine Art Gewinn einzufahren, erweisen ihn als kompetenten Vorgänger von Urry.161 Auch materiell habe sich einiges verändert. Unter der bezeichnenden Überschrift »Von der Promenade zum Shopping« identifiziert Knebel Shopping als »habituelles Freizeitverhalten«, dass Touristen dazu bringe, »die fremde, unbekannte Stadt zum Reiseziel zu wählen und die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt in den Schaufenstern zu suchen.«162 Es zeigte sich, dass Wanda Frisch vor allem Dokumente eines solchen Konsums überliefert hat 157 158 159
Vgl. Schildt, »Die kostbarsten Wochen des Jahres«, S. 73ff. Vgl. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 116. Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a.M. 1986 sowie Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 115. 160 Vgl. ebd., S. 127ff. 161 Vgl. Urry, The Tourist Gaze. 162 Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 144.
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Die Touristin Wanda Frisch
(Rechnungen) und das Konsumieren, ja sogar ein gewisser Luxuskonsum ihre Reisen dominiert hat. Sie ließ es sich im Urlaub richtig gut gehen, wohnte in bekannten Hotels, genoss Dienstleistungen, kaufte ein und zwar auf einem Level, der das von zu Hause Gewohnte überstieg. Das passt scheinbar eher in die Kategorie des »demonstrativen Konsums« älterer Prägung, der gegenüber anderen Touristen oder Freunden und Kollegen zu Hause durchaus von Wert war. Oder ist die Einschätzung Knebels zutreffender, das »Sichselbst-etwas-Gönnen«, »Sich-selbst-Beweisen« des »kleinen Mannes« als Tourist komme einem »demonstrativen Verbrauch vor dem eigenen Selbst gleich«? Damit sei durchaus ein Mehrwert nach außen verbunden, wenn es den Geschmack in den »Freizeitkünsten« forme, wofür mehr als Kaufkraft, aber keine Tradition erforderlich sei. Wanda Frisch hatte verstanden, dass gerade die Urlaubsreise auf Grund ihres spezifischen Charakters vor anderen Freizeitaktivitäten zu einer wesentlichen Quelle sozialen Ansehens aufgestiegen war. Sie stützte sich auf die neuen Institutionen (Reisebüros, Reiseanbieter, touristische Infrastruktur, Verkehrsmittel) des sich entfaltenden Massentourismus. Ganz im Sinne einer außen-geleiteten Touristin nutzte sie Medien, die diesen Aufstieg begleiteten und forcierten ‒ Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Reiseinformationen statt umfänglicher Reiseliteratur. Sie strebte danach, gebräunt aus dem Urlaub zurückzukehren (»Modediktatur«) und spulte, wie erwähnt, das vom Reisebüro zusammengestellte Programm ab. Wenn es »wie am Schnürchen lief«, war das für sie ein Qualitätsmerkmal ‒ und ein Graus für den innen-geleiteten Reisenden, der sich auf Abenteuer und Umwege einlassen sollte. Hier ist vielleicht eine Schnittstelle zum Verhalten in der Arbeitswelt zu identifizieren. Beruflich hatte sie dafür zu sorgen, dass der »Chef« störungsfrei arbeiten konnte, wofür sie sich selbst gut organisieren musste. Wanda Frisch wirkte, anders als Pauschalreisende, an ihrem Reiseprogramm mit, das zwar wenig Überraschendes enthielt, aber auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmt war. So aus dem normalen Rahmen fallend ihre Reisen anfangs auch waren, sie folgten doch gebahnten touristischen Wegen. Illustrierte hatten sie mit »wohlberechneten Ausschnitten aus der ganzen Wirklichkeit« überzeugend versorgt und ihr Gesichtsfeld bestimmt.163 Die Besichtigung der Originale scheint dann kaum noch von Bedeutung zu sein. Das ist ein bekanntes und starkes Motiv touristischer Kulturkritik, dem Knebel im Übrigen an anderer Stelle widerspricht, wenn er feststellt, dass 163
Ebd., S. 135.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
trotz Massenhaftigkeit keine »Normierung des Konsums von Reizen, Eindrücken und Erlebnissen« möglich sei.164 Wanda Frisch war hingerissen vom Erleben exklusiver Urbanität, den städtischen Ensembles von Baudenkmälern aller Art, Theatern, Hotels und Restaurants und dem Flair, das ihnen Bewohner und andere Besucher verleihen. Jedenfalls überrascht die Leichtigkeit, mit der sich Wanda Frisch, immerhin eine »höhere Tochter«, selbst beim Besuch kultureller Hochburgen den herkömmlichen Bildungsanmutungen entzog. Natürlich hat sie sich ihre Erlebnisse durch Fotos oder Postkarten angeeignet und auf Dauer gestellt, wie es die postulierte notwendige zeitliche Trennung von Erlebnis und sozialer Bedeutsamkeit im Modus von »conspicious experience« verlangt. Doch hat sie sich dadurch nicht davon abhalten lassen, eigene Beobachtungen anzustellen, sich für befremdlich oder anrührendes Neues und die Menschen zu interessieren, denen sie begegnet ist. Freilich verblieb sie in der Position der Zuschauerin, ein »habitueller Bestandteil« der Außen-geleiteten, die vermeintlich weder in der Arbeit noch in der Freizeit über sich selbst bestimmen können bzw. wollen.165 Zu diesem Verhaltenssyndrom gehört es auch, sich an Prominenten zu orientieren, die Orte zu besuchen, an denen sie sich aufhalten ‒ Wanda Frisch war dafür, wie oben beschrieben, recht empfänglich. Eine wichtige Voraussetzung für den »demonstrativen Erfahrungskonsum« ist die Unfähigkeit des Touristen, aus eigenem Antrieb in die Gegenwelt des Urlaubs zu fliehen. »Die Erholung ist zum rationalisierten Motiv des zur Muße und Entspannung Unfähigen geworden. Sie schlägt in Genuss von sozialisiertem Luxus, Service und eigenem Selbst um.«166 Nicht Vertiefung in das Gesehene, sondern ständig neue Reize müssen angeboten werden, deren programmierter Konsum Ausweis von Kompetenz ist. Nur dadurch gelange der außen-geleiteten Urlauber zu sich selbst. Allerdings sind, um es mit einem gerade für den Tourismus so gern genutzten Begriff auszudrücken, weder die Reisenden selbst noch das, was sie erleben, ist »authentisch«.167 Schon
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Ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 97. Vgl. dazu die Überlegungen von Saupe, der allerdings den deutschen Diskurs unbeachtet lässt. Saupe, Achim: Historische Authentizität: Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst ‒ ein Forschungsbericht, in: H-Soz.-Kult, 15.08.2017, S. 50ff., http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2017-08-001, Zugriff am 17.3.2018. Auf
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lange vor der Diskussion um den »Post-Touristen« erkannte Knebel, dass sie das auch gar nicht wollen. Die alten »legitimen« Demonstrationsobjekte authentischer Reiseerlebnisse der Innen-geleiteten werden ohne Reue entwertet und damit diese selbst. Kofferaufkleber dokumentieren nicht mehr den Aufenthalt in einem Luxushotel, Tragetaschen von Luftfahrtgesellschaften geben keine Auskunft darüber, ob sie deren Besitzer tatsächlich befördert haben ‒ jedermann, auch der Nicht-Reisende, kann sie im Andenkenladen erwerben. Aus dem Reisetagebuch von einst seien Fotoalben mit kurzen Randnotizen geworden, Ansichtspostkarten ersetzten ausführliche Briefe und dienten allein demonstrativen Zwecken.168 Über die entsprechenden Praxen von Wanda Frisch wird noch in den folgenden Kapiteln zu berichten sein. Ihre Erwartungen und Erlebnisse hat sie, zumindest in schriftlicher Form, gewissermaßen durch andere ausdrücken lassen, durch Reisejournalisten aus einer eng begrenzten Auswahl eher konservativer Zeitungen. Einerseits ist nicht zu erkennen, dass sie sich kritisch mit ihrer Art zu reisen auseinandergesetzt hätte. Willig folgte sie den Vorgaben, die ja ihren Wünschen entsprachen. Den Anstrengungen eines intensiven Genusses von Natur und Kultur stellte sie sich nicht. Das Reiseprogramm vereinigt zwar Hochkulturelles und Populäres, aber die Theaterbesuche (eigentlich Hochkultur) zeigen, dass Show und sinnliche Eindrücke präferiert wurden und weniger die geistige Auseinandersetzung. Andererseits ist ihr an Distinktionsmöglichkeiten gelegen ‒ realisiert über die Art der Reiseziele und die gehobene Ausstattung. Der Kimono sollte aus Japan sein und der Kofferaufkleber »echt«. Mit Trauer musste sie erleben, dass die Orientierungsfunktion distinkter Formen bürgerlichen Urlaubs an Bedeutung verlor, darin eingeschlossen jene, die das lebenslange Reisen mit sich bringt. Denn nicht nur für den außen-geleiteten Touristen haben, wie sich zeigen ließ, seine Erfahrungen nicht allein nach der Rückkehr, »sondern das ganze Jahr hindurch, vielleicht sogar bis ans Lebensende« demonstrativen Charakter. Tatsächlich gilt: »Die Summe der demonstrativen Urlaubserfahrungen ist mehr als die
den Themenkreis Reisen und Tourismus bezogen liefert der bereits erwähnte von Köck herausgegebene Sammelband zu Reisebildern immer noch einen guten Einstieg. 168 Vgl. Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, S. 144ff. Die solchen Beobachtungen inhärenten Idealisierungen müssen hier nicht kommentiert werden. Längst hat die Reiseforschung ein realistischeres Bild dieser Vorgänge gezeichnet.
4. »Sie reiste, wie sie lebte«
Summe erlebter Ferientage.«169 Doch müssen die Anstrengungen, in diesem Feld zu reüssieren, ständig neu justiert werden. Schon immer gereist zu sein, reicht nicht mehr aus. Wanda Frischs Reisekonsum war »ohne Reue« und sie konnte ihn sich leisten. So passt sie in die historische Landschaft der prosperierenden Nachkriegszeit. Gedanken an mögliche negative Folgen für die Bereisten, an Umweltzerstörung durch Tourismus lagen ihr fern und blieben es. Zugleich ist ihr nicht zu unterstellen, sie habe danach getrachtet, »bessere Orte woanders zu finden«.170 Selbstverständlich wollte sie ihre Erwartungen bestätigt finden, viel interessanter sind doch aber die Grenzen dessen, was sie darüber hinaus noch tolerabel, wenn nicht anziehend fand. Das hat etwas Bodenständiges und Nüchternes, denn »Träume« von einer anderen Welt, die es erlauben würden, vom Surrogat-Charakter der Reisebilder zu sprechen, waren damit nicht verbunden. Aus der Sicht von Wanda Frisch, auch das ist ein Vorteil des gewählten Verfahrens, scheint mancher Diskurs unter Tourismuswissenschaftlern obsolet, der vor allem auf Versprechungen der Reiseanbieter, Vorgaben in Reiseführern oder medial verbreitete Reisebilder rekurriert und in den modernen oder postmodernen Touristen nur »willige Vollstrecker« der Tourismusindustrie sieht. Soziale und kulturelle Unterschiede zwischen den Touristen, die sich in unterschiedlichen Lebens- und Reisestilen ausdrücken und lebenszeitlichen, generationellen wie historischen Veränderungen unterliegen, können dagegen Einblicke in den differenten Umgang von Reisenden mit ihren Erwartungen und Erfahrungen und dem Konsumgut »Reise« erbringen.
169 Ebd., S. 142. 170 Vgl. Wöhler, Karlheinz: Aufhebung von Raum und Zeit. Realitätsverlust, Wirklichkeitskonstruktion und Inkorporation von Reisebildern, in: Köck, Reisebilder, S. 84.
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5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
Wanda Frisch hat, es wurde mehrfach erwähnt, ein vielgestaltiges Konvolut hinterlassen, das ihre Reisebiografie repräsentiert, die Reisebiografie einer Touristin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wurde bisher vor allem auf die in Ordnern befindlichen Dokumente vom Flugticket bis zum Zeitschriftenartikel zurückgegriffen, rücken nun die Fotoalben ins Blickfeld, die sie im Laufe ihres Reiselebens angelegt hat. Dieser Teil des Nachlasses soll genutzt werden, um eine Art Brücke zu bauen. Der eine Pfeiler soll in der Reisekultur am Ende des 18. Jahrhunderts ruhen, während der andere in die touristische Welt Westdeutschlands vor der Jahrtausendwende eingesetzt wird. Das impliziert, die Trennung zwischen »Reisen« und »Tourismus« insofern aufzuheben, als einerseits nach touristischen Momenten in den Reisen der Spätaufklärungsgesellschaft und andererseits nach deren Erbe im modernen Tourismus gesucht werden soll. Im Zentrum steht zunächst, dem Medium Fotoalbum entsprechend, eine Betrachtung jener Bilderwelten, die seinerzeit etwa ab dem Jahre 1780 die bürgerlichen Mittelschichten erreichten und deren touristische Erschließung der Welt vorbereiteten und begleiteten. Der Fokus wird deshalb auf populäre Medien gerichtet, die auch Kaufleuten und Gewerbetreibenden wie ihren Angestellten zugänglich waren und die sowohl der Bildung wie der Unterhaltung dienten. (Nebenbei bemerkt wäre es längst überfällig, ins Heer der Reisenden auch all die Dienstboten einzubeziehen, die ihre Herrschaften begleiteten und derer in den Überlieferungen oft nur dann gedacht wird, wenn sie sich den Ansinnen ihrer Arbeitgeber zu entziehen suchten.) Es wird nach Strategien zu Bildung und Selbstaufklärung gefragt, die jene Fraktionen des Bürgertums auf ihren Reisen entwickelt haben, die nicht zu den bildungsbürgerlichen Eliten gehörten, um letztlich entsprechende Praxen auch bei der Urlaubsreisenden Wanda Frisch identifizieren zu können.
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Die Touristin Wanda Frisch
Das Ziel, ein Instrumentarium zur Interpretation von Fotoalben und Urlaubsfotos zu entwickeln, wird sowohl im vorliegenden wie im folgenden Kapitel verfolgt. Es impliziert, die vorhandenen theoretischen wie empirischen Untersuchungen nach entsprechenden Kriterien zu durchforsten und neue Wege auszuprobieren. Letztendlich wird auf das Moment der Bewegung abgehoben, das dem Reisen innewohnt (wobei auch das gedankliche Unterwegssein in der heimischen Stube nicht unberücksichtigt bleibt). Wie ist diese Bewegung zum Reiseziel hin und vor Ort, sei sie nun schnell oder langsam, mit den Medien verwoben, in denen sie ausgedrückt wird? Dabei wird vor allem an das Bild respektive eine Bilderfolge gedacht, wobei angesichts des favorisierten Mediums Fotografie (und nicht Film) ein gewisser Widerspruch einzukalkulieren ist, wenn Facetten einer Ästhetik der Dynamik im Mittelpunkt stehen sollen. Die Produzenten und Rezipienten der entsprechenden »Bilder« können sowohl professionell ausgewiesen sein wie auch Laien ‒ mit entsprechenden Zwischenstufen. Welche Wechselverhältnisse sind zwischen ihnen auszumachen? Gegen dieses Anliegen der Spurensuche sprechen einige von Tourismusforschern vorgetragene Argumente. Spode hat vorgeschlagen, dem »Ideal der Bildungsreise« dadurch zu entkommen, dass die Urlaubsreise heutiger Touristen als etwas »anderes«, nämlich gerade als davon entlastet zu betrachten sei. Diese Perspektive hatte seinerzeit schon Wagner eingenommen, dem es angebracht schien, das Erbe der »romantischen und bürgerlichen Individualreise und Bildungsexkursion mit dem Baedeker im Gepäck« auszuschlagen.1 Auch Kramer betont eher die Unterschiede. In den Urlaubsreisen unserer Tage sieht er vergangene Formen nur mehr »residual« aufgehoben.2
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Vgl. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 11. Vgl. Wagner, Friedrich A.: Die Urlaubswelt von morgen. Erfahrungen und Prognosen, Düsseldorf-Köln 1970, S. 9. Bestätigung findet die Idee des Brückenschlags auch durch die kürzlich veranstaltete Tagung »Das 18. Jahrhundert in Film und Populärkultur«, die sich nicht nur, wie es der Titel nahelegt, mit Repräsentationen des 18. Jahrhunderts in der heutigen Unterhaltungskultur, sondern auch »mit der Populärkultur des 18. Jahrhunderts« selbst beschäftigte. »Eine wachsende Mittelschicht bedeutete […] eine wachsende Nachfrage nach Unterhaltung, Konsum und sozialem Austausch über politisch-territoriale Grenzen hinaus.« https://www.hsozkult.de/event/termine40418?utm_source=hsk, Zugriff am 27.5.2019. Kramer, Was bedeutet die Theorie des Tourismus für die Kulturwissenschaften, in: Burmeister, Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, S. 157.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
Auf diese Weise wird die wissenschaftliche Aufmerksamkeit einerseits auf unleugbar neue Qualitäten des Urlaubsverhaltens im 20. Jahrhundert gelenkt. Andererseits wird auf einfache Weise den Kulturkritikern am Massentourismus der Wind aus den Segeln genommen. Doch gibt es auch genauso gute Gründe, die für den hier angestrebten Brückenschlag ins Feld geführt werden können. Die Bedingung dieser Möglichkeit resultiert aus jener bereits im zweiten Kapitel eingeführten, sich in der »Sattelzeit« vollziehenden Wende, in der sich Praxis und Theorie der Weltwahrnehmung und -gestaltung grundlegend veränderten und mit der langen Phase der Moderne auch eine neue Reisekultur entstand. Deren Charakteristika seien, so Spode, »selbst im Getriebe des industrialisierten Massentourismus erstaunlich intakt geblieben.«3 Auch der Tourist sei, so formulierte er seinerzeit programmatisch, »das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, und diese wiederum sind das momentane Resultat geschichtlicher Prozesse.[…] Tourismus ohne Kenntnis seiner Geschichte und der Geschichte der Kultur, in die er eingebettet ist, bleibt ein Rätsel.«4 In eine ähnliche Richtung weisen die Untersuchungen Bechers zur Geschichte des modernen Lebensstils, die den Zeitraum von 1800 bis 1985 umfassen und von keiner besonderen qualitativen Zäsur ausgehen. Heutiges Reiseverhalten folge »weitgehend Modellen, die in früheren Epochen ausgebildet worden sind.«5 Massentourismus bedeute, »dass Tourismus ein weit verbreitetes Phänomen ist, dem in der Tat massenhaft nachgegangen wird.«6 Individualisierung als Kennzeichen des modernen Lebensstils anzusehen, sei dadurch jedenfalls nicht obsolet geworden. Genuss und Glück des Lebens ‒ so ist lautet der Titel einer Untersuchung zum Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, die neben Büchern und ihren Lesern, 3
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Spode, Hasso: Tourismologie? Anmerkungen zur Rolle der Historischen Tourismusforschung in der Wissenschaftslandschaft, in: Opll, Ferdinand; Scheutz, Martin (Hg.): Fernweh und Stadt. Tourismus als städtisches Phänomen, Innsbruck/Wien/Bozen 2018, S. 27. Spode, Hasso: »Reif für die Insel«. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus, in: Cantauw, Arbeit, Freizeit, Reisen, S. 108. Das ist etwas Anderes als die mehr oder weniger kurzen historischen Rückblicke in tourismuswissenschaftlichen Monografien und Handbüchern wie etwa im frühen Standardwerk von Prahl, HansWerner; Steinecke, Albrecht: Der Millionenurlaub. Von der Bildungsreise zur totalen Freizeit, Darmstadt/Neuwied 1979. Becher, Ursula A.: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen -Wohnen ‒ Freizeit ‒ Reisen, München 1990, S. 221. Ebd., S. 222.
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neben Wohnkultur, Mode und Luxus, neben neuen Genussmitteln und Formen der Geselligkeit auch Reisen und Reisekultur betrachtet.7 Schaut man sich diesen Abschnitt allerdings genauer an, so ist von »Genuss und Glück« keine Rede, dafür aber, entsprechend den Prämissen der ausgewerteten Literatur, von »Bildung« und »Selbstbildung«.8 Doch sind das bekanntlich nicht die einzigen Quellen von Genuss und Glück und die so erzielbaren sinnlichen Erlebnisse sind (im besten oder schlimmsten Fall) geistig sublimiert. Reisen diente jedenfalls, so wird es überliefert, nicht dem Vergnügen, sondern einem »höheren« Ziel. Die zunehmende Kommerzialisierung von Kultur wurde dabei vornehm übergangen. Käuflich scheinen allein die Bereisten als Dienstleister aller Art, was regelmäßig beklagt wird und das Gelingen der Reise behindern kann. Dem Tourismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder gar dem Massentourismus werden dagegen ausgesprochen konsumistische Züge zugesprochen, ja, sie sollen darin sogar aufgehen. Es stellt sich somit die Frage, wie eine konsumistisch eingestellte Genussreisende, als die Wanda Frisch bisher beschrieben wurde, mit jenen Reisenden verglichen werden kann, deren Konsum, wenn er überhaupt Erwähnung findet, in idealistischer Weise umgedeutet wird. Dazu soll untersucht werden, ob all die Anstrengungen zu »Bildung« und »Selbstbildung«, die programmatisch den Beginn bürgerlicher Reisekultur charakterisieren, völlig verschwunden oder zur Farce verkommen sind. Mentalitätsgeschichtlich sind sie eingebettet in die »alles beherrschenden geistigen Strömungen der Aufklärung und Romantik«, die »sich dabei nicht als zwei aufeinanderfolgende Phasen, sondern als ›Zwillingsschwestern‹ erweisen.«9 Während die Patenschaft der Romantik für den modernen Tourismus unstrittig ist, ja sogar als Argument genutzt wird, um ihn zu entwerten, ist die Identifizierung des mit der Aufklärung verbundenen Erbes ungewohnt und
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North, Michael: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2003. Die Wendung »Genuss und Glück des Lebens« übernahm North von Bertuch, gemeint ist damit das Vergnügen, das »Kunst und Unterhaltung« gewähren. Vgl. ebd., S. 1 Ebd., S. 33-54. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 13.
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schwierig. Gerade die Entlastung davon soll ja den Aufstieg der touristischen Reise befördert haben.10 Eine Autopsie der Reisepraxen könnte bei der Auflösung dieser Widersprüche ebenso hilfreich sein wie die Beleuchtung von historischen Zwischenstufen. Dafür ist ein grundlegender Wechsel der theoretischen Perspektive nötig, der gleichzeitig den Vorteil hätte, die Insuffizienz der im Konvolut von Wanda Frisch überlieferten Quellen zu mindern oder gar ins Positive zu verkehren. Mary Shelly, die Erfinderin von Frankenstein, hat den Eintrag des touristischen Moments in die Reisekultur des 19. Jahrhunderts und damit eine solche Zwischenstufe besonders glücklich beschrieben. Das Vorwissen eines Reisenden scheint ihr keine Behinderung, sondern eine Bedingung der Möglichkeit, aus dem Reisen jenen Gewinn zu ziehen, der nur ihm eigen ist. In ihren »Streifzügen durch Deutschland« aus den Jahren 1840 und 1842 kritisiert sie deshalb einen jungen Engländer, der ihrer Meinung nach nur unterwegs war, um hinterher nachweisen zu können, dass auch er gereist sei. »Er war dabei, ›seine‹ Sächsische Schweiz abzuhaken; er hatte ›sein‹ Italien abgehakt, ›sein‹ Sizilien; er hatte seinen Sonnenuntergang auf dem Berg Ätna abgehakt, und sobald er ›sein‹ Deutschland abgehakt hatte, würde er nach England zurückkehren, um zu beweisen, wie völlig frei von Eindrücken und Wissen ein Reisender bleiben kann, wenn er unfähig ist, seine Seele mit der Natur zu verbinden und nicht in der Lage, durch Talente oder Vorbildung aus dem, was er sieht, irgendwelche Kenntnisse zu gewinnen.«11 Das ist ebenso »romantisch« wie »aufklärerisch« argumentiert. Hierzulande beherrschten allerdings lange Zeit Literaturwissenschaftler und Historiker eine Reiseforschung, die sich vornehmlich Reiseberichten und
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Vgl. dazu etwa Sautermeister, Gerd: Reisen über die Epochenschwelle. Von der Spätaufklärung bis zum Biedermeier, in: Griep, Wolfgang; Jäger, Hans-Wolf (Hg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen, Heidelberg 1986, S. 271-293. Shelley, Mary: Streifzüge durch Deutschland. Reiseberichte (hg. von Michael Klein), Heidelberg 2018, S. 165. »Abgehakt« hat im wörtlichen Sinn auch Wanda Frisch. Die von ihr hauptsächlich genutzten Reiseführer von Polyglott laden mit ihren knappen Beschreibungen dazu ein, ein Häkchen hinter alle Sehenswürdigkeiten zu setzen, die besichtigt worden sind. Anders als von Shelly kritisiert, könnte diese Strategie dazu gedient haben, ein Reisetagebuch im Sinne einer genauen Erinnerungsarbeit zumindest teilweise zu ersetzen.
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Reisediskursen der Aufklärung oder des beginnenden 19. Jahrhunderts zugewandt hatte.12 »Sehen und Beschreiben« ‒ dieses Motto eines Symposiums aus dem Jahre 1990 bestimmte zugleich die Programmatik des Reisens in der Aufklärungszeit wie seiner Erforschung. Aufklärerisches Reisen stand unter einem »Öffentlichkeitsanspruch« und damit Veröffentlichungsgebot, wie Laermann seinerzeit am Beispiel Lavaters demonstriert hat, von dem »die wohl langweiligste Reisebeschreibung seiner Zeit« stammt.13 Lavater wurde, diese kleine Abschweifung sei gestattet, von Zeitgenossen wie Knigge gerade deshalb kritisiert, weil er nur Privates mitteilte und unaufhörlich Banales von sich selber berichtete, etwa übers Haare kämmen. Nicht nur hatte er seinen Bericht ausschließlich seinen Freunden gewidmet, er blieb auch während der Reise durch Zirkularbriefe mit ihnen verbunden. So geriet die Reise weder für ihn noch die bürgerliche Mitwelt zu einer Erfahrung und verfehlte somit das Ziel, an der Konstitution der Aufklärungsgesellschaft mitzuwirken. Aus dieser Argumentationsfigur resultierte eine problematische Identifizierung von Reise und Reisebericht, denn genau diejenige historische Situation, die zur Konstruktion dieser dialektischen Beziehung Anlass gab, wurde zum Qualitätsmerkmal, an dem sich spätere Zeiten messen lassen mussten. Zugleich wurde aber betont, dass sich der Reisebericht einer Engführung als Faktenlieferant für Historiker entzieht und mit den traditionellen Mitteln der Ger-
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Im Diskurs um die bisherige Abstinenz deutscher Historiker in Sachen Bildquelle vermutete Bredekamp, dies sei eine Folge des nachwirkenden Einflusses von Ranke, der »Quellen« mit »Schriftquellen« gleichgesetzt habe. Vgl. Philipp Molderings: Geschichtswissenschaft und das Bild als historische Kraft. Ein Interview mit dem Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp, in: Visual History, 01.02.2016, S. 1, https://www.visual-history.de/2016/02/01/geschichtswissenschaftund-das-bild-als-historische-kraft/, Zugriff am 4.5.2019. Allerdings wurde auch in diese Mauer bereits eine Bresche geschlagen. Kathrin Maurer beschäftigte sich mit der »Macht des Bildes im deutschen Historismus«, angefangen von Ranke bis hin zu Geschichtsbüchern und Schulatlanten. Vgl. Maurer, Kathrin: Visualizing the Past. The Power of the Image in German Historicism, Berlin/Boston 2013. Laermann, Klaus: Raumerfahrung und Erfahrungsraum. Einige Überlegungen zu Reiseberichten aus Deutschland vom Ende des 18. Jahrhundert, in: Piechotta, Reise und Utopie, S. 62ff. Assoziationen zur Gegenwart sind beabsichtigt.
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manistik nicht adäquat untersucht werden kann.14 Allerdings blieb es dabei: ohne Texte kein Forschungsgegenstand.15 Auch Griep, selbst maßgeblich an der Konstituierung der historischen Reiseforschung beteiligt, betont rückblickend diese »Vaterschaft« von Literaturwissenschaftlern und Historikern in ihrer innovativen Hinwendung zum bis dahin stiefmütterlich behandelten non-fiktionalen Reisebericht und der programmatischen Reiseliteratur. Seine Überlegungen sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden, liefern sie doch Anknüpfungspunkte für den hier beabsichtigten Brückenschlag zwischen der Reisekultur der Spätaufklärung und dem Urlaubstourismus à la Frisch. Zunächst geht es um die erwähnte Identifizierung von Reise und Reisebericht, wie sie sich im Standardwerk von Brenner und dort besonders im einzigen Beitrag über die Nachkriegszeit finden lässt.16 Dabei sei, so Griep, vergessen worden, dass »Reise und Reiseliteratur nur sehr vermittelt miteinander zu tun haben.« Infolgedessen würde 14
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Im Forschungsbericht zu der von ihm herausgegebenen Gattungsgeschichte des Reiseberichts in der deutschen Literatur schrieb Brenner: »Eine Erforschung dieser Gattung, die sich auf das einließe, was zu ihrem adäquaten Verständnis notwendig wäre, würde der Germanistik eine weite Überschreitung ihrer selbstgezogenen Grenzen ansinnen. Sie würde nichts weniger bedeuten, als daß das Fach sich als eine Kulturwissenschaft verstünde. […] Die Forschung muß sich vertraut machen mit den faktographischen Ergebnissen und den methodischen Grundlagen der Geschichts- wie der historischen Sozialwissenschaft, der Ethnologie, der Anthropologie, der Philosophie und Volkskunde, der Geographie und der Geschichte der Naturwissenschaften, um nur die wichtigsten der Fachgebiete zu nennen, die dabei zu berücksichtigen wären.« Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990, S. 2. Über die Verquickung von Reise und Reisebericht und die daraus resultierenden Konsequenzen kann sich ein Soziologe wie Robert Schäfer, der sich in seiner Dissertation Internet-Reiseberichten als Quelle zugewandt hat, nur wundern. »Es ist vor dem Hintergrund der immensen Menge und Vielfalt an Reiseberichten einigermaßen verwirrend, dass in den Literaturwissenschaften regelmäßig die These vom vermeintlich unaufhaltsamen Niedergang dieser Gattung diskutiert wird. […] Viele Untersuchungen des Genres des Reiseberichts behandeln über weite Strecken nicht eigentlich dieses, sondern das Reisen. Die Niedergangsthese bezieht sich deshalb nicht nur auf die literarische Gattung, sondern stets auch auf die Handlung, die durch sie beschrieben wird.« Schäfer, Robert: Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichem, Bielefeld 2015, S. 144. Vgl. Jost, Herbert: Selbst-Verwirklichung und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus, in: Brenner, Der Reisebericht, S. 490-507. In dem später erschienenen Band zur Reisekultur in der Zwischenkriegszeit wurde das Problem der Vermengung dadurch gelöst, dass einige Autoren über die Reisepraxis
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»die historische Reiseliteratur […] oft doppelt falsch gelesen.«17 Zum einen werde nicht bedacht, dass das Reisen und das »Drucken lassen« jeweils anderen Marktgesetzen folgten. Viel wichtiger ist aber, dass sich kaum jemand mit jenen ungeschriebenen Reisen beschäftigt habe, die nur über Sekundärquellen zu erschließen seien.18 Zum zweiten werde übersehen, dass Reiseberichte vor allem mündlich verbreitet wurden und werden. »Nur zu gern interpretieren wir […] den Text auch als exklusive Dokumentation einer Reise und negieren damit, dass das, was von der Reise wirklich übrig bleibt, ein Konglomerat unterschiedlichster Materialen ist; ein zunächst ungeordnetes Durcheinander von Bildern, Karten, Formularen, Artefakten und Naturgegenständen, wissenschaftlichen Proben, Schriftzeugnissen, Sammlerstücken und Souvenirs aller Art ‒ und nicht zuletzt von mündlicher Tradition und lebendiger Erinnerung.«19 Das gelte nicht nur für wissenschaftliche Reisen, die verhältnismäßig gut erschlossen seien, sondern auch für private Unternehmungen. Alle diese Dinge, die vor, während oder nach der Reise eine Rolle spielten und überliefert sind, ergeben zusammen mit den nicht überlieferten, aber erschließbaren vom Andenken bis zum Kleidungsstück »bereits auf dieser materiellen Ebene die Umrisse eines Bedingungsgefüges […], in dem ›die gelebte Realität des Reisens‹ zu analysieren und zu bewerten wäre.«20 Das von Wanda Frisch geschaffene Konvolut reiht sich aus dieser Perspektive in die Geschichte des Reisens ein, auch wenn sie ihr Erbe nicht durch Reisebeschreibungen oder Reisetagebücher aufgewertet hat. Fotoalben und Dokumente genügten den Ansprüchen. Doch zurück zu Grieps kritischem Räsonnement über die Versäumnisse bisheriger Reiseforschung.
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schrieben, während sich andere Reiseberichten zuwandten. Vgl. Brenner, Reisekultur in Deutschland. Griep, Wolfgang: In das Land der Garamanten oder: Die Macht der Texte, in: Bracher, Hertweck, Schröder, Materialität auf Reisen. Vgl. ebd., S. 38. Griep nennt als Beispiel das »geographische Zimmer« des weitgereisten Handwerksmeisters Hüttig vom Ende des 18. Jahrhunderts, das Modelle der Oberflächengestaltung von Deutschland und Europa enthielt (maßstabsgerecht und mit »echtem« Wasser). Es wurde von vielen berühmten Reisenden besucht, denen der Webermeister viel Interessantes mitzuteilen hatte. Nach dessen Tod verschwanden die Modelle spurlos. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
Es wurde hier vor dem Hintergrund eines Perspektivenwechsels in der Reiseforschung entfaltet, der einen neuen Blick auf die Quellen nicht nur ermöglicht, sondern auch erforderlich macht. Da sind die Überlegungen von Maurer, das Reisen könne »paradigmatisch idealer Gegenstand einer erneuerten Kulturgeschichte« sein.21 Die von ihm assoziierten Bilder vergangener Reisekultur münden in die Erkenntnis: »So steht jeder Reisende von Anfang an in einem Kulturzusammenhang: Wie ein neugeborener Mensch in aller Regel nicht ohne die Hilfe anderer Menschen überleben kann, bewegt sich ein Reisender von Anfang an in politischen, logistischen und kulturellen Systemen, selbst wenn ihm diese so unbekannt sein sollten wie Kaspar Hauser seine Eltern.«22 Das bedeute, von den Reisenden »in einen Kosmos kultureller Beziehungen« eingeführt zu werden, »zu dem verschiedene Disziplinen der Wissenschaft ihrerseits verschiedene Zugänge eröffnen.«23 Allerdings scheint es bei genauerem Hinsehen unmöglich, diesen mit Blick auf das 18. Jahrhundert entwickelten Ansatz auf das 19. und erst recht das 20. Jahrhundert zu übertragen. Das Motiv der »Bildung«, das für Maurer zunächst den Unterschied von »Mobilität« und »Reisen« markierte, soll jetzt »unglaubwürdig und obsolet« geworden sein. Dagegen mache sich ein anthropologisches Element des Reisens bemerkbar ‒ »der psychologisch erklärbare Zwang zu periodischem Ausbrechen aus der jeweiligen sozialen Umwelt.«24 Warum für eine Touristin wie Wanda Frisch allerdings nun nicht mehr gelten soll, was eingangs postuliert wurde, bleibt uneinsichtig. Steht sie als Urlaubsreisende nicht in einem »Kulturzusammenhang« und führt sie uns nicht in einen »Kosmos kultureller Beziehungen« ein? Es soll jedenfalls an diesem theoretischen Ansatz festgehalten werden. In ihrer Studie zur bürgerlichen Kunst- und Bildungsreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widersprach Wolbring der These, die »keinem direkten äußeren Zweck« dienenden Reisen des Bürgertums seien von diesem
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Maurer, Michael: Reisen interdisziplinär ‒ Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Maurer, Impulse der Reiseforschung, S. 296. Ebd., S. 298. Ebd. Der Forschungsbericht benennt jene Zugänge, angefangen von der ästhetischen Erfahrung der Landschaft, über die Verkehrs- und Kommunikationsgeschichte, die Sozial-, Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte des Reisens, die Epochen des Reisens bis hin zum Beitrag des Reisens zur Bildung einer europäischen Identität. Vgl. ebd., S. 287ff. Ebd., S. 364.
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als »bloßer Zeitvertreib« oder als Flucht »aus einer als bedrückend empfundenen Realität« betrachtet worden.25 Die ausgewerteten Quellen, Biografien und Memoiren von Kaufleuten, Bankiers oder Politikern (alles keine ausgewiesenen Bildungsbürger), enthielten auffällig häufig ausführliche Reiseberichte. Diese weder geschäftlichen Zwecken noch der Erholung dienenden Reisen waren »wesentlicher Bestandteil des bürgerlichen kulturellen Kanons« geworden.26 Dafür wurden einige Anstrengungen unternommen, um gut vorbereitet zu sein, wobei das vorgegeben Programm mit Interesse und innerer Anteilnahme absolviert wurde.27 Reisen sei »kulturelles Handeln« gewesen, das einerseits der Persönlichkeitsbildung diente und durch das man sich andererseits »die Zugehörigkeit zum Kreis der ›gebildeten Menschen‹« gesichert habe ‒ in Abgrenzung zu den »ungebildeten unteren Klassen« oder den »Neureichen« ohne kulturelles Kapital.28 Hier ist eine historische Zwischenstufe beschrieben, auf die bekanntlich eine weitere soziale Ausdifferenzierung der Reisenden folgte. wobei die Frage offen bleibt, welche Modifizierungen das Konzept, Reisen als »kulturelles Handeln« zu betrachten, dabei erfahren hat. Als besonders fruchtbar hat es sich erwiesen, Reisen als kulturelle Praxis zu konzipieren, wie es seinerzeit Bödeker, Bauerkämper und Struck vorgeschlagen haben und als Weiterführung des schon seit den 1970er Jahren angestrebten Ansatzes einer interdisziplinären Reiseforschung verstanden. »Stärker als andere Richtungen der Reiseforschung historisiert und kontextualisiert dieser Ansatz die Reisepraxis. Diese Historisierung und Kontextualisierung integriert das Reisen in das jeweilige Handlungsgefüge und die Biographie des Reisenden sowie in seine individuellen historischen Lebenswel-
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Wolbring, Barbara: »Auch ich in Arkadien!«. Die bürgerliche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, in: Hein, Dieter; Schulz, Andreas (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 83. Ebd. Ebd., S. 98. Ebd., S. 101. Ähnlich argumentiert auch Wörner, Birgit: Reisen bildet. Bürgerliche Werte und individuelle Reisepraxis Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Plumpe, Werner; Lesczenski, Jörg (Hg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 107-120. Sie befasste sich mit den Reisen der Frankfurter Bankierssöhne Metzler.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
ten.«29 Ob damit allerdings Urlaubsreisende wie Wanda Frisch im Blick waren, darf bezweifelt werden.30 Es zeigt sich, dass letztlich, ähnlich wie bei Maurer, allein an Textproduktionen gedacht wird: »Das Konzept des Reisens als einer kulturellen Praxis ermöglicht, Sprachliches und Soziales, Textproduktion und Aneignung der Texte zusammenzuführen und auf den Begriff zu bringen.«31 Lässt man diese Textzentriertheit beiseite, ergeben sich jedoch Anschlussmöglichkeiten an die Welt der Postkarten und Prospekte, der Reisetagebücher und Knipserfotos, Reiseführer und Souvenirs, mit anderen Worten der Bilder und Dinge, die von Touristen erzeugt, erworben und gesammelt werden. »Insgesamt haben sich die jeweiligen Wahrnehmungsperspektiven der Reisenden, das heißt der Ausschnitt dessen, was auf welche Weise wahrgenommen, wie beurteilt, bedacht und schließlich beschrieben wurde, entscheidend aus dem historischen Kontext ergeben, den theoretischen Begriffssystemen, dem sozio-kulturellen Milieu, der jeweiligen Stellung der Reise im individuellen Lebenslauf, den Motiven und den Funktionen der Reise sowie dadurch, für wen und für welchen Zweck die Niederschrift angefertigt wird.«32 Wenn dann noch festgestellt wird, dass die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Reisenden, die sich in ihren Produktionen niederschlagen, Anteil an der Konstituierung von Realität haben, ist der Brückenschlag zur Funktionsweise einer anderen Quelle gegeben: dem Bild.33 Ähnlich wie im Diskurs über Bilder als historische Quelle betonen die Autoren zu recht, dass Reiseberichte keineswegs nur »bloße Steinbrüche faktischer Informationen« sind.34 Unter dem Stichwort »Intertextualität« wird die »Vernetzung der Reisetexte« angesprochen, die einen Kommunikationsprozess zwischen Autor und Leser ebenso voraussetzen wie produzieren ‒ auch dies soll nun statt nur für vergangene Jahrhunderte ebenso für die Zeit nach 1945 genutzt werden, aller-
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Bödeker, Hans Erich; Bauerkämper, Arnd; Struck, Bernhard: Einleitung: Reisen als kulturelle Praxis, in: Bauerkämper, Bödeker, Struck, Die Welt erfahren, S. 9. Die zitierten Autoren beschäftigen sich überwiegend mit dem 17. und 18. Jahrhundert. Von den achtzehn Beiträgen des Bandes sind nur zwei dem 20. Jahrhundert gewidmet, die »Gegenwart« ist durch einen Aufsatz vertreten. Bödeker, Bauerkämper, Struck, Einleitung, S. 10. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 22.
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dings in Formen, die veränderten Kommunikationsbedingungen Rechnung tragen.35 Das Konzept der »Reise als kultureller Praxis« birgt Möglichkeiten, »Reisen« und »Tourismus« zusammenzudenken, denn umgekehrt vermitteln Quellen wie der Nachlass von Wanda Frisch dem in der Geschichte europäischer Reisekultur Bewanderten schon bei flüchtiger Durchsicht den Eindruck, dass hier Objekte und Praktiken vorliegen, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen. Diese Erkenntnis ist selbstverständlich nicht neu, sondern gehört zum Grundbestand tourismusgeschichtlicher Überblicksdarstellungen.36 Ein Versuch, dieses Erbe systematisch durchzubuchstabieren und kritisch zu befragen, stößt allerdings auf hartnäckige Schwierigkeiten. Sie resultieren einerseits aus dem disparaten Forschungsstand und der gängigen wissenschaftlichen Arbeitsteilung, die für eine unübersehbare Menge von Einzeluntersuchungen sorgen. Gelingt es, trotz solcher Hindernisse einen gemeinsamen Nenner zu finden, ergibt sich forschungspraktisch trotz mancher Innovation der letzten Jahre, dass gleichsam viele lose Enden ins Leere führen. Das betrifft vor allem jenes Gewebe aus realen historischen Vermittlungen, welches es erlauben würde, Reisen von Eliten in der Aufklärungszeit und Urlaubsfahrten einer kleinen Angestellten vergleichend zu analysieren. Wer danach fahndet, welche Elemente von Reisepraxen der Spätaufklärung in welcher Formgebung auch immer noch in den Urlaubsreisen von 1970 zu identifizieren sind, muss sich auch immer noch fragen, ob ein solches Anliegen überhaupt legitim ist, scheinen beide doch ganz konträren Zielen zu folgen. Auch manche Tourismusforscher haben das antizipiert, so dass aus »tourismologischer« Perspektive rückwärtsblickend die vergangene Reisekultur oft als nicht mehr erreichbares Ideal erscheint, während die auf das 18. Jahrhundert fokussierte Reiseforschung dagegen für die Zukunft Verfall und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit witterte. Letztlich muss man sich verfehlen, weil der Tourismus nicht als legitimer Erbe des Reisens imaginiert wird, auch wenn die Kulturkritik à la Enzensberger in den letzten Jahrzehnten scheinbar obsolet geworden ist und die Kritik der Tourismuskritik, wie Gyr festgestellt hat, schon Ende der 1980er Jahre selbst zum kanonischen Element
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Vgl. ebd., S. 23. Vgl. etwa Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 31ff. oder Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 48ff.
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geworden sei.37 Gegenstimmen wie etwa die von Christoph Hennig wurden zwar vernommen, veränderten aber diesen Konsens nicht grundlegend ‒ die Argumente wurden nur verlagert.38 Die zum Thema Tourismus forschenden Subjekte aus unterschiedlichen Disziplinen bewahren auch oft eine eigenartige Distanz. Wie sonst sind die Einlassungen eines Rezensenten zu verstehen, der ein Buch des Mediävisten Groebner zum Geschichtstourismus besprochen hat. Dieser wird dafür gelobt, sich nicht nur in die Niederungen seines Gegenstandes zu begeben, sondern auch einzugestehen, gelegentlich selbst Tourist zu sein und Geschichte zu konsumieren. Was für Groebner aus einer Methodenkritik seiner Disziplin resultiert, bietet dem rezensierenden Historiker offenbar Gelegenheit, sich zum touristischen Geschichtskonsum der eigenen Berufsgruppe öffentlich bekennen zu können, ohne das (akademische) Gesicht zu verlieren.39 Das verweist auf Grundlegendes: Den forschenden Subjekten gelingt es beim Thema Tourismus nur schwer, sich selbst als »Mitspieler« in diesem Feld zu identifizieren oder, mit den Worten Bourdieus, »den Homo academicus, diesen Klassifizierer unter Klassifizierenden, den eigenen Wertungen zu unterwerfen.«40 Die lebensweltlich so wirksame Abgrenzung zu den »Massentouristen« ist ein Gut von hohem sozialen Wert, dem sich auch Wissenschaftler nur schwer entziehen können oder wollen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der geschilderten Situation für die Untersuchung des von Wanda Frisch hinterlassenen Konvoluts? Eine Art »Meistererzählung« ist nicht in Sicht.41 Begibt man sich jedoch anhand eines modifizierten Konzepts vom »Reisen als kultureller Praxis« oder »kulturellen Handelns« auf die den Berichten oder Beschreibungen vorangehende Verarbeitungsstufe, die Ansammlung der die Reisen jeweils repräsentierenden Artefakte und die damit verbundenen Intentionen, lässt sich eine von ihnen
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Gyr, Touristenkultur und Reisealltag, S. 225. Hennig, Reiselust, S. 13ff. Tobias Becker: Rezension zu: Groebner, Valentin: Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Frankfurt a.M. 2018, in: H-Soz.-Kult, 23.10.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-296182018, S. 1f., Zugriff am 20.02.2019. Bourdieu, Pierre: Homo academicus, Frankfurt a.M. 1992, S. 9 (Herv. i.O.). Das ist mehr oder weniger ein Zufall. Auch die Touristen des 20. und 21. Jahrhunderts produzieren Reiseberichte, wie ein Blick ins Internet lehrt. Vgl. dazu Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 141ff.
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geleitete Erzählung nicht nur verschmerzen, denn es eröffnen sich neue Perspektiven. Inzwischen ist es, wie oben expliziert, ein Allgemeinplatz in der historischen Reiseforschung geworden, dass auch Reisebeschreibungen in jeweils unterschiedlicher Weise true fictions sind, Verarbeitungsformen der realen Reisepraxis.42 Das reisende und das schreibende Subjekt sind nicht identisch, vor allem dann nicht, wenn das schreibende das Ziel hat, an der Inthronisierung von Reisezielen und der angemessenen Wahrnehmungspraxis mitzuwirken, um sich selbst als Dichter, Schriftstellerin, Naturforscher, Philosoph oder Maler zu profilieren.43 Der Blick auf ihre Arbeitsmaterialien, Reisenotizen etwa und auf die Modalitäten der Reise kann, so die Behauptung, Elemente des Touristischen offenbaren, die in der Verarbeitungsform des Reiseberichts verschwunden sind. Dazu zählen Reiseumstände wie Begleitpersonen, Finanzen, Informationsquellen, Beförderungsmittel, Unterkunft, der Blick auf andere Reisende, auf Schwierigkeiten, Lust- und Unlustgefühle, Vergnügungen und Auszeiten. Der Rekurs auf die Reisepraxis hat zudem den Vorteil, dass historische Zeitgenossen dieser kleinen schreibenden Elite ins Blickfeld geraten können, die keine künstlerischen, moralischen oder wissenschaftlichen Ambitionen hatten und dennoch über die gängige Reisekultur Auskunft geben können. Sie
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Siebert, Ulla: Reisetexte als »true fictions«. Wahrheit und Authentizität in Reisetexten von Frauen, 1871-1914, in: Köck, Reisebilder, S. 153-166. Hier wird absichtlich eine Autorin zitiert, die sich mit weiblichen Reisenden beschäftigt hat. Die feministische Reiseforschung hat nicht unbeträchtlich zu solchen Erkenntnissen beigetragen. Andererseits hatte schon Harbsmeier festgestellt: »Es gibt wohl kaum eine Reisebeschreibung, von der nicht schon einmal behauptet worden wäre, sie sage mehr über ihren Verfasser aus als über die Länder und Kulturen, die sie zu beschreiben vorgibt.« Die Masse der überlieferten neuzeitlichen Reisebeschreibungen halte weder den »strengen Kriterien historischer oder ethnographischer Quellenforschung« stand, noch genüge sie den »hohen ästhetischen Ansprüchen einer auswählenden Literaturwissenschaft.« Harbsmeier, Michael: Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Mączak, Antoni; Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel 1982, S. 1. Vgl. dazu die Studie zu Fontanes Bemühungen um die Mark Brandenburg bei Jost, Erdmut: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche ‒ Friederike Brun ‒ Johanna Schopenhauer, Freiburg i.Br./Berlin 2005, S. 463ff.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
sind Wanda Frisch sozial und kulturell näher und deshalb eher geeignet, historische Übergangsstufen zu belegen. Die These von Imitation und gesunkenem Kulturgut ist bekanntlich allzu simpel. Diese Auffassung vertritt auch Lauterbach: »Viel zu wenig ist bekannt darüber, wie diese Übernahmen geschehen, welcher Qualität sie sind, welche Umformungen dabei geschehen […].«44 Die mittleren und unteren Fraktionen des Bürgertums, die sich nach gängiger Auffassung im 19. Jahrhundert zunehmend am Tourismus beteiligten, hatten weder die materiellen noch kulturellen Voraussetzungen, Reisepraxen des Adels oder des Groß- und Bildungsbürgertums zu kopieren. Gewiss ist es ihnen manches gar nicht in den Sinn gekommen, denn Untersuchungen wie die von Prein zeigen, dass zwar auch nach »oben« und nach »unten« geschaut wurde, aber vor allem »zur Seite«. Es interessierten Verhaltensweisen und Motive von Reisenden der eigenen soziale Gruppe.45 Andererseits schöpfte man aus einem ständig wachsenden gemeinsamen Pool, der Reisemöglichkeiten ebenso umfasste wie Wahrnehmungsmuster, die aber freilich unterschiedlich genutzt wurden. Auch hier schufen »homologe Positionen« im sozialen Raum im Sinne Bourdieus sowohl Grenzlinien wie Grenzüberschreitendes.
5.1.
Touristische Bilderwelten in der Geschichte
Der eben angesichts des überlieferten Konvoluts von Wanda Frisch favorisierte Ansatz, Reisen als kulturelle Praxis zu betrachten, bedarf allerdings einiger Modifizierungen. Er wurde ja nicht zur Analyse von Urlaubsreisen im 20. Jahrhundert entwickelt. Der Aufsatz von Bödeker, Bauerkämper und Struck atmet den Geist historischer Reiseforschung mit kleinen Ausblicken in die Gegenwart. Am schwersten wiegt, wie erwähnt, die Erwartung, dass die Reisen letztlich in literarische Produktionen verschiedener Genres münden, seien sie zum informellen Gebrauch verfasst oder für die Öffentlichkeit bestimmt.46 Es geht immer um Texte, in denen die »technisch-pragmatische Dimension des Reisens«, »Kulturkontakte« oder die Ausmaße der »materiellen und theoretischen Transfers« zur Sprache kommen.47 44 45 46 47
Lauterbach, Tourismus, S. 32. Vgl. Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Bödeker, Bauerkämper, Struck, Einleitung, S. 10. Ebd., S. 9f.
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Wanda Frisch »berichtet« über ihre Reisen aber vor allem mit Hilfe der Fotografien in ihren Alben. Die Frage nach dem, was Wort und Bild, Text und Foto jeweils repräsentieren und nach ihren wechselseitigen Verhältnissen eröffnet ein weites Feld, das hier unmöglich auch nur in seinen Konturen nachgezeichnet werden kann. Angesichts der Rede von »Naturschauspielen«, von Inszenierungen und Schauplätzen wäre es zudem geboten, sich des theatralischen Moments im Tourismus zu versichern, darauf muss ebenfalls verzichtet werden.48 Damit wird ein von Tourismusforschern gern aufgegriffener, aber inzwischen reichlich abgegriffener Rekurs auf Goffman ausgeschlagen, das Leben wie die Reise als Bühne der Selbstdarstellung zu betrachten und Touristen als Schauspieler auftreten zu lassen. Angestrebt wird eine pragmatische Lösung, die es ermöglicht, Urlaubsfotos und Fotoalben als Quellen zu nutzen, ohne dabei kulturgeschichtlich zu kurz zu greifen. Als hilfreich könnte sich deshalb zunächst eine historische Rückschau erweisen, die nicht nur ins Auge fasst, wie sich Bilder und Texte in der Reiseliteratur bereits um 1800 in kunstvoller und vielgestaltiger Weise verschränkten ‒ ein Umstand, der bisher in der textzentrierten historischen Reiseforschung wenig Beachtung fand. Am Beginn steht im Sinne eines beispielhaften Exkurses ein ganz konkretes Beispiel ‒ die Ausdrucks- und Dokumentationsformen von Reiseerlebnissen, die ein angehender Kaufmann namens Franz Simon Meyer aus dem kleinen Städtchen Rastatt um 1820 gemacht hat. Das ist just das Ende des Untersuchungszeitraums von Jost, die sich mit den in prominenten Reiseberichten präsenten Bilderwelten zwischen 1780 und 1820 auseinandergesetzt hat. So soll sogleich an einem Exempel gezeigt werden, dass die dort vorgefundenen Lösungen von einem breiteren Publikum nicht nur aufgenommen, sondern auch eigenständig angewendet wurden.49 (Dieser Exkurs scheint etwas lang geraten. Sein Sinn besteht aber schlicht auch in der Ausbreitung von empirischem Material, denn »kleine Leute« wie Meyer geraten immer noch selten in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. 48
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Vgl. dazu etwa Volz, Dorothea: SchauSpielPlatz Venedig. Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900, Bielefeld 2018 mit einem Kapitel zum Venedig-Tourismus. Vielleicht, aber hierzu gibt es kaum Belege, haben die prominenten und kompetenten Reisenden ihrerseits auch aus dem bereits vorhandenen Erfahrungsschatz der »Bereisten« geschöpft, die als Angehörige niedriger Stände für Dienstleistungen unterschiedlichster Art zur Verfügung standen. Der generelle Modus, diese im besten Fall als treuherzige schlichte Seelen wahrzunehmen und zu schildern, verhinderte wirkungsvoll, über einen gegenseitigen Lernprozess nachzudenken.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
Wer an den Einzelheiten kein Interesse hat, sollte sich nur den ersten und den letzten beiden Seiten des Abschnitts zuwenden.) Von hier aus wäre einer neuen Medienlandschaft zu gedenken, die der »Sehsucht« des 19. Jahrhunderts Mittel und Wege bahnte und der touristischen Reiselust korrespondierte. Schließlich brachte diese auch die Fotografie hervor, die in Gestalt von Ansichtskarten und privaten Aufnahmen den Aufstieg des Fotoalbums ermöglichte und zum eigentlichen Thema ‒ den Fotografien und Fotoalben von Urlaubsreisenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überleitet.
5.2.
Die Reisen des jungen Franz Simon Meyer aus Rastatt (1799-1871)
Griep wies in seinem Plädoyer für das Konzept des Reisens als kultureller Praxis auf die ausgedehnte Bildungsreise eines späteren Hofrats hin, der als junger Mann im Jahre 1821 durch halb Europa tourte. Dieser fügte, wie viele andere, seinen Reisetagebüchern, »zur Illustration kolorierte Kupferstiche und Karten, Prospekte und amtliche Reisedokumente bei, die zum integrativen Bestandteil einer Dokumentation wurden, die sich nicht im Text erschöpfte.«50 Das erinnert an die Reisen eines jungen Mannes, der nicht aus bildungsbürgerlichen Kreisen stammte und keine politische Karriere absolvierte, sondern lebenslang in einem Provinzstädtchen um wirtschaftliches Auskommen und öffentliche Anerkennung kämpfte. Er nahm, ähnlich wie Wanda Frisch, eine mittlere Position im »sozialen Raum« seiner Zeit ein.51 Wie sind seine Reisen einzuordnen? Grosser gab in seiner Diskussion des »Kulturmusters der bürgerlichen Bildungsreise« zu bedenken, der Begriff der »Bildungsreise« eigne sich immerhin besser als das mit veröffent-
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Griep, In das Land der Garamanten, S. 41. Unschwer ist zu erkennen, dass sich hier das Muster der jugendlichen Bildungsreise wiederfindet, wie es im 2. Kapitel für das 19. Jahrhundert anhand der Untersuchungsergebnisse von Prein geschildert wurde. Meyer unternahm danach über viele Jahrzehnte keine längeren Touren mehr. Reisen ohne beruflichen Hintergrund hätte in seinen Kreisen wohl als verschwenderisch gegolten. Außerdem waren ständig kleine Kinder im Haus. Erst im sechsten Lebensjahrzehnt hatten sich die Verhältnisse insoweit konsolidiert, dass eine längere Vergnügungsreise unternommen wurde, von der es auch eine nicht veröffentlichte Beschreibung gibt. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert.
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lichten Reisebeschreibungen untrennbar verknüpfte Label der »Gebildetenreise«, um als Oberbegriff für die Reisetätigkeit des heterogenen und »sich als Gesellschaftsschicht erst langsam formierenden Bürgertums« zu fungieren. Die Rede von der Gebildetenreise schlösse weitgehend aus, »die im selektiven reiseliterarischen Diskurs in eklatanter Weise unterrepräsentierte und daher kaum erforschte geographische Mobilität wirtschaftsbürgerlicher Teilgruppen, die an der Publikation ihrer zweifelsohne nicht unbeträchtlichen Reisetätigkeit kaum interessiert war, angemessen zu berücksichtigen.«52 Dagegen habe die »Leitnorm einer reisend vermittelten Allgemeinbildung« am Ende des 18. Jahrhundert das Zeug gehabt, als gemeinsame kulturelle Praxis der verschiedenen Fraktionen zu fungieren und deren je berufsbedingte Reisepraxis zu beeinflussen.53 Wichtig waren dabei nicht nur die Kunst und Natur betreffenden Wahrnehmungsmuster, sondern auch die Teilhabe an der in den Städten anzutreffenden privaten oder teilöffentlichen bürgerlichen Freizeitund Geselligkeitskultur und ‒ das ist unbedingt zu ergänzen ‒ an den öffentlichen Vergnügungseinrichtungen der Großstädte.54 Döcker sieht die kulturelle Praxis des Bürgertums zwischen Aufklärung und Biedermeier durch zwei Momente geprägt: »Erstens die symbolische Distanzierung des »Bürgertums« als sich homogenisierender »Stand« von anderen ständischen Gruppen […] und zweitens die symbolische Differenzierung zwischen den bürgerlichen Berufsgruppen und Fraktionen zum Zwecke der Verregelung ihres Verhältnisses innerhalb des Bürgertums.« Dazu habe sich vieles geeignet, Reiseerfahrungen ebenso wie kunstvolles Rezitieren eigener Verse oder Kenntnisse über die Zusammensetzung besonderer Speisen.55 Für diese Beobachtungen ist der Kaufmannssohn und spätere Badener Bankier Franz Simon Meyer aus Rastatt (1799-1871) ein gutes Beispiel. Die Diffusion bürgerlicher Bildungsanstrengungen und des Wissens um die angemessene Ausgestaltung von Reiseberichten ist hier ebenso unübersehbar wie ihre spezifische Verarbeitung im Sinne des Wirtschaftsbürgertums. Doch wichtiger noch ist es im vorliegenden Zusammenhang den Nachweis 52
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Grosser, Thomas: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour ‒ Patrizierreise ‒ bürgerliche Bildungsreise, in: Maurer, Impulse der Reiseforschung, S. 157. Das gilt auch noch für das Ende des 19. Jahrhunderts. Vgl. Wolbring, »Auch ich in Arkadien!«, S. 82ff. Grosser, Reisen und soziale Eliten, S. 171. Ebd., S. 164. Döcker, Ulrike: Bürgerlichkeit und Kultur ‒ Bürgerlichkeit als Kultur. Eine Einführung, in: Bruckmüller, Ernst; Döcker, Ulrike; Stekl, Hannes; Urbanitsch, Peter (Hg.): Bürgertum in der Habsburger-Monarchie, Wien/Köln 1990, S. 96 (Herv. i.O.).
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zu führen, ob und wie Touristisches im Sinne approbierter Routen, Ziele, Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen, von Konsum, Genuss und Vergnügen sich mit dem Bildungsanspruch bereits verschränkt hatte, ja, zur Normalität geworden war. Das betrifft auch Routinen im Umgang mit Bildern. Sebastian Diziol, der im Archiv von Baden-Baden auf die handgeschriebenen Manuskripte Meyers stieß, hat diese in bisher zwei Bänden allgemein zugänglich gemacht.56 Der erste Band wird dominiert von Reisebeschreibungen nach »Mayland«, Paris und England. Die vom Protagonisten im Jahre 1822 verfasste »Vorrede« reflektiert ihr Zustandekommen und kündet von einem aufklärerischen Wahrheitsanspruch auf der Basis von Faktischem wie vom Bedürfnis, etwas »Schönes« zu produzieren. In ihrer mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung zur Sprachkultur des Bürgertums im 19. Jahrhundert hat sich Linke mit der »sprachlichen Kodierung bürgerlichen Lebensgefühls« bis hin zum »richtigen« Reden über das Amüsement und mit der sprachlichen Leistung als »Geschenk der Kinder an die Eltern« auseinandergesetzt.57 Als solche Geschenke, in schicklicher Form verpackt, fungierten auch Meyers Reiseberichte. Gleich zu Beginn wird ein von den Eltern erbetenes »Schreibbuch« erwähnt, in das Meyer seine Notizen zur »Reise von Sankt Blaise über den Simplon nach Mayland und über den Gotthard zurück« aus dem Jahre 1816 eintrug. Sie wirken hölzern und ungeschickt wie ein erzwungener Schulaufsatz.58 Wenige Jahre später kritisiert er das mangelhafte Deutsch und die »poetischen Aufwallungen einer nicht ausgebildeten Anlage«59 und liefert gleich das sprachlich korrekte Wahrnehmungsmuster: »Unser erstauntes Auge entzückte ob der Schönheit der hesperischen Thäler, ob der Fülle der Ebene der Lombardey. Zum erstenmale staunten wir hinauf an den eisbedeckten Gipfeln der Alpen, an den Pallästen Mailands. Der Koloss von Arona, die borromäischen Inseln und der Gotthards Berg gruben so tiefen Eindruck 56
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Diziol, Sebastian (Hg.): Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd. 1 18161828: Die Jugendjahre des Franz Simon Meyer, Kiel 2016 und Bd. 2 1829-1849: Franz Simon Meyer in Zeiten der Revolution, Kiel 2017. Hier wird allein auf den ersten Band Bezug genommen. Meyer war das einzige Kind. Im Internat wie auf Reisen wurde er von einem etwa gleichaltrigen Vetter aus Freiburg begleitet, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Linke, Angelika: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1996, S. X. Meyer war mit 20 Mitschülern auf Tour, dazu kamen drei Lehrer. Um sich die Arbeit zu erleichtern, erfand er ein Abkürzungssystem, dass sich vor allem auf die Essenspausen und die Nachtruhe bezieht. Diziol, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Band 1, S. 17.
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in unser aller Brust, daß jeder nach unsrer Zurückkunft nach Hause, was er gesehen, erfahren, empfunden, niederzuschreiben eilte.«60 Einen ähnlichen selbstreflexiven Lernprozess im richtigen Gebrauch ästhetischer Begriffe durchlief Otto Beneke. »Dabei entwickelte er eine Vorliebe für das klassisch Schöne, während er der weit verbreiteten Begeisterung für das romantisch Erhabene zusehends mit Spott begegnete.«61 Offensichtlich hatten die wandernden Schüler auch den Auftrag, farbige Ansichten von Landschaften und Gebäuden zu zeichnen, was Meyer nicht eben goutierte ‒ vier schmücken den Bericht. Außerdem sind einige kolorierte Stiche von Schweizer Mädchen in Trachten eingefügt (für einen Sechzehnjährigen wohl verständlich) und eine Ansicht der Teufelsbrücke auf dem St. Gotthard.62 Diese Wanderreise bildete den Endpunkt einer eher preiswerten als gediegenen, aber immerhin klassischen Schulausbildung. Meyer arbeitete fortan im Familiengeschäft in Rastatt, bis sich eine zweite Phase der Ausbildung anschloss ‒ eine Art Bildungsreise zu Geschäftsfreunden in Paris und England. Nun rückte die Mailand-Fahrt wieder ins Gedächtnis und die Reiseaufzeichnungen wurden fortgeführt, allerdings auf einem neuen Niveau. Nach eigenem Bekunden wurden noch unterwegs Anstalten getroffen, das Ganze mit Hilfe von Beschreibungen und Gedichten sowie von »Kupfern« zu »einem kleinen Denkmal meiner Jugend« zu formen ‒ sich selbst und der Familie zuliebe. Für den jungen Reisenden war dies alles Teil seiner »auswärtigen Erziehung«, deren Kosten er am Ende genau zu beziffern vermochte: 2748,23(!) Gulden.63 Die Dokumente einer strengen Rechenhaftigkeit ‒ nämlich sowohl die finanzielle Ausstattung zu Reisebeginn und spätere Geldgeschenke, die Reisekosten bis Paris, die dort getätigten und genau datierten »außerordentlichen Ausgaben« bilden nach Soll und Haben ab, womit der junge Mann die freie
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Ebd., S. 16. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 142. Den Gotthard schildert er programmgemäß als »Wüste« aus kahlen Felsen, Eis, Schnee und nervtötenden Wasserfällen. »Etwas großes, erhabenes für den Neuling«, ebd., S. 136. Die Teufelsbrücke enttäuschte. Allein ihr Alter und die Lage machten sie zu etwas Besonderem. »Doch fanden wir sie weit unter jenen fast fabelhaften Beschreibungen, mit denen alle Bücher angefüllt sind, und wovon eines mich sehr viel fürchten machte, in welchem man sagte, ihre Paßage sey äuserst gefährlich, was ganz und gar falsch ist.« Ebd., S. 138. Ebd., S. 561.
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Zeit während seines einjährigen Aufenthalts verbrachte: mit Landpartien zu Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, mit dem Besuch von öffentlichen Festen und Bällen etwa im »Jardin Delta«, in St. Cloud oder im »Tivoli«, von Billardsälen und privaten Spielrunden, mit einer Besichtigung des Panoramas von Jerusalem oder mit dem sonntäglichen Männerfrühstück im Café. Dazu kamen zahlreiche Theatervorstellungen unterschiedlichster Couleur, im Odeon, im Varieté oder der Oper. So wurde das Vergnügungspotenzial der Großstadt intensiv ausgekostet. Für den Besuch touristischer Sehenswürdigkeiten wie den Jardin des Plantes, den Invalidendom oder die Galerie de Luxembourg erwarb Meyer gleich zu Beginn eine Anzahl von Eintrittskarten per Abonnement. Die »Beschreibung« des Aufenthaltes besteht so eigentlich aus Tabellen, neben den eben genannten etwa einem fünfseitigen »Verzeichniss der Theater in Paris und der Stücke, welche wir dort sahen«.64 In das längste Textstück, die Beschreibung eines einzigen Tages, sind Stiche der berühmtesten Schauspieler und Schauspielerinnen eingestreut. Eingeleitet wird diese auf Deutsch und im Pariser Dialekt verfasste Skizze (ein wahrhaft literarischer Kunstgriff) mit der Bemerkung, es sei unmöglich gewesen »auch nur die kürzeste Beschreibung meines Aufenthaltes in Paris in einer Art von Tagebuch niederzuschreiben.«65 Meyer verweist selbst auf sein Ausgabenbuch, anhand dessen man sich orientieren könne, »obwohl man in Paris manchen hohen Genuß umsonst hat.«66 Die Ausflüge wurden kurz anhand einer Umgebungskarte abgehandelt. »So gieng die Zeit unseres Aufenthaltes in Frankreich herum, allein, man glaube deshalb nicht, als hätten wir in Paris nichts gethan, als an unser Vergnügen gedacht.«67 Tatsächlich arbeiteten die jungen Männer nach einer einwöchigen Eingewöhnungszeit täglich sieben Stunden im Kontor, doch das schien nicht berichtenswert. Daneben wurde zur Vorbereitung auf den Besuch in England Sprachunterricht genommen und dafür zwei englische Grammatiken, ein Wörterbuch und als allgemeines Bildungsgut eine vierbändige Ausgabe der Briefe Lord Chesterfields an seinen Sohn erworben. Von Paris aus reisten beide der Kanalküste zu. In Rouen führte der Hausberg den bezeichnenden Namen »Belle Vue«. Nach einer Schilderung des Aus-
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Ebd., S. 254. Ebd., S. 213. Beigefügt ist eine Karte von Paris, auf der die beschriebenen Wege nachvollzogen werden können. Ebd. Ebd., S. 209.
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blicks fühlte sich der junge Reisende zu einer tourismusgeschichtlich bedeutsamen Anmerkung veranlasst: »Jedem Reisenden möchte ich rathen, wenn immer möglich die Anhöhen zu besteigen, dies war von jeher mein Grundsatz, und seine getreue Erfüllung hat mich stets tausendfach belohnt. Der Freund der Natur hat den hohen Genuß einer herrlichen Aussicht und hat der Wandrer Neigung zur höhern Betrachtung, so fühlt er sich so ›Hoch über’m niedern Erdenleben. So nah dem blauen Himmelszelt‹, daß er gewiß stets besser, froher und zufriedener ins Thal zurückkehrt.«68 Dem folgenden viermonatigen Aufenthalt in London sind wieder nur wenige Seiten gewidmet, die mit einigen Kupferstichen von Stadtansichten und einer Karte ausgestattet sind. Einer Charakterisierung der Engländer und ihres häuslichen und politischen Lebens folgen Schilderungen der berühmtesten Straßen, Plätze und Gebäude. Der Westen Londons blendete mit seiner Prachtentfaltung, der »Reichthum der Boutiquen kennt keine Gränzen, und wer den Luxus hierin auf den höchsten Punkt getrieben sehen will, der gehe von Tempel Bar durch Fleetstreet Cheapside nach der City.«69 Die abendliche Freizeit verbrachte man eher in privaten Kreisen von deutschen und einheimischen Kaufleuten. Die anschließende vierwöchige Reise nach Norden ist dagegen im Stil einer Reisebeschreibung gehalten, die alles Merkwürdige festhalten will. Neben historischen Gebäuden, Gemäldeausstellungen, botanischen Gärten, Wohnsitzen berühmter toter und lebender Persönlichkeiten oder der Landschaft interessierten sich die jungen Kaufleute aber vor allem für Fabriken, Docks und Häfen, neueste technische Einrichtungen 68
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Ebd., S. 262. Meyer nutzte an verschiedenen Stellen vor allem Zitate aus Werken von Schiller (in diesem Fall: Das Lied von der Glocke). Während man Paris vom Montmartre oder dem Observatoire übersehen konnte, war die erste Begegnung mit London mangels Aussicht enttäuschend. Zwar befand man sich auf einer Anhöhe und blickte in Richtung der Stadt: »Doch oh Himmel, ich sah nichts als eine dicke Dampf, Rauch oder Nebelwolke, die sich nur durch ihre schwarze Farbe von dem andern Nebel unterschied. Nach langem Hinstarren erst erblickte ich einige Thürme, die ich aber ohne meine Begleiter nicht besser für Thürme erkannt hätte.« Ebd., S. 282. Ganz »mismuthig« bestieg er den Wagen, der ihn in eine Stadt ohne eigentlichen Anfang führte. Auch Prein führt zahlreiche Belege für die am Ende des 18. Jahrhunderts in Mode kommende und bald auch kritisierte »Sucht« an, auf Hügel und Türme zu klettern, um sich einen Überblick zu verschaffen, der manchmal der einzige Eindruck blieb. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 126ff. Ebd., S. 291.
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‒ schließlich hielten sie sich in Birmingham, Manchester, Liverpool und Leeds auf. Deren Beschreibungen sind ausführlich und zeugen von dem Bedürfnis, die Neuheiten plausibel zu schildern und mit Nüchternheit und ohne jede zivilisationskritische Attitüde zu würdigen. In Liverpool erweckte das Nelson-Denkmal Meyers Aufmerksamkeit, dass der »Handelsstand« für 100.000 Pfund in Eisen gießen ließ. Ein Gedicht Fitzgeralds, das den Helden preist, wurde nebst Übersetzung in den Bericht eingeschaltet. In Leeds betrachtete er überwältigt »durch Dampf getriebne Kohlenkarren«. »Es ist ein sonderbarer Anblick, die schwarzen eisernen Wagen in stets gleichem Gange schnell in die Radschuhe eingreifen und fortziehen zu sehen, ja, das Auge kann sich weit schwerer an den Mangel der Pferde gewöhnen als der Verstand, der mit prophetischem Vorgefühl dem Augenblick entgegensieht, wo die Kutschen in England ohne Pferde auf der Landstraße fahren werden.«70 In London hatte Meyer, so weist es ein Verzeichnis »In London gekaufte Gegenstände« aus, ebenfalls einen Stadtplan und »14 Stück Gemählde und Kupferstiche« erworben, um seinen Bericht zu Hause ästhetisch zu optimieren.71 Zehn Bücher in Englisch und drei Bände mit französischer Literatur zeugen von seinem Bemühen, wenigstens ansatzweise am Bildungsanspruch festzuhalten. Das fertige Produkt, die »Reiseberichte«, ergeben kein einheitliches Bild. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass verschiedene Materialien eingearbeitet wurden (Gemälde und Zeichnungen, Briefe, Tabellen, Gedichte, ein Zeitungsausschnitt, Landkarten), sondern am Textkorpus, der in mehrere Teile ganz unterschiedlicher Qualität zerfällt: in Beschreibungen von durchreisten Orten, von denen einige ausführlich behandelt, andere nur stichwortartig benannt sind, in das Kabinettsstückchen der Schilderung eines Tagesablaufs in Paris, in lexikonartige Artikel über Paris und London und zu guter Letzt in eine Folge tagebuchartiger Einträge, die bedeutende politische, gesellschaftliche oder privaten Ereignisse diskutieren wie etwa den Tod und die Beerdigung der englischen Königin, die Meyer noch wenige Tage zuvor gesund und munter im Theater gesehen hatte. Doch wird auch reflektiert, was fern von Paris oder London passierte, etwa in der Heimat oder gar in Mexiko. Damit befindet er sich in einer Traditionslinie, die um 1780 von Friedrich Rudolf Salzmann trefflich auf den Punkt gebracht wurde: Er halte eine »buntschäckige Mischung…für die natürlichste und treueste Schilderung des Lebens eines 70 71
Ebd., S. 346f. Ebd., S. 355.
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Reisenden.«72 Grosser sieht in dieser Wendung eine Reaktion auf den Umstand, dass ab 1770 Beschreibungen von Reisen ins westeuropäische Ausland, die in hohem Maße standardisierten Routen und Besichtigungsprogrammen folgten, einer individuelleren Ausstattung bedurften, ohne dass der »enzyklopädische« Anspruch völlig aufgegeben worden wäre.73 Eine dialektische Anschauungsweise, die im Hegelschen Sinne ältere Elemente der Reisekultur »aufgehoben« sieht, also weiter verwendet, beiseite lässt oder verändert in neue Kontexte eingefügt, scheint somit einer Betrachtung der Geschichte des Reisens angemessener zu sein als die einseitige Jagd nach »Neuem«, die fälschlicherweise suggeriert, das »Ältere« habe damit ausgedient. Festzuhalten ist das Übergewicht des Wortes. Die eingestreuten Stiche geben jedoch eine Vorahnung vom Aufstieg und der eigenständigen Rolle von Ansichtskarten in der Reisedokumentation am Ende des Jahrhunderts. Die eigenen Zeichnungen dagegen sind eher ein Relikt der Vergangenheit, als bezahlte Maler oder ambitionierte Dilettanten für die reisende Kundschaft oder zur eigenen Erbauung Landschafts- und Stadtansichten verfertigten. Doch dazu an gegebener Stelle. Diese nicht eben überragenden Zeichnungen sowie eigene und fremde Gedichte vermitteln aber andererseits ein lebendiges Bild davon, welche kulturellen Standards selbst in das mittlere Wirtschaftsbürgertum eingeflossen waren ‒ der Abstand zur Elterngeneration ist vermutlich beträchtlich gewesen. Dass sich ein »Künstler im Bürger« verbirgt, war auch hier nicht nur akzeptiert, sondern wurde erwartet.74 Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Gaben eines englischen Freundes namens James. Ganz im Sinne des Freundschaftskultus aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts steuerte dieser nicht nur ein Gedicht »My Travelling Friends« sowie kunstvoll garnierte Verse bei, deren Anfangsbuchstaben den Namen »Meyer« ergaben. Auf Bitten seiner Freunde gestaltete James auch das
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Anonym (=Salzmann, Friedrich Rudolf: Schrifttasche auf einer neuen Reise durch Teutschland, Frankreich, Helvetien und Italien gesammlet. Enthält besondere Anekdoten, Bemerkungen und Erzählungen. Erstes Bändchen (mehr noch nicht erschienen), Frankfurt und Leipzig 1780. Zit. nach Grosser, Thomas: Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur in den Berichten deutscher Reisender aus dem Frankreich des 18. Jahrhundert, in: Jäger, Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung, S. 289. Vgl. ebd., S. 288f. Vgl. Schulz, Andreas: Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert, in: Hein, Schulz, Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, S. 34-52.
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Titelblatt des Reiseberichts. Unter der Überschrift »Genius is of no particular Country. It belongs to the World« malte er seine Freunde und sich neben einer Säule, die mit den Bildnissen von Schiller, Shakespeare und Voltaire geschmückt ist und von der herab Fama den Jünglingen einen Kranz reicht. Den Hintergrund bilden pittoreske Fantasielandschaften, zu denen auch jenes mit Schiffen bevölkerte Meer gehört, das Meyer und sein Vetter gerade überquert hatten.75 Diese Kulturtechniken wurden in die bürgerliche Reisekultur integriert, wie sich überhaupt viele Wechselwirkungen und Bezüge zwischen dieser und der bürgerlichen Geselligkeitskultur aufzeigen lassen. Sie sind bedeutsam für die mündliche Seite des Reiseberichts, allerdings ohne jenen pejorativen Beigeschmack, mit denen die Reiseerzählungen und Dia-Abende von Urlaubern durch zeitgenössische Tourismuskritiker kommentiert werden.76 Vor Ort übernahmen jeweils Einheimische die Funktion des Reiseführers ‒ meist waren es Kollegen oder befreundete Familien. Es bleibt im Dunkeln, welches Vorwissen Franz Simon Meyer mitbrachte und ob er eigenständig bat, zu bestimmten Sehenswürdigkeiten geführt zu werden. Doch spricht einiges dafür, dass seine Schulbildung ihm manchen Weg wies. So war ihm auf der Rückfahrt von Leeds nach London von allen durchreisten Orten nur das Städtchen Wakefield interessant, »da es die Szene ist, auf welcher Doctor Goldschmitt seinen Vicar spielen lässt.«77 Eine von beruflichen Rücksichten zwar nicht entbundene, aber doch entlastete Urlaubsreise stellte, neben der Schülerreise nach Mailand, allein die Rundreise in den Norden Englands dar. 75 76
77
Vgl. Doziol, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd. 1, S. 373, S. 362, S. 19, S. 21. So berichtet Maentel davon, dass in einem Handbuch für Reisende aus dem Jahre 1792 für Leipzig sechs geschlossene Gesellschaften empfohlen werden, die den Reisenden gern empfangen. Vgl. Maentel, Thorsten: Zwischen weltbürgerlicher Aufklärung und stadtbürgerlicher Emanzipation. Bürgerliche Geselligkeitskultur um 1800, in: Hein, Schulz, Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, S. 143. Für den Reisenden Meyer war in England der Zugang zu privater Geselligkeit von Bedeutung. Vgl. dazu: Mettele, Gisela: Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Ebd., S. 155169. Jost weist andererseits darauf hin, dass mündliche Reiseberichte fester Bestandteil der Weimarer Salonkultur waren und Johanna Schopenhauer so ermuntert wurde, ihre Reiseerlebnisse aufzuschreiben, die sie wiederum nach »klassischer Manier« zu gestalten wusste. Sie »inszeniert sich als Erzählerin im Freundeskreise, sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum.« Vgl. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 423. Diziol, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd. 1, S. 347.
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Die Aufenthalte in Paris und London hatten in erster Linie den Sinn, sich als ein neuer Vertreter des heimischen Handelshauses einzuführen und geschäftliche Kontakte zu pflegen. Allerdings zeigt sich, dass es ‒ in Maßen ‒ erlaubt war, sich zu vergnügen und geboten, sich zu bilden, wozu nicht zuletzt die Besichtigung touristischer Höhepunkte diente. Als letztes ist noch zu klären, wie sich das reisende Subjekt positionierte. Angesichts des erwartbaren Leserkreises in Gestalt von Eltern, Großeltern, anderen Verwandten und Freunden waren die oben erwähnten Grenzen der Schicklichkeit und des Sagbaren einzuhalten und problematische Informationen rhetorisch zu verstecken, sonst hätte dieses »Geschenk« nicht funktioniert. Doch, wie erwähnt, verstand er sein Projekt auch als Gabe an sich selbst, als Rückblick auf das Jahr 1821, »das schönste meines bisherigen und wahrscheinlich ganzen Lebens.«78 Dahinter steckt vermutlich eine Liebesromanze in England, während zu Hause eine längst von der Familie vorbestimmte Braut wartete. Obwohl durchaus häufig in der Ich- oder Wir-Form sprechend, trat Meyer nicht als »sentimentaler« Reisender auf. Positiv wie negativ empfundene Erlebnisse wurden angesprochen, doch eher in einem nüchternen Duktus.79
5.3.
Von »Gemälden« in Worten und Bildern
Franz Simon Meyer hatte seine Reiseberichte dem Herkommen gemäß ausgestattet. Die Annahme, Bilder (welcher Art auch immer) würden Texte verschönern, eindringlicher machen oder Zusatzinformationen liefern, hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Doch im 20. Jahrhundert scheint sich das Verhältnis verkehrt zu haben, nun wird von einer regelrechten Bilderflut gespro-
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Ebd., S. 372. Das zeigt sich am Beispiel der wenig erbaulichen Rückfahrt über den Kanal: »Statt nun dem Leser zu sagen, wie es mir, kaum eine Viertelstunde auf dem Meere, sterbensweh wurde, wie man sich auf allen Seiten erbrach, wie der Wind das Schiff herumwarf, stelle ich ihm einige Bemerkungen über England unter die Augen, die ihn gewiß in hohem Grade interessieren.« Es folgt die in Manchester verfertigte Übersetzung eines Zeitungsartikels, der im enzyklopädischen Stil über das Land informiert und die berühmte Feststellung enthält: »Nie geht die Sonne in seinen Besitzungen unter«. Ebd., 360f.
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chen, die Schriftliches zurückdränge.80 Betrachtet man die Produkte touristischer Reisetätigkeit im Internet, so reicht die Bandbreite von sparsam mit Fotografien versehenen Texten bis zu (fast) reinen Foto-Sammlungen. Doch charakteristisch ist letztlich eine vielgestaltige Verbindung von Text und Bild geblieben, wobei beide nicht unbedingt selbst produziert sein müssen. Deshalb nimmt der folgende kulturhistorische, genauer mediengeschichtliche Exkurs auch die verschiedenen Ausdrucksformen dieses Wechselverhältnisses in den Blick. Schließlich ist es auch für das von Wanda Frisch hinterlassene Konvolut prägend. Die Argumentationskette wird anhand einer literaturwissenschaftlichen Arbeit von Jost aufgebaut, die sich der Geschichte einer Verschränkung von Bildern und Worten auf dem Feld der Landschaftswahrnehmung besser konstruktion im Medium des Reisens gewidmet hat.81 Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in den dem Rationalismus verpflichteten Reiseberichten der Spätaufklärung »Bilder«, ja, »Gemälde« von Landschaften mit Worten gezeichnet werden, die dem Vorstellungsmodell der einen »Ideallandschaft« entsprachen. Vorbilder dafür lieferten andere Texte, aber auch Landschaftsgemälde im eigentlichen Sinn. Noch für Goethe galt: »Der Natur mit einer an der Landschaftsmalerei geschulten Wahrnehmung gegenüberzutreten und sie nach diesem Vorbild sprachlich nachzubilden, bildkünstlerische und literarische Landschaft als Analogien zu behandeln, war allen seinen Zeitgenossen eigen.«82 Gestaltungsprinzip der Komposition dieser sprachlichen Gemälde war die »Rahmenschau« mit ihren drei Haupteigenschaften: »Umrahmung, Bewegungslosigkeit und Zusammenschau.«83 Das entspricht der Optik des »Guckkastens«, als der ohne weiteres auch der spätere Fotoapparat imaginiert werden kann.
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Im 18. Jahrhundert dienten Texte als »Bildermagazine«, gemäß der These, dass gut gewählte Worte lebhaftere Assoziationen auslösen können als der Anblick der Dinge selbst. Vgl. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 87. Ebd. Die Rede vom Rahmen und der Hinweis auf die Vorbildfunktion englischer Landschaftsgärten gehört zum Grundbestand tourismusgeschichtlicher Darstellungen, wird hier aber in einen anderen Kontext gesetzt. Vgl. etwa Löfgren, On Holiday, S. 13ff. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 73. Selbst der Begriff der Landschaft stamme aus der Malerei und die dichterische Landschaftsschilderung habe ihren Ausgangspunkt in der Entdeckung dieser Gemälde genommen. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 272.
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Die Zusammenschau geschieht in Form einer »Bilderkette«. Wie beim Dia-Vortrag lösen einzelne, fest umrissene Bilder einander ab. Ziel dieses Verfahrens ist es, im Sinne des aufklärerischen Erkenntnisstrebens ein »objektives Bild der gesamten erfahrbaren Wirklichkeit über die ›Addition‹ ihrer Details zu liefern.« Dieses Wahrnehmungsprinzip fußt auf der zentralperspektivischen Konstruktion eines homogenen Raumes, wie sie für die Landschaftsmalerei seit der Renaissance charakteristisch gewesen sei.84 Doch ein kultureller Paradigmenwechsel habe bewirkt, dass zunehmend das Unbegrenzte ins Blickfeld gerückt sei, was sich in der Reiseliteratur durch eine neue, panoramatische Sehweise Ausdruck verschaffte. Die Landschaftsmalerei brachte schließlich Panoramagemälde und Veduten hervor. Dem entsprach die Abkehr von der Rahmenschau und eine Bevorzugung des »schweifenden Auges«.85 »Mehr und mehr läßt sich dann in der Folge in der Reisebeschreibung die Tendenz bemerken, Landschaft nicht bloß von ›oben herab‹, sondern aus der Bewegung innerhalb der Natur wahrzunehmen, wobei Sehweisen und -erfahrungen zum Bestandteil der Darstellung werden.«86 Auch diese Beobachtung hat eine bildkünstlerische Entsprechung, auf die später am Beispiel von Turner eingegangen wird. Die ideale Seherfahrung um 1800 soll nun der eine Blick sein, der Alles sehen lässt.87 Nach gängiger Auffassung habe das in einer Rotunde untergebrachte Panorama-Gemälde genau dies ermöglicht und dementsprechend auf die sprachlichen Schilderungen gewirkt. Doch Jost hält dagegen, die »natürliche Rundsicht« (wie sie auch bei Meyer zu finden ist) habe sich längst schon literarisch durchgesetzt, als 1788 in Edinburgh das allererste Panorama gezeigt worden sei. Im Gegenteil, gerade diese bereits Allgemeingut gewordene Sehweise hätte ihm das Publikum zugeführt.88
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Ebd., S. 273. Vgl. ebd., S. 75. Ausdrücklich wendet sich Jost gegen die prominente Auffassung von Schivelbusch, der die Entwicklung des »panoramatischen Sehens« mit dem Aufkommen der Eisenbahn verknüpfte. Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Die Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt a.M. 1989, S. 51ff. Ebd. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Nach Meinung des Panorama-Spezialisten Oettermann stehe dieses eben nicht nur für die »Sucht nach Überschau«, sondern biete Ausschnitte, biete Realismus im Detail von einem fixierten Standpunkt aus ‒ ein »Erbe« der traditionellen Rahmenschau. Vgl. Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980, S. 25.
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Festzuhalten ist hier aber vor allem die Beobachtung, dass sich die Veränderung der Wahrnehmungsmuster in einem komplexen und ungleichzeitigen Prozess vollzog. Zeitgleich wandten die maßgeblichen Künstler sowohl ältere und als auch neue Sehweisen an, ja, zuweilen traf das auf ein und denselben Maler zu. »Das (ästhetische) Vergnügen am kleinen, gerahmten ›Bildchen‹ schließt die Panoramasicht nicht aus; die betretbare Landschaft kann neben der idealisierten, gesperrten stehen«89 Diese Vielfalt fand in der Folge in jeweils neuen Medien ihre Ausdrucksform und wurde so über die Zeit vererbt. Es sind sowohl poetische Texte, modellhaft wirkende Reisebeschreibungen berühmter Autoren wie Landschaftsdarstellungen auf Gemälden, die verarbeitet wurden und Reiseliteratur zu einer genuin intertextuellen Gattung werden ließen, die aber in diesem Modus kaum untersucht worden sei.90 Die Nutzungsweisen der Vorbilder sind vielfältig und reichen bis zum »Zerstückeln« des Vorliegenden, wie Jost unter Berufung auf Maurer mitteilt. »Schon bei oberflächlicher Sichtung fällt auf, daß sich sowohl der Kanon als auch die Qualität und die Quantität der literarischen Referenz im Laufe des Untersuchungszeitraums von 1780 bis 1820 deutlich verändern« und das verweise auf den oben erwähnten »Strukturwandel der Wahrnehmung von Landschaft«.91 Mit anderen Worten, der intertextuelle Kommunikationsprozess, an dem »Autoren« wie »Leser« beteiligt sind, ist kein starres, sondern ein sich wandelndes Phänomen. Die Anführungszeichen sollen andeuten, dass das für Bilder wie für Texte gilt. Die Bezugnahme auf ein Vorbild reicht von der kurzen Anspielung oder einem Zitat bis hin zu umfänglichen Exzerpten und inhaltlichen oder strukturellen Übernahmen.92 Selbst die Rede von der Unmöglichkeit, einen Eindruck wiedergeben zu können, die heute gern herangezogen wird, um die sprachliche Inkompetenz von Touristen zu belegen, hatte in diesem System ihren Platz. Die Intertextualität konnte zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Zwecken dienen ‒ zunächst der Wissensvermittlung oder Beglaubigung in rationalistischen Beschreibungen. Im Zuge der Aufladung von Landschaft mit Gefühlen, die die eigene Anschauung in den Vordergrund schiebt, transportiere der fremde Text die Emotionen der
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Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 80. Ebd. 139. Ebd., S. 139f. Vgl. ebd., S. 142.
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Autoren ‒ ein offenbar populäres Verfahren, wie die Schiller-Zitate von Meyer bezeugen. Nun, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, war auch die Zeit gekommen, um an Wohnorten oder Gräbern der zitierten Dichter ein Nachleben ihrer Werke im reisenden Individuum anzuregen. So etwas lässt sich nicht ewig durchhalten, weshalb solche Orte zunehmend zu Sehenswürdigkeiten geworden seien, deren Besuch man abhaken konnte.93 Doch gilt auch hier: Die älteren Wahrnehmungsmuster gingen letztlich nicht verloren. Das zeigen gegenwärtige Reiseformen, bei denen einerseits nur noch ein fernes Echo jenes Zitierens vernehmbar ist (wie etwa bei Wanda Frisch), aber andererseits akribisch und leibhaftig »auf den Spuren von…« gewandelt wird.94
5.4.
Die Schaulust im 19. Jahrhundert
»Sehsucht« nennen von Plessen und Giersch den von ihnen verantworteten Katalog einer opulenten Ausstellung zum »Panorama als Massenunterhaltung«.95 Die dadurch kommerziell befeuerte Schaulust wurde allerdings bis hin zu den Kaiserpanoramen am Beginn des 20. Jahrhunderts auch als Bildungsanstrengung interpretiert. Mittels des Überblicks auf ein »erhabenes« Sujet (eine Stadt, eine Landschaft, ein bedeutsames Ereignis aus der Gegenwart oder der neuesten Geschichte) könnten erhabene Gefühle erzeugt werden und zwar nicht bei exklusiven Besuchern von Museen und Galerien, sondern bei jedermann. Um einen finanziellen Gewinn zu erzielen, gingen einige Panoramen auf Tour durch Europa, wobei man vor Ort auf
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Vgl. ebd., S. 145. Um nur eines von zahlreichen Beispielen zu erwähnen: Diemer berichtet von einem DDR-Bürger, der sich, ausgerüstet mit dem Reisebericht von Seume und einer handgemalten Karte, im Jahre 1988 zu einem »Spaziergang nach Syrakus« aufmachte. Vgl. Diemer, Sabine: Reisen zwischen politischem Anspruch und Vergnügen. DDRBürgerinnen und -Bürger unterwegs, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen, Köln 1996, S. 83-92. Plessen, Marie L. von; Giersch, Ulrich (Hg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Bonn 1993. Vgl. auch den Führer zu einer neueren Ausstellung zum Thema mit zahlreichen Beispielen zu zeitgenössischen Panoramen: »J‹ aime les panoramas: S’approprier le monde«. Exposition des Musées d’art et d’histoire de la ville Genéve 2015.
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ein entsprechendes Gebäude angewiesen war.96 Im Katalog von Plessen und Giersch wird aber auch der kleinen Wanderpanoramen gedacht, die, in einen Wagen verpackt, leicht transportiert und auf jeder Kirmes gezeigt werden konnten. Kleinstpanoramen wie Ziehharmonika-Guckkästen, Längenpanoramen, Fächer mit dem Programm eines Montblanc-Panoramas oder Teller mit Panorama-Ansichten wurden als Souvenirs von realen Reisen mitgebracht oder ermöglichten im privaten Raum einen fiktiven Ausflug zu interessanten Destinationen.97 Kamen die Panoramen so einerseits zu den Menschen, waren sie andererseits Teil der touristischen Ausstattung bekannter Reiseziele wie London oder Paris, wie auch am Beispiel Meyers zu sehen ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sie auf jeder Welt- oder Industrieausstellung zu bewundern. Die Tatsache, dass die gebildeten Schichten nun ihr Rezeptionsmonopol teilen mussten, blieb nicht ohne Folgen. Die Zeitgenossen monierten schon um 1800, derlei Darstellungen hätten keinen tieferen Sinn mehr und dienten allein einer durch Täuschungen induzierten Unterhaltung des Publikums. Das entsprach allerdings nicht immer den Tatsachen, wie etwa die akribischen Abbildungen und Recherchen des Panoramenmalers und besitzers Hubert Staller zeigen, auf die später in einem anderen Zusammenhang eingegangen werden soll.98 Dagegen wurde in den Feuilletons der Journale zunehmend über die schlechte oder gute Qualität solcher Illusionskunst diskutiert. Diese hatte neue Höhen erreicht: Neben der Beleuchtung wurde mit akustischen und haptischen Reizen experimentiert, namentlich in den Dioramen und Pleoramen oder Moving Panoramen, die ab den 1830er Jahren in Mode kamen. Als »Geschichten in Bildern erzählendes Medium habe sich
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»Nachdem ausführliche Zeitungsberichte über die Panoramania in London das Publikum auf dem Kontinent gespannt gemacht hatten, war im September 1799 das erste ›Gemählde ohne Gleiches‹ auch in Deutschland zu sehen.« Auf dem Hamburger Neumarkt zeigte man in einer hölzernen Rotunde das Panorama London, gesehen vom Dach der Albion Mühle.« Oettermann, Stephan: Die Reise mit den Augen ‒ »Oramen« in Deutschland, in: Plessen, Giersch, Sehsucht, S. 42. Dieses Panorama von Robert und Henry Astor Barker wurde zuerst 1795 gezeigt. Vgl. Oleksijczuk, Denise Blake: The first panoramas. Visions of British imperialism, Minneapolis/London 2011, Figure 5. 7. Die von dieser Autorin erstellte Themenliste der Barker-Panoramen von 1794-1821 zeigt ein deutliches Übergewicht von kriegerischen Ansichten gegenüber touristischen. Vgl. von Plessen, Giersch, Sehsucht, S. 241, S. 252, S. 258, S. 272, S. 276. Vgl. Kosmoramen von Hubert Sattler, Band 1: Metropolen, Salzburg 2006 (Salzburger Museumshefte 8).
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letzteres als veritabler Vorläufer des Fernsehens« erwiesen.99 Zur selben Zeit und als Reflex auf das Faktum ihrer allgemeinen Verbreitung wurde darüber nachgedacht, wie arbeitende Menschen durch solche künstlerischen Institutionen Naturschönheiten genießen könnten, die ihnen sonst nicht zugänglich seien. Diese boten perfekte Aus- und Detailsichten bei schönstem Wetter und ohne jede Gefahr ‒ ein Vorzug, den die Veranstalter zu preisen wussten.100 Andererseits gehört die Möglichkeit des gefahrlosen Genusses zur Bestimmung des Erhabenen ‒ hier unterscheiden sich die Betrachter eines »natürlichen« Alpenpanoramas von 1780 nicht von den Zuschauern eines »künstlichen« um 1850. Beide erwarteten effektvolle Kontraste wie Morgenröten, Sonnenuntergänge und silbernes Mondlicht, die aber nur die Installation jederzeit zu geben vermochte. Durch Panoramen, Dioramen und Pleoramen wurde die Sanktionierung bestimmter Sujets und die Schematisierung von Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen vorangetrieben. In diesen Prozess waren auch die aufkommenden Reiseführer involviert. Das hat Müller in einem lesenswerten Aufsatz näher untersucht. »Es ist der Panoramablick, der […] versinnbildlicht, wie das Reisehandbuch am Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Welt schaut.«101 Im Baedeker »Rheinreise von Basel bis Düsseldorf« seien panoramatische Rundblicke die bevorzugte Perspektive. Aber umgekehrt passten sich die Panoramaunternehmer immer mehr den Anforderungen des Tourismus an, wenn sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele touristische Sehenswürdigkeiten präsentierten.102
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Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 356. Zu den unterschiedlichen Rezeptionsweisen der Panoramen und den Wechselverhältnissen von Original und Bild siehe Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 128ff. 100 Vgl. Ebd., S. 359. Am Ende des 19. Jahrhunderts heißt es in der Einleitung zum Führer durch Alpen-Dioramen, die auf einer Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung zu sehen waren: »Den Vielen, denen Alpenreisen oder die Ersteigung hoher Gipfel nicht möglich sind, möge das Diorama Ersatz des Versagten bieten; die Zahlreichen, die reisen können, soll es anregen, das Köstliche nun auch in der Natur zu sehen.« Im Gegensatz zur Jahrhundertwende um 1800 war hier der Alpinismus einzurechnen. Interessant ist vielleicht auch ein Blick auf die Ausführenden: neben Architekten und Landschaftsmalern auch ein »Theatermaler«. Führer zum Alpen-Diorama Tiroler Bergfahrt (ausgeführt von Edward T. Compton) anläßlich der Industrie- und Gewerbe-Ausstellung Leipzig 1897, Leipzig 1897, S. 8. 101 Müller, Susanne: Zur Medienkulturgeschichte des Reisehandbuchs, in: Jaworski, Rudolf; Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian (Hg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa, Wiesbaden 2011, S. 38. 102 Ebd., S. 39ff.
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Das gilt auch für die schriftliche Seite. Die an den Kassen erhältlichen Orientierungspläne und Beschreibungen, die den mündlichen Vortrag eines »Reiseführers« im Panorama ergänzten oder ersetzten, wurden immer mehr zu »echten« Reiseführern, indem sie nicht die Gemälde, sondern das Gemalte besprachen.103 Wechselwirkungen gab es aber auch mit neuartigen Oramen, die eine Fluss- oder Bahnfahrt simulierten ‒ dazu gleich mehr. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 schließlich war ein letzter Höhepunkt erreicht, Tourismus und Panorama waren aufs Engste verschränkt. »›Panorama und Globus‹, ›global und panoramatisch‹ sind die beherrschenden Begriffe der Zeit, ob in der Reklame oder im Essay und man ist immer ‒ geistig gesehen ‒ auf Reisen zu einem lohnenden panoramatischen Ziel, nach ›Übersee‹ oder ins Innere ›Asiens‹, wenn man die abenteuerliche Variante wählte, an die Riviera und durch die Schweiz, wenn man den modischen Luxus des bereits klassisch gewordenen Tourismus bevorzugte.«104 Die technisch neueste Verbindung war die von Film und Panorama in einem »Rundumkino«, im Cinéorama von Grimaud.105 Für »eine bestimmte modische Lust an direktem Bewegungsrealismus« seien, so Kuchenbuch, jedoch die kinetischen Panoramen bedeutsamer gewesen.106 Mit ihnen wurden nicht mehr allein Daheimbleibende mit Reiseerlebnissen versorgt, sondern potenzielle Touristen umworben. So konnten die in einem Luxuswaggon sitzenden Besucher des Panoramas »Die Transsibirische Eisenbahn« die Landschaft zwischen Moskau und Peking bewundern oder im Stereorama »Poesie des Meeres« auf einem Dampfer entlang der nordafrikanischen Küste fahren. Dazu ging die Sonne auf oder brannte mittags sengend herab, während das Meer sich spiegelglatt zeigte oder wellenbewegt.107 Als richtiger Reisender konnten man sich im Maréorama fühlen. Man saß bequem auf dem Deck eines Postdampfers, um von Villefranche nach Constantinopel zu fahren. Dabei bewegte sich das Schiff, das Licht veränderte sich und ein salzhaltiger Windhauch umgab die Menschen. Ein besonderer Höhepunkt war die Illusion eines Sturmes auf See mit Blitz und Donner. Während das Meer tobte, läuteten Alarmglocken, Seeleute schrien, Rettungsboote wurden herabgelassen.108 103 Ebd., S. 41. 104 Kuchenbuch, Thomas: Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur, Stuttgart/Weimar 1992, S. 208. 105 Ebd., S. 199f. 106 Ebd., S. 201. 107 Ebd., S. 202. 108 Vgl. ebd., S. 203f.
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Diese alle Sinne ansprechende Erlebniswelt konnte noch gesteigert werden, wie es in der Schau »Tour du Monde« geschah. Dem Besucher wurde eine »Idealreise« geboten, schnell, bequem, billig, gefahrlos und dennoch eindrucksvoll, denn die vorbeiziehenden Gemälde, die Szenen aus Spanien, Indien oder China boten, wurden durch »echte Eingeborene« belebt, während man exotische Getränke schlürfen konnte.109 Neben Reisebeschreibungen und Oramen, die einem noch nicht reisenden Massenpublikum das Erlebnis erhabener Landschaften und historischer Orte und Ereignisse ermöglichten, konnte die Sehsucht durch Abbildungen in volkstümliche Journalen und durch wohlfeile Reproduktionen befriedigt werden. Das Familienblatt Die Gartenlaube veröffentlichte wie viele andere Zeitschriften ab 1853 regelmäßig Serien von »Reisebriefen« aus aller Welt, über Spanien, Frankreich, England, Afrika oder die USA. Auch hier wurde mit dem Begriff des »Bildes« als Text oder bildliche Darstellung gespielt. So hießen die zwischen 1853 und 1874 regelmäßig veröffentlichten Berichte aus Paris »Pariser Bilder und Geschichten«. Schon der erste Jahrgang der Zeitschrift war mit zahlreichen Landschafts- und Städteansichten aus aller Welt versehen. Vom Krimkrieg veröffentlichte man eine Darstellung des Kriegsschauplatzes aus der Vogelperspektive mit Sewastopol und dem Schwarzen Meer.110
109 Ebd., S. 205. Wer unter der Adresse www.firstairlines.jp nachschaut, macht die Bekanntschaft einer ähnlichen Illusionsmaschine. Nun findet die Reise in einem als Flugzeug ausgestatteten Restaurant mit Flugsimulator statt, vor dessen »Fenstern« Wolken vorbeiziehen. Stewardessen gestalten die üblichen Rituale, dann werden je nach Flugziel (im Jahre 2018 waren es Paris, Rom, Helsinki, New York, Hawaii, im Jahre 2019 Japan) »landestypische« Gerichte serviert, umrahmt von der entsprechenden Musik. Nach einem aufwändig simulierten Landeanflug können die »Passagiere« dank VRBrille vom Eiffelturm oder Empire State Building einen Rundblick genießen und in die Städte »eintauchen«. Nach zwei Stunden ist die »Reise« vorbei. 110 Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Leipzig, Jahrgänge 1853 und 1854, hier (1854)49. Im Jahrgang 1924 finden sich neben regelmäßigen Berichten von Reisejournalisten oder Fachleuten über entferntere Weltgegenden (»Auf Feuerland« von Kurt Faber, Heft 2, S. 31-33 oder »Im Reiche des Buddha« von Dr. Stönner, Heft 5, S. 85-88) auch Schilderungen touristischer Reisen etwa nach Tirol, Teneriffa oder London (Hefte 1, 18 und 26). Daneben gibt es Abbildungen von touristischen Zielen ‒ so ein Wintersportbild auf der Titelseite im Heft 1, eine Radierung »Blick vom Drachenfels« im Heft 9, eine »Naturaufnahme« (d.h. ein Foto) »Frühling in den Bergen« im Heft 10 oder eine Reproduktion des bekannten Gemäldes von Ferdinand Hodler: »Thuner See« im Heft 25.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
Die Bilderwelt dieses fernen Krieges war zur selben Zeit auch in Schottland in die Häuser von jedermann gelangt.111 In Fontanes Reisebericht »Jenseits des Tweed«, der im Übrigen den Untertitel »Bilder und Briefe aus Schottland« trägt, werden zwei »eingerahmte Bilder« erwähnt, die im Putzzimmer einer Waschfrau hingen, das für die Reisenden als Schlafzimmer herhalten musste. Sie waren in Berlin gedruckt worden und zeigten einen »Schiffbruch« und das »Bombardement von Sebastopol«.112 Mitten im einsamsten Hochland, im Dorf Kingussie, besuchte Fontane einen Jahrmarkt. An der Hinterseite einer Drehorgel habe sich, »wie auch auf unseren Jahrmärkten« eine bemalte Leinwand erhoben. »Allerhand Szenen aus dem Krimkrieg waren darauf abgebildet, zumal die Kavallerie-Attaque von Baklawa und das Hochlandsregiment (Sir Colin Campbell), an dem sich der Angriff der russischen Reiterei brach. Dazu spielte ein Leierkasten eine Arie aus Flotows ›Martha‹, und die heiseren Kehlen der Umstehenden stimmten mit ein.«113 Wer reisen konnte, deckte sich, wie Franz Simon Meyer, vor Ort mit Bildern ein. Zudem gehörte es noch lange zum guten Ton, auf Reisen selbst zu zeichnen. Während Fontane, sich all der Gestaltungsmittel bedienend, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Verfügung standen, um seine Wortgemälde bemühte, nahm sein Reisebegleiter »sein Skizzenbuch aus der Tasche, um, seinem Gedächtnis bescheiden misstrauend, das schöne Bild in Linien und Strichen festzuhalten.«114 Im letzten Drittel des Jahrhunderts steuerte auch eine neue Konsumkultur einiges dazu bei, die Kundschaft mit touristischen Destinationen vertraut zu machen. Als Beispiel sei auf Liebig’s Sammelbilder hingewiesen, die ab 1873 dem bekannten Fleischextrakt beigegeben waren. Die Jahrgänge bis zur Jahrhundertwende sind im Stile von Genrebildern gehalten und zeigen gleich am
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Vgl. volkskundliche Überlegungen zum Krieg als Reise: Köstlin, Konrad: Krieg als Reise, in: Berwing, Köstlin, Reise-Fieber, S. 100-114 oder Lauterbach, Tourismus, S. 163ff. Zu anderen, vor allem für virtuelle Reisende im heimischen Sessel gedachte englische und deutsche Zeitschriften und ihrer Rolle bei der Ausbildung des Geschichtstourismus vgl. auch: Scheidt, Tobias: »Spots in which the past is most at home«: Populäre Zeitschriften als Medien des Geschichtstourismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Schwarz, Angela; Mysliwietz-Fleiß, Daniela (Hg.): Reisen in die Vergangenheit. Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 99-136. Fontane, Theodor: Jenseits des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland, Köln 2019, S. 199. Ebd., S. 166. Ebd., S. 47.
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Anfang outdoor-Aktivitäten, bei denen der Extrakt von Nutzen ist: für Soldaten und Jäger, aber auch Reisende im Eisenbahnabteil oder im Gebirge. Schon in der zweiten Serie begegnen »Zwei Maler in den Bergen«.115 Zum Ende des Jahrhunderts nehmen die Werbebildchen immer mehr die Form eines Bilderlexikons an. Statt Genrebildern gibt es nun realistische Darstellungen touristischer Ziele, von See- und Landbädern, Wasserfällen, norwegischen Fjordlandschaften. Auf der Rückseite sind Erklärungen zu lesen, etwa im Jahre 1904 zur »Braut aus Sogn«, die sich an Schweiz-Kenner wendet.116 Zu diesem akzeptierten Bestand an Bildern und Bildtechniken trat nun die Fotografie, die trotz aller technischen Schwierigkeiten sofort genutzt wurde, um Reiseerlebnisse oder in fernen Ländern vorgefundene Artefakte zu dokumentieren.117 Freilich schlug ihr auch die Ablehnung der Kunstkritiker entgegen, bedurfte es doch (scheinbar) keines künstlerischen Bemühens mehr, um in kurzer Zeit ein Bild zu produzieren.118 Hinzu kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Bildpostkarten, die Telesko »als das erste visuelle Massenmedium« bezeichnet, das im Verein mit Plakaten und Reiseführern neue Visualisierungsstrategien im Tourismus repräsentierte.119 In ihrer Anfangszeit
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Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1-1138 (hg. von Bernhard Jussen), Atlas des Historischen Bildwissens 1, Directmedia Publishing Berlin 2002/2008, S. 72. Es findet sich auch das beliebte Motiv »Reisender von Räubern überfallen«, ebd., S. 196. Einer solchen »Braut« begegnete Wanda Frisch noch 1967 auf ihrer Nordlandfahrt. Auf dem Liebig-Bild wird jedoch gar nicht auf sie Bezug genommen. Dort heißt es zur Erklärung: »Sognefjord. Der Fjord, der etwa den doppelten Flächeninhalt hat wie der Genfer See liegt nördlich von Bergen, von wo aus mehrmals wöchentlich TouristenDampfer dahin abgehen. […] Die westliche Hälfte des Sognefjords ist ähnlich wie der Genfersee ein schöner Wasserspiegel, etwa 5 Kilometer breit. Die östliche Hälfte hat, in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit dem Wallis, nur ragen die gewaltigen Felswände nicht aus einem belebten Thalgrunde, sondern direct aus dem Wasser empor.« Ebd., S. 4927. Wer solche Vergleiche bringt, wendet sich an ein begütertes Publikum ‒ arme Leute konnten sich Liebig’s Fleischextrakt nicht leisten. So ließ sich die spätere Weltreisende Ida Pfeiffer für ihre Reise in den Norden »in der Kunst der Daguerreotypie unterweisen«. Habinger, Gabriele (Hg.): Vorwort. In: Pfeiffer, Ida: Nordlandfahrt. Eine Reise nach Skandinavien und Island im Jahre 1845, Wien 1991, S. 7. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 358. Telesko, Werner: Visualisierungsstrategien im Tourismus in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Postkarten, Plakate und andere Bildmedien, in: Stachel, Peter; Thomsen, Martina (Hg.): Zwischen Exotik und Vertrautem. Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten, Bielefeld 2014, S. 32f.
5. (Urlaubs-)Reisen als kulturelle Praxis und die Spuren der Vergangenheit
hätten sie allerdings neben ihrer touristischen Funktion die Aufgabe gehabt, als »Bildergalerie der ›kleinen Leute‹« zu fungieren. Sie zeigten deshalb keineswegs nur touristisch Interessantes, sondern Informatives über die eigene Umwelt. Charakteristisch war die »Bildtechnik der Montage, Überblendung und Rahmung«, die erst nach Jahrzehnten zugunsten eines Kanons touristischer Motive aufgegeben wurde.120 Völkerschauen und der Film und vervollständigten das Arsenal, aus dem die Menge ihre Anschauungen von näher und ferner gelegenen Landschaften, von großen Städten und ihren Sehenswürdigkeiten, von Bewohnern fremder Welten schöpfte, ehe sie sich aufmachen konnte, um dies alles selbst zu besichtigen. Nicht zu unterschätzen sind die Wirkungen jener Medien, die speziell für Kinder und Jugendliche gestaltet wurden ‒ beispielsweise eindrucksvoll bebilderte Reisebeschreibungen oder Brettspiele. Sie vermittelten nicht nur, was als sehenswert galt und die »richtige« Wahrnehmungsweise, sondern auch die Motivation, selbst später »Reiseabenteuer« zu bestehen.121 Gerhard Paul bindet die Geburt des »Visual Man« an die »Welt im Zeichen ihrer technischen (Re)Produzierbarkeit«. Somit begann das »visuelle Zeitalter« im Jahre 1839 und kam am Ende des Jahrhunderts erst richtig in Fahrt.122 »Vor allem die beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sind als ›revolutionärer Aufbruch‹ in eine neue Medien- und Bildkultur oder auch als ›Medienrevolution‹ beschrieben worden. Genauer handelte es sich um vier revolutionäre Veränderungen im Bereich der Fotografie und der Kinematografie, der Bildreproduktion und -übertragung, denen auf dem Fuße eine Revolution in der Kunst folgte. Alle diese Innovationen generierten Bilder, die den Begriff des Visuellen grundlegend änderten und es als gerechtfertigt erscheinen lassen, die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts als kulturelle ›Epo120 Ebd., S. 36. 121 Vgl. Haas, Gerhard: Der blaue Nebel großer Fernen ‒ Reiseberichte und Reisebeschreibungen in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Bausinger, Beyrer, Korff, Reisekultur, S. 270-276. Falkenberg, Regine: Reisespiele – Reiseziele, in: Ebd., S. 284-290. Allerdings scheint sich so manches Kind auch frühzeitig mit den für Erwachsene gedachten Berichten beschäftigt zu haben. So Edwards: »Als Kind teilte sich The Manners and Customs of the Ancient Egyptians meine Zuneigung mit The Arabian Nights. Ich hatte jede Zeile der alten sechsbändigen Ausgabe wieder und wieder gelesen. Ich kenne jede der sechshundert Illustrationen auswendig.« Edwards, Amelia: Tausend Meilen auf dem Nil. Die Ägyptenreise der Amelia Edwards 1873/1874, Wien 2009, S. 369. 122 Paul, Gerhard: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, Inhaltsverzeichnis.
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chenschwelle‹ zu bezeichnen. Denn die neuen Medien und Bildpraxen kündigten nichts weniger als den Beginn eines neuen Zeitalters an, in dem die jahrhundertelange Vorherrschaft der Schriftmedien, die Gutenberg-Galaxis, von einer neuen Kultur der Visualität abgelöst werden sollte.«123 Historiker mit dem Arbeitsschwerpunkt Frühe Neuzeit heben dagegen den besonderen visuellen und intermedialen Charakter auch dieser Epoche hervor.124 Die Kunsthistorikerinnen Schade und Wenk gehen noch einen Schritt weiter und diskutieren in einem Abschnitt ihrer Studien, ob eine »visuelle Zeitenwende« im eben erläuterten Sinn überhaupt auszumachen sei und worin die Prämissen dieses Diskurses bestehen. Sie gehen »nicht von einem ›Pictorial‹, ›Visual‹ oder ›Iconic Turn‹ als einem Ereignis aus, das als ein objektives, zeitgenössisch stattfindendes Phänomen oder als Zeitenwende zu betrachten wäre.«125 Für die eigenen Zwecke soll ein Mittelweg eingeschlagen werden: Betrachtet man weniger die technische Seite, sondern, wie eben geschehen, die Inhalte, die historischen Wurzeln der neuen Medien, die Erwartungen und Vermögen der Rezipienten, die Wechselverhältnisse von Text- und Bildmedien und auch der Bildmedien untereinander, erscheint es gerade im Hinblick auf die kulturelle Praxis des Tourismus angezeigt, die »Epochenschwelle« am Ende des 18. Jahrhunderts zu belassen.
123 Ebd., S. 22. 124 Vgl. die jüngst erschienene Rezension von Kristina Hartfiel über Voges, Ramon: Das Auge der Geschichte. Der Aufstand der Niederlande und die Französischen Religionskriege im Spiegel der Bildberichte Franz Hogenbergs (ca. 1560-1610). Leiden 2019, in: H-Soz.-Kult, 20.01.2020, www.hsozkult.de/publicationenreview/id/reb-28758, Zugriff am 21.01.2020. 125 Schade, Sigrid; Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 42.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Nun zu den Fotoalben mit den Urlaubsbildern von Wanda Frisch. »Private Fotos sind eine in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiche, aber schwierige Quellengattung. Während Bilder der staatlichen Erfassung und Kontrolle, der politischen Propaganda oder unternehmerischen Konsumwerbung sich in der Regel mit einem mehr oder weniger klaren und dementsprechend analysierbaren Ziel an die Öffentlichkeit wenden, sperren sich die auf eine private Nutzung ausgerichteten Knipserbilder zunächst gegen eine wissenschaftliche Interpretation.«1 Selbst für die heute ins Internet hochgeladenen Reiseberichte und Fotos gilt die bange Frage, wer eigentlich der Adressat sein soll.2 Die Fotografierenden sind zudem Alltagsmenschen und scheinbar ohne größere gesellschaftliche Bedeutung.3
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Urlaubsfotos
Als der Zeithistoriker Cord Pagenstecher im Jahre 2003 seine Dissertation zur Geschichte des bundesdeutschen Tourismus veröffentlichte und sie als
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Pagenstecher, Cord: Private Fotoalben als historische Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 6(2009)3, S. 6, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2009/id=4629, Zugriff am 2.8.2019. Vgl. Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 152ff. An ihnen lässt sich der von Paul im Anschluss an Bredekamp behauptete so wichtige Aspekt, dass Bilder die Macht haben, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, anscheinend schlecht nachweisen. Im Grunde trifft die Urlaubsbilder damit ein ähnliches Verdikt, wie die schriftlichen Äußerungen von Touristen: Sie werden als gesellschaftlich irrelevant eingestuft. Vgl. etwa Paul, Gerhard (Hg.): BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 9.
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Beitrag zur Visual History bezeichnete, war er den meisten seiner deutschen Kolleginnen und Kollegen um einige Jahre voraus.4 Dies ist vielleicht dem Umstand geschuldet, dass sich Forschungsprojekte zum Tourismus geradezu zwangsläufig mit Bildern konfrontiert sehen, werben doch Anbieter mit Prospekten, verfassen Reiseleiter bebilderte Reisetagebücher, während Touristen fotografieren und ihre Bilder austauschen, Fotobücher anfertigen, Ansichtskarten beschreiben ‒ so stellt es sich gegenwärtig dar. Die touristische Welt scheint seit der Erfindung von Kleinbildkameras vor allem eine Bilder-Welt zu sein und die Jagd auf Fotos den Sinn des Tourismus auszumachen, wie ihre Kritiker vor allem seit den 1950er Jahren betonten. Freilich hat die kulturpessimistische Rede von »Bilderflut« und »Bildsucht« »noch jede Neuentwicklung von Bildtechnologien schon vor und spätestens seit dem 19. Jahrhundert begleitet« und wird in angepasster Form auch weiter existieren.5 Inzwischen ist einiges geschehen. Im Ergebnis einer von ihnen veranstalteten Tagung verkündeten Historiker kürzlich selbstbewusst: »Die Analyse visueller Zeugnisse ist zu einem integralen Bestandteil zeitgeschichtlicher Forschung geworden. Zeithistoriker/innen sind nicht länger Zuschauer/innen einer von anderen Disziplinen wie der Kunstgeschichte geführten Diskussion, sondern gestalten die Debatten um den Visual Turn in den Geisteswissenschaften maßgeblich mit.«6 Was bedeutet das im Hinblick auf die in touristischen Zusammenhängen kursierenden Bilder und vor allem für Urlaubsfotos als Quelle zeitgeschichtlicher Forschung? Zunächst ist es angebracht, auf terminologische Schwierigkeiten hinzuweisen. Auf der erwähnten Tagung wurde diskutiert, »inwiefern der Begriff von ›Alltagsfotografie‹ nicht ein Paradox darstellt«, da der Alltag selten Thema der fotografischen Überlieferung sei und diese sich stattdessen auf besondere Anlässe konzentriere.«7 Das ist offensichtlich aus der Perspektive privater Fotografie gefragt, denn Alltagsszenen waren und sind unleugbar Gegenstand der Arbeit professioneller Fotografen, besser von Fotografen mit künstlerischen Absichten. Auch Jäger konstatiert eine »ziemliche Begriffsverwirrung«
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Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Schade, Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 37. Tagungsbericht: Historische Momentaufnahmen/Frozen Moments in History. 11.03.2019-15.03.2019 Gießen, in: H-Soz.-Kult, 21.05.2019, S. 1, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8277, Zugriff am 23.05.2019. Ebd., S. 3.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
im Verständnis von »Alltagsfotografie«. »Bei der Vielfalt der Praxis scheint eine saubere Begrifflichkeit problematisch zu sein.«8 Zum Historikertag 2006 mit dem Thema »GeschichtsBilder« hatte Gerhard Paul ein Studienbuch »Visual History« herausgebracht, in dem immerhin zwei Beiträge zur »Alltagsfotografie« enthalten sind. Einer der Autoren war Pagenstecher, der Ergebnisse seiner Dissertation präsentierte.9 Seither hat Paul mehrere Studien zum Thema vorgelegt und am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam wurde ein entsprechender Schwerpunkt installiert.10 Themen zur Alltagsfotografie, die keinen politischen Hintergrund wie etwa Kolonialismus, Diktatur oder Krieg haben, finden sich dort allerdings nicht.11 Das wird durchaus beklagt. »Obwohl es sich bei der Privatoder Knipserfotografie zweifellos um den ›umfangreichsten Fundus zur Bildgeschichte des privaten Lebens‹ handelt, ist dies eine ›besonders dunkle Ecke‹ der Befassung der Historiker/innen mit Bildern geblieben.«12 Es mag bezeichnend sein, dass Paul sich bei dieser Einschätzung immer noch auf das aus den 1990er Jahren stammende Resümee von Starl stützen kann.13 Mit anderen Worten, in der zeithistorischen Forschung ist diese »dunkle Ecke« kaum heller geworden. Ähnliches könnte wohl aus soziologischer Sicht formuliert werden. »Die lange Zeit eher bildfernen Kultur- und Sozialwissenschaften haben sich des 8 9
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Vgl. Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 183. Pagenstecher, Cord: Reisekataloge und Urlaubsalben. Zur Visual History des touristischen Blicks, in: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 169-187. Vgl. Paul, Gerhard: Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.03.2014, http://docupedia.de/zg/paul_visual_hisory_v3_de_2014, Zugriff am 23.3.2019. Geradezu beispielhaft ist in diesem Zusammenhang auch der Aufsatz von Krauss, Marita: Kleine Welten. Alltagsfotografie ‒ die Anschaulichkeit einer »privaten Praxis«, in: Paul, Visual History, S. 57-75. Zunächst begründet sie, warum Alltagsfotografien eine wichtige Quelle sind, so, weil sie Lebensweisen sozialer Gruppen in unterschiedlichen Lebensbereichen dokumentieren können, darunter prominent das Freizeitverhalten. Ihre Fallstudien haben jedoch keine Alltagspraxen »kleiner Leute«, sondern »historischer Personen« zum Gegenstand. Paul, Visual History, S. 7. Zu den Ausnahmen gehört: Otte, Marline: »Freundschaft als Spiegel eines anderen Bewusstseins«. Amateurfotografie und emotionale Ökonomie in der DDR, in: Ramsbrock, Annelie; Vowinckel, Annette; Zierenberg, Malte (Hg.): Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, S. 253-269. Vgl. Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich 1880-1980, München 1995.
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Symbolsystems Bild inzwischen ‒ in durchaus auch abgemildert kulturpessimistischer Haltung ‒ angenommen.«14 Abel stellte bereits im Jahre 2011 fest, dass nun »glücklicherweise ein zunehmendes Interesse an Bildern in den Sozialwissenschaften zu beobachten« sei und nennt Arbeiten zur Bildinterpretation, Bildrezeptionsforschung, Wissenssoziologie, Bildpraxisforschung und zur Sozialtheorie des Bildes.15 Wer nach Untersuchungen zu Urlaubsfotos fahndet, landet jedoch auch hier in einer »dunklen Ecke«. »Überraschenderweise wird das private Foto bisher, wohl wegen des großen Aufwands, der in der Regel mit Bildanalysen einhergeht, und ihrer hohen Komplexität, aber auch mangels methodischer und theoretischer sozialwissenschaftlicher Zugänge zum Bild, eher selten für die Sinnrekonstruktion herangezogen.«16 Kunsthistorikerinnen wie Schade und Wenk sind nicht besonders erbaut, dass Vertreter der neuen »visuellen Soziologie«, verstanden als Erweiterung der qualitativen Sozialforschung, auf ihrer Suche nach Methoden, mit denen Bilder »richtig« ausgewertet werden könnten, auch die Kunstgeschichte durchmustern und sich dort unreflektiert bedienen.17 Nun soll noch ein Blick auf die volkskundliche Kulturwissenschaft geworfen werden, der ein Interesse an privaten Urlaubsalben am ehesten unterstellt werden kann. Sie hat als Disziplin selbst eine lange forschungspraktische Erfahrung mit Fotografien. »Die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung teilt der Fotografie eine passive, eine neutrale und eine aktive Rezeptionsebene zu: im passiven
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Müller, Michael R.; Raab, Jürgen; Soeffner, Hans-Georg: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden 2014, S. 10. Abel, Thomas: Bilder zweiter Ordnung. Untersuchung digitaler fotografischer Portraitpraxis mittels Fotografie(n), in: Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich (Hg.): Visuelle Medien und Forschung. Über den wissenschaftlich-methodischen Umgang mit Fotografie und Film, Münster/New York/München/Berlin 2011, S. 199. Müller, Silke: Foto-Safari. Visuelle Artefakte einer Urlaubsreise mit Erklärungskraft? In: Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich (Hg.): Eine Fotografie. Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung, Münster/New York 2017, S. 182. Vgl. Schade, Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 50f. Kritisch wenden sie sich gegen Tendenzen in den Sozialwissenschaften, solche in der Kunstgeschichte entwickelten Methoden als »neutral« und »reine Instrumente« zu behandeln und umstandslos zu adaptieren. Vgl. ebd., S. 66. Die methodischen Verfahren hätten »implizite Voraussetzungen, welche als versteckte, naturalisierte Wahrheiten fungieren«, aber selbst als kulturelle Konstruktionen auszuweisen seien. Ebd., S. 69.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Sinn soll sie bewahren, dokumentieren und volkskundliche Objektivationen illustrieren. […] In ihrer neutralen Funktion werden die visualisierten Dinge zum Forschungsgegenstand, die Fotografie erlangt den Status einer wissenschaftlichen Quelle. Schließlich tritt die Fotografie über ikonographische Aspekte, die Art und Weise der Visualisierung, ästhetische und kompositorische Komponenten selbst als Forschungsgegenstand auf.«18 Letzteres geschah erst in jüngerer Zeit mit der Erweiterung des eigenen Gegenstandsbereichs hin zu Phänomenen »des Alltags, der Technik, der Gender Studies sowie der Kultur und Lebensweise«, eingeschlossen das Interesse für private Urlaubs- und Familienfotos.19 Zugleich wurden Prozesse der Selbstreflexion bei den »im Feld« arbeitenden, das heißt fotografierenden Ethnologen in Gang gesetzt.20 Einen vorläufigen Endpunkt repräsentieren wohl die Ergebnisse der 8. Tagung der Kommission Fotografie der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, die von ihren Veranstaltern folgendermaßen anmoderiert wird: »Das Internet und die Archive sind voller Bilder. Abgelegt auf Festplatten, CDs, in virtuellen Clouds oder ganz traditionell in Schuhkartons, Fotoalben und Negativhüllen. […] Jeder kennt das Gefühl: Man entdeckt auf einem Flohmarkt ein altes Fotoalbum mit zauberhaften Fotografien, aber ohne irgendwelche Hinweise auf die abgebildeten Personen, Gegenstände oder Situationen. Forschungspraktisch gesehen, so die unter Historikern nach wie vor verbreitete Meinung, seien die Bilder damit wertlos: Kein Kontext ‒ folglich auch keine nach wissenschaftlichen Kriterien verwertbare Quelle.«21 In manchem erinnert die beschriebene Situation auch an die Herausforderungen, vor die sich jeder gestellt sieht, der sich mit den im Historischen 18 19 20
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Hägele, Ulrich: Foto-Ethnographie. Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Tübingen 2007, S. 321. Ebd., S. 22. Hägele unterscheidet fünf praktische Verfahren der Foto-Ethnographie: Fotodokumentation, teilnehmende Fotobeobachtung, Fotointerview, substitutive fotografische Befragung, Fototagebuch. Ebd., S. 301ff. Wie spät die Selbstreflexion einsetzte, kann man an Bourdieu sehen, der sich schon in den 1960er Jahren mit den sozialen Gebrauchsweisen von Fotografie auseinandersetzte, mit den eigenen foto-ethnografischen Arbeiten in Algerien aber erst Jahrzehnte später. Hägele, Ulrich; Ziehe, Irene: Die eine Fotografie, in: Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich (Hg.): Eine Fotografie. Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung, Münster/New York 2017, S. 9.
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Archiv zum Tourismus gesammelten Foto-Nachlässen beschäftigen will. Wenig bis nichts ist über die Personen bekannt, die ihre Urheber sind. Doch hat es offensichtlich seinen eigenen Reiz, auf »kontextlose« Fotos zurückgeworfen zu sein: »Das vorgelegte Konvolut der Tagungsbeiträge ist gleichsam ein ›Markt der Blicke‹ mit einer großen disziplinären und bildpraktischen Skalierung und einer angenehm neugierig machenden Offenheit gegenüber NichtWissen und Fragen, die aus dem bekannten Diktum von Roland Barthes’, dem »Es-ist-so-gewesen der Fotografie ein ›Je ne sais quoi‹ werden lässt, ein ›eskönnte-so, -aber -auch-anders-gewesen-sein‹ einer Fotografie.«22 Das mahnt zur Bescheidenheit. Immerhin datiert aus dem Jahre 1984 ein erster volkskundlicher Überblick über die nicht eben üppige theoretische und empirische Basis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit privaten Urlaubsfotos.23 Welche der vorliegenden theoretischen Ansätze sollen nun zur Interpretation des empirischen Materials von Wanda Frisch beitragen? Prominent sind nach wie vor die Überlegungen von Bourdieu zu privaten Fotoalben und ihren »Schöpfern«. An zeichentheoretisch fundierten Aussagen hat sich Breckner orientiert, um demselben Objekt beizukommen. Während viele fotosoziologische Analysen auf künstlerische Fotos rekurrieren, machen beide die massenhaften Praxen des »barbarischen« Geschmacks zum Gegenstand. Vor allem Sammlungen von Familienfotos scheinen das Zeug zu haben, wissenschaftliches Interesse zu erregen. Von ihnen zu den Urlaubsfotos ist es weniger weit, als es auf den ersten Blick erscheint. Dazu finden sich in den Arbeiten von Bourdieu explizit und Breckner implizit Anhaltspunkte.24 Die Konzentration auf Familienbilder hat für den vorliegenden Zweck aber auch ihre Schattenseiten, denn für die fotografische Praxis von Wanda Frisch ist charakteristisch, dass sie zwar anfangs noch Verwandte oder Freunde abgelichtet hatte,
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Nic Leonhardt über Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich (Hg.): Eine Fotografie. Über transdisziplinäre Möglichkeiten der Bildforschung. Münster 2017, in: H-Soz.-Kult, 12.03.2018, www.hsozkult.de/publicationenreview/id/reb-26324, Zugriff am 17.03.2018. Schwarz, Uli: Andenken und Photographie ‒ Zeichen im Alltag, in: Berwing, Köstlin, Reise-Fieber, S. 78-99. Breckner, Roswitha: Sozialtheorie des Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien, Bielefeld 2010. Breckner arbeitet sowohl theoretisch wie empirisch und untersucht Bilder aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, unter anderem Fotoalben mit Familienbildern. Ebenso wie Bourdieu beziehen sich ihre Analysen ausschließlich auf die analoge Fotografie ‒ das ist dem vorliegenden, analog erstellten Bildmaterial von Wanda Frisch angemessen.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
während sie sich später auf Sehenswürdigkeiten oder städtische Szenen konzentrierte. Naheliegend ist es, die Ursachen für diese Veränderungen in ihren Lebensverhältnissen zu suchen, doch spricht auch viel für eine neue Strategie touristischer Wahrnehmung. Diese Beobachtung wird gestützt durch Starl. In einem Exkurs zu den Thesen Bourdieus führen ihn seine Forschungsergebnisse zu der These, dass sich schon seit dem späten 19. Jahrhundert eine Vorliebe für die Themen Urlaub und Reise abzeichne, die für die Hälfte der Fotos bestimmend seien. Ergänzt durch das Motiv »Personen« könne zwar Familienorientiertheit ins Spiel kommen, doch eben nicht zwingend.25 Wie erwähnt, sind Arbeiten zu privaten Urlaubsbildern eher rar. Deshalb spricht einiges dafür, die vorhandenen genauer zu rezipieren ‒ welcher Gewinn kann daraus für das eigene empirische Material gezogen werden, welche kritischen Einwände sind geltend zu machen? Ausgangspunkt soll die Dissertation von Schäfer sein, in der im Rahmen von Analysen zu InternetReiseberichten auch die private touristische Bilderwelt thematisiert wird.26 Theoretisch stützt sie sich wesentlich auf Bourdieus Überlegungen.27 Diese sind bis heute auch deshalb einflussreich, weil mit ihrer Hilfe begründet werden kann, warum eine Untersuchung von Fotos der knipsenden Massen sich um deren Ästhetik zu kümmern braucht. »Die ästhetische Analyse der überwiegenden Mehrzahl der photographischen Produkte kann sich deshalb, ohne Einbuße zu erleiden, auf die Soziologie der Gruppen beschränken, die sie hervorbringen, der Funktionen, die sie ihnen zuschreiben und der Be-
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Vgl. Starl, Knipser, S. 142ff. Vgl. Schäfer, Tourismus und Authentizität. Im angelsächsischen Sprachraum und in Asien erlebt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der »tourist photography« seit dem Aufstieg von social media einen unvergleichlichen Boom. Menschen in aller Welt laden Milliarden von Fotos (und Videos) hoch, darunter auch touristische. Das bringt die Tourismusindustrie in Bedrängnis und fordert all jene heraus, die Tourismusmanager ausbilden. Wo bleiben sie, wenn nicht mehr sie die Bilder vorgeben, sondern die Reisenden selbst und was hat das für Folgen für das Destinationsmanagement? Bourdieu, Pierre; Boltanski, Luc et al. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Frankfurt a M. 1983. Für Schäfer ist es gerade die Nähe zum Tourismus und die Hinwendung zur Praxis des Fotografierens, die Bourdieu nach wie vor aktuell erscheinen lässt. Vgl. Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 224. Allgemeiner zur Anwendung des Ansatzes von Bourdieu in der »visuellen Soziologie« Raab, Jürgen: Visuelle Wissenssoziologie der Fotografie. Sozialwissenschaftliche Analysearbeit zwischen Einzelbild, Bildkontexten und Sozialmilieu, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 7(2012)2, S. 121-142.
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deutungen, die sie ihnen explizit und, ganz besonders, implizit verleihen.«28 Dem schließt sich letztlich auch Schäfer an: »Der touristische Blick ist ein fotografischer Blick und dieser ein identifizierender Blick, kein ästhetischer, was er indessen auch sein könnte.«29 Jüngeren, im Zeitalter der Digitalfotografie sozialisierten Menschen müssen Bourdieus Studien vom Anfang der 1960er Jahre hoffnungslos veraltet erscheinen. Da spielen die Kosten für Filme und Entwicklung der Fotos eine große Rolle, Farbfilme sind erst im Kommen und Bearbeitungsmöglichkeiten begrenzt. Doch beleuchten sie, was bei ihrer Rezeption bisher weniger beachtet wurde, wie in einer Momentaufnahme auch den damaligen französischen Tourismus. Für Bourdieu sind sowohl das Fotografieren wie der Tourismus Praxen, die »keinerlei intellektueller Vorbereitung bedürfen.«30 Diese eigenartige Gleichsetzung hat handfeste historische Gründe: Bourdieu erlebte, wie sich mit dem Aufstieg des Tourismus das Feld der Gelegenheiten erweiterte, bei denen fotografiert werden darf, ja sogar muss. Dies galt vor allem für die Angehörigen der unteren und mittleren gesellschaftlichen Klassen, die damit jedoch nicht die These außer Kraft setzten, Fotos dienten vornehmlich dazu, »die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.«31 Urlaubsfotos passen deshalb in dieses Konzept, weil man erstens mit der Familie verreiste und zweitens, weil seinerzeit mehr als die Hälfte der Fabrikarbeiter und unteren Angestellten und immerhin noch fast 40 % der mittleren Angestellten in Frankreich ihre Ferien bei Verwandten oder Freunden verbrachten.32 Ähnliches formulierte Löfgren anlässlich der Besichtigung eines »old holiday album«, das er als Zwölfjähriger produziert hatte. »It describes a family trip across Sweden and starts with a pasted-in map where the route is carefully drawn. Snapshots, admission tickets, hotel labels, and picture postcards document each step, along with the author’s running commentary. It documents a vacation und shows the project ›our family‹«.33 Bourdieu macht auch geltend, dass es vor allem festliche Anlässe seien, die das Fotografieren legitimieren und nicht etwa Alltagsroutinen oder ge28 29 30 31 32 33
Bourdieu, Boltanski, Eine illegitime Kunst, S. 109. Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 237. Bourdieu, Boltanski, Eine illegitime Kunst, S. 58. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 294. Löfgren, On Holiday, S. 73.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
wöhnliche Ereignisse und Gegenstände. Das treffe auch für den Urlaub zu, in dem man, so seine konventionelle Perspektive, Distanz zum Alltag ausdrücken wolle. Dazu würden die fotografierten Personen »in eine Umgebung gestellt, die man ihres starken Symbolwertes wegen ausgewählt hat (obwohl sie daneben auch einen ästhetischen Wert haben kann) und die als Zeichen aufgefaßt und gebraucht wird.«34 Die Produkte dieser Praxis seien so traditionell und formalisiert, dass sie letztlich nur für die Fotografierenden und Fotografierten interessant sind, im Gegensatz zu den Ergebnissen einer »passioniert betriebenen Praxis, die den Akt in den Vordergrund rückt, einer unbegrenzten Erweiterung fähig, da sie von Grund auf und ständig, als Anstrengung zu technischer und ästhetischer Vollkommenheit, die Überwindung des eigenen Produkts produziert.«35 Die privaten Fotos sollen nur ein Wiedererkennen ermöglichen, das gelte für Familien- und Urlaubsbilder gleichermaßen, denn Familienmitglieder waren eben im Urlaub das häufigste Fotomotiv.36 Die allgemeine Unfähigkeit, die mit der Kamera gegebenen Möglichkeiten einer veränderten Weltsicht auszuprobieren, hängt nach Bourdieu mit den gesellschaftlichen Gebrauchsvorschriften zusammen, die dem neuen Medium von Anfang eingeschrieben waren. Dadurch wurde es zumindest für die Masse jedes innovativen Potenzials entkleidet. Doch das hindert nicht am Fotografieren, im Gegenteil, nur geht es den Fotografierenden nicht um ihre implizite Ästhetik, sondern um die Erfüllung sozialer Normen. »In ihrer traditionellen Gestalt setzt diese Ästhetik rigoros die ästhetische und die soziale Norm in eins, anders gesagt, sie akzeptiert einzig die Normen der Wohlanständigkeit und der Konvention, was die Erfahrung und den Ausdruck der Schönheit keineswegs ausschließt.«37 Allein im Schnappschuss, der dem Fotografierenden »unterläuft«, scheint ein Ausbruch möglich zu sein.38 Während es der Masse der fotografierenden »Saisonkonformisten« nur um die Erzeugung von familialen Erinnerungsbildern geht, ist ihnen doch bewusst, dass andere soziale Gruppen abweichende Vorstellungen haben, nicht zuletzt die Fotokünstler mit ihren ästhetischen Interessen. Dazwischen und mal mehr dem einen oder mehr dem anderen Pol zugeneigt befinden sich die passionierten Amateurfotografen. Den einen reicht es schon, ihren Nonkonformismus durch die Weigerung auszudrücken, Familienfotos zu knipsen. 34 35 36 37 38
Bourdieu, Boltanski, Eine illegitime Kunst, S. 48. Ebd., S. 50. Ebd., S. 43. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 92.
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Andere seien vom »Schatten der großen Künste« berührt und versuchten, Bilder großer Maler gleichsam nachzuahmen.39 Natürlich sind diese Anstrengungen sozial unterschiedlich verteilt. Vor allem die mittleren Angestellten entwickeln zumindest theoretisch eine Haltung, die konträr zu den volkstümlichen Erwartungen an die Fotografie steht: Sie sehen in Fotografien Ergebnisse künstlerischer Arbeit, die weder dem Realismus noch Dokumentationsaufgaben verpflichtet sind. Interessanterweise scheinen es gerade touristische Erfahrungen zu sein, die solche ästhetischen Urteile ermöglichen. Doch letztlich bleibt es dabei: In der fotografischen Praxis sieht Bourdieu wenig davon umgesetzt, denn »solange nicht die Fähigkeit erworben ist, gegenüber jedem Gegenstand die ästhetische Haltung einzunehmen, die den Intentionen angemessen wäre, kommt es zu Widersprüchen zwischen den proklamierten Ansprüchen und dem konkreten Handeln.«40 Eine soziologische Lektüre von Alltagsfotografien im Sinne Bourdieus scheint deshalb das wissenschaftliches Interesse an deren Ästhetik und ihrem kulturhistorischen Werden von vornherein auszuschließen. Ist diese Schlussfolgerung dem nunmehr historischen Bildmaterial und einem spezifischen Entwicklungsstand touristischer Praxis geschuldet und hat sich deshalb nach über einem halben Jahrhundert überlebt? Entfalteten sich vielleicht erst im Laufe dieser Zeit die Bedingungen der Möglichkeit, Urlaubsfotos auch nach ästhetischen Kriterien zu gestalten und zu interpretieren, weil sich die Umstände ihrer Produktion geändert haben ‒ dann sind die Studien Bourdieus und ihre empirische Basis selbst als eine historische Zwischenstufe von Interesse. Doch damit ist noch nichts über den theoretischen Zugang gesagt. Wanda Frisch hat, so die These, von der Erweiterung des Fotografierbaren durch den Tourismus profitiert.41 Leicht könnten hier zur Begründung die Auswirkungen von Individualisierungsprozessen seit den 1970er Jahren angeführt werden. Ein Vorschlag von Breckner ist in diesem Zusammenhang
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Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 74. Im Zeitalter der Digitalfotografie scheint es keine Grenzen des Fotografierbaren mehr zu geben. Die ökonomischen Gründe, dies oder jenes nicht zu fotografieren, seien inzwischen entfallen, so Schäfer. Zur fotografischen Praxis seiner Protagonisten, einem Ehepaar auf Weltreise, heißt es: »Fotografiert wird schlicht ›alles, was der Fall ist‹. Eine Ordnung in diese Fotos zu bringen, wäre ein enzyklopädisches Projekt und gliche dem Versuch, eine ›Ordnung der Dinge‹ herzustellen.« Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 225.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
bedenkenswert. In deren Analysen eines Familienalbums spielen Urlaubsfotos zwar keine Rolle, aber über den Zweck der Fotografien ist sie sich wohl mit Bourdieu einig: »Familienfotografien und insbesondere das Fotoalbum sind also Medien, in denen der familiale Blick wirksam wird, über den sich erst Beziehungen genuin als familiale über Generationen herstellen.«42 Während Bourdieu allerdings nur Uniformität feststellen konnte, unterscheidet Breckner zwischen gaze und look: »In analytischer Perspektive enthüllen Familienfotografien sowohl den normativen Charakter des familial gaze und zeigen zugleich, in welch spezifischer Weise konkrete Beziehungen über den familial look hergestellt werden.«43 Kommt nun der Fotonachlass von Wanda Frisch in den Blick, ergibt sich: Offensichtlich wurde es mit dem Aufstieg des Tourismus in der Nachkriegszeit möglich, nicht nur in den Urlaub zu fahren, sondern auch den look der Urlaubsfotos zu wählen, um jene familialen Beziehungen auszudrücken. Das kann mit ihren ersten Alben aus den 1950er und 1960er Jahren gut belegt werden. Doch hatten sich schon hier die Schwerpunkte verlagert ‒ neben Urlaubsfotos mit Familie enthalten sie einige wenige Fotos von familiären Festen, die jedenfalls nicht gesondert aufbewahrt wurden. Wanda Frisch ging es also nicht mehr darum, die »Biografie« ihrer Familie zu konstruieren und zu dokumentieren, sondern die ihres Selbst ‒ im look von Urlaubsfotos, auf denen dieses Selbst immer seltener zu sehen ist. Wo es nicht mehr um die Konstitution generationsübergreifender Zusammenhänge geht, sondern die Einzelne im Mittelpunkt steht, lassen sich Fotos wie die ihren auch als »Entwicklungsroman« lesen, der freilich durch die sozialen und kulturellen Normen des Tourismus wie der Fotografie (einschließlich ihrer technischen Voraussetzungen) geprägt ist. Wie mit Hilfe einer Fotoserie durch eine Reise, wird mit dem Gesamt der Alben durch das Leben geführt anhand von Bildern, die vieles ausdrücken können: ästhetische Genüsse, menschliche Begegnungen, Erstaunen und Entzücken, Lernprozesse. Andererseits bleibt Wanda Frisch als fotografierende Angestellte identifizierbar. Sie war keine »passionierte« Amateurin, sondern eine »Saisonkonformistin«, die fast ausschließlich im Urlaub fotografiert hat und ganz gewiss keine »Kunst« machen wollte. Allerdings scheint sie den »Saisonkonformisten« Bourdieus kaum vergleichbar. Die Ursache könnte darin liegen, dass die42 43
Breckner, Sozialtheorie des Bildes, S. 262. Vor dem Fotoalbum übernahmen Hausbücher diese Funktion. Ebd., (Herv. i.O.).
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ser die Entwicklung seiner Probanden nicht weiterverfolgt hat. Sie verharren auf dem Stand von 1960. Anders als Breckner interessiert es Bourdieu nicht, ob Fotos (im Gegensatz zu anderen Bildmedien) ein besonderes Verhältnis zu ihrem Referenten haben. Für ihn ist das der Fotografie unterstellte besondere Wirklichkeitsverhältnis Ergebnis einer Täuschung. Es habe sich nur eine inzwischen als natürlich erscheinende Wahrnehmung und Deutung der Welt durchgesetzt, die den Gesetzen der von der Zentralperspektive geprägten Malerei folge und Bilder erzeugt, die der gesellschaftlichen Vorstellung von Objektivität entsprechen.44 Doch hat sich damit, so Breckner, das Problem nicht erledigt. »Diese Frage bleibt auch bestehen, wenn man davon ausgeht, dass Fotografien ebenso wenig Abbilder von Wirklichkeit sein können wie andere materielle Bilder auch, selbst wenn sie als solche gebraucht und die Funktion eines Abbildes zugewiesen wird.«45 Solche Divergenz resultiert aus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Während es Bourdieu vor allem darum ging, die gesellschaftliche Definition der Fotografie herauszustellen und durchzubuchstabieren, interessiert sich Breckner für den »fotografischen Akt« selbst mit seinen drei Phasen der Aufnahme, Entwicklung und Betrachtung. Sie entwickelt ihre Position in Auseinandersetzung mit Dubois’ »Der fotografische Akt«, weil sich dessen Überlegungen sowohl auf die professionelle wie die private Fotografie anwenden ließen. Sie wolle »die Fotografie trotz aller Unterschiede zu anderen Arten von Bildern als ein ‒ wenn auch medial spezifisches ‒ Bild« behandeln.46 Dieser spezifische Charakter ergebe sich daraus, dass sie ein momentaner »Lichtabdruck« ihres Referenten sei. Weder der Lichtabdruck noch der Augenblick, in dem der Referent »abgelichtet« wurden, lasse sich jemals wiederholen.47 Dadurch könne die Fotografie (im Sinne von Barthes) einerseits als Beleg dienen, dass etwas da gewesen sei, verweise aber auch darauf, dass es so (und nicht anders) da gewesen ist. Allerdings bleibe dies alles einigermaßen sinnlos ohne die Einbeziehung der Subjekte, die sowohl fotografieren wie fotografiert werden, möglicherweise sogar Abzüge anfertigen, aber ganz sicher als Betrachter und Rezipienten auftreten.48 »Die physikalische Inde44 45 46 47 48
Vgl. Bourdieu, Boltanski, Eine illegitime Kunst, S. 89. Breckner, Sozialtheorie des Bildes, S. 262. Ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 246. Auch Fälschungen hätten an diesem Status nichts prinzipiell geändert. Natürlich gelte das zunächst einmal nur für die analoge Fotografie. Ebd., S. 247.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
xikalität entsteht lediglich in einem Bruchteil einer Sekunde. Vor und nach diesem Augenblick ist die Fotografie in höchstem Maße in die sozialen Codes der Aufnahme, Entwicklung und Betrachtung eingebunden.«49 Mit anderen Worten, wie fotografiert wird, wie das Bild im Entwicklungsprozess gestaltet wird (Papierfarbe, Körnung, Schärfe, Ausschnitt etc.) und vor allem, wie es gelesen wird und wozu es dient, unterliegt sozial und kulturell definierten Präferenzen, die sich freilich am technisch Möglichen zu orientieren haben. Es macht sich bemerkbar, dass der Fokus auf den fotografischen Akt ausspart, was für Bourdieu wichtig war ‒ die gesellschaftliche Einordnung des Mediums selbst und damit die Grenzen seiner Anwendbarkeit. Entscheidend sind für ihn nicht die kulturellen Modelle, die bei der Aufnahme, Verarbeitung und Rezeption eine Rolle spielen, sondern die kulturellen Modelle, die letztlich bestimmen, was überhaupt als fotografierwürdig erscheint. Hier zeigt sich auch, dass Urlaubsalben Zeug haben, die Grenzen des Familiären zu überschreiten, selbst wenn sie Familienmitglieder abbilden. Immer erscheint auf ihnen noch etwas die Familie und die gewohnten Anblicke Transzendierendes, auch wenn es als Symbol gleichsam ruhiggestellt wird. Dies vorausgesetzt, ist Breckners Ansatz geeignet, über den Augenschein hinaus genauer zu betrachten, was die scheinbare Symbiose von Fotos und Urlaubsreise ermöglicht und ausmacht. Im Foto materialisieren sich Situationen, die es so in der Realität wie für den Fotografierenden (z.B. die Urlauberin) niemals wieder geben wird. Einmalig in Raum und Zeit sind sowohl die abgelichteten Objekte wie die in diesem Augenblick und an diesem konkreten Ort fotografierenden Subjekte. Das mag nicht jedem immer bewusst sein, doch ist es für jeden bemerkbar. Berge verbergen sich plötzlich hinter Wolken, die Sonne ist irgendwann einmal untergegangen, immer andere Menschen umgeben die Besucher auf dem Markusplatz in Venedig. Vor allem, wenn ein Ort zum wiederholten Mal besucht wurde, drängt sich das Bewusstsein der Zeitlichkeit auf ‒ nicht nur man selbst, auch der Strand hat sich verändert. Während früher mit Freunden Ball gespielt wurde, schaut man nun anderen zu. Damit haben die Fotografierenden gute Gründe, dieses Jetzt festhalten zu wollen und von seinem quasi dokumentarischen Charakter überzeugt zu sein. Doch nicht nur das. Einer aufmerksamen Beobachterin aus jener Zeit, als Fotografien von Sehenswürdigkeiten schon im kollektiven Gedächtnis präsent waren, aber das
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Fotografieren auf Reisen noch keine alltägliche Praxis darstellte, gelang es, eine weitere Dimension aufzuspüren. Ein kleiner, »Pharaonenbett« genannter Tempel in Philae war ihr längst als gemaltes wie fotografiertes Bild präsent, bevor sie ihn zu Gesicht bekam. »Er ist größer, aber kein bisschen weniger schön, als wir erwartet hatten. Und er ist genau wie auf der Fotografie. Und doch ist man überzeugt, die Spur eines Unterschieds wahrzunehmen, der zu fein für eine Darlegung ist, so wie der Unterschied zwischen einem vertrauten Gesicht und seinem Ebenbild im Spiegel. Jedenfalls fühlt man, dass das wirkliche Pharaonenbett künftig die Fotografien in jenem verborgenen Schubfach ersetzen wird, wo man bisher das wohl bekannte Bild aufzubewahren pflegte, und das sogar die Fotografien so etwas wie eine Verwandlung erlebt haben.«50 Zweitens gilt: Die jeweils involvierten Subjekte »sind […] in den fotografischen Akt eingeschrieben.«51 Das betrifft alle drei Phasen, wobei hier vor allem die Aufnahme und die Betrachtung interessieren. Auch den »Knipsern« wird niemand unterstellen, dass sie völlig ohne Bewusstsein fotografieren. Mögen sie es auch neben vielen Touristen und nach dem Rat von mündlichen oder schriftlichen Reiseführern tun ‒ das konkrete Handeln ist in einen »Horizont« (im Sinn von Husserl und Schütz) eingebettet. Seine Aspekte ‒ Wahrnehmungen und Empfindungen, die eine breite Palette von Auslösern haben ‒ sind im Foto mit enthalten. Sie mögen den Fotografierenden präsent sein oder nicht, auf jeden Fall sind sie die Grundlage für je unterschiedliche Perspektiven, die in der Rezeption aktiviert werden können. Der das Bild umgebende »Horizont« seiner Entstehungssituation kann bewirken, dass Beiläufiges oder sogar Abwesendes wichtiger wird als das Abgebildete. Ein Urlaubsbild kann somit auf vieles hindeuten ‒ ein menschenleeres Foto des Mailänder Doms etwa auf die Zeit, die man warten musste, bis für einen Augenblick tatsächlich alle Touristen aus dem Blickfeld verschwunden waren. Es kann auf Gerüche oder Geräusche verweisen, auf Glockengeläut und den Duft eines Cafés. Doch der Verweisungscharakter reicht noch weiter, wie Schäfer auch noch für die Ära der Digitalfotografie herausgefunden hat. Die Schöpfer solcher Fotos sehen sich genötigt, auf ihre eigene Rolle als Touristen zu reflektieren. Die langjährige Erfahrung mit ihren Fotos kann Touristen lehren, dass sie mit ihnen Merkzeichen erzeugen, die weit über das Fotografierte hinausreichen. Fotos werden zu Markern für die vielfältigsten Nutzungsmöglichkeiten: des nacherlebenden Genusses, der Interpretation, der Kommunikation 50 51
Edwards, Tausend Meilen auf dem Nil, S. 193f. Breckner, Sozialtheorie des Bildes, S. 248 (Herv. i.O.).
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
mit anderen oder auch eines nachträglichen Lernprozesses, der sich natürlich auch auf die Ästhetik der Bilder beziehen kann. So jedenfalls können die in Interviews erhobenen Bemerkungen von Probanden zu ihren Fotoalben interpretiert werden. Aus ihrem eigenartigen Raum-Zeit-Verhältnis zur realen Welt ergibt sich: Fotos sind zwangsläufig »komponiert« und deshalb »rekonstruktions- und interpretationsbedürftig«.52 Doch scheinen die Ursachen für Brecker allein in der »Natur« der Sache zu liegen. Das »soziale Moment« ergibt sich hier aus dem grundsätzlichen Involviert-Sein, aber nicht einem speziellen So-Sein der beteiligten Subjekte. Das Medium Fotografie wird nicht historisiert ‒ Folge einer zeichentheoretischen Herangehensweise. Doch Fotografien sind, das zeigt der Rekurs auf Bourdieu, in eine Welt sozialer und kultureller Zusammenhänge und Bezüge eingebunden, die zwar nicht prinzipiell, aber im konkreten Fall über Sein oder Nichtsein entscheiden. Gleichzeitig stehen sie in einem historischen gewachsenen Verhältnis zu anderen Medien, mögen es Bildmedien oder literarische sein. Die Perspektive des »Bildaktes« ist hilfreich, um hier Gemeinsamkeiten, Differenzen und Möglichkeiten klarer zu bestimmen.
6.2.
Symbolische Kreativität: ästhetische Strategien im Fotoalbum
Neben der Pionierarbeit von Birgit Mandel53 kommt Cord Pagenstecher das Privileg zu, zumindest im deutschsprachigen Raum Urlaubsfotos und Fotoalben systematisch als eine Möglichkeit eingeführt zu haben, »den touristischen Blick der Reisenden zu untersuchen.«54 Damit reagierte er auf eine
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Ebd., S. 253. Mandel, Birgit: Wunschbilder werden wahrgemacht: Aneignung von Urlaubswelt durch Fotosouvenirs am Beispiel deutscher Italientouristen der 50er und 60er Jahre, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1996. Pagenstecher, Cord: Antreten zum Lotterleben. Private Fotoalben als Quelle einer Visual History des bundesdeutschen Tourismus, in: Gilomen, Schumacher, Tissot, Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, S. 204. Wenn die folgende Untersuchung sich eher an Pagenstecher orientiert, so liegt das erstens an dessen biografischer Perspektive, zweitens an seiner ausgefeilten methodologischen Diskussion und nicht zuletzt daran, dass er sich, wie auch die vorliegende Studie, mit einem einzelnen Nachlass beschäftigt hat.
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Argumentationsfigur, die gern gewählt wird, wenn es um die »Sehfähigkeit« von Massentouristen geht. Diese reproduzierten nur, so die Unterstellung, was ihnen seitens der Tourismusindustrie angedient werde. Längst vorgefertigte Standards leiteten die Urlauber bei der Auswahl der Reiseziele wie deren Wahrnehmung.55 Es klaffe jedoch eine Forschungslücke: »Wie weit die Normierung des Blicks durch Werbung oder Reiseführer aber tatsächlich reicht, wie standardisiert der touristische Blick der individuellen Reisenden ist, ist weitgehend unerforscht.«56 Um hier Einblicke zu gewinnen, bedürfe es eines größeren theoretischen und methodologischen Aufwandes. Allerdings ist die Vorstellung vom rein »passiven« und »konsumierenden« Touristen so tief verankert, dass sie auch in neueren Arbeiten trotz unübersehbarer Anstrengungen nur reproduziert wird.57 Mandel hatte jene Stimmen zusammengetragen, die »die Urlaubsfotografie als kulturell wertlose, mehr noch sogar schädliche Aktionsweise des Massentouristen vehement« kritisieren.58 Sie hält dagegen, dass die Fotografien natürlich die »vorgefundenen Urlaubswelten« widerspiegelten, aber am Ende »einzig die Bedeutung des Knipsens und der fotografischen Souvenirs für seine (des Touristen G.I.) ganz persönliche Aneignung des Urlaubs« zähle.59 Das ist allerdings nicht unbedingt ein Argument gegen die von der Tourismuskritik unterstellte gesellschaftliche Irrelevanz und kulturelle Wertlosigkeit der Urlaubsfotos.
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Vgl. dazu: Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 256ff. Pagenstecher, Antreten zum Lotterleben, S. 204. Das liegt weitgehend am unkritischen Umgang mit Theorien, Methoden und dem eigenen Blick auf die Dinge. Kritisch ist dagegen die Wahrnehmung der Touristen. Geradezu verführerisch scheint es zu sein, fotografierende Afrika-Reisende als auf Foto-Safari befindlich zu imaginieren, das »Schießen« eingeschlossen. Vgl. SchurianBremecker, Christiane: »Anpirschen, beobachten, abwarten, schießen«. Fotografieren als touristische Verhaltensweise, in: Köck, Reisebilder, S. 199-208 und Müller, FotoSafari, S. 181. Die vom Geografen und Reiseleiter Aschenbrand teilnehmend beobachteten Touristen bestätigen nur, was von ihnen erwartet und bereits im ersten Satz bekräftigt wird: »Der vorliegende Artikel zeigt, wie Landschaft von Reiseveranstaltern inszeniert und von Touristen konsumiert wird.« Aschenbrand, Erik: ›Eine Landschaft wie ein Gemälde?‹ ‒ Die Inszenierung von Landschaft im Wander- und Fahrradtourismus, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 10(2018)1, S. 122. Mandel, Birgit: Urlaubsfotografie ‒ ein sinnentleertes Ritual zur Bestätigung touristischer Scheinwelten? Thesen zur Aneignung von Urlaubswelt durch Fotografie, in: Tourismus Journal 1(1997)3/4, S. 421. Ebd., S. 423.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Die Fotos und Fotoalben von Wanda Frisch ‒ es wird gleich deutlich werden, warum zwischen beiden ein Unterschied gemacht wird ‒ sollen aus drei Perspektiven betrachtet werden: Zunächst geht um eine vergleichende Würdigung des gesamten Konvoluts als Quelle. Erst in den folgenden Abschnitten des Kapitels wird auf je unterschiedliche Weise anhand von Fotoserien nach dem Erbe der Reisekultur geforscht. Für die Betrachtung der Fotoalben soll genutzt werden, was Pagenstecher für »sein« Bäckerehepaar ermittelt hat.60 Auch hier gilt: Vergleiche schärfen den Blick für Gemeinsamkeiten wie Unterschiede und drängen sich angesichts der nicht eben üppigen Forschungslage geradezu auf. Zunächst einige Fakten. Zwischen den Protagonisten gibt es Unterschiede in der Generationslage (hier 1923-2017, dort etwa 1910-1990),61 hinsichtlich der Familienverhältnisse (ledig versus verheiratet), im sozialen Status (Angestellte versus selbständiges Handwerk, sicherlich in Korrespondenz mit einem unterschiedlichen Niveau der Schulbildung). Erst mit Anfang Dreißig begannen die Schmidts ihre Reisekarriere ‒ sie wanderten. Ende der 1950er Jahre fing das zweite Reiseleben an. »Der generelle, von Automobilisierung und Auslandsreise gekennzeichnete, touristische Take-off um 1960 findet sich in dieser individuellen Reisebiografie exakt wieder.«62 Das kann für Wanda Frisch nicht gelten, ebenso ändern sich
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Mandel führte leitfadengestützte Interviews mit 42 Italienreisenden der 1950er und 1960er Jahre durch und wertete 48 Fotoalben und neun Diaserien aus. Ihre Datenbasis ist deshalb für einen konkreten Vergleich weniger geeignet, zumal sie bewusst darauf verzichtet hat, ihre Probanden sozial einzuordnen. »Sie kommen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus, was sich in Berlin bereits am Wohnbezirk recht deutlich ablesen läßt. Entsprechend meiner These gab es jedoch weder im Erleben der Reise noch in den Fotografien ›schichtenspezifische‹ Unterschiede.« Mandel, Wunschbilder werden wahrgemacht, S. 165. Zur Erklärung dieser Differenz siehe Kap. 2. Pagenstecher, Antreten zum Lotterleben, S. 208. Das Konvolut der Schmidts umfasst 45 Alben, das erste wurde 1942 zusammengestellt. Der Kernbestand stammt jedoch aus der Zeit zwischen 1957 und 1982. Vgl. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 422f. In ihrer »wilden Phase« bereisten sie Jugoslawien, Italien und Spanien, um dann jeweils mehrere Jahre hintereinander im selben Land Urlaub zu machen. Schließlich absolvierten sie, neben Kuren, alljährlich einen Badeurlaub an der Adria, zu dem ab 1976 eine regelmäßige Sommerfrische in Südtirol hinzukam. Ihr bevorzugtes Verkehrsmittel war seit 1957 das eigene Auto. Sie waren Individualreisende, was sie gern betonten.
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die Reisepraxen mit dem Älterwerden in anderer Weise ‒ wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt wurde. Im Grunde widerspiegeln sich hier zwei unterschiedliche Reisestile, wobei Wanda Frisch eher eine Pionierrolle im touristischen Verhalten zukommt, Schmidts dagegen Durchschnittliches repräsentieren. Sie erinnern mit ihren Unsicherheiten und Skrupeln an die konservative Kleinbürgerfraktion bei Bourdieu. Fotoalben sind Quellen, die sehr unterschiedlich gestaltet werden: Einerseits können sie enthalten, was der Name verspricht, nämlich selbst geknipste Fotos und mehr oder weniger opulente Bildunterschriften. Hier kann Wanda Frisch eingeordnet werden. Die Schmidts sind allerdings anders verfahren. Ihre Alben sind aufwändig gestaltete Collagen, ästhetisch bearbeitete Materialsammlungen zur Urlaubsreise.63 »Fotos und andere Medien wurden in Serien oder kontrastierenden Paaren immer wieder so auf den Albenseiten angeordnet, dass kleine Geschichten und Spannungsbögen entstanden.«64 Neben diesen »Erzählungen« stehen getippte Chroniken jeder Reise. Ähnliches wie Pagenstecher kann Mandel anhand der von ihr untersuchten Sammlungen berichten: »Neben den Ansichtskarten finden sich in vielen Alben noch andere Souvenirs wie gepreßte Blumen, Ausschnitte aus Italienprospekten und Landkarten, Eintrittskarten, Fahrscheine, Visitenkarten von Pensionen, Zettel mit Adressen von Urlaubsbekanntschaften, italienische Geldscheine, Umrechnungstabellen, Briefmarken etc.« Diese seien mit den Fotos aufwendig zu einer Collage verarbeitet worden ‒ eine den typischen Zeitgeschmack der 1950er Jahre repräsentierende Gestaltungsweise, vermutet die Autorin.65 Einige Reisende hätten auch Tagebuch geführt, in denen man Informationen zu Sehenswürdigkeiten und persönlichen Eindrücken festgehalten habe ‒ Grundlage für die Beschriftungen im zu Hause angelegten Fotoalbum.66 Allerdings dienten auch diese nicht nur informativen Zwecken, sondern wurden als Gestaltungsmittel eingesetzt. Schönherr hat zudem für die von ihm ausgewerteten Fotoalben von Mallorca-Urlaubern aus den Jahren
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Während die Alben von Wanda Frisch, von wenigen, Familienfeste betreffenden Ausnahmen abgesehen, allein Urlaubsfotos enthalten und nicht bekannt ist, ob es noch andere Fotoalben gab, sind beim Ehepaar Schmidt alle angelegten Alben überliefert. Auch hier dominieren Bilder von Urlaub und Wochenendausflügen. Pagenstecher, Antreten zum Lotterleben, S. 207. Ebd. Mandel, Wunschbilder werden wahrgemacht, S. 190. Ebd., S. 172.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
1953-1963 herausgefunden, dass Postkarten als Platzhalter für nicht absolvierte Ausflüge fungieren können und letztlich nicht einmal selbst eingeklebte Fotos ein Beleg dafür sind, dass der Besitzer die abgebildete Sehenswürdigkeit auch in Augenschein genommen hat.67 Das Konzept der »symbolischen Kreativität« ist in besonderer Weise geeignet, das einfallsreiche und gewitzte Spiel mit warenförmigen und nicht kommerziellen Zutaten, mit künstlerischen Vorgaben und handwerklichem Geschick auszudrücken. »Wir beharren demgegenüber darauf, daß das Schöpferische nicht außerhalb des alltäglichen Lebens steht und daß es nichts ist, was eine entkörperlichte Kunst ihm hinzufügt.«68 Vor allem das Fotoalbum als Ganzes scheint also in der Lage zu sein, dem Reproduktionsvorwurf zu widersprechen. Die eigensinnige Collage zerstöre im wörtlichen Sinn vorgegebene Bilder, ähnlich den Künstlern der Moderne, die in den 1920er Jahren mit Fotografien arbeiteten. »Jedes Album stellt eine Abweichung vom ›Klischee‹ dar und zeugt von der geglückten individuellen Aneignung im Urlaub.«69 Ästhetische Qualitäten werden deshalb eher dem »Gesamtkunstwerk« Album als den dort verwahrten Urlaubsfotos zugesprochen. Diese haben es, wie erwähnt, ohnehin schwer, Gnade vor den Augen des heutigen Betrachters zu finden: meist schwarz-weiß mit seltsam gezähnten Rändern, viel zu klein, falsch belichtet oder verwackelt wie sie zuweilen sind, ist die Begeisterung, mit der Mandels Probanden sie kommentieren, nicht unbedingt nachvollziehbar. Die These, sie für ästhetisch wertlos zu halten, ist vor allem dann überzeugend, wenn unter der Hand »ästhetisch« mit »künstlerischem Anspruch« identifiziert wird. Die »Schöpfer« der Aufnahmen liefern entsprechende Argumente. Sie können sich oft nicht erinnern, wer die Fotos gemacht hat (ungeklärte Autorschaft), kleben ungeniert eigene neben eingetauschte Aufnahmen. Kommentare zur Qualität, das heißt Reflexionen auf den Akt des Fotografierens sind ebenso selten wie Erinnerungen an die Bedingungen, unter denen das Foto entstand. Das Fotografieren geschehe gleichsam »nebenbei«, weil man es eben im Urlaub so macht. Trotzdem habe man sich auch um
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Schönherr, Ekkehard: Modernes Mallorca. Von der »Insel mit Industrie« zum »Touristenparadies«, Berlin 2019, S. 497. Willis, Paul: Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur, Hamburg 1991, S. 21. Mandel, Wunschbilder werden wahrgemacht, S. 218.
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»schöne« Fotos, das heißt komponierte Aufnahmen von fotogenen Objekten bemüht.70 Das »zeitlos schöne Symbolbild der professionellen Tourismusfotografie« blieb seinerzeit allerdings schon aus technischen Gründen unerreichbar.71 Dennoch sei oft fotografiert worden, was dort schon abgebildet war. Der »schöpferische« Beitrag der fotografierenden Urlauber materialisiert sich deshalb in der teilweise ironischen und respektlosen Zerstörung der durchgestylten Ansichten durch Persönliches, nicht dazu Gehörendes ‒ indem man sich etwa selbst oder das Auto ins Bild bringt. Schließlich müssen die Urlauber ihre Fotos nicht marktförmig gestalten und können sich deshalb eine Art eigensinnige Self-made-Ästhetik leisten, meint der Knipserfoto-Experte Starl.72 Auch Pagenstecher argumentiert mit der ästhetischen Minderwertigkeit der Urlaubsfotos. »KnipserInnen haben weniger Zeit und Technik zur Verfügung und machen daher viele ›schlechte‹ Bilder. Der geringere ästhetische Anspruch und die niedrigere Kompositionsdichte erschwerten semiotische oder ikonologische Einzelanalysen von Knipserfotos. Ihre massenhafte Verbreitung legt stattdessen quantitative Methoden nahe, um die Verbreitung bestimmter Themen- und Motivtraditionen zu erforschen.«73 Fotografien mit »künstlerischem« Anspruch, auch die in den Dienst des Tourismus gestellten, scheinen demnach mit Knipserfotos kaum vergleichbar zu sein, weil sie anderen Gestaltungsprinzipien folgen. Im wie auch immer motivierten Versuch, beide voneinander abzugrenzen und sie nach jeweils anderen Kriterien zu betrachten, verschwindet aber die Möglichkeit zu untersuchen, inwieweit Fotokünstler und Amateure ähnliche Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen
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Ebd., S. 212. Allerdings scheint es doch zuweilen ein Räsonnement darüber gegeben zu haben, warum man fotografieren müsse, was alle fotografieren. Vgl. ebd., S. 114f., S. 188, S. 196ff. Ebd., S. 207. Viele frühe Ansichtskarten waren weder technisch perfekt noch »zeitlos schön«. Sie verraten oft eine große Hilflosigkeit in Motivwahl und Komposition, sind teilweise unscharf und besonders im Übergang zur Farbfotografie von mäßiger Qualität. Man darf nicht vergessen, dass ja nicht nur der Dom zu Mailand oder der Triumphbogen in Paris als Motive verarbeitet wurden, sondern die Ansichten vieler noch unbekannter Reiseziele, die es erst in Szene zu setzen galt. Pagenstecher zitiert hier zustimmend seinen wichtigsten Gewährsmann: Starl, Timm: Eine kleine Geschichte der Knipserfotografie, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Knipsen. Fotografie in Deutschland von 1900 bis heute, Stuttgart 1993, S. 8. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 256.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
ausgebildet haben. Die Argumentationsfiguren sind hier etwas undurchsichtig. Einerseits sollen professionelle Fotografen jene nur noch symbolischen Bilder schaffen, die von den Touristen kopiert werden, andererseits schwingt ein am Genie-Kult orientierter Kunstbegriff mit, der schöpferische Einmaligkeit betont. Ungeachtet dieser Unschärfe soll später der Versuch gewagt werden, nach den ästhetischen Qualitäten von Urlaubsfotos zu fragen. Dann müssten Ähnlichkeiten in touristischen Aufnahmen, seien sie auf Ansichtskarten, auf Prospekten oder in privaten Fotoalben zu finden, nicht mehr mit dem Duktus »Vorbild versus Abklatsch« diskutiert werden. Die Touristen dürften sich ästhetisch verhalten, weil ihre sinnlichen Bedürfnisse und Vermögen entsprechend ausgebildet sind. Im Vergleich zum Ehepaar Schmidt sind Wanda Frischs Fotoalben mehrheitlich geradezu puristisch. Sie enthalten fast ausschließlich eigene und nur wenige eingetauschte Fotos mit rein informativen Bildunterschriften. Witzige Anmerkungen, Zeichnungen, eingeklebte Prospekte oder Landesfahnen und gekaufte Fotografien finden sich kaum. Es wird nicht kommentiert, reflektiert oder ironisiert. Vergleicht man die beiden Konvolute, so hat das Ehepaar Schmidt tatsächlich »Erzählungen« geliefert, Wanda Frisch dagegen allenfalls Vorstufen. Dafür repräsentieren ihre Fotoalben aber nur einen Teil der Reiseerinnerungen. Was die Schmidts oder auch die Probanden von Mandel in den Alben eingelagert haben, hat sie in gesonderten Ordnern aufbewahrt. Ihre Reisen sind deshalb viel umfangreicher dokumentiert. Eine Ausnahme bildet das Album 4, das Fotos aus den Jahren 1954-1956 enthält. Es steht für den Beginn ihrer selbständigen Reisekarriere, hier noch als Urlauberin im Kreise von Familie und Freunden. Das Album enthält Aufnahmen von vier längeren Reisen ‒ drei davon zu Wintersportzielen. Wie kein anderes dokumentiert es weitere Ereignisse im Jahreslauf ‒ eine Kurzreise nach Holland, zwei Betriebsausflüge, Feiern im Tennisklub, Geburtstage und andere Familienfeste oder Besuche bei Freunden. Das »gesellige« Moment ist also reichlich vertreten, doch ist es deutlich abgesetzt vom dokumentierenden und informierenden, das im folgenden Kapitel gewürdigt werden soll. Dazu wählte Wanda Frisch ein einfaches Verfahren ‒ entweder folgt eine Sequenz, die mehr oder weniger launig Urlaubssituationen mit ihren Begleitern abbildet und kommentiert, einem Entrée mit »informativen« Fotos, auf denen kaum Menschen zu sehen sind oder beide werden gemischt. Auf jeden Fall sind es die Bildunterschriften, die den Unterschied, den Wechsel der Attitüde verdeutlichen: einmal nüchtern und exakt, einmal ironisch-humoristisch.
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Hier haben auch Wortspiele und Zitate ihren Platz.74 Das sei an einem Beispiel genauer erläutert. Von einem winterlichen Aufenthalt auf der LofererAlpe vom 30.1.-20.2.1955 existieren einundsechzig Fotos (davon sieben farbige). Die Reisegruppe dürfte sechs Personen umfasst haben (vier Frauen, zwei Männer). Die »gesellige« Sequenz enthält 27 Fotos. Auf ihnen begegnen Wanda Frisch und ihre Begleiterinnen beim Ausflug in »Schnee und Sturmgebraus«, beim »Morgenspaziergang«, auf einem Gipfelfoto in 2000 m Höhe, als »vier Grazien«, die »bei Sonne … und Sturm« unterwegs sind. Drei Fotos laufen unter dem Titel »Schnappschüsse«. Eines davon trägt die bezeichnende Unterschrift »beim ›Schießen‹ geschossen«. (Abb. 18) Der martialische Ton ist nicht unpassend, könnte die dargestellte fotografierende Person doch auch als Gebirgsjäger in kriegerischer Mission durchgehen. Auf den Akt bzw. die Art des Fotografierens nimmt auch eine weitere Seite des Albums Bezug: »Bitte recht freundlich!«. Vier Fotos vom »Budenzauber !!!« beenden diesen Abschnitt, denn in der Pension Haus Gertrud in der Sonne fanden Hausbälle statt und ein Mitreisender feierte seinen Geburtstag. Meist ist auch Wanda Frisch selbst auf diesen Fotos zu sehen, oft sogar allein, wie sie im Stil der Zeit und mit einem strahlenden Lächeln posiert. Mit anderen Worten: Es sind in dieser »geselligen« Sequenz in erster Linie Mitreisende (meist die Männer), die mit ihren Fähigkeiten und ihrem Geschmack die fotografischen Eindrücke bestimmten. Oft dürfte aber auch Wanda Frisch Regie geführt haben wie etwa bei einer kleinen Serie »Bilder ohne Worte!!«, die eine nicht unübliche Verquickung beider Momente darstellt: Als gutgelaunte »Lehrerin« präsentiert sie Informationen über die Gegend.75 (Abb. 19) Dieser »gesellige« Teil wird eingerahmt von 24 Aufnahmen, die sich auf die Unterkunft und die Landschaft beziehen und keine einzige Person zeigen sowie zehn abschließenden Fotos, die Lofer und Salzburg porträtieren ‒ ebenfalls menschenleer. Am Anfang steht wieder eine großformatige Aufnahme, die alles vereint, was in diesem Urlaub bedeutsam war: die Terrasse der Pension ‒ ein Treffpunkt, der sowohl Erholung wie Geselligkeit ermöglichte, die Aussicht auf die schneebedeckten Berge und die in einem Schneehaufen
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»Wir ›baden‹ Sonne bei 0-8-15 Grad Kälte«, »Ganz ohne Geschnatter im Gänsemarsch«, »Steigen? Oh je, oh je! Aber: ›Vor den Erfolg setzten die Götter den Schweiß« ‒ Bildunterschriften vom Winterurlaub auf der Turracherhöhe in Kärnten vom 4.-25. Februar 1956. Eingangssequenz vom Winterurlaub auf der Turracherhöhe in Kärnten vom 4.-25. Februar 1956.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Abb. 18: Beim »Schießen« geschossen 1955; Abb. 19: »Bilder ohne Worte« 1955
steckenden Skier, »die besten Urlaubskameraden«, wie es auf einem diese Sequenz abschließenden ebenfalls großformatigen Foto heißt. Es folgen vier Aufnahmen von der Unterkunft, dem Haus Gertrud in der Sonne, wie es sich gegen die »Loferer Steinberge« oder das »Reitergebirge« ausnimmt oder sich »hinter Tannen versteckt«. Diese Lagebeschreibung wird auf den folgenden Fotos fortgesetzt, auch durch eine Sequenz, die Ausblicke vom Balkon, durch die Tür oder das Fenster zeigt. Der nächste Abschnitt führt in die das Haus umgebenden Berge selbst (neun Fotos), wie sie auf Skiwanderungen erschlossen wurden. Die Bildunterschriften nennen nicht nur ihre Namen, sondern bezeichnen manchmal auch den Standort, von dem aus fotografiert wurde. Den Abschluss bilden vier Aufnahmen von Lofer mit seinen markantesten Gebäuden. Danach folgen sechs Fotos von Salzburg, die übrigens in nichts an die bekannten touristischen Bilder der Stadt erinnern und einen recht unsystematischen Eindruck vermitteln. Dennoch legte Wanda Frisch wieder größten Wert darauf, nicht nur die fotografierten Objekte zu benennen, sondern auch den eingenommenen Blickwinkel: »Durchblick auf die Michaeliskirche«. Doch zurück zum Vergleich mit Mandels und Pagenstechers Protagonisten. Während Mandel sich auf Veränderungen in den Gestaltungsweisen der Alben und damit auch in den Reisepraxen zwischen den 1950er und 1960er
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Jahren fokussiert hat, fragt Pagenstecher, »wie sich die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen des touristischen Blicks in der einzelnen Reisebiografie widerspiegeln.«76 Das wurde für Wanda Frisch in den vorangegangenen Kapiteln bereits dargelegt. Hier soll es nur um Veränderungen gehen, die sich auf die Gestaltung der Fotoalben ausgewirkt haben. Quantitativ ist bis zum letzten Album kaum festzustellen, dass sie des Fotografierens müde geworden wäre, was doch nach einem langen Reiseleben nur zu verständlich wäre. Das hat sicher mit den immer neuen Destinationen zu tun, die es festzuhalten galt. Fototechnisch hat sich einiges getan. Lange noch finden sich Fotos in Schwarz-Weiß, allerdings gemischt mit Farbfotos (wobei es scheint, dass diese zunächst von mitreisenden Freunden stammten). Im Album der Jahre 1964 bis 1967 halten sich beide die Waage. Es überwiegt das Bildformat 7 mal 10 cm. Von einer dichten Klebung wie bei den Schmidts kann keine Rede sein, drei bis maximal fünf Fotos pro Seite wurden symmetrisch angeordnet. Wie erwähnt, sind die Beschriftungen knappgehalten: Reiseziel, Dauer der Reise und wenige Stichworte zu den Aufnahmen. An diesem Prinzip wurde festgehalten. Allerdings hat Wanda Frisch angesichts des technischen Fortschritts und sinkender Preise mehr in die Bildqualität investiert ‒ die Fotos im letzten Album haben durchschnittlich das Format 9 mal 12,5 cm. Das mag ein Indiz für den Wert sein, den sie ihnen beimaß. Im Zuge wachsender Routine in ihrem Reiseleben ist sie auch als Fotografin mutiger und versierter geworden ‒ wiederum ein Ausdruck von Lernprozessen im Tourismus, die sich vor allem aus biografischer Perspektive erschließen lassen. Es fällt auf, dass anfangs die benutzten Verkehrsmittel (Auto oder Flugzeug) und die gebuchten Hotels oder Pensionen nicht nur einen Schnappschuss wert waren, sondern prominent hervorgehoben wurden. Diese Motivwahl teilte Wanda Frisch mit anderen zeitgenössischen Touristen. Sie dokumentierte den Aufbruch wie auch das Besondere des Urlaubs, wo man ein anderes Zuhause wählt, mag es ein Zelt oder ein Luxusquartier sein. Doch das verlor sich in dem Maße, wie die Urlaubsreise zur Gewohnheit wurde. Die größten inhaltlichen Veränderungen haben mit den Lebensumständen und der gewachsenen Reiseerfahrung zu tun. Es gibt immer weniger Fotos, auf denen Mitreisende oder Wanda Frisch selbst posieren. So ist Wanda Frisch im Gegensatz zu den Schmidts kein gutes Beispiel, um den von Pagenstecher im Anschluss an Urry postulierten Wandel vom »romantischen« zum 76
Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 421.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
»geselligen« Blick zu belegen ‒ vielleicht ein Indiz für die Problematik dieses Ansatzes.77
6.3.
Erben der Aufklärung
Welchen Sinn es hat, im Urlaub zu fotografieren und welche kritischen Einwände dagegen erhoben werden können, darüber ist unter Tourismusforschern viel diskutiert worden.78 Antworten sind dennoch schwierig, denn die Reisenden können in solchen Untersuchungen ihre Perspektive selten ungestört entwickeln. Auch Wanda Frisch kann nicht mehr gehört werden. So müssen ihre Bilder zum Sprechen gebracht werden und zwar nicht durch Fragen nach dem Warum, sondern nach dem Wie, nach den eingesetzten Strategien und den Methoden ihrer Umsetzung. Auffallend an Wanda Frischs Fotonachlass wie im Übrigen auch an den von Mandel und Pagenstecher untersuchten ist, dass die geschichtsbewusste Betrachterin sich gleichsam vom Hauch der Geschichte und ihren Verarbeitungsformen in der modernen Reisekultur berührt fühlt. Der Schwerpunkt liegt in diesem Abschnitt auf den Spuren der Aufklärung, die allerdings im gesamten Konvolut zu finden sind. Deshalb ergibt sich ein Gesamtbild erst, wenn Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel mit einbezogen werden. Dieses Erbe erscheint heute allgemein einerseits homöopathisch verdünnt, während es andererseits nahezu unverändert kolportiert wird. Selbst an apodemischen Anweisungen im aufklärerischen Stil mangelt es nicht. So erschien kürzlich ein Buch, das sich an kleine Reisende wendet. Die Autorin rät den Kindern, ihre Erlebnisse in das spiralgebundene Werk einzutragen, Tagebuch zu führen, Zeichnungen und Pläne anzufertigen, Fotos, Tickets und Etiketten einzukleben, Blumen zu sammeln und zu pressen, das Wetter zu dokumentieren, Rezepte aufzuschreiben. Die kindlichen Leser bekommen 77
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Der Schwerpunkt liegt, geht man von Pagenstechers quantitativer Analyse der durch Starl dokumentierten Fotoalben aus, bei ihr auf dem Fotografieren von Architektur, in weitem Abstand gefolgt vom Motiv See/Strand, Landschaft und Personen. Vgl. ebd., S. 427 und S. 261. Zur grundsätzlichen Kritik am Konzept von Urry vgl. Spode, Hasso: Der Blick des Post-Touristen. Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 7(2005), S. 135-161. Neben Mandel und Pagenstecher vgl. auch die Überblicksdarstellung von Schneider, Birgit: Reisefotografie, in: Hahn, Kagelmann, Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie, S. 447-453 oder Urry, The Tourist Gaze, S. 126ff.
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Informationen über Länder und Leute und können Fragen beantworten. Vor allem sollen sie auf Reisen das Richtige mitnehmen und sich darüber klar werden, was sie am liebsten tun wollen.79
6.3.1.
Friedrich Nicolai und das Paradigma aufklärerischen Reisens
Ein Exkurs zur Reise Friedrich Nicolais und seines ältesten Sohnes Samuel Friedrich durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 soll helfen, »aufklärerischen Reisens« mit seinen Praxen und Dokumentationsformen auszuleuchten und daraus die Kriterien abzuleiten, mit denen im weiteren gearbeitet werden soll.80 Brenner spricht von einer zunehmenden Differenz der Wahrnehmungsformen Reisender im 18. Jahrhundert. Auf der einen Seite finde sich eine »wissenschaftliche Methodisierung«, auf der anderen eine »ästhetische und sentimentale Partikularisierung«. »In dem Verlauf dieser Entwicklung behauptet sich die touristische Reise als der neue, im 18. Jahrhundert entstandene Reisetypus.81 Jäger sieht seit der Jahrhundertmitte neben den methodisch Reisenden im Dienste der Aufklärung »bildungsbeflissene Bürger« treten, die einfach für sich selbst nach Wissen, Bildung und Kunstgenuss strebten und ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in vielgestaltigen Formen hinterlassen hätten.82 Solch eher touristisches Gebaren folgte aber im79 80
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Kaergel, Julia: Mein einzigartiges Reise-Einkleb-Kritzel-Buch, dtv-junior 2019. Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 1-12, Berlin/Stettin 1783-1796. Aus der Perspektive des Themas »Reisen im Lebenslauf« geben beide Nicolais geradezu »klassische« Beispiele ab. Der Sohn hatte seine Lehre beendet und sollte nun, ähnlich wie Franz Simon Meyer, als künftiger Erbe des Geschäfts die Partner seines Vaters kennenlernen. Er wurde von seinem Vater begleitet, einem aus damaliger Sicht idealen Reisebegleiter, der sich als Endvierziger endlich vom Tagesgeschäft freimachen konnte, um mehrere Monate unterwegs zu sein und mit eigenen Augen zu sehen, was ihm bisher nur aus Lektüren bekannt war. Vgl. Raabe, Paul: Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise von der Schweiz nach Norddeutschland im Jahre 1781, in: Griep, Sehen und Beschreiben, S. 201. Brenner, Peter J.: Einleitung, in: Brenner, Der Reisebericht, S. 38. Vgl. Jäger, Hans-Wolf: Reisefacetten der Aufklärungszeit, in: Brenner, Der Reisebericht, S. 262. Diese waren gleichzeitig auch Leser von Reiseberichten. So hat die Ausleihpraxis in der Fürstlichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ergeben, dass Reisebeschreibungen nach »Romanen, Klassikerausgaben und Geschichtsbüchern« den vierten Rang eingenommen hätten. Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sei das Interesse an ihnen sprunghaft gestiegen. Leser waren Beamte, Offiziere und Kaufleute, denen Raabe nicht nur die Lust an der Lektüre von Reiseabenteuern unterstellt, sondern auch den
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mer noch den Modi aufklärerischen Selbstverständnisses, während andererseits das Vergnügen nicht ausgeschlossen blieb. Klaus Beyrer verweist auf ein seltenes Zeugnis: Madame de Sévigné sei gern gereist, habe dabei (trotz Beförderung in der Kutsche) Landschaft, Lektüre, Essen und Trinken und das Laissez-faire genossen.83 Wenn von Lustbarkeit und nicht von Nöten die Rede sei, scheine es viele Übereinstimmungen zur Kutschenära zu geben. Eine angenehme Gesellschaft und gutes Wetter seien damals wie heute die vorzüglichsten Bedingungen einer vergnüglichen Reise, auch wenn inzwischen ein neuer Komfort hinzugetreten ist.84 In dieser Gemengelage vertritt Nicolai, wie zu zeigen ist, eine extreme Form wissenschaftlicher Methodisierung. Allerdings entsteht dieser Eindruck vor allem anhand des Berichtes. Deshalb erweisen sich die Überlegungen Paul Raabes, der sich trotz schwieriger Quellenlage auch der Reisepraxis Nicolais zuwandte, als besonders ertragreich. Auf seine Reise bereitete sich Nicolai mit großem Bedacht vor, sollte sie doch, wie es im Untertitel der Reisebeschreibung heißt, »über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten« informieren. Entsprechend enthält sie in Anhängen und Beilagen »Statistiken und Materialien, Glossare und Wörterbücher, Sendschreiben und Polemiken, Korrekturen und Zusätze«.85 Der Autor reflektierte selbst umfangreich auf seine Absichten und die zähe Veröffentlichungspraxis ist nach seinen Worten auch dem Umstand geschuldet, dass er versuchte, auf kritische Stimmen seiner Leser zu reagieren. So ist das bekannte »Schreiben an Herrn Kriegsrath Dohm« in Raabes Augen als Resümee der Reise »ein Vermächtnis der Aufklärung«.86 Auch der eng gesetzte Zeitrahmen eines Verlegers implizierte eine sorgfältige Vorbereitung. Ein zweckmäßiger Reisewagen, in dem man auch schlafen konnte, diente dem reibungslosen Verlauf. Der genaue Reiseplan enthielt Informationen über zu besuchende
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Willen zur »Erweiterung der Kenntnisse über andere Länder, Städte und Landschaften, über ihre Bewohner, ihre Wirtschaft, ihre Kultur«. Vgl. Raabe, Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise, S. 197f. Vgl. Beyrer, Klaus: Im Coupé. Vom Zeitvertreib der Kutschenfahrt, in: Bausinger, Beyrer, Korff, Reisekultur, S. 137. Vgl. ebd., S. 138. Raabe, Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise, S. 199. Ebd., S. 210. Schreiben an Herrn Kriegsrath Dohm, in: Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 1, Berlin/Stettin 1783, S. VIIXVIII.
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Personen und Institutionen, die aus Büchern oder durch Korrespondenz erhoben wurden, eine Arbeit, die dem Sohn aufgetragen worden war. Manche zeitgenössischen und heutigen Kritiker bewegt die Frage, warum sich die Nicolais angesichts dieses Vorwissens überhaupt noch auf Reisen begaben oder ob dieses Vorwissen überhaupt noch Erfahrungen ermögliche. »Nicolai hingegen sieht diese Daten nur als Grundlage, um seine eigenen Beobachtungen zu optimieren und vorzustrukturieren.«87 Die Vorteile lagen auf der Hand: Man konnte die Zeit optimal nutzen und mehr sehen als andere. Nachdem der Plan abgearbeitet war, blieb Zeit für Unvorhergesehenes.88 Reiseroute, Reisezeit und Aufenthaltszeiten hat Nicolai denn auch genau festgehalten. Einzig die mehrtägige Fahrt von Regensburg nach Wien auf der Donau hatte so etwas wie Erholungscharakter.89 Der Reisebericht endet in Schaffhausen ‒ noch nicht einmal zur Halbzeit. Der Rest der Tour kann anhand von zwei Stammbüchern des Sohnes rekonstruiert werden, die über fünfhundert Eintragungen enthalten. Ein Drittel stammte von Professoren, daneben haben sich Beamte, Ärzte, Geistliche, viele Künstler, Schriftsteller, Buchbinder, Instrumentenbauer, Mechaniker, Musiker, wenige Adlige und Frauen verewigt.90 Die Besuchten fungierten zugleich als Reiseführer zu den Sehenswürdigkeiten ihrer Städte, doch werden sie im Bericht von Nicolai nur selten überhaupt erwähnt. Der Verlust wichtiger Dokumente ist mit dafür verantwortlich, dass die kommunikative, ja
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Buschmeier, Matthias: Das rollende Büro. Nicolais Technik des statistischen Reiseberichts, in: Bracher, Hertweck, Schröder, Materialität auf Reisen, S. 145. Raabe, Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise, S. 202. Vgl. ebd., S. 204. Von dieser Fahrt gibt Nicolai eine ausführliche Beschreibung. Allerdings werden kaum Naturszenen geschildert und am Ende bedauerte er, ein ‒ allerdings nur bei schönem Wetter ‒ komfortables Fortbewegungsmittel verlassen zu müssen. »Es that mir fast leid, daß diese Wasserreise schon zu Ende war. Wenn es seyn könnte, möchte ich so durch die ganze Welt reisen. Es kann nichts bequemer seyn, als in Nachtkleidern in seinem Zimmer seyn, nach Gefallen lesen, schreiben, schlafen oder was man sonst will, thun zu können, und doch so schnell fort zu kommen als mit Postpferden, und dabei keinen Staub, keine Hitze, keine Stöße auf schlechten Wegen zu empfinden.« Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, S. 569. Wohlgemerkt, das »Zimmer« war eine auf dem Boot befindliche Holzhütte, womöglich sogar ohne Fenster. Vgl. Raabe, Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise, S. 206. Allein in Zürich trugen sich 24 Personen ein, in Straßburg 25, in Göttingen gar 44. Diese Stammbücher verweisen auf einen schmerzlichen Verlust. Die Reisetagebücher Nicolais, die mitgebrachten Dokumente, Bücher und Souvenirs sind nicht mehr vorhanden. Vgl. ebd., S. 203ff.
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gesellige Seite der Reise bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Neben beruflichen Interessen und dem Informationsaustausch dürften die hinter den Eintragungen stehenden Besuche jedoch auch dem Vergnügen und Genuss gedient haben, allerdings im Rahmen bürgerlicher Wohlanständigkeit. Sie trugen dazu bei, jene durchaus praktisch gesehene »Weltkenntnis« zu vermitteln, die Bödeker neben dem sich aus schriftlichen oder mündlichen Quellen speisenden Wissenserwerb als Merkmal aufgeklärten Reisens identifiziert hat.91 Das Schweigen Nicolais über diese Seite hat System. »Nicolai reist nicht genießend, er sucht weder Abenteuer noch Zerstreuung, absolviert keine Kavaliersreise, auch keine eigentliche Bildungsreise, denn Kunst und Altertümer interessieren ihn nur am Rande, und noch viel weniger natürlich zieht er als ein romantischer Taugenichts in lockende Fernen.«92 Für unseren Zusammenhang ist eine weitere Strategie Nicolais von Interesse. Hatte sich die Reisevorbereitung auf möglichst zuverlässige schriftliche Quellen gestützt, die auch unterwegs neben mündlichen Informationen weiterhin gesammelt wurden, war das jedoch in Nicolais Verständnis nicht ausreichend, um dem fehlbaren Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen des Reisenden aufzuhelfen. »Um der unweigerlichen Nachträglichkeit der Erinnerung zu entgehen, bedarf es zuverlässiger Aufzeichnungsmedien, die eine quasi-simultane Übertragung von sinnlichem Eindruck und medialer Aufzeichnung gewährleisten und so die faktografische Überzeugungskraft der Tabellen sichern.«93 Dazu bedurfte es neuer Medien und der Möglichkeit, die Eindrücke unmittelbar zu notieren. Wo konnte das besser gelingen als während der Fahrten zu neuen Zielen in einer dafür ausgerüsteten Kutsche. Von großem Nutzen war dabei der gerade erfundene Füller. Er »rückt für Nicolai in eine Position, die später der Fotoapparat übernehmen sollte.«94 Das Aufzeichnungsmedi91 92 93 94
Bödeker, Hans Erich: Reisen: Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft, in: Griep, Jäger, Reisen im 18. Jahrhundert, S. 95. Martens, Wolfgang: Ein Bürger auf Reisen, in: Fabian, Bernhard (Hg.): Friedrich Nicolai 1733-1811. Essays zum 250. Geburtstag, Berlin 1983, S. 101. Buschmeier, Das rollende Büro, S. 150. Ebd., S. 151. Freilich fehlt es gerade dem Reisebericht Nicolais an jeglichen bildhaften Darstellungen. Dagegen will sich die DGEJ-Tagung 2020 dem »Wort- und Bildfeld der Aufklärung« widmen, um das die in den Kulturwissenschaften geführte Diskussion »über das Verhältnis von bzw. die Interferenzen zwischen Bild und Text […] bislang weitgehend einen Bogen gemacht« habe. Allerdings scheinen Reisebilder nicht mit auf der Agenda zu stehen. Vgl. Die Bilder der Aufklärung/Pictures of Enlightenment/Les Imgages des Lumières. DGEJ-Jahrestagung
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um sollte die »Fehler« des empfindenden Reisenden ausgleichen, der damit in den Dienst einer größeren Sache trat ‒ als Aufklärender im Sinne von Gemeinnützigkeit in bürgerlicher und national-patriotischer Hinsicht.95 Was heißt es also, auf »aufklärerische« Weise zu reisen? Systematisch vor, während und nach der Reise Wissen und Artefakte zu sammeln, um sich selbst zu belehren und anderen Erhellendes mitteilen zu können; die gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten sorgfältig und möglichst ohne subjektive Beimengungen zu dokumentieren; das Erwartete mit dem Erfahrenen kritisch abzugleichen mit dem Ziel, sowohl das Wissen wie die Verhältnisse zu verbessern. Dazu habe es ab Mitte des 18. Jahrhunderts Tendenzen zur Quantifizierung auch im Reisebericht gegeben. Nicolai schließlich habe selbst die Welt des Menschen durch Daten und Zahlen erfasst und damit die »Einheit des Menschengeschlechts« stiften wollen.96 Gerade dieser Dienst am Menschen, der dem Reisen gesellschaftliche Relevanz verleiht, soll mit seiner »Touristifizierung« verschwinden. Wenn also die folgenden Überlegungen erbringen, dass Wanda Frisch nach den eben genannten Kriterien immer noch am aufklärerischen Erbe partizipiert hat, dann stehen solche Befunde unter dem Verdacht, rein formell zu sein, da eben jene gesellschaftliche Relevanz weder angestrebt noch realisiert wird. Dazu vermerkt Brenner, dass sich auch noch im 19. und 20. Jahrhundert in Reiseberichten »die Zahl als Medium der Wirklichkeitserfassung« finden lasse, allerdings mit einer anderen Funktion. Für die Aufklärer sei sie ein »adäquates
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2020, https://www.hsozkult.de/event/id/termine-40751?utm_source=hsk, Zugriff am 9.7.2019. Vgl. Jäger, Reisefacetten, S. 275. Ein derartiger Objektivitätsanspruch, der freilich in mancher Hinsicht wenig selbstkritisch war, verhinderte jedoch nicht, dass Nicolai Einschätzungen katholischer Gegenden zum Besten gab, die schon von den Zeitgenossen als einseitig aus protestantischen Perspektive formuliert angesehen wurden. Vgl. dazu: Schmidt, Harald: Fremde Heimat. Die deutsche Provinzreise zwischen Spätaufklärung und nationaler Romantik und das Problem der kulturellen Variation: Friedrich Nicolai, Kaspar Riesbeck und Ernst Moritz Arndt, in: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 34-442. Der enzyklopädische Anspruch beeinträchtigte zudem die Lesbarkeit des Berichts. »Dem heutigen Leser erscheint das Werk als ein unendlich monotones Chaos von geographischen, technischen, demographischen und politisch-sozialen Nachrichten.« Neutsch, Cornelius: Die Kunst, seine Reisen wohl einzurichten ‒ Gelehrte und Enzyklopädisten, in: Bausinger, Beyrer, Korff, Reisekultur, S. 151. Vgl. Brenner, Einleitung, S. 34.
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Mittel der Weltbeschreibung« gewesen, später dagegen eine »Verlegenheitslösung«, weil die Autoren nicht schreiben könnten und so die Wirklichkeit nicht adäquat abzubilden vermögen.97 Damit einher gingen die Individualisierung des Blicks und die Partikularisierung der Wirklichkeit, die aber zu keinem Rückgewinn an Persönlichkeit führten. Der touristische Blick sei gerade da, wo er sich auf Besonderes richte, inhaltlich normiert und festgelegt durch das, was Reiseführer und andere Medien kanonisiert hätten, während das frühneuzeitliche Reisen nur formal präformiert gewesen sei.98 Mit anderen Worten, in diesem Verständnis konnte nur das aufstrebende Bürgertum für sich in Anspruch nehmen, sinnvolle Formen des Reisens zu entwickeln. Mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktions- und Konsumtionsweisen hatte es seine progressive kulturelle Funktion eingebüßt, lebte vom Abglanz besserer Zeiten und verlor in der romantisierenden Selbstbespiegelung seine Fähigkeit zu einem forschend-kritischen Weltverhältnis. Gerade die zunehmende Alltäglichkeit des Reisens in seiner entfremdeten Urlaubsform sei fatal gewesen, weil sie zu einem Medium sozialer Befriedung und kultureller Belanglosigkeit mutierte. Die Gegenrede von den Vorzügen einer »Demokratisierung« des Reisens, die auf die Rechte der Vielen pocht, kann nach einem Wort Kaspar Maases die »Wonnen der Gewöhnlichkeit« hochhalten oder mit sozialpolitischen Argumenten auftreten. Im vorliegenden Fall wird dagegen versucht, die sozial und kulturell sehr unterschiedlich verteilten Fähigkeiten, Möglichkeiten und Impulse, an diesem Erbe teilzuhaben bzw. es sich anzuverwandeln, für das 20. Jahrhundert nachzuweisen. Inzwischen, so wird es zumindest behauptet, habe sich die Schraube weitergedreht. Nicht mehr Berufsfotografen und Künstler, Journalisten und Schriftsteller oder Wissenschaftler, also Angehörige der bürgerlichen Kulturfraktion bestimmten das Bild der Welt und damit der Touristen, sondern jene mehr als 500 Millionen Fotografien täglich, die in den sozialen Medien hochgeladen werden. »The democratization of image production and circulation has had a great impact on the way the world is seen, experienced, and remembered […]. It has also transformed tourism, for social media now
97 98
Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 39.
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play a vital role in the construction of the tourist gaze, destination image, and travel decisions«.99
6.3.2.
Aufklärerisches Werkzeug und touristische Gebrauchsweisen
Eine Tatsache nachzuprüfen zu wollen und über deren Wahrheitsgehalt zu räsonieren, kann als erste Spur aufklärerischen Reisens identifiziert werden. Das ist bei den Protagonisten von Mandel und Pagenstecher besonders augenfällig. Letzterer hat, um ein entsprechendes methodisches Instrumentarium zur Analyse von Fotoalben und Urlauber-Fotos zu entwickeln, auf die von der Oral History für lebensgeschichtliche Interviews verwendete Vorgehensweise zurückgegriffen. Die Legitimation ergibt sich, trotz mancher Vorbehalte, aus dem Umstand, dass private Fotoalben »als autobiografische Quellen zwischen Tagebuch, Memoiren und lebensgeschichtlichem Interview angesiedelt« seien. Zudem gelte wie in der Oral History das Interesse weniger den Fakten, als den »Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Deutungsmustern.«100 Entsprechend entwickelt Pagenstecher vier analytische Themenfelder, von denen hier allein das »kanonisierte Wahrnehmungsmuster« interessiert. Genau genommen geht es um das Spiel, das die Protagonisten damit treiben. Deren Vorgehensweise ist sozusagen »intertextuell« im Sinne der oben für die bürgerliche Reisekultur nachgewiesenen Strategien ‒ nur werden statt Texten Fotos »zitiert« und für die eigenen Zwecken zurechtgemacht. Im vorliegenden Fall sind es Vergleiche zwischen Postkartenbildern des Großglockners und jener Ansicht, die sich den Touristen bot. Das diene, so die Interpretation von Pagenstecher, vor allem der Legitimation des eigenen Urlaubsverhaltens: Man habe gesehen, was in kollektiven Vorstellungen »sehenswert« gilt.101 Doch stehe dahinter auch ein »in Grenzen durchaus kreativer Aneignungsprozeß« gemäß dem Motto, das Mandels Untersuchung den Titel gibt: »Wunschbilder werden wahrgemacht«. Auch wenn der Zeithistoriker Pagenstecher nicht näher darauf eingeht, ist ihm bewusst, auf ein schon früher gepflegtes Kulturmuster gestoßen zu sein, dem die Industrie bereitwillig Vorschub leistete, indem sie Fotoalben im look alter Lederfolianten und ehrwürdiger Enzyklopädien produziert habe.102 99
Lo, Sheungting Iris; McKercher, Bob: Ideal image in Process: Online tourist photography and impression management, in: Annals of Tourism Research 52(2015), S. 104. 100 Pagenstecher, Antreten zum Lotterleben, S. 206. 101 Ebd., S. 209. 102 Vgl. ebd., S. 210.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Das spielerische Element des Vergleichs zwischen der das »kanonisierte Wahrnehmungsmuster« repräsentierenden Ansichtskarte und dem, was sich den Urlaubern darbot, konnte noch gesteigert werden. »Unter dem Titel ›Poesie und Prosa‹ verglichen sie leicht ironisch das professionelle, kitschig nachkolorierte Luftbild der den Ort umschlingenden Innschleife mit dem weniger spektakulären eigenen Bild.«103 Es entstand auf einem Hügel, von dem nur ein kleiner Ausschnitt der Innschleife zu sehen war. Nun, auch hier ist zu sagen, dass enttäuschte Erwartungen von Reisenden zur geschichtlichen Überlieferung gehören: Die Teufelsbrücke am St. Gotthard wirkte, wie uns Franz Simon Meyer mitteilte, in natura keineswegs so erschreckend wie angesichts von Reisebeschreibungen erwartet. Das gilt auch für jene Darstellungsformen, in die solche Erfahrungen verpackt wurden, lange vor den bekannten Touristen-Karikaturen des 19. Jahrhunderts. Ein drittes Moment des Spiels mit dem »kanonisierten Wahrnehmungsmuster« (oder eines intertextuellen Vorgehens) sieht Pagenstecher in der Art und Weise gegeben, wie die Schmidts ihr tradiertes bürgerliches Bildungsgut mit ebenso tradierten touristischen Ansichten zusammenbrachten. Eine auf einem kleinen, einen Bach säumenden Felsen sitzende Bekannte konnte ihnen zur »Lorelei« werden und eine schmale Gasse in Triest zur »hohlen Gasse« wie im »Wilhelm Tell«.104 Wanda Frisch zitierte, wie erwähnt, im Angesicht von Hongkong und nicht von Neapel Goethes bekannten Ausspruch vom Sehen und Sterben. Ob solche Strategien allerdings einen Wesenszug des Tourismus widerspiegeln, wie Pagenstecher hier unter Berufung auf Hennig darlegt, kann bezweifelt werden. Belegen sie doch eher den intertextuellen Charakter, von dem die bürgerliche Reisekultur von Anfang an getragen wurde. Interessant erscheint allerdings, womit und zu welchem Zweck jeweils »gespielt« wird. Die Referenztexte und -bilder wandeln sich. Heute kann mancher vielleicht noch etwas mit der »hohlen Gasse« anfangen, aber sie zu zitieren erscheint doch nicht nur wenig originell, sondern total uncool. Der historische Wandel ist möglicherweise auch auf das Medium Fotoalbum selbst zu beziehen. »Vieles ‒ nicht zuletzt ihre allmähliche Entdeckung als historische Quelle ‒ deutet darauf hin, dass Fotoalben bald nicht mehr zur
103 Ebd., S. 210. 104 Vgl. ebd.
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Die Touristin Wanda Frisch
gängigen kulturellen Praxis gehören, sondern Element einer zu Ende gehenden bürgerlichen Epoche waren.«105
6.3.3.
»Fotografien des Tages«
Die Texte, von denen die Urlaubsbilder in Fotoalben begleitet sind, informieren häufig über die Verwendung der zur Verfügung stehenden Zeit. Lange vor der Industrialisierung wurde in Europa ein solcher »rechenhafter« Umgang mit der Zeit zumindest den bürgerlichen Eliten abverlangt. Zeitverschwendung und ausgedehnte Muße galten als Laster des Adels und der werktätigen Massen. So können sowohl Nicolais Reisepraxis wie seine kritischen Beobachtungen zum katholischen Teil Deutschlands jedenfalls auch interpretiert werden. Benjamin Franklin hat in seiner Autobiografie dafür moralische wie ökonomische Gründe angeführt, Thorstein Veblen ein theoretisches Grundlagenwerk verfasst.106 Diskussionen über einen rationalen Umgang mit der Zeit sind also schon den Aufklärern eigen und waren ein Aspekt, der die Lebenszeit, das Verhältnis von Arbeits- und Feierstunden und deren Ausgestaltung sowie die tägliche Zeitnutzung ebenso betraf wie die Organisation der Produktion in den Manufakturen. Es ist gerade die Einbettung in eine solch neue Kultur (auch der Zeit), die die Voraussetzungen für die Zeitökonomie der kapitalistischen Produktionsweise schuf und sowohl den »neuen Bourgeois« wie den modernen Industriearbeiter prägte.107 Um 1900 war eine neue Stufe dieses Entwicklungsprozesses erreicht. Das konnte Arbeitswissenschaftler Fritz Giese zu Beginn der 1920er Jahre anhand der aus den USA importierten »Girlkultur« zei105 Ebd., S. 206. Dem widerspricht allerdings Breckner, die sich mit einem privaten Familienalbum aus der Perspektive der Konstruktion einer Familienbiografie beschäftigt hat, die mehrere Generationen umfasst. Vgl. Breckner, Sozialtheorie des Bildes, S. 238. Zweifellos ändern Fotoalben ihren Charakter, zumal im Zeitalter der digitalen Fotografie. Der heutigen Betrachterin erscheinen die Zeugnisse aus den 1950er und 1960er Jahren altmodisch, ein Hinweis auf ihren spezifischen Platz im Fluss der Geschichte. 106 Franklin, Benjamin: Autobiographie (hg. von Heinz Förster), Leipzig 1983; Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a.M. 1986. 107 Thompson, Edward P.: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus. In: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie: Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, ausgew. und eingeleitet. von Dieter Groh, Frankfurt a.M. 1980; Sombart, Werner: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Reinbek bei Hamburg 1988.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
gen. Zeitgleich wurde in der jungen Sowjetunion von einigen »Westlern« der labormäßige Versuch unternommen, die Zeitkultur der westlichen Welt in historisch kurzer Frist zu implementieren und zwar als notwendige kulturelle Voraussetzung für die schnelle Industrialisierung des Landes.108 Sowohl um sich einen ersten Überblick über die wirklichen Verhältnisse zu schaffen wie eine Methode zur ihrer Verbesserung an die Hand zu geben, wurde die Zeitbudgetmethode genutzt: Meist in Tabellenform war genauestens festzuhalten, wann was gemacht wurde.109 Wer hier nachlässig war oder die Stunden und Minuten keiner Tätigkeit zuordnen konnte, musste als rückständig gelten. Diese Zeitbudgets in ihren unterschiedlichen grafischen Formen galten so als »Fotografien des Tages«, sie dienten ähnlichen Zwecken wie die fotografischen Bewegungsstudien und die Zeiterfassungsprotokolle der sich entwickelnden Arbeitswissenschaft. Die Anstrengungen von Urlaubsreisenden, sowohl die zeitlichen wie die räumlichen Bedingungen ihrer Reisen in Notizen und Fotos festzuhalten, erregen Verwunderung, scheinen sie doch der Prämisse zu widersprechen, dass der Urlaub gerade Gelegenheit bieten soll, das enge Zeitkorsett des Arbeitsalltags abzustreifen und aus seinem Takt herauszutreten. Das Ehepaar Schmidt klebte in seine Fotoalben Tagesprotokolle ein, deren Struktur durch genaue Zeitangaben gebildet wird. In diesem Rahmen vermerkten sie nicht nur ihre Erlebnisse, sondern auch die Reiserouten, Übernachtungspreise, zurückgelegte Kilometer oder den Benzinverbrauch. Diese »symbolische Arbeit« interpretiert Pagenstecher als »Fortwirken eines verinnerlichten Arbeitsethos im Urlaub«.110 Ähnlich wie sie dokumentierte ein halbes Jahrhundert später auch ein von Schäfer untersuchtes Paar genau, was während der zweiwöchigen Ferien in
108 Giese, Fritz: Girlkultur: Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925. Vgl. dazu Petzoldt, Gerlinde: Erforschung des Freizeitverhaltens in der DDR und der Sowjetunion. Drei Studien (= Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 25), Berlin 1988, S. 5-36 und Petzoldt, Gerlinde: Fotografien des Tages ‒ frühe Untersuchungen des Zeitverhaltens in der Sowjetunion, in: Freizeitkultur (= Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 22), Berlin 1987, S. 263-269. 109 Dieses Verfahren hat, wie gesagt, eine lange Tradition in der Lebensbilanzierung und der Reisebilanz, ein weiteres Indiz für die Wahrnehmung des Lebens als Reise einerseits und dem manche überwältigenden Bedürfnis, das Leben auf Reisen zu verbringen. 110 Pagenstecher, Antreten zum Lotterleben, S. 207.
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Hongkong und Thailand gemacht wurde.111 Die Frage nach dem »Warum?« lässt sich nicht von der Hand weisen, denn die Angaben sind für den Leser weder notwendig, noch machen sie den Reisebericht attraktiver. Für Schäfer stehen seine Protagonisten in der Tradition des »objektiven Reiseberichts«, das dem »Ideal szientifisch-nüchternen Sachlichkeit« gefolgt sei und eben durch die Zeit fortgeschrieben wurde.112 Die Zeitprotokolle könnten als Authentifizierungsstrategie identifiziert werden. Zugleich handele es sich um eine Strategie, mit der die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des Erlebten unterstrichen werde. Der an einen Zeitpunkt gebundene Eindruck, dieser Moment, gehöre den Reisenden allein.113 Betrachtet man die Reisepraxis selbst (und nicht den Bericht), ergibt sich aber Widersprüchliches. Das umfassende Zeitmanagement, das ständige Registrieren, ob man zu spät oder zu früh dran ist oder wie lange ein Taxi zur anvisierten Sehenswürdigkeit braucht, könne gerade jene Erlebnisse und Eindrücke verhindern, die doch den Sinn der Reise ausmachen. »Das lässt sich jedoch auch anders lesen. Die präzisen Zeitangaben gründen in äußerst intensiver Aufmerksamkeit. Sie wären nicht möglich, würde der Autor des Reiseberichts sich nicht regelmäßig vergegenwärtigen, wie spät es ist.« Statt sich dem Erleben passiv hinzugeben, werde die Selbstwahrnehmung gesteigert.114 Ein weiteres Moment kommt hinzu. Dem Interpreten will es scheinen, dass der ganze Reisebericht seiner Protagonisten von der Frage getragen wird, ob die Reise nach Plan verlaufe, einem Plan, den sie selbst aufgestellt haben.115 Die Kontrolle über den zeitlichen Ablauf sei ein Ausdruck von Autonomie ‒ wenigstens im Urlaub wolle man »Herr« über seine Zeit sein.116 Dieser Eindruck könnte auch auf Wanda Frisch zutreffen. Die Dienste der Reisebüros wurden genutzt, um dafür optimale Bedingungen zu sichern. Einige ihrer Pauschalreisen hat sie in diesem Sinne kommentiert. Natürlich könnte das als Strategie einer Konsumentin ausgelegt werden, die ihre »besondere« Ware wie bezahlt geliefert bekommen möchte. Doch das Bedürfnis nach Pünktlichkeit, nach Planmäßigkeit war zutiefst verinnerlicht ‒ das belegen auch die Anstrengungen für eine ordentliche Vorbereitung anhand von
111 112 113 114 115 116
Vgl. Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 187. Ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 190.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Reiseführern, Reisezeitschriften und Reiseinformationen aus der Tagespresse. Allerdings zeigt sich hier und, wie im vierten Kapitel beschrieben, anhand der teilweise langjährigen Nachbereitung, dass alle Mühen neben der »Erlebnismaximierung« auch dem Zweck dienten, sich Kenntnisse anzueignen. Wie dazu außerdem Gespräche mit anderen Reisenden, mit Freunden, Kolleginnen oder Verwandten genutzt wurden, kann nur vermutet werden. Wanda Frisch war es keineswegs egal, wo sie sich aufhielt. Die topografischen und zeitlichen Angaben in ihren Fotoalben ermöglichen es mühelos, den Reiseverlauf, ja, den Verlauf eines Spaziergangs zu reproduzieren. Das Bedürfnis, ihre Reisen zu dokumentieren und neue Destinationen systematisch zu erkunden, wird selbst im Skiurlaub ausgelebt. Als Beispiele mögen ihre Aufenthalte in Moena/Dolomiten vom 13.2.-9.3.1959 und in Serfaus vom 8.2.-1.3.1964 dienen. (Nicht vergessen sei, was im vorangegangenen Abschnitt über ihre Verfahrensweise im Fotoalbum 4 ausgeführt wurde.) Die insgesamt 74 Fotos vom Urlaub in Moena (davon 21 Farbfotos) hat Wanda Frisch auf dreiundzwanzig Seiten ihres Fotoalbums verteilt. Den Beginn markiert ein großformatiges Farbfoto, eine Totale des Ortes, im Hintergrund zeigen sich höhere Berge. Folgende Erklärungen sind den Fotos beigefügt: »der Ort 1199 m« (fünf Fotos), »seine Lage« mit Blick auf den Latemar, den Langkofel und das Monzonigebirge (drei Fotos), »und seine fotogene Kirche« (drei Fotos). Es folgen eine Aufnahme der Pension La Campagnola mit Blicken vom Balkon (vier Fotos). Sechs Fotos erfassen »die nähere Umgebung« (mit Höhenangaben), während die folgenden Seiten den Ski-Ausflügen und Wanderungen der kleinen Reisegruppe gewidmet sind (40 Fotos mit genauen Orts- und Höhenangaben: »Pecol 1925 m ‒ Belvedere Pordoi 2340 m«, »Blick vom Pecol in das Becken von Canazei« etc.). Die einzelnen Ausflüge sind zwar nicht datiert, können aber einschließlich der dort vorhandenen Aussichten genau nachvollzogen werden. Die Dokumentation endet mit Aufnahmen vom Kur-Konzert und einzelnen Bildern, die auf das Wetter oder das Fotografieren Bezug nehmen, einen Kirchgang zeigen und, ganz untypisch, launige Bildunterschriften haben wie »Arbeit…Arbeit…Arbeit«, »Wozu ist die Straße da« oder »Erstes Träumen vom Sommer«. Sie zeigen Wanda Frisch in Farbe beim Säubern der Skier, beim Fotografieren, beim Wandern und Ausruhen im Sonnenschein vor einer Skihütte. (Auf das schöne Wetter und den guten Schnee wurde verständlicherweise einige Male hingewiesen.) Von der Reise nach Serfaus existieren einundzwanzig teilweise farbige Fotos. Am Beginn steht wieder ein großformatiges Bild, das einen altertümlichen Brunnen vor der markanten Ortskirche zeigt, dazu ein eher bescheide-
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nes Hinweisschild für Touristen. Anschließend wird der Ort in seiner Umgebung gezeigt: »Serfaus von allen Seiten« und die Höhenlage angegeben. Die dritte Seite enthält drei Fotos von einem Spaziergang mit Blick auf den Ort, die Berge und ins Inntal, also ebenfalls topografische Informationen. Auf zwei Bildern dient eine diesen Blick mit vollziehende Person im Vordergrund als Staffage. Es folgen Impressionen aus dem Ort, die offensichtlich einen Eindruck des Dorfes und seiner Bebauung vermitteln sollen. Dann wird die eigene Unterkunft in das erarbeitete Bild eingefügt, fotografiert von zwei Seiten. Die Bekanntschaft mit Serfaus wird vertieft durch den Blick aus dem Fenster der Unterkunft: »Straß auf…, Straß ab«. Hier sind auch einige Menschen abgelichtet. Der Ort erscheint sehr klein und beschaulich, nur auf einem Bild sind Autos zu sehen. Hinweise auf die eigenen sportlichen Betätigungen wie Skilauf fehlen völlig. Wer wissen möchte, wie Serfaus im Jahre 1964 ausgesehen hat, könnte gut mit den Fotos von Wanda Frisch arbeiten. Ihr ging es nicht vorrangig um bedeutende Gebäude oder besondere Szenen, sondern um die Einbettung des Ortes in seine Umgebung und seine topografische Gestaltung, einschließlich des dort vorgefundenen Alltags, zu dem auch Touristen wie sie und ihre Freunde und Verwandten gehörten.
6.3.4.
Die »typische« Touristin und das »typische« Touristenfoto
Schäfer hat es unternommen, die Qualitäten des »typischen Touristenfotos« anhand seiner empirischen Quellen herauszuarbeiten. Zunächst sollen es Fotos von Personen sein, die frontal und zentral in Szene gesetzt werden ‒ vorzüglich die Reisenden selbst.117 Auch andere Motive werden, so Schäfer, »konventionell« arrangiert ‒ das betrifft den Anteil, der dem Himmel auf den Bildern zugestanden werde wie das Gebot der Ganzheit des Motivs.118 Schließlich sei das jeweils Abgebildete geradezu idealtypisch inszeniert, so dass Symbolisches und Empirisches in eins fielen. Zudem gelte: Das Fotografierte muss identifizierbar sein.119 Kommentare zu »misslungenen« Fotos, die von seinen Protagonisten ebenfalls präsentiert werden ‒ Bilder, die eine unfreiwillige Bewegung zeigen, die nicht zuordenbar und deshalb »sinnlos« oder nicht »lesbar« sind, informieren so indirekt über die Kriterien des Gelingens.120 117 118 119 120
Vgl. Schäfer, Tourismus und Authentizität, S. 232f. Vgl. ebd., S. 235. Vgl. ebd., 236f. Vgl. ebd., S. 240.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Das Herauspräparieren des »idealtypischen« Touristenfotos erfolgt im Ausschlussverfahren: Welche Art von Fotos entsteht nur hier, während der Urlaubsreise? Solche Fotos zeigen eine Sehenswürdigkeit, vor der Menschen posieren. Nun darf die Frage gestellt werden, welchen Sinn es hat, aus einer Masse von Urlaubsbildern, die, wie etwa menschenleere Landschaftsfotos, einer anderen fotografischen Praxis folgen, die eben genannten hervorzuheben. Er ergibt sich aus der touristischen Attitüde solcher »Symbolbilder«, die für Schäfer darin liegt, dass sie »die Erzählung vom Authentischen und authentischen Präsenzerfahrungen« motivieren, »die Erzählung davon, einmal etwas erlebt zu haben. Typischerweise beginnt sie mit: ›als-ichdamals-dort-war‹.«121 Die Anwesenheit der Touristin auf dem Foto sei auch notwendig, um solche Aufnahmen vom standardisierten Postkartenbild zu unterscheiden, das häufig in kitschiger Aufmachung und Vollkommenheit nur das sehenswerte Objekt zeige. Als auf dem Bild befindliche posierende oder etwas fotografierende Person sorge sie für die nötige Individualisierung, die inzwischen allerdings auch weit über das Übliche hinausgehen könne.122 Fotos von den Füßen der Reisenden im Sand etwa verwiesen auf ein »Irgendwann« und »Irgendwo«. »Sie sind Dokumente einer elementaren Existenzerfahrung des Selbst-in-der-Welt-Seins.«123 Unschwer ist zu erkennen, dass hier die oben explizierten theoretischen Überlegungen von Bourdieu Pate gestanden haben. Doch wie groß darf der Abstand zur fotografischen Praxis werden, bis ein solches Modell seine Überzeugungskraft verliert und nur mehr den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat? Wäre es nicht sinnvoller, sich dem Wandel der Praxen zuzuwenden in der Absicht, Veränderungen in der Selbstwahrnehmung der Individuen und deren gesellschaftlichen Verhältnissen auch im touristischen Verhalten aufzudecken? Das ist auch mit Blick auf die Urlaubsfotos von Wanda Frisch gesagt. Sie hat nach dieser Klassifikation so gut wie keine »typischen« Touristenfotos produziert, obwohl doch der Nachweis erbracht wurde, dass sie in ihrer Zeit eine typische Touristin war. Ihre Fotos zeigen Sehenswürdigkeiten und Landschaften, auf denen Menschen eher zufällig erscheinen (wobei nicht immer klar ist, ob als »Beifang« oder in der Absicht, auf das touristische Gewimmel hinzuweisen) oder gar
121 122 123
Ebd., S. 242 (Herv. i.O.). Ebd., S. 246. Ebd., S. 251.
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nicht abgebildet sind. Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass sie trotzdem als Touristenfotos durchgehen können. Für das Zusammenspiel von Foto und Bildunterschrift gilt: Worte und Zahlen sollen die Identifizierung des Motivs erleichtern. Dahinter scheint das Hier und Jetzt der Fotografin zurückzutreten. Zwischen dem aufklärerischen Reisenden Nicolai einerseits und der ihre Füße im Sand knipsenden Touristin andererseits nimmt Wanda Frisch eine mittlere Position ein. Während Nicolai alles Persönliche zugunsten »objektiver« Informationen eliminiert hatte, sind Wanda Frischs Fotos zwar einerseits um eine richtige Darstellung des Gesehenen bemüht. Andererseits lassen sie auch Vorlieben erahnen und spiegeln Intentionen wider ‒ dazu später mehr. »Sinnlose« Fotos hat sie entweder aussortiert oder gar nicht erst gemacht. Sinnhaftigkeit, Deutlichkeit, Ganzheitlichkeit, Objektivität ‒ das sind jedoch Merkmale einer aufklärerischen Weltsicht. Ihre Fotos zeigen, was sie wie eine neutrale Betrachterin in Augenschein genommen hat und möglichst genau abzubilden und zu übermitteln sucht, beispielsweise durch erläuternde Bildunterschriften mit den Namen von Gebäuden, Bergen, Plätzen. Während Nicolai durch Statistiken beglaubigen will, geschieht das hier durch Fotos, deren Motive sich an einen Kanon des Wesentlichen halten. Deshalb liefern auch diese Fotos eine gute Basis für Erzählungen, was wann wo angeschaut und erlebt wurde, wobei es der Erzählerin freisteht, wie viel Subjektives sie noch hinzufügen will. Um sich ihrer Gefühle zu erinnern, bedarf es der Abbildung der eigenen Person nicht ‒ schließlich ist sie ja als Fotografin mitpräsent und wird miterinnert. Natürlich darf, wie übrigens schon bei Nicolai, die Frage gestellt werden, welchen Sinn Höhenangaben und andere topografische Informationen oder systematische Erkundungen in längst vermessenem Terrain hatten. Schließlich gab es nichts mehr zu »erforschen« und Wanda Frisch hätte sich auf Reiseführer, Kartenmaterial und Ansichtskarten verlassen können. Zwei Momente dürften eine Rolle spielen. Zunächst dokumentieren sie einen (nur manchmal in die Tiefe gehenden) Aneignungsprozess der Welt, wie er dieser Touristin zugänglich war. Die antreibende Neugier hat sie früh entwickelt und über viele Jahrzehnte erhalten. Die Ursachen sind auch in der Geschichte des Tourismus selbst zu suchen: Wanda Frisch konnte in ihrer Zeit doch noch als »Pionierin« agieren, weil sich touristische Welt für die Masse erst sukzessive entfaltete.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Zum anderen geht es natürlich auch um den Nachweis, selbst dort gewesen zu sein. Er verschafft innere Befriedigung und verhilft zu gesellschaftlichem Ansehen. Doch auch dieses Moment war den Aufklärern nicht fremd.
6.4.
Ästhetik der Dynamik
Malerei, die »legitime« Kunst, und Fotografie, die »illegitime«, existieren seit nunmehr 180 Jahren neben- und miteinander und seither ist ihr Verhältnis Gegenstand theoretischer und kulturkritischer Diskurse. Jenseits von Theorie und Kritik sind es jedoch auch die spezifischen Vorzüge beider, die pragmatisch genutzt werden. Welchen Widerschein das im Alltagsbewusstsein hat, kann man nur erahnen ‒ wenn etwa gerasterte Fotos dazu genutzt werden, um »lebensechte« Zeichnungen anzufertigen. Das Beispiel ist mit Bedacht gewählt ‒ soll es doch auf sich geschichtlich entfaltende und für die Reisekultur bedeutsame Wechselverhältnisse aufmerksam machen. In der Populärkultur waren die Berührungsängste offenbar gering, sowohl bei den Produzenten wie beim Publikum. Ein Beispiel ist der österreichische Panoramenmaler und -besitzer Hubert Sattler (1816-1904), dessen Werke in Salzburg besichtigt werden können. Seine »Kosmoramen« vereinigten Darstellungstreue und verführerische Inszenierung. Das machte ihren Schöpfer zum permanenten Reisenden: Was er präsentierte, nahm er vorher selbst in Augenschein, wie im übrigen auch seine Produktionen durch die Welt wanderten.124 Sein Streben nach Exaktheit lässt sich an detailgetreuen perspektivischen Stadt-Ansichten ablesen, die für das spätere Panorama-Gemälde gleichsam miteinander »verrechnet« wurden. Sie gelten heute als Zeitdokumente.125 Sattler könne »fast als lebende Kamera« bezeichnet werden, heißt es im Katalog seiner Werke. Tatsächlich hat er, sobald die Fotografie aufkam, seltener zum Bleistift gegriffen und nun fotografiert, was er vorher gezeichnet hatte, ohne jedoch Veränderungen in der Bildinszenierung vorzunehmen. Die Reisende und spätere Beförderin der britischen Ägyptologie Amelia Edwards benutzte die Metaphorik des »fotografischen Gedächtnisses«, ob-
124 Diese auch »Zimmerpanoramen« genannten Formen gehören in die Kategorie der Kleinpanoramen. Dem Publikum wurden mehrere Ansichten geboten, im Gegensatz zum Großpanorama mit jeweils nur einem Motiv. Vgl. von Plessen, Giersch, Sehsucht, S. 206. 125 Vgl. Kosmoramen von Hubert Sattler.
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wohl sie auf ihrer Nil-Fahrt im Jahre 1874 keinen Fotoapparat mit sich führte, sondern in bewährter Manier zahlreiche Hefte mit Zeichnungen der besichtigten Altertümer füllte: »Doch das Betrachten lohnt sich, und die Große Halle von Karnak ist in irgendeiner dunklen Ecke meines Gehirns fotografiert, solange ich mein Erinnerungsvermögen besitze.«126 Fotografien kamen jedoch zum Einsatz, als es darum ging, ihre Vorlagen zum Zwecke der Illustration des Berichts in zur Vervielfältigung fähige Holzstiche zu verwandeln. Es wurde nicht nur auf die Dienste von Musterzeichnern zurückgegriffen, in vielen Fällen seien »sogar die Motive direkt auf das Holz fotografiert« worden.127 Die Weltaneignung im Panorama, das wurde oben gezeigt, erwies sich zunehmend als touristische. Doch auch die »hohe« Kunst arbeitete daran mit, wie an zahlreichen Beispielen belegt werden kann, in unserem Fall an Ferdinand Hodler. Die Verbindungen zum Tourismus und dem Anliegen die Schweiz zu vermarkten, resultierten bei ihm (wie bei anderen Malern) auch in einem Engagement für kommerzielle Unternehmen, die dieses Ziel verfolgten.128 Die Beziehung zur Fotografie war zweifach ‒ einerseits wurde die Schweizer Landschaft nun, im Gegensatz zur Zeit um 1800, gleichzeitig von Malern und Berufsfotografen erschlossen. Andererseits tauchten fotografische Reproduktionen von gemalten Schweizer Ansichten in Kunstzeitschriften und Familienblättern wie etwa der »Gartenlaube« auf oder zierten Werbeprospekte der Fremdenverkehrsvereine. Das Image von Hodler, Inbegriff des Schweizer Künstlers zu sein, hing nicht nur mit der Ikonografie seiner Landschaften zusammen, sondern auch mit Figurenbildern, die jenen scheinbar »ursprünglichen Schweizer« zeigten, der die Reisenden der Aufklärung ins Land gelockt hatte.129 Hodlers Rolle erweist sich als bewahrend und transitorisch ‒ er vermittelte Bilder der alten
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129
Edwards, Tausend Meilen auf dem Nil, S. 142. Ebd., S. 9. Vgl. Fischer, Matthias: Von der Schynigen Platte. Ein Beitrag Ferdinand Hodlers zum (touristischen) Bild der Schweiz, in: Charbon, Rémy; Jäger-Trees, Corinna; Müller, Dominik (Hg.): Die Schweiz verkaufen. Wechselverhältnisse zwischen Tourismus, Literatur und Künsten seit 1800, Zürich 2010, S. 279. Schweizer Hoteliers veranstalteten nicht nur Kunstausstellungen, auf denen seine Bilder gezeigt wurden, sondern traten auch selbst als Käufer auf. Vgl. ebd., S. 294ff. Vgl. ebd., S. 282. Wie Fischer zeigen konnte, dienen solche auf touristischen Werbeprospekten abgebildeten urigen Typen auch heute noch dazu, »den Schweizer« zu verkörpern, freilich nicht mehr als Landsknecht, sondern als Skilehrer. Vgl. ebd., S. 284.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Zeit, als die Schweiz ihren Aufstieg zur Reisedestination nahm und formierte um 1900, als der Schweiz-Tourismus schon in die Krise gekommen war, ein nicht wirklich neues, aber erneuertes Bild, das wiederum bis heute nachwirkt. Dieses Transitorische findet sich auch in seinem Werdegang, begann er doch seine Karriere als Kopist von Vorlagen touristisch erprobter Motive aus dem Berner Oberland und Panoramen-Maler. Bevor er das »Bild der Schweiz« prägte, schuf Hodler sich auf Reisen selbst eine Vorstellung von ihren Landschaften, wobei die neuen Eisenbahnlinien und die ihnen auf dem Fuß folgenden Hotels von großem Nutzen waren. Seine berühmtesten Gemälde profitierten von der Möglichkeit, die schweren Malutensilien per Bahn zu lukrativen Aussichtspunkten zu befördern oder gar eine Hotelterrasse zu nutzen.130 Allerdings teilte er diese Aussichten mit anderen Touristen und Fotografen, die wie er das berühmte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau von der Schynigen Platte aus festhielten.131 Die Konkurrenz der Fotografen hat seinem wachsenden Ruhm nicht geschadet ‒ waren deren Bilder doch nicht auf Kunstausstellungen zu besichtigen, die nicht zuletzt das Reiseziel Schweiz für eine finanziell potente Kundschaft bewerben sollten. Die zeitgleiche Erschließung von Motiven durch Maler und Fotografen, den Nutzen, der aus den spezifischen Möglichkeiten beider Medien gezogen wurde, aber auch das Gefälle zwischen ihnen vermittelt beispielhaft ein vermutlich am Ende der 1920er Jahren entstandener Werbeprospekt vom Jungfrau-Massiv. (Abb. 20) Großformatige Darstellungen von Eiger und Jungfrau im Stile der Hodler-Gemälde sollen die Betrachter beeindrucken ‒ ein grandioser und durch die Malerei gleichsam geadelter Anblick, obwohl der eingeschobene zoom auf eine Berghütte (Übernachtungsmöglichkeit) und einen Wasserfall (Wanderziel) überdeutlich für die touristische Nutzung wirbt. Die Rückseite des Prospekts dient der Information mit einer nüchternen Karte der Gegend und mehreren Fotos, auf denen Hotels, eine Eisenbahnstation und das berühmte Aussichtsplateau auf dem Jungfraujoch abgebildet sind. Doch als Winterbilder zeigen auch sie die Gegend von einer besonders beeindruckenden Seite. Dieser kleine Ausflug in die Geschichte des Wechselverhältnisses von Malerei und Fotografie anhand von Beispielen aus der Welt des Tourismus sollte auch dazu dienen, Malerei als eine Art Gebrauchskunst im Dienste des 130 Vgl. ebd., S. 290f. 131 Vgl. ebd., S. 294f.
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Abb. 20: Prospekt »Jungfrau«, um 1928
Reisens kenntlich zu machen. Allerdings konstatierte Pagenstecher in seiner Rezension eines von einem Tourismusgeografen und einer Kunsthistorikerin herausgegebenen Tagungsbandes: »Die KunsthistorikerInnen beschränken sich meist auf die Kunst selbst und vernachlässigen ihre Einflüsse auf den Tourismus; die Tourismusforschung weiß zwar um die Wichtigkeit der visuellen Kultur, verfügt aber häufig nicht über das Werkzeug zur Analyse des visuellen Materials.« Das liege wohl auch daran, dass es einfacher sei, »sorgfältig inszenierte Kunstwerke oder die zweckorientiert produzierten Bilder der professionellen Tourismuswerbung zu analysieren als die privaten und häufig unbewussten Wahrnehmungsmuster individueller TouristInnen.«132 Doch genau ein solcher Zusammenhang soll hergestellt werden. Konkret gilt es, die Interpretation von kleinen Fotoserien aus dem Album einer Nordlandfahrt Wanda Frischs in den 1960er Jahren und von städtischer Szenerien aus ihren letzten Reisejahren vorzubereiten. 132
Cord Pagenstecher: Rezension zu Lübbren, Nina; Crouch, Davis (Hg.): Visual culture and tourism, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-036, Zugriff am 16.04.2014.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Welche geschichtlichen Vorbilder und kulturellen Praxen lassen sich identifizieren und dafür nutzen? Für die Nordlandfotos, die von einem Schiff aus geknipst wurde, gibt es kunstgeschichtliche Vorarbeiten, auf die zurückgegriffen werden kann. Sie bringen mit William Turner einen Maler ins Spiel, der, bedingt durch Lebenszeit und -umstände, die »Sattelzeit« mit ihren sich wandelnden Wahrnehmungsweisen selbst repräsentiert.
6.4.1.
William Turner ein »idealer Tourist«
Ein Aquarell Turners trägt den ironischen Titel: »Die Herrschaften Reisenden bei ihrer Rückkehr aus Italien (vermittels einer Postkutsche) in einer Schneeverwehung auf dem Mont Tarare, 22. Januar 1829«. Abgebildet ist eine dramatische Szenerie, die vom Schein eines Feuers und vom Mondlicht beleuchtet wird. Eine halb umgekippte Postkutsche und herumliegende Schaufeln deuten an, was passiert ist: Man blieb im Schnee stecken. Ein dem Betrachter abgewandter Mann beobachtet das Geschehen ‒ es soll Turner selbst sein. Offenbar hatten die »verrückten« Engländer, wie schon Jahre zuvor am Mont Cenis, die Warnungen der Einheimischen missachtet. Seinerzeit, im Januar 1820, benutzte Turner ‒ wie die meisten englischen Italienreisenden ‒ diesen berühmten, wegen des schlechten Wetters aber gesperrten Pass. Am Gipfel fiel die Kutsche zur Seite und die Reisenden mussten sie durch das Fenster verlassen, denn die Türen waren zugefroren.133 Turner als Darsteller und »stiller, amüsierter Beobachter der Szene« ‒ ein »Tourist«, der etwas zu zeigen hat, so charakterisiert ihn Wilton: »Weit davon entfernt, sich der Bezeichnung ›Tourist‹ zu entziehen, strebte er eher danach, der ideale Tourist zu werden, der den oft kaum faßlichen Freuden und Erregungen eines einfühlsamen Erkundens bestärkenden Ausdruck zu geben vermochte.«134 Und Herold resümiert: »Der Beginn seiner Karriere fällt zusammen mit dem Ende der elitären Grand Tour, und als er 1851 starb, beklagte man am Rhein bereits die Folgen des Massentourismus.«135 Frühzeitig hatte Turner sich zu einem passionierten Reisenden entwickelt, der die Sommerzeit für einen Trip durch England, Schottland und Wales nutzte, für eine »Autopsie des Landes«, deren Landschaften sich je 133
134 135
Vgl. Wilton, Andrew: William Turner. Reisebilder: die schönsten Aquarelle aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz, 3. Aufl., München 1984, S. 15ff., Abb. 1. Ebd., S. 17. Herold, Inge: Turner auf Reisen, München/New York 1997, S. 10.
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nach Jahreszeit und Wetter unterschiedlich präsentierten.136 Die spätere Reisekarriere zum Kontinent verlief nicht eben glatt. Im Jahre 1802 hatte der Frieden von Amiens nur ein kleines Zeitfenster für Kontinentalreisen eröffnet, das Turner für einen mehrmonatigen Aufenthalt in Frankreich und der Schweiz, vornehmlich in den Alpen, nutzte. Erst nach der Niederlage Napoleons entfielen die politischen Hindernisse. Im Gegensatz zu Malern, die auf einer einzigen Reise nach Italien Skizzen für ein Lebenswerk sammelten, überquerte Turner viele Male den Ärmelkanal. Seine Touren hätten ihm nicht nur Anregungen für die Arbeit geliefert, sondern seien ihm »eine Quelle höchsten Vergnügens« gewesen.137 Doch nicht nur das weist ihn als Touristen aus. Als junger Mann hatte er das Angebot abgelehnt, in der Funktion eines bestallten Künstlers an einer Expedition nach Athen teilzunehmen. Die Zeiten, als Maler wohlhabende Mäzene begleiteten, um für sie Städte, Landschaften, Ausgrabungen oder Architekturdenkmäler zu porträtieren, neigten sich ihrem Ende zu. Turner wurde ein Reisender auf eigene Faust. Die Sujets seiner Aquarelle und Skizzen waren nicht auf spezielle Bedürfnisse zugeschnitten, sondern entsprachen einem allgemeinen Interesse, das sich als »touristisches« erwies. So arbeitete er systematisch an jener Bilderwelt, die für andere Touristen ebenso informativ wie anziehend war. Noch war er aber auf eine schmale Käuferschicht angewiesen und fertigte Musterkataloge an, mit denen er potente Auftraggeber für eine finanziell lukrative Weiterverwertung zu gewinnen hoffte.138 Unterwegs war er auf sich allein gestellt ‒ Schiffspassagen, Postwagen und Übernachtungen mussten organisiert werden, was Turners Aufmerksamkeit naturgemäß auf die Reiseumstände richtete. Sie finden sich deshalb auch auf seinen Skizzen wieder ‒ Kutschenunfälle, Schiffe und Boote oder ein nach Aussage von Ruskin »häßliches Hotel«, mit dem der Maler eine Musterstudie des Dorfes Brunnen verdorben habe.139 Manche interessanten Orte waren allerdings schon längst bekannt. Der Tourist Turner griff deshalb selbst auf Vorbilder zurück, nutzte die neuesten 136
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Vgl. Wagner, Monika: William Turner, München 2011, S. 11 und S. 25. Auch später habe Turner zwischen den fast alljährlichen Auslandsreisen immer wieder Großbritannien bereist, zumeist, um Material für neue topografische Serien zu sammeln. Vgl. Herold, Turner auf Reisen, S. 14. Wilton, William Turner, S. 7. Ebd., S. 67. Ebd., S. 72. Wer denkt bei den verunfallten Kutschen nicht an die in den Fotoalben der 1950er und 1960er Jahre auftauchenden Bilder von verunglückten Autos?
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Reiseführer und übertrug aus ihnen ganze Passagen in sein Notizbuch oder stellte vor der Reise Miniaturkopien berühmter Ansichten her. Ein Freund, der auf Illustrationen für seine eigene Reisebeschreibung hoffte, versorgte ihn mit handgeschriebenen Notizen für die erste Reise nach Rom, empfahl Gasthäuser und Reisewege, nannte Preise, machte auf Sehenswertes aufmerksam. Das galt dem Touristen ‒ dem Maler auf der Jagd nach Sujets wurden Aussichten empfohlen, etwa der Ort mit dem besten Blick auf Genua. Man solle, so Milton, nicht vergessen, dass damals für Sehenswürdigkeiten außerhalb des Bereichs der Grand Tour nach Italien zwar Beschreibungen, aber kaum topografische Werke existierten. So sei vor 1820 »für Künstler auf dem Kontinent die Motivwahl eine Jagd der Irrungen und Wirrungen« gewesen. Für die Schweiz etwa gab es zwar Ansichten von Dörfern und Städten, aber nur wenige von den Bergen.140 Durch seine Reisen hat Turner die touristische Welt einerseits mit erweitert ‒ andererseits verblieb er in ihren Grenzen. Die Reise von 1819 folgte noch ganz den Vorgaben der Grand Tour, in deren geografischen Grenzen Turner im Übrigen lebenslang verblieb. Neapel markierte den südlichsten Punkt seiner Reisen, Frankreich den westlichsten und Deutschland, von kleinen Abstechern abgesehen, den östlichsten. Turners Malerei der Farben und des Lichts, des konturlos »Atmosphärischen« ‒ Kennzeichen seines besonderen Stils und scheinbar für die Abbildung touristischer Ziele gänzlich ungeeignet ‒ basierte auf einem genauen Studium des Faktischen, auf dem vor Ort erworbenen Augenschein. Der Künstler, ein »professioneller Tourist«, habe sich dabei mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch Europa bewegt und ebenso schnell »visuelle Notizen« angefertigt ‒ Bleistiftskizzen, die er ein »Memorandum« des Ortes nannte.141 Dafür wurden durch seine Ausbildung im Zeichenbüro eines Architekten und bei einem Architekturzeichner schon früh die Grundlagen geschaffen. Lebenslang füllte er Skizzenbücher mit topografisch genauen Reisebildern und Details und arbeitete an grafischen Darstellungen zur Illustration von Reiseberichten.142 Für eine Musterstudie der Stadt Luzern aus dem Jahre 1842 wählte er beispielsweise eine »buchstabengetreue« und im Gegensatz zum Abbild von Zürich ruhevolle Darstellung, die nach Meinung von Milton etwas 140 Ebd., S. 18. Folkloristischen Stiche von jungen Schweizerinnen, wie sie Franz Simon Meyer sammelte, vervollständigten das Angebot für Touristen. 141 Vgl. Wagner, William Turner, S. 26. Die Bezeichnung »professioneller Tourist« findet sich bei Gage, John: J. M. W. Turner. »A Wonderful Range of Mind«, London 1987. Zit. nach: Ebd., S. 27. 142 Vgl. ebd., S. 8.
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damit zu tun hat, dass Luzern schon eine Touristenstadt war, auserkoren, die Reisenden mit ihren alten Häusern und Wehranlagen, mit Seen und Bergen rings um die Rigi zu unterhalten.143 Als Übergangsfigur zur Moderne steht Turner für eine Gemengelage aus Altem und Neuem, die sich in seinem Schaffen eher als Mit- und Durcheinander, denn als Nacheinander präsentiert. Das zeigt sich besonders im Verhältnis zu den Arbeiten von Claude Lorrain, mit dem er sich lebenslang maß. Das ist insofern von Interesse, als dieser, so Wagner, anhand seiner Italien-Bilder jenes Landschaftsmodell geschaffen hatte, das die Wahrnehmungsweisen des Tourismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt habe.144 Für Jost ist es dagegen ein Viergestirn aus den Schwägern Poussin, Lorrain und Salvator Rosa, das die Vorbilder für die weitere Konstitution und Aneignung von »Sehenswürdigkeiten« anderenorts lieferte. Die vier Maler stehen dabei jeweils für einen bestimmten »Landschaftsstil«, etwa »Anmut«, »Größe und Erhabenheit« oder »erhabene Wildheit«.145 »Damit ist die (gemalte) Landschaft aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhang gelöst und frei geworden für die individuelle ästhetische Verfügbarkeit.«146 Doch nicht nur das, auf diesen, keine konkreten Landschaften darstellenden Bildern sei eine Natur »vorgemalt«, die von der Wirklichkeit nicht übertroffen werden kann und auf ein rein reflektierendes Verhältnis zur Landschaft abhebe.147 Die überlieferten Bildmuster der »›lieblichen Landschaft‹, des ›erhabenen Gebirges‹ oder der ›malerischen Ruine‹« waren in der bekannten dreistufigen Staffelung von Vordergrund, Mittelgrund (mit Motiv) und Hintergrund aufgebaut, wobei die Gestaltung des Vordergrundes das Bild gleichsam abriegelte. Der Rahmen verstärkte diesen Effekt ‒ statt Weite und Dynamik wird Abgeschlossenheit und Stillstand vermittelt. Sinnbildlich wird dieses Prinzip im Claude-Glas ‒ neben dem Fernglas ein weiteres optisches System, das lange
143
Zur »Touristifizierung« von Luzern vgl. Bürgi, Andreas: Eine touristische Bilderfabrik. Kommerz, Vergnügen und Belehrung am Luzerner Löwenplatz, 1850-1914, Zürich 2016. 144 Vgl. Wagner, Monika: Ansichten ohne Ende ‒ oder das Ende der Ansicht? Wahrnehmungsumbrüche im Reisebild um 1830, in: Bausinger, Beyrer, Korff, Reisekultur, S. 329. 145 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 82. 146 Ebd., S. 84. 147 Vor einiger Zeit wurde es den Besuchern der Berliner Nationalgalerie durch eine Installation ermöglicht, das bekannte Bild Caspar David Friedrichs Der Mönch am Meer virtuell zu betreten und sich zum Mönch zu gesellen.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
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vor der Fotografie von Reisenden und Malern genutzt wurde. Es ermöglichte die Reduktion der Natur auf »bildverwertbare Ausschnitte«.148 Turner brach, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur diese Wahrnehmungsund Gestaltungsweise auf, er setzte durch seine Malweise die Reise selbst als Bewegung in Szene.
6.4.2.
Eine Nordlandfahrt in den 1960ern
Im Juli 1967 unternahm Wanda Frisch eine Kreuzfahrt nach Norwegen. Reiseveranstalter war der Norddeutsche Lloyd Bremen. Diese Reise wäre gut geeignet, um, wie im vierten Kapitel geschehen, die Distinktionsbemühungen der Protagonistin, ihr im Urlaub realisiertes gesellschaftliches upgrade zu belegen.149 Touristische Nordlandfahrten haben eine lange Tradition und sind gut dokumentiert.150 Die überlieferten Quellen erlauben es, den Ablauf jeden Tages, 148 Märker, Peter; Wagner, Monika: Bildungsreise und Reisebild. Einführende Bemerkungen zum Verhältnis von Reisen und Sehen, in: Bopp, Mit dem Auge des Touristen, S. 10. 149 Dem Anlass angemessen, hat sie die originale Reisemappe mit allen ihr zur Verfügung gestellten Unterlagen aufbewahrt. So wissen wir, dass sie für den Aufenthalt in der Ersten Klasse 1850 DM bezahlen musste. Die Passagierliste gibt Auskunft darüber, wer ihre Reisegenossen waren. Angesichts der Tatsache, dass es sich um ein seltenes Dokument handelt, soll es ausführlicher behandelt werden. Die »Bremen«, mit der man unterwegs war, konnte 700 Kreuzfahrt-Passagiere aufnehmen und war mit 706 Gästen ausgebucht. An Bord waren 231 Ehepaare, doch nur wenige minderjährige Kinder reisten mit (es waren sieben). Die Frauen waren mit 408 Personen eindeutig in der Überzahl, 76 von ihnen wurden mit »Fräulein« angesprochen, darunter natürlich auch Wanda Frisch und ihre Reisebegleiterin. Einige der »Fräulein« begleiteten die Eltern (siebzehn), die Mutter (acht) oder den Vater (fünf) und waren sicher jung. Die Übrigen könnten, geht man nach den Vornamen, durchaus im Alter von Wanda Frisch gewesen sein, ebenso wie die rund 100 als »Frau« betitelten weiblichen Passagiere, die ebenfalls ohne Ehepartner reisten. Ihnen standen nur sechzig unverheiratete Männer gegenüber. Altersmäßig und auch als unverheiratete Frau konnte sich Wanda Frisch auf der »Bremen« also gut aufgehoben fühlen. Als kleine Angestellte befand sie sich zwar eher am unteren Rand der sozialen Hierarchie an Bord, aber ihrem Selbstverständnis nach dürfte sie sich in den richtigen Kreisen gewähnt haben. Fast jeder fünfte Reisende hatte einen Doktortitel, auch neun der Frauen und fünf der »Fräulein«. 150 Stellvertretend sei hier nur die im Jahre 2010 in Kiel veranstaltete Ausstellung zum Thema erwähnt. Vgl. Kinzler, Sonja; Tillmann, Doris (Hg.): Nordlandreise. Die Geschichte einer touristischen Entdeckung, Kiel 2010. Allerdings wird die Zeit nach 1945 sehr knapp behandelt. Nur ein Aufsatz beschäftigt sich mit Kreuzfahrten, ist aber auf die Gegenwart fokussiert.
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Die Touristin Wanda Frisch
die Ausflugsziele, das Unterhaltungsprogramm, die Mahlzeiten und besondere Höhepunkte wie einen Cocktailempfang am Beginn der Reise nachzuvollziehen. (Abb. 21)
Abb. 21: Auf der »Bremen«
Doch interessiert hier nur eine kleine Fotoserie, aus der Wanda Frisch ein Motiv ausgewählt hat, das im Großformat den Reigen von siebenundsechzig Bildern eröffnet, einem Gemisch aus Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Farbfotos.151 Ausnahmsweise enthält das Fotoalbum noch weitere Dokumente ‒ mehrere »Landausflugs-Karten« des Reiseveranstalters und fünf offizielle Fotos. Das Verfahren, eine als besonders ausdrucksstark empfundene Aufnahme von prominenten Objekten an den Anfang des jeweiligen Fotoalbums zu 151
Sie zeigen die ganze Reise, angefangen von einer Übernachtung im »Park-Hotel« Bremen einschließlich einer Stadtbesichtigung, das Einschiffen, sämtliche Reiseziele bis zum Nordkap, die Polar-Taufe, den Besuch eines Lappen-Lagers bei Hamnes. Eines der dort gemachten Fotos könnte vorzüglich die Entfremdung zwischen Reisenden und »Bereisten« belegen: Im Vordergrund posiert ein älterer Lappe in bunter Tracht mit einem Rentier am Seil, beobachtet von einer Touristin im grauen Reisekostüm mit Regenschirm und Handtäschchen. (Allerdings könnte das Foto auch ironisch gemeint gewesen sein.) Doch nicht nur die Samen mussten für Folklore herhalten, eine »Kronenbraut« samt Begleiter hatte sich auf der Rückfahrt nach Bergen für die Touristen in Szene gesetzt. Für die Unterhaltung der Gäste an Bord sorgten Stars wie Paul Kuhn, das Medium-Terzett und das »Tanzpaar Alisch«.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
setzen, ist, wie erwähnt, eines der von Wanda Frisch häufig gewählten Gestaltungsmittel.152 Hier ist es ein Foto vom allbekannten Wasserfall Die sieben Schwestern im Geirangerfjord. (Abb. 22) Überliefert ist neben weiteren Bildern auch eine Ansichtskarte (Abb. 23).153 Der auf dieser Karte aus der Vogelperspektive fotografierte Ausschnitt entspricht dem von Abb. 22. Nur ist diese Aufnahme vom Schiff aus horizontal nach vorn, auf das Kommende blickend, ausgerichtet. Der Unterschied zwischen dem »Ideal« und der Wirklichkeit könnte nicht größer sein. Bei Frischs Aufenthalt war das Wetter jedenfalls schlecht, der Himmel verhangen und wie der Text auf der Rückseite informiert, war es schon Abend, als man den Fjord befuhr. Das die Szenerie erheiternde Sonnenlicht fehlt deshalb auf ihren Fotos ebenso wie die sich im Wasser spiegelnden Wolken. Nicht nur wegen der Schwarz-Weiß-Darstellung wirkt das Ganze bedrückend und düster. Die Masten auf ihren Bildern zeugen von den technischen Anstrengungen, die für eine solche Fahrt nötig sind, während das aus der Entfernung aufgenommene Schiff auf der Ansichtskarte scheinbar schwerelos und »natürlich« wie ein riesiger Wasservogel seine Bahn zieht. Außerdem ermöglicht die Vogelperspektive einen größeren Überblick über die kommenden Abschnitte der Fahrtroute. Welche Überlegungen mögen die Auswahl des Titelbildes bestimmt haben? Die berühmten Wasserfälle hatte das Schiff bereits passiert. Die Aufnahme zeigt einen Rückblick. Möglicherweise interessierte die Fotografin der Gegensatz zwischen den aufgereihten Halterungen der Beiboote, die in ihrer Anordnung an Maschinen in einer Fabrik erinnern und der umgebenden wilden Landschaft. Ein romantischer Nebelschleier entpuppt sich als Auspuffwolke, belebt aber das Bild und deutet Bewegung an. Ein »ideales« Foto wie auf der Ansichtskarte konnte so nicht erzielt werden, doch wurde es vielleicht auch gar nicht angestrebt. »Die Fahrt ist wirklich ein Erlebnis«, schrieb Wanda Frisch an ihre Eltern ‒ »die Fahrt« und nicht »der Geirangerfjord« oder »die Wasserfälle«. Die Wortwahl könnte andeuten, dass der Wahrnehmungsmodus der Bewegung durch eine interessante Landschaft, der Wechsel der Anund Aussichten maßgeblich waren. (Vielleicht war das ein Grund, warum die 152 153
Mandel berichtet von ähnlichen Praxen ihrer Protagonisten. Vgl. Mandel, Wunschbilder werden wahrgemacht, S. 179. Sie enthält folgenden Text: »Liebe Eltern! nach einer herrlichen Fahrt durch das Land sind wir am Abend noch durch diesen Fjord gefahren. Die Fahrt ist wirklich ein Erlebnis. Heute sind wir ‒ siehe nächste Karte. Viele liebe Grüsse Eure Wanda.« Der Inhalt verweist auf ein Verfahren, das Wanda Frisch bei besonderen Reisezielen anwandte: Es wird ein kleines Reisetagebuch in Form von Ansichtskarten geführt.
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Abb. 22: Geirangerfjord 1967; Abb. 23: Postkarte Geirangerfjord
Fotografin die zur Fortbewegung nötige Technik nicht aus dem Bild verbannt hat.) (Abb. 24)
Abb. 24: Titelfoto ›Geirangerfjord‹
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Die Möglichkeiten eines solchen Erlebens, die Ursachen seiner Legitimität und die Modi seiner Fixierung auf Bildern (gemalten oder fotografierten) entfalteten sich einerseits parallel zur touristischen Reise und sind andererseits maßgeblich für deren Ausgestaltung. Auch das kann an Turner beispielhaft gezeigt werden. Er organisierte seine Bilder entsprechend dem Reisemodus. Ab den 1820er Jahren habe er zunehmend »dynamischere Bildmuster« bevorzugt, etwa zur Gestaltung seiner Bildserie »Rivers of France«. Thematisiert werden nun die Reisewege zu Wasser und zu Land selbst, die scheinbar ziellos in die Ferne führen. Die Betrachter der Bilder können sich als Reisende fühlen, die auf diese Weise eingeladen werden, die in die Tiefe des Bildes führenden Wege zu benutzen. Doch dazu bedarf es eines bestimmten Wahrnehmungsmodus’. So sei es gerade nicht die Eisenbahn, sondern die Flussschifffahrt gewesen, die diese Dynamisierung des Reisebildes hervorgebracht habe. »Zwar konnte der Eisenbahnpassagier […] der Ansichten nicht mehr habhaft werden ‒ das alte Bildmuster wurde untauglich ‒ aber der Blick aus dem Zugfenster gestattete ebenso wenig wie der aus dem Kutschenfenster, die Reise als Weg zu erleben. Nicht die Zielrichtung der eigenen Bewegung war aus dem Coupéfenster zu erleben, sondern das lediglich zu schnell laufende endlose Band einer um ihren Vordergrund beschnittenen Folge von Ansichten.«154 Dagegen habe der Schiffsreisende vom Bug aus das Vordringen in neues Gelände erspähen und wie im Film daran teilhaben können.155 Das hatte Auswirkungen auf die Darstellungsweise der am Ufer gelegenen Sehenswürdigkeiten. Sie finden sich marginalisiert an den Rand gerückt, nur noch in nicht identifizierbaren Konturen angedeutet, wodurch die Sogwirkung in die Tiefe noch verstärkt wird.156 »Anstelle der ausgegrenzten und fixierten Ansichten, durch die sich der touristische Blick die durchreiste Gegend stationenweise einverleibte, trat das durch Wetter und Atmosphäre zeitlich definierte Wahrnehmungserlebnis während der Fahrt.«157 Nun war auch die Imaginationskraft der Reisenden gefragt. Die Bilder einer simulierten Schiffsreise vom Bug aus suggerierten zudem durch ihren meist »niedrigen Ausgangspunkt die Fortbewegung als mühelos154
155 156 157
Wagner, Ansichten ohne Ende, S. 333. Zahlreiche zeitgenössische Karikaturen setzten sich mit diesem Problem auseinander. Vgl. dazu Abb. 4 und 6 in: Märker, Wagner, Bildungsreise und Reisebild, S. 7-17. Vgl. Wagner, Ansichten ohne Ende, S. 334. Vgl. ebd. Ebd., S. 335.
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horizontales Gehen«.158 Prototypisch für diesen Perspektivenwechsel war die touristische Erschließung des Rheins, genauer des Mittelrheins, durch englische Reisende. Diese hätten nun auf dem Fluss praktiziert, was ihnen schon aus Großbritannien bekannt war: einen zur Landschaft gestalteten Park mit vielen reizvollen Ausblicken zu durchwandern.159 Die Geschwindigkeit des Bootes ermöglichte es zunächst, die Vorstellung des Gehens beizubehalten und die Landschaft war sogar »von Natur aus« für dessen Sehgewohnheiten eingerichtet. In ihr verschmolzen schroffe Felsen mit verfallenden Gemäuern und an jeder Flussbiegung erneuerte sich dieser Eindruck.160 Dafür muss man sich jedoch nicht an den Bug stellen und vorwärts blicken. Durch das gemächliche Tempo genoss man, seitwärts schauend »die rheinische Landschaft als eine Abfolge von in sich geschlossenen Landschaftsbildern« und zwar im Stile der barocken Klassiker.161 Die den »romantischen« Flussabschnitt einleitende und damit paradigmatische Burgruine Drachenfels zog aller Blicke auf sich und verstellte in diesen frühen Darstellungen den Blick auf Kommendes. Turner bereiste den Rhein erstmals im Jahre 1817 und verfolgte eine neue Bildregie, die des Blickwechsels. Vom Schiff aus wurden sowohl der Verlauf des Flusses wie sich bietende Aussichten am Ufer gezeigt, wie umgekehrt vom Land aus Perspektiven auf den Fluss.162 Er nahm die Position des Touristen ein, der auf dem Schiff reist, aber auch Landausflüge macht und dies zu unterschiedlichen Tageszeiten und unter wechselnden Wetterverhältnissen. Die Betrachter konnten sich mit ihren Reiseerlebnissen hier wiederfinden.163 158 Wagner, William Turner, S. 28. 159 Der Begriff des »Wasserwanderns« mag diese Situation bis heute festhalten. 160 Deshalb kann dieses Wahrnehmungsmuster auch auf einen Spaziergänger oder Wanderer übertragen werden. So werden auf Turners Aquarell Die Seine zwischen Mantes und Vernon (1832) zwei parallel verlaufende Reisewege gezeigt ‒ der Fluss und eine an seinem Ufer entlangführende Straße. Die Betrachterin fühlt sich aufgefordert, in dieses Bild hineinzutreten und es zu durchwandern, auf kein Ziel gerichtet, sondern allein dem Weg folgend. Dasselbe könnte ihr passieren, wenn sie auf der Seine den Dampfer benutzen und sich an seinem Bug postieren würde. 161 Fischer, Ludger; Früh, Gustl: Seit wann ist es am Rhein so schön? In: Bopp, Mit dem Auge des Touristen, S. 105. Die Autoren beziehen sich auf den 1791 erschienenen, ersten illustrierten Reisebericht von John Gardnor, den auch Turner auf seiner Reise im Jahre 1817 mit sich führte. Siehe ebd. Auch Gardnor hatte auf seinem Bild des Mäuseturms bei Bingen eine Perspektive von der Mitte des Flusses ausgewählt. Sogar ein Boot ist abgebildet, aber es wird als Barriere benutzt, um den Blick auf das Motiv am Ufer zu lenken. Vgl. Wagner, Ansichten ohne Ende, S. 334. 162 Vgl. Fischer, Früh, Seit wann ist es am Rhein so schön, S. 105. 163 Ebd., S. 106.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
Nicht zuletzt wegen dieser »touristischen« Ausdrucksweise waren seinen Grafikfolgen zahlreiche Auflagen beschieden.164 Mit der gemächlichen Besichtigungstour war es nach einigen Jahren Dampfschifffahrt jedoch vorbei. Während in manchen Oramen Bilderfolgen vor dem unbewegten Besucher abgerollt wurden, rief das schnelle Schiff beim Betrachter einen ähnlichen Eindruck hervor.165 Der permanente Wechsel optischer Reize am Ufer war nicht mehr rezipierbar. Hier erweist sich die Position am Bug einmal mehr als Rettung: Mögen, wie bei Turner, die Einzelheiten am Ufer verschwimmen, es bleiben das Fahrgefühl, die Antizipation des Kommenden und damit die Möglichkeit der Auswahl ‒ etwa eines fotowürdigen Motivs, das man am Ufer herannahen sieht. Auch das nicht zum Titelbild avancierte Foto von Abb. 22 ist vom Bug aus aufgenommen. Fast sieht es dort aus wie auf dem Rhein ‒ der nicht sehr breite Wasserweg wird von steilen Bergwänden gesäumt, die allerdings nicht von Burgruinen gekrönt sind. Stattdessen stürzen Wasserfälle die Tiefe und man fährt nicht durch eine Kultur-, sondern eine Naturlandschaft. Im Prinzip jedoch scheinen die Turners Innovationen wie für sie gemacht. Dies festgehalten rücken aber auch zwei gewichtige Unterschiede in den Blick. Während Turner einen künstlerischen Weg gefunden hatte, die Bewegung der Reise sichtbar zu machen und dem Betrachter eindringlich zu suggerieren, kann man anhand des Fotos zwar annehmen, dass es während der Fahrt aufgenommen wurde, sehen kann man es aber nicht. Anders als auf der Ansichtskarte, wo die Bewegung des Schiffes durch den Wellenschlag augenscheinlich wird, könnte das Bild von Wanda Frisch auch von einem vor Anker liegenden aufgenommen worden sein. Dagegen spricht allerdings, wie
164 Wie sehr sie die Seh-Erwartungen zumindest der englischen Reisenden im 19. Jahrhundert prägten, mögen Äußerungen von Edwards belegen: »Diejenigen, die, so wie ich es tat, in der Erwartung den Nil hinaufreisen, wie bei Turner prächtige Festspiele in Purpur, Feuerrot und Gold zu sehen, werden wie ich enttäuscht sein. Denn ihr TurnerFestspiel kann nicht zustande gebracht werden ohne solche Zutaten wie Wolken und Wasserdampf, wie sie in Nubien völlig unbekannt sind und in Ägypten äußerst selten vorkommen.« Edwards, Tausend Meilen auf dem Nil, S. 85. 165 Vgl. Fischer, Früh, Seit wann ist es am Rhein so schön, S. 107. Das erste, den Rhein im Jahre 1816 befahrende Dampfschiff kam aus London und fuhr bis Köln. Dank der Pferde, die bis dahin die Boote längs des Flusses ziehen mussten, hatte die gesamte Fahrt sechs Wochen gedauert, nun seien es vier Tage gewesen. Im Jahre 1827 wurde der regelmäßige und von Turner häufig genutzte Verkehr mit Dampfschiffen zwischen Köln und Mainz eingerichtet. Vgl. Herold, Turner auf Reisen, S. 10.
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erwähnt, die Abgaswolke. Die Bewegung erschließt sich bei ihrem Verfahren zudem aus der Aufeinanderfolge einzelner Fotos, die das Fortschreiten des Schiffes in der Landschaft belegen. Blickt man mehrmals schnell vom vorausschauenden Foto (Abb. 22) zum rückblickenden (Abb. 24), kann man leicht die Vorbeifahrt an den Sieben Schwestern imaginieren. Fototheoretikern ist das Phänomen wohlbekannt. Die Momentaufnahme des Fotos, die dort vorgenommene »Fixierung eines Augenblicks verwandelt diesen zugleich in einen fortwährenden, verewigt ihn, hält ihn ein für alle Mal fest.«166 Von hier bezieht das Foto schließlich auch einen Teil seiner Glaubwürdigkeit, die es befähigt, als Erinnerungsfoto an die Urlaubsreise zu fungieren. Die Betrachter sind außerdem in der Lage, sich angesichts der jedes Bild umgebenden Horizonte mit zu vergegenwärtigen, dass sie ein bewegtes Objekt darstellen, zumal, wenn sie selbst Teil dieser Bewegung waren und sich daran erinnern können, wie schwierig es war, im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Eine Lösung zu suchen, um ein bewegtes Objekt, etwa einen Skifahrer, auf einer Aufnahme zu fixieren, blieb dem Diskurs der Profis vorbehalten.167 An ihm hatte Wanda Frisch keinen Anteil (sie greift explizit lediglich das Thema »Gegenlichtaufnahme« auf). Sie hat sich auf das additive Verfahren der Weltaneignung verlassen, das für die Aufklärung kennzeichnend war und, neben dem Blick ins Weite, in einer Kette von Einzelfotos sehenswürdiger Objekte resultiert. So steht ihr Titelfoto einerseits in der Tradition jener Wahrnehmungsumbrüche, für die im aufkommenden Industriezeitalter die materiellen und kulturellen Voraussetzungen geschaffen wurden. Andererseits scheint es ihm an einer innovativen Verwendung des Mediums Fotografie zu ermangeln, um ausdrücken zu können, was Maler wie Turner entwickelt haben. Doch hatte dessen Verfahren auch einen möglichen Nachteil. Wenn die den Weg säumenden Sehenswürdigkeiten im Rausch der Geschwindigkeit nicht identifizierbar verschwimmen, dann sind sie für die Dokumentations- und Erinnerungsarbeit der fotografierenden Touristen unbrauchbar. Auch das mag eine Botschaft von Karikaturen des 19. Jahrhunderts gewesen sein, die den Blick aus schnellen Fortbewegungsmitteln zum Thema haben.
166 Breckner, Sozialtheorie des Bildes, S. 254. 167 Vgl. aus der Zeit des Beginns der Reisekarriere von Wanda Frisch: Fanck, Arnold: Zur Frage: Bewegung im Photo, in: Photo-Magazin (1951) 1, S. 25-28 oder über einen Fotografen namens Lothar Rübelt, in: Photo-Magazin (1951)2, S. 42-47.
6. Schwierige Quellen: Private Fotoalben und Urlaubsfotos
6.4.3.
Die Urlauberin als Flaneuse
Als die bereits erwähnte Orientreisende Amelia Edwards mit ihrer Lebensgefährtin Lucy Renshaw am Ende des Jahres 1873 auf der Flucht vor dem schlechten Wetter an der nördlichen Mittelmeerküste in Kairo auftauchte, hatten beide schon einige abenteuerliche Reisen absolviert, etwa in die damals noch kaum erschlossenen Dolomiten. Mag es an diesen Erfahrungen liegen, die ihr Selbstbewusstsein gesteigert hatten und auch am Alter ‒ die vitale Stadt erkundeten sie im Modus der Flaneuse. »Die Engländerinnen lassen sich treiben, und dieses Umherbummeln bevorzugen sie auch, wenn es darum geht, touristische Sehenswürdigkeiten kennenzulernen. Sie haben Zeit und Muße, müssen sich nichts beweisen, kein Programm absolvieren […]. So flanieren sie durch die Straßen und Gassen […], lassen sich von der Menschenmenge treiben, von Eselskarren zur Seite scheuchen, und entdecken vieles eher ›am Rande‹, aber gerade deswegen mit umso mehr Enthusiasmus und Neugier […].«168 Doch genossen sie mit Einheimischen und anderen Touristen auch die ausgewiesene Flaniermeile Kairos, die Schubra-Straße. »Zerlumpte Fellachen auf erschöpften Eseln traben Seite an Seite mit eleganten Attachés auf weit ausschreitenden Araberpferden, während Touristen in Mietkutschen, jüdische Bankiers in einwandfreien Phaetons, verschleierte Haremsdamen in Broughams, die in London gebaut wurden, italienische Ladenbesitzer in lächerlich eleganten Aufmachungen, würdevolle Scheichs auf prächtigen Eseln, Offiziere in Waffenröcken mit Quasten und Tressen und englische Mädchen mit hohen Hüten […] vorübergehen und dann wieder vorbeikommen.«169 Flanieren ist ein besonderer Modus des Spaziergangs und der (!) Spaziergänger »eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht« ‒ so der Untertitel einer phänomenologisch orientierten Darstellung zum Thema.170 Der Flaneur wird hier neben dem »Streuner« unter die urbanen Spaziergänger gezählt ‒ anders dagegen der »Spaziergänger in seiner Landschaft« wie er weiter oben
168 Strohmeyr, Armin: Die leuchtenden Länder. Reisende Frauen erkunden den Orient, München 2017, S. 148 und S. 156f. 169 Edwards, Tausend Meilen auf dem Nil, S. 41f. 170 Weppen, Wolfgang von der: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht, Tübingen 1995.
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begegnete auf seinem Weg durch die als betretbare Gemälde gestalteten englischen Parks oder als Passagier auf gemächlich dahin gleitenden Flößen und Booten. Man denke auch an die vielfach beschriebenen Kur-Promenaden in den Badeorten und ihre Rolle bei der Konstitution einer Badegesellschaft. Es waren vor allem Männer, die diesen Lebensstil praktizierten, literarisch formulierten wie philosophisch deuteten und damit Geschichte schrieben.171 Ihnen werde, so von der Meppen, »der Spaziergang […] zur Berauschung in der Nüchternheit, zur unmittelbaren Einbezogenheit bei skeptischer Distanz, zur romantischen Attitüde in urbaner Gleichgültigkeit.«172 Das rekurriert auf Benjamin, der allerdings allem Überschwang in der Charakterisierung des Flaneurs kritisch gegenüberstand.173 Als »gesellschaftliche Grundlage der flânerie« macht er den Journalisten aus, der seine Arbeitskraft auf ganz besondere Weise zu Markte trägt. »Die zur Produktion seiner spezifischen Arbeitskraft gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist in der Tat relativ erheblich; indem er es sich angelegen sein läßt, seine Mußestunden auf dem Boulevard als einen Teil von ihr erscheinen zu lassen, vervielfacht er sie.« Sie werde gleichsam auf dem Boulevard öffentlich ausgestellt.174 Eine privilegierte Situation, die noch dadurch gesteigert werde, »daß der Ertrag des Müßigganges wertvoller (?) sei als der der Arbeit.«175 Zudem sei der Flaneur ein »Beobachter des Marktes. […] Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalismus.«176 Freilich trifft auch zu: »Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch die Straßen marschierte.«177 Doch nicht nur den Flaneuren, sondern auch den Touristen geriet die Stadt »zu einem visuellen Gesamtensemble, einem großen Schau-Spiel«, deren rasche Bilderfolge »Schwindel« erregen konnte.178 Und nach wie vor lassen sie auch, im Straßencafé sitzend, die Men171
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Diesen Fokus kritisiert Sauer in einem Artikel, in dem es um die Marginalisierung des weiblichen Blicks in der Literaturgeschichte geht: Lea Sauer: Sie schauen, immer schon, in: der Freitag (2019)34 vom 22. August, S. 11 So auch Löffler, Klara: Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird. Beobachtungen zu einer Form zeitgenössischer Schaulust, in: Köck, Reisebilde, S. 237. Weppen, Wolfgang von der, Der Spaziergänger, S. 99f. Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Band V 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 541. Ebd., S. 559f. Ebd., S. 567. Ebd., S. 537f. Ebd., S. 525. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 130. Seine Protagonisten erwähnen besonders »Schauläden«, Cafés und das Gewirr von Menschen aus unterschiedlichen
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ge der anderen Urlauber wie der Einheimischen an sich vorbeiziehen oder beobachten sie am Nachbartisch. Da man auf die anderen angewiesen ist, um zum Betrachter werden zu können und sich selbst in Szene zu setzen, sind diese Situationen wahrscheinlich eine der wenigen vergnüglichen Gelegenheiten einer Begegnung mit den »Massen« anderer Reisender. Allerdings ist es nicht einfach, Touristen als Flaneure zu legitimieren. Kulturkritisch werde, so Löffler, »zwischen Beobachten und Flanieren einerseits und Schauen und Konsumieren andererseits« unterschieden, zwischen bloßem Zeitvertreib und dem einsamen Erleben des echten Müßiggängers.179 Einem Touristen und zumal einer Touristin kann, das versteht sich, niemals der Habitus einer intellektuellen Figur zugesprochen werden, die das Flanieren zum ästhetischen Projekt, zur Weltanschauung erhoben habe und in ihrem ganzen Dasein zu verkörpern suche.180 Der Flaneur »bummelt« nicht und versenkt sich nicht wie die Touristen neugierig oder gar kauflustig in Schaufensterauslagen. Allerdings formuliert Benjamin seine Kritik anders. »Aber die großen Reminiszenzen, der historische Schauer ‒ sie sind ein Bettel, den er (der Flaneur) dem Reisenden überläßt, der da glaubt, mit einem militärischen Paßwort den genius loci angehen zu können.«181 Der Flaneur dagegen bewohne mit den Einheimischen die Straßen der Stadt (wobei die Passage den Salon abgebe). »Diesem Kollektiv sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie dem Bürger ein Ölgemälde.«182 Eine auf diese Weise begründete Differenz zwischen dem Flaneur und den Reisenden ist schwer zu widerlegen. Zwar zeigen auch die Urlauber mit ihren Spaziergängen, ihren Beobachtungen und dem Verweilen im Café an, dass sie (mal) Zeit haben und das Zeithaben genießen. Doch sie tun es in ihrer knappen Freizeit. Dafür interessiert sich Löffler aus dem Blickwinkel einer Kultivierung des Reisens im Alltag und auf eine »Form zeitgenössischer Schaulust« abhebend. »Dieses Bild vom entspannten Zurücklehnen und vom lustvollen Schauen gehört hinein in das reichhaltige Tableau jener Alltagsmythen, die vom besseren Erdteilen, die im Modus »ziellosen« Herumbummelns entdeckt und genossen wurden. Vgl. ebd., S. 130ff. 179 Löffler, Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird, S. 237f. 180 Vgl. ebd. Aus der unübersehbaren Literatur zum Thema sei hier nur auf den Überblick von Neumeyer hingewiesen: Neumeyer, Harald: Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999. 181 Benjamin, Gesammelte Schriften, S. 524. 182 Ebd., S. 533.
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Leben in südlichen Städten erzählen.«183 Einerseits eine der »beliebtesten aller touristischen Übungen« sei das Sitzen und Beobachten auch Teil von Alltagsroutinen in der Freizeit jenseits des Tourismus, wodurch man »nicht nur den Alltagen der Anderen, sondern auch unseren eigenen immer näher« rücke.184 Man sei so Tourist außerhalb des Urlaubs und nutze dabei, was man auf Reisen gelernt habe, wobei das Schauen in die Nähe teilnehmender Beobachtung rücke.185 In den letzten Jahren haben auch Tourismuswissenschaftler solchen Phänomenen ihre Aufmerksamkeit zugewandt und dies in zweierlei Weise. Bisher hatte gegolten, dass die touristischen Zonen der Städte als Gegenwelten zum Alltag funktionieren, einmal für die Urlauber, die in diesen Bereichen von ihrem eigenen Alltag Abstand nehmen können und zwar, wie immer wieder betont wurde, als gehetzte Konsumenten entsprechender Angebote. Andererseits würden diese Zonen auch zu Gegenwelten für die Einheimischen, die hier höchstens arbeiteten und woanders leben. Nun soll es, wie Forschungen zum new urban tourism betonen, zu Verschränkungen kommen. So nutzten auch Einheimische die touristischen Plätze, nicht zuletzt, um Freunde und Verwandte dorthin zu führen und ihnen einen vermeintlichen Blick in ihren Alltag zu gewähren, während Touristen zum Lifeseeing im Modus des Gehens und Sehens jene Bereiche aufsuchten, in denen die Stadtbewohner ihren normalen Alltag verbringen.186 Das gilt nicht zuletzt für städtische Mußeplätze wie Parks, Museen, Restaurants, Läden. Damit wird der Vorstellung des von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hastenden städtischen Touristen eine Gegenwelt der Muße eröffnet, die in Reiseführern beworben wird und nicht zuletzt dazu dient, in Ruhe einen Blog im Internet absetzen zu können oder über Instagram Urlaubsfotos zu kommunizieren.187 Allerdings hatte 183 Löffler, Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird, S. 229. 184 Ebd., S. 230. 185 Vgl. ebd., S. 232. Wöhler diagnostiziert eine »Touristifizierung des Alltags«, in die die »Veralltäglichung des Tourismus« münde. Wöhler, Karlheinz: Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden 2011, S. 32. 186 Vgl. Saretzki, Anja: Städtische Raumproduktion durch touristische Praktiken, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 10(2018)1, S. 7-27 187 Vgl. Kramer, Clara S.; Winsky, Nora; Freytag, Tim: Places of Musse as Part of New Urban Tourism in Paris, in: Frisch, Thomas; Sommer, Christopher; Stoltenberg, Luise; Stors, Natalie (Hg.): Tourism and Everyday Life in the Contemporary City, London 2019 sowie Kramer, Clara Sofie: Die sprachliche Konstruktion von Mußeräumen im Städtetourismus am Beispiel von Florenz, Italien, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft
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schon Marcel Proust davor gewarnt, in einer »Epoche der Hast« davon auszugehen, dass damit die Kontemplation verschwinden müsse. Ausgerechnet das Auto eröffne, wie einst die Kutsche, »den Touristen von neuem die Möglichkeit, vor verlassenen Kirchen zu verweilen.«188 Doch zurück zu Wanda Frisch und in die Zeit vor den digitalen Medien und dem Internet. Vor allem die Überlegungen von Löffler sollen nun an ihrem Beispiel erprobt werden. Frisch besuchte auch in ihren letzten Reisejahren häufig angesagte Städte. In ihrem letzten Fotoalbum aus den Jahren 1996-2003 sind Aufenthalte in Barcelona (1996), Nizza und Cannes (1998), Mailand (1999), Amsterdam und Dresden (2000), Bologna (2001), Helsinki (2003) dokumentiert. Dazwischen bereiste sie vorwiegend die Nordseeküste.189 Die überlieferten Fotoserien verkörpern eine eigenartige Dynamik ‒ die einer Spaziergängerin, der städtische Szenerien wichtiger sind als kanonisierte Sehenswürdigkeiten. Letztere werden wie im Auftauchen und Verschwinden abgelichtet und häufig nicht aus der »besten«, der Ansichtskarten-Perspektive. Alles scheint im Vorübergehen aufgenommen ‒ das gilt im Übrigen auch für die Fotos von den Besuchen an der Nordsee. Es fällt auf, dass sie nicht an der peniblen systematischen Erschließung der Urlaubsorte festgehalten hat, wie sie weiter oben beschrieben wurde. Die Fotografin schien dort weniger subjektiven Intentionen zu folgen, als einem verinnerlichten Kanon objektiver Anforderungen genügen zu wollen. Die Wertschätzung einer genauen Topografie blieb jedoch erhalten. Als Flaneuse entwickelte Wanda Frisch ein gewisses, fast ethnologisches Interesse an Alltagsszenen mehr oder weniger kurioser Art, wie es auch schon für ihre »Schwester im Geiste«, für die Versicherungssekretärin Elsa Wiesner beschrieben wurde. In Lugano mischte sich diese unter die abends am Kai flanierende Menge der Bürger und (englischen) Touristen. In Genua stellte sie fest, dass »die Italiener« immer »auf dem Bummel sind, die haben viel
10(2018)1, S. 29-47. Etwas allgemeiner: Pechlaner, Harald; Volgger, Michael: Sehnsucht nach der Zeit: Aufmerksamkeit als Reisemotiv? In: Dies. (Hg.): Die Gesellschaft auf Reisen ‒ Eine Reise in die Gesellschaft, Wiesbaden 2017, S. 69-92. Nicht zuletzt die angeführten und beliebig erweiterbaren historischen Beispiele wie auch die Überlegungen von Löffler sollten Anlass sein, hier geschichtlich nicht zu kurz zu greifen, um wirklichen Veränderungen auf die Spur zu kommen. 188 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7, Frankfurt a.M. 2004, S. 291. 189 Dieses 16. »Album« besteht aus einem schlichten, gefalteten Karton, in den die wie immer sorgsam beschrifteten Fotos, auf Pappe aufgeklebt, eingelegt sind.
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Zeit.«190 Doch das Bummeln, Schauen und Fotografieren war der Modus, in dem sie sich auch selbst bewegte, wenn sie allein war. Sie ließ sich treiben, verlief sich zuweilen und war zufrieden, wenn sich eine schöne Aussicht bot oder die Einheimischen ein sehenswertes Schauspiel lieferten. Seine Begründung könnte dieses Verhalten im tourismusgeschichtlich beobachteten wachsenden Interesse am Pittoresken finden, durch das eher Sensationslust als Wissensdurst bedient werden soll. Andererseits war die soziale Fallhöhe zwischen einer kleinen Angestellten aus Deutschland und den Einheimischen, die in den italienischen Städten die Straßen bevölkerten, auch wiederum nicht so groß, als dass man sich nicht in sie hineinversetzen wollte und konnte. In den 1990er Jahren hatte sich diese Fallhöhe weiter verringert ‒ die Europäer besuchen sich gegenseitig als Touristen. An Fotos von Wanda Frisch aus Barcelona, Bologna und Helsinki soll nun erläutert werden, wodurch die geschilderten Eindrücke evoziert werden. Vom Aufenthalt in Barcelona sind elf Fotos überliefert.191 Eine kleine Serie von drei Bildern zeigt den Anfang, die Mitte und das Ende der Flaniermeile »La Rambla« (Abb. 25, 26, 27) Auf der ersten Aufnahme scheint die Fotografin ihren Spaziergang nur für den Moment des Knipsens unterbrochen zu haben. Das Foto zeigt, was da kommen wird. Es ist nicht auf Gebäude am Rand, sondern die begegnenden Menschen fokussiert. Eine Frau, sicher keine Touristin, überholt die Protagonistin, andere Menschen queren oder kommen näher ‒ hier bewegen sich alle, manche als Spaziergänger, andere steuern anscheinend eilig und geradewegs auf ein Ziel zu. Der AnsichtskartenStand im Vordergrund des ersten Fotos deutet an, dass man hier mit Touristen rechnet. Beim Durchqueren von »La Rambla« kann einem Seltsames begegnen, etwa ein dekorativer, eine Lampe haltender Drache, der vermutlich für ein China-Restaurant wirbt. Der Spaziergang endet auf einem Platz, der vom Columbus-Denkmal dominiert wird. Auch hier: Gewusel von Leuten, von Touristen, die das Denkmal betrachten und Einheimischen, die zum Bus wollen. Wurde hier auf die Dynamik einer Spaziergängerin abgehoben, die die Betrachter der Fotos an ihrem Weg teilhaben lässt, belegen Aufnahmen aus Bologna und Helsinki das Interesse am Alltag der Bereisten. Vom Besuch in
190 Berwing, Roser, Reisetagebücher, in: Berwing, Köstlin, Reise-Fieber, S. 190. 191 Die Reise fand vom 22.-27.8.1996 statt. Neben Barcelona wurden allerdings noch andere Orte aufgesucht. Die genaue Aufenthaltsdauer ist deshalb nicht zu ermitteln, dürfte aber zwei Tage betragen haben.
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Abb. 25, 26, 27: La Rambla 1996
Bologna (im Juni 2001) existieren zwanzig Fotos, von denen die Meisten markante Plätze oder Straßen mit den sie säumenden Gebäuden zeigen; zwei wurden jedoch auf dem »Kleidermarkt« aufgenommen, zwei andere sind einer Alltagsszene mit dicht aufgereihten Vespas gewidmet. (Abb. 28 und 29) Sowohl die ungeniert an einer Wand platzierten BHs wie die Mopeds haben die deutsche Touristin offensichtlich ebenso überrascht wie erheitert. Sie zeigen etwas, das man zu Hause nicht zu sehen bekommt und scheinen auf »typisch« Italienisches zu verweisen. Auf den letzten beiden Abbildungen sind Erlebnisse aus Helsinki festgehalten, das sie per Schiff im Juni 2003 als Achtzigjährige besuchte. (Abb. 30 und 31) Die ersten vier Bilder ihrer Fotoserie sind dem Fahrweg und Schiff gewidmet, fünf weitere führen die Betrachter zum Hafen in Helsinki. Neben drei Fotos unter der Überschrift »Demonstrationen täglich« hat Wanda Frisch mit der Bemerkung »und Modenschauen« zwei weitere Aufnahmen eingeklebt ‒ ironischer Kommentar zum Leben in dieser Stadt. Sauer meint, dass es die Flaneuse schon immer gegeben habe, denkt aber dabei als Literaturwissenschaftlerin sicher nicht an Touristinnen wie Wanda Frisch. »Beobachten und Schauen als sozusagen ästhetisches Projekt der Vielen«192 zu betrachten, ist die Perspektive von Löffler. Die dort zu beobachtende wechselseitige Verschränkung von Touristen und Einheimischen, von
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Löffler, Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird, S. 236.
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Abb. 28: Kleidermarkt; Abb. 29: Vespas 2001
Abb. 30: Demonstration; Abb. 31: Modenschau 2003
kleinen »Reisen« im Alltag der Großstädter, die nun zu Hause tun, was sie anderswo als Urlauber erprobt haben, erweist sich als vortreffliches Instrument, den Wahrnehmungsmodus von Wanda Frisch in ihren späteren Jahren zu erfassen. Diese Schaulust stehe »für die allgemein zu beobachtende Praxis der
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Ästhetisierung gerade auch der eigenen Zeit«, an der unsere Protagonistin, selbst ein Stadtkind, teilhatte.193
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Ebd., S. 232.
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Zum Schluss
Die Urlaubsreise ist im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einer kulturellen Praxis der Vielen geworden. Am Beginn des 21. Jahrhunderts hatte eine nennenswerte Zahl deutscher Touristen bereits lebenslange Erfahrungen mit ihr gemacht, darunter etliche, die ihr Leben nicht entlang einer beruflichen, sondern einer Reisebiografie definieren und erzählen. Dieses Erzählen kann verschiedene Formen annehmen, buchstäblich mündliche, schriftliche (Berichte, Tagebücher, Briefe), bildliche (Fotoalben, Diaserien, Filme, Videos, Prospekte, Ansichtskarten) oder als Sammlung von Andenken. Dem Historischen Archiv zum Tourismus wurde der Nachlass einer Touristin übergeben, für die ihre Urlaubsreisen von unübersehbarer biografischer Bedeutung waren. Das motivierte dazu, den gesamten Korpus der Dokumentationen ihres Reiselebens im Sinne eines transdisziplinären Projekts mit Hilfe unterschiedlicher theoretischer und methodischer Mittel zu erschließen und zu interpretieren, ein bisher einmaliges Vorhaben. Die Protagonistin Wanda Frisch war eine reisende Angestellte, ein Glücksfall, denn gerade an dieser Konstellation ‒ Frau und Sekretärin ‒ ließen sich zwei wesentliche Aspekte des Aufstiegs der Urlaubsreise als bedeutsames zeitgeschichtliches Faktum aufzeigen und diskutieren. Sie grundieren die ganze Studie, während es andererseits auch sinnvoll war, die Befunde über reisende Frauen seit dem 18. Jahrhundert in den wissenschaftlichen Diskurs über die Geschlechterverhältnisse im Tourismus des 20. Jahrhunderts einzuführen. Das schärfte den Blick für differente zeitliche Strukturen und für die geschlechtsspezifischen Momente des Alleinreisens. Angestellte und hier besonders junge, ledige Frauen wurden schon in den 1920er Jahren als neue Klientel im Tourismus hofiert wie kritisch beäugt ‒ Anlass genug, die sozial- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen zu rekapitulieren und damit den gesellschaftlichen Hintergrund zu bezeichnen, vor dem sich das Reiseleben von Wanda Frisch entfaltet hat.
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Daneben erwiesen sich die soziologischen und historischen Konzepte von Lebenslauf, Biografie und Generation in mehrfacher Hinsicht als ertragreich. Wenn Individuen den Sinn ihres Lebens wesentlich durch ihre Reisen repräsentiert sehen, dann erhebt sich die Frage nach deren Funktionen in den einzelnen Lebensphasen und im gesamten Lebenslauf. Wie korrespondieren sie mit anderen, den Lebenslauf prägenden Aspekten wie Ausbildung, Beruf und Familie? Auch das Reiseleben konnte so als Ergebnis von Lernprozessen dargestellt werden, eingebettet in Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Individualisierungsprozessen etwa, die wiederum nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die Reisekultur haben. Mehrfach war es geraten, den zeitgeschichtlichen Wandel anhand von Generationsausprägung und Generationsfolge zu diskutieren, um quantitative wie qualitative Veränderungen herauszuarbeiten. Die Art der Reisevorbereitung und -aufarbeitung durch Wanda Frisch, die Wahl der Reiseziele und -umstände, die Vorlieben, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen im Urlaub, wie sie aus den überlieferten Dokumenten zu entnehmen sind, konnten als Belege genutzt werden, um das Konstrukt des Habitus auf ein neues Anwendungsfeld zu übertragen. Im Ergebnis entstand ein dynamisches und durchaus widersprüchliches Bild des Habitus einer Angestellten. Anhand statistischer Reisedaten konnte auch belegt und begründet werden, dass sie keine durchschnittliche Repräsentantin der Reisekultur ihrer Zeit war, sondern diesem Durchschnitt in vielerlei Weise immer um eine Nasenlänge voraus, eine »Pionierin« und »typische« Touristin zugleich. Die größte Herausforderung stellten ihre Urlaubsfotos dar, die neben den Texten auf Ansichtskarten die wichtigsten persönlichen Zeugnisse repräsentieren. Nach wie vor wird solchen Fotografien trotz oder gerade wegen ihrer massenhaften Verbreitung und trotz der Rede vom Visual Turn kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Vor allem werden sie nicht als Produkte einer ästhetischen Praxis wahrgenommen. Ein kultur- und mediengeschichtlicher Exkurs erhellte deshalb zunächst, welche touristische Bilderwelt von den unterschiedlichsten Medien produziert wurde, ehe die Kleinbildkamera zum unverzichtbaren Begleiter von Touristen wurde. Gerade angesichts der populären Formen ist davon auszugehen, dass sie auch tatsächlich, ob bewusst oder nicht, in den Wissensvorrat Eingang fanden und Wahrnehmungsmuster prägten. Gleichzeitig wurden prominente Theorien zur Fotografie besichtigt, um dem Medium Urlaubsbild gerecht werden zu können. Beide Wege eröffneten methodische Zugänge zur Interpretation ausgewählter Fotoserien in den Alben.
Zum Schluss
Als Touristin war Wanda Frisch eine Gestalt der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, doch soll sie nun noch als Fräulein, als ledige Frau, näher betrachtet werden, denn ihre ausgeprägte Reiselust scheint aus diesem Umstand zu erwachsen. So sieht es spontan auch mancher Betrachter ihres Nachlasses. Schnell ist die Idee bei der Hand, sie habe damit eine »Lücke« gefüllt. Die großen Investitionen an Zeit und Geld und die damit verbundene, durchgehend hohe Reiseintensität wären sicher mit einer eigenen Familie nicht durchgehalten worden, das zeigen entsprechende Statistiken. Doch ist das Reisen nur eine der legitimen Möglichkeiten gewesen, die Wanda Frisch als lediger Frau offenstanden. Sowohl die zeitlichen wie die materiellen Ressourcen hätten auch ganz anders verwendet werden können. Anscheinend sah Wanda Frisch in ihren Urlaubsreisen aber eine sich neu eröffnende Möglichkeit, viele ihrer Bedürfnisse zu befriedigen, vermutlich nicht zuletzt auch das nach einer zeitweiligen Distanz zu den Eltern, bei denen sie lebte. In der wissenschaftlichen Literatur zur deutschen Gesellschaftsgeschichte nach 1945 wird solcher ledigen Frauen und ihrer gesellschaftlichen Rolle nur am Rande gedacht, denn im Mittelpunkt stehen Veränderungen in der modernen Kleinfamilie oder der Arbeitswelt verheirateter Frauen und Mütter. Wer jedoch in den 1950er oder 1960er Jahren Kind oder Jugendliche war, begegnete ihnen in vielen Bereichen, als Lehrerin an Schulen und Universitäten, als privater Musikpädagogin, als Nachbarin und Chefsekretärin, als entwurzeltem Flüchtling, als näherer oder entfernter Verwandter, ja sogar als allseits anerkannter Geliebter in einer ménage à trois. Sie lebten oft mit ihren verwitweten Müttern oder mit den Eltern zusammen, in der Familie einer Schwester oder aber auch ganz allein. Die Anrede als Fräulein enthielt einen manchmal hämisch gemeinten Verweis auf ihre Ehelosigkeit und rief vielfältige Assoziationen hervor. Andererseits war es gerade die Chefsekretärin, die auch noch so genannt werden wollte, als in den 1970er Jahren jede Erwachsene mit Frau angesprochen wurde. Hier spiegelt sich, wie bei Wanda Frisch, die berufliche und menschliche Anerkennung vergangener Zeiten wider. Die erwähnten Assoziationen waren teilweise rein praktischer Natur. Wenig ist über die Nöte der Jüngeren bekannt, die es in ihren Liebesbeziehungen vor allem mit verheirateten Männern zu tun bekamen, was besonders in Kleinstädten oder auf dem Lande nicht verborgen blieb. In den betroffenen Familien herrschte dagegen ein beredtes Schweigen und vergiftete die Atmosphäre. Wie konnte angesichts der herrschenden Sexualmoral überhaupt ein richtiges Leben gelingen, wenn der legitime Zugang zu einem Ehemann und damit zu Kindern verwehrt blieb? Mit wem konnte sie über ihre Nöte sprechen
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und Aufmunterndes erfahren? Wie arrangierten sich die betrogenen Ehefrauen und die involvierten Männer? Die Situation der ledigen Frauen wurde noch verschärft durch zahllose Kriegswitwen mit Kindern, die wenigstens teilweise ebenfalls auf dem »Heiratsmarkt« präsent waren. Spannt man einen größeren Bogen und blickt zurück bis ins 19. Jahrhundert, lässt sich diese Situation einerseits als spezifische historische Konstellation einordnen, während andererseits Lebensmodelle für ledige Frauen sichtbar werden. Am besten untersucht sind Töchter des Bürgertums, denen aus unterschiedlichen Gründen eine Eheschließung verwehrt blieb oder die eine solche gar nicht erst anstrebten. Wie im ersten Kapitel angedeutet, war unter bestimmten Bedingungen auch das Reisen eine gute Möglichkeit, eine Heirat hinauszuzögern oder zu verhindern. Doch das konnte nur wenigen gelingen. Ansonsten war eine fehlende Mitgift, waren auch körperliche Mängel ein oft ungewolltes Ehehindernis. Nicht nur in den Romanen musste manche Tochter aus gutem Hause angesichts der hohen Müttersterblichkeit auf eine eigene Familie verzichten und die Dame des Hauses oder die Mutter ersetzen. Erst danach begann ein freieres Leben, das nachweislich gern fürs Reisen genutzt wurde. In bäuerlichen Familien kam es, egal, ob arm oder reich, auf die Arbeitsfähigkeit der Frauen an. Doch eine mangelhafte Ausstattung mit materiellem Besitz konnte auch hier in die Ehelosigkeit führen oder die Heirat lange verzögern. Das gilt ähnlich für Handwerkertöchter. Männer und Frauen aus den ländlichen und städtischen Unterschichten hatten es besonders schwer, einen eigenen Hausstand zu gründen. Frauen blieben oft lebenslang ledige Mägde, häufig mit Kindern von verschiedenen Vätern, die im besten Fall von der Großmutter betreut wurden. In den Städten wurden unverheiratete Arbeiterinnen in der öffentlichen Meinung mit Prostitution assoziiert, weshalb so manches Mädchen vom Lande lieber unter schlechteren Bedingungen als Dienstmädchen arbeitete. Auch hier fanden viele keinen Ehemann, weshalb im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Anteil lediger Erwachsener beträchtlich war, darunter viele Mütter (und Väter). Sie brachten sich mehr schlecht als recht durchs Leben, denn von ihrer Familie war wenig bis nichts zu erhoffen. Angesichts dieser Verhältnisse ist es gut nachzuvollziehen, dass vor allem Frauen in der Hoffnung auf ein besseres Ansehen und auf Versorgung eine Heirat anstrebten, obwohl das häufig nur eine Illusion blieb. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden aber besonders die ledigen Töchter des Bürgertums als gesellschaftlichen Problem wahrgenommen ‒ Ausweis für den Wandel der familiären Verhältnisse. Tanten-Plätze wurden auch hier rar, aber im Gegensatz zur arbeitenden Bevölkerung gab es für diese
Zum Schluss
Frauen nur wenige legitime Verdienstmöglichkeiten. Ein wachsendes Selbstbewusstsein machte zudem für viele Ledige die bisher getroffenen Arrangements (bis hin zum Kloster) inakzeptabel. Alternativen waren zu suchen. So wurden gerade die neu entstehenden Angestelltenberufe zwar vielleicht nicht in materieller, aber in ideeller Hinsicht attraktiv, besonders, wenn sie Möglichkeiten für berufliche Karrieren oder selbstverantwortliches Arbeiten eröffneten. Unschwer ist zu erkennen, dass nun die Lebensspanne von Wanda Frisch erreicht ist. Sie konnte von den Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts profitieren. Der Beruf einer Chefsekretärin war zu einer gesellschaftlich akzeptierten und angesehenen Lebensstellung geworden, deren Einkünfte auch materiell ein eigenständiges Leben ermöglichten. Man konnte sich nun mit Stolz Fräulein nennen lassen und damit hervorheben, dass man seinen Unterhalt selbst verdiente. Die Erwartungen der Herkunftsfamilie, die ledige Tochter möge sich dort nützlich machen und die Eltern oder andere Verwandte bis zu deren Ableben unterstützen, galten nun freilich allgemein. Andererseits konnte das Fräulein damit aber auch sowohl in den eigenen Augen wie gesellschaftlich als versorgt gelten und minderte die Konkurrenz um heiratsfähige Männer. Der Schutz der Familie dürfte es in dieser Zeit vielen Betroffenen erleichtert haben, sich mit ihrem Leben abzufinden und die positiven Seiten zu genießen. Freilich erschien ihr Dasein nach wie vor auch als defizitär und wurde mit abschätzigen Bemerkungen bedacht. Vor allem die Älteren galten leicht als wunderlich, als alte Jungfern. Die ökonomische Selbständigkeit von Frauen war allerdings bedroht, wenn Arbeitsplätze knapp wurden. Die oben erwähnten, an Schulen und Universitäten anzutreffenden, häufig promovierten ledigen Lehrerinnen oder Dozentinnen könnten noch Opfer des berüchtigten »Doppelverdiener«-Paragrafen aus der Weimarer Zeit gewesen sein. Wer so viel in seine Qualifikation und in einen lohnenden Beruf investiert hat, wird sich nicht leicht davon getrennt haben. Die alte Flüchtlingsfrau aus dem Ostpreußischen hatte auf dem elterlichen Hof ihr Auskommen gefunden, das nun für immer verloren war und sie als Sozialfall sterben ließ. Die Geliebte konnte sich als vermögende Handwerksmeisterin auch ab und zu eine Reise gönnen; die nicht mehr ganz junge Lehrerin löste mit ihren ungewöhnlichen Auslandstouren in der Familie Ängste und Erstaunen aus. Wenig Freude am Leben dürfte dagegen die noch im fortgeschrittenen Alter von Schüler zu Schüler tingelnde Klavierlehrerin gehabt haben, zumal sie einer Karriere als Konzertsängerin nachtrauerte. In diesem Umfeld findet Wanda Frisch mit ihren Lebensstrategien einen Platz, verkörpert sie das Ergreifen sich
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bietender Gelegenheiten, ohne doch »revolutionär« gewesen zu sein. Eine alltägliche Gestalt, deren Reiseleben zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten bietet. Sie haben nicht zuletzt mit verschiedenen Aspekten von Zeitlichkeit zu tun, die nach und nach zu Tage gefördert wurden und die es abschließend zu würdigen gilt. Zunächst ist an den Wechsel und die qualitativen wie quantitativen Parameter von Arbeitszeit und Freizeit (in Gestalt des Urlaubs) zu denken. Zugleich korrelieren verschiedene Urlaubsformen mit dem Festkalender oder den Jahreszeiten. Die auf das Jahr verteilten mehrwöchigen, mehrtägigen oder eintägigen Reisen erzeugen ein spezifisches zeitliches Lebensmuster. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf den Lebenslauf als Konstrukt und empirisches Phänomen. Seine einzelnen Phasen werden durch differente Formen des Reisens zuweilen geradezu geprägt. Dabei spielen die Begleiter eine nicht unwesentliche Rolle. Als dritter Aspekt ist ein spezifisch modernes Zeitbewusstsein von Touristen wie Wanda Frisch zu nennen, dass auch ihr Verhalten auf Reisen bestimmte, wo Pünktlichkeit und zügiges Abarbeiten genauer Pläne Grundlage eines als erfolgreich eingeschätzten Urlaubs waren. Dabei ermöglichte die von ihr meist gewählte Form der Individualreise doch im Prinzip viel zeitliche Selbstbestimmtheit, zumal sie die Reiseetappen und Aufenthaltszeiten selbst vorgeben konnte ‒ natürlich im Rahmen des tariflich gesicherten Urlaubsanspruchs. Beschleunigungsprozesse hatten bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt und waren deshalb nichts wirklich Neues. Mag es an der Gelassenheit des Alters liegen oder an der langjährigen Reiseerfahrung, am Ende trat die Souveränität mußehaften Verhaltens hinzu. Doch auch deren Ausprägung hatte sich ebenso zeittypisch wie abhängig von der jeweils erreichten Position im Lebenslauf gewandelt. Diesen in sich verschachtelten Dynamiken von gesellschaftlichen wie individuellen Entwicklungssträngen, von historischer und Lebenszeit, aber auch dem Aufheben des Älteren im Neuen und damit dem Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen auf die Spur zu kommen, bezeichnet schließlich eine vierte Dimension der Zeitlichkeit. Das von Wanda Frisch überlieferte Konvolut erwies sich aus herkömmlicher Perspektive als »problematische« Quelle und forderte zum Experimentieren heraus. Besonders die Einbettung in einen weiten historischen Horizont bis zur Entstehungszeit touristischer Momente des Reisens erwies sich als ertragreich. Es wäre zu wünschen, dass weitere qualitative Studien zu ähnlichen Dokumentationen lebenslanger Reisepraxen andere theoretische und methodische Wege ausprobieren, denn Urlaubsreisen sind nicht
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nur praktisch für die Einzelnen wie die Gesellschaft von großer Relevanz, sondern als wissenschaftliches Forschungsfeld alles andere als banal.
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Literaturverzeichnis
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Die Touristin Wanda Frisch
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Literaturverzeichnis
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