Gesünder leben: Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert 3515087907, 9783515087902

Vom wilhelminischen Kaiserreich bis in die späte alte Bundesrepublik warb ein Netzwerk von Bewegungen für eine Reform de

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German Pages 366 [370] Year 2006

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINFÜHRUNG
2. LEBENSREFORM ALS NETZWERK
3. EVOLUTION GESÜNDEREN LEBENS
4. KONTINUITÄTEN GESÜNDEREN LEBENS
5. DAS NETZWERK LÖST SICH AUF
6. ZUSAMMENFASSUNG
QUELLEN UND LITERATUR
PERSONENREGISTER
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Gesünder leben: Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert
 3515087907, 9783515087902

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Florentine Fritzen Gesünder leben

Frankfurter Historische Abhandlungen –––––––––––––––––– Herausgegeben von Johannes Fried, Lothar Gall, Notker Hammerstein, Heribert Müller, Ulrich Muhlack, Werner Plumpe, Marie-Luise Recker, Luise Schorn-Schütte

BAND 45

Florentine Fritzen

Gesünder leben Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN-10: 3-515-08790-7 ISBN-13: 978-3-515-08790-2

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2006 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

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VORWORT Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die zwischen 2001 und 2004 am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main entstand und im Wintersemester 2004/05 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften angenommen wurde. Es ist nicht wahr, daß das Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit eine einsame Angelegenheit sei. Viele Menschen haben dazu beigetragen, daß dieses Buch werden konnte, wie es jetzt ist. Meinem Doktorvater, Professor Dr. Lothar Gall, danke ich für seine Förderung und meine Frankfurter Studien- und Promotionszeit, die von seiner Person geprägt war. Auch bei Professor Dr. Andreas Schulz, der das Zweitgutachten verfaßt hat, bedanke ich mich für große Unterstützung über viele Jahre. Professor Dr. Werner Plumpe bin ich für die Erstellung des Drittgutachtens und weiterführende Anregungen dankbar. Für Hilfe bei meinen Recherchen danke ich der Reformhaus-Fachakademie in Oberursel und Robert Schurmann vom EdenArchiv in Oranienburg. Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Historischen Seminar der Universität Frankfurt, vor allem Ilona Moradof und Lisa Niemeyer, danke ich für wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Gespräche und so manchen Mittwochmittag und Donnerstagabend. Ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes schenkte mir ideelle und finanzielle Unterstützung und ließ mich Silvia Daniel kennenlernen, der ich für ungezählte Dissertations-Telefonate und die Lektüre des Manuskripts danke. Dem Franz Steiner-Verlag danke ich dafür, daß er die Arbeit in seine „Frankfurter Historischen Abhandlungen“ aufgenommen hat, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine großzügige Publikationsbeihilfe. Mein tiefster Dank gilt meinen Eltern und Dr. Jan Henrik Klement. Sie haben das Entstehen dieses Buches am meisten begleitet. Frankfurt am Main, im Juli 2006

Florentine Fritzen

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INHALTSVERZEICHNIS 1. EINFÜHRUNG ................................................................................. 10 1.1. FRAGESTELLUNG ..................................................................................... 10 1.2. QUELLEN UND METHODE ......................................................................... 13 1.2.1. Strukturgeschichte – die longue durée der Lebensreform ............. 15 1.2.2. Institutionengeschichte – Lebensreform als Netzwerk.................. 16 1.2.3. Diskursgeschichte – Lebensreform als Text ................................. 17 1.2.4. Konsumgeschichte – Die Idee materialisiert sich ......................... 20 1.2.5. Andere Zugänge .......................................................................... 22 1.3. STAND DER FORSCHUNG .......................................................................... 23 1.4. GANG DER UNTERSUCHUNG..................................................................... 26

2. LEBENSREFORM ALS NETZWERK .................................................... 28 2.1. ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN: LEBENSREFORM UND MODERNE ................ 28 2.2. ORGANISATION........................................................................................ 36 2.2.1. Das Netzwerk entsteht ................................................................. 37 2.2.1.1. Vegetarismus und Naturheilkunde vor 1918................... 37 2.2.1.2. Die ersten Reformgeschäfte ........................................... 43 2.2.2. Dauer und Wandel....................................................................... 49 2.2.2.1. Das Netzwerk verschiebt sich (1918–1933).................... 50 2.2.2.1.1. Reformwarenwirtschaft.................................. 51 2.2.2.1.2. Vegetarismus und Naturheilkunde.................. 62 2.2.2.2. Gleichschaltung (1933–1945) ........................................ 64 2.2.2.2.1. Von der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ zur „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ ............................. 65 2.2.2.2.2. Vegetarismus ................................................. 70 2.2.2.2.3. Reformwarenwirtschaft.................................. 78 2.2.2.2.4. Naturheilkunde ............................................ 104 2.2.2.3. Wiederaufbau und Vertiefung (1945–1989) ................. 106 2.2.2.4. Abtrennung: DDR........................................................ 122 2.3. KOMMUNIKATION .................................................................................. 125 2.3.1. Druckerzeugnisse ...................................................................... 125 2.3.1.1. Vereinszeitschriften ..................................................... 126 2.3.1.2. Kundenzeitschriften ..................................................... 127 2.3.1.3. Branchenzeitschriften .................................................. 129 2.3.1.4. Andere Publikationen................................................... 132 2.3.2. Veranstaltungen......................................................................... 132 2.3.3. Werbung.................................................................................... 133 2.4. MENSCHEN ............................................................................................ 138 2.4.1. Die „Generation Reformhaus“ ................................................... 139 2.4.1.1. Das Erklärungsmuster „Generation“ ............................ 139

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Inhaltsverzeichnis 2.4.1.2. Wie sich die Generation konstituiert ............................ 140 2.4.1.3. Die Akteure der Generation ......................................... 143 2.4.2. „Propheten“............................................................................... 161 2.5. NETZWERK UND GESELLSCHAFT ............................................................ 171 2.5.1. Vegetarismus und Naturheilkunde ............................................. 171 2.5.2. Reformhäuser ............................................................................ 173

3. EVOLUTION GESÜNDEREN LEBENS ............................................. 180 3.1. ANDERS LEBEN – DIE GUTE NATUR (1890–1918) .................................... 182 3.1.1. Zwischen Utopie und Realismus................................................ 182 3.1.2. Der Erste Weltkrieg als Katalysator ........................................... 188 3.2. VITALER LEBEN – DIE INNERE NATUR (1918–1945) ................................ 193 3.2.1. Das Leben steigern .................................................................... 194 3.2.1.1. Lebensideologie und Lebenspathetik............................ 194 3.2.1.2. Begriffsfelder............................................................... 196 3.2.1.3. Lebendige Nahrung: die Vitamine................................ 201 3.2.2. Wissenschaft und Esoterik: Lebensreform in der Weimarer Republik.................................................................................... 204 3.2.2.1. Verengung I: Vegetarismus als „verkappte Religion“... 205 3.2.2.2. Verengung II: Naturheilkunde als Medizinkritik .......... 211 3.2.2.3. Gesellschaftsnähe: Reformhausbewegung.................... 212 3.2.3. Affinitäten und Abweichungen: Lebensreform und Nationalsozialismus................................................................... 218 3.2.3.1. Anpassung: Reformwarenwirtschaft............................. 219 3.2.3.2. Ambivalenz: Vegetarismus .......................................... 226 3.2.3.3. Amalgamierung: Naturheilbewegung ........................... 230 3.2.4. Der menschliche Körper ............................................................ 231 3.2.4.1. Zur „Körpergeschichte“ ............................................... 231 3.2.4.2. Die Entdeckung des Körpers um 1900 ......................... 234 3.2.4.3. Der Körper als Objekt I: Hygiene, Kraft und Schönheit ..................................................................... 236 3.2.4.4. Der Körper als Objekt II: Volk, Staat und Rasse .......... 243 3.3. ÖKOLOGISCHER LEBEN – DIE ÄUßERE NATUR (CA. 1950–CA. 1990) ......... 252 3.3.1. Verantwortung für Natur und Umwelt ....................................... 255 3.3.2. Die fünfziger Jahre .................................................................... 260 3.3.3. „1968“ und seine Folgen............................................................ 265 3.3.4. Die neuen „Alternativen“ und die Lebensreform der Jahrhundertwende...................................................................... 271

4. KONTINUITÄTEN GESÜNDEREN LEBENS ...................................... 277 4.1. GESUNDHEIT UND KRANKHEIT ............................................................... 277 4.2. GANZHEITLICHKEIT ............................................................................... 283 4.2.1. Ganzheit als Allheilmittel .......................................................... 283 4.2.2. Ganzheit des Körpers................................................................. 287

9 4.2.3. Leib und Seele, Körper und Geist .............................................. 289 4.2.4. Mikro- und Makrokosmos ......................................................... 290 4.2.5. Rezeption fernöstlicher Ganzheitskonzepte................................ 295 4.3. NATUR UND NATÜRLICHKEIT ................................................................. 296 4.3.1. Natur und Kunst ........................................................................ 299 4.3.2. Natur und Zivilisation................................................................ 304 4.3.3. Natur und Kultur ....................................................................... 308 4.3.4. Natur und Wissenschaft ............................................................. 311 4.4. DER REFORMGEDANKE .......................................................................... 315 4.4.1. Reform als Synthese von alt und neu ......................................... 316 4.4.2. Die Praxis des „Dritten Weges“ ................................................. 321

5. DAS NETZWERK LÖST SICH AUF ................................................. 324 5.1. EIN ENDE VON NATUR UND KÖRPER?..................................................... 325 5.2. DAS ENDE DER IDEOLOGIEN UND DIE NEUE INDIVIDUALISIERUNG ........... 329

6. ZUSAMMENFASSUNG ................................................................. 336 QUELLEN UND LITERATUR ............................................................... 339 PERSONENREGISTER ........................................................................ 363

1. EINFÜHRUNG

1.1. FRAGESTELLUNG Das Ideal des gesunden Lebens gibt es seit der Antike, der Kompromiß eines gesünderen Lebens ist eine Idee des 20. Jahrhunderts. Ein Leben in vollkommener Gesundheit zu führen erschien in der modernen Welt unmöglich. Vom wilhelminischen Kaiserreich bis in die späte alte Bundesrepublik warben aber viele Bewegungen dafür, die Gesundheit der Menschen im Rahmen des Erreichbaren zu verbessern. Ein anderes, vitaleres oder ökologischeres Leben, so hofften und versprachen die Wortführer dieser Gruppen, könne durch eine „Lebensreform“ erreicht werden. Die Verfechter eines gesünderen Lebens stellten das Leben des einzelnen in den Mittelpunkt ihrer Mühen, entwarfen Theorien und Praktiken, die dabei helfen sollten, das persönliche Wohlbefinden zu steigern. Zugleich ging es den Lebensreformern, wie sie sich bald nannten, um das Individuum als kleinstes Glied der Gesellschaft. Über die Reform möglichst vieler einzelner wollten sie auch das als krank empfundene Gemeinwesen umgestalten, wollten je nach Epoche das „Volk“, den „Volkskörper“, die „Rasse“ oder das Verhältnis des Menschen zu Natur und Umwelt verbessern. Die Bewegungen boten nicht nur geistige Konzepte und Rezepte, wie der Mensch seine Gesundheit erhalten oder wiederherstellen könne, um auf diesem Weg zugleich die Welt zu verändern. Sie stellten auch die dafür notwendigen Produkte her und verkauften sie: vor allem Nahrung, aber auch Kleidung und Mittel zur Körperpflege. Die Idee und die Vermarktung gesünderen Lebens waren stets von der deutschen Gesellschaft beeinflußt, von den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen. Umgekehrt veränderten aber auch die Lebensreformer die Gesellschaft. Diese Wechselbeziehung zu beschreiben und zu deuten ist das Erkenntnisinteresse der Untersuchung. Das gesündere Leben war der Grundgedanke der Lebensreformbewegung. Sie bildete sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts aus vielen seit der Jahrhundertmitte entstandenen Gruppen heraus, überdauerte in sich beständig verändernder Form die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und löste sich schließlich zum Jahrhundertende hin langsam auf. Fast gleichzeitig mit dem Phänomen kam um die Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts seine Bezeichnung als Lebensreform auf. Die Anhänger der verschiedenen Reformbewegungen benutzten den Ausdruck anfangs noch selten, und über ihre Kreise hinaus dürfte er weitgehend unbekannt gewesen sein. Erst im Lauf des Ersten Weltkriegs setzte sich „Lebensreform“ als integrierender Oberbegriff durch. Mit diesem Ausdruck beschrieben sich die dazugehörigen Bewegungen fortan selbst, und mit ihm wurden sie jetzt vermehrt auch von Außenstehenden beschrieben.

1.1. Fragestellung

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Obwohl sich die Teilströmungen der Lebensreform somit durchaus einem Ganzen zugehörig fühlten, erscheint die Lebensreformbewegung zunächst als sperriges und unüberschaubares Gebilde. Sie war weit verzweigt und an vielen Stellen nur lose verwoben, und die einzelnen Gruppen verfolgten zum Teil sehr unterschiedliche Ziele. Der Gedanke des gesünderen Lebens, die Frage nach seinem Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und der Blick auf das gesamte 20. Jahrhundert machen es aber möglich, im Gewirr ein System zu erkennen. Mit diesem heuristischen Raster lassen sich vor allem zwei lebensreformerische Inhalte filtrieren: zum einen die gesunde Ernährung und zum anderen die in doppeltem Sinne als Körperpflege und körperliche Ertüchtigung verstandene Körperkultur. Nur diese beiden Konzepte aus der Gesamtmenge der lebensreformerischen Ideen zielten ausdrücklich und unmittelbar auf eine Verbesserung von Gesundheit für den einzelnen und zugleich für alle, waren auch für große Teile der Gesamtgesellschaft anschlußfähig und blieben bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wichtig. Gesunde Ernährung und Körperkultur propagierten von den vielen lebensreformerischen Bestrebungen im Kaiserreich und zum Teil auch noch in der Weimarer Republik vor allem die vegetarische Bewegung und die Naturheilbewegung und dann seit der Mitte der zwanziger Jahre und bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Vertreter der Reformwarenwirtschaft, also die Organisationen der Reformhäuser und der Reformwarenhersteller. Alle drei Gruppen – in früherer Zeit mehr der Vegetarismus und die Naturheilkunde, in späterer die Reformwarenbranche – waren bestrebt, einen möglichst großen Teil der Bevölkerung anzusprechen. Sie gaben sich gesellschaftsoffen und standen im Austausch mit der übrigen deutschen Gesellschaft. Vegetarier und Naturheilanhänger glaubten, das als siech empfundene Volk könne gesunden, wenn nur möglichst viele Menschen ihren Beitrag dazu leisteten, indem sie die von ihnen angepriesene „naturgemäße Lebensweise“ annähmen, indem sie also viel Frischkost und wenig oder kein Fleisch aßen, keinen Alkohol tranken, sich oft in der freien Natur bewegten und Licht und Luft an ihre Haut ließen. Die Reformwarenwirtschaft versuchte allein schon aufgrund ihrer Doppelfunktion als Reformbewegung und Konsumbranche, möglichst viele Anhänger und damit Kunden und Käufer zu gewinnen. In beiden Fällen hatte die Werbung Erfolg. Am Anfang oft spöttisch beobachtet und karikiert – was immerhin zeigt, daß die Bewegung der übrigen Gesellschaft tatsächlich ein Begriff war – entwickelte sich die Lebensreform im unternehmerischen Gewand der Reformwarenwirtschaft in der Zwischenkriegszeit und dann von neuem nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem etablierten Zweig des deutschen Konsumgütermarktes. Stärker noch als die Organisationen der Lebensreform verbreiteten sich ihre Inhalte, die gesunde Ernährung und die Körperkultur. Sie lösten sich nach und nach aus dem Kontext der Lebensreform und waren am Ende des 20. Jahrhunderts fast von ihm losgekoppelt. Parallel zur allmählichen Auflösung der Lebensreformbewegung gewann das gesündere Leben im Lauf der Jahrzehnte bis zur Jahrtausendwende immer mehr Bedeutung. Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts,

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1. Einführung

1999, gaben die Deutschen so viel Geld für ihr Wohlbefinden aus wie nie zuvor.1 Als die Wirkkraft der Lebensreform in den neunziger Jahren langsam erlosch, strömte mit dem Wellnesstrend ein neuer erfolgreicher Anbieter für gesunde Ernährung und Körperkultur auf den Gesundheitsmarkt. Nach und nach durchdrang und verdrängte er die Lebensreform. Die Reformwarenwirtschaft steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Zugleich blickt die Studie darauf, woraus die Reformbranche am Anfang des 20. Jahrhunderts hervorging und was sie am Ende des Jahrhunderts zunehmend ersetzte. Zur Analyse gehört daher zum einen auch eine Untersuchung der vegetarischen Bewegung und der Naturheilbewegung. Sie waren die wichtigsten Vertreter der Lebensreform um 1900, und aus ihnen heraus entstanden die ersten Reformhäuser. Die Reformwarenbranche bezog sich noch am Ende des 20. Jahrhunderts auf die Vegetarier- und Naturheilvereine der Jahrhundertwende und nannte sie ihre Vorläufer. Zum anderen schildert die Studie, wie Wellness und Fitness die Lebensreform in den neunziger Jahren immer mehr verblassen ließen. Nur am Rande und in ihren Berührungspunkten mit Vegetarismus, Naturheilbewegung und Reformwarenwirtschaft interessieren periphere2 und kurzlebigere Gruppen der Lebensreform. Meist waren sie Gegenbewegungen mit eng umrissenen Zielen sowie konkreten Feindbildern und Verbesserungsvorschlägen. Die Alkoholgegner setzten der Alkoholindustrie und den Wirtshäusern Fruchtsäfte, Limonade und Reformrestaurants entgegen. Die Kleidungsreformer stritten gegen das Korsett und gegen jede andere Einengung des Körpers, statt dessen propagierten sie Reformkleidung und Reformschuhe. Die Gartenstadtbewegung und die Siedlungsbewegung sahen die Großstadt als Feindbild, dem sie mit der Integration von Natur in die Stadt oder mit Landkommunen und Siedlungen beizukommen versuchten. Die Bodenreformer kritisierten Kapitalismus und Großgrundbesitz und setzten ihnen Kommunismus, Genossenschaften oder Parzellenbildung entgegen. Die Impfgegner wollten das Impfgesetz von 1874 mit der Aufnahme einer „Gewissensklausel“ reformieren, die Eltern die Freiheit geben sollte, ihre Kinder der staatlichen Pockenimpfung zu entziehen. Die reformpädagogische Bewegung wandte sich gegen die „alte Schule“ und gründete Reformschulen und Landerziehungsheime. Die völkische Bewegung bleibt unberücksichtigt, weil sie einem gesünderen Leben nur eine ergänzende, nicht eine zentrale Rolle zuschrieb. Sport und gesunde Ernährung wirkten sich nach Ansicht der „Völkischen“ zwar günstig auf Wehrkraft und Geburtenzahl aus. Diese Gruppen erachteten körperliche Ertüchti1 2

Nämlich rund 121 Milliarden Deutsche Mark. Vgl. Lebensmittel Zeitung Spezial. Das Themenmagazin: Wellness – Das Geschäft mit dem Körperkult, H. 2, 2000, S. 3. Den Begriff der „peripheren“ lebensreformerischen Gruppen verwendet auch WOLFGANG R. KRABBE, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturelemente einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974. Bei Krabbe findet sich allerdings eine etwas andere Einteilung der verschiedenen Gruppen: Krabbe sieht Vegetarismus, Naturheilkunde, Nacktkultur und Kleidungsreform als „spezifische“ und Gartenstadt-, Bodenreform-, Siedlungs- und Antialkoholbewegung als „periphere“ lebensreformerische Bestrebungen.

1.2. Quellen und Methode

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gung und kräftigende Nahrung aber nicht als ausreichend für die Rettung der „Edelrasse“: Dazu sei eine geplante Menschenzüchtung nötig.3 Esoterische Gruppen werden nicht untersucht, weil sie nur „Eingeweihten“ Zugang gewährten und sich von der Gesellschaft abschotteten. Den Anthroposophen mit ihrem Glauben an übersinnliche Welten und den Freireligiösen ging es nur mittelbar um Gesundheit. Ähnliches gilt für die Frauen- und die Jugendbewegung, die sich zudem in erster Linie an durch Geschlecht oder Alter definierte Gruppen innerhalb der Gesellschaft richteten und nicht – wenigstens potentiell – an die gesamte Gesellschaft. Natur-, Tier- und Heimatschutz widmeten sich stärker der Gesundheit der Umwelt des Menschen als der Gesundheit des Menschen selbst. Die Freikörperkultur, die vor dem Ersten Weltkrieg Nacktkultur hieß, stellt eine radikalisierte Sonderform der Körperkultur dar, der die Verschmelzung des Menschen mit der Natur und rassenkundliche Studien wichtiger waren als eine gesündere Lebensweise. Alle diese Bewegungen werden aus den genannten Gründen nicht oder nur in ihren Verflechtungen mit Vegetarismus, Naturheilkunde und Reformwarenwirtschaft untersucht. 1.2. QUELLEN UND METHODE Aufbau und Leitgedanken der Untersuchung haben im Sinne Norbert Elias’ erst allmählich festere Gestalt angenommen, „in einer ständigen Beobachtung von geschichtlichen Tatsachen, in einer fortwährenden Revision und Kontrolle des Vorhergesehenen durch das, was später in das Beobachtungsfeld trat.“4 Geschichtswissenschaftler müssen, so hat es der amerikanische Historiker Dominick LaCapra formuliert, auf die Widerstände achten, die die „Stimmen“ der Vergangenheit den verwendeten Interpretationsmustern entgegensetzen.5 Das heißt mit Blick auf die Lebensreformbewegung vor allem, daß ihre Geschichte bis zum Jahr 1933 nicht teleologisch vor dem Hintergrund ihres Zusammengehens mit Organisationen der Nationalsozialisten gedacht werden darf und ihre gesamte Entwicklung nicht von ihrer weitgehenden Auflösung in den neunziger Jahren her. Vielmehr muß jede Zeit trotz der Einbettung in den großen Kontext des 20. Jahrhunderts auch für sich stehen und aus sich heraus verstanden werden. Vollständig wird das nie gelingen. Der Historiker kann sich Vergangenem zwar annähern. Er kann es aber nicht unverfälscht in die Gegenwart zaubern. Dem auf frü3

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5

GÜNTER HARTUNG, Völkische Ideologie, in: UWE PUSCHNER/WALTER SCHMITZ/JUSTUS H. ULBRICHT (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. München 1999, S. 22–41, hier S. 35. Zuerst in: GÜNTER HARTUNG/HUBERT ORLOWSKI (Hrsg.), Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Halle an der Saale 1987, S. 83–100; ALEXANDRA GERSTNER, Rassenadel und Sozialaristokratie. Adelsvorstellungen in der völkischen Bewegung (1890–1914). Berlin 2003, S. 72f. NORBERT ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt am Main 1997 [zuerst 1939]. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, S. 77. DOMINICK LACAPRA, Rethinking Intellectual History. Texts, Contexts, Language. Ithaca/New York 1983, S. 63f.

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1. Einführung

here Zeiten spezialisierten Detektiv fehlt die Möglichkeit, am Ort des Geschehens zu recherchieren – und selbst wenn er sie hätte, trüge das nicht unbedingt zur Wahrheitsfindung bei. Auf einer Zeitreise wäre der Geschichtswissenschaftler, um nur eines von vielen möglichen Hindernissen zu nennen, nicht davor gefeit, daß ihm seine Gastgeber die Unwahrheit erzählten.6 Wer das gerade erst vergangene 20. Jahrhundert erforscht, dem böte sich selbstverständlich die Möglichkeit, auf noch lebende mögliche Gastgeber zurückzugreifen und sie zu bitten, als Ersatz für die nicht zu verwirklichende leibhaftige Fahrt des Forschers in die Vergangenheit doch ihrerseits eine Zeitreise in die Gefilde ihrer Erinnerungen zu machen. Das erscheint um so einladender, als die Autorin selbst nur das letzte Viertel ihres Forschungszeitraums erlebt hat, eine an Gesellschaft und Zeitgeschehen noch uninteressierte Anfangsphase eingerechnet. Aber die Erinnerung erzählt oft eine ganz andere Geschichte als die schriftlichen Quellen, auf die diese Untersuchung nicht verzichten und die sie nicht mit mündlichen Erzählungen vermischen will. Es wird also das betrachtet, was die vergangene Zeit, auf Papier gedruckt, von sich selbst übrig ließ. Immerhin lebt, wer das 20. Jahrhundert erforscht, in dieser Hinsicht im Überfluß. Bei der Analyse der Quellen helfen die Sekundärliteratur und ein Schuß Phantasie.7 Dieses wissenschaftliche Spiel mit Fakten und Fiktionen stützt sich vor allem auf Zeitschriften, die für das gesündere Leben des jeweiligen Zeitabschnitts repräsentativ sind. Im frühen 20. Jahrhundert, bis in die dreißiger Jahre hinein, gilt das im wesentlichen für die Zeitschriften des Vegetarismus und der Naturheilbewegung. Deren Auswertung ergänzt von 1925 an die Untersuchung der Kundenzeitschriften der Reformhäuser, die in diesem Jahr zum ersten Mal an den Ladentheken lagen. Von 1931 an werden zusätzlich die Mitgliederzeitschriften der genossenschaftlich organisierten Reformwarenwirtschaft herangezogen. Zusätzlich betrachtet die Arbeit für den gesamten Zeitraum die reiche Ratgeberliteratur rund um Reform und Gesundheit. Der Text dieser Studie entstand, um mit Worten Philippe Ariès’ zu sprechen, in einem Ringen um einen ausgewogenen Mittelweg zwischen dem „Wirrwarr der Eindrücke“ und der „notwendigen Algebra einer Theorie“.8 Methodisch wählt die Untersuchung eine Mischform aus verschiedenen Ansätzen, die sich als zum Teil strukturgeschichtliche, zum Teil diskursanalytische, zum Teil kulturalistische beschreiben lassen. Idealtypisch gesehen, scheinen sich vor allem die beiden letztgenannten Zugangsarten zunächst gegenseitig auszuschließen. Denn die Diskursanalyse schreibt grundsätzlich Texten, die kulturalistische Betrachtungsweise hin6 7

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Ähnlich RICHARD J. EVANS, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt am Main/New York 1999 [engl. 1997], S. 106. Zur Funktion der Phantasie in der Geschichtswissenschaft JOHANNES FRIED, Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 263, H. 2, 1996, S. 291–316, hier besonders S. 300: Phantasie als die Vorstellungskraft, die körperlich Abwesendes ins Bewußtsein ruft. Vgl. auch ebd., S. 295: „Kein Historiker vermag historische Wahrheit pur zu schauen, auch nicht die kleinsten Teilchen derselben.“ PHILIPPE ARIÈS, Einleitung, in: ders., Geschichte der Kindheit. 6. Aufl. München 1984 [zuerst 1975, franz. 1960], S. 45–65, hier S. 45.

1.2. Quellen und Methode

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gegen kulturellen Subjekten zentrale Bedeutung zu. In der alltäglichen historiographischen Praxis zeigt sich aber, daß „es durchaus Übergangspositionen gibt“. Die Hoffnung, mit dem Mischansatz einen richtigen Weg zu gehen, nährt Ute Daniel: Es seien, schreibt die Historikerin, gerade die Überblendungen, die „in fröhlichem Eklektizismus Bewährtes und Innovatives zusammenbringen“, denen die anregendsten empirischen Studien zu verdanken seien.9 Damit korrespondiert die Beobachtung, daß zwischen Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung ohnehin eine Scheidewand verläuft. Es muß nicht besonders betont werden, daß diese Wand die Diffusion in beide Richtungen zuläßt. Historische Forschung speist sich aus Theorie und Forschungspraxis, aus Bewußtheit und Intuition, aus, um noch einmal auf Elias zurückzukommen, einem Wechselspiel von Gelesenem und beim Lesen Vorausgedachtem. 1.2.1. Strukturgeschichte – die longue durée der Lebensreform „Lebensreform“ bezeichnet eine Bewegung, eine Branche und einen Diskurs. Zur Weite des Forschungsgegenstands tritt seine lange Dauer: Am Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, verlor die lebensreformerische Reformwarenwirtschaft erst zum Jahrhundertende hin an Wirkkraft. Die Geschichte der sich ausdrücklich lebensreformerisch verstehenden Reformbranche erstreckt sich somit in etwa auf das „kurze 20. Jahrhundert“.10 Nimmt man ihre – ihrerseits lebensreformerischen – Vorläufer Naturheilbewegung und vegetarische Bewegung sowie ihre – selbst nicht mehr lebensreformerischen – Nachfolger der neunziger Jahre hinzu, so umfaßt die Untersuchung die Zeit von der Jahrhundert- bis zur Jahrtausendwende. Wer sich ein so großes Gebiet in solcher longue durée vornimmt, muß sich darüber im klaren sein, es nicht in allen seinen Verästelungen behandeln zu können. Es muß vielmehr darum gehen, das Feld zu ermessen, seine wichtigsten Formen und Inhalte zu erfassen. Das will diese Studie leisten. Sie untersucht Dauer und Wandel der Lebensreform in der deutschen Gesellschaft. Die Organisationen der Lebensreform veränderten sich im Lauf der Zeit beständig, durchliefen einen Evolutionsprozeß, den einige Brüche noch verstärkten oder aber in andere Richtungen lenkten. Parallel zu dieser Entwicklung und in Interaktion mit ihr wandelten sich auch die lebensreformerischen Inhalte. Manche von ihnen kennzeichnen deshalb nur bestimmte Phasen, andere hingegen blieben über das gesamte 20. Jahrhundert bestehen. Nach Fernand Braudel geht es also zum einen darum, „gemeinsame Merkmale“ herauszuarbeiten, organisatorische und geistige, „die unverändert erhalten blieben, während sich das Gesicht der 9 10

UTE DANIEL, Clio unter Kulturschock, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 4 u. 5, 1997, S. 194–219 u. 259–278, hier S. 203. ERIC HOBSBAWM, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1998 [zuerst 1995, engl. 1994] nennt die Zeit von 1914 bis 1991, also vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Untergang der Sowjetunion, das „kurze 20. Jahrhundert“. Die englische Ausgabe trägt den Begriff auch im Titel: ders., Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991. London 1994.

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1. Einführung

Welt ringsum durch tausend Umstürze und den Bruch anderer Kontinuitäten erneuert.“11 Nur solche Merkmale, die in ihrer Beständigkeit allem Äußeren trotzten, rechtfertigen den langen Zeitraum der Untersuchung. Sie erst geben dem Gegenstand der Studie eine Form, die die Jahrzehnte überdauerte. Diese Merkmale ermöglichen es, den Untersuchungsgegenstand am Anfang wie am Ende des Jahrhunderts Lebensreform zu nennen. Zum anderen gilt das Interesse aber auch gerade den Auswirkungen von Umstürzen und Brüchen auf die diskursiven und organisatorischen Strukturen der Lebensreform. Denn die Reformhäuser als Wirtschaftszweig und die Ideen, für die sie standen und die sie verbreiteten, waren von der deutschen Gesellschaft beeinflußt und wirkten zugleich auf sie ein. Es geht also um eine Strukturgeschichte der Lebensreform in der Gesellschaft. Gesünderes Leben darf nicht im Sinne eines edlen, hehren Strebens nach mehr Glück für die größtmögliche Zahl mißverstanden werden. Dieser ideelle Impetus war aber bei vielen Reformern durchaus vorhanden. Reformhausbetreiber und Reformwarenunternehmen zielten zwar auf wirtschaftlichen Erfolg. Sie wollten schließlich ihre Produkte verkaufen. Man kann der Bewegung und den Autoren ihrer Zeitschriften aber durchaus zugleich eine gewisse idealistische und volksaufklärerische Position zubilligen. Sie waren nicht nur Kaufleute und Fabrikanten, sondern sie wollten auch die körperliche Gesundheit sowie die Vitalität ihrer Kunden und des deutschen Volkes fördern. Das gesündere Leben im Sinne der kritischen Theorie als reinen Ausdruck von Geschäftsinteresse und Kapitalisierung anzusehen wäre daher ebenso verfehlt wie abzustreiten, daß die Bewegung, die eben auch eine Branche war, auch ökonomische Motive hatte. Deshalb ist diese Strukturgeschichte der Lebensreform im einzelnen eine Diskurs-, Institutionen- und Konsumgeschichte. Es geht um die organisatorische und geistige Entwicklung insbesondere der Reformwarenwirtschaft im langen Zeitraum des kurzen 20. Jahrhunderts, um ihre Wechselbeziehung zum übrigen Konsumgütermarkt und zur deutschen Gesellschaft, um die lebensreformerischen Vorstellungen darüber, wie die Gesundheit der einzelnen und des Gemeinwesens sowie die Welt an sich zu verbessern seien. Indem die Untersuchung beide Deutungsmuster verwendet, die ideelle und die materielle Seite der Reform in den Blick nimmt, kommt sie den Antrieben und Intentionen des gesünderen Lebens besser auf die Spur, als es ein ausschließliches Studium der Gesundheitsdiskurse oder aber der institutionengeschichtlichen Entwicklung des Reformwarensektors ermöglichte. Die Konsumgeschichte bildet eine Klammer zwischen den beiden anderen Zugängen. 1.2.2. Institutionengeschichte – Lebensreform als Netzwerk Die Untersuchung begreift die Lebensreform als ein dezentrales Geflecht, dessen Organisations- und Kommunikationsformen es zu ergründen gilt. Es geht also 11

FERNAND BRAUDEL, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer, in: ders., Schriften zur Geschichte. 2 Bde. Stuttgart 1992, 1993 [franz. 1969]. Bd. 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen, S. 49–87, hier S. 60.

1.2. Quellen und Methode

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nicht um eine Institutionengeschichte im strengen Sinne, denn „die“ Institution der Lebensreform oder auch nur der Reformwarenwirtschaft gab es nicht. Bewegung und Branche bestanden vielmehr aus zahlreichen Organisationen, die vielfältige Beziehungen zueinander unterhielten. Kaum eine dieser Organisationen bestand vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis an sein Ende. Mitunter löste eine neue Organisation eine alte ab, oder eine bestehende gründete einen organisatorischen Ableger für bestimmte Aufgaben, oder es vereinigten sich mehrere Organisationen zu einer. Durch diesen Wandel ihrer organisatorischen, formalen Verknüpfungen hindurch hielt die Lebensreform über bestimmte Inhalte zusammen, die gemeinsam die Idee des gesünderen Lebens bildeten. Als Ausdruck der Vielgestaltigkeit der Lebensreform bei einer gleichzeitigen gewissen organisatorischen Verdichtung und Ausrichtung auf spezifische gemeinsame Inhalte wird der Begriff des Netzwerks als Deutungsmuster für das Phänomen der Lebensreform gewählt. Er ist nützlich, weil er zwar einerseits eine gewisse Form impliziert, zugleich aber auch auf Flexibilität, Elastizität und Wandlungsfähigkeit verweist. „Netzwerk“ wird als ein heuristischer Begriff verwendet, der es ermöglicht, die sich um bestimmte Inhalte gruppierenden Organisationen über einen längeren Zeitraum hinweg als relative Einheit zu begreifen. Unter dem Einfluß der Gesellschaft veränderte sich das Netzwerk der Lebensreform beständig, verwob seine Strukturen neu, stieß Teile ab und integrierte andere. Umgekehrt nahm das Netzwerk aber auch selbst Einfluß auf die Gesellschaft und veränderte sie. Die Lebensreform war nicht ein im Innern starres und nach außen präzise abgeschlossenes System, war nicht autopoietisch und selbstreferentiell. Daher darf das Bild des Netzwerks auch nicht mit einer Rezeption der Systemtheorie in der Prägung etwa durch Niklas Luhmann verwechselt werden.12 Auch elaborierte sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftliche Netzwerktheorien – mit denen die Arbeit immerhin die Überzeugung teilt, das Verhalten der einzelnen Teile des Netzwerks nur mit Blick auf das Netzwerk als Ganzes verstehen zu können –13 sind hier nicht am Platz. Mit „Netzwerk“ meint die Untersuchung nicht mehr und nicht weniger als eine relative Abgrenzung und eine relative Stabilität bei gleichzeitiger Durchlässigkeit und Veränderung. 1.2.3. Diskursgeschichte – Lebensreform als Text Hinter die im Zuge des linguistic turn aufgekommenen Sichtweisen gibt es kein Zurück. Postmoderne Theorien werden in dieser Arbeit daher weniger willentlich als Instrumente benutzt, als daß sie schlichtweg vorhanden sind, das Denken zu-

12 13

Vgl. NIKLAS LUHMANN, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt am Main 1997, zu Selbstreferenz und Autopoiesis von Systemen: Bd. 1, S. 61–63, 66f. Zur Netzwerkanalyse DOROTHEA JANSEN, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. 2. Aufl. Opladen 2003 [zuerst 1999], zur Annahme, das Ganze des Netzwerks sei mehr als die Summe seiner Teile: S. 13.

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1. Einführung

tiefst durchdringen.14 Die Postmoderne mag zwar nicht gerade, wie von ihren Theoretikern mitunter behauptet, unser Schicksal15 sein. Das postmoderne Denken hat die Geistes- und Kulturwissenschaften aber in einem Ausmaß beeinflußt, das darauf schließen läßt, daß es mehr ist als eine bloße Methode, die Wissenschaftler anwenden oder ablehnen können. In gewisser Weise läßt die postmoderne Pluralität ihnen tatsächlich keine Wahl, da sie „nicht bloß ein Binnenphänomen innerhalb eines Gesamthorizonts darstellt, sondern noch jeden solchen Horizont bzw. Rahmen oder Boden tangiert“.16 Für diese Arbeit ist aus der Vielstimmigkeit der postmodernen Ansätze insbesondere der Diskursbegriff von Bedeutung, der vor allem auf Michel Foucault zurückgeht17, den aber auch Jacques Derrida, Roland Barthes, Jacques Lacan, Julia Kristeva, Jürgen Habermas und andere mitgeprägt haben. Der Begriff, schon von Foucault in absichtlicher „Uneindeutigkeit“ verwendet18, ist in der Geschichtswissenschaft – und nicht nur in ihr – mittlerweile „in einer Weise endemisch geworden, die nur noch Mode und nicht mehr Methode ist“.19 Hier wird „Diskurs“ entsprechend einem integrativen Vorschlag des Literaturwissenschaftlers Michael Titzmann verstanden. Titzmann definiert den Begriff des Diskurses als ein „System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge abstrahiert ist und das erstens durch den Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist.“20 Hinsichtlich der Reform- und Gesundheitsdiskurse geht die Untersuchung also von einer verbalen Struktur aus, die sowohl inhaltlich (Redegegenstand) als auch formal (Regularitäten der Rede) weitgehend konsistent ist und deren spezifische Eigenart sich weiterhin in ihrer Abgrenzung von und in ihrer Beziehung zu anderen verbalen Strukturen (interdiskursive Relationen) offenbart – gemäß der Annahme Foucaults, daß „die Grenzen eines Buches […] nie sauber und eng ge14

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Der iconic turn oder pictoral turn, der die Bedeutung der Bildlichkeit gegenüber der textlichen Sprache hervorhebt, schimmert immer dann auf, wenn es um Körper- und Naturabbildungen geht. So KEITH JENKINS, On “What is History?”. From Carr and Elton to Rorty and White. London 1995, S. 6. WOLFGANG WELSCH, Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin 2002 [zuerst 1987], S. 4. Von den Werken Foucaults fanden besonders Gedanken aus den folgenden Eingang in diese Arbeit: MICHEL FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1971 [franz. 1966]; ders., Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1973 [franz. 1969]. FOUCAULT, Archäologie (wie Anm. 17), S. 156. DANIEL, Clio (wie Anm. 9), S. 266. Vgl. auch SIMONE WINKO, Diskursanalyse, Diskursgeschichte, in: HEINZ LUDWIG ARNOLD/HEINRICH DETERING (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft. 5. Aufl. München 2002 [zuerst 1996], S. 463–478, hier S. 464: „Modebegriff und insofern oft unspezifisch gebraucht“. MICHAEL TITZMANN, Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 406. Alle Hervorhebungen in Zitaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, im Original.

1.2. Quellen und Methode

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schnitten“ sind.21 Der wichtigste Redegegenstand ist das gesündere Leben mit seinen geistigen Inhalten und seinen materiellen Produkten. Zu den Regularitäten der Rede zählen in Texten der Lebensreform einerseits stilistische Mittel, die regelmäßig verwendet werden. Das gilt etwa für die detaillierte Beschreibung bestimmter Praktiken zum Nachahmen, für die Verknüpfung von weltanschaulichen Ideen mit der Werbung für Konsumgüter sowie für das Sich-Berufen auf Autoritäten und auf die Geschichte der eigenen Bewegung. Auf der anderen Seite gehören zu den Regularitäten der lebensreformerischen Rede auch bestimmte Textformen wie lebenspraktische Artikel und „erbauliche“ Aufsätze, Erlebnisberichte, Fragekästen, Bücherecken und Anzeigenteile. Interdiskursive Relationen bestehen zur Ratgeberliteratur. Oft meldeten die Zeitschriften das Erscheinen bestimmter beratender Bücher, rezensierten sie oder druckten Auszüge oder Zusammenfassungen ab. Darüber hinaus propagierten die Reformzeitschriften nicht nur ihre eigenen Konzepte und versuchten, sie in die Gesellschaft zu schleusen und dort möglichst weit zu verbreiten. Wenigstens ebenso sehr bündelten sie gesamtgesellschaftliche Strömungen und Moden. Insofern stehen die Texte der Lebensreform in interdiskursiver Relation zu einer Vielzahl jeweils aktueller Themen. Anders als einige postmoderne Theorien, insbesondere im Unterschied zum Poststrukturalismus Derridas22, geht die Untersuchung trotz ihrer in weiten Teilen diskursgeschichtlichen Orientierung aber zugleich davon aus, daß es auch Wirklichkeiten jenseits der Sprache gibt, daß Sprache also auf mehr verweisen kann als auf sich selbst. Der Diskurstheorie, so zwei berechtigte Kritikpunkte an ihr, falle es schwer, historischen Wandel zu erklären und Gründe dafür zu finden, warum ein Diskurs an Überzeugungskraft verliert und von einem neuen Diskurs abgelöst wird; weiterhin fehlten ihr psychologische Zugänge.23 Eine Untersuchung, die es sich zum Ziel gemacht hat, gesundes Leben nicht nur im Hinblick auf seine Konzepte und als von der Außenwelt unabhängiges System zu betrachten, sondern auch vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels – und nur deshalb darf sie sich im strengen Sinne historisch nennen –, kann sich also nicht ausschließlich auf die Diskurstheorie stützen, so verlockend das gerade hinsichtlich der Gesundheitsdiskurse in ihrer polyphonen Vielfalt, in ihrer schillernden Mischung aus Beständigkeit und Brüchen ist. Die Psychologie, insbesondere die Sozialpsychologie, erscheint im Zusammenhang mit dem gesünderen Leben ebenfalls zentral: Warum streben Menschen nach Gesundheit, wieso entwickeln sie dabei bestimmte Formen, und inwiefern sind sie in diesem Streben abhängig von der Gesellschaft, in der sie leben? Wer solche Fragen stellt, ist auch auf historische Subjekte24 angewiesen und auf die 21 22 23 24

FOUCAULT, Archäologie (wie Anm. 17), S. 36. „Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ (Il n’y a pas de hors-texte): JACQUES DERRIDA, Grammatologie. 6. Aufl. Frankfurt am Main 1996 [zuerst 1983, franz. 1967], S. 274. LYNDAL ROPER, Jenseits des linguistic turn, in: Historische Anthropologie, H. 3, 1999, S. 452–466, hier bes. S. 462. Deren Existenz verneint auch Foucault nicht: Er versteht Subjekte aber nur als Funktionen von Diskursen. FOUCAULT , Archäologie (wie Anm. 17), S. 46, 75f., 78f., 134. – SUZANNE MARCHAND, Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen

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1. Einführung

Fähigkeit, sich die jeweils Handelnden oder Schreibenden in ihrer Zeit vorzustellen. Denn die Texte allein verweigern hier eine Antwort. So sind die Diskurse über gesünderes Leben besonders eng mit einem Namen verbunden: Werner Altpeter, geboren 1902 in Heilbronn am Neckar und 1985 in Frankfurt am Main gestorben. Altpeter war seit dem „Einführungsheft“ der Zeitschrift Das Reformhaus, das im Dezember 1925 erschien, und bis 1975 Redaktionsmitglied dieses Blattes, das später Neuform-Rundschau und dann Reform-Rundschau hieß; seit 1932 war er alleiniger Schriftleiter. Die Kundenzeitschrift der Reformhäuser war von diesem Mann geprägt, von seinem Denken, seinem Schreibstil und von seiner Auffassung darüber, was Lebensreform sei und was sie leisten könne. So wird auch Altpeters Name nicht zugunsten freischwebender Diskurse verschwiegen. 1.2.4. Konsumgeschichte – Die Idee materialisiert sich Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Reformwarenwirtschaft immer mehr zum Kern der Lebensreform. Seit der Jahrhundertwende stellten ihre Organisationen jene Gesundheitsprodukte her, die für eine reformerische Lebensweise notwendig waren, und vermarkteten diese Waren in weiten Teilen des Deutschen Reichs. Die deutsche Gesellschaft war schon seit dem Modernisierungsschub im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und nicht erst seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine „Konsumgesellschaft“25, eine Gesellschaft also, in der Menschen anders kauften als zuvor: Die Konsumenten waren stärker von der dinghaften Ware selbst geleitet, die somit in eine neue, ungekannt affektive Beziehung zum Käufer trat. Konsumieren meint nicht nur das Kaufen, Gebrauchen, Verbrau-

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Bildung, in: THOMAS MERGEL/THOMAS WELSKOPP (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 323–348, hier S. 324, sieht die Frage nach der Konstruktion des historischen Subjekts gar im „Zentrum von Foucaults eklektischer Philosophie“. Dafür, die Konsumgesellschaft als eine „Struktur der ,longue durée’“ und nicht als Erscheinung erst der Nachkriegszeit zu begreifen, spricht sich auch Michael Prinz mit Hinweis auf die englische, amerikanische und französische Forschung aus: MICHAEL PRINZ, „Konsum“ und Konsumgesellschaft“ – Vorschläge zu Definition und Verwendung, in: ders. (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn u. a. 2003, S. 11–34, hier S. 19, 33f. – Vgl. auch KARL-PETER ELLERBROCK, An der Schwelle zur Konsumgesellschaft: Traditionelle Nahrungswirtschaft und die Anfänge der industriellen Nahrungsmittelproduktion in Preußen im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 273–289. – Vgl. hingegen statt vieler Autoren, welche die Konsumgesellschaft erst in der Nachkriegszeit beginnen lassen, nur WOLFGANG KÖNIG, Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000, S. 8: „In der Bundesrepublik Deutschland kann man von einer Konsumgesellschaft etwa seit den 1960er Jahren sprechen.“ Allerdings ordnet König die Entwicklung der Konsumgesellschaft durchaus in einen strukturgeschichtlichen Wandel seit dem 19. Jahrhundert ein, vgl. ebd., S. 7. – Mit dem Akzent auf der longue durée ist zugleich auch die Rede von einem „1950er-Syndrom“ zu relativieren, welche den fünfziger Jahren ähnliche Bedeutung beimißt wie der Industriellen Revolution. Zu diesem „Syndrom“ CHRISTIAN PFISTER (Hrsg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft. 2. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien 1996 [zuerst 1994].

1.2. Quellen und Methode

21

chen oder Verzehren von Waren, sondern auch die „damit im Zusammenhang stehenden Diskurse, Emotionen, Beziehungen, Rituale und Formen der Geselligkeit und Vergesellschaftung.“26 Erst diese Wandlungsprozesse ermöglichten das Phänomen der Reformhäuser und ihrer Waren. Die Produkte der Reformgeschäfte waren sichtbare Vertreter der Lebensreform nach außen und, für den einzelnen, Mittel zur Verwirklichung gesünderen Lebens nach innen. Die Reformhauswaren machten die Reformideen sichtbar, faßbar und anwendbar. In ihnen materialisierte sich die Lebensreform, fand sich das Wissen über eine gesunde, „naturgemäße“ Lebensweise verdichtet.27 Nicht nur aus der historischen Distanz gesehen manifestierte sich die Bewegung in den Produkten, sondern auch schon in den Augen der Lebensreformer selbst. Im „Jahrbuch der Deutschen Lebensreform“ von 1938 heißt es: „Die Reformware ist ein Kind der Reformbewegung. Sie ist sozusagen das Greifbare, was die Hausfrau zu sehen bekommt. […] [A]n ihr wird häufig die Reformbewegung selbst gemessen.“28 Die Diskurse der Lebensreform sind somit Semantiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“29 Mit Hilfe der Produktpalette der Reformhäuser konnte sich der Kunde die mehr gefühlte Reformidee und das handfeste Wissen über die Reform im Wortsinn einverleiben. Nicht nur, indem er Zeitschriften und Ratgeber las, konnte der Konsument Informationenen über Lebensführung und Gesundheit rezipieren. Er inkorporierte die reformerischen Werte vielmehr auch, indem er aß, trank und sich einölte. Indem der Lebensreformer mit pflegenden Essenzen gurgelte und seinen Körper ausspülte, wurde er nebenbei auch noch alles Ungesunde los: Schlacken, Bakterien, Viren und andere Fremdkörper. Reformerische Gedanken und reformerische Produkte, in Anlehnung an Michel Foucault also gewissermaßen les mots et les choses30 der Lebensreform, bilden gemeinsam die Inhalte des Netzwerks. Die Konsumgeschichte spielt somit in die Institutionengeschichte der Lebensreform hinein, deren Organisationen den Konsum ermöglichten und förderten, und zugleich in ihre Diskursgeschichte.

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HANNES SIEGRIST, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: ders./HARTMUT KAELBLE/JÜRGEN KOCKA (Hrsg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt am Main/New York 1997, S. 13–48, hier S. 16. RAINER GRIES, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003, S. 111 spricht von der „Vielzahl von bedeutungszuweisenden Handlungen, die ein Produkt in einer Gesellschaft zu vermitteln ermag“, als der „Kultur eines Produktes“. WERNER ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938. Dresden/Planegg bei München 1938, S. 48. FOUCAULT, Archäologie (wie Anm. 17), S. 74. So der französische Originaltitel von FOUCAULT, Ordnung der Dinge (wie Anm. 17).

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1. Einführung 1.2.5. Andere Zugänge

Neben Strukturgeschichte, Diskursgeschichte, Institutionengeschichte und Konsumgeschichte liegen auch die Kulturgeschichte, die Alltagsgeschichte und die Mentalitätsgeschichte an der Schnittstelle, auf der die Untersuchung inhaltlich und methodisch angesiedelt ist. Die Studie will eine Geschichte der deutschen Gesellschaft aus einem bestimmten Blickwinkel erzählen, sie in der Spiegelung und Bündelung der Lebensreformbewegung fassen. Dabei geht es nicht um eine Sozialgeschichte, nicht um die jeweiligen Trägerschichten der Reformbewegungen, die für die Jahrhundertwende gut erforscht und für spätere Zeiten schwerlich erforschbar sind, weil es im Gegensatz zu den Adreßbüchern der Vegetariervereine der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg keine Listen der Käufer in Reformhäusern gibt. Herauszufinden, welche sozialen Schichten am Fitness- und Wellnesstrend teilhatten, dürfte sich ebenfalls schwierig gestalten, zumal für die Historikerin. Dieses Feld muß der Soziologie überlassen bleiben. In dieser Untersuchung geht es vor allem um gesellschaftliche Entwicklungen und weniger um die Sozialstruktur der Gruppen, die sie anstießen oder manifestierten. Die Sozialgeschichte bleibt zwar nicht unberücksichtigt, spielt aber nur eine ergänzende Rolle. Weiterhin handelt es sich nicht um eine im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtliche Studie. Mitunter dienen zwar auch Schriften von Ärzten, Ernährungswissenschaftlern und Chemikern als Quellen. Die Lebensreform verstand sich aber selbst in erster Linie als Laienbewegung. Die Bewegung war personell und inhaltlich eng mit der Wissenschaft verwoben, da sie mit Forschern und Ärzten zusammenarbeitete und aufmerksam Entwicklungstendenzen und Ergebnisse der Wissenschaft beobachtete und rezipierte. Ob sich die einzelnen lebensreformerischen Konzepte tatsächlich wissenschaftlich untermauern lassen, spielt hier aber keine Rolle. Vielmehr interessieren die Semantiken, mit denen die Lebensreformer selbst ihre Ideen wissenschaftlich unterfütterten. Im engeren Sinne wissenschaftliche Texte über Gesundheit und gesundes Leben werden ausschließlich zu dem Zweck untersucht, bestimmte Moden und Mentalitäten auf diesem Gebiet zu erforschen. Was an ihnen interessiert, sind Aussagen zur Gesellschaft im allgemeinen und zu ihrem Gesundheitszustand im besonderen sowie zur Rolle des einzelnen in dieser Gesellschaft, weiterhin Hinweise auf in der jeweiligen Entstehungszeit der Texte vorherrschende Themen auf dem Gebiet der Gesundheit. In erster Linie dienen aber ohnehin nichtwissenschaftliche und populärwissenschaftliche Schriften als Quellen. Auch Gesundheitspolitik und öffentliches Gesundheitswesen haben eine bloß mittelbare Bedeutung für die Untersuchung. Sie sind nur dann von Interesse, wenn sie direkte Auswirkungen auf die Organisationen der Reformbewegungen zeitigten oder insofern sie sich, oft in Form von Kritik, in den Schriften über gesünderes Leben spiegelten.

1.3. Stand der Forschung

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1.3. STAND DER FORSCHUNG Bisher hat sich noch keine Untersuchung mit dem Phänomen des gesünderen Lebens im gesamten 20. Jahrhundert beschäftigt. Für die Zeit von der Antike bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt hingegen eine geistes- und kulturgeschichtliche Studie über „gesundes Leben“ vor.31 Mit dem 20. Jahrhundert als ganzem beschäftigen sich ausschließlich Untersuchungen, die sich auf das öffentliche Gesundheitswesen konzentrieren.32 Vergleichsweise gut erforscht ist aber die „klassische“ Lebensreformbewegung der Zeit um 1900. Das Interesse der Geschichtswissenschaft an ihr begann um 1970 und stand in Zusammenhang mit den in den Jahren nach 1968 entstehenden „neuen sozialen Bewegungen“, die man mitunter in inhaltliche Verbindung mit den Reformbewegungen der Jahrhundertwende brachte. Zunächst rückten drei junge, der Studentenbewegung zuzurechnende Autoren die Lebensreform mit einem Gemeinschaftswerk ins Interesse der historischen Forschung: dem sogenannten Fidus-Buch, einer Biographie des Malers und Graphikers Hugo Höppener, genannt Fidus (1868–1948), die der Band in den Kontext der Lebensreformbewegung einbettet.33 Kurz darauf legte Wolfgang Krabbe eine Studie vor, deren vorrangiges Ziel er „die Ausbreitung eines weitgehend unbekannten Faktenmaterials“ nannte.34 Seitdem haben sich Medizin-35, Sozial-36, Unternehmens-37 und Kulturhistoriker38 sowie Soziologen39 des Feldes angenommen. 31 32

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KLAUS BERGDOLT, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München 1999. Etwa aus medizinhistorischer Sicht ALFONS LABISCH, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt am Main/New York 1992. Zur Geschichte der Gesundheitspolitik und des öffentlichen Gesundheitswesens außerdem WOLFGANG WOELK/JÖRG VÖGELE (Hrsg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der „doppelten Staatsgründung“. Berlin 2002; SIGRID STÖCKEL/ULLA WALTER (Hrsg.), Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland. Weinheim/München 2002; MANFRED BERG/GEOFFREY COCKS (Hrsg.), Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in Nineteenth- and Twentieth-Century Germany. Cambridge 2002 [zuerst 1997]; UDO SCHAGEN/SABINE SCHLEIERMACHER (Hrsg.), Sozialmedizin, Sozialhygiene, Public Health. Konzepte und Visionen zum Verhältnis von Medizin und Gesellschaft. (= Berichte und Dokumente zur Zeitgeschichte der Medizin, Bd. 5.) Berlin 2002; für das „Dritte Reich und insbesondere den Zweiten Weltkrieg WINFRIED SÜß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945. München 2003. JANOS FRECOT/JOHANN FRIEDRICH GEIST /DIETHART KERBS (Hrsg.), Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. Erw. Neuaufl. Hamburg 1997 [zuerst 1972]. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 11. KARL E. ROTHSCHUH, Naturheilkundebewegung – Reformbewegung – Alternativbewegung. Darmstadt 1983. CHRISTOPH CONTI, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute. Reinbek bei Hamburg 1984. Die Studie springt allerdings unter Auslassung des „Dritten Reiches“ und der fünfziger Jahre direkt von der Jugendbewegung der Weimarer Republik zu den Studentenprotesten der späten sechziger Jahre.

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1. Einführung

Weiterhin erschienen Studien und Aufsätze zu einzelnen lebensreformerischen Strömungen wie der Naturheilkunde40, dem Vegetarismus41, der Nacktkultur42, der Kleidungsreform43, der Gartenstadtbewegung44 und der Siedlungsbewegung45. In den Jahren 1998 und 2001 faßten zwei große Überblicksdarstellungen den Stand der Forschung zusammen: ein „Handbuch der deutschen Reformbewegungen“ und ein zweibändiger Darmstädter Ausstellungskatalog.46 Wie alle bisherigen Studien konzentrieren sie sich auf die Zeit vor 1933. Die Lebensreform im „Dritten Reich“ und in der Zeit nach 1945 werden meist nicht oder nur in skizzenhaften Ausblicken behandelt.47 37

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JUDITH BAUMGARTNER, Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893. Frankfurt am Main 1992. CORONA HEPP, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. 2. Aufl. München 1992 [zuerst 1987]. EVA BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1997. CORNELIA REGIN, Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889–1914). Stuttgart 1995; GUNNAR STOLLBERG, Die Naturheilvereine im Deutschen Kaiserreich, in: Archiv für Sozialgeschichte 28, 1988, S. 287–305; ROBERT JÜTTE, Geschichte der alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. München 1996; MARTIN DINGES (Hrsg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870–ca. 1933). Stuttgart 1996. HANS-JÜRGEN TEUTEBERG, Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81, H. 1, 1994, S. 33–65. MAREN MÖHRING, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890– 1930). Köln/Weimar/Wien 2004; MICHAEL ANDRITZKY/THOMAS RAUTENBERG (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“. Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Geschichte der Freikörperkultur. Gießen 1989. Vgl. auch SIMONE TAVENRATH, „So wundervoll sonnengebräunt.“ Kleine Kulturgeschichte des Sonnenbadens. Marburg 2000; OLIVER KÖNIG, Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990. IRMTRAUT SAHMLAND, Zwischen Modekritik und emanzipatorischem Anspruch. Hintergründe und Ziele der Gründung des Vereins für Verbesserung der Frauenkleidung von 1896, in: Archiv für Kulturgeschichte 78, 1996, S. 433–451. KRISTIANA HARTMANN, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform. München 1976. ULRICH LINSE (Hrsg.), Zurück, o Mensch, zu Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933. München 1983. DIETHART KERBS/JÜRGEN REULECKE (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998; KAI BUCHHOLZ u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. Darmstadt 2001. Zur Lebensreform im „Dritten Reich“ WOLFGANG R. KRABBE, „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreform-Bewegung ist der Nationalsozialismus“. Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich, in: Archiv für Kulturgeschichte 71, 1989, S. 431– 461. – Für die fünfziger Jahre FLORENTINE FRITZEN, Spinat-Milch, Krebsvorsorge, Lebensglück. Wissenspopularisierung in der Reformbewegung der 1950er Jahre, in: CARSTEN KRETSCHMANN (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003, S. 361–380. – Vgl. auch einen von einem „Dabeigewesenen“ verfaßten kurzen historischen Abriß der Lebensreform, der bis in die sechziger Jahre reicht: WERNER ALTPETER, Zur Geschichte der Lebensreform. Bad Homburg/Berlin/Hamburg 1964.

1.3. Stand der Forschung

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Für die Weimarer Republik sind insbesondere sozialistische Verbände und Arbeiterorganisationen wie der „Verband der Vereine für Volksgesundheit“, der Touristenverein „Die Naturfreunde“, der „Arbeiter-Samariter-Bund“ und der „Deutsche Arbeiter-Abstinenten-Bund“ erforscht.48 Zum Teil schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden, erhielten diese Gruppen in der jungen Republik besonderen Auftrieb. Historiker sehen die Beschäftigung mit der Lebensreform seit einigen Jahren außerdem oft im Kontext der „Körpergeschichte“. Vor allem Überblicksdarstellungen zur Weimarer Republik erwähnen immer wieder die Weimarer „Körperkultur“ – meist, ohne diese eingehend zu analysieren – und in diesem Zusammenhang auch lebensreformerische Bestrebungen. Mitunter erscheint die „Körperkultur“ der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende auch als mehr oder weniger direkter Vorläufer heutiger Vorstellungen vom Körper.49 Eine diskursanalytisch orientierte Geschichte des Körpers hat für das lange 19. Jahrhundert Philipp Sarasin am Beispiel der Hygienebewegung vorgelegt.50 Für das kurze 20. Jahrhundert und die Lebensreform gab es bislang nichts Vergleichbares. Lediglich zur Hygienebewegung zwischen 1920 und 1960 liegt eine medizinhistorische Untersuchung vor51, und eine Studie über den Gesundheitsund Schönheits-„Kult“ in Deutschland, die sich eigentlich als Sozialgeschichte versteht, beschreibt auch auch das „diskursive Feld“, auf dem sich Lebensreformer und Ärzte zwischen 1890 und 1930 bewegten.52 Ein Teil der Literatur streift diskursgeschichtliche Aspekte der Lebensreform, tut die Inhalte der Reformliteratur aber pejorativ als Topoi ab. 53 Diese Sichtweise verkennt, daß die im Zusammenhang der Lebensreform immer wiederkehrenden Episteme54 für die Zeitgenossen echte Schlagworte waren55, die sich noch nicht zu aussageschwachen Hülsen verbraucht hatten, sondern die im Gegenteil in der Zeit selbst Signalcharakter hatten. 48

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FRANZ WALTER/VIOLA DENECKE/CORNELIA REGIN (Hrsg.), Sozialistische Gesundheits- und Lebensreformverbände. (= Solidargemeinschaft und Milieu: Sozialistische Kultur- und Freizeitorganisationen in der Weimarer Republik, Bd. 2.) Bonn 1991. So bei SABINE MERTA, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930. (= Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 22.) Stuttgart 2003; BUCHHOLZ u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform, Bd. 1 (wie Anm. 46), bes. S. 571–602; BERND WEDEMEYER, Starke Männer, starke Frauen. Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings. München 1996, S. 15. PHILIPP SARASIN, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt am Main 2001. ROBIN T. MAITRA, „… wer imstande und gewillt ist, dem Staate mit Höchstleistungen zu dienen!“ Hans Reiter und der Wandel der Gesundheitskonzeption im Spiegel der Lehr- und Handbücher der Hygiene zwischen 1920 und 1960. Husum 2001. MICHAEL HAU, The Cult of Health and Beauty in Germany. A Social History, 1890–1930. Chicago/London 2003, zum diskursgeschichtlichen Ansatz S. 2. So etwa BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 198. Verstanden als kognitives Schema zur Organisation von Wissen, das für eine Epoche charakteristisch ist. Vgl. FOUCAULT, Ordnung der Dinge (wie Anm. 17), S. 46–66. Dazu, wenn auch sehr knapp, KAI BUCHHOLZ, Begriffliche Leitmotive der Lebensreform, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform, Bd. 1 (wie Anm. 46), S. 41–43.

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1. Einführung

Seit einigen Jahren interessieren sich Historiker auch für die Geschichte von Ernährungswissenschaft und Ernährungsformen.56 Insbesondere liegen inzwischen Studien vor, die sich ganz oder zum Teil der Rolle der Ernährung im „Dritten Reich“ widmen.57 Die „Neue Deutsche Heilkunde“, eine Synthese aus Schulmedizin und Naturheilkunde, die der Nationalsozialismus anstrebte, ist Gegenstand zweier medizinhistorischer Untersuchungen. Die eine konzentriert sich auf die „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ in den Jahren 1935 und 1936, die andere stützt sich im wesentlichen auf die Zeitschrift Hippokrates und die volksheilkundliche Laienbewegung.58 Die Konsumgeschichte der Lebensreform ist hingegen bislang vollständig unerforscht, die Institutionengeschichte der Reformwarenwirtschaft weitgehend. Mit der Reformwarenbranche beschäftigt sich – von Hinweisen auf Reformhäuser und Reformwarenhersteller in Studien mit anderen Schwerpunkten abgesehen59 – lediglich eine Studie am Beispiel der lebensreformerischen Siedlung und des Unternehmens Eden in Oranienburg bei Berlin.60 1.4. GANG DER UNTERSUCHUNG Zunächst untersucht die Studie die formale Struktur der Lebensreform mit ihren Organisationen, ihren Kommunikationsmedien, den Menschen, die sie prägten und die sie umgekehrt selbst prägte, und ihrer Wechselbeziehung mit der deutschen Gesellschaft (Kapitel 2.). Die Form des lebensreformerischen Netzwerks ermöglichte es den Diskursen über die Ideen und Produkte der Lebensreform, sich zu entfalten. Diese semantischen und materiellen Inhalte der Lebensreform beleuchten die beiden darauf folgenden Teile: Zunächst geht es um die diachronen Diskurse der Lebensreform, also um die Veränderung und Verschiebung von Redegegenständen (3.). Anschließend werden die zentralen, die Jahrzehnte überdauernden Redegegenstände untersucht, also die synchronen Diskurse der Lebensreform (4.). Das abschließende Kapitel verbindet die formalinstitutionengeschichtliche Perspektive mit der inhaltlich-diskursgeschichtlichen

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MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49). JÖRG MELZER, Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch. Stuttgart 2003; ROBERT N. PROCTOR, Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 2002 [engl. 1999]; SUSANNE HEIM, Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945. Göttingen 2003. ALFRED HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine neue deutsche Heilkunde (1935/36). Ein Beitrag zum Verhältnis von Schulmedizin, Naturheilkunde und Nationalsozialismus. Husum 1985; DETLEF BOTHE, Neue deutsche Heilkunde 1933–1945. Dargestellt anhand der Zeitschrift „Hippokrates“ und der Entwicklung der volksheilkundlichen Laienbewegung. Husum 1991. Besonders in: KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 112–130; MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 176–190. Vgl. BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37).

1.4. Gang der Untersuchung

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Sichtweise: Der letzte Teil blickt auf die allmähliche Auflösung des lebensreformerischen Netzwerks am Ende des 20. Jahrhunderts (5.).

2. LEBENSREFORM ALS NETZWERK Diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930)

Wie funktioniert ein Netzwerk? Mit Blick auf die Lebensreform heißt die Antwort: indem es Inhalte aufbewahrt, verwaltet, verändert und verbreitet. Diese Inhalte, die geistigen und dinglichen Produkte der Lebensreform, sind Gegenstand des dritten und vierten Kapitels. In diesem zweiten Kapitel geht es hingegen um die formale Seite, um das Inhalts-Management des Netzwerks – davon ausgehend, daß eine Diskursanalyse „auch die institutionellen Plätze beschreiben“ muß, von denen aus Diskurse „ihren legitimen Ursprung und ihren Anwendungspunkt“ finden. 61 Das Netzwerk der Lebensreform funktionierte mit Hilfe von Organisationen, Kommunikationsmedien und bestimmten Personengruppen sowie Persönlichkeiten – also von Menschen. Voraussetzung für das Entstehen des lebensreformerischen Netzwerks waren die spezifischen Bedingungen der beginnenden Moderne im 19. Jahrhundert (2.1.). „Organisation“ bezeichnet die Formen, in denen die Lebensreform ihre Inhalte institutionell verfaßte: vor allem Verbände, Vereine, Genossenschaften und Unternehmen (2.2.). „Kommunikation“ meint den Vorgang, mit dem sich die Inhalte der Lebensreform innerhalb und außerhalb des Netzwerks verbreiteten. Wichtigste Kommunikationsmedien der Lebensreform waren Zeitschriften und andere Publikationen (2.3). Die Menschen im Netzwerk vereinten Elemente von Organisation und Kommunikation: Personen und Personengruppen wirkten in Organisationen, und sie sprachen, schrieben, lasen und tradierten, waren also zugleich selbst Medien der Kommunikation (2.4). Und schließlich war das Netzwerk nach außen hin nicht abgeschlossen, sondern es stand im Austausch mit der Gesellschaft (2.5). 2.1. ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN: LEBENSREFORM UND MODERNE Als Ursache für die Entstehung der Lebensreformbewegung bietet die historische Forschung oft ein Erklärungsmuster an, das hier als Antimodernisierungsthese bezeichnet werden soll. Es ist nicht beabsichtigt, diese These zurückzuweisen, sondern vielmehr, sie zu differenzieren. Zusammengefaßt besagt das Deutungs61

FOUCAULT, Archäologie (wie Anm. 17), S. 76.

2.1. Entstehungsbedingungen: Lebensreform und Moderne

29

muster der Antimodernisierung, daß im 19. Jahrhundert in Gang gekommene Modernisierungsprozesse die Menschen ihres alten, vormodernen Lebensraums beraubten und sie der Natur entfremdeten. Darauf habe die Lebensreform dann reagiert. Die Bewegung erscheint folglich als „Gegenbewegung, die sich gegen die negativen Folgen der Industrialisierung richtete“62, als „Reaktion auf den sozioökonomischen Umwandlungsprozeß“ im 19. Jahrhundert63, als Orientierungshilfe in einer Welt, in der hergebrachte Kategorien, soziale und lebensweltliche, immer weniger galten.64 Oft deuten Anhänger der These die Lebensreform als Antwort auf die Schnellebigkeit der modernen Welt. „Die wilhelminische Ära konfrontierte die Menschen pausenlos mit Neuem“65, heißt es etwa, und zugleich habe sich das tägliche Leben beschleunigt.66 Die „moderne Paradoxie, daß man ständig mit Eisenbahn und Trambahn z.B. Zeit spart und ständig weniger Zeit hat“, sowie die Zunahme von Reizen67 seien dem menschlichen Organismus nicht mehr angepaßt gewesen. Also seien die Menschen nervös oder gar krank geworden. Die Lebensreform erscheint hier, vor allem in Form der Naturheilkunde mit ihren Wasseranwendungen und Lichtluftbädern, als Beruhigungsmittel: Sie gab den Patienten die Möglichkeit, selbst aktiv etwas für ihre Gesundheit zu tun.68 Auch die wachsenden Großstädte sehen Vertreter der Antimodernisierungsthese als Ursache für das Aufkommen der Lebensreform. So hätten die beengten Wohnverhältnisse in städtischen Mietskasernen die psychische und physische Gesundheit der Menschen beeinträchtigt, die dort leben mußten, und die Gartenstadtbewegung auf den Plan gerufen.69 Weiterhin brachte die Urbanisierung, die im Unterschied zur rein quantitativen Verstädterung auch einen „qualitativen Prozeß der Diffusion einer spezifisch urbanen Lebensform“70 impliziert, den Ausbau von Verkehrssystemen und Kommunikationsmitteln mit sich, ließ den Konsum

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BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37), S. 20. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 13. DIETHART KERBS/ULRICH LINSE, Gemeinschaft und Gesellschaft, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 155–159, hier bes. S. 157. HARTMUT BERGHOFF, „Dem Ziele der Menschheit entgegen. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: UTE FREVERT (Hrsg.). Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Göttingen 2000, S. 47–78, hier S. 50. Allgemein zur Beschleunigung in verschiedenen Lebensbereichen PETER BORSCHEID, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt am Main/New York 2004, zum Unbehagen angesichts der Beschleunigung und zur Kritik an ihr seit der Wende zum 20. Jahrhundert S. 7–10. THOMAS NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866–1918. 2 Bde. München 1998 [zuerst 1990, 1992]. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 188. Zur Bedeutung des Selber-Machens in der Lebensreform, allerdings ohne den Antimodernisierungsaspekt, auch HAU, Cult of Health and Beauty (wie Anm. 52), S. 17, 30. HARTMANN, Deutsche Gartenstadtbewegung (wie Anm. 44), S. 12. FRIEDRICH LENGER, Großstadtmenschen, in: UTE FREVERT/HEINZ-GERHARD HAUPT (Hrsg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999, S. 261–291, hier S. 263.

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2. Lebensreform als Netzwerk

massenhaft werden.71 Das legt den Gedanken nahe, das „Wegbrechen eines jahrhundertealten Moralsystems ständisch-ländlicher Prägung“ habe die Bewohner der Städte verunsichert.72 Bewegungen wie die Lebensreform hätten hier angesetzt, indem sie Halt in einer immer unüberschaubarer werdenden Welt boten. Besonders wichtig sei für die Anhänger der Reformbewegungen aber auch ein konkretes Bedürfnis nach Kompensation gewesen.73 Die Menschen hätten schlicht ein Verlangen nach Ausgleich verspürt: Wer viel bei der Arbeit saß, habe sich Bewegung gewünscht, wer immer mehr Fertigprodukte und Konservenkost kaufte und aß, eben weil sie praktisch, preisgünstig und überall zu haben waren, habe sich nach frischer Nahrung gesehnt. Weiterhin sei, so ein anderes Argumentationsmuster der These, durch die Säkularisierung und die schwächere Wirkkraft des Christentums, besonders des Protestantismus, auf dem Markt der Sinnanbieter ein Vakuum entstanden. Die Evolutionstheorie Charles Darwins stellte den biblischen Schöpfungsmythos und die christliche Vorstellung von der Einzigartigkeit des Menschen in Frage. Das „naturwissenschaftliche Denken“ habe hier eine neue Gewißheit geschaffen, „die zwar den Fortschrittsglauben befriedigte, die Emotionalität aber heimatlos zurückließ.“74 Aus seelischer Verunsicherung heraus hätten sich folglich viele Menschen den Reformbewegungen zugewandt, die oft als Ersatzreligionen, als säkularisierte Erlösungs- und Heilslehren75 gewirkt hätten. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen – dies ein letzter Aspekt der Antimodernisierungsthese – entdeckten im 19. Jahrhundert das zuvor Unsichtbare: die Physiker die Röntgenstrahlen, die Biologen die Mikroben und die Bakterien, die Psychologen und Psychoanalytiker das menschliche Unbewußte. Solche Einblicke und Introspektionen blieben dem Laien meist verwehrt. Für ihn wurde der Mensch erst in den zwanziger Jahren gläsern76, war sein Innerstes nur auf Gesundheitsausstellungen oder im Panoptikum sichtbar. Im Alltag hingegen „enthüllt sich das Wesen der sichtbaren Welt als der menschlichen Sinneswahrnehmung unzugänglich, Mensch und Kosmos scheinen unwiderruflich getrennt.“77 71 72

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CHRISTOPH ZIMMERMANN, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Frankfurt am Main 1996, S. 38. JOACHIM JOE SCHOLZ, „Haben wir die Jugend, so haben wir die Zukunft“. Die Obstbausiedlung Eden/Oranienburg als alternatives Gesellschafts- und Erziehungsmodell (1893–1936). Berlin 2002, S. 13. So etwa NIPPERDEY, Arbeitswelt und Bürgergeist (wie Anm. 67), S. 185: „Man irrt, wenn man hier gleich Flucht oder Stadtfeindschaft sieht, die Sache ist viel einfacher: Es ist das Verlangen nach Kompensation.“ WOLFGANG R. KRABBE, Die Lebensreformbewegung, in: BUCHHOLZ u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform, Bd. 1 (wie Anm. 46), S. 25–29, hier S. 25. WOLFGANG R. KRABBE, Lebensreform/Selbstreform, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 73–75, hier S. 74. Auf der Ausstellung „Gesundheitspflege – Soziale Fürsorge – Leibesübungen“ (Gesolei) in Düsseldorf präsentierte das Dresdner Hygiene-Museum 1926 seine Neuheit „Der durchsichtige Mensch“: Der Naturarzt, Februar 1927, S. 49. MONIKA FICK, Sinnstiftung durch Sinnlichkeit: Monistisches Denken um 1900, in: WOLFGANG BRAUNGART/GOTTHARD FUCHS/MANFRED KOCH (Hrsg.), Ästhetische und reli-

2.1. Entstehungsbedingungen: Lebensreform und Moderne

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Das Unsichtbare aber entfaltete, so die These, eine ungeahnte Macht und übte zugleich eine große Faszination aus. Vor allem die Mikroben beflügelten in dieser Deutung die Vorstellungswelt, in der die winzigen Lebewesen sich zu „kleinen Monstern“78 aufbliesen, die man zwar nicht sehen konnte, die es aber sowohl am eigenen Körper als auch in der Wohnung zu bekämpfen galt. Nicht vernichten, sondern rufen wollte man hingegen die Geister von Verstorbenen, wollte unsichtbare Seelen sichtbar oder doch wenigstens hörbar oder spürbar machen. Folglich erscheint es naheliegend, auch den sich im 19. Jahrhundert entfaltenden Spiritismus, ganz wie die Lebensreform, in den Kontext einer „Heilssuche im Industriezeitalter“ einzuordnen79, ihn also als Reaktion auf die Moderne zu deuten. Die Antimodernisierungsthese ist, das klang schon an, in vieler Hinsicht richtig. Sie vereinfacht aber, auch und gerade in ihrer Konzentration auf geistesgeschichtliche Befindlichkeiten, ein oszillierendes Wechselspiel von gesellschaftlichen Prozessen, indem sie Moderne und Lebensreform als einseitiges Schema von Ursache und Wirkung abbildet. Denn die Reformbewegungen waren nicht nur Folge von Modernisierungsprozessen, sondern auch deren Motor. Die Lebensreform fing zwar Menschen auf, die an der Suche nach ihrem Platz in der neuen modernen Welt verzweifelten. Sie war aber auch selbst ein modernes Konzept. Ihre Abgrenzung von der Moderne erzeugte in einem Effekt der Rückkopplung und Verstärkung wiederum Modernität80 – eine Modernität, die nicht im Sinne der „klassischen“ Moderne modern war, sondern auf „andere“ Weise in die Zukunft wies. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Fronten zwischen denen, die sich einst zu der Idee des Fortschritts und zum entschlossenen Aufbruch in die Moderne bekannt hatten, vor allem dem liberalen Bürgertum, und jenen, die der Modernisierung mit Skepsis begegneten, also den konservativen Kräften in Staat und Gesellschaft, „in verwirrendster Weise verschränkt und vielfach verkehrt.“81 Daß die Lebensreform aus Sicht der herkömmlichen Kategorien „modern“ und „antimodern“ zugleich sein konnte, beruht auf diesem Zustand der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.82 Das Paradox, daß die moderne Gesellschaft selbst

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giöse Erfahrungen der Jahrhundertwende. 2 Bde. Paderborn 1998. Bd. 2: Um 1900, S. 69– 83, hier S. 69. GEORGES VIGARELLO, Wasser und Seife, Puder und Parfum. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter. Frankfurt am Main 1992 [franz. 1985], S. 242. Vgl. ULRICH LINSE, Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter. Frankfurt am Main 1996; ders., Der Spiritismus in Deutschland um 1900, in: MORITZ BAßLER/HILDEGARD CHÂTELLIER (Hrsg.), Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Straßburg 1998, S. 95–113; DIETHARD SAWICKI, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900. Paderborn u. a. 2002. Ähnlich für die Globalisierung ULRICH BECK, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Frankfurt am Main 2002, S. 415f.: „Globalisierung muß bekämpft werden mit – Globalisierung!“, „Widerstand beschleunigt!“ LOTHAR GALL, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890. 3. Aufl. München 1997 [zuerst 1984], S. 100. Zu diesem „Axiom, das im 19. Jahrhundert durch soziale und politische Veränderungen angereichert wurde, die den Satz in die Alltagserfahrung holten“, vgl. REINHART

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2. Lebensreform als Netzwerk

noch in einer Modernisierung begriffen war, die Modernisierung als ein Desiderat empfand83, ermöglichte verschiedene Stufen und Vorstellungen von Moderne – vor allem eben das Konzept einer „anderen Moderne“ und eines „dritten Weges“.84 Die Auseinandersetzung um die Moderne nahm also einerseits an Schärfe zu, verlor andererseits aber auch an Eindeutigkeit, weil die Modernisierung selbst krisenhaft verlief.85 So ist die Antimodernisierungsthese in der Literatur auch nicht unwidersprochen geblieben. Michael Hau sieht die verstärkte Beschäftigung mit Gesundheit seit dem späten 19. Jahrhundert nicht als Reaktion auf die Modernisierung, sondern vielmehr als Ausdruck der Widersprüche und Spannungen der „klassischen Moderne“.86 Daß die meisten zivilisationskritischen Bewegungen der Jahrzehnte um 1900 nicht oder nicht nur antimodernistisch waren, hat Thomas Rohkrämer gezeigt, ohne besonders auf die Lebensreform einzugehen.87 Auch Joachim Radkau zeichnet in seiner Untersuchung über das von ihm so genannte Zeitalter der Nervosität – wie Rohkrämer ohne besonderen Fokus auf die Lebensreform – ein differenziertes Bild, das die Nervosität der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende als vielschichtige Manifestation der Moderne versteht und auch die Moderne selbst nicht monolithisch, sondern als reich an Diskrepanzen begreift.88 Gerade hinsichtlich der Lebensreform haben sich aber andernorts gewonnene und in Studien über eng mit ihr verflochtene Gebiete und Diskurse – wie bei Rohkrämer und Radkau – auch angewandte Einsichten über den Facettenreichtum der Moderne nur stellenweise durchgesetzt. So beginnt der erste und grundlegende Aufsatz des Katalogs zur Darmstädter Lebensreformausstellung von 2001, der sich als Beitrag zur Forschung versteht, mit den Schlagworten der Modernisierung, der Säkularisierung, der Industrialisierung, der Urbanisierung und des Tempos, die Lebensreform erscheint als Protest, Reaktion und Gegenbewegung, also immer als einseitige Antwort auf die Moderne.89 Die Moderne war zwar nicht ein Reiz, auf den reflexartig die Lebensreform folgte, aber doch der Nährboden, auf dem Reformbewegungen keimen und wach-

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KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1995 [zuerst 1979], bes. S. 325. LUHMANN, Gesellschaft der Gesellschaft 2 (wie Anm. 12), S. 1082f. Die auch in der sogenannten Postmoderne häufig gefordert werden. Vgl. etwa ANTHONY GIDDENS, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt am Main/Wien 1999 [engl. 1998], S. 78f.: „Das übergreifende Ziel der Politik des dritten Weges muß es sein, den Bürgern dabei zu helfen, sich ihren Weg durch die großen Revolutionen unserer Zeit zu bahnen: die Globalisierung, die Veränderung des persönlichen Lebens und unsere Beziehungen zur Natur.“ DETLEV J. K. PEUKERT, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Darmstadt 1997 [zuerst Frankfurt am Main 1987], S. 23. HAU, Cult of Health and Beauty (wie Anm. 52), S. 3. THOMAS ROHKRÄMER, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik 1880– 1933. Paderborn u. a. 1999, S. 15f. JOACHIM RADKAU, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München/Wien 1998, bes. S. 173–215. KRABBE, Lebensreformbewegung (wie Anm. 74), S. 25.

2.1. Entstehungsbedingungen: Lebensreform und Moderne

33

sen konnten – ganz wie auch Industriestandorte, Großstädte und „moderne“ wissenschaftliche Institutionen. Erst die Möglichkeit der seriellen Produktion90 sowie moderne Transport-, Kommunikations- und Publikationsmethoden ermöglichten den Aufbau eines Reformhausnetzes, das sich allmählich über ganz Deutschland ausbreitete.91 Zugleich förderte die industrielle Nahrungsmittelproduktion indirekt das Entstehen und die Verbreitung der asketisch-bürgerlichen Lebensreform. Die Fließband-Fertigung demokratisierte im 19. Jahrhundert das Konsumverhalten, ließ Privilegien in der Ernährung schwinden. Ehemalige Luxusgüter wie Fett, Kaffee, Kakao, Tabak und Gewürze wurden bei gleichbleibend hohem Konsum des Bürgertums auch für ärmere Schichten erschwinglich, seit der Jahrhundertwende entwickelte sich auch der Zucker zum „inferioren Gut“ und somit zum Volksnahrungsmittel.92 Es fällt leichter und erscheint sinnvoller, auf Güter zu verzichten, die potentiell jedermann bis zur Übersättigung zur Verfügung stehen, als auf solche, auf die nur die eigene, privilegierte Schicht Zugriff hat. Insofern war die Lebensreform, auch wenn das hinsichtlich ihrer Betonung des Verzichts auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, ein Luxusphänomen der entstehenden Wohlstandsgesellschaft. Je mehr sich diese entfaltete, desto besser konnte sich auch jene etablieren. Das trifft vor allem auf die Reformwarenwirtschaft als den kommerzialisierten und langlebigsten Zweig der Lebensreform zu: Die Reformbranche profitierte von der Demokratisierung der Nahrung, indem sie mit ihren Gesundheitsprodukten neue Luxusgüter anbot und verhältnismäßig teuer verkaufte. Die Lebensreformbewegung war also eine Erscheinung der modernen Industrie-, Wissens- und Konsumgesellschaft. Zugleich trat sie immer auch als Kritikerin dieser Gesellschaft auf, sagte der Nahrungsmittelindustrie den Kampf an, beklagte eine zu verwissenschaftlichte Welt, stritt gegen den Verzehr von Fleisch, gegen das Rauchen und das Trinken von Alkohol. Überhaupt kritisierte die Bewegung jede Art von übermäßigem Konsum. Das „Konsumieren“ hat zwar in der 90

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Mitunter diente die serielle Produktion lebensreformerischen Unternehmen sogar als Argument für den Gesundheitswert eines Produktes. Im Jahr 1914 reimte ein Werbespruch für „Dr. Schlinck’s Palmona Pflanzen-Butter-Margarine“: „Wie das Futter, / So die Butter. / Manchem Bauer / Wird sie sauer! / Ist sie fett u. ist sie süß, / Ist sie teuer ganz gewiß. / Nimmt man sie von hundert Orten, / Hat man sicher / Hundert Sorten! / Doch im ganzen, weiten Reich / Ist Palmona immer gleich!“ Werbeanzeige in: Vegetarische Warte vom 3. Januar 1914, S. IV. Ähnlich für die Globalisierungskritiker BECK, Macht und Gegenmacht (wie Anm. 80), S. 416: „Alle ,Globalisierungs-Gegner’ teilen nicht nur mit ihren ,Gegnern’ die globalen Kommunikationsmedien […]. Sie operieren auch auf der Grundlage globaler Märkte, globaler Arbeitsteilung und globaler Rechte.“ Zum Wandel von Luxus- zu Massengütern MASSIMO MONTANARI, Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1993, S. 198–201; THOMAS HENGARTNER/CHRISTOPH MARIA MERKI, Für eine Geschichte der Genußmittel, in: dies. (Hrsg.) Genußmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch. Frankfurt am Main 1999, S. 7– 21, hier S. 9f.; REINHOLD REITH, Einleitung, in: ders./TORSTEN MEYER (Hrsg.), „Luxus und Konsum“ – Eine historische Annäherung. (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, Bd. 21.) Münster u. a. 2003, S. 9–27, hier S. 10; ELLERBROCK, Schwelle zur Konsumgesellschaft (wie Anm. 25), S. 289.

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2. Lebensreform als Netzwerk

neuesten Geschichtsschreibung eine positive Aufladung erfahren. Ursprünglich aber betrachtete der öffentliche Diskurs den Begriff meist negativ oder wenigstens abwertend.93 Das zeigt sich auch in der seit der Jahrhundertwende verbreiteten Kritik am Warenhaus.94 Bei all ihrer Konsumkritik bot die Lebensreform ihren Kunden in den Reformhäusern aber eben auch selbst Konsumgüter an. Die Bewegung lehnte den Modernisierungsprozeß nicht grundsätzlich ab, begriff aber die tatsächliche Entwicklung als Fehlentwicklung – wie eben vielen Kulturkritikern mit der Krise des Fortschrittsgedankens „das meiste von dem, was die Entwicklung der modernen Gesellschaft seit Jahrhunderten vorangetrieben und sie in ihrer jetzigen Gestalt begründet hatte, als ein Bündel von zerstörerischen Kräften [erschien], von Elementen der Entfremdung des Menschen aus seinen ,natürlichen‘ Zusammenhängen und Ordnungen.“95 Zugleich hielt die Lebensreform daran fest, daß eine andere Entwicklung möglich sei. Die Bewegung profitierte also in zweifacher Hinsicht von der Moderne. Zum einen bediente sie sich der Möglichkeiten der Moderne. Zum anderen konstituierte sie sich aber erst durch die Kritik an deren „Kehrseiten“. Detlev Peukert spricht von derartiger „Modernisierungskritik, die selber auf dem Boden der Moderne stand“, als einer „Grundströmung der deutschen Geistesgeschichte seit der Jahrhundertwende“.96 Die Lebensreform nutzte aber nicht bloß die Moderne. Das gesündere Leben war vielmehr selbst ein zutiefst moderner Gedanke. Die Konzepte der Lebensreform wiesen in die Zukunft – auf andere Weise als viele andere Gedanken der Zeit. Das 20. Jahrhundert sollte zeigen, daß beide Konzepte von Moderne, das „klassische“ und das „andere“, in der Tat auf ihre jeweils eigene Weise zukunftsträchtig waren. Soziale Bewegungen als „Produkt und Produzent der Moderne“ sind nach Joachim Raschke Indikatoren sozialen Wandels, aber nicht als bloßes Medium dessen, nicht als passiver Ausdruck gesellschaftlicher Wandlungstendenzen, sondern auch als kollektive Akteure, die aktiv in den Lauf der Dinge eingreifen mit dem Ziel, Einfluß auf ihn zu gewinnen.97 Diese Gruppen richteten sich, zum Teil 93

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Vor der Tendenz der historischen Forschung, die „kritischen Impulse und die Einwände gegen den Konsumismus“ auszublenden, warnt unter Betonung der „Ambivalenzen des Konsums“ ULRICH WYRWA, Luxus und Konsum – begriffsgeschichtliche Aspekte, in: REITH/MEYER (Hrsg.), „Luxus und Konsum“ (wie Anm. 92), S. 47–60, hier S. 59f.; vgl. auch ders., Consumption, Konsum, Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: SIEGRIST/KAELBLE/KOCKA (Hrsg.), Europäische Konsumgeschichte (wie Anm. 26), S. 747–762, hier S. 747. Dazu DETLEF BRIESEN, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt/New York 2001; vgl. auch UWE SPIEKERMANN, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914. München 1999, S. 381f. So für die Modernekritik im allgemeinen LOTHAR GALL, Vom Stand zur Klasse. Zu Entstehung und Struktur der modernen Gesellschaft, in: ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze. München 1996, S. 79–95, hier S. 91. Zuerst in: Historische Zeitschrift 261, H. 1, 1995, S. 1–21. PEUKERT, Die Weimarer Republik (wie Anm. 85), S. 186. JOACHIM RASCHKE, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt am Main/New York 1985, S. 11f., 76f.

2.1. Entstehungsbedingungen: Lebensreform und Moderne

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durchaus mit Elementen von „Entmodernisierungsbewegungen“, die einen Ausstieg aus der modernen Gesellschaft wollten98, zwar in vielem gegen die Moderne, nutzten sie aber auch und trieben sie in anderem sogar voran. Daher ist auch eine Kritik am vermeintlichen Antimodernismus der Lebensreform zu einseitig, für die die lebensreformerischen Ideen nicht antimodernistisch, sondern gemessen „an solchen [Ideen], die zur gleichen Zeit entstanden und die wir heute noch als moderne bezeichnen, […] zweifellos vormodern“99 waren. In dieser Sichtweise wollte die Lebensreform in längst vergangene Zeiten fliehen, um der Moderne zu entkommen. Sie bekämpfte die Moderne also nicht aktiv wie im Blickwinkel des Antimodernisierungsansatzes. Auf einige lebensreformerische Erzeugnisse trifft die Beobachtung, sie seien im Grunde vormodern gewesen, zwar zu. So dürfte das Vollkornbrot, das Ernährungsreformer um die Jahrhundertwende buken, bewarben und verkauften, in hygienischer Hinsicht oft hinter den Errungenschaften der modernen Brotherstellung aus Weißmehl zurückgeblieben sein. Die zu solchen Produkten – ein anderes Beispiel wäre Wäsche aus Naturstoffen – gehörige Werbung betonte aber immer, wie fortschrittlich diese Waren seien. Denn die Lebensreformer selbst empfanden sich ganz und gar nicht als vormodern. Die Brotreformer hielten ihre Vollkornlaibe für moderne Errungenschaften und erwähnten nur selten, daß es durchaus Vergleichbares auch schon vor der Moderne gegeben hatte. Fortschrittsorientierte, zukunftsgerichtete, mitunter auch utopische Konzepte beherrschten das semantische Feld der Lebensreform. Verbale Rückgriffe auf „gute alte Zeiten“ waren gerade in der Frühzeit der Lebensreform selten. Modernen Nährboden bot um die Jahrhundertwende nicht nur das Kaiserreich. Körperkultur und Reformbewegungen gab es seit der Jahrhundertwende in vielen europäischen Ländern und, von dort exportiert, auch in Nordamerika und Australien, wo 1904 in den Blue Mountains ein Hotel mit Namen „Hydro Majestic“ als „Australia’s first health retreat“ entstand. Die Lebensreform selbst war hingegen im wesentlichen eine Erscheinung des deutschen Sprachgebiets100 oder hatte doch wenigstens ein „spezifisch deutsches Profil“101 . Während es der in der Tradition der Hygienebewegung stehenden „Réforme alimentaire“ in Frankreich und Belgien und dem Vegetarismus in Italien und Spanien nahezu ausschließlich um gesunde Ernährung und Gesundheit im allgemeinen zu tun war102 und die Reform- und Gesundheitsbestrebungen in England, Amerika und den skandinavischen Ländern puritanische Wurzeln hatten und in ihrer Rhetorik insgesamt pragmatischer und weniger utopisch waren, kamen in Deutschland neben einem starken Idealismus103 noch eine gewisse Tiefsinnigkeit, die hervorra-

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Ebd., S. 109. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 19. So ALTPETER, Geschichte der Lebensreform (wie Anm. 47), S. 12. KERBS/LINSE, Gemeinschaft und Gesellschaft (wie Anm. 64), S. 155. Vegetarische Warte vom 23. Dezember 1901, S. 569; Vegetarische Warte vom 13. November 1907, S. 279. Deutlich werden der ausgeprägtere Realismus der englischen und der stärkere Idealismus der deutschen Lebensreform beispielsweise an der in beiden Ländern etwa gleichzeitig und

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2. Lebensreform als Netzwerk

gende Bedeutung von Fühlen und Erleben und der Drang hinzu, die lebensreformerische „Lehre“ auch weltanschaulich-philosophisch zu durchdringen. Vor allem aber strebte die deutsche Lebensreform in besonderem Maße auch eine Reform der modernen Gesellschaft an, nicht nur eine Verbesserung der seelischen, geistigen und körperlichen Gesundheit oder eine Läuterung der Persönlichkeit von Individuen. Bewegungen, die die Moderne für Zwecke der Gesundheit nutzten, entstanden um 1900 in vielen Ländern. Einzig die Lebensreform veränderte aber auch selbst aktiv die Gesellschaft: Ihre Modernekritik modernisierte die Moderne. Das war nur deshalb möglich, weil die Lebensreform aus Sicht des klassischen Modernebegriffs in besonderem Ausmaß beides zugleich war: „rückwärtsgewandt“ und „fortschrittlich“104 – ganz wie das wilhelminische Kaiserreich selbst.105 2.2. ORGANISATION In der modernen Gesellschaft sind Organisationen allgegenwärtig: als Resultate gesellschaftlicher Entwicklung, Zweckverbände, Kooperationssysteme, Herrschaftsinstrumente und Lebensraum.106 Organisationen entstehen, verändern sich und agieren in einer ständigen Wechselwirkung mit der Gesellschaft. Sie sind „für das Handeln der Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen von grundlegender Bedeutung“, vor allem in der Wirtschaft. Denn wo Güter oder Dienstleistungen produziert werden, ist es in besonderem Maße erforderlich, „Aktivitäten zu einem sinnvollen Ganzen“ zu verknüpfen.107 Die Sozialwissenschaft faßt unter den Begriff der Organisation Zusammenschlüsse von Personen, die vier Merkmale gemeinsam haben: ausgewählten Zwecken zu dienen, arbeitsteilig gegliedert zu sein, eine Leitungsinstanz zu haben und über eine Verfassung zu verfügen.108 Gemessen an dieser Definition, war das Netzwerk der Lebensreform in den meisten Epochen nur in Ansätzen eine Organisation. Die Lebensreform als Ganzes war nur im „Dritten Reich“ organisatorisch verfestigt. Einzelne Teile des Netzwerks aber bildeten zu jeder Zeit Organisationen, und zum Teil sehr langlebige.

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unabhängig voneinander entstehenden Gartenstadtbewegung. Dazu HARTMANN, Deutsche Gartenstadtbewegung (wie Anm. 44), S. 28. Ähnlich HANS-PETER ULLMANN, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Frankfurt am Main 1995, S. 202. Zum „Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Tradition“ im Kaiserreich vgl. nur HANS-ULRICH WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4 Bde. München 1987–2003. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914 [1995], S. 1252. GÜNTER BÜSCHGES/MARTIN ABRAHAM, Einführung in die Organisationssoziologie. 2. Aufl. Stuttgart 1997 [zuerst 1983], S. 27–40. ANDREAS GEORG SCHERER, Kritik der Organisation oder Organisation der Kritik? Wissenschaftstheoretische Bemerkungen zum kritischen Umgang mit Organisationstheorien, in: ALFRED KIESER (Hrsg.), Organisationstheorien. 5. Aufl. Stuttgart 2002 [zuerst 1993], S. 1– 37, hier S. 1. BÜSCHGES/ABRAHAM, Einführung in die Organisationssoziologie (wie Anm. 106), S. 19.

2.2. Organisation

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Auf diese einzelnen Organisationen treffen alle genannten Punkte zu: Ihr Zweck war es, Ideen zu verbreiten und Produkte zu verkaufen; die Genossenschaften, Vereine und Gremien sowie die in ihnen tätigen Menschen erfüllten unterschiedliche Aufgaben; an der Spitze dieser Organisationen standen Geschäftsführer, Vorstände oder Vorsitzende; und die Genossenschaften, Verbände und Vereine gaben sich schriftliche Satzungen. Das Netzwerk der Lebensreformbewegung bildete sich um die Jahrhundertwende in einem Wechselspiel mit der Moderne (2.2.1.). In den folgenden Jahrzehnten war es einer ständigen Evolution unterworfen, deren Ursachen in Wandlungen der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen lagen, etwa in Veränderungen des Konsumverhaltens, in Gesetzesänderungen, in Moden. Ihnen paßten sich die Organisationen der Reformwarenwirtschaft, der Naturheilbewegung und des Vegetarismus jeweils an. Manche Ereignisse waren auch Ursachen für regelrechte Brüche. Vor allem die Gleichschaltungspolitik des „Dritten Reichs“ und der Zweite Weltkrieg veränderten das Netzwerk tiefgreifend (2.2.2.). 2.2.1. Das Netzwerk entsteht Um die Jahrhundertwende vernetzten sich die Vereinsnetzwerke des Vegetarismus und der Naturheilkunde mit anderen Gruppen zur Lebensreformbewegung. Im Zusammenhang der Lebensreform des „kurzen 20. Jahrhunderts“ kann es nur kursorisch um die inneren Organisationsstrukturen der Naturheilbewegung und der vegetarischen Bewegung gehen, die zudem an anderer Stelle109 schon gründlich erforscht sind (2.2.1.1.). Naturheilkunde und Vegetarismus interessieren nicht für sich genommen, sondern schlicht deshalb, weil aus ihnen heraus die Reformhäuser entstanden, die im Anschluß ausführlicher untersucht werden. Wolfgang Krabbe hat die Reformgeschäfte treffend die „Kommerzialisierung einer Weltanschauung“ genannt.110 In ihrer Eigenart als Verkaufsstätten mit ideellweltanschaulichem Impetus waren sie, ganz wie die Lebensreform insgesamt, ein im wesentlichen deutsches Phänomen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg unternahmen einige Reformhausinhaber erste Vernetzungsversuche untereinander und mit den ungefähr gleichzeitig entstehenden Reformwarenunternehmen (2.2.1.2.). 2.2.1.1. Vegetarismus und Naturheilkunde vor 1918 Schon in der Antike lebten einzelne Menschen vegetarisch, meist aus ethischen Gründen. Vegetariervereine entstanden aber erst im 19. Jahrhundert. Der moderne deutsche Vegetarismus, der zunächst „Vegetarianismus“ hieß, entstand um die Jahrhundertmitte. Vorbild seiner ersten Organisationen waren die schon seit meh109

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Zur Organisation der Naturheilbewegung ausführlich REGIN, Selbsthilfe (wie Anm. 40), S. 45–99; zu jener des Vegetarismus BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39); KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 133–139. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 7.

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2. Lebensreform als Netzwerk

reren Jahren bestehenden englischen Vegetariervereinigungen, vor allem die „Vegetarian Society“ mit Sitz in London. Im Jahr 1867 gründete Eduard Baltzer (1814–1887), freireligiöser Pfarrer, Teilnehmer der Revolution von 1848, Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und Vegetarier seit 1866111 , in Nordhausen in Thüringen einen „Verein für naturgemäße Lebensweise“. Auch an anderen Orten in Deutschland entstanden Vegetariervereine. Im Jahr 1884 gab es laut Wolfgang Krabbe insgesamt elf.112 Seit dem Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts faßten zwei überregionale Verbände die Ortsvereine zusammen, die sich dann 1892 zum „Deutschen Vegetarier-Bund“ mit Sitz in Leipzig vereinigten. Zugleich vollzog sich von den neunziger Jahren an, was etwa Judith Baumgartner die „Einbindung des Vegetarismus in die Lebensreformbewegung“113 nennt. Ähnlich gab es schon seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Naturheilvereine, 1872 gründete sich in Sachsen ein erster Zentralverein. Auf Reichsebene vereinigten sich 1888 zwei Vorläuferorganisationen zum „Deutschen Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise“, der 1900 den bis 1933/34 gültigen Namen „Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ erhielt. Ganz wie die Vegetarier, so blickten auch die Naturheilanhänger immer öfter über die eigenen Verbände hinaus und begriffen sich gemeinsam mit anderen Strömungen, die eine gesündere Gesellschaft schaffen wollten, als „Lebensreformer“.114 Es ist also ein Prozeß der organisatorischen Ausweitung und Verstetigung zu beobachten. Zum einen schlossen sich Naturheilanhänger und Vegetarier innerhalb der jeweils eigenen Weltanschauung immer fester, auf immer größerem geographischem Gebiet und zugleich mit immer mehr Untergliederungen zusammen. Zum anderen begann man aber auch, die eigene Vereinsstruktur als Teil eines größeren Ganzen zu sehen: eben der Lebensreformbewegung. Nach Joachim Raschke erhielten die sozialen Bewegungen, zu denen Raschke auch die Lebensreform zählt, durch ihre Beziehungen zueinander vor dem Ersten Weltkrieg ganz allgemein „allmählich den Charakter eines (Sub-)Systems“. Das bedeute, so Raschke, daß die Interaktionen und systematischen Bezugnahmen zwischen den verschiedenen Bewegungen zunehmend wichtiger geworden seien.115 Dabei sah man aber den eigenen Verein in aller Regel als den zentralen und wichtigsten an. Wenn der „Deutsche Vegetarier-Bund“ seinen Mitgliedern empfahl, auch in Abstinenzvereine, Rauchgegnervereine, Tierschutzvereine, Impfgegnervereine, Vereine für Bekleidungsreform und Bodenbesitzreform und in Turnvereine einzutre111

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115

Vgl. die Zeitschrift Thalysia, Juli 1887, S. 153f. Zwar hatte Baltzer in der Paulskirche den Vegetarier Gustav Struve kennengelernt, dieser aber „bekehrte“ ihn noch nicht zum Vegetarismus. Vgl. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 57. Ebd., S. 134. JUDITH BAUMGARTNER, Vegetarismus, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 127–139, hier S. 129. Vgl. etwa Der Naturarzt, Mai 1915, S. 73, wo die Rede ist von „den Vegetariern, Naturheilvereinlern, den Wandervögeln, den Vortruppleuten und all den anderen Lebensreformern“. RASCHKE, Soziale Bewegungen (wie Anm. 97), S. 34.

2.2. Organisation

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ten, dann vor allem, weil sie dort für die vegetarische Sache werben sollten.116 Ein organisatorischer Zusammenschluß von verschiedenen „Erneuerungsbestrebungen“, seit der Jahrhundertwende immer wieder als „Zweckverband“ angestrebt117 , kam denn auch erst unter dem Zwang der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik zustande. Der Vegetarismus und die Naturheilbewegung der Zeit um 1900 waren also Teil eines an manchen Stellen dicht, an anderen sehr lose verknüpften Geflechts von in Vereinen organisierten Reformbewegungen, das sich selbst nicht in einer übergreifenden Institution, einer eigenen Organisation verfestigte. Das dezentrale Netz der Lebensreform wiederum war Teil jener „widespread cultural revolt in these years, going well beyond the narrow cultural despair on which historians have often concentrated“, wie es David Blackbourn ausdrückt.118 Zu dieser „kulturellen Revolte“ gehörten neben den lebenspraktisch ausgerichteten Reformbestrebungen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern, auch der avantgardistische Aufbruch in der Kunst, der Architektur und der Literatur der Jahrhundertwende, für den Gruppen wie die „Brücke“ und der „Blaue Reiter“ stehen, der „Werkbund“ und das „Bauhaus“ sowie Autoren wie Friedrich Nietzsche, Paul de Lagarde und Julius Langbehn.119 Die Zahl der um die Jahrhundertwende in Vereinen organisierten Naturheilanhänger und Vegetarier war vergleichsweise klein. So viel steht fest, aber alle genaueren Angaben sind mit Vorbehalt zu machen. In den Vereinszeitschriften finden sich nur selten Hinweise auf Mitgliederzahlen, die sich zudem mitunter widersprechen. Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ hatte nach einer Auswertung von Gunnar Stollberg auf seinem zahlenmäßigen Höhepunkt im Jahr 1913 immerhin rund 148.000 organisierte Anhänger in 885 Lokalvereinen.120 Nach Cornelia Regin war der Höchststand schon 1912 erreicht, und zwar mit knapp 150.000 Naturheilanhängern in 889 Vereinen.121 Neben den knapp 1,5 Millionen Mitgliedern der „Deutschen Turnerschaft“122 oder der Million Mitglieder des „Deutschen Flottenvereins“123 im Jahr 1914 erscheint aber selbst diese Höchstzahl als vergleichsweise gering. Die Zahlen der im „Deutschen Vegetarier-Bund“ organisierten Mitglieder lagen weit unter denen der Naturheilvereine. Laut einer statistischen Untersuchung von Eva Barlösius, die sich vor allem auf Hinweise aus der Bundeszeitschrift Vegetarische Warte stützt, schwankten sie im ersten Jahrfünft nach der Jahrhundert116 117 118 119 120 121 122 123

Vegetarische Warte vom 15. April 1900, S. 96f. Zum „Einigungsgedanken“ in der Reformbewegung W. HOTZ (Hrsg.), Illustrierter Deutscher Vegetarier-Kalender 1913. Mellenbach in Thüringen 1913, S. 44–54. DAVID BLACKBOURN, The Long Nineteenth Century. A History of Germany, 1780–1918. Oxford 1997, S. 398. Hierzu ausführlich HEPP, Avantgarde (wie Anm. 38). Für eine Zahlenübersicht zu Lokalvereinen und Mitgliedern des Bundes vgl. STOLLBERG, Naturheilvereine (wie Anm. 40), S. 289. REGIN, Selbsthilfe (wie Anm. 40), S. 49f. NIPPERDEY, Arbeitswelt und Bürgergeist (wie Anm. 67), S. 188. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte (wie Anm. 67). Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, S. 649.

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2. Lebensreform als Netzwerk

wende zwischen 1213 und 1468124 , nach Wolfgang Krabbe gehörten dem Bund zum Jahreswechsel 1905/06 1550 Menschen an.125 Der Bund war in Ortsvereine gegliedert. Es konnten ihm aber auch Einzelmitglieder direkt beitreten, „weil die Mehrheit der Bundesmitglieder so vereinzelt wohnt, daß die erfolgreiche Bildung von [neuen] Ortsvereinen untunlich wäre.“126 Der Bund empfahl seinen Mitgliedern zwar, sich einem seiner Ortsvereine anzuschließen, ein solcher Beitritt war aber eben nicht verpflichtend.127 Im ersten Quartal 1906 verzeichnete der Bund 77 Neueintritte. Im gleichen Zeitraum des Jahres 1907 waren es 103. Das scheinen noch besonders günstige Zahlen gewesen zu sein, denn die Vegetarische Warte meldete sie triumphierend unter der Überschrift „Unser Bund wächst!“128 Im Laufe des Jahres 1909 schlossen sich dem Bund 230 neue Mitglieder an. 129 Es ist aber zu bedenken, daß es gleichzeitig immer auch Austritte aus dem Bund gab. Während die viel zahlreicheren Ortsvereine des Naturheilbundes ein „ausgeprägtes Eigenleben“ führten und mitunter sogar um Mitglieder konkurrierten130 , beklagten sich jene des Vegetarier-Bundes über mangelnden Zulauf: „[I]n den großen Städten wohnen die Mitglieder vielfach in den Vororten, oder doch soweit auseinander, daß die abendlichen Zusammenkünfte als eine Last empfunden und deshalb in der Regel nur spärlich besucht werden.“131 Einige Bundesmitglieder traten den Ortsvereinen nach Vermutung des Bundes nicht bei, „weil sie lieber ein beschauliches Dasein führen, aber durch Vereinsangelegenheiten nicht belästigt werden wollen.“132 Seit 1910 ging die Zahl der in Vereinen organisierten Vegetarier dann laut Barlösius zurück, und auch Krabbe geht von vermehrten Austritten aus den Vereinen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aus.133 Anfang 1912 gehörten dem Bund im gesamten Reich noch 23 Ortsvereine an134 , und 1914 scheint er noch etwa 1000 Mitglieder gehabt zu haben.135 Als einen Grund für den Rückgang vermutete die Bundesführung die Attraktivität verwandter Reformbestrebungen vor allem für Jugendliche.136 Der „Deutsche Vegetarier-Bund“ verlangte von jedem künftigen Mitglied eine „wahrheitsgemäße Versicherung, […] daß er wenigstens ein halbes Jahr lang 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136

BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 103. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 136. Auch hier erscheint, ebenfalls mit Verweis auf die Vegetarische Warte, für das Jahr 1902 die Zahl von 1213 Mitgliedern. Vegetarische Warte vom 6. März 1909, S. 55. Vegetarische Warte vom 4. September 1909, S. 199. Vegetarische Warte vom 3. April 1907, S. 80. Vegetarische Warte vom 25. Dezember 1909, S. 298. Zu den Ortsvereinen als „Basis des Deutschen Bundes“ REGIN, Selbsthilfe (wie Anm. 40), S. 58–60. Vegetarische Warte vom 4. September 1909, S. 199. Ebd. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 105; KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 137. Vegetarische Warte vom 20. Januar 1912, S. 18f. Vegetarische Warte vom 28. Februar 1914, S. 41. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 137.

2.2. Organisation

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keine vom getöteten Tiere herrührende Nahrung wissentlich zu sich genommen habe und diese Lebensweise auch in Zukunft befolgen wolle.“ Weiterhin erwartete der Bund Alkohol- und Tabakverzicht.137 Diese Aufnahmebedingungen dürften auf viele Menschen mit grundsätzlicher Affinität zur Lebensreform abschrekkend gewirkt haben. Wahrscheinlich sind sie der Hauptgrund dafür, daß die Vegetariervereine deutlich weniger Zulauf hatten als jene der großzügigeren Naturheilbewegung. Die Naturheilvereine verquickten die Zugehörigkeit nicht explizit mit konkreten Erwartungen an die Lebensweise, auch wenn sie ein „naturgemäßes“ Leben implizit voraussetzten. Das Meiden von Fleisch und die Alkohol- und Nikotinabstinenz waren zwar Bedingungen für die Aufnahme in einen Vegetarierverein, scheinen aber um 1900 im Vereinsleben selbst keine besonders große Rolle gespielt zu haben. Barlösius sieht den Fleischverzicht rein funktional als „erfolgreiches Mittel zur kommunikativen Selbst- und Fremdabgrenzung gegenüber anderen Gruppen und Vereinen“: „Das Fleisch-Tabu scheint peripher gewesen zu sein.“138 So leitete sich der Vegetarismus auch nicht direkt von den Vegetabilien ab, die seine Anhänger verzehrten: „Vegetarisch bedeutet nicht ,pflanzlich‘, sondern wird abgeleitet vom lateinischen Worte ,vegetus‘, d. h. ,lebenskräftig, lebensfroh, munter‘.“139 Somit stand der Vegetarismus im ursprünglichen Sinne für eine lebendige, belebende, gesunde Ernährungs- und Lebensweise.140 Die Anhänger der vegetarischen Lebensweise nannten den Vegetarismus „mehr […], weit mehr als blosses Meiden von Fleischspeisen“141 , begriffen ihn mit den Worten ihres „Gründungsvaters“ Eduard Baltzer als „die bewusste Erfüllung unserer Lebensbedingungen zum Zweck der Erreichung völliger Lebensharmonie“ und eben nicht als bloße „Magenfrage“.142 Oder sie stellten fest, „daß fleischlos leben nicht gleichbedeutend mit vegetarisch leben ist.“143 Die gesamte Lebensart der Anhänger des Vegetarismus im Sinne einer „naturgemäßen Lebensweise“ war wichtig. Diese Lebensweise empfanden die Vegetarier auch zeitgenössisch schon als „Lebenskunst“. Die Mitglieder der Vereine dürften diesen geistigen Überbau der Lebensreform nicht zwingend und wenn doch, dann nicht immer besonders gründlich rezipiert haben. Die Theorie des „naturgemäßen Lebens“ stand zwar in den Vereinszeitschriften, die regelmäßig ins Haus kamen. Daß die Abonnenten diese vollständig durcharbeiteten oder die darin enthaltenen Informationen zum eigenen längerfristigen, über die Lesesituation weit hinausreichenden Reflexionsgegenstand oder gar Glaubensinhalt machten, erscheint aber unwahrscheinlich. Schließlich waren die wenigsten Mitglieder der Verbände „ausschließlich“ Naturheilanhänger oder 137 138 139 140 141 142 143

Vegetarische Warte vom 6. Januar 1912, Anzeigenteil. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 11. Vegetarische Warte, Dezember 1899, S. 308. CLAUS LEITZMANN, Vegetarismus. Grundlagen, Vorteile, Risiken. München 2001, S. 10f.; vgl. auch CONTI, Abschied (wie Anm. 36), S. 68. Vegetarische Warte vom 23. Februar 1905, S. 85. Vegetarische Warte vom 8. März 1901, S. 102, 105. Vegetarische Warte vom 17. Januar 1914, S. 14.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Vegetarier. Sie hatten, um den Regelfall zu skizzieren, einen Beruf, eine Konfession, oft auch eine Familie und engagierten sich noch in anderen Gruppen oder Vereinen. Sie verschrieben ihr Leben nicht der Lebensreform. Diese Menschen versuchten, gesünder zu leben, und nicht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein vollständig gesundes Leben zu führen. Man darf also die Vorgaben, die die Vereine ihren Mitgliedern machten, nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Eva Barlösius hat darüber hinaus gezeigt, daß die Vegetarier der Jahrhundertwende auch von ihrer Sozialstruktur her in das Muster eines Normal-Bürgers – und das heißt hier: meist eines Kleinbürgers – des Deutschen Reichs paßten: jung, männlich, norddeutsch, protestantisch – das war der Durchschnittsvegetarier.144 Die Mitglieder der Naturheilvereine gehörten im wesentlichen den bürgerlichen Mittelschichten an. Einige waren Ärzte. Aber auch Menschen aus der Arbeiterklasse griffen auf Naturheilmethoden zurück, wenn sie medizinische Hilfe brauchten. Sie traten aber selten in Naturheilvereine ein. Meist ließen sie sich wohl nicht aus Überzeugung von Naturheilpraktikern behandeln, sondern schlicht deswegen, weil diese billiger waren als Ärzte.145 Der „Deutsche Vegetarier-Bund“ finanzierte sich über die Jahresbeiträge seiner Mitglieder. Zeitweise zog er die Beiträge mittelbar über die Ortsvereine ein. Das gab er aber Ende 1909 wieder auf, weil diese Art der Abwicklung schlecht funktioniert hatte.146 Außerdem bat der Bund immer wieder um Spenden und Geschenke. Auch der Naturheilbund forderte Mitgliedsbeiträge und warb bei seinen Mitgliedern um Spenden, insbesondere in den Jahren um den Ersten Weltkrieg für ein geplantes, aber erst 1927 verwirklichtes naturheilkundliches „Bundeskrankenhaus“.147 Eine weitere Einnahmequelle waren Anzeigen in den Bundeszeitschriften Der Naturarzt und Vegetarische Warte. Die Ämter im Vorstand der Vereine besetzten zunächst ehrenamtliche Mitarbeiter. Der Naturheilbund verringerte seine bislang neun ehrenamtlichen Stellen im Vorstand dann aber im Jahr 1909 auf zwei fest besoldete Posten, die ein ehrenamtlicher Verwaltungsrat unterstützte und kontrollierte.148 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erwogen Vegetarier und Naturheilanhänger einen Zusammenschluß aller lebensreformerischen Gruppen zu einer „Zentral144 145 146 147

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BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 164f. Ähnlich WOLFGANG J. MOMMSEN, Sozialpolitik im Deutschen Reich, in: WOELK/VÖGELE (Hrsg.), Geschichte der Gesundheitspolitik (wie Anm. 32), S. 51–66, hier S. 61. Vegetarische Warte vom 25. Dezember 1909, S. 298. Anfang 1917 waren dafür rund 300.000 Reichsmark zusammengekommen, laut Naturarzt fehlten aber noch weitere 200.000 Mark. Vgl. Der Naturarzt, Februar 1917, S. 37. – Zum Bundeskrankenhaus vgl. FLORENTINE FRITZEN, „Unsere Grundsätze marschieren“. Die deutsche Naturheilbewegung im Ersten Weltkrieg: Die Krise einer Institution des Wissens 1914–1920, in: CARSTEN KRETSCHMANN/HENNING PAHL/PETER SCHOLZ (Hrsg.), Wissen in der Krise. Institutionen des Wissens im gesellschaftlichen Wandel. Berlin 2004, S. 156–176, hier S. 172f. – Vgl. auch THOMAS ROWE, Vorgeschichte und Geschichte des „PrießnitzHauses“ in Mahlow und dessen Bedeutung als Naturheilkrankenhaus in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des zweiten [sic] Weltkrieges. Diss. Dresden 1998. REGIN, Selbsthilfe (wie Anm. 40), S. 56.

2.2. Organisation

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stelle“. Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ plante „eine große umfassende Tat aller Lebensreformer zur Abwehr der Kriegsfolgen“ und erklärte sich bereit, diesem Vorhaben seine Verwaltung zur Verfügung zu stellen. Die „Gesamthandlung der Lebensreformer“ sollte die Öffentlichkeit „darauf hinweisen, wie gerade jetzt die reformerischen Lehren zur ungebrochenen Erhaltung unserer Volkskraft und damit zum glücklichen Ausgang des Krieges beitragen müssen.“ Den Unterzeichnern eines entsprechenden Aufrufs war klar, daß die meist nur lose miteinander zusammenhängenden und sich nicht zwangsläufig als „Lebensreformer“ verbunden fühlenden reformorientierten Gruppen angesichts der geplanten gemeinsamen „Tat“ um ihre Eigenständigkeit fürchten würden. Dem bauten sie vor: „Jede reformerische Vereinigung kann in solcher Gemeinhandlung durchaus die Selbständigkeit ihres Wesens wahren, wenn sie, Schulter an Schulter mit gesinnungsverwandten Vereinigungen, das allen Reformern Gemeinsame betont und in die Tat umsetzen hilft.“149 Die einzelnen Vereine beharrten aber auf ihrer Selbständigkeit, so daß es nicht zu einem Zusammenschluß kam. 2.2.1.2. Die ersten Reformgeschäfte Robert Boermel war „Kneipp-Bademeister“, Marie Ernst Masseurin. Die beiden hatten im Sanatorium des Naturarztes Friedrich Eduard Bilz (1842–1922) in Radebeul gearbeitet und im mondänen „Weißen Hirsch“ bei Loschwitz150 , zwei bekannten Naturheilsanatorien in der Nähe von Dresden.151 Nach ihrer Hochzeit eröffneten sie 1904 am Theaterplatz in Frankfurt am Main ein Reformgeschäft unter dem Namen „Boermel-Ernst“. Dort verkauften sie Waren der Leipziger „Thalysia-Werke“, eines Unternehmens, das Reform-Nahrung, Reform-Kleidung und Mittel zur Körperpflege herstellte. Das Reformgeschäft, das 1906 an die Schillerstraße umzog, war zunächst auf Textilien spezialisiert. Im Jahr 1907 präsentierte das Ehepaar Boermel-Ernst im Pavillon des Palmengartens eine Ausstellung mit Reformkleidern.152 In den Jahren 1909 und 1910 meldete die Firma beim Kaiserlichen Patentamt eigene Warenzeichen an153 : Unter die Marke TU-ALA fielen Pflanzenbutter-Margarine, Pflanzenfette für Küche und Tafel, Südfruchtpasten, getrocknete Bananen, Nußbutter, Nußmus, Kakao, Schokoladen, ungeblauter Zucker, unpolierter Reis, Kaffeeersatz und Speisewürze, das Zeichen JONA trugen Schuhwaren, Stiefel, Halbschuhe, Sandalen, Strumpfwaren, Normalstrümpfe, Bekleidungsstücke, Leib- und Bettwäsche, Korsetts, Korsettersatz, 149 150

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Vgl. Vegetarische Warte vom 29. August 1914, S. 160. Zum „Weißen Hirsch“ vgl. die Notiz über die Errichtung des Luftkurorts in: Thalysia, Februar 1888, S. 47, sowie den Nachruf auf den Sanatoriumsgründer Heinrich Lahmann in: Vegetarische Warte vom 23. Juni 1905, S. 301–305. Anzeige „75 Jahre Boermel-Ernst“, in: Neue Presse vom 3. November 1979. Fotografie von 1907, Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main. Die Zahl der Anmeldungen, bei denen Warenzeichen für Nahrungs- und Genußmittel den größten Anteil ausmachten, stieg seit 1909 stark an: SPIEKERMANN, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 94), bes. S. 525.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Hosenträger, Kaffeesurrogate, Teigwaren und Hafergrieß.154 Was aber genau eine Reformware sei, war um diese Zeit noch überhaupt nicht festgelegt. Es gab bloß eine ungefähre Vorstellung von Natürlichkeit, das heißt von einer möglichst geringen Verarbeitung des Rohmaterials. Die Bezeichnung der Geschäfte als Reformhäuser setzte sich erst in den dreißiger Jahren als Sammelbegriff durch. Das Frankfurter Reformgeschäft war eines der ersten im Deutschen Reich, angeblich war es bei seiner Eröffnung 1904 das sechste.155 Das „erste eigentliche Reformhaus“ gründete, wie es in einer Schrift von 1927 heißt und wie es die Lebensreformbewegung weiter überliefert hat156 , der Unternehmer Carl Braun (1858–1943) im Jahr 1887 am Kottbuser Damm in Berlin: das „Kauf- und Versandhaus Carl Braun“, das später in „Gesundheits-Zentrale“ umbenannt wurde. Braun vertrieb zunächst Leib- und Bettwäsche157 , seit 1890 auch Kakao und Schokolade, die im späten 19. Jahrhundert noch nicht als Süßigkeiten, sondern als kräftigende Nährmittel galten.158 Bis zur Jahrhundertwende hatte sich das Angebot um Kochgeschirre, Wickel und Wolldecken, Thermometer, Badeapparate, Rumpf-Badewannen, Schwitzapparate, gesundheitliche Bekleidung, Sandalen, Reformbetten, Schrotmühlen in verschiedenen Größen sowie naturheilkundliche und vegetarische Literatur erweitert.159 Brauns Frau strickte und häkelte die Reformunterkleidung und Reformwäsche offenbar selbst.160 Anfang 1912 betrieb die „Gesundheits-Zentrale“ schon zehn Geschäfte in Berlin und Brandenburg, darunter zwei in Halle an der Saale, und plante, noch weitere Zweigstellen zu eröffnen. Im selben Jahr feierte das Haus, das inzwischen „Reformhaus Karl Braun“ 154 155

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Urkunden des Kaiserlichen Patentamts vom 12. Mai 1910 und vom 7. Oktober 1910. Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main. Anzeige „75 Jahre Boermel-Ernst“, in: Neue Presse vom 3. November 1979; Die „Körnerfresser“ stammen aus der Kaiserzeit, in: Frankfurter Rundschau vom 19. Februar 1998. Der Reformhaus-Fachmann. Ratgeber für Einrichtung und Betrieb von Reform-Geschäften. Berlin 1927, S. 8. – Eine der ersten Nennungen des Geschäfts in lebensreformerischen Zeitschriften findet sich in: Vegetarische Rundschau, Oktober 1887, S. 320, in einem Hinweis auf eine Beilage für die Berliner Abonnenten „von Carl Braun […] betr. ,Dr. Lahmann’s Reform-Baumwoll-Kleidung’“. Anzeige in: Vegetarische Rundschau, November 1887, S. 352. ALBERT PFIFFNER, Kakao, in: HENGARTNER/MERKI (Hrsg.), Genußmittel (wie Anm. 92), S. 117–140, hier S. 125. – Die spätere Reformbewegung betrachtete Schokolade und Kakao dann zwar durchaus als Genußmittel, aber im Gegensatz zu Alkohol, Tabak und scharfen Gewürzen als solche, die – in Maßen verwendet – „als Nachtisch, zur Abwechslung und Freude“ gestattet, ja sogar willkommen waren. Das blieb auch im „Dritten Reich“ so, als sich die Genußmittelfrage durch die Ablehnung von Nikotin und Alkohol durch den Nationalsozialismus verschärfte. Vgl. Neuform-Rundschau, November 1933, S. 252f. Vgl. etwa Anzeigen in: Vegetarische Warte vom 8. Januar 1901, S. 24; Vegetarische Warte vom 23. Januar 1901, S. 48. Dafür spricht, daß die Vegetarische Warte in einem Artikel zum 25jährigen Bestehen des Reformhauses Brauns Frau mehrfach und fast gleichberechtigt mit ihrem Mann nennt und daß die beiden einige Verkaufsartikel erst „erfinden“ mußten. Da es sich am Anfang nahezu ausschließlich um Wäsche handelte, die laut Anzeigen von 1887 „gehäkelt“ und „gestrickt“ waren, liegt es nahe, daß Brauns Frau diese Waren herstellte.

2.2. Organisation

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hieß, sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen.161 Das schnell expandierende Unternehmen schaltete vor dem Weltkrieg mit Abstand die meisten Anzeigen in lebensreformerischen Zeitschriften. Die Namen anderer Reformhäuser tauchen dort nur vereinzelt auf. In Frankfurts Nachbarstadt Offenbach eröffnete 1894 ein Reformgeschäft, das aus einem Kommissionslager Brauns hervorging und später „Reformhaus Kumpf“ hieß. Ein Jahr später konnten auch die Bewohner der lebensreformerischen EdenSiedlung in Oranienburg bei Berlin Reformprodukte in einem eigenen Laden kaufen. Zunächst wurde er an einzelne Siedler verpachtet, 1910 übernahm ihn die Siedlungsgenossenschaft selbst. Noch Jahr später, 1896, entstand auch in Leipzig ein Reformgeschäft. Carl August Heynen nannte im Jahr 1900 seinen Laden in Wuppertal-Barmen „Reformhaus Jungbrunnen“, was ihm nachträglich den Ruhm verschaffte, der erste Inhaber eines Reformhauses gewesen zu sein, das auch tatsächlich „Reformhaus“ hieß. Bald entstanden in Kassel, München-Gladbach (dem heutigen Mönchengladbach), Magdeburg, Würzburg, Nürnberg, Freiburg im Breisgau und Straßburg ebenfalls Reformgeschäfte.162 Die meisten der ersten Reformhausinhaber dürften, ganz wie Robert Boermel und Marie Ernst, Vegetarier oder Anhänger der Naturheilbewegung gewesen sein. 163 Carl Braun war 1888 Mitgründer und dann mehr als dreißig Jahre lang Vorsitzender des „Deutschen Bundes der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“164 , 1934 wurde er Ehrenvorsitzender der Vereinigung. 165 Herstellerbetriebe für Reformprodukte waren seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, so etwa 1869 das „Henselwerk“ in Cannstatt (Mineralsalze), 1892 das Unternehmen Steinmetz in Flensburg (Brot und Mehl), 1893 die Unternehmen Eden in Oranienburg (Obstverarbeitung) und Donath in Lockwitzgrund (Obstsaft), 1898 das Unternehmen Lauffs in Unkel, der Vorgänger des Unternehmens „Rabenhorst“ (Traubensaft), 1899 das „De-Vau-Ge-Werk“ des „Deutschen Vereins für Gesundheitspflege“ in Friedensau bei Magdeburg (Frühstücksflocken, Nußmus), 1901 das „Natura-Werk“ in Hannover (Jamaika-Dauer-Bananen), 1902 die „Simonsbrot-Fabrik“ in Achim, die 1922 zum Unternehmen Lie161 162

163 164 165

Der Naturarzt, Februar 1928, S. 55. Zu den ersten Reformgeschäften ALTPETER, Geschichte der Lebensreform (wie Anm. 47), S. 12; weitgehend auf ihn gestützt MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 176–182 (hier der Hinweis auf das Leipziger Geschäft); Reform-Rundschau, Oktober 1973, S. 4; Von der Lebensreform zur Neuform: 75 Jahre Neuform VDR e.G. Idee einer Organisation. Pressemitteilung der Neuform VDR vom 14. Mai 2002, S. 2. – Für Oranienburg-Eden: Edener Mitteilungen, Juli/August 1995, S. 28. – Für Offenbach: 50 Jahre Neuform. Oberursel 1977, S. 10. – Zum Reformhaus Jungbrunnen von Carl August Heynen: WALTHER SCHOENENBERGER, 25 Jahre Verband der Reformwarenhersteller (VRH) e.V. 50 Jahre Zusammenschlüsse von Reformwarenherstellern. Bad Homburg 1977, S. 9; Neuform-Kurier, Oktober 1987, S. 24–27; FRECOT/GEIST/KERBS, Fidus (wie Anm. 33), S. 35. – Das Frankfurter Reformhaus Boermel-Ernst erwähnen diese Quellen nicht. Ähnlich auch Eden-Hauspost, Juni 1960, S. 4; ALTPETER, Geschichte der Lebensreform (wie Anm. 47), S. 13. Der Naturarzt, Februar 1928, S. 54f.; Der Naturarzt, März 1928, S. 79f. Der Naturarzt, März 1938, S. 84.

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2. Lebensreform als Netzwerk

ken wurde (Vollkornbrot), 1907 die Unternehmen „Zieler & Co.“ (Trockenfrüchte) und Rothfritz in Hamburg (Nußnahrungsmittel).166 Anfang des Jahres 1900 war eines der ältesten vegetarischen Speisehäuser, die „Thalysia“ in Leipzig, „in erster Linie zu einem Verkaufs- und Versandhaus für gesundheitliche Nährmittel und Artikel unter Erweiterung der Verkaufsräume umgewandelt worden, nachdem der von Anfang an nebenbei geführte Nährmittel-Verkauf eine steigend günstige Aufnahme beim Publikum gefunden hat.“167 Der Inhaber Paul Garms (geb. 1870), dessen Waren auch zahlreiche Reformhäuser wie das Frankfurter Geschäft des Ehepaars Boermel-Ernst verkauften, ließ sich den in Reformerkreisen beliebten Namen „Thalysia“, in der griechischen Antike die Bezeichnung für ein Ernte-, Dresch- und Tennenfest und für das von der neuen Ernte gebackene „Erstlingsbrot“168, kurz darauf gesetzlich schützen. Die Unternehmen vertrieben ihre Waren zunächst meist über Direktversand an Privatpersonen169, für den sie in Zeitschriften der Naturheil- und Vegetariervereine warben und sich dabei den Bedürfnissen ihrer Kunden anpaßten: Eine Württemberger Fabrik verschickte ihre „bestens erprobten Specialitäten“ wie Hafergrütze und Grünkerngrieß in „rohbaumwollnen Säckchen und Packeten mit chemisch reinem Pergament ausgeschlagen“.170 Seit den Jahren vor und dann vor allem in jenen nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich der Verkauf immer stärker zu den Reformhäusern als Spezialgeschäften. Seit den zwanziger Jahren waren es dann fast ausschließlich die Reformhäuser, die die Waren an den Privatkunden verkauften, nicht mehr die Unternehmen selbst. Auch nachdem das „Reformhaus Jungbrunnen“ in Wuppertal eröffnet hatte, blieb die Bezeichnung „Reformhaus“ noch einige Jahre lang ungebräuchlich. Im Inhaltsverzeichnis der Vegetarischen Warte taucht sie erstmals 1906 auf; sie verweist dort auf den „Briefkasten der Schriftleitung“ in der Ausgabe vom 24. Januar, wo – dann ohne Nennung des Wortes „Reformhaus“ – die „Spezialitäten von P. Dehne in Stuttgart“ empfohlen werden, etwa italienischer Maisgrieß (Po166

167 168 169

170

Aufzählung weitgehend nach SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 9. – Für das Unternehmen Lieken gibt Schoenenberger 1892 als Gründungsjahr an, es selbst aber nennt auf seiner Internetseite 1922 als Jahr der Gründung. Vgl. www.liekenurkorn.de/ueber_uns/frameset_wir_ueber_uns.htm, abgerufen am 20. Juni 2006. Laut Reform-Rundschau, April 1952, S. 9, erwarb Fritz Lieken 1922 die bereits seit 1902 bestehende Fabrik. – Für das „De-Vau-Ge-Werk“, eine Gründung der „Siebenten-Tags-Adventisten“, das kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Hamburg und 1976 nach Lüneburg umzog: Lüneburg. 100 Jahre De-Vau-Ge Gesundkostwerk. Reken 1999, S. 1–8; Reform-Rundschau, Januar 1977, S. 17; für das „Natura-Werk“: Neuform-VDR-Fachblatt vom 13. August 1935, S. 474. – Insgesamt übersichtlich zur Reformwarenproduktion um die Jahrhundertwende MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 182–190; KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 119–130. Vegetarische Warte vom 15. März 1900, S. 91. Vgl. auch die Anzeige der „Thalysia“ in: Vegetarische Warte vom 8. Januar 1901, S. 19. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1979. Bd. 5, Sp. 647. Diese Form des Versandes war vor der Jahrhundertwende insgesamt vor allem bei Luxusgütern üblich, welche die „besseren Schichten“ direkt vom „Fabrikanten“ bezogen. Vgl. SPIEKERMANN, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 94), S. 298–301. Vgl. etwa die Zeitschrift Thalysia, August 1887, S. 208; September 1887, S. 232.

2.2. Organisation

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lenta), Palmnußbutter und Schwarzwälder Hafermehl.171 Noch inserierten auch kaum Reformhäuser in den Zeitschriften, sondern fast ausschließlich Herstellerbetriebe. Im Juli 1906 schaltete das Kieler „Reformhaus Muhs“ zum ersten Mal eine Anzeige mit dem Titel „Getrocknete Bananen!!!“172 Allmählich erscheint das Wort „Reformhaus“ dann öfter auf den Anzeigenseiten, allerdings noch nicht im redaktionellen Teil. 1908 warb das „Reformhaus Zur Gesundheit“ aus Karlsruhe für Reformkleidung, Reformbetten und Haselnüsse, das „Reformhaus Gesundheit“ aus Bremen für unpolierten und ungefärbten Reis, das „Reformhaus Gustav Just“ in Ilsenburg am Harz für Korbfeigen und „prima Hasel- und ungeschwefelte Walnüsse“. 173 Meist versandten diese Geschäfte noch einen Großteil ihrer Ware direkt an die Verbraucher. Das erklärt sich aus der Versorgungslage der Lebensreformer: Es gab bei weitem noch nicht in jeder größeren Stadt ein Reformhaus und in den meisten kleineren ohnehin keines. Kur- und Erholungsheime, Naturheilanstalten, Sanatorien und Reformwarenhersteller machten vor dem Krieg noch den größten Anteil der gewerblichen Anzeigen in lebensreformerischen Zeitschriften aus. Regelmäßig erschienen in der Vegetarischen Warte auch Auflistungen der Adressen von vegetarischen Speisehäusern, Pensionen und Naturheilanstalten mit vegetarischer Diät in ganz Deutschland, aber zunächst noch nicht von Reformhäusern. Der Vegetarier-Kalender, ein Jahrbuch mit Adressen, Hinweisen und grundsätzlichen Artikeln über die „naturgemäße Lebensweise“ für die Mitglieder des „Deutschen VegetarierBundes“, verwies 1891 im Zusammenhang mit „Bezugsquellen“ für Reformwaren lediglich auf die Vorgängerzeitschrift der Vegetarischen Warte, die Vegetarische Rundschau, „die der praktischen Seite besondere Aufmerksamkeit zuwendet und demjenigen, der sich gut und billig ernähren will, vor allem auch der vegetarischen Hausfrau, mit Ratschlägen und praktischen Weisungen an die Hand geht.“174 Zwanzig Jahre später führte der Vegetarier-Kalender von 1911 dann unter dem Titel „Reform-Häuser“ 60 Geschäfte auf, jener von 1913 nannte in der Mehrzahl dieselben Läden, insgesamt 58. Fast alle dieser Geschäfte waren in größeren Städten. Die Reformhäuser verteilten sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg schon über fast ganz Deutschland. Die meisten der aufgeführten Läden lagen im hanseatischen Norden, im Ruhrgebiet, im Rheinland, im Berliner Raum, in Sachsen, Thüringen und Hessen (mit Frankfurt). Die am dünnsten abgedeckte Region war Bayern (mit Franken), wo nur je ein Reformhaus in Nürnberg und in München aufgeführt ist. Die Listen waren allerdings – weil die Aufnahme in sie eine Mark kostete und nur auf Bestellung erfolgte – nicht vollständig. Es fehlen einige Reformhäuser, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Vegetarischen 171 172 173 174

Vegetarische Warte vom 24. Januar 1906, S. 23f. Vegetarische Warte vom 25. Juli 1906, Anzeigenteil. Vegetarische Warte vom 19. Februar 1908, Anzeigenteil; Vegetarische Warte vom 5. Februar 1908, Anzeigenteil; Vegetarische Warte vom 1. April 1908, Anzeigenteil. Vegetarier-Kalender für 1891. Hrsg. vom Deutschen Vegetarier-Verein. Berlin 1891, S. 50.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Warte Anzeigen schalteten.175 Insgesamt dürfte es 1914 ungefähr achtzig Reformgeschäfte gegeben haben.176 Ihnen standen knapp 200 vegetarische Speisehäuser177 gegenüber, in denen die Lebensreformer vegetarisch essen gehen konnten. Sie waren Treffpunkte und Veranstaltungsorte der Lebensreformbewegung. Bei den Umsatzzahlen der Reformhäuser gab es große Unterschiede. So lag der Jahresumsatz eines „Vegetarischen Reform-, Kauf- und Versandhauses“, das 1905 in der Vegetarischen Warte inserierte, bei rund 30.000 Mark.178 Ein anderes „blühendes Reformhaus nebst Zweiggeschäft“, das im Juni 1912 „zwecks Errichtung von Filialen und anderen Reform-Unternehmungen rührige Mitarbeiter zur Gründung einer G.m.b.H.“ suchte, machte 125.000 Mark Umsatz.179 Vor dem Krieg gab es einige lokale und regionale Versuche einzelner Reformhausinhaber und Hersteller, sich zusammenzuschließen. So gründeten 1909 achtzehn Reformhausinhaber eine „Vereinigung Deutscher Reformhausbesitzer“ in Koblenz.180 Im Jahr 1910 entstand eine „Vertriebs-Gesellschaft hygienischer Reformartikel“ mit Sitz in Erfurt, die den Fabrikanten besseren Absatz, den Reformgeschäftsinhabern eine einfachere Geschäftsführung und den Konsumenten billigere Reformartikel mehr Reformhäuser versprach. Für ihre „Zentrale der vereinigten Reformhäuser“ suchte die Erfurter Gesellschaft per Anzeige einen Buchhalter, einen Korrespondenten, eine Maschinenschreiberin, einen Lageristen, zwei Packer, mehrere Filialleiter und Filialleiterinnen sowie Verkäuferinnen.181 Weiterhin gab es seit 1910 in Mannheim eine „Einkaufsgenossenschaft Deutscher Reformhäuser“ und seit 1911 eine „Genossenschaft Deutscher Reformhäuser“ in Stuttgart. Beide vereinigten sich 1912 in Stuttgart zu einer Organisation. Mit der Devise „Einigkeit macht stark“ schlossen sich um die Jahrhundertwende, oft auf lokaler Ebene, in vielen Branchen Händler zu solchen Einkaufsvereinen und Einkaufsgenossenschaften zusammen, etwa auch im Kolonialhandel und im Delika-

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W. HOTZ/LUDWIG ANKENBRAND (Hrsg.), Illustrierter Deutscher Vegetarier-Kalender 1911. Mellenbach in Thüringen 1911, S. 100; W. HOTZ (Hrsg.), Illustrierter Deutscher VegetarierKalender 1913. Mellenbach in Thüringen 1913, S. XI. Lebensreform – neues altes Lebensziel. Themen. Service für Presse, Hörfunk und Fernsehen. Verlagsbeilage im Journalist, März 1990, S. 31. – Der Kalender für 1914 führt nur 17 Reformhäuser auf, vgl. W. HOTZ/ALWIN KÄMMERER (Hrsg.), Deutscher Vegetarier-Kalender 1914. Naumburg an der Saale 1914. Im Jahr 1913 waren es nach Krabbe 184: WOLFGANG R. KRABBE, Die Lebensreform. Individualisierte Heilserwartung im industriellen Zeitalter, in: Journal für Geschichte 2, 1980, H. 6, S. 8–13, hier S. 13. Vegetarische Warte vom 23. Februar 1905, S. 99. Vegetarische Warte vom 22. Juni 1912, Anzeigenteil. – Zum Vergleich: Der durchschnittliche Umsatz ausgewählter Ladengeschäfte mit Gemüse in Leipzig betrug 1910 rund 75.000 Mark, hier lag die Umsatzspanne zwischen 384.000 und 15.600 Mark: SPIEKERMANN, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 94), S. 730. Neuform-Echo, August/September 1957, S. 237. Vegetarische Warte vom 23. Juli 1910, Anzeigenteil.

2.2. Organisation

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tessenhandel.182 Schon im Weltkrieg löste sich die Stuttgarter Reformhaus-Genossenschaft aber wieder auf.183 2.2.2. Dauer und Wandel Der Erste Weltkrieg bildete auch mit Blick auf die Lebensreform eine Zäsur. Er veränderte das Netzwerk: Die älteren Teile schwächten ihre Bindungen an den informellen Verbund, während die jüngeren immer mehr sein Zentrum rückten und sich zugleich ausweiteten. Mit der im wesentlichen genossenschaftlich organisierten Reformwarenbranche bildete sich in der Zwischenkriegszeit aus einem Teil des um die Jahrhundertwende entstandenen Netzwerks der Lebensreform immer mehr ein „Netzwerk im Netzwerk“ heraus, das das alte Netzwerk zunehmend ausfüllte und – ungeachtet stetiger Veränderungen – über die Jahrzehnte hinweg bestehen blieb. Die Geschäftsidee der Reformbranche war die Synthese von Vorschlägen für eine gesündere Lebensweise und den angeblich dafür benötigten Markenwaren. Diese Vereinigung von geistigen und materiellen Produkten der Lebensreform blieb über viele Jahrzehnte erfolgreich. Die Organisationsform der Genossenschaft als Zusammenschluß ansonsten selbständiger mittelständischer Unternehmer blieb – mit der Unterbrechung des Zweiten Weltkriegs – im gesamten 20. Jahrhundert erhalten. Gleichwohl veränderte sich die Organisationsstruktur der Reformwarenwirtschaft im Laufe der Zeit durch Einflüsse aus Politik und Wirtschaft an vielen Stellen erheblich. Die Vegetarier- und Naturheilverbände verloren nach dem Krieg an Bedeutung. Dadurch wurde der Begriff der Lebensreform immer mehr zum Synonym für die Reformwarenwirtschaft und schließlich nahezu deckungsgleich mit ihr. Für die Zwischenkriegszeit werden die Wege von Naturheilbewegung und vegetarischer Bewegung in dieser Untersuchung noch verfolgt. Denn sie hatten noch immer, wenn auch immer weniger, Kontakt mit der Reformwarenwirtschaft. Zudem führte sie die Gleichschaltungspolitik im „Dritten Reich“ ebenfalls in eine Situation der Abhängigkeit. Das ermöglicht einen Vergleich mit der Lage der Reformhausbranche. Die Naturheilkunde und der Vegetarismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen hier keine Rolle mehr, weil sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig von der Lebensreformbewegung abgetrennt hatten. Die organisierte Naturheilkunde, vor dem Ersten Weltkrieg eine gesündere Lebensweise im allgemeinen noch ebenso stark propagiert hatte wie natürliche Heilmethoden im besonderen, zog sich seit der Zeit der Weimarer Republik und dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg auf das verengte Selbstverständnis zurück, ein Gegengewicht, eine „alternative“, „ganzheitliche“ Ergänzung der Schulmedizin zu sein.184 Die Naturheilkunde wurde immer mehr zur medizinischen Interessen182 183 184

Dazu ausführlich SPIEKERMANN, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 94), S. 443–481. Neuform-Echo, August/September 1957, S. 237f.; Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 516. Zu dieser Verengung der Inhalte der Naturheilkunde vgl. unten S. 211f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

gruppe und sprach immer weniger die Gesellschaft als Ganzes an. Der Vegetarismus löste sich weitgehend aus seiner institutionellen Vereinsstruktur, die sich fast auflöste, und entwickelte sich wieder stärker zu einer individuellen Lebensform. Menschen, die vegetarisch lebten, traten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist nicht mehr einem Vegetarierverein bei. Zwar gab es also weiterhin Naturheil- und Vegetariervereine, doch wirkten sie im Gegensatz zu ihren Vorgänger-Organisationen der Jahrhundertwende kaum noch im Netzwerk der Lebensreform selbst. Sie hatten schwächere Beziehungen zum Netzwerk und trugen nicht mehr wesentlich zu seinem Aufbau bei. Darüber hinaus widmete ihnen die Gesamtgesellschaft weniger Interesse als den Verbänden der Frühzeit. In der Weimarer Republik verdichtete sich also die das Netzwerk der Reformwarenwirtschaft, während der Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik die „klassische“ Lebensreformbewegung schwächte (2.2.2.1.). Im „Dritten Reich“ unterlagen die Reformvereine und Reformverbände der Gleichschaltungspolitik des nationalsozialistischen Regimes (2.2.2.2.). Nachdem sich das Netzwerk der Reformwarenbranche im Zweiten Weltkrieg in mehrere Teile aufgetrennt hatte, erfolgte seit 1945 in den westlichen Besatzungszonen und dann in der Bundesrepublik ein Wiederaufbau der Branche. Die folgenden Jahrzehnte waren von einer Erweiterung des Netzwerks durch neu entstehende Organisationen und zugleich von Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Organisationen der Reformwarenbranche geprägt (2.2.2.3.). Vom Netzwerk weitgehend abgeschnitten, bestanden auch in der DDR noch einige Reformhäuser weiter (2.2.2.4.). 2.2.2.1. Das Netzwerk verschiebt sich (1918–1933) Mitte der zwanziger Jahre scheiterte ein weiterer Versuch185 , einen übergreifenden Verband der Lebensreform zu schaffen. In den ersten Dezembertagen 1925 waren in Berlin „führende Personen“ der Reformbewegungen mit dem Entschluß zusammengekommen, die einzelnen Verbände in einem „Reichsbund für Lebens- und Heilreform“ zusammenzufassen, um einem „einheitlichen Programm für die Öffentlichkeit den Boden zu bereiten.“ Die Grundlinien für den Zusammenschluß lagen vor, und man hatte sich auch schon einen Präsidenten auserkoren, dessen Zusage aber noch ausstand. Auch die Geschäftsstelle der gerade erst gegründeten ersten größeren Organisation der Reformwarenwirtschaft verhandelte zwecks eines möglichen Anschlusses mit den Reformern, die den Bund gründen wollten.186 Aus dem „Reichsbund“ wurde dann aber doch nichts. In der Weimarer Republik blieb die Lebensreform ein sich beständig veränderndes Netzwerk aus einzelnen Organisationen, das sich nicht zu einer einheitlichen Institution zusammenfaßte. 185 186

Zum ersten Versuch dieser Art, einer im Ersten Weltkrieg geplanten, aber gescheiterten „Gesamthandlung“ der Lebensreformer, oben S. 42. Das Reformhaus, Februar 1926, S. 10.

2.2. Organisation

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2.2.2.1.1. Reformwarenwirtschaft Während des Weltkriegs hatten nur wenige Reformläden „die Pforten nicht geschlossen“187, aber schon 1925 gab es mit rund 200 Reformhäusern188 mehr als doppelt so viele Geschäfte wie vor dem Krieg. Ende der zwanziger Jahre hatte fast jede größere deutsche Stadt wenigstens ein Reformhaus189 , und 1932 war die Zahl der Geschäfte auf mehr als 1000190 gestiegen. Außerdem verkauften viele Drogerien, Lebensmittel-, Schokoladen- und Konfitürengeschäfte neben ihren sonstigen Artikeln auch Reformwaren.191 Die Herstellerbetriebe expandierten ebenfalls. Die „Thalysia-Werke“ in Leipzig produzierten und vertrieben 1926 Nähr- und Kurmittel, Kinder-, Kranken-, Körperpflege- und Bekleidungs-Artikel in großem Stil – allein 70 Sorten Schuhe – und beschäftigten 300 Arbeiter und Angestellte.192 Zwischen der Mitte der zwanziger und dem Beginn der dreißiger Jahre verbanden sich die Reformhäuser und die Reformwarenhersteller in mehreren Schritten zu einer geschlossenen Branche innerhalb der Lebensmittel- und Körperpflegeindustrie, die sich selbst als „Reformhausbewegung“ verstand. Am 4. Oktober 1925 schlossen sich anläßlich einer Reformausstellung in Frankfurt am Main193, nach anderer Überlieferung in Köln194 , zunächst 51 Reformhausbetreiber zur „Vereinigung deutscher Reformhaus-Besitzer“ (V.D.R.) mit Sitz in Köln zusammen195, ein „sehr großer Teil der Inhaber von Reformgeschäften in Deutschland“, wie es in der Kundenzeitschrift Das Reformhaus hieß.196 Am 24. Januar 1926 fand in Hannover die erste Jahreshauptversammlung des Vereins statt. Dort beschlossen die Teilnehmer, bestimmte Reformprodukte mit dem Warenzeichen „V.D.R.“ zu bezeichnen, „womit erste Güte gewährleistet“ werden sollte.197 Dabei handelte es sich um Produkte von Reformwarenherstellern, die schon vorher auf dem Markt gewesen waren und die die V.D.R. nun mit ihrem Siegel für gut befand. Die ersten dieser V.D.R.-Produkte waren Pflanzenbutter, Gebirgshaferflocken, Haferzwieback, Früchtebrot, Darmfunktionsöl 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196

197

Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 516. Vgl. Lebensreform – neues altes Lebensziel (wie Anm. 176), S. 31. Der Naturarzt, Februar 1928, S. 55. Laut Mitgliederverzeichnis der Vereinigung Deutscher Reformunternehmen eGmbH, Ausgabe 4 [1932]. E. BAKEL, Die Reformbewegung am Scheidewege! Reformbewegung oder Neuform-VDR. Berlin o. J. [um 1931], S. 3. H. GARMS, Die gesunde Frau. Thalysia-Reform-Prachtalbum, 16. Folge. Leipzig 1926, Buchrükken. Neuform-Rundschau, Oktober 1935, S. 226. Neuform-Echo, November 1955, S. 350. Alle Mitgliederzahlen der Zeit zwischen 1925 bis 1931 aus: Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Juli 1931, S. 144. Das Reformhaus, März 1926, S. 10. Allerdings lag die Zahl der Reformhäuser 1925 mit ungefähr 200 deutlich höher als jene der ersten V.D.R.-Mitglieder. Da einige Reformhausinhaber mehrere Geschäfte betrieben, kann man davon ausgehen, daß sich der Vereinigung bei ihrer Gründung etwas mehr als ein Viertel aller Reformhausinhaber anschloß. Das Reformhaus, März 1926, S. 10.

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2. Lebensreform als Netzwerk

und Lösungssalz.198 Das „V.D.R.-Zeichen“ war ein Schritt hin zu einer Standardisierung von Reformwaren und einer Abgrenzung nach außen: Produkte, die das Zeichen trugen, durften nur Reformhäuser verkaufen, die Mitglieder der Vereinigung waren. Der wichtigste Gegenstand der Zweiten Jahreshauptversammlung der V.D.R. in Kassel war im Februar 1927 der Übergang des Vereins zu einer Genossenschaft (V.D.R. e.G.). Sitz der V.D.R. wurde Frankfurt am Main. Im selben Jahr gehörten der V.D.R. 131 Mitglieder an, und sie wuchs schnell: 1928 hatten sich der Genossenschaft 240, im Jahr 1929 schon 331 Reformhausinhaber angeschlossen. Die Organe der V.D.R. waren Vorstand, Aufsichtsrat und die jährlich zusammentretende Generalversammlung, die die Bilanz und den Jahresabschluß genehmigte und darüber entschied, wie Gewinn und Verlust zu verteilen seien. Die Generalversammlung wählte den Aufsichtsrat, der die Vorstandsmitglieder bestellte. Der Vorstand wiederum berief die Generalversammlung ein. Die Mitglieder der Genossenschaft waren zu regionalen Gruppen zusammengefaßt, die sich jeweils einen Obmann wählten. Schon seit der Jahrhundertwende hatten Lebensreformer immer wieder Genossenschaften gefordert und auch schon einige gegründet. Die Reformer verstanden Genossenschaften als freiwillige Vereinigungen natürlicher oder juristischer Personen, die primär wirtschaftliche Zwecke gemeinschaftlich wahrnahmen, sich demokratisch selbst verwalteten199 und mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs die jeweilige Wirtschaft der Mitglieder förderten. In einigen Kreisen schlicht als „Vereinigungen Gleichstrebender zur Erreichung eines praktischen Vorteiles“ verstanden, sahen andere Lebensreformer die Genossenschaften, wohl mit idealisierendem Blick auf die Markgenossenschaften des deutschen Hochmittelalters200, auch „religiös“201 oder doch wenigstens über das Wirtschaftliche hinaus in einem besonderen Gemeinschaftssinn fundiert. Auch jenseits der Kreise der Lebensreform war das Assoziationskonzept der ersten modernen Genossenschaften nicht nur wirtschaftlich geprägt, sondern auch vom Gedanken gemeinsamer sozialer Zwecke.202 Den Genossenschaften eignete also immer auch ein ideeller 198 199

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Das Reformhaus, Mai 1926, S. 7. MICHAEL PRINZ, Genossenschaften, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 251–264, hier S. 251, nennt nur natürliche Personen als potentielle Genossenschaftsmitglieder. Die im späten 19. Jahrhundert entstehenden Konsumgenossenschaften sind jedoch ein Beispiel für genossenschaftliche Zusammenschlüsse auch juristischer Personen. Die Markgenossenschaft war bis ins 19. Jahrhundert die Genossenschaft der an der Allmende Nutzungsberechtigten. Dazu KARL SIEGFRIED BADER, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Weimar 1962, S. 116–129. Der Mensch vom 15. September 1904, S. 272f. Diese Zeitschrift gab ein „Deutscher Bund für Lebensreform“ heraus, der hier aufgrund der schlechten Quellenlage nicht näher untersucht werden kann. Der Bund vertrat die Ziele Selbstreform, Umgestaltung der Jugenderziehung und Neuordnung des wirtschaftlich-sozialen Lebens auf genossenschaftlicher Grundlage mit Bodenrechtsreform. ROLF STEDING, Das Recht der eingetragenen Genossenschaft. Ein Überblick. (= Berliner Beiträge zum Genossenschaftswesen, Bd. 55.) Berlin 2002, S. 10.

2.2. Organisation

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Wert.203 Elemente sowohl von Idealismus als auch von Pragmatismus finden sich auch in der ersten größeren und zugleich langlebigsten lebensreformerischen Genossenschaft, der 1893 gegründeten und noch heute bestehenden Siedlung Eden in Oranienburg.204 Ein Gruppenfoto der Teilnehmer an der V.D.R.-Versammlung in Kassel zeigt etwa sechzig überwiegend junge Menschen, davon zehn Frauen. Sie dürften ihre Reformhäuser zum großen Teil erst nach dem Krieg eröffnet oder, in selteneren Fällen, von ihren Eltern übernommen haben. Mit der Veranstaltung verbunden war eine Ausstellung von Erzeugnissen der lebensreformerischen Industrie. Zu sehen waren dort alkoholfreie Getränke, Bekleidung, Schuhe, Heil-, Pflege- und Kräftigungsmittel, Töpfe und Möbel, außerdem gab es Kostproben von Reformhaus-Nahrung.205 Über die Konsumwaren hinaus präsentierte die Schau aber auch einige identitätsstiftende, geistige Attribute der Reformhausbewegung: Ein „besonderer Tisch“ zeigte die bisher erschienenen Hefte der Kundenzeitschrift Das Reformhaus, einen V.D.R.-Abreißkalender, ferner „das wichtigste Schrifttum der Bewegung“ und eine Deutschlandkarte, auf der die Standorte der „bis jetzt“ vorhandenen Reformhäuser markiert waren.206 Es gab, das suggeriert ein Bericht über die Jahreshauptversammlung unverkennbar, noch viel zu tun, der Reformmarkt war ausbaufähig, wirtschaftlich und gedanklich. Auf der Veranstaltung konnte die V.D.R. erst eine einzige gefüllte Sammelmappe mit Heften ihrer Kundenzeitschrift präsentieren: die des Jahrgangs 1926. Daneben mag das „Einführungsheft“ aus dem Dezember 1925 gelegen haben und wohl auch schon die Januarausgabe von 1927 – mehr Ausgaben waren noch nicht vorhanden. Und auf der Deutschlandkarte mit den Reformhausstandorten „war zu sehen, daß die Bewegung ihre stärkste Verbreitung im dichtbewohnten südwestlichen und im mittleren Deutschland hat, während im Norden und Osten noch wichtige Gebietsteile ganz ohne Reformhaus sind.“207 Innerhalb der folgenden drei bis vier Jahre wuchs die Reformwarenbranche merklich. In dieser Zeit, die nur leicht verzögert auf die „Phase der relativen Stabilisierung“208 der Weimarer Republik folgte, erreichte die Organisationsdichte der Bewegung 203

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Betonung dieser über das Wirtschaftliche hinausgehenden „ideengeschichtlichen Wurzeln“ der Genossenschaftsbewegung bei HELMUT FAUST, Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1977 [zuerst 1958], S. 9 (Vorwort zur zweiten Auflage). Dazu ASTRID SEGERT/IRENE ZIERKE, Auf der Suche nach Eden. Die lebensreformerische Genossenschaft Eden an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, Bd. 16.) Münster u. a. 2001, S. 61–64. Das Reformhaus, März 1927, S. 3f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4. Gemeint sind hier wohl vor allem die dünn besiedelten Gebiete im Norden und im Osten des Reiches. Im hanseatischen Norden gab es beispielsweise durchaus schon einige Reformhäuser. Vgl. auch oben S. 47. EBERHARD KOLB, Die Weimarer Republik. 6. Aufl. München 2002 [zuerst 1983], benutzt diese Bezeichnung für die Jahre 1924–1929.

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2. Lebensreform als Netzwerk

ihren Höhepunkt. In ländlichen Gebieten, etwa in Niederbayern, gab es aber auch in den dreißiger Jahren noch kaum Reformhäuser. Wenige Jahre nach der V.D.R. entstand im April 1929 in Oranienburg-Eden ein Herstellerverband mit dem Namen „Neuform, eingetragener Verein lebensreformerischer Unternehmen“, dem auch einige Reformhausbetreiber angehörten. Offenbar gründete sich die Neuform als „Gegenorganisation“ zur V.D.R.209 Ein schon bestehender Herstellerverband, der „Reichsverband der Industrie für Gesundheitspflege“, erschien den Reformwarenproduzenten „als nicht schlagkräftig genug“, seit die V.D.R. sich 1927 in eine Genossenschaft umgewandelt hatte und als solche Reformwaren in Eigenpackungen herausbringen wollte. „Führende Erzeuger (Fabrikanten und Lieferanten)“ verbanden sich daher nach Angaben des Vereins „Neuform“ mit den „Kleinverteilern (Reformhäusern)“ zu dem Zweck, „durch eine neue Form der wirtschaftlichen Gemeinschaft die Lebensreform in all ihren wichtigen Teilen gesund und lebenskräftig zu erhalten.“ Das Schlagwort vom „Dienst am Kunden“ müsse angesichts der „Eigenart der Lebensreform, die sich mit höchsten Anforderungen an den ganzen Menschen und an jeden einzelnen persönlich wendet, […] aus dem Bereich der rein geschäftlichen Beziehungen“ herausgehoben werden. Ziel sei es, den wirtschaftlichen Begriff „zu versittlichen und zu erhöhen zu dem Begriff vom Dienst am Menschen.“210 Auch hier zeigt sich, ganz wie bei der V.D.R., das Bestreben, Wirtschaft und Idee der Lebensreform zu vereinigen. Obwohl sich die beiden Organisationen zunächst „sehr scharf bekämpften“211 , verschmolzen Neuform und V.D.R. am 13. Juli 1930 in Kassel zur „Neuform Vereinigung deutscher Reformunternehmen e.G.m.b.H.“ (Neuform-VDR), einem Zusammenschluß von Produzenten und Reformhäusern212 , die sich selbst als „Branchen-Einheits-Organisation“, „Einheitsfachgenossenschaft“ oder „Einheitsgenossenschaft“ bezeichnete. Den Beschluß dazu faßte eine „Reformhaus-Branchenversammlung“ von Reformhausbetreibern, V.D.R.-Lieferanten, NeuformLieferanten und neutralen Lieferanten, die in Neuform und V.D.R. organisiert waren. Einziger Tagesordnungspunkt der Versammlung, die in der Kasseler Stadthalle tagte, war die „Aussprache über das Für und Wider des geplanten Zu209 210

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Neuform-Rundschau, Oktober 1935, S. 226. Was ist „Neuform“? Was will „Neuform“?, Sonderdruck aus Nummer 1 der Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens, Mai 1929, S. 1 [loses Blatt], ReformhausFachakademie, Ordner Geschichte Lebensreform, Neuform, Hersteller, Verschiedenes. BAKEL, Reformbewegung am Scheidewege (wie Anm. 191), S. 3. – Ebenfalls auf Zwistigkeiten weist ein von dem Edener Karl Bartes am 14. Juli 1930 in Kassel niedergeschriebenes Gedicht hin, in dem es heißt: „VDR und Neuform haben / Festgeknüpft das Einheitsband. / Aller Streit ist jetzt begraben, / Auf Genossen, Hand in Hand / Laßt uns nun zu Taten schreiten, / Festgeeint wird es nicht schwer. / Laßt uns treu und ehrlich streiten / Für die Neuform-VDR.“ [Loses Blatt, handschriftlich.] Eden-Archiv Oranienburg. – Vgl. auch Neuform-Rundschau, Oktober 1935, S. 226, wo rückblickend von einem „Bruderkrieg“ die Rede ist. – Zu Bartes FRIEDA HUBERT, Karl Bartes – Ein Leben für Eden, in: Edener Mitteilungen 1996, S. 31–33; Nachruf auf Bartes in: Eden-Hauspost, Nr. 4, 1962, S. 7. Neuform, Dezember 1930, S. 234; Das Reformhaus, November 1930, S. 161.

2.2. Organisation

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sammenschlusses der Branche“.213 Mit 690 Mitgliedern hatte die in Kassel gegründete Neuform-VDR, die sich nunmehr ohne Punkte abkürzte, mehr als doppelt so viele Mitglieder wie im Vorjahr die V.D.R. e.G. Im Juli 1931 zog die neue Genossenschaft, die jetzt schon 936 Mitglieder zählte, von Frankfurt nach Berlin, das Frankfurter Auslieferungslager blieb aber bestehen. Dort konnten die Reformhausbetreiber alle in einer Lagerliste aufgeführten Produkte des NeuformVDR-Warenprogramms beziehen, die sie aber auch direkt beim Lieferanten erhielten. Außerdem war dem Lager eine Großbuchhandlung der Neuform-VDR angeschlossen, in der die Händler lebensreformerische Literatur bestellen konnten. Im Sprachgebrauch setzte sich, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, die abkürzende Bezeichnung „Neuform“ als der leichter zu sprechende und wohlklingendere Teil des vollständigen Namens „Neuform-VDR“ durch. Es ist also eine „alte“ von einer „neuen“ Neuform zu unterscheiden214 , wobei die eine nur ein gutes Jahr früher entstand als die andere. Vor dem Hintergrund, daß der Name älter ist als die „Einheitsfachgenossenschaft“, erscheinen nachträgliche Berichte, mit der Bezeichnung sei die Synthese von Herstellern und vor allem von Oranienburg-Eden als lebensreformerischer Keimzelle auf der einen Seite und dem Handel auf der anderen zu einer „neuen Form“ gemeint, als falsche Projektionen. In solchem Sinne glaubte sich die ehemalige Berliner Reformhausinhaberin Frieda Hubert, Tochter des Edeners Karl Bartes (1879–1962), im Alter an die Namensgebung zu erinnern: „Auf der einen Seite Eden, und auf der anderen Seite: V.D.R. (Verein deutscher Reformhäuser [sic]). Aber keine Seite wollte auf ihren Namen verzichten! Darum ging es! Da schlug mein Vater vor, der ganzen Angelegenheit eine neue Form zu geben! neuform [sic] war dann die Lösung! […] Ja, und jede Seite kam zu seinem [sic] Recht!“215 Der Obstsaftproduzent Fritz Donath erinnerte sich zwar tatsächlich an die Gründung der „alten“ Neuform von 1929, deren Namensfindung er im Rückblick so beschrieb: „Es war schon spät am Abend, wir grübelten alle darüber nach, einen geeigneten Namen für den neuen Verband zu finden. Die übliche Fröhlichkeit bestimmte den Verlauf. Da ruft Hans Hiller216 unvermittelt Neuform. Alles lachte, doch schnell wurde man nachdenklich und der Name ,Neuform‘ war geboren.“217 Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, ob es sich auch hier um einen nachträglichen Versuch handelt, einen Gründungsmythos für die Neuform, in diesem Fall schon für die erste, zu erfinden. Damals, 1929, hieß es schlicht über den Namen: „Aus 213

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Eineinhalb Stunden nach der „Branchenversammlung“ begann dann eine außerordentliche Generalversammlung der V.D.R., an der nur V.D.R.-Mitglieder, deren Angehörige oder Vertreter teilnehmen durften. Vgl. Einladung zur Reformhaus-Branchenversammlung und zur außerord. Generalversammlung der VDR, 2. Juli 1930 [Kopie]. Reformhaus-Fachakademie, Ordner Geschäftspapiere. Vgl. Neuform, Dezember 1930, S. 234. Brief von Frieda Hubert an Robert Schurmann vom 22. Oktober 1995, Eden-Archiv Oranienburg. Der Leiter des „Natura-Werkes“ in Hannover. Zit. nach SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 10.

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der Lebensreform heraus, von den natürlichen Lebensbedingungen her, beginnt eine Neuform des ganzen Volkes.“218 Die erste Neuform geriet im kollektiven Gedächtnis der Branche weitgehend in Vergessenheit. Zum eigentlichen Bezugspunkt der eigenen Geschichte wurde die Neuform-VDR von 1930, als Vorläufer nennen Texte der Branche meist die V.D.R. von 1925 und 1927219 , kaum aber die 1929 gegründete Oranienburger Neuform.220 Aufsichtsrat und Vorstand der Neuform-VDR von 1930 waren zunächst paritätisch besetzt, obwohl das Zahlenverhältnis von Reformhausinhabern zu Produzenten in der Genossenschaft sehr ungleich war – im Februar 1931 waren von gut 800 Mitgliedern nur 22 Hersteller. 221 Die Genossenschaft begründete die Paritätsregelung damit, daß die Lieferanten den Hauptteil der Verwaltungskosten erbrachten.222 Die Parität fiel schon 1932 zugunsten der Reformhausinhaber, weil sie als mit dem Genossenschaftsgesetz von 1889 nicht vereinbar galt.223 Zusätzlich zu den regionalen Gruppen der Reformhausinhaber wählte sich nun auch die Lieferantengruppe einen eigenen Obmann. Den weitaus größten Anteil der Erträge der Neuform-VDR brachten die sogenannten Förderungsbeiträge der Vertragslieferanten ein, die 1930 knapp 80 Prozent aller Einnahmen ausmachten, gefolgt von Eintrittsgeldern, die die Mitglieder einmalig bei ihrer Aufnahme in die Genossenschaft zahlten, und monatlichen Mitgliederbeiträgen.224 Auch der Verkauf der Kundenzeitschrift Neuform-Rundschau, der Nachfolgerin von Das Reformhaus, gehörte zu den Einnahmequellen. Die Hälfte aller Reformhäuser machte 1931 einen Monatsumsatz von 500 bis 2500 Reichsmark, vierzig Prozent lagen bei 2500 bis 5000 Reichsmark, während ein Zehntel der Reformgeschäfte 5000 bis 35.000 Reichsmark im Monat umsetzte.225 Als Zweck des Zusammenschlusses zur Einheitsgenossenschaft von 1930 gab die Neuform-VDR eine größere Qualitätskontrolle und -garantie hinsichtlich der Reformwaren an. Ziel sei es, der „Flut von Scheinreform-Erzeugnissen“226 zu begegnen und die Kunden mit „einwandfreien, hochwertigen Erzeugnissen zu versorgen“. 227 Denn es gebe „sogenannte Reformhäuser, die diesen Namen nicht ver218 219

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Neuform, Juni 1929, S. 2. So etwa in der Jubiläumsschrift 50 Jahre Neuform (wie Anm. 162), S. 10. – Eine „Chronik der Neuform VDR e.G., Oberursel“ unter www.neuform.de/branche/geschichte.htm, abgerufen am 20. Juni 2006, nennt die Gründung von 1929 zwar, allerdings unter Auslassung des Namens „Neuform“ als „Verein lebensreformerischer Unternehmen“. Ein Grund dafür dürfte sein, daß die Hersteller, welche die (erste) Neuform von 1929 dominiert hatten, in späterer Zeit nicht mehr zur Neuform-VDR gehörten. Neuform-VDR-Fachblatt vom 28. Februar 1931, S. 31. Neuform-VDR-Fachblatt vom 20. Januar 1932, S. 15. Neuform-VDR-Fachblatt vom 25. Januar 1933, S. 1; Neuform-VDR-Fachblatt vom 24. Mai 1933, S. 156. BAKEL, Reformbewegung am Scheidewege (wie Anm. 191), S. 9; Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Dezember 1931, S. 318. Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Juli 1931, S. 150. Das Reformhaus, November 1930, S. 162. Ebd., S. 161.

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dienen“, und von vielen Seiten werde versucht, „der [sic] Reformbewegung nachzuahmen, sie zu verwässern und zu verfälschen.“228 Der Zusammenschluß diente also vor allem dazu, sich von Konkurrenten auf dem Reform- und Gesundheitsmarkt abzugrenzen. Der Verbraucherschutz diente dazu als wichtigstes Argument.229 Die Genossenschaft prüfte selbst die Reformwaren, deren Hauptanteil Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmittel ausmachten230 , und verlieh den für gut befundenen das Zeichen der Genossenschaft, ähnlich wie es schon die V.D.R. seit 1927 gehandhabt hatte. Für das Recht, ihre Ware oder doch wenigstens einige ihrer Produkte mit diesem 1932 eingeführten „Wertzeichen“ zu versehen, hatten die Lieferantenmitglieder Abgaben an die Genossenschaft zu entrichten.231 Die ersten Produkte, die dieses „Neuform-Zeichen“ trugen, waren Pflanzenbutter von Dr. Landmann, Traubensaft des Unternehmens Lauffs, Graham-Brot von Karl Studt und die Pflanzensäfte des Apothekers Walther Schoenenberger (1900– 1981).232 Die angeschlossenen Reformhausinhaber durften Waren mit diesem Zeichen verkaufen. Außerdem erhielten sie Werbematerial von der Neuform-VDR. Wer eine Aufnahme in die Genossenschaft anstrebte, füllte zunächst eine „Schemakarte“ über seine Vorbildung, seine Finanzen und den gewünschten Gründungsort für das geplante Reformhaus aus und zahlte eine „Beratungsgebühr“ von zehn Reichsmark. Spätestens seit Ende 1933 sollten neu aufzunehmende Mitglieder vor der Übernahme oder Eröffnung eines Reformhauses eine Volontärszeit „in einem guten Reformhaus“ absolviert haben233 , in „verschärfter Form“ nahm die Genossenschaft diese Regelung aber erst in den fünfziger Jahren in ihre Satzung auf.234 Da aber auch schon in der Weimarer Republik junge Menschen per Annonce in der Mitgliederzeitschrift der Neuform-VDR Volontärsstellen suchten, ist es wahrscheinlich, daß eine solche Praxiszeit der Aufnahme auch schon vor 1933 förderlich war. Sah die Genossenschaftsleitung aufgrund der „Schemakarte“ die „grundlegenden Bedingungen für die Führung eines Reformhauses wirklich gegeben“, mußte der Antragsteller in einem Fragebogen einen „ganz genauen Einblick“ in seine „Verhältnisse“, vor allem die finanziellen, gewähren und ein Betriebskapital von wenigstens 3000 Reichsmark nachweisen. Daraufhin holte die Neuform-VDR Auskünfte ein, befragte jene Mitglieder, die in der Nähe des betreffenden Standortes Reformhäuser betrieben, den zuständigen Gruppenobmann und den Obmann der Lieferanten. Auf dieser Grundlage traf der Vorstand eine Vorentscheidung, worauf er dann in gemeinsamer Sitzung mit dem 228 229 230 231

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Ebd., S. 162. Vgl. etwa Neuform-Rundschau, April 1933, S. 93; Neuform-Rundschau, Oktober 1935, S. 226. Das Reformhaus, Januar 1930, S. 3. Geschäftsbericht für das Jahr 1932, in: Einladung und Tagesordnung für die Generalversammlung der Neuform-VDR am 25. und 26. April 1933 in Eisenach vom 5. April 1933 (Rundschreiben an die Mitglieder der Neuform-VDR), S. 3. Vgl. 75 Jahre Neuform – 75 Jahre Produktsicherheit und Beratungskompetenz. Qualität gestern und heute. Pressemitteilung der Neuform VDR vom 14. Mai 2002, S. 1. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Dezember 1933, S. 376. Wie auch die Bedingung des Fachschulbesuchs. Vgl. Klare Ziele richtiger NeuformBranchenpolitik. Arbeitsplan, 1954, S. 9.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Aufsichtsrat oder in schriftlicher Abstimmung endgültig über die Aufnahme entschied. Anfang 1931, also ein gutes halbes Jahr nach ihrer Gründung, hatte die Neuform-VDR in diesem Verfahren schon achtzig Anträge auf Mitgliedschaft abgelehnt, „teils weil die Antragsteller für die Aufnahme nicht geeignet waren, teils weil sie in zu großer Nähe schon bestehender Mitgliedsgeschäfte eröffnen wollten.“235 Mitglieder konnten gegen die Aufnahme neuer Geschäfte Einspruch erheben, wenn sie diese als zu nahe an ihrem eigenen Laden liegend empfanden. Jedes Mitglied hatte „Anspruch auf Kundenschutz“ oder auch „Konkurrenzschutz“ innerhalb eines Luftradius von 500 Metern, bei älteren Reformhäusern „mit bedeutendem Geschäftsumfange“ wurde dieser Radius um 50 Meter für je fünf Jahre ihres Bestehens erweitert. Außerdem berücksichtigte die Genossenschaft Einwohnerzahl, Kaufkraft, Bedarf und „Mentalität“ des jeweiligen Ortes bei der Bewilligung des Schutzrechts. Den Anspruch darauf konnten aber nur Reformhausinhaber geltend machen, die sich ganz auf das Neuform-VDR-Programm eingestellt hatten, also ausschließlich Waren der Genossenschaft bezogen. Die Regelung des Konkurrenzschutzes wurde noch in den dreißiger Jahren aufgehoben.236 Regelmäßig schloß die Genossenschaft auch einzelne Mitglieder aus. Von den 75 Mitgliedern, die zum 31. Dezember 1932 aus der Neuform-VDR ausschieden, waren zwei gestorben, sieben hatten ihr Geschäft aufgegeben, und drei traten auf eigenen Wunsch aus. Alle anderen schloß die Genossenschaft aufgrund ihrer Satzung aus: 54 wegen „Zahlungseinstellung oder Entmündigung“ oder weil die Genossenschaft wegen Geldforderungen sogar Klage gegen sie erhoben hatte, und neun, weil sie angeblich „Sonderinteressen zum Nachteile der Genossenschaft“ verfolgt oder die Satzung, die Geschäftsordnung oder Interessen der Genossenschaft „grob verletzt“ hatten.237 Die ausgeschlossenen Reformhausinhaber durften nicht mehr mit Neuform-VDR-Artikeln beliefert werden. Die Neuform war „bemüht, die frei werdenden Plätze anderweitig zu besetzen.“238 Die „Branchen-Einheits-Organisation“ konnte die Interessengegensätze zwischen Herstellern und Reformhausinhabern, die sich „in hohem Maße gegen die kaufmännischen Bindungen gesträubt“ hatten, „die ihnen auferlegt wurden“239 , nicht aufheben.240 Konflikte entstanden vor allem deshalb, weil die Reformhausinhaber zwar Vorteile wie das Recht auf Kundenschutz genossen, wenn sie ausschließlich Neuform-VDR-Ware abnahmen, aber nicht dazu ver235

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Neuform-VDR-Fachblatt vom 15. Februar 1931, S. 23f. – Zum folgenden auch NeuformVDR-Fachblatt vom 28. Februar 1931, S. 31, 37, 40; Neuform-VDR-Fachblatt vom 23. Dezember 1931, S. 332f. Klare Ziele (wie Anm. 234), S. 16. Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Dezember 1932, S. 239. Ausschlüsse. Liste der Neuform-VDR vom 23. Dezember 1932 [maschinenschriftlich], Eden-Archiv Oranienburg. Neuform-Rundschau, Mai 1932, S. 93. Vgl. Edener Mitteilungen, März 1932, S. 69; Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Februar 1932, S. 17.

2.2. Organisation

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pflichtet waren. Ende 1931 befand die Genossenschaftsleitung anhand von statistischen Aufstellungen, die ihr die Lieferanten zur Verfügung gestellt hatten, daß „ein bedauerlich hoher Prozentsatz unserer Kollegen überhaupt notwendigste Artikel des Reformhauses überhaupt noch nicht führt. Wie kann man sich so ein Reformhaus ohne Haferflocken und Hafermark in Genossenschaftspackung vorstellen?“ Ein „Wortführer der Obleute“ forderte die Reformhausinhaber auf, bei Warenbestellungen „strengstens“ darauf zu achten, daß sie bei den von der Genossenschaft empfohlenen Lieferanten bestellten und die „Hauptartikel“ vorrätig hätten. „Alles schreit nach Schutz und beschwert sich über die Belieferung von Außenseitern, aber die einfachsten Forderungen der Gegenseitigkeit werden von Ihnen nicht erfüllt.“241 Aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Lage nach der Bankenkrise geriet die Genossenschaft 1931 außerdem in finanzielle Nöte. Offensichtlich hatte sie in den ersten eineinhalb Jahren ihres Bestehens für viele Reformhausinhaber insgesamt nicht das geboten, was diese erwartet hatten.242 Als Ende des Jahres 1931 einige Mitglieder auszutreten drohten und vierzehn auch tatsächlich austraten243 , räumte die Genossenschaftsleitung beschwichtigend Fehler in der Organisationsstruktur ein und kündigte an, diese zu verbessern.244 Anfang 1932 teilte der Aufsichtsrat mit, die Geschäftsführung habe sich nicht rechtzeitig auf die schlechte Wirtschaftslage eingestellt und kaufmännische Fehler gemacht, etwa zu spät mit dem Abbau – gemeint war vor allem der Abbau von Personal in der Geschäftsstelle der Genossenschaft – begonnen.245 Offenbar gab es 1932 außerdem mehrere Kartell- und Schadenersatzprozesse, von denen die Neuform-VDR wenigstens einen klar verlor.246 Die Führungsriege des ersten Neuform-VDR-Geschäftsführers Hans Gregor (1897–1935), der offensichtlich mehr der geistigen Seite der Lebensreform zuneigte und mit der kaufmännischen und genossenschaftlichen überfordert war247, wurde von Alfred Liebe (1902–1983) abgelöst. In der Bilanz von 1932 konnte die Neuform-VDR den Verlust in der Bilanz von 1931 tilgen, nach eigenen Angaben durch einen Sparkurs.248 Anfang 1932 hatte sie die Preise für die meisten Reformerzeugnisse gesenkt.249 Im Geschäftsbericht für das Jahr 1932 heißt es, es sei gelungen, „die finanziellen und wirtschaftlichen Belange 241 242 243 244 245 246 247 248 249

Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. November 1931, S. 303; vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Dezember 1931, S. 318. Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Februar 1932, S. 21. Neuform-VDR-Fachblatt vom 20. Januar 1932, S. 5. Neuform-VDR-Fachblatt vom 23. Dezember 1931, S. 331. Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Februar 1932, S. 18; vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 20. Januar 1932, S. 1. Neuform-Echo, Juli 1972, S. 29. Reformwaren-Echo, Juli 1952, S. 236. Neuform-VDR-Fachblatt vom 27. Februar 1933, S. 41; Neuform-VDR-Fachblatt vom 24. Mai 1933, S. 156: Im Jahr 1931 habe die Genossenschaft ihre „schwerste Krise“ gehabt. Neuform-Rundschau, März 1932, S. 45.

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2. Lebensreform als Netzwerk

unserer Organisation auf eine Basis zu stellen, die als gesund bezeichnet werden muß.“250 Trotz der Spannungen zwischen Herstellern und Lieferanten sowie zwischen Genossenschaftsleitung und Genossenschaftsmitgliedern und trotz der zeitweise schwierigen finanziellen Lage der Neuform-VDR galt die Einheitsgenossenschaft schon 1931 als „das Teilgebiet [der Reformbewegung], das einen festen organisatorischen Zusammenhalt gefunden hat.“251 Das weist nicht nur auf die Dichte der organisatorischen Strukturen der Reformwarenwirtschaft hin, sondern auch auf die im Verhältnis zu ihnen deutlich schwächeren Zusammenschlüsse anderer lebensreformerischer Gruppen zur selben Zeit. Die Reformwarenbranche wurde mehr und mehr zum Zentrum des Netzwerks. Durch die Vereinigung von Herstellern und Reformhäusern erlangte die Neuform-VDR eine Monopolstellung auf dem Reformwarensektor und gab das auch unumwunden zu: „Durch die Einheitsfachgenossenschaft ist eine Stelle geschaffen, die über den Reformwarenmarkt wacht, einen weitgehenden Einfluß ausübt und planmäßig an einer zweckentsprechenden Entwicklung arbeitet.“ Sie hielt sich zugute, „daß diese Zentralstelle, obwohl sie in erster Linie ein wirtschaftliches, also geschäftliches Unternehmen ist, sich in solchen Fragen nicht zuerst von rein geschäftlichen Erwägungen leiten läßt, sondern daß für sie die Erkenntnisse der neuen Ernährungswissenschaft und Gesundheitslehre, die Belange der Reformbewegung und die gute Befriedigung bestehenden Bedarfes maßgebend sind.“252 Insofern ernannte sich die Genossenschaft selbst zur Wächterin über den Reformwarenmarkt und zur eigentlichen Vertreterin der Belange der Lebensreform. Dieser Anspruch und das tatsächliche Monopol der Neuform-VDR blieben nicht unwidersprochen. Angriffspunkte von Kritikern aus anderen Branchen und aus der Lebensreform selbst waren vor allem die Form der Einheitsgenossenschaft, die das Genossenschaftsgesetz von 1889 nicht vorsah, und damit zusammenhängend die Aussage, die Neuform-VDR begünstige die „Konzernbildung“.253 Der Konkurrenzschutz von 500 Metern, den die Neuform-VDR ihren Mitgliedern einräumte, die ausschließlich Waren aus dem Genossenschaftsprogramm verkauften, stand für Kritiker im Widerspruch zur Reichsgewerbeordnung, da die Einrichtung von Reformgeschäften nicht konzessionspflichtig war: „Wer sich nicht nach den Vorschriften der Neuform-VDR richtet, wird, falls es sich um ein Reformgeschäft handelt, ,gesperrt‘, d.h. die der Neuform-VDR angeschlossenen Fabrikanten und Großhändler beliefern das gesperrte Geschäft nicht, und wenn es sich um einen Großhändler oder Fabrikanten handelt, wird er nicht ,zugelassen‘, d.h. die der Neuform-VDR angeschlossenen Reformgeschäfte werden angehalten, diese Waren nicht zu führen.“ Gegenwärtig, so der Kritiker 250

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Einladung und Tagesordnung für die Generalversammlung: Rundschreiben an die Mitglieder der Neuform-VDR vom 5. April 1933 betr. 6. ordentliche Generalversammlung am 25.– 26. April 1933 in Eisenach, S. 3. BAKEL, Reformbewegung am Scheidewege (wie Anm. 191), S. 1. Das Reformhaus, November 1930, S. 162. Neuform-Rundschau, Mai 1932, S. 93. Vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 20. Januar 1932, S. 4.

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E. Bakel im Jahr 1931 weiter, mache die Neuform-VDR „freien“ Reformgeschäften und Geschäften mit Reformabteilungen „das Leben schwer“, möglicherweise werde sie solche Verkaufsstellen künftig sogar ganz verhindern können. Was also von seiten der Neuform-VDR als „Qualitätskontrolle“ und „Kundenschutz“ erscheint, wird hier als „reinste Kartellwirtschaft“ angeprangert. Außerdem lege die Genossenschaft weder offen, wer die Waren prüfe, die das „Neuform-Zeichen“ erhielten, noch, welche Kriterien für diese Prüfung maßgebend seien.254 Der Reformbranche wiederum erschienen nicht nur die Konkurrenten auf dem Reformwarenmarkt – Apotheker, Feinkosthändler und Drogisten, deren Warensortiment sich teilweise mit dem des neuen Geschäftszweiges überschnitt, – als Gegner, sondern auch „Staat, Behörden und die Gesetzesmaschine“.255 Seit den zwanziger und dann verstärkt seit den dreißiger Jahren ging es der Reformwarenwirtschaft, das geht aus alledem hervor, nicht mehr wie bis vor dem Weltkrieg in erster Linie darum, für die Lebensreform und das gesündere Leben an sich zu werben, sondern darum, das in den Augen der organisierten und kommerzialisierten Reform relevante Wissen zu vermitteln – und vor allem um ökonomischen und finanziellen Gewinn. Nicht mehr ein Zusammenwirken aller Kräfte der Lebensreform stand im Mittelpunkt, wie es viele Reformer während des Ersten Weltkrieges gefordert hatten und wie es sich auch 1925 noch einmal eine Gruppe von Vereinsvertretern der Lebens- und Heilreform mit ihrem geplanten und dann gescheiterten „Reichsbund für Lebens- und Heilreform“ erträumte.256 Zentral war jetzt vielmehr, das eigene Profil zu schärfen, und der eigenen Richtung innerhalb des Netzwerks zu ideologischem und wirtschaftlichem Erfolg zu verhelfen. Die Neuform-VDR war Anfang 1931 nach eigener Aussage nicht etwa bestrebt, „unseren Mitgliederkreis um jeden Preis zu vergrößern, sondern wir wollen die Branche nach innen und außen, geistig und wirtschaftlich fördern“.257 Konkurrenz durch Reformgeschäfte, die nicht der Neuform-VDR angeschlossen waren, gelte es durch „strenge Erfüllung des Neuform-Warenprogramms“ abzuwehren.258 Die Vertiefung hatte also Vorrang vor der Erweiterung. Die Reformwarenwirtschaft hatte sich Anfang der dreißiger Jahre auf dem Gesundheits- und dem Konsumgütermarkt wenn nicht im strengen Sinne etabliert, so doch eine Nische erkämpft. Das zeigt nicht zuletzt die Kritik an ihr. Vor dem Hintergrund dieser Verstetigung entstand Anfang 1932 eine neue Organisation der Reformhausbewegung: eine Fachschule für „Reformhausbesitzer, deren Angestellte und solche, die es werden wollen“. Ihr Sitz war zunächst das Sanatorium des Naturarztes Karl Strünckmann (1872–1953) in Blankenburg im Harz, wo die fachlichen Lehrgänge durch Gymnastik und „neuzeitliche Ver254 255

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BAKEL, Reformbewegung am Scheidewege (wie Anm. 191), S. 5–12. Reaktion der Neuform-VDR auf die Broschüre in: Neuform-VDR-Fachblatt vom 20. Januar 1932, S. 15f. Deutsche Reformwaren-Zeitung, Januar 1933, S. 1, 3. – Vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. August 1931, S. 233; Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Oktober 1933, S. 280; Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. November 1931, S. 304. Dazu oben S. 50. Neuform-VDR-Fachblatt vom 28. Februar 1931, S. 31. Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. Februar 1932, S. 21.

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pflegung“ ergänzt wurden.259 Der Leiter, der ehemalige Geschäftsführer der Neuform-VDR Hans Gregor, führte die Schule selbständig und nicht als Organisation der Neuform-VDR. Die Genossenschaft war aber „mit Rat und Tat beteiligt“.260 Auch hier ging es, ganz wie bei den Produkten, um Kontrolle, in diesem Fall um die Kontrolle von Menschen: In der Fachschule lernten die Reformhausbetreiber, wie sie welche Produkte zu verkaufen hatten und was unter der Idee der Lebensreform zu verstehen sei. Am ersten Kurs, der zwei Wochen dauerte, nahmen 46 Reformhausinhaber und Reformhausangestellte teil, davon etwa ein Drittel Frauen. Sie begannen den Tag um 6.15 Uhr mit Gymnastik, dann ging es in den Unterricht.261 Flächendeckend wurden die Fachschul-Kurse Ende der dreißiger Jahre eingeführt. 2.2.2.1.2. Vegetarismus und Naturheilkunde Der Erste Weltkrieg fegte die klassische Lebensreformbewegung, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war, nahezu fort. Die Organisationen des Vegetarismus und der Naturheilkunde bestanden zwar weiter, ihr Einfluß aber ging in den Jahren nach 1918 schnell zurück. Obwohl neue Vegetarier- und Naturheilvereine entstanden, wurde die Rolle dieser beiden Zweige der Lebensreform im Netzwerk und mit Blick auf die übrige Gesellschaft geringer. Die Naturheilkunde, wie sie im „Deutschen Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ organisiert war, erlitt in den zwanziger Jahren einen deutlichen Attraktivitätsverlust: Die bürgerliche Naturheilbewegung hatte nach dem Krieg ihren „Zenith überschritten.“262 Das lag neben einem Bedeutungsgewinn der Schulmedizin im Krieg und in den Jahren danach263 auch daran, daß die bürgerlichen Naturheilorganisationen zunehmend durch einen sozialdemokratisch geprägten Ableger geschwächt wurden: den 1908 von Hermann Wolf auf klassenkämpferischer Grundlage gegründeten „Verband der Vereine für Volksgesundheit“.264 Vollständig habe sich die Welt gewandelt, befand die Zeitschrift des „Deutschen Bundes der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“, Der Naturarzt, im Juni 1919, und das stelle auch die Vertreter der Naturheilkunde vor „schwere Aufgaben“. Es sei notwendig, „unserer Arbeit neue Wege [zu] bereiten, 259

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Neuform-Rundschau, Mai 1932, S. 83. Zu Karl Strünckmann, der auch eine „christrevolutionäre Bewegung“ ins Leben rief, ULRICH LINSE, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983, S. 90–96. Neuform-VDR-Fachblatt vom 4. April 1932, S. 72. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Juli 1932, S. 132–135. WOLFGANG R. KRABBE, Naturheilbewegung, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 77–85, hier S. 81. Vgl. auch KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 145. Hierzu FRITZEN, „Unsere Grundsätze marschieren“ (wie Anm. 147), bes. S. 168–174. KRABBE, Naturheilbewegung (wie Anm. 262), S. 81. Zum Verhältnis der mittelständisch geprägten Naturheilvereine des Kaiserreichs zur Sozialdemokratie und zu dem damals noch mit „seiner sozialistischen Agitation“ in der Bewegung allein stehenden Hermann Wolf STOLLBERG, Naturheilvereine (wie Anm. 40), S. 302–304.

2.2. Organisation

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da die Ereignisse der letzten 6 Monate unseren Forderungen den Boden geebnet haben.“265 Hier scheint ein weiterer Grund für den Bedeutungsverlust hindurch: die durch einen katalysatorischen Effekt des Krieges erheblich beschleunigte Diffusion von Inhalten der „natürlichen Lebensweise“ in die Gesamtgesellschaft, durch die die Propaganda der Bewegung gewissermaßen von der Zeit überholt worden war.266 Ihr Ziel, die Gesellschaft für Fragen der gesunden Lebensweise zu sensibilisieren, war erreicht und hatte sich damit überlebt. Die Vegetarische Warte schrieb im Dezember 1924 in einem Jahresrückblick, der „Deutsche Vegetarier-Bund“ sei „unter Aufbietung aller seiner Kräfte der Gefahr des Untergangs eben entronnen“ und leide „unter schwerer Erschöpfung“. Ihm müsse wieder zu seiner „früheren Kraft und Lebensfähigkeit“ verholfen werden. Der Bund sah zwar schon den „Anfang einer besseren Zeit für Deutschland am Horizont aufdämmern“267, aber das sollte ihm nichts mehr nützen. Andere Bewegungen, die sich erst in dieser „besseren Zeit“ organisatorisch verfestigten, hatten es leichter als die vegetarische Bewegung und die bürgerliche Naturheilkunde, Mitglieder zu gewinnen. Das gilt besonders für die Volks- und die Arbeitergesundheitsbewegung, deren oft schon vor dem Weltkrieg (aber gleichwohl nach den bürgerlichen lebensreformerischen Vereinen) entstandene Verbände268 nach der Revolution von 1918/19 „einen schnellen Aufschwung“ nahmen und „viele neue Mitglieder“ gewannen.269 Auch war 1918 mit dem „Deutschen Vegetarier-Verband“ mit Sitz in Dresden ein neuer Vegetarierverein entstanden, der sich auf den gesundheitlichen Vegetarismus konzentrierte, vor allem lebenspraktische Hinweise gab und die „Philosophie“ des Vegetarismus weitgehend ausblendete. Das entsprach dem Zeitgeist der gesundheitsseligen Weimarer Gesellschaft besser als der weltanschaulich-ethisch überformte und zugleich immer esoterischer werdende Vegetarismus des „Deutschen Vegetarier-Bundes“.270 Ähnlich betonte auch der „Verband deutscher Vegetariervereine“ mit Sitz in Oranienburg-Eden, ein neuer Dachverband, dem Anfang der dreißiger Jahre etwa zehn Vereine angehörten, die gesundheitliche Wirkung des Vegetarismus. Die ebenfalls erst nach dem Krieg gegründete „Freusburg-Arbeitsgemeinschaft für Lebenserneuerung“ trug zwar starke weltanschaulich-religiöse Züge, verzichtete aber auf den Begriff des Vegetarismus und war dadurch auch für Nicht-Vegetarier anschlußfähig. 265 266 267 268

269

270

Der Naturarzt, Juni 1919, S. 84. Dazu unten Kapitel 3.1.2., S. 188ff. Vegetarische Warte, Dezember 1924, S. 71. Die sich organisierende Arbeiterschaft entwickelte seit der Jahrhundertwende „als Gegensteuerung zur Trunksucht“ zahlreicher Arbeiter „gezielte Freizeitaktivitäten, vor allem auch für die Jugend“ und in der Natur: HERMANN GLASER, Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne. Frankfurt am Main 1994 [zuerst 1981], S. 148– 151. PETER LÖSCHE, Arbeiterorganisationen und Lebensreform. Zur Einführung, in: WALTER/DENECKE/REGIN (Hrsg.), Sozialistische Gesundheits- und Lebensreformverbände (wie Anm. 48), S. 11–15, hier S. 11. Dazu unten 3.2.2.1, S. 205ff.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Im Sommer 1932 fand der achte „Internationale Vegetarier-Kongreß“ der 1908 gegründeten „Internationalen Vegetarier-Union“ in der Eden-Siedlung in Oranienburg statt.271 Dort traten die Organisationen des deutschen und internationalen Vegetarismus zum letzten Mal in größerem Rahmen in der deutschen Öffentlichkeit auf. Als im Jahr darauf Vegetarier aus vielen Ländern zum neunten Kongreß dieser Art nach Dänemark reisten, hatten sich die Verhältnisse in Deutschland völlig verändert. Von den lebensreformerischen Bestrebungen traf das die Organisationen der Vegetarier am meisten. 2.2.2.2. Gleichschaltung (1933–1945) Im „Dritten Reich“ unterlagen die Organisationen der Lebensreform der Kontrolle durch das nationalsozialistische Regime.272 Die neue Regierung verbot einige Gruppen, die nicht zu ihrem Weltbild paßten. Häufiger lösten sich Vereinigungen unter dem Druck der nationalsozialistischen Propaganda aber freiwillig auf. Die übrigen, die biegsam genug waren, sich in das ideologische Korsett pressen zu lassen, wurden unter neu gegründeten Vereinen gleichgeschaltet. Im Sinne der vertikalen Organisation der nationalsozialistischen Gesellschaft fungierte wiederum als Oberaufsicht über diese neuen übergeordneten lebensreformerischen Vereine der „Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit“ bei der Reichsleitung der NSDAP. Ihm angeschlossen waren Laienverbände wie die 1934 geschaffene „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ (D.G.f.L.) und der „Nationalverband für Volksgesundung e.V.“ sowie der „Nationalverband Deutscher LebensreformUnternehmen“, der im Juni 1933 als Berufsverband der Lebensreform entstanden war. Im folgenden werden zunächst die Mechanismen von Gleichschaltung, mehr oder weniger freiwilliger Selbstauflösung und Verbot aufgezeigt. Dabei spielte die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“, die 1937 mit dem „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ in der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ verschmolz, eine entscheidende Rolle (2.2.2.2.1.). Im Anschluß geht es auf der konkreten Ebene einzelner Vereine um die Gleichschaltung und Auflösung 271 272

Zum Vegetarier-Kongreß BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37), S. 202–204. Zur Lebensreform im Nationalsozialismus mit Schwerpunkt auf der Naturheilkunde und unter weitgehender Auslassung der Reformwarenwirtschaft KRABBE, „Die Weltanschauung“ (wie Anm. 47). Seine Deutung, mit dem „Dritten Reich“ ende die Geschichte der Lebensreform (ebd., S. 459), mag hinsichtlich der meisten Bewegungen stimmen, wie auch diese Arbeit am Beispiel von Vegetarismus und Naturheilbewegung zeigt. Auf die Reformwarenwirtschaft hingegen trifft sie nicht zu. – Die pauschale Deutung, daß die Gleichschaltung „alle Reformbestrebungen zum Absterben brachte“, findet sich auch bei ROTHSCHUH, Naturheilbewegung (wie Anm. 35), S. 126. – Zur Gleichschaltung der Lebensreformbewegung und ihrer Entwicklung im „Dritten Reich“, wie bei Krabbe mit besonderem Blick auf die „Neue deutsche Heilkunde“ und ohne Berücksichtigung der Reformwarenwirtschaft, auch BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 195–233; auf Bothe gestützt LARS ENDRIK SIEVERT, Naturheilkunde und Medizinethik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1996, S. 159–164.

2.2. Organisation

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der Vegetarierverbände unter dem Druck der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ (2.2.2.2.2.). Die Neuform-VDR mußte unter dem „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ ihre Organisationsstruktur verändern (2.2.2.2.3.). Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ trat dem „Nationalverband für Volksgesundung e.V.“ bei. Er stand also in ähnlichem Verhältnis zu diesem wie die Vegetariervereine zur „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und die Neuform-VDR zum „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“. Allerdings drängten die Nationalsozialisten die Naturheilkunde schnell in eine Sonderrolle, indem sie sie in den ersten Jahren nach der Machtübernahme mit der Schulmedizin zu einer „Neuen Deutschen Heilkunde“ zu synthetisieren versuchten (2.2.2.2.4.). 2.2.2.2.1. Von der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ zur „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ Der 1934 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ mit Sitz in München und Geschäftsstelle im nahen Planegg konnten juristische Personen beitreten, die in „reformerischer Richtung“ arbeiteten. Mitglied konnte außerdem „jeder arische Deutsche werden, der sich den lebensreformerischen Bestrebungen verbunden fühlt“. Über die Aufnahme entschied der Leiter des Vereins, der Nationalsozialist Hanns Georg Müller.273 Müller, der vor 1933 noch überhaupt nicht in der Lebensreformbewegung hervorgetreten war274 , leitete außerdem das „Referat Lebensreform“ des „Hauptamtes für Volksgesundheit“, das mitunter auch „Abteilung Volksgesundheit“ genannt wurde. Für die bestehenden größeren Verbände und Vereine, die der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ beitraten, galt eine Übergangsbestimmung. Müllers Verein erkannte sie als Untergliederungen an, so daß sie ihre innere Struktur zunächst beibehalten konnten. Ihre Leiter mußten Müller vierteljährlich einen Tätigkeitsbericht senden. Diese Regelung sollte gelten, bis die Hauptversammlung der Gesellschaft sie außer Kraft setzte.275 Als diese im Sommer 1937 zum ersten Mal zusammentrat, waren aber schon alle Untergruppen in dem Dachverein aufgegangen oder völlig verschwunden: Die „Bereinigung“ und „Einordnung“ der Reformbewegung, wie man rückblikkend sagte276, waren abgeschlossen. Denn in dem organisatorischen Konzentrationsprozeß der lebensreformerischen Laienverbände, als dessen Magnet im Zentrum die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ selbst wirkte, 273 274

275 276

Satzung der Deutschen Gesellschaft für Lebensreform, abgedruckt in: Leib und Leben, August 1935, S. 250. Müller war 1918 Gründungsmitglied der „Thule-Gesellschaft“, die sich gegen die Münchner Räterepublik wandte und nordisch-arisches Gedankengut pflegte. Seit 1920 gab er den Münchner Beobachter heraus. Müller war Mitglied der „Deutschsozialen Partei“ (DSP), einem Vorläufer der NSDAP, und des „Wälsungenordens“. Vgl. BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 197. Leib und Leben, August 1935, S. 252. Vgl. etwa ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 18f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

erreichte die Organisation mit mehr oder weniger subtilem Druck, daß sich viele Vereine auflösten: sowohl solche, die ihr zunächst beigetreten waren, als auch solche, die diesen Schritt nicht getan hatten. Entsprechende Propaganda verbreitete unter anderem die von Müller herausgegebene Zeitschrift Leib und Leben als Organ der Gesellschaft. So hieß es in der Juliausgabe von 1935, eine „Vermischung der tragenden Gedanken der Lebensreform mit irgendeiner Konfession“ führe zu „Zersplitterung und Sektiererei“. Sie sei daher „untragbar zu dem Zeitpunkt, in dem die Deutsche Reformbewegung in der Deutschen Gesellschaft für Lebensreform Einheit und Führung verwirklicht hat.“ Die Gesellschaft werde sich „durch nichts von ihrem nächsten Ziel, der inneren Kräftigung, abbringen lassen.“277 Vor dem Hintergrund dieser leisen Drohung beendete etwa der protestantische „Heilgartenkreis für christliche Lebensreform“ aus „grundsätzlichen Erwägungen“ heraus seine eigene Existenz, was die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ schon im Folgemonat August meldete.278 Das „Argument“ der Totalität, mit der sich eine plurale Vereinslandschaft nicht vereinbaren lasse, erscheint im Zusammenhang mit der Gleichschaltung der Lebensreform regelmäßig, ohne näher begründet zu werden. 279 Andere Vereine, die ein religiöses, stark weltanschauliches oder auch international ausgerichtetes Gepräge hatten, lösten die Nationalsozialisten aktiv auf. Uwe Werner hat das am Beispiel der mit der Lebensreform verwandten anthroposophischen Bewegung detailliert gezeigt.280 Im etwas engeren Kreis der Lebensreform traf ein solches Verbot vor allem die esoterische „Mazdaznan-Bewegung“ mit ihrem „Meister“ Ottoman Zaradusht A. Hanish.281 Insbesondere die Rassenvorstellungen dieser Bewegung, die ansonsten vor allem Atemtechniken und gesunde Ernährung im Rhythmus der Jahreszeiten predigte282 , liefen den nationalsozialistischen Auffassungen zuwider.283 Die „Mazdaznan-Bewegung“ ordnete die Menschenrassen nach Hautfarben, die in ihrem Weltbild wiederum vom jeweiligen „Blutzustande“ abhingen.284 Ob „Mazdaznan“ tatsächlich „undeutsch“ sei oder nicht, war zunächst einige Monate lang umstritten.285 Im Sommer 1935 trat die „Gesellschaft Mazdaznan zu Dresden“ noch der „Deutschen Ge277 278 279 280 281

282 283 284 285

Leib und Leben, Juli 1935, S. 196. Leib und Leben, August 1935, S. 252. Dazu unten am Beispiel der Vegetariervereine S. 70ff. UWE WERNER, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). München 1999. Zur Weltanschauung und Einordnung der „Mazdaznan-Bewegung“ vgl. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 73–77. Vgl. auch JOACHIM FINGER, Jesus – Essener, Guru, Esoteriker? Neuen Evangelien und Apokryphen auf den Buchstaben gefühlt. Mainz/Stuttgart 1993, S. 31f. OTTOMAN ZARADUSHT A. HANISH, Mazdaznan Monats-Ratschläge. Für Küche und Körperpflege. Leipzig 1928, S. 9. Vgl. Die Sonne, H. 11, Leipzig 1935. Zit. nach Leib und Leben, Dezember 1935, S. 376. Mazdaznan Monats-Zeitschrift, August 1934, S. 203–206. Neuform-Rundschau, Juni 1935, S. 145.

2.2. Organisation

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sellschaft für Lebensreform“ bei.286 Kurz darauf aber verbot der sächsische Minister des Innern auf der Grundlage der Reichsverordnung „zum Schutze von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 in Sachsen die Tätigkeit einer „MazdaznanZentrale“ und einer „Tempel-Vereinigung“ mit Sitz in Leipzig und löste sie mit der Begründung, „Mazdaznan“ sei ein „jüdisches Unternehmen“, auf. Wahrscheinlich nahm man dazu ein „Sommertreffen“ der „Mazdaznan-Bewegung“ zum Anlaß, das vom 23. bis zum 29. Juli 1935 in Leipzig hatte stattfinden sollen. Das Fest sollte dienstags um sechs Uhr beginnen. In einer Notiz des Reichssicherheitshauptamtes von 1935 heißt es: „Bis Mittwoch abend wird sie [die „Gahanbar“ = das Treffen] ungestört gelassen und nur überwacht, um das Treiben dieser Leute genügend kennen zu lernen. Am Donnerstag (25.) vormittags wird die Versammlung aufgelöst. Es werden die Personalien der Anwesenden festgestellt, und das gesamte Anschriftenmaterial der Mazdaznan-Zentrale, Hospitalstr. 15, wird vorübergehend zur Auswertung beschlagnahmt. Außerdem wird das Werk: ,Mazdaznan-Rassenlehre‘ von Dr. O.Z.A. Hanish beschlagnahmt, für das gleichzeitig Verbotsanträge bei den Gestapo-Stellen erfolgen. Eine Überprüfung der übrigen Mazdaznan-Literatur auf Verbot wird schnellstens durchgeführt.“287 Die Dresdner „Mazdaznan-Gesellschaft“ erklärte nach dem Verbot zwar sofort, „geistig wie wirtschaftlich unabhängig“ von der Leipziger Vereinigung zu sein.288 Zur Jahreswende 1935/36 verbot die Geheime Staatspolizei dann aber die „Mazdaznan-Bewegung“ im ganzen Reich.289 Zum selben Zeitpunkt konstatierte die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ die abgeschlossene „Säuberung von Bewegung und Idee von Allem, was dem nationalsozialistischen Denken fremd ist.“ Mittlerweile waren alle lebensreformerischen Laienverbände, die für die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ in Frage kamen und zuvor noch außerhalb dieser Organisation gestanden hatten, aufgelöst oder in die Gesellschaft eingeordnet. „Damit ist ihr Anspruch als einzige Vertretung der Reformbewegung erfüllt und der letzte Schritt zur äußeren Einheit der Bewegung getan.“290 Nach innen hin übte die nationalsozialistische Regierung in den folgenden Monaten eine immer stärkere Kontrolle über die einzelnen Vereine aus, vor allem mit Hilfe des „Referats Lebensreform“ des „Hauptamts für Volksgesundheit“ bei der Reichsleitung der NSDAP, der Oberbehörde über die lebensreformerischen Vereine, aber auch mittels der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung“ und anderer staatlicher Stellen. Da Staat und Gesellschaft immer mehr ineinanderflossen, waren darüber hinaus auch Vereine wie die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ wenigstens semi-staatlich, zumal deren Vorsitzende oft auch an der Spitze rein staatlicher Stellen standen. Müller 286 287 288 289 290

Leib und Leben, August 1935, S. 252. Notiz des Reichssicherheitshauptamts, „Betr.: Mazdaznan-Sommer-Gahanbar Leipzig 1935“. BArch, R 58/6187, S. 180f. Neuform-Rundschau, September 1935, S. 223; Leib und Leben, September 1935, S. 276, 278, 281. Leib und Leben, Januar 1936, S. 19. Ebd., S. 24.

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2. Lebensreform als Netzwerk

als Leiter des „Referats Lebensreform“ des „Hauptamts für Volksgesundheit“ und Mitglied des „Sachverständigenbeirats für Volksgesundheit“ bei der Reichsleitung der NSDAP und zugleich als Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ ist ein Beispiel dafür, wie staatliche Ämter mit Positionen in Vereinen auf ein und demselben Gebiet, hier also auf dem der Lebensreformbewegung, verquickt waren. Seit Ende 1935 verteilte die „Arbeitsgemeinschaft für Volksernährung“ in Zusammenarbeit mit dem „Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit“ Rednerausweise an Angehörige der verschiedenen Organisationen der Lebensreform. Wie es in einer Verlautbarung hieß, sollte das „nicht eine Einschränkung, sondern eine Belebung der Vortragstätigkeit erreichen“.291 Ärzte waren von der Regelung ausgenommen. Im offiziösen Organ Leib und Leben hieß es zustimmend: „Die Reformbewegung bekennt sich zu der Auffassung, daß der Wert der Vorträge nur gewinnen kann, wenn diejenigen Personen, die in Ermangelung der fachlichen oder persönlichen Eignung keinen Rednerausweis haben, künftig von der Bildfläche verschwinden.“292 In Wahrheit ermöglichten die Rednerausweise eine weitere Reglementierung und Beschränkung dessen, was die lebensreformerischen Organisationen überhaupt noch auf öffentlichen Veranstaltungen an Gedankengut verbreiten konnten. Außerdem entstanden ebenfalls seit Ende 1935 Ortsvereine der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, die viele Veranstaltungen anboten und somit eine Konkurrenz zu dem Programm der bestehenden Vereine darstellten. Das stellte deren Daseinsberechtigung zunehmend in Frage. Zur Gründung des ersten Ortsvereins der Gesellschaft in Berlin kamen 48 Personen; in den folgenden zwei Jahren rief die Gesellschaft etwa auch in Dresden, München, Chemnitz, Danzig, Stuttgart, Hamburg, Hannover und Zwickau Ortsvereine in Leben293 , über deren Tätigkeit jede Ausgabe von Leib und Leben in einer eigenen Rubrik berichtete. Die Leiter der Ortsvereine durften nur auf dem Wege über die Gesellschaft mit Dienststellen der NSDAP kommunizieren und mußten ihr alle Rundschreiben und Veröffentlichungen, die über den Kreis ihrer Mitglieder hinausgingen, zur Genehmigung vorlegen.294 Im August 1937 fand in Dresden die schon erwähnte erste Hauptversammlung der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ statt, die als erstes großes Treffen der geeinten „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ stilisiert wurde, die man im Juli als Verein geschaffen hatte und deren „Grundsätze“ man in Dresden verkündete. Zentral war deren erster Satz: „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreform-Bewegung ist der Nationalsozialismus.“295 Die „Deutsche Gesellschaft für

291 292 293 294 295

Leib und Leben, November 1935, S. 328. Ebd. Leib und Leben, Januar 1936, S. 26; Leib und Leben, Februar 1936, S. 50; Leib und Leben, April 1936, S. 97f.; Leib und Leben, Juli 1936, S. V; Leib und Leben, Januar 1938, S. 20. Leib und Leben, Februar 1936, S. 49. Leib und Leben, August 1937, S. 164; Grundsätze abgedruckt in: Leib und Leben, September 1937, S. 174, und in: Reform-Rundschau, Oktober 1937, S. 219.

2.2. Organisation

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Lebensreform“ trat der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ bei296 , ebenso der „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“, jener im Juni 1933 gegründete Berufsverband der Lebensreform, dem auch die Neuform-VDR angehörte. Die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ als „menschenführende, erkenntnisdurchführende und propagandistische Unterorganisation“297 blieb für die „Betreuung des einzelnen Lebensreformers“ zuständig und nahm deshalb im Gegensatz zur „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ nicht nur Organisationen, sondern nach wie vor auch Einzelmitglieder auf. Am 1. Juli war ein „Führerrat“ der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ berufen worden, dessen Mitglieder ehrenamtlich arbeiteten. Man verglich die sechs Aufgabenkreise des „Führerrats“ mit Ministerien, was nur ein Beispiel ist für das staatspolitische Pathos auf niedriger Ebene und den nationalsozialistisch genährten Größenwahn im Kleinen, die die offiziösen lebensreformerischen Organisationen insgesamt kennzeichneten. Wenn Müller als Mitglied des „Sachverständigenbeirats für Volksgesundheit“ einen einseitigen Brief schrieb, dann bestand mehr als die Hälfte des Blatts aus einem aufwendigen Briefkopf, der mit dem Schriftzug „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – Reichsleitung“ begann und neben einem Hakenkreuz-Emblem unter anderem auch die vollständige Anschrift des Völkischen Beobachters enthielt, sowie aus Müllers Unterschrift mit Parteistempel, „Heil Hitler!“ und der schneidigen Anmerkung „Höflichkeitsformeln fallen bei allen parteiamtlichen Schreiben weg“. Die andere Hälfte der Seite füllten Datum, Anschrift des Adressaten – und der eigentliche Brieftext.298 Dem „Führerrat“ der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ gehörten „Vertreter der Idee, Wissenschaft und Wirtschaft“ der Lebensreform an.299 Das „Aussen-Ministerium“, wie man es zumindest intern nannte, übernahm Müller. Es war für die Organisation der Laienbünde, für „Presse“ und die Verbindung mit amtlichen Stellen zuständig. Das „Wehr-Ministerium“ sollte die Ideen der Lebensreform verteidigen und ausbauen, das „Finanz-Ministerium“, das dem Geschäftsführer der Neuform-VDR Alfred Liebe zufiel, das Geld verwalten, das „InnenMinisterium“, das der Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ in der „Einzelhandelsgruppe Nahrungs- und Genußmittel“, Paul Neuhaus (1905–1979), leiten sollte, bekam die Schulung von Reformwarenfachleuten zur Aufgabe, das „Wirtschafts-Ministerium“, geleitet von dem Reformwarenhersteller Walther Schoenenberger, war für „alle Wirtschaftsfragen der Bewegung“ zuständig, das „KultMinisterium“ schließlich für die „Theorie der Lebensreformer“.300 296 297 298 299 300

Leib und Leben, September 1938, S. 192. WERNER ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941. Dresden/Planegg bei München 1940, S. 37. Brief von Hanns Georg Müller an Fritz Hampke (Oranienburg-Eden) vom 26. Juni 1937. Eden-Archiv Oranienburg. WERNER ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939. Dresden/Planegg bei München 1939, S. 22. Brief von Walther Schoenenberger (Schoenenberger Pflanzensaftwerk, Magstadt bei Stuttgart) an Ulrich Sabarth (Reform-Würz-Diät K.-G., Berlin-Halensee) vom 21. Juni 1937, S. 3. Eden-Archiv Oranienburg.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Mit der Veranstaltung in Dresden präsentierte sich die Reformbewegung der Öffentlichkeit als geschlossene Vereinigung. Unmittelbar danach verzeichnete sie nach eigenen Angaben einen „ganz erheblichen“ Mitgliederzuwachs.301 Hatte die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ schon 1937 ihre Mitgliederzahl verdoppelt, so konnte sie sie im ersten Halbjahr 1938 angeblich noch einmal mehr als verdoppeln.302 Aber so gigantisch sich die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ auch gab, war sie doch bloß ein winziger Splitter innerhalb eines Staatsganzen, das ihr – wie unzähligen anderen Vereinen, Beiräten, Fachgruppen, Untergruppen und Referaten – die Möglichkeit gab, sich rhetorisch in vermeintlicher Macht und Herrlichkeit aufzublasen. Die Mitgliederzahl der ihr angehörenden Organisationen dürfte sich Ende der dreißiger Jahre, nachdem sie auch den „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ und damit die Neuform-VDR aufgesaugt hatte, auf insgesamt nicht mehr als einige tausend belaufen haben. Zu beachten ist dabei, daß die meisten von diesen Mitgliedern zwangsweise zur „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ gehörten, etwa weil sie als Reformhausbetreiber über die Neuform-VDR zum „Nationalverband“ gehörten. Das Jahrbuch der Deutschen Lebensreform nannte 1939 die Zahl von 8000 Mitgliedern, von denen rund 6400 auf die angeschlossenen Bünde und Körperschaften entfielen.303 In der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, in der die Einzelmitgliedschaft freiwillig war, waren hingegen im Sommer 1940 „noch längst nicht alle“ Reformhausbesitzer Mitglieder.304 2.2.2.2.2. Vegetarismus Zum Jahresende 1934 veröffentlichten der Vorsitzende des „Verbandes deutscher Vegetariervereine“ mit Sitz in Oranienburg-Eden, Karl Bartes, und der Kassenwart und Schriftleiter des Verbandsblatts Die Lebenskunst, Richard Bretschneider, ein Grußwort an die Vereinsmitglieder und die Leser der Zeitschrift. Der Artikel zum Jahresschluß, der mit guten Wünschen für 1935 endet, war aber wenigstens ebensosehr an die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ und ihren Vorsitzenden Hanns Georg Müller gerichtet. Das Kontrollorgan der lebensreformerischen Vereine im „Dritten Reich“ war zugleich der wichtigste Gegenstand des Textes. Die beiden Vereinsfunktionäre Bartes und Bretschneider schrieben: „Es würde dem ganzen Wesen und der Geschichte des Verbandes deutscher Vegetariervereine widersprechen, wenn wir uns diesem großangelegten Plane [der Einigung der Reformbewegungen in der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, F.F.] ablehnend gegenüberstellen wollten. Schwieriger ist es aber, die neue Arbeitsform zu finden (die Gesellschaft will eigene Bezirks- und Ortsvereine gründen), insbesondere spielt auch die Zeitschriftenfrage eine Rolle.“ Man hoffe aber, „daß alle diese Fragen noch vor Jahresschluß in einer von uns annehmbaren 301 302 303 304

Leib und Leben, Januar 1938, S. 2. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299), S. 62. Ebd., S. 62f. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juli 1940, S. 108.

2.2. Organisation

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Weise geklärt werden“, damit endlich der „kraftvolle deutsche Vegetarier-Zusammenschluß“ entstehen könne305 , den die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ im Rahmen der Gleichschaltung forderte. In dem Artikel ist alles angelegt, was das Verhältnis der Vegetarier-Verbände zu Müllers Verein kennzeichnete: nur mühsam verdeckte Skepsis, zögerliche Unterordnung und der Versuch, dabei möglichst viel Eigenes zu retten. Anfang 1935 traten der Edener „Verband deutscher Vegetariervereine“ und der „Neuleben-Kreis für natürliche Lebensgestaltung“ mit Sitz in Rheydt306 der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ als vegetarische Untergruppen bei. Auch der „Deutsche Vegetarier-Verband“, Dresden, ließ sich zum 1. Januar 1935 als Untergliederung anerkennen.307 Anfang Juli erhielten die drei Vorsitzenden der Vereine, Karl Bartes (1879–1962), Hermann Forschepiepe (geb. 1902) 308 und Georg Förster (1877–1951), ein Schreiben von Hanns Georg Müller, in dem es hieß: „Dem nationalsozialistischen Grundsatz der Einheit entsprechend ist es auf die Dauer untragbar, dass 3 Vegetarier-Vereine mit geringer Mitgliedzahl nebeneinander, teilweise sogar gegeneinander arbeiten. Ihr Verband wurde im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Lebensreform bis auf weiteres als Untergruppe anerkannt und dem Schicksal der Auflösung entzogen. Jedem Einsichtigen ist es klar, dass eine Einigung der 3 hauptsächlichsten Vertreter des Vegetarismus sich vollziehen muss. Ich freue mich, diesen Wunsch als Gemeingut der 3 Vereine zu sehen.“

Müller forderte die Vorsitzenden der drei Verbände auf, sich mit den jeweils anderen „zwecks Vorbereitung eines ,Balzer-Bundes‘ [sic] in Verbindung zu setzen, und mir Ihren Vorschlag mitzuteilen. Ich hoffe gerne, dass Sie bis zum Herbst dazu in der Lage sind.“309 In den folgenden Tagen berieten sich Forschepiepe, Bartes und Richard Bretschneider, der neben seinen Ämtern in Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“ auch Vorsitzender eines „Politischen Bundes der Lebensreformer“ mit Sitz in Dresden war 310, in mehreren Briefen über das weitere Vorgehen. Dabei tausch305 306

307 308 309

310

Die Lebenskunst, Dezember 1934. Zit. nach Leib und Leben, Januar 1935, S. 27. Der „Neuleben-Kreis“ war der Nachfolger der „Freusburg-Arbeitsgemeinschaft für Lebenserneuerung“. Der Name des Vereins wurde im Januar 1934 geändert. Zugleich wurde als neues Zeichen die germanische „Man-Rune“ eingeführt. Vgl. Neuleben, H. 1, 1934, S. 15. Die Vereinszeitschrift hieß auch schon zu „Freusburg“-Zeiten Neuleben. Leib und Leben, Januar 1935, S. 25, 27. Zu Forschepiepe vgl. auch unten S. 147. Brief von Hanns Georg Müller („Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“) an Karl Bartes („Verband deutscher Vegetariervereine“) vom 3. Juli 1935. Vgl. auch Abschrift desselben Briefes an den „Neuleben-Kreis“. Eden-Archiv Oranienburg. Der – wie auch der „Dresdner Vegetarierverein“, der „Verein für naturgemäße Lebensweise (Vegetarismus) Chemnitz“, der „Leipziger Vegetarierverein“, die „Vegetarische Gemeinschaft in Eden bei Oranienburg“, die „Vegetarische Gesellschaft zu Hannover“, die „Vegetarier-Vereinigung Hamburg“, die „Vegetarische Gesellschaft Kassel“, die „Vegetarier-Vereinigung Berlin“ und die „Vegetarische Gesellschaft zu Breslau“ – Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“ angeschlossen war. Vgl. Die Lebenskunst vom 1. November 1933, S. 199f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

ten sie ihre Vorstellungen und Forderungen mit Blick auf den zu schaffenden „Baltzer-Bund“ aus, der nach dem „Gründungsvater“ des deutschen Vegetarismus, Eduard Baltzer, benannt werden sollte. In diesen Briefen geht es zum einen um die inhaltliche Ausrichtung des geplanten Bundes und die seit dem Ersten Weltkrieg heftig umstrittene Definition des Begriffs des Vegetarismus311 , über die die drei Funktionäre zum Teil verschiedener Meinung waren. Zum anderen spielten finanzielle Interessen eine Rolle: Die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ erhob Geldforderungen an die Vereine, die den Vorsitzenden zu hoch erschienen.312 Außerdem war auch die Frage wichtig, welche der bestehenden Vegetarierzeitschriften das Organ des künftigen Bundes werden sollte. Forschepiepe wollte Georg Förster und seinen „Deutschen Vegetarier-Verband“ an den Absprachen zunächst nicht beteiligen und sich mit Bartes und Bretschneider einigen. Das lag offensichtlich vor allem an der Zeitschriften-Frage. Forschepiepe sah Försters Vegetarische Presse im Überlebenskampf der Gleichschaltungspolitik als Konkurrenz für sein Blatt Neuleben, das erst Anfang des Jahres 1935 mit der Zeitschrift Der Neue Weg vereint worden war.313 Bretschneiders Lebenskunst, Organ von Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“ seit 1931, war Neuleben im Zuge der Gleichschaltung schon seit dem Frühling 1934 als Beilage angegliedert.314 Anfang 1935 konnte die Lebenskunst vorübergehend nicht erscheinen, weshalb Neuleben neben den Vereinsnachrichten des „Neuleben-Kreises“ auch die des „Verbandes deutscher Vegetariervereine“ abdruckte.315 Um den Gedanken der Lebensreform unter das Volk zu bringen, schrieb Forschepiepe an Bartes, brauche man eine „Zeitschrift, die wirklich etwas zu sagen hat“, und nicht „ein Blatt im Stil der Veg. Presse, die nebensächliche Dinge breit tritt und ellenlange Berichte über Unwesentliches bringt“.316 Schnell zeichnete sich dann aber eine Allianz zwischen Bretschneider und Bartes gegen Forschepiepe ab. Das lag vor allem daran, daß Forschepiepe den Begriff des Vegetarismus auflockern und durch eine in „religiöser Gebundenheit“ wurzelnde „natürliche Lebensgestaltung“ ersetzen wollte, wobei „religiös nicht eng-konfessionell gemeint, sondern im ursprünglichen Sinne gottnahe“ gedacht war.317 Mit dem Begriff der „natürlichen Lebensgestaltung“ berief Forschepiepe sich auf Eduard Baltzer318, dem er, wohl auch aus taktischen Gründen, im Frühjahr 1935 ein ganzes Heft von Neuleben widmete. Formal gab sich Försters Ve311 312 313 314 315 316 317 318

Zur Auseinandersetzung darüber, ob der gesundheitliche oder der ethische der „wahre“ Vegetarismus sei, vgl. unten Kapitel 3.2.2.1, S. 205ff. Brief von Richard Bretschneider an Karl Bartes vom 11. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Leib und Leben, April 1935, S. 122; Neuleben, H. 3, 1935, S. 33. Neuleben, H. 4/5, 1934, S. 45. Neuleben, H. 1/2, 1935, S. 31. Brief von Hermann Forschepiepe an Karl Bartes vom 5. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Bretschneider erhielt einen Durchschlag. Neuleben, H. 9, 1935, S. 247. Zum Begriff der „natürlichen Lebensgestaltung“ Neuleben, H. 12, 1934, S. 215–219. Brief von Hermann Forschepiepe an Karl Bartes vom 5. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg.

2.2. Organisation

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getarische Presse zwar einen ähnlichen Anstrich. Der Kopf der Zeitschrift führte den Schriftzug „Vegetarismus ist Religion“ und zitierte Baltzer mit dem Ausspruch „Vegetarismus ist die bewußte Erfüllung unserer Lebensbedingungen.“319 Der Inhalt der Vegetarischen Presse war aber lebenspraktischer und weniger weltanschaulich-religiös als der von Neuleben. Kurz nachdem Bretschneider einen Durchschlag des Briefs Forschepiepes an Bartes erhalten hatte, schrieb er an Bartes, er halte Forschepiepes „kautschuckartigen [sic] Begriff“ der „natürlichen Lebensgestaltung“ für „völlig verfehlt“: „So gern ich sonst alle Fremdwörter vermeide, so bin ich doch zu der Überzeugung gekommen, daß wir auf viele Jahre hinaus das Wort Vegetarismus bezw. Vegetarier nicht entbehren können, wollen wir nicht eine große Unklarheit ins Volk bringen und große Werte einfach vergeuden.“ Was Forschepiepe wolle, sei „ja im Grunde genommen schon in der D.G.f.L. verwirklicht: ein Verband für natürliche Lebensgestaltung, der es seinen Mitgliedern völlig überläßt, inwieweit sie diese Lebens- und Gesinnungsweise in die Tat umsetzen wollen.“ Bretschneider ging davon aus, daß der bisher nicht zu Rat gezogene Förster eine ähnliche Meinung habe. Er, Bretschneider, sei sogar bereit, sich „in verbandlicher Hinsicht“ – die Zeitschrift Lebenskunst erschien, wie erwähnt, seit kurzem als Beilage von Forschepiepes Neuleben – von Forschepiepe zu lösen. Falls nur noch eine Zeitschrift bestehen bleiben sollte, zöge er Forschepiepes Neuleben aber nach wie vor Försters Vegetarischer Presse vor.320 Dem stimmte Bartes zu. Der Antwortbrief, den er Bretschneider sandte, zeigt zugleich die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Vegetarier: „Müller ist fest entschlossen zum Entweder – Oder. Entweder steigt der ,Baltzerbund‘ oder wir als Vegetarier-Organisation sind erledigt. Die Stunde ist ernst. Da wahrscheinlich Neuleben nicht mitmachen kann bleiben nur wir und Förster auf der Walstatt übrig. Nun schwebt aber die geldliche Forderung Müllers über uns wie ein Damoklesschwert. Entweder wir zahlen und zwar nicht zu schofel oder wir treten vom Schauplatz ab. […] Im großen ganzen gesehen ist ein Ausweichen vor den nationalsozialistischen Forderungen unmöglich.“

Daher schlug Bartes Bretschneider vor, allen „persönlichen Bedenken“ zum Trotz die Fühlung mit Förster aufzunehmen, denn: „Neuleben ist jetzt für uns weniger wichtig als Förster“. Ihm fühlte man sich in der Frage der Definition des Vegetarismus näher als Forschepiepe mit seiner „natürlichen Lebensgestaltung“. Bartes forderte Bretschneider auf, Forschepiepe „ganz eindeutig unsern Standpunkt klarzulegen und ihn auf den Ernst der Lage ganz eindringlich hinzuweisen.“321 Gleich am nächsten Tag antwortete Bretschneider zustimmend, daß „bis auf weiteres Freund Forschepiepe aus dem Spiele gelassen werden“ solle und man trotz Vor319 320 321

Vgl. etwa Vegetarische Presse, August 1935, S. 85. Brief von Richard Bretschneider an Karl Bartes vom 11. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Brief von Karl Bartes an Richard Bretschneider vom 13. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg.

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2. Lebensreform als Netzwerk

behalten nun auch mit Förster verhandeln müsse. An Forschepiepe, der ihn schon in „mehreren Briefen bombartiert [sic]“322 hatte, wolle er schreiben.323 Zwei Tage später legte Bretschneider seine Gedanken zur Gründung des zu schaffenden Bundes nieder und sandte sie an Forschepiepe. Der „Baltzer-Bund“ solle, so heißt es gleich am Anfang der Schrift, „nur solche Lebenserneuerer“ aufnehmen, „die sich schriftlich verpflichten, weder vom toten Tiere stammende Nahrungsmittel, noch Alkohol oder Tabak zu geniessen“, denn einer wirklich fleischfreien Lebensweise wohne eine größere „Werbekraft“ für den Vegetarismus inne.324 Das entsprach den Gepflogenheiten des „Verbandes deutscher Vegetariervereine“ von Karl Bartes, dessen ordentliche Mitglieder sich des Fleisches, des Alkohols und des Tabaks enthalten mußten.325 Forschepiepes „Neuleben-Kreis“ nahm hingegen jeden auf, der „sich zur eigenverantwortlichen Mitarbeit im Sinne des Leitgedankens, ohne bestimmte bindende Verpflichtung, bereit erklärt.“326 Bretschneider gab in seiner Schrift zu bedenken, wenn sich sein und Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“ nicht an der Gründung des Einheitsverbandes beteilige, könnte Förster – dessen Verein bei Müller offenbar den besten Stand hatte, weil sein lebenspraktisch ausgerichteter, naiver Vegetarismus aus nationalsozialistischer Sicht am neutralsten und harmlosesten erscheinen mußte – beauftragt werden, alle Vegetarier in seinem Verband zu vereinigen. „Das wäre aber im Hinblick auf die ganze Bewegung sehr bedauerlich. Und mit einem gewissen Recht könnte er und könnten auch die Leute der D.G.f.L. da dann erklären, dass wir die Querköpfe seien, die man dann abseits liegen lassen solle.“ Er, Bretschneider, wolle zudem „nicht leichtfertig den Vorteil fahren lassen, daß ich Parteimitglied bin, also bei der Bildung eines neuen Vorstandes sogar bessere Aussichten als Förster habe, ein maßgebendes Wort mit zu sprechen. Lesen Sie nicht jeden Tag, daß man den nicht zur Partei Gehörenden immer mehr Wege verschließt?“327 Im September 1935 meldete Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“, die „Zusammenschluß-Bestrebungen unter den deutschen Vegetarier-Verbänden“ hätten „in den letzten Wochen erhebliche Fortschritte“ gemacht. „Da unser Verband (gleich den übrigen) für das laufende Halbjahr eine wesentlich höhere Kopfsteuer an die Deutsche Gesellschaft für Lebensreform abzuführen hat, als wir 322 323 324

325 326 327

Brief von Richard Bretschneider an Karl Bartes vom 11. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Brief von Richard Bretschneider an Karl Bartes vom 14. Juli 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Gedanken zur Gründung eines allgemeinen deutschen Vegetarier-Verbandes (Baltzerbund). Meinungsäußerung von Richard Bretschneider auf Wunsch der Herren Bartes und Forschepiepe, an Hermann Forschepiepe adressiert, vom 16. Juli 1935 [loses Blatt, maschinenschriftlich], Eden-Archiv Oranienburg. Vgl. etwa Neuleben, H. 8, 1935, S. 215. Neuleben, H. 9, 1935, S. 247. Gedanken zur Gründung eines allgemeinen deutschen Vegetarier-Verbandes (Baltzerbund). Meinungsäußerung von Richard Bretschneider auf Wunsch der Herren Bartes und Forschepiepe, an Hermann Forschepiepe adressiert, vom 16. Juli 1935 [loses Blatt, maschinenschriftlich], Eden-Archiv Oranienburg.

2.2. Organisation

75

früher angenommen hatten“, bat er seine Mitglieder zugleich um eine Nachzahlung von je fünfzig Pfennigen.328 Auch der „Deutsche Vegetarier-Verband“ Försters „wurde aufgefordert, ab 1.7. je Mitglied 10 Pfg. nach München zu zahlen“, und bat seine Mitglieder im Septemberheft der Vegetarischen Presse um „sofortige Einsendung“.329 Man kam den Geldforderungen Müllers also nach. Somit sah alles nach einer Gleichschaltung zum „Baltzer-Bund“ als Unterorganisation der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ aus. Doch es kam anders. Gut zwei Wochen nach dem Briefwechsel zwischen Bartes, Bretschneider und Forschepiepe fand Anfang August 1935 in Dänemark der „9. Internationale Vegetarier-Kongreß“ statt, den die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ zum Anlaß nahm, die Entwicklung der Vegetarier-Organisationen nun doch in eine andere Richtung lenken und den „Baltzer-Bund“ scheitern zu lassen. Müllers Verein geißelte die internationale Veranstaltung in seiner Zeitschrift Leib und Leben als unter „marxistischem Einfluß“ stehend; hinter den „betonten, humanitären Gedanken“ des Vegetarismus lauere der Bolschewismus.330 Zuvor hatten die Behörden vielen Antragstellern Pässe und Reiseschecks verweigert, wenn sie erfuhren, daß diese zu dem Kongreß fahren wollten. Aus Deutschland wurden demgemäß „nicht allzuviel Besucher“ erwartet.331 Auch Bartes, der ursprünglich hatte fahren wollen und auf dem Kongreß eine Rede halten sollte332 , verbot Müller die Reise nach Dänemark.333 Försters „Deutscher Vegetarier-Verband“, Dresden, löste sich vor dem Hintergrund dieser antivegetarischen Propaganda zum 1. Januar 1936 auf, ohne diesen Schritt vorher mit der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ abzusprechen. Förster legte seine Ämter als Vorsitzender des Verbandes und im Beirat der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ nieder. Die meisten seinem Verband angeschlossenen Vereine stellten ihre Tätigkeit ein. Förster führte aber seine Vegetarische Presse noch bis 1940 weiter. 1941 mußte sein Nachfolger in der Schriftleitung sie dann wegen Papiermangels einstellen.334 Die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ betonte in Leib und Leben, der Verein habe „in keinerlei Verbindung mit pazifistischen Bestrebungen“ gestanden. Förster habe „sofort mannhaft gegen das Treiben des Holländischen Vegetarier-Bundes [der die Zustände in Deutschland kritisiert hatte, F.F.] Stellung genommen.“ Er habe „auch jetzt die Zeichen der Zeit erkannt und die Bahn frei gemacht für eine einheitliche Organisation der Reformbewegung.“335 328 329 330 331 332 333 334

335

Neuleben, H. 9, 1935, S. 248. Vegetarische Presse, September 1935, S. 108. Leib und Leben, September 1935, S. 281. Brief von Karl Bartes vom 13. Juli 1935 an einen Freund, Eden-Archiv Oranienburg. Ebd. Vgl. Leib und Leben, März 1936, S. 52. Zur Vegetarischen Presse und zu Förster GEORG HERRMANN, Kulturaufgaben des Vegetarismus. Auf der Grundlage einer neuen Ethik aufgebaut. Konstanz 1956, S. 92–95; ders., Hausbuch der Lebenserneuerung 1977. Lebensschönheit – Naturverbundenheit, Reinheit und Ordnung. Obersontheim 1977, S. 124. Leib und Leben, November 1935, S. 346f.; vgl. auch Leib und Leben, Februar 1936, S. 50.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Diese scheinbar freundlichen Worte vertuschen, daß die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ Förster ganz offensichtlich lieber gehalten hätte. In einem Einschreiben aus Planegg, wohl von Müller verfaßt, vom „23. Gilbhart 1935“ (23. Oktober)336 heißt es: „So weit ich mich auch bemühe, Ihre Erschütterung über den Vorwurf des Pazifismus gegen bestimmte Vegetarier-Gruppen zu verstehen, so hätten Sie den wenigsten Grund gehabt, die Flinte ins Korn zu werfen.“ Förster habe nicht das Recht gehabt, seine Vereinigung aufzulösen: „Der Verband ist seit Anfang des Jahres Untergruppe der Deutschen Gesellschaft für Lebensreform. Eine Auflösung – wie übrigens auch Ihr Rücktritt – hätten mir unter allen Umständen vorher zur Stellungnahme vorgelegt werden müssen! Ihr Vorgehen könnte von mißgünstiger Seite so ausgelegt werden, als wollten Sie gegen eine nationalsozialistische Organisation die bekannte Verschleppungstaktik anwenden. Ich glaube aber, Sie so weit zu kennen, daß eine Obstruktion nicht in Ihrer Absicht gelegen ist.“337 Karl Bartes’ „Verband deutscher Vegetariervereine“, der wie Försters Verband erst wenige Monate zuvor als Untergruppe in die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ eingetreten war, löste sich, wohl ebenfalls in Reaktion auf den Pazifismus-Vorwurf, zum selben Datum auf wie Försters Vereinigung. Der Verband forderte alle ihm angeschlossenen Vereine auf, sich nunmehr selbst und unmittelbar in die Gesellschaft einzugliedern. Die Entwicklung habe gezeigt, „daß die einzelnen Vereine der Untergruppen in den Ortsgruppen der ,Deutschen Gesellschaft für Lebensreform‘ aufgehen bzw. als Ortsvereine der ,Deutschen Gesellschaft für Lebensreform‘ anerkannt werden.“ So wurde beispielsweise der einst zu dem Verband gehörige „Leipziger Vegetarier-Verein“ geschlossen in die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ aufgenommen. Müller schrieb: „Wir können es verstehen, daß für manchen das Verschwinden einer wohlvertrauten Form bitter ist. Doch ist es nicht so, daß damit auch ihr Inhalt aufgelöst wird.“338 Auch der 1892 gegründete „Deutsche Vegetarier-Bund“ mit Sitz in Leipzig339 , der 336

337 338 339

Die Verwendung germanischer Monatsnamen setzte sich seit dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen Reformbewegungen und im Wandervogel durch. Bei den Bezeichnungen gab es verschiedene Varianten. Die Reformhauszeitschriften verwandten seit Mitte der zwanziger Jahre die germanischen Namen Hartung, Hornung, Lenzing, Ostermond, Wonnemond, Brachmond, Heuert, Ernting, Scheiding, Gilbhart, Nebelung und Julmond neben den lateinischen. – Man brachte die germanischen Monatsnamen mit dem „Geiste deutscher Landschaft und Witterung“ in Verbindung: GUSTO GRÄSER, Dem deutschen Volk. 11. Wittrer [Juli] 1913 [Flugblatt]. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 814. – Hermann Löns kontrastierte 1930 in der völkischen Zeitschrift Neues Leben die „einstigen“ germanischen Monatsnamen mit den lateinischen, die aus „Papier und Blech“ seien. Die germanischen Namen hingegen „hatten Leben und Farbe, blühten wie die Blumen am Rain und ragten wie die Eichbäume des Waldes. Auf dem Boden unserer innersten Eigenart waren sie gewachsen, sie flüsterten zu uns von verborgener Weisheit und rauschten kostbare Geheimnisse.“ Vgl. Neues Leben, 1930, S. 258f., zit. nach FRECOT/GEIST/KERBS, Fidus (wie Anm. 33), S. 167f. Brief an Georg Förster vom 23. Gilbhart [Oktober] 1935, Eden-Archiv Oranienburg. Leib und Leben, November 1935, S. 346f.; Leib und Leben, Februar 1936, S. 50. Zum „Deutschen Vegetarier-Bund“, der größten Vegetarier-Organisation des Kaiserreichs, vgl. oben Kapitel 2.2.1.1., S. 37ff.

2.2. Organisation

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in dem Geschacher um den geplanten „Baltzer-Bund“ – wohl wegen seiner nahezu erloschenen Bedeutung – keine Rolle gespielt hatte, löste sich Ende 1935 auf.340 Seine Bundeszeitschrift, die Vegetarische Warte, war schon seit 1933 nicht mehr erschienen. Forschepiepes „Neuleben-Kreis“ bestand weiter und blieb der Gesellschaft angegliedert. Im Dezember 1935 schrieb die dänische Vegetarisk Tidsskrift, der Vegetarismus sei in Deutschland vor allem deswegen in Ungnade gefallen, weil er pazifistisch sei. Die Zeitschrift äußerte sich kritisch über die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ und Müllers Machtstellung. Müller reagierte darauf im Märzheft 1936 von Leib und Leben in ironisch-überheblichem Ton. Bei derselben Gelegenheit machte er sich auch über jene deutschen Vegetarier lustig, die zu dem internationalen Vegetarier-Kongreß nach Dänemark gefahren waren. Müller zitierte einen angeblichen Augenzeugen, der die deutsche Reisegruppe im Zug als „Typen“ beschrieb, „die das sichtlich belustigende [sic] Interesse des gesamten Publikums einschließlich der Beamten erregten“, als „Männlein und Weiblein in phantastischen Aufzügen, mit Pappschachteln und Paketen beladen, den offiziellen grünen Lodenmantel nicht zu vergessen“, die wild gestikulierten. „Schillerkragen und lange Mähne taten das übrige, um zu zeigen, daß hier ,urnatürliches Leben‘ am Werke ist.“ Kurz: Müller entfaltete ein Klischee vom Vegetarier, das in völligem Gegensatz dazu stand, was die Nationalsozialisten unter Lebensreform verstanden und den Bewegungen selbst als einzig zulässige Form auferlegten. „Man verüble es uns nicht, wenn ich als Verantwortlicher für das Ansehen der deutschen Lebensreform-Bewegung so wenig Begeisterung für eine Beteiligung offizieller deutscher Redner aufbrachte“, schrieb Müller am Ende seines Artikels.341 Der deutsche Vegetarismus als organisatorisch umrissene Bewegung war zu diesem Zeitpunkt schon verschwunden. Einige seiner Inhalte – und zwar ausschließlich nicht-weltanschauliche, rein auf Gesundheit bezogene – transportierten die nationalsozialistischen Stellen aber als zu wissenschaftlichen Erkenntnissen erstarrte Kapseln weiter.342 Müller versprach den Vegetariern nach der Auflösung ihrer Vereine: „Der Gedanke einer Ernährungsweise auf vegetarischer Grundlage geht in einer neuen Form in den Arbeitskreis der Deutschen Gesellschaft für Lebensreform über.“343 Dieser „Arbeitskreis Vegetarierfragen“ ging davon aus, daß der Vegetarismus „eine reine Ernährungsform, nicht Weltanschauung oder Lebensanschauung“ und als solche „innerhalb gewisser Grenzen berechtigt“ sei.344 340 341

342 343 344

Vegetarische Presse, November 1935, S. 130. Vegetarisk Tidsskrift vom 1. Dezember 1935. Zit. nach Leib und Leben, März 1936, S. 52f. Hier auch Müllers Kommentar. – Dazu, daß die Nationalsozialisten nicht nur angebliches Sektierertum mancher Lebensreformer störte, sondern auch deren äußerer Anblick, auch BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 218. Zu Vegetarismus und Nationalsozialismus vgl. unten Kapitel 3.2.3.2, S. 226ff. Leib und Leben, November 1935, S. 347. Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1941, S. 42. – Vgl. auch ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299), S. 21: „Heute bedarf es wohl keiner Worte mehr darüber, daß Die Deutsche Lebensreform dem einzelnen Vegetarier hin-

78

2. Lebensreform als Netzwerk

2.2.2.2.3. Reformwarenwirtschaft In der Weimarer Republik war die Organisation der Reformwarenwirtschaft immer komplexer und damit so mächtig wie anfällig geworden. Je mehr die Neuform-VDR erstarkt war, desto mehr Gegner hatte sie sich auch zugezogen. An die Oberfläche kamen die zuvor schwelenden Konflikte mit verwandten Branchen und im Innern der Einheitsgenossenschaft nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Unmittelbar nach der „nationalen Erhebung“ gab es aus Sicht der Neuform-VDR einige „Versuche, uns bei Partei und Staat anzuschwärzen und uns als Volksfeinde der heutigen Richtung hinzustellen […].“345 Außenstehende und Genossen benutzten in oft anonymen Briefen die Grundsätze des Nationalsozialismus und Aussprüche Hitlers als Drohmittel gegen die Genossenschaftsleitung346 , und auch in der Presse erschienen 1933 immer wieder Artikel mit Angriffen gegen die Reformbranche. Im Zuge dessen dementierte die Neuform-VDR vier Behauptungen, aus denen sich die offenbar häufigsten Anschuldigungen gegen die Branche ablesen lassen: daß die Reformbewegung „in jüdischen Händen war noch ist“, daß „vor der nationalsozialistischen Erhebung Marxisten in der Lebensreformbewegung eine Rolle spielten“, daß „wir ausländische Artikel bevorzugt haben oder es tun“ und daß „wir Kurpfuscherei dulden oder unterstützen!“347 Weitere Vorwürfe, die sich nicht speziell gegen die Neuform-VDR, sondern gegen die Reformbewegung allgemein richteten, lauteten Unwissenschaftlichkeit, Sektierertum, Okkultismus und daß die Bewegung die „Fruchtbarkeit des deutschen Bodens“ untergrabe, weil sie gegen Düngemittel sei.348 Überhaupt bestand aus Sicht der Neuform-VDR die „beliebteste Taktik“ darin, unter dem „Deckmantel“ nationalsozialistischer Gesinnung „alles durcheinander zu werfen“ und

345 346 347

348

sichtlich seiner persönlichen Lebensart volle Freiheit läßt. Der Vegetarismus als politische Idee oder ,Religion’ ist jedoch untragbar.“ Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 515. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Dezember 1933, S. 350. Neuform-VDR-Fachblatt vom 26. Oktober 1933, S. 305f. Vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. August 1933, S. 222; bezüglich des Vorwurfs der Kurpfuscherei NeuformRundschau, Juni 1933, S. 125, 138. – Zur Vorwurf der Kurpfuscherei, gegen den sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem Naturheiler wehrten, vgl. JÜTTE, Geschichte der alternativen Medizin (wie Anm. 40), S. 34–38. Neuform-Rundschau, August 1933, S. 170, 174. – Im Deutschen Ärzteblatt erschien am 27. April 1933 ein Artikel, der „die Reformbewegung“ unter dem „Einfluß kurpfuscherischer Propagandisten“ sah und „die Vorbereitung einer Gesetzgebung“ forderte, „die es ermöglicht, die Verleumder und Schädlinge der deutschen Volkswirtschaft und der deutschen Volkshygiene zur vollen Verantwortung zu ziehen, indem den wirtschaftlichen Verbänden die Aktivlegitimation zur Klageführung gewährt wird.“ Im Hamburger Korrespondent hieß es am 23. April 1933, der „Ueberschwemmung der öffentlichen Meinung mit gutgemeinten, manchmal sogar ideal gedachten, im Kern vielleicht oft auch nicht ganz falschen Weltverbesserungs-, Lebenserneuerungs- und Zukunftsvorschlägen wird das neue Propagandaministerium von Dr. Goebbels wohl einen fest fundierten Damm entgegensetzen.“ Zit. nach Der Naturarzt, Juni 1933, S. 156–158.

2.2. Organisation

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die Reformhäuser etwa zusammen mit anthroposophischen Bewegungen und mit Kurpfuschern zu nennen.349 In den gut zwei Jahren nach der Machtübernahme veränderte sich die Organisation der Reformwarenwirtschaft unter dem Druck der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik tiefgreifend.350 Vor diesem Hintergrund stellte der Geschäftsführer der Neuform-VDR, Alfred Liebe, die NSDAP im September 1935 in einer taktisch geschickten Rede rückblickend als zwar äußerlich strenge Zuchtmeisterin dar, die aber doch recht eigentlich stets als wohlmeinende Schutzherrin der Reformhäuser gehandelt habe. Zugleich lobte Liebe die Flexibilität der eigenen Organisation. In der Ansprache, die der Geschäftsführer anläßlich einer Feier des zehnjährigen Bestehens der Genossenschaft hielt, hieß es: „Gerade die Parteistellen waren es, die es übernommen haben, die Aufklärung über die deutsche Reformbewegung, über die Volksheilbewegung und über die Reformhaus-Bewegung durchzuführen, die es nicht zuließen, daß wir vernichtet wurden. Wir erkennen, daß gerade diese Stellen versuchen, das Gute unserer Sache zu fördern und uns zu zwingen, das, was wir als Ballast hatten, abzustoßen. Wir können […] feststellen, daß wir wohl […] eine der wenigen Gruppen sind, die sich mit besonderer Schärfe selbst bereinigt haben, dort, wo es notwendig war.“351

Was war bis dahin geschehen? – Im Sommer 1935 beobachtete ein Verbindungsmann des Sicherheitsdienstes der Reichsführung SS die Neuform-VDR. Anlaß war eine Anfrage der Abteilung Jugendherbergswesen der Reichsjugendführung vom April 1935. Da die Neuform-VDR in den Jugendherbergen für ihre Ideen und Produkte warb, bat die Dienststelle „um Auskunft, ob früher diese Vereinigung politische Bindungen an irgend eine Partei gehabt hat. Es interessiert uns ferner, zu erfahren, wie von dort aus diese Vereinigung z. Zt. beurteilt wird. Soweit wir unterrichtet sind, ist die Leitung der Neuform dieselbe geblieben.“352 Am 27. Juni 1935 legte der V-Mann „80 217“ seine Ergebnisse dar, wobei er die Neuform-VDR und die Eden-Siedlung in Oranienburg gemeinsam behandelte: „Die Mitglieder der Genossenschaften ,Neuform‘ und ,Eden‘ sind in der Hauptsache auf Lebensreform und z. T. auf Boden- und Wirtschaftsreform eingestellt, wodurch sie vom eigentlich Politischen im engeren Sinne abgelenkt sind. Dieses gilt auch für die weiteren Kreise der loseren Anhänger. Rassisch ist die Einstellung im allg. völkisch-arisch. Hier ergeben sich aber über die indisch-arische Mystik (indische Atemgymnastik, Yogi, Theosophie) unkontrollierbare Beziehungen zu getarnt freimaurerischen Bestrebungen […]. In religiöser Hinsicht macht sich, besonders in Eden, ein Zug zu einem arteigenen nordischen Glauben bemerkbar. Die christlichen Konfessionen werden abgelehnt. Die Einstellung zur NSDAP war 349 350

351 352

Neuform-Rundschau, November 1933, S. 263. Allgemein zu den staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft im Nationalsozialismus ALBRECHT RITSCHL, Wirtschaftspolitik im Dritten Reich – Ein Überblick, in: KARL DIETRICH BRACHER/MANFRED FUNKE/HANS-ADOLF JACOBSEN (Hrsg.), Deutschland 1933– 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. (= Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, Bd. 23.) 2. Aufl. Düsseldorf 1993 [zuerst 1992], S. 118–134. Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 515. Brief der Reichsjugendführung, Abt. H (Jugendherbergswesen), an die Reichsführung SS, Sicherheitsdienst, vom 18. April 1935. BArch, R 58/6235.

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2. Lebensreform als Netzwerk nach der Machtübernahme vorwiegend positiv und voll freudiger Erwartungen. Heute ist eine gewisse Enttäuschung zu verzeichnen, da die überspannten Erwartungen auf baldige radikale Maßnahmen im Sinne der Bodenreform, der Geldreform und allg. sozialer Reformen sich nicht erfüllten. Der Führer, Rudolf Hess und Julius Streicher stehen in hohem Ansehen, desgleichen Rosenberg und Reventlow. Den übrigen Führern und der NSDAP als Organisation wird vielfach Verständnislosigkeit und sogar Mißtrauen entgegengebracht; sie werden als kapitalistisch, liberalistisch, reaktionär, katholisch usw. bezeichnet. Sehr viele Anhänger unter den Reformern hat Ludendorf [sic]. Die ganze der ,Neuform‘ und ,Eden‘ zu Grunde liegende Bewegung muß als gesund und im nationalsozialistischen Sinne erwünscht bezeichnet werden, zumal sie historisch gesehen in Reaktion gegen das liberale Vorkriegsbürgertum zu werten ist. Die Gefahr liegt nur darin, daß sie durch den Einfluß falscher Idealisten (Freimaurer, Schwarze Front) in unerwünschte Bahnen geleitet wird.“ 353

Der V-Mann erhielt daraufhin den Auftrag, bezüglich des möglichen Einflusses „falscher Idealisten“ auf die Neuform-VDR bis zum 16. Juli 1935 „umgehend genaueste Beobachtungen anzustellen.“354 Die Reichsjugendführung wurde informiert.355 Hier reißt die Überlieferung ab, doch zeigt die Korrespondenz deutlich, daß die Nationalsozialisten die Neuform-VDR beargwöhnten, aber doch einen „guten Kern“ in ihr sahen. Beides dürfte die Genossenschaft 1933 instinktiv gespürt haben. Unmittelbar nach der Machtübernahme versuchte sie, sich geradezu überstürzt der neuen Regierung anzupassen. In der Mitgliederzeitschrift NeuformVDR-Fachblatt, in der Politisches über reine Interessenpolitik hinaus in der Weimarer Republik kaum eine Rolle gespielt hatte, erklärte der Vorstand schon am 5. April 1933, nicht einmal zwei Wochen nach dem Erlaß des „Ermächtigungsgesetzes“ vom 23. März, er erkenne „die Neuordnung im deutschen Staate“ an und begrüße sie. Die Genossenschaftsleitung kündigte an, mit allen „in Frage kommenden Organisationen zusammenarbeiten“ zu wollen. Schon am 30. März hatte der Vorstand beschlossen, daß die Neuform-VDR korporativ dem „Kampfbund der NSDAP des gewerblichen Mittelstandes“ beitreten wolle.356 Künftige Arbeit sei nur innerhalb der Richtlinien der „nationalen Regierung“ möglich, hieß es weiter. Hier fühlte sich die Genossenschaft „in einer besonders glücklichen Lage.“ Zwei Tage vor dem Erlaß des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 und unter dem Eindruck der offiziellen reichsweiten Demonstration mit Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte, Unternehmen, Arztpraxen und Anwaltskanzleien vom 1. April, der teilweise an „jene Aversionen“ appellieren konnte, „die auch in anderen europäischen Ländern seit langem als ,Normalantisemitismus‘ vorhanden und aktivierbar waren“357, teilte der Vorstand in der Branchenzeitschrift Neuform-VDR-Fachblatt mit: „Unter unseren 1200 Mitgliedsgeschäften befinden sich nur vier in jüdischen Händen. Ämter als Mitglieder des Vorstandes, Aufsichtsrats oder als Gruppenob353 354 355 356 357

Bericht des V-Manns 80 217 vom 27. Juni 1935. BArch, R 58/6235. Notiz an V-Mann 80 217 vom 3. Juli 1935. BArch, R 58/6235; Notiz des Reichssicherheitshauptamts vom 3. Juli 1935. BArch, R 58/6235. Brief des Reichssicherheitshauptamts an die Reichsjugendführung, Abt. H (Jugendherbergswesen), vom 23. Juli 1935. BArch, R 58/6235. Neuform-VDR-Fachblatt vom 5. April 1933, S. 77f. KLAUS HILDEBRAND, Das Dritte Reich. 6. Aufl. München 2003 [zuerst 1978], S. 6.

2.2. Organisation

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leute haben nur solche Mitglieder, die weder jüdischer Abstammung sind noch staatsfeindlichen Parteien angehören.“ Was die Angestellten der Neuform-VDR angehe, so lägen die Dinge „vollkommen ebenso. Es ist also praktisch kaum möglich, noch schärfer zu verfahren, als wir es bisher getan haben.“358 Was mit den vier jüdischen Reformhausinhabern geschehen sollte, teilte die NeuformVDR nicht ausdrücklich mit. Klar ist nur, daß die Genossenschaftsleitung etwas unternahm: Eine „sofort vorgenommene Prüfung in der Verwaltung“ ergab, „daß der Vorstand die notwendigen Maßnahmen getroffen hat, die in der heutigen Zeit erforderlich sind.“ Mitglieder jüdischen Glaubens oder jüdischer „Abstammung“ wurden künftig nicht mehr in die Genossenschaft aufgenommen. Geschäftsverbindungen mit „jüdischen Firmen“ ging die Genossenschaft nicht mehr ein. Die Lieferanten-Mitglieder forderte sie auf, „bezüglich ihres Personals die notwendigen Maßnahmen zu treffen.“359 Von den 250 Teilnehmern einer Generalversammlung in Eisenach am 25. und 26. April 1933 waren 130 Mitglieder der NSDAP, also gut die Hälfte. Wie viele von diesen zu den eineinhalb Millionen360 „Märzgefallenen“ gehörten, wie die „alten Kämpfer“, die der NSDAP schon vor dem 30. Januar 1933 angehört hatten, die nach den Wahlen vom 5. März in die Partei Eingetretenen nannten und damit einen Begriff aus der Revolution von 1848 umprägten361 , ist nicht zu ermitteln. Insgesamt dürften im April 1933 etwas weniger als die Hälfte aller Genossen der Neuform-VDR Mitglieder der NSDAP gewesen sein. 362 Die Generalversammlung nahm in Eisenach den Wortlaut eines Telegramms an Hitler an, in dem sich die Neuform-VDR zur nationalsozialistischen Regierung und zu dem neuen Reichskanzler persönlich bekannte. Sie entschied weiterhin, daß sich die Genossenschaft dem „Referat Lebensreform“ der „Abteilung Volksgesundheit“ der Reichsparteileitung anschließen sollte, also der Behörde Hanns Georg Müllers. Das Schlußwort hatte ein Genosse, der in SA-Uniform erschienen war. Implizit forderte er die Mitglieder der Neuform-VDR darin zum Eintritt in die NSDAP auf. Nach seinen Ausführungen „wurde aus den Reihen der Teilnehmer spontan das Deutschlandlied angestimmt. Alsdann stimmten die Nationalsozialisten das Horst-

358 359

360 361 362

Neuform-VDR-Fachblatt vom 5. April 1933, S. 77f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 15. April 1933, S. 97. Vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. November 1933, S. 330: Abdruck eines Rundschreibens des „Reichsstandes des Deutschen Handels“ vom 21. Oktober 1933 bezüglich „Juden und Einzelhandel“. Laut WOLFGANG BENZ, Geschichte des Dritten Reiches. München 2000, S. 35. CORNELIA SCHMITZ-BERNING, Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 1998, S. 399. Wahrscheinlich war die Teilnahme für Nationalsozialisten an der Veranstaltung attraktiver als für Nicht-Nationalsozialisten, so daß der Anteil der Parteimitglieder unter den Teilnehmern höher gewesen sein dürfte als der aller Mitglieder. Dieser Schluß liegt nahe, weil sich die Nationalsozialisten unter den Genossenschaftsmitgliedern vor der eigentlichen Sitzung zu einer morgendlichen Kundgebung trafen. Die Einladung zu dieser eigenen Veranstaltung dürfte die Parteimitglieder zusätzlich motiviert haben, nach Eisenach zu reisen. – Zur „Kundgebung“ der NSDAP-Mitglieder Neuform-VDR-Fachblatt vom 24. Mai 1933, S. 134.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Wessel-Lied an, und so wurde die Versammlung dem Geiste der Zeit entsprechend würdevoll geschlossen.“363 Zur nationalsozialistischen Politik gehörte die „gelenkte Selbstverwaltung“ der Genossenschaften. Im Sinne einer angeblichen Vereinigung von Eigenverantwortung und Führerprinzip kamen Parteifunktionäre und Beauftragte der NSDAP an die Spitze der genossenschaftlichen Organisationen.364 Auch den Vorsitz im Aufsichtsrat der Neuform-VDR übernahm im April 1933 ein Nationalsozialist. Im Juni bewies eine „Gruppe Neuformer“, wie sehr sie den „Führerabsolutismus“ des „Dritten Reiches“ schon jetzt internalisiert hatte – lange bevor das „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ vom 1. August 1934 den Übergang zum nationalsozialistischen „Führer“-Staat auch auf staatlicher Ebene vollzog.365 Die Neuformer berichteten nämlich von einer mehr oder weniger persönlichen Begegnung mit Adolf Hitler während einer Besichtigung des „Braunen Hauses“, des Sitzes der Parteizentrale in München.366 Die Gelegenheit, Hitler „etwa eine Stunde lang aus nächster Nähe zu beobachten“, bot sich in der Kantine des „Braunen Hauses“. Die Neuformer schrieben ergriffen: „Er nahm Platz an der für ihn gedeckten Tafel, auf einer einfachen Bank, an einem einfachen Holztisch; symbolisch für die Schlichtheit des Führers.“ Hitler trank zuerst ein Fachinger Wasser. Gespannt warteten die Neuformer auf Hitlers Mahlzeit, und siehe: „Er aß eine Salatplatte; auch sein Adjutant aß vegetarisch.“367 Einen Monat später, im Mai 1933, dementierte die Genossenschaft Gerüchte „politischer Art“ über ihr Vorstandsmitglied Alfred Liebe.368 Nicht näher beschriebene „Behauptungen“ über Liebe waren laut der Mitgliederzeitschrift schon Anfang 1932 im Umlauf gewesen. Nachforschungen einer Kommission aus vier Mitgliedern und von Liebe vorgelegte behördliche Unterlagen hatten damals aber angeblich deren „völlige Haltlosigkeit“ belegt.369 Liebe trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. 370 Auf einer gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Aufsichtsrat im Juni 1933 wurden „in kurzer Aussprache alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, welche dem Kollegen Liebe eine erfolgreiche Weiterarbeit in 363 364 365

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Ebd., S. 158. FAUST, Geschichte der Genossenschaftsbewegung (wie Anm. 203), S. 308f. Zum „Führerabsolutismus“ aus rechtlich-politischer Sicht MICHAEL RUCK, Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge – Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: BRACHER/FUNKE/JACOBSEN (Hrsg.), Deutschland 1933–1945 (wie Anm. 350), S. 32–56, zum „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ S. 32f. – Zum Konzept des „Führers“ als Produkt nationalsozialistischer Propaganda SABINE BEHRENBECK, „Der Führer“. Die Einführung eines politischen Markenartikels, in: GERALD DIESENER/RAINER GRIES (Hrsg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1996, S. 51–78. Neben der Zentrale in München bezeichnete der Begriff „Braunes Haus“ auch andere Parteihäuser in größeren Städten. Vgl. SCHMITZ-BERNING, Vokabular (wie Anm. 361), S. 127f. Neuform-Rundschau, Juni 1933, S. 124. Neuform-VDR-Fachblatt vom 6. Mai 1933, S. 118. Neuform-VDR-Fachblatt vom 19. Februar 1932, S. 34f. BArch (ehem. BDC), NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Liebe, Alfred, 12. Juli 1902.

2.2. Organisation

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unserer Genossenschaft unmöglich zu machen schienen.“371 Offenbar hatte Liebe schon gekündigt, nahm daraufhin aber die Kündigung zurück: „Der […] gemeinsam gefaßte Beschluß bekundete ausdrücklich, daß an der deutschen Gesinnung des Herrn Liebe nicht gezweifelt wird.“ Anfang 1936 schloß die Genossenschaft dann ein Mitglied aus, das in Rundschreiben Andeutungen über Liebes „angebliche frühere weltanschauliche Gesinnung“ gemacht und behauptet hatte, Liebe bediene sich „gemeiner Judentricks im Ausschlußverfahren“. Die Genossenschaftsleitung unter Liebe hatte gegen das Mitglied ein solches Verfahren wegen Geldforderungen angestrengt.372 Ob Liebe bei der Machtübernahme in einer anderen als der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Mitglied war, ist nicht zu rekonstruieren373, aber wahrscheinlich. Von Liebes Vorstandskollegen, dem Vorsitzenden des Unternehmens Eden in Oranienburg Fritz Hampke (1885– 1950), ist bekannt, daß er nach der Machtübernahme aus der SPD aus- und in die NSDAP eintrat.374 Insgesamt sind die Motive des Handelns Liebes oft schwer zu durchschauen: Mal widersetzte er sich Anordnungen der Parteiorganisationen, mal fügte er sich klaglos ihren Forderungen oder betonte sogar die Anpassungswilligkeit der Neuform-VDR. Viel spricht für die Vermutung, daß der Geschäftsführer stets „das Beste“ für seine Genossenschaft wollte. Deshalb dürfte er sich, obwohl er wahrscheinlich früher Mitglied der SPD oder einer Linkspartei gewesen war, aus Opportunismus der NSDAP angeschlossen haben. Zugleich geriet er aber in seinem Ringen um den Einfluß der Neuform-VDR, den er in der Gleichschaltungspolitik nicht ganz preisgeben wollte, immer wieder mit Parteistellen aneinander.375 371

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Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Juni 1933, S. 164; vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 24. Mai 1933, S. 157: Die vor der Generalversammlung am 25. und 26. April 1933 in Eisenach tagende Versammlung der NSDAP-Mitglieder in der Neuform-VDR sprach Liebe das Vertrauen aus. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 4. Februar 1936, S. 54. Da 1933 aus Gründen des Selbstschutzes vor den Nationalsozialisten sämtliche regionale und zentrale SPD-Mitgliederkarteien vernichtet wurden, ist beim Archiv der FriedrichEbert-Stiftung nicht nachprüfbar, ob Liebe Sozialdemokrat war. Im ehemaligen Berlin Document Center, jetzt im Bundesarchiv Berlin, finden sich keine Hinweise auf eine andere Parteimitgliedschaft Liebes. Vgl. Edener Mitteilungen, November/Dezember 1997, S. 17. Eine – ebenfalls etwas undurchsichtige – Schilderung einer Auseinandersetzung Liebes mit einem „Mitglied der politischen Gesundheitsführung der Partei“ in München findet sich in einem Artikel in der Branchenzeitschrift Neuform-Echo anläßlich des 70. Geburtstags Liebes im Juli 1972. Dort ist die Rede davon, daß der „betreffende Mann der Reichsleitung“ von Liebe forderte, „bestimmte Produkte in das neuform-Warenprogramm [sic] aufzunehmen, die aus dem Landanbau im Konzentrationslager Dachau stammten. Liebe ging hoch und sagte Nein!“ Das Parteimitglied habe ein „Rundschreiben-Angebot“ an die Reformhäuser geschickt, Liebe darauf einen „Gegen-Rundbrief“, in dem er zur Genossenschaftstreue aufforderte. „Der Mann in München kochte, Liebe wurde nach München zitiert, ins Braune Haus.“ Anschließend habe Liebe das Mitglied der Gesundheitsführung wegen Beleidigung verklagt. „Ergebnis: Der Mann in Uniform mußte sich vom Gerichtsvorsitzenden einiges sagen lassen und sich vor dem Gericht bei Alfred Liebe entschuldigen.“ Vgl. NeuformEcho, Juli 1972, S. 29f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Im Frühsommer 1933 entstand der „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ mit Sitz in München als berufsständische Vertretung des wirtschaftlichen Zweigs der Lebensreform. Der Verband gliederte sich in die Gruppen „Reformwaren-Hersteller“, „Reformhäuser“, „Reform-Speisehäuser“ sowie „Lebensreformerische Kuranstalten und Erholungsheime“. Die Gruppe der Hersteller war abermals unterteilt in Betriebe für „neuzeitliche Ernährung“, „biologische Körperpflege“ und „reformgemäße Sondererzeugnisse“. Im Juni 1933 erging die Aufforderung an alle unter diese Kategorien fallenden Firmen und Einzelpersonen, zwecks Aufnahme in den Verband eine „Fragekarte“ anzufordern.376 Die Neuform-VDR trat dem „Nationalverband“ als „Spitzenorganisation“ der „Fachgruppe Reformhaus“ bei. Die Genossenschaft und Müllers „Referat Lebensreform“ der „Abteilung Volksgesundheit“ der NSDAP forderten „alle außenstehenden Fachgeschäfte“ auf, sich bei der „Spitzenorganisation“ NeuformVDR als Mitglieder anzumelden.377 Zu diesem Zeitpunkt gehörten nach Angaben der Neuform-VDR aber ohnehin schon neun Zehntel aller Reformhäuser der Genossenschaft an.378 Mit der Aufforderung aus Müllers Behörde beschleunigte sich der Konzentrationsprozeß, der schon in der Weimarer Republik begonnen hatte, noch weiter: Schon bald waren die „freien“ Reformgeschäfte, die nicht der Neuform-VDR angehörten, so gut wie verschwunden. Beim Eintritt in den „Nationalverband“ teilte der Vorstand der Genossenschaft den Mitgliedern noch mit, an der „Struktur der Neuform-VDR sowie an der wirtschaftlichen Selbständigkeit“ ändere sich mit diesem Schritt nichts.379 Aber schon die Einteilung der „Fachgruppen“ im „Nationalverband“, die Reformwarenhersteller und Reformhäuser voneinander schied, weist darauf hin, wie brüchig diese Aussage war, zumal die Neuform-VDR explizit als „Spitzenorganisation“ lediglich der „Fachgruppe Reformhäuser“ in den Verband eingetreten und die Herstellergruppe in sich noch weiter unterteilt war. Das alles paßte überhaupt nicht mehr mit der Organisation der Einheitsgenossenschaft aus Reformhäusern und Herstellern von 1930 zusammen. Noch 1933 forderte die Reichsleitung der NSDAP denn auch die „Scheidung der beiden Gruppen in Neuform VDR“, also die organisatorische Trennung von Reformhausbesitzern und Lieferanten, und damit eine tiefgreifende Veränderung.380 Als Argument war dabei, die horizontale Organisation der grundsätzlich vertikal oder auch „ständisch“ zu organisierenden Wirtschaft dürfe ausschließlich über Organisationen der Partei erfolgen381 , die Zusammenarbeit von Herstellern und Reformhausinhabern sei also nur über Kooperationen der Fachgruppen des „Nationalverbandes“, nicht aber innerhalb einer eigenen Organisation möglich. Auf einer Vorstandssitzung des „Nationalverbandes“ Ende Oktober 1933 „herrschte Übereinstimmung darüber, daß die beiden Fachgruppen Reformhaus 376 377 378 379 380 381

Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Juni 1933, S. 161. Ebd., S. 163. Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1933, S. 274. Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Juni 1933, S. 162. Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Oktober 1933, S. 281. Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 274f.

2.2. Organisation

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und Reformwarenhersteller in Zukunft manche Probleme selbständiger zu lösen haben.“382 „Grundsätzliche Einigung“ erzielten die beiden Gruppen und der „Nationalverband“ während einer ebenfalls im Oktober stattfindenden Verhandlung in Heidelberg. Die Trennung erfolgte durch „freiwilliges Ausscheiden der Lieferanten-Mitglieder“ aus der Neuform-VDR. Am Vortag einer außerordentlichen Generalversammlung am 19. November 1933 in München beschloß die Herstellergruppe dann ihre Liquidation. Der neue, nunmehr ausschließlich aus Reformhausbesitzern bestehende Vorstand und der Aufsichtsrat der Genossenschaft stimmten einer neuen Satzung zu, welche die Neuform-VDR zu einer reinen Reformhaus-Genossenschaft machte.383 Die 134 Mitglieder, die zur Generalversammlung nach München gereist waren, nahmen diese Satzung einstimmig an.384 Man flüchtete sich in den eigenen Begriff der Neuform, um zu erklären, warum die „kombinierte Organisation Neuform-VDR“ nicht „allenthalben zur Vollendung kam“ und warum man sich „in einer wiederum neuen Form“ zusammenfassen lasse: „In Deutschland geht ein gewaltiges Ringen vor sich, auch um neue Formen; da können und dürfen wir nicht stehen bleiben. […] Ein jeder helfe mit, die Neuform neu zu formen!“385 In der Wortwahl und in ihren tatsächlichen Entscheidungen lavierte die Neuform-VDR in der Folgezeit dazwischen, auf der einen Seite „das neu Kommende zu fördern, auf der anderen Seite aber unsere Branche zu erhalten und zu verteidigen.“386 Die nunmehr auf die Reformhausinhaber beschränkte Neuform-VDR schloß mit den Herstellern neue Verträge ab, in denen sie sich verpflichtete, den Absatz von deren Waren zu fördern. Die Hersteller wiederum zahlten der Genossenschaft einen nach der Höhe des jeweiligen Umsatzes in den Reformhäusern gestaffelten Förderungsbeitrag.387 Auch das „Neuform-Zeichen“ verlieh sie weiterhin. Die Beiträge waren je nach Art des betreffenden Artikels verschieden bemessen: „Es ist klar, daß ein Nahrungsmittel des täglichen Bedarfes mit geringer Verdienstspanne im Verhältnis auch nur geringere Beiträge aufbringen kann als etwa ein kosmetischer Artikel.“ Das Bedenken, der Förderungsbeitrag verteuere die Waren, widerlegte laut Neuform-VDR die Praxis. Denn je mehr der Bestand der Reformhäuser durch die „allgemeine Neuform-Arbeit“ gesichert werde, desto weniger Verluste erleide der Lieferant: „Je mehr durch die allgemeine Werbe-Arbeit für reformerische Waren, wie sie von Neuform betrieben wird, das Interesse für dieses neue Warengebiet sich ausbreitet, desto mehr wird auch der Absatz jedes einzelnen Lieferanten gefördert, sofern er nur selber auch das Seinige dazu 382 383 384 385

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Leib und Leben, Dezember 1934, S. 28. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Dezember 1933, S. 349. Ebd., S. 352f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. November 1933, S. 329. Vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 13. April 1933, S. 98. – Auf ähnliche Weise setzte die Zeitschrift Neuleben den Namen des „Neuleben-Kreises“ mit der nationalsozialistischen „Revolution“ in Beziehung: Neuleben, H. 11/12, 1933, S. 193. So Alfred Liebe in einer Rede auf der Sitzung der Ortsgruppe Groß-Berlin der NeuformVDR am 10. April 1933. Vgl. Neuform-VDR-Fachblatt vom 13. April 1933, S. 99. Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 274.

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2. Lebensreform als Netzwerk

tut.“388 Rundschreiben an die Mitglieder der Neuform-VDR mußten sich die Lieferanten vorher von der Genossenschaftsleitung genehmigen lassen. Im Grunde veränderte sich also in der Geschäftspraxis zunächst nicht viel. Die Zusammenarbeit von Reformhäusern und Lieferanten blieb eng. Es traten nun aber vermehrt Lieferanten unmittelbar an Reformhausbesitzer heran und versuchten, die vertraglich vereinbarte Bindung an die Neuform-VDR und damit die „Förderungsbeiträge“ zu umgehen. Darauf weist auch der Schriftzug „Achtung, Mitglieder! Weist Lieferanten-Rundschreiben über Neuform-Vertragswaren zurück, die nicht die Genehmigung von Neuform-VDR tragen!“ hin, der seit 1934 regelmäßig in der Mitgliederzeitschrift der Genossenschaft erschien. Der wesentliche Unterschied zu vorher aber war die Kontrolle durch den „Nationalverband“. Neu war auch, daß sich die Neuform-VDR seit der organisatorischen Trennung von den Lieferanten bemühte, den Berufsstand des Reformhausverkäufers zu etablieren und im Bewußtsein ihrer Mitglieder zu verankern.389 Schon 1934 aber kam es zu einem Streit mit dem „Nationalverband“, in dessen Vorstand Liebe am 23. Februar als „Fachgruppenführer“ der deutschen Reformhäuser berufen worden war.390 Weil die Zusammenarbeit schlecht funktionierte, trat Liebe im November 1934 wieder aus dem Vorstand aus391 und im Dezember 1934 auch von seinem Amt als „Fachgruppenführer“ zurück. Er stehe auf dem Standpunkt, schrieb er an den Vorsitzenden des „Nationalverbandes“ Karl Körner, daß man auch seine Meinung sagen dürfen müsse, und er „denke nicht daran, zu allem Ja und Amen zu sagen und mir obendrein noch den Mund verbieten zu lassen.“ In einem erklärenden Bericht an die Neuform-VDR-Mitglieder führte Liebe aus, der „Nationalverband“ und damit auch seine „Fachgruppen“ seien seinem Verständnis nach keine Zwangsorganisationen, daher habe er Anordnungen des Verbandes an die Reformhausinhaber nicht als bindende Anordnungen weitergeben können, „weil ich hierfür keine gesetzliche Grundlage bzw. Berechtigung sah.“ Offenbar ging es in dem Streit vor allem darum, daß der „Nationalverband“ von den Reformhausinhabern laufende Beiträge verlangte, Liebe es aber immer wieder verzögert hatte, dieser Aufforderung nachzukommen. Liebe beklagte außerdem, daß „man“ der Wirtschaftsgruppe der Reformhausinhaber beim Umbau der Wirtschaft von vorneherein nur als Untergruppe des „Nationalverbandes“ eine Existenzberechtigung zugesprochen habe. Daß er sich dagegen gewehrt habe, hatte „Unliebsamkeiten für mich“ und „schwere Differenzen“ zur Folge. Liebe wurde nach eigenen Angaben zu Sitzungen des „Nationalverbandes“ nicht eingeladen, und man habe ihm, der doch Vorstandmitglied war, Protokolle solcher Sitzungen vorenthalten. Das war, so scheint es, der Auslöser für seinen Rücktritt aus dem Vorstand des „Nationalverbandes“. Hinzu kam ebenfalls 1934 noch die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, die – ganz wie der 388 389 390 391

Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. März 1935, S. 135. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Dezember 1933, S. 349; Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 273f.; Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 513f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 28. Februar 1934, S. 22. Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Dezember 1934, S. 332.

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„Nationalverband“ – ebenfalls finanzielle Unterstützung von der Neuform verlangte.392 Liebe wies darauf hin, daß seine Ausführungen „weder gegen irgendeine amtliche noch parteiamtliche Stelle gerichtet waren oder gerichtet werden.“393 Die Ortsgruppen der Genossenschaft sprachen ihm das Vertrauen aus.394 Spätestens im Oktober 1935 war Liebe wieder im Vorstand des „Nationalverbandes“, ein Jahr später schied er auf eigenen Vorschlag wieder aus ihm aus. 395 Nach der Aufspaltung der „Einheitsgenossenschaft“ und der Eingliederung in den „Nationalverband“ mußte die Neuform-VDR in den Jahren 1934 bis 1937 noch einige weitere Einschnitte hinnehmen, die ihren Wirkungskreis deutlich einschränkten. Das hatte vor allem mit dem sogenannten ständischen Aufbau der gewerblichen Wirtschaft zu tun, wie ihn die Nationalsozialisten organisierten. Als wirtschaftliche Unternehmen waren die Reformhäuser nicht nur in die vertikale Organisation der Lebensreform eingeordnet, die da lautete: „Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit“ – „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ – „Fachgruppe Reformhaus“. Vielmehr galten außerdem die hierarchischen Strukturen „Reichsgruppe Handel“ – „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ – „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ – „Fachabteilung Reformhäuser“ sowie „Reichsgruppe Handel“ – „Gruppe Genossenschaftseinkauf“ – Neuform-VDR.396 Der „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ in der „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“397, einer Zwangsorganisation mit insgesamt 350.000 Mitgliedern im Jahr 1938, gehörten sieben Untergruppen an: Neben den Reformhäusern waren ihr die „Fachabteilungen“ Kolonialwaren und Feinkost, Obst und Gemüse, Fische, Wild und Geflügel, Schokolade und Süßwaren sowie Roheis angegliedert.398 Daß die Reformhäuser eine eigene Abteilung bekamen, zeigt die verhältnismäßig große Bedeutung, die die Nationalsozialisten diesem Wirtschaftszweig zumaßen oder auch erst unter ihrer eigenen Aufsicht und bürokratischen Reglementierung verleihen wollten. Wenn aber der Überlieferungszufall nicht ein verzerrtes Bild gibt, dann beschäftigte sich die Leitung der „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ sehr viel mehr mit anderen Zweigen des Lebensmitteleinzelhandels als mit Reformwaren.399

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Neuform-VDR-Fachblatt vom 29. Dezember 1934, S. 361f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Januar 1935, S. 3. Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Januar 1935, S. 35. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. November 1935, S. 607; Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 19. Oktober 1936, S. 497. Zur zweiten Hierarchie vgl. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. März 1937, S. 103, zur ersten das folgende. Zur „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ gehörten zwölf Fachgruppen. Die „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ war die „Fachgruppe I“. BArch, R 13/XXIX/10 (Liste von Stillegungen in der Bezirksgruppe Mainfranken). Zum Aufbau der deutschen Wirtschaft [Material für die Teilnehmer der Berufsförderungskurse des Deutschen Einzelhandels 1938/39, maschinenschriftlich]. Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main; Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1938, S. 114. In den entsprechenden Akten des Bundesarchivs in Berlin finden sich über die Reformwarenwirtschaft nur Splitter.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Die Einschränkungen der Neuform-VDR durch ihre Erfassung in der „Fachabteilung Reformhäuser“ betrafen vor allem die Berufspolitik, also jede nichtwirtschaftliche Betätigung der Genossenschaft. Aufgrund des „Gesetzes über den vorläufigen organischen Aufbau der deutschen Wirtschaft“ vom 27. Februar 1934 durften privatwirtschaftliche Organisationen „im Zeichen der ständischen Neuordnung“ der Wirtschaft keine auf der Grundlage freiwilliger Mitgliedschaft aufgebauten Vereine mehr unterhalten. Die Berufspolitik übernahm nunmehr die „Fachabteilung“ als Zwangsorganisation für die Reformhäuser. Während die „Fachabteilung“, so hieß es, „nur die rein berufspolitischen Arbeiten und Aufgaben für die Branche erledigt und nur diese auch erledigen darf, sich also wirtschaftlich überhaupt nicht betätigt, ist das wirtschaftliche Betätigungsgebiet voll bei der Neuform-VDR, zunächst als Genossenschaft, verblieben.“400 Die „Fachabteilung Reformhäuser“ unter der Leitung von Paul Neuhaus arbeitete zwar nach eigenen Angaben mit der Neuform-VDR zusammen, legte aber Wert darauf, daß sie eine „unabhängige und selbständige Berufspolitik“ verfolge.401 Das bedeutete nichts anderes als Kompetenzverlust und eingeschränkte Handlungsmöglichkeit der Neuform-VDR. Vor allem gehörte zur Berufspolitik die Förderung des „Reformhausbesitzerstandes“. Das hieß insbesondere: die Fachschulung der Reformhausbesitzer und der Angestellten in Reformhäusern. Die zweite berufspolitische Aufgabe der „Fachabteilung“ war die sogenannte Verbrauchslenkung im Sinne des nationalsozialistischen Autarkiestrebens. Darunter verstand man, „Erzeugung und Verbrauch in Einklang [zu] bringen.“402 Die „Fachabteilung“ gab den Reformhausinhabern monatlich vor, welche Erzeugnisse wann besonders viel zu verkaufen oder zurückzuhalten seien, je nach Jahreszeit und Marktlage. Hieran wird deutlich, daß die „Fachabteilung“ ihre berufspolitische Funktion nur vordergründig betonte und in Wahrheit unmittelbar in die wirtschaftliche Betätigung der Reformhäuser eingriff. Die Genossenschaftsführung unter Alfred Liebe sträubte sich gegen diese Beschneidungen ihrer Kompetenzen, aber ohne Erfolg.403 Die Neuform-VDR trat immer weiter zurück und die „Fachabteilung“ immer mehr in den Vordergrund. Neben der „Fachabteilung Reformhäuser“ entstanden Mitte der dreißiger Jahre noch andere neue Organisationen der Reformwarenwirtschaft. Die erste von ihnen, eine „Hilfs- und Förderungskasse für Reformunternehmen“ aus dem Jahr 1934, war eine Gründung der Neuform-VDR. Nach ihrer Verfestigung als Genossenschaft sollte sie ihren Sitz in Bürogemeinschaft mit der Neuform-VDR in Berlin haben.404 Auf der Höhe von Bonn genehmigte die Generalversammlung der 400 401 402

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Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. März 1937, S. 103. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 22. Mai 1937, S. 175. Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1939, S. 61. – Ähnliche Richtlinien gab es auch für Gaststätten, die zur „Erziehung des Gastes“ angehalten wurden, damit er nicht im Winter Spargel und im Sommer Rosenkohl verlange: MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 167f. – Zur „Ernährungslenkung“ vgl. auch BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 228–230. Dazu im Rückblick Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1942, S. 109. Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. September 1934, S. 197f.

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Neuform-VDR am 2. September 1936 auf dem Dampfer „Hindenburg“ die Satzung dieser „Hilfs- und Förderungsgenossenschaft für Reformunternehmen“ (HFR). Deren vordergründige Aufgabe war es, „bedürftige Reformunternehmen“, sofern sie ihr beigetreten waren, „treuhänderisch zu beraten, gegebenenfalls zu verwalten und im Notfall zu unterstützen“. Darüber hinaus war die neue Genossenschaft aber auch – und hier scheint ihr eigentlicher Zweck gelegen zu haben, für den die Versicherungsfunktion im Fall wirtschaftlicher Schwierigkeiten nur das Mittel war – dafür zuständig, „Hilfsmassnahmen und Geschäfte zu tätigen, die im allgemeinen Interesse der Lebensreformbranche, insbesondere der Erhaltung und dem Ausbau der Absatzgebiete liegen.“405 Sinn der HFR war also nicht nur, finanzschwachen Reformhäusern zu helfen, sondern vor allem auch, Geld für die Branche zu gewinnen. Die Neuform-VDR und später die „Fachabteilung“ legten allen Mitgliedern mit Hinweis auf den „Gemeinschaftsgeist“ nahe, der HFR beizutreten, allerdings ohne allzu großen Erfolg. Ein Geschäftsanteil und damit der geringstmögliche Eintrittspreis kostete zunächst einmalig 15 Mark.406 Der Betrag – für dieselbe Summe konnten die Reformhausinhaber bei dem Obstverarbeitungsunternehmen Eden 25 Dosen zu je einem Pfund Apfel-Erdbeer-Marmelade beziehen407 – war gerade für finanzschwache Reformhäuser nicht allzu gering, wenn man bedenkt, daß sie von ihren Umsätzen auch Mitgliederbeiträge an die Neuform-VDR selbst abzuführen hatten. Noch Ende 1941 waren bei weitem nicht alle Reformhausinhaber Mitglieder der HFR.408 Der wichtigste Zweck, für den die HFR Geld eintreiben sollte, war eine neue Schule für Reformwarenfachleute. In Unterricht und Fortbildung von Reformhausinhabern und deren Angestellten hatte die Neuform-VDR trotz organisatorischer Trennung eng mit der privaten Fachschule ihres ehemaligen Vorstandsmitglieds Hans Gregor in Blankenburg am Harz, seit 1933 in Sobernheim an der Nahe zusammengearbeitet. Nach Gregors Tod 1935 schloß die Schule. Zunächst gab es seit Sommer 1936 noch eine „Fachschule für Reformwarenhändler“ am Fehrbelliner Platz in Berlin-Wilmersdorf, die die HFR bis Ende 1937 „mit Genehmigung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ unterhielt, der die „Fachabteilung Reformhäuser“ unterstellt war.409 Dort nahmen nicht nur Reformhausinhaber und Reformhausangestellte, sondern seit August 1936 auch Reformhauslehrlinge Unterricht in Fächern wie Staat und Wirtschaft, Ernährungslehre, Reformwaren- und Verkaufs-Kunde.410 In den Jahren 1936 und 1937 besuchten diese zweite Fachschule insgesamt 300 Kursteilnehmer. Im Laufe des Jahres 1937 stellte sich dann 405

406 407 408 409 410

Satzung der Hilfs- und Förderungsgenossenschaft für Reformunternehmen, eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht, vom 2. September 1936 [maschinenschriftlich]. Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 1. Oktober 1936, S. 463. Bei einem Einkaufspreis von 60 Pfennig pro Dose. Vgl. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. August 1936, S. 453. Der Reformwarenfachmann vom 15. November 1941, S. 187. Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 115. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. Juli 1936, S. 366.

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2. Lebensreform als Netzwerk

aber aus Sicht der „Fachabteilung“ heraus, „daß die fachliche Schulung der Angehörigen des Reformwaren-Einzelhandels allein eine Angelegenheit der Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Fachabteilung Reformhäuser sein mußte.“411 Daraufhin stellte die Berliner Schule ihre Tätigkeit 1938 wieder ein, und die „Fachabteilung Reformhäuser“ gründete einen „Verein zur Förderung der Berufsausbildung des deutschen Reformwaren-Einzelhandels“. Die Kurse für Reformhausinhaber und „die im Reformhaus Tätigen, die auf Grund der gesetzlichen Richtlinien des Einzelhandels-Schutzgesetzes die fachliche Eignung zur Führung eines Reformhauses besitzen und mindestens 1 Jahr im Reformwareneinzelhandel tätig sind“412 , hielt die „Fachabteilung“ regional in „zentral gelegenen Städten des ganzen Reiches“ in jeweils drei sechstägigen Teilkursen413 ab. Diese „Berufsförderungskurse“, wie die Schulungswochen fortan hießen, organisierte der Geschäftsführer der „Fachabteilung“ Theodor Ahrens († 1943). Die Teilnehmer eines 1938/1939 in drei Blöcken im Taunus-Ort Oberstedten bei Bad Homburg stattfindenden Kurses des Bezirks Hessen erhielten ein Themenverzeichnis mit 48 Unterpunkten, das mit dem Aufbau der Wirtschaft sowie der Geschichte und den Arbeitsgebieten des Reformhauses begann, dessen Schwerpunkt aber auf biologischen, chemischen, ernährungsphysiologischen und drogenkundlichen Gebieten lag.414 Zwischen dem ersten und zweiten Teilkursus hatten die Teilnehmer eine schriftliche Arbeit über die rechtlichen Aspekte des Lebensmittel-Einzelhandels anzufertigen, zwischen der zweiten und dritten Kurseinheit lautete das Hausarbeitsthema „Die volkswirtschaftliche Aufgabe des Reformhauses“. Zur Abschlußprüfung, für die ein „Sonntagsanzug oder Sonntagskleid wünschenswert“ war, mußten die Prüflinge ein Herbarium mit wenigstens hundert blühenden Pflanzen präsentieren.415 Mit der Verstaatlichung des Unterrichts ging, das zeigt dieser Einblick in die Praxis der Kurse, zugleich eine Standardisierung und Verwissenschaftlichung des Stoffes einher, den der Leiter der ersten Fachschule Hans Gregor noch sehr viel intuitiver und mit starkem Akzent auf den weltanschaulichen Aspekten der Lebensreform vorgetragen hatte. Zunächst nahmen vor allem Männer und Frauen an den Fachschulkursen teil, die schon Reformhäuser führten oder in Reformhäusern arbeiteten. Zur unabdingbaren Voraussetzung schon für die Eröffnung eines Reformhauses und damit auch zur Aufnahmebedingung der Neuform wurde die ab411 412 413 414

415

Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. April 1938, S. 87. Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 114. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. April 1938, S. 87. Themenverzeichnis für die drei Teilkurse der Berufsförderungskurse des Deutschen Reformwaren-Einzelhandels. [Zwei Seiten, maschinenschriftlich.] Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main. Brief der Reichsgeschäftsstelle der Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Berlin, an die Teilnehmer des Berufsförderungskurses VIII Hessen vom 12. Juli 1938; Brief der Reichsgeschäftsstelle der Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Berlin, an die Teilnehmer des Berufsförderungskurses VIII Hessen vom 1. Dezember 1938; Brief der Reichsgeschäftsstelle der Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Berlin, an die Teilnehmer des Berufsförderungskurses VIII Hessen vom 8. Mai 1939. Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main.

2.2. Organisation

91

geschlossene Fachschulung erst Anfang der fünfziger Jahre.416 Zwischen Anfang 1938 und Ende 1940 besuchten etwa 500 Berufsangehörige die Kurse.417 Neben der Schulung ihrer Mitglieder mußte die Genossenschaft auch die Werbung für Reformwaren, die sie bis dahin allein betrieben hatte, an eine neue Organisation abtreten. Um den Lieferanten auch nach der Trennung von der Neuform-VDR die Gewähr zu geben, „daß der größte Teil ihrer Provisionsgelder für sachgemäße Werbung ausgegeben wird“, sollte nach Vorgabe des „Nationalverbandes“ eine bei ihm angesiedelte „Werbegemeinschaft“ gegründet werden, der Vertreter der Lieferanten, der Geschäftsführer der Neuform-VDR und der Vorsitzende des „Nationalverbandes“ angehören sollten.418 Diese „Werbegemeinschaft der Reform-Unternehmen“ (WDR) entstand 1937. Die meisten Lieferanten traten ihr bei, außerdem gehörten ihr auch einige Mitglieder der Neuform-VDR an.419 Ihr Leiter wurde der Pflanzensaftproduzent und Branchenpolitiker Walther Schoenenberger, der auch schon in der Leitung der Einheitsgenossenschaft tätig gewesen war. In der ersten Hälfte des Geschäftsjahres 1936/37 lag die Werbung hingegen noch vollständig in den Händen der Neuform-VDR. Seit der zweiten Hälfte mußten 60 Prozent der „Förderungsbeiträge“ der Lieferanten an die WDR abgezweigt werden.420 Das Büro der WDR befand sich Ende der dreißiger Jahre in der Elsässer Straße 87 in Berlin-Kreuzberg, in unmittelbarer Nähe der Neuform-VDR und der „Hilfs- und Förderungsgenossenschaft“ HFR, deren Sitz 1939 die Elsässer Straße 88 war.421 Zu den Einschnitten in Werbung und Fachschulung kamen seit 1935 noch Engpässe in der Rohstoffbeschaffung, die der Branche erhebliche Schwierigkeiten bereiteten.422 In ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 1937/38 versuchte die Geschäftsführung sich und die Genossen der Neuform-VDR 1938 zu trösten, indem sie sich auf jene Seite der Lebensreform schlug, die im Geist der Zeit als die stärkste erschien: auf die der ein Jahr zuvor aus der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und dem „Nationalverband Deutscher Lebensreform“ entstandenen geeinten „Deutschen Lebensreform-Bewegung“. „Unsere Mitglieder werden aus diesem Bericht und der beiliegenden Jahresrechnung zwar keine praktischen materiellen Vorteile entnehmen, aber eines bestimmt: Trotz Abtretung der verschiedenen Arbeitsgebiete ist uns Kraft und Leben geblieben! […] Es gibt […] nicht allzu viele Genossenschaften, die so jung so viel Schweres durchgemacht haben und doch so lebensstark geblieben sind, wie Neuform-VDR, ja, die ihr kraftvollstes Schaffen erst entfaltet hat in den Jahren, in denen sie am stärksten angegriffen wurde. […] In der Zahl der Aufga-

416 417 418 419 420 421 422

Klare Ziele (wie Anm. 234), S. 9. Der Reformwarenfachmann vom 15. Januar 1941, S. 2. Neuform-VDR-Fachblatt vom 26. Oktober 1933, S. 306. Neuform-Echo, August/September 1957, S. 211. Neuform-Echo, Juli 1962, S. 272. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299), S. 59. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 1. Januar 1936, S. 1.

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2. Lebensreform als Netzwerk bengebiete und in der Organisationsform sind wir kleiner geworden, in unserer Bedeutung für die Deutsche Lebensreform-Bewegung sind wir […] gewachsen.“423

Der Kampf um ihre Stellung innerhalb des Gesamtgefüges der deutschen Lebensreformbewegung hatte die Politik der Neuform-VDR schon seit der Mitte der dreißiger Jahre wie kaum ein anderes Thema geprägt. Ihre wichtigste Taktik war dabei, den sogenannten Primat der Idee über die Wirtschaft in der Lebensreform anzuerkennen und immer wieder zu betonen. In Wahrheit hatte sie sich erst im Frühjahr 1932 entschieden, „in der Leitung der Genossenschaft das wirtschaftliche Gebiet vom ideellen zu trennen“, indem sie Hans Gregor seine stark von der Idee der Lebensreform geprägte Fachschule selbständig aufziehen ließ, mit der sie gleichwohl eng zusammenarbeitete.424 Die Wirtschaft war der Branche, die eben vom Verkauf von Waren lebte, also mit Sicherheit wenigstens gleichwertig mit der Idee, die sich zudem unter dem Einfluß des Nationalsozialismus stark verändert, scheinbar verwissenschaftlicht und auf die Steigerung der Gesundheit des „Volkskörpers“ und der arischen Rasse verengt hatte. Es gelang den Vertretern der lebensreformerischen Wirtschaft aber, ihre Unterordnung unter den geistigen Gehalt der Lebensreform glaubhaft zu machen, wie ihn Hanns Georg Müller und andere für die Lebensreform zuständige Vertreter der Reichsgesundheitsführung besonders betonten. Wichtig war im Zusammenhang dieser Anpassungstaktik zunächst eine Generalversammlung der Neuform-VDR vom 18. bis zum 21. August 1935 in Stuttgart, zu der mit mehr als 400 Reformhausinhabern so viele Teilnehmer kamen wie nie zuvor.425 Zu dieser Zeit waren der Genossenschaft insgesamt 1300 Geschäfte angeschlossen.426 In Stuttgart feierte die Neuform-VDR auch ihr zehnjähriges Bestehen, indem sie die eigene Geschichte mit der Vereinsgründung der V.D.R. von 1925 beginnen ließ. In seiner Ansprache auf der Feier 427 , aus der auch der am Beginn dieses Kapitels zitierte Abschnitt über die der Reformwarenwirtschaft gegenüber zwar strenge, aber gerechte Partei stammt, betonte der Geschäftsführer der Neuform-VDR Alfred Liebe vor Vertretern der Parteigliederungen ganz im Sinne der Behauptung vom Primat der Idee über die Wirtschaft, die Genossenschaft sei nur „ein kleiner Bestandteil der großen deutschen Lebensreform-Bewegung“. Sie wisse, „daß Neuform ein Glied in der großen Sache ist und ohne die deutsche Lebensreform-Bewegung keine Existenz-Berechtigung hat.“ Liebe fuhr fort: „Wenn es sich bei den Reformhaus-Besitzern auch im rechtlichen Sinne um Gewerbetreibende und Kleinhändler handelt, so betonen wir – und legen Wert darauf, daß auch jeder weiß –, daß wir in unserer Arbeit mit der Bewegung verwurzelt sind.“ Es komme der Neuform nicht darauf an, „Geld zu scheffeln“, und auch nicht darauf, einen großen Mitgliederbestand aufzuweisen. Der Geschäfts423 424 425 426 427

Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser eGmbH Berlin, Geschäftsbericht mit Jahresrechnung 1937/1938, S. 3f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Dezember 1932, S. 238. Leib und Leben, September 1935, S. 282. Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 516. Ansprache Alfred Liebes abgedruckt in: Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 514–518.

2.2. Organisation

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führer betonte, „daß wir unsere Arbeit so ernst zu nehmen haben und es auch tun, wie es der Staat und die maßgeblichen Parteistellen von uns verlangen.“ In den vergangenen drei Jahren habe die Genossenschaft ihr gesamtes Warenprogramm auf die Frage hin überprüft, inwieweit sie der deutschen Volkswirtschaft „noch mehr dienen“ könne als bisher. Am Schluß bekundete Liebe noch einmal, „daß uns von der Bewegung nichts trennen kann. Es ist gerade in der Zeit, wo man uns besonders stark bekämpfte und vernichten wollte, viel davon gesprochen worden, daß in unseren Reihen sich viel Sektierertum usw. aufhält.“ Doch habe die Neuform-VDR die „Dinge“ abgestreift, „die wir abstreifen mußten“, so daß es nur noch darauf ankomme, daß die amtlichen Stellen anerkannten, „daß bei uns alles in Ordnung ist.“ Daß Liebe „Dinge“ sagte und damit verschleierte, was genau er meinte, ist kennzeichnend für die Sprache der Neuform-VDR zur Zeit des „Dritten Reiches“. Im Kontext der Rede – kurz zuvor hatte der Geschäftsführer, wie gesehen, das Warenprogramm erwähnt – liegt es nahe, daß er betonen wollte, daß die Neuform-VDR ihre Produktpalette dem nationalsozialistischen Autarkiestreben und der Forderung nach deutschen Produkten angepaßt hatte, daß sich das „Abstreifen“ also auf Auslandsartikel bezog. „Abgestreift“ hatte man außerdem offensichtlich vier jüdische Reformhausinhaber. Da es nicht mehr waren und Juden in der Reformwarenbranche auch vor 1933 kaum eine Rolle gespielt hatten, ist es aber unwahrscheinlich, daß der Geschäftsführer auch darauf anspielte. Daß in seinen Worten ein Verweis auf die Auflösung der Einheitsgenossenschaft und somit auf eine Abkehr von „kapitalistischem“ Monopolstreben der Neuform-VDR mitschwingt, liegt hingegen nahe. Schon 1933 hatte die Neuform-VDR hervorgehoben, kein „Konzern“ zu sein: Die einzelnen Reformhäuser seien nicht „Filial-Geschäfte eines großkapitalistischen Unternehmens“, hatte sie damals betont.428 Liebe könnte außerdem bemüht gewesen sein, die Reformhäuser von dem Klischee der Schmuddeligkeit abzugrenzen, das jenen „urwüchsigen Naturmenschen“ anhaftete, für die viele die Lebensreformer hielten. Insofern meinte er mit dem, was die Genossenschaft hinter sich gelassen habe, vielleicht auch zum Teil unzureichende hygienische Verhältnisse in den Reformhäusern. Mitte der dreißiger Jahre war die Genossenschaft insgesamt stark um Sauberkeit bemüht. Sie legte ihren Mitgliedern nahe, nur in weißem Kittel zu bedienen, einen Kragen zu tragen, sich zu rasieren, das Hemd im Sommer nicht aufzuknöpfen, als Frau das Haar zusammenzustecken und die Fingernägel sauber zu halten, keine Ware offen im Geschäft liegen zu haben, sondern sie mit Zellophan zu schützen, und kein Wechselgeld aus der Kitteltasche zu fischen.429 Die Taktik des Anschmiegens und der gezielt eingesetzten Ehrlichkeit hatte Erfolg. Die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ urteilte über die Zehn-Jahres-Feier der Neuform-VDR: „Erfreulich war die Offenheit, mit der die General428 429

Neuform-Rundschau, November 1933, S. 263. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. März 1936, S. 143; Fotos auf Titelblatt und Innenseite in: ebd., sowie Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 18. Februar 1936; Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 19. Mai 1936.

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2. Lebensreform als Netzwerk

versammlung auch die inneren Verhältnisse in der Neuform vor Ohren und Augen der anwesenden Gesinnungsfreunde behandelte. Hier gab es keine Geheimnistuerei, keine kommerziellen Zweideutigkeiten.“430 Am 31. August 1936 beschloß der „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“, die Leitung seines Vorstandes an den „Sachbearbeiter für die Fragen der Reformbewegung“ im Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP Hanns Georg Müller zu übergeben. „Damit sind Deutsche Gesellschaft für Lebensreform und Nationalverband in Personalunion zu einheitlichem Einsatz verbunden.“431 Hiermit war ein wichtiger Schritt in Richtung der ein Jahr später gegründeten „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ als übergreifender Organisation des wirtschaftlichen und des ideellen Zweiges der Lebensreform getan: In der Person Müllers vereinigte sich nunmehr die Oberaufsicht über die „Laienorganisationen“ der Lebensreform und über ihre wirtschaftlichen Organisationen. An ihm lief so gut wie nichts mehr vorbei. Im Bericht über eine gemeinsame Sitzung der jeweiligen Leiter und Geschäftsführer der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, des „Nationalverbandes“ und der Neuform-VDR hieß es, alle „der Lebensreform angeschlossenen Kreise und Personen“ hätten sich im klaren darüber zu sein, „daß die Übernahme der Führung des Nationalverbandes durch den Pg. Hanns G. Müller eine unbedingte Gefolgschaft verlangt.“432 Im Oktober 1936 gab sich der „Nationalverband“ eine neue Satzung, die seine „überwachende Funktion innerhalb der Branche“ unterstrich, „vor allem in der Richtung, daß die Politik in der Branche im Einklang mit den Richtlinien der Bewegung zu stehen hat.“433 Vor der Gründung der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ und der ersten Hauptversammlung der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ verhandelten die Vertreter der Reformwarenwirtschaft im Juni 1937 in Dresden mit Müller. Man versuchte, „die ganze Sache auf das Geleis der Bereinigung aller Differenzen und der Klarstellung der einzelnen Organisationen im zukünftigen Geschehen zu drängen“. Die Reformbranche verlangte eine Klärung, „welche Hauptgebiete Müller als Führer der Lebens-Reform-Bewegung anpacken wolle“, und „drängte dann auf eine Festlegung des Lebensreformführers den einzelnen Verbänden und Organisationen gegenüber“. Müller verzichtete darauf, den Vorsitz im Aufsichtsrat der Neuform-VDR übernehmen zu wollen, wie er es zunächst offenbar vorgehabt hatte.434 Im Sommer 1937 war die deutsche Lebensreformbewegung rein äußerlich nahezu435 identisch mit der neu gegründeten „Deutschen Lebensreform-Bewegung“, 430 431 432 433 434

435

Leib und Leben, September 1935, S. 282. Leib und Leben, Oktober 1936, S. V. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 19. Oktober 1936, S. 497. Ebd. Brief von Walther Schoenenberger (Schoenenberger Pflanzensaftwerk, Magstadt bei Stuttgart) an Ulrich Sabarth (Reform-Würz-Diät K.-G., Berlin-Halensee) vom 21. Juni 1937, S. 1f. Eden-Archiv Oranienburg. „Nahezu“ auch deswegen, weil die Naturheilbewegung nicht dazugehörte. Allerdings hatte sie sich Ende der dreißiger Jahre durch die Sonderrolle, welche führende Nationalsozialisten

2.2. Organisation

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gemessen an ihrer ursprünglichen Struktur aber pervertiert und totorganisiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es zynisch, daß die Nationalsozialisten die Worte „Organisation“ und „Organismus“ in enge Beziehung setzten und damit so taten, als hätte die übergestülpte, fremde Organisationsstruktur der Lebensreform überhaupt erst Leben eingehaucht: „Zu den wesentlichsten Merkmalen des Lebens gehört ja gerade die wunderbare Ordnung, die wir ,organisch‘ nennen, die ,Organisation‘, in der die tausendfach miteinander verflochtenen Einzelvorgänge des Lebensprozesses in jedem ,Organismus‘ geregelt ineinandergreifen, und in der durch weitgehende Arbeitsteilung auf der einen, durch immer straffere Zusammenfassung zu höheren Einheiten auf der anderen Seite immer höhere, vielfältigere Leistungen ermöglicht werden.“436 Seit der Gründung der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ im Sommer 1937 verstärkte die Neuform-VDR ihre rhetorischen und tatkräftigen Versuche zu beweisen, daß sie der Bewegung zuarbeite, sprach etwa in ihrem Bericht über das Geschäftsjahr 1937/38 von „einem aktiven und allerbesten Verhältnis zwischen der Führung der Deutschen Lebensreform-Bewegung und Wirtschaft“. Der Bericht fuhr fort: „Besonderer Ausdruck dieser kameradschaftlichen Zusammenarbeit war das Bemühen aller Verwaltungsmitglieder und ihrer engsten Gesinnungsfreunde, Aufklärungsarbeit innerhalb der Reformwaren-Wirtschaft zu leisten, insbesondere der Lebensreform-Bewegung neue Mitglieder zuzuführen.“ Darüber hinaus sei die „persönliche Mitgliedschaft und aktive Mitarbeit“ des NeuformGeschäftsführers Liebe im „Führerrat“ dieses Vereins die „beste Grundlage für eine stete Beeinflussung der Reformwaren-Wirtschaft durch die Bewegung“437 – und nicht etwa umgekehrt. In der Folgezeit verstärkte sich der Eindruck, den die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ zugunsten der Reformwarenwirtschaft gewonnen hatte: In der Branche sei eine „Ausrichtung unter dem Primat der politischen Gesundheitsführung vor sich gegangen“. Auch von der „Beendigung einer alten Epoche für die Reformwarenwirtschaft in ihrem Verhältnis zur Deutschen Lebensreformbewegung und damit der Beurteilung durch die Gesundheitsführung“ war die Rede.438 Zum Beginn des Jahres 1938 stellte Müller fest, der „Primat der Idee über die Wirtschaft“ sei nunmehr endgültig erreicht.439 Die zweite Reichstagung der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ inszenierte Müller im August 1938 als zehntägige Großveranstaltung in Innsbruck, also im seit wenigen Monaten ans Deutsche Reich angeschlossenen „Deutschösterreich“, dessen Lebensreformer und Reformunternehmen in die „Deutsche Lebens-

436 437 438 439

ihr zuwiesen, ohnehin semantisch wie formal von dem entfernt, was „Lebensreform“ meinte. So rechnet auch BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 216, die Naturheilverbände im „Dritten Reich“ nicht zur Lebensreform. – Zur Organisation der Naturheilbewegung im Nationalsozialismus vgl. unten S. 104ff. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 19. Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser eGmbH Berlin, Geschäftsbericht mit Jahresrechnung 1937/1938, S. 3. Leib und Leben, September 1937, S. 184. Leib und Leben, Januar 1938, S. 2.

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2. Lebensreform als Netzwerk

reform-Bewegung“ eingegliedert werden sollten.440 Im Rahmen der Tagung fand in Innsbruck auch eine Generalversammlung der Neuform-VDR statt. Ihre Tagesordnung bestimmte ein Antrag des Vorstandes auf Verlegung des Sitzes von Berlin nach München. Müller, der als Gast an der Sitzung teilnahm, sprach sich vor der Abstimmung im Sinne der Einheit der Lebensreformbewegung für die Verlegung aus. Die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ mit ihren Mitgliedern „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ und „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ saßen allesamt in der „Hauptstadt der [nationalsozialistischen] Bewegung“441, die somit auch die Hauptstadt der Lebensreformbewegung geworden war. Müller stand allen diesen Organisationen vor. Die Widerstände gegen den Ortswechsel waren aber groß. Liebe verlas schließlich vor der Abstimmung an offenbar wohlausgewählter, passender Stelle eine „Nürnberger Denkschrift“, in der sich die Reformwarenwirtschaft abermals zum „Primat der Idee“ und zum Nationalsozialismus bekannte. Im nachhinein stilisierten Dabeigewesene dieses Ereignis mit den Worten, in jenem Augenblick sei „ein Engel durch den Saal“ gegangen. Gegen zwei Stimmen und bei zehn Enthaltungen beschloß die Versammlung, den Sitz binnen eines Jahres zu verlegen.442 Damit war aber nur scheinbar ein weiterer Schritt zur Konzentration der Bewegung rund um Müllers kleines lebensreformerisches Imperium getan, denn zu dem Umzug kam es nicht. Der Grund dafür war wahrscheinlich der Ausbruch des Krieges. Sitz der Neuform-VDR blieb bis Kriegsende und darüber hinaus Berlin. Eine der letzten großen organisatorischen Veränderungen innerhalb der Lebensreform des „Dritten Reichs“ war eine Neugründung. Am 8. Mai 1939 wurde in Dresden das Gebäude des „Forschungsinstituts der Deutschen Lebensreform e.V.“ eingeweiht, in dem Biologen, Chemiker und Ärzte arbeiteten. Leiter wurde der Arzt Martin Vogel (1887–1947). Den von der „deutschen LebensreformBewegung“ gegründeten Verein des Forschungsinstituts gab es schon seit 1937, die Verwirklichung des Projekts hatte sich aber eine Weile hingezogen. Die Idee zum Dresdner Forschungsinstitut war im Kontext des Vierjahresplans von 1936 entstanden, der die deutsche Wirtschaft in vier Jahren „kriegsfertig“ und in diesem Zusammenhang auch von „fremden Rohstoffen“ unabhängig machen wollte. Ihm entsprechend, sollte das Institut „erforschen und lehren, wie man die reichlich vorhandenen heimischen Erzeugnisse ausgiebiger und die weniger vorhandenen sparsamer verwenden kann.“443 Im Jahr 1941 nahm die Forschungsstätte den Namen „Paracelsus-Institut“ an.444 440 441

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ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299), S. 60. Zur Rolle Münchens im Nationalsozialismus RICHARD BAUER u. a. (Hrsg.), München – „Hauptstadt der Bewegung“. Bayerns Metropole und der Nationalsozialismus. München 1993. Leib und Leben, September 1938, S. 188; Der Reformwarenfachmann vom 15. September 1939, S. 229, 242f. Leib und Leben, September 1937, S. 175. Der Reformwarenfachmann vom 20. Oktober 1941, S. 161. – Der Arzt Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim, 1493–1541) griff die Medizin seiner Zeit an mit der Annahme, Menschen erkrankten durch äußere Einflüsse und nicht durch ein Ungleichgewicht

2.2. Organisation

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Nach „langen Jahren der Spaltung“ finde in der Gründung die „Einheit zwischen Wissenschaft und Laienbewegung“ ihren Ausdruck, urteilte die NeuformVDR. Mitten in der Stadt, aber an einer stillen Straße gelegen und von Bäumen umgeben, sei das Institut „mit seinen großen, hellen Räumen der richtige Ausdruck für den Geist, der hier die Arbeit beherrschen soll“. In der Diele hing ein großes Porträt Hitlers, über der zur Bücherei führenden Tür eine „Gesundheitsrune“.445 Neben dem Sammeln und Aufbereiten von „Ideen- und Erfahrungsgut der Lebensreform und seiner Bekanntmachung in der Öffentlichkeit 446 war eine weitere wichtige Aufgabe des Instituts die Prüfung und Beurteilung von Gesundheitsprodukten. Von dem Plan, eine solche „vollständig unabhängige Prüfungsinstanz für die Reformerzeugnisse […] als Voraussetzung für die Erteilung eines Wertzeichens“ zu schaffen, hatte die Zeitschrift Leib und Leben schon 1934 berichtet.447 Im Sommer 1938 genehmigte der „Führerrat“ der „Deutschen LebensreformBewegung“ Richtlinien für die Bewertung von Reformwaren als vorläufige Grundlage für die Arbeit des Instituts. Ziel war es, den bislang ungeschützten Begriff der Reformware als „Wertbegriff“ zu sichern und damit die Produkte zu standardisieren. Reformwaren waren demnach „Erzeugnisse, die sich nach Ursprung, Zusammensetzung, und sonstiger Beschaffenheit so wenig als irgend möglich von der Natur entfernen.“ Für sie mußten „hochwertige Rohmaterialien“ verwendet werden, in deren stoffliche Zusammensetzung nur eingegriffen werden durfte, wenn das zur Gewinnung, Verarbeitung, zum Erhalt und zur „sinngemäßen Verwendung“ des Erzeugnisses unentbehrlich war. Chemische Zusätze, Konservierungs- und Schönungsmittel, übermäßige Mengen von Zucker und Kochsalz, unnötiges Ausschalten wesentlicher natürlicher Bestandteile wie beim Getreidekorn und unnötig weit getriebenes Erhitzen waren verboten. Grundlage der Beurteilung sollten der Vergleich der Zusammensetzung mit dem natürlichen Ausgangsmaterial und eine eingehende Überprüfung des gesamten „Gewinnungs- und Herstellungsgangs“ sein. Die Bewertung durch die Prüfer richtete sich dabei nach der „Art der Ausgangsstoffe, den biologischen und technischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten ihrer Bearbeitung und dem Verwendungszweck des Erzeugnisses.“448 Das chemische Laboratorium sollte vor allem

445 446 447 448

der Körpersäfte: THEOPHRASTUS PARACELSUS, Labyrinthus Medicorum oder Vom Irrgang der Ärzte. Was der rechte Arzt lernen und kennen und wie er beschaffen sein soll, wenn er gut kurieren will. Hrsg. v. Hans Kayser. Leipzig o. J. [ca. 1930, zuerst 1538]. – Paracelsus, auf den ganzheitliche Vorstellungen von Körper und Kosmos sowie die Idee des „inwendig Arzt“, also der Selbstheilungskraft von Organismen, zurückgehen, war eine wichtige Bezugsperson der Lebensreform, obwohl seine Experimente mit chemischen Arzneimitteln nicht recht zu den Postulaten der Naturheilkunde passen wollten: ROTHSCHUH, Naturheilbewegung (wie Anm. 35), S. 49–52. Besonders im „Dritten Reich“ gab es eine regelrechte „Paracelsus-Renaissance“: ALTPETER (Hrsg.) Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 49. Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 109. Ebd. Leib und Leben, Januar 1935, S. 25; Leib und Leben, September 1934, S. 3. Leib und Leben, September 1938, S. 190.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Nahrungsmittelanalysen und „feinste Bestimmungen von Mineralstoffen“ vornehmen, „in Kürze“ war auch der Nachweis von Vitaminen geplant. Nach und nach sollte das Institut alle Nahrungsartikel der Reformwarenindustrie durcharbeiten.449 Ende 1940 wurde dann eine „Reichsgesundheits-Gütemarke“ mit der altgermanischen „Lebensrune“ eingeführt, die die geprüften und für gut befundenen Produkte erhielten.450 Aus dem Sortiment der Neuform-VDR untersuchte das Dresdner Institut zunächst 150 Produkte, von denen 63 die Gütemarke erhielten, darunter Erzeugnisse der mittlerweile meist alteingesessenen, schon um die Jahrhundertwende entstandenen Unternehmen Eden (Oranienburg), Donath (Lockwitzgrund), De-Vau-Ge (Hamburg), Milupa Pauly (Friedrichsdorf), Nuxo (Hamburg), Batscheider (Deisenhofen), Kondima (Karlsruhe), Weghorn (Schwabach) und Schmidt (Dippoldiswalde). Weitere 34 Waren erhielten einen Gütestempel mit der Aussicht, bei bestimmten Verbesserungen auch die Marke zu bekommen, 53 Produkte wurden abgelehnt.451 Daß die staatliche Gütemarke in Konkurrenz zum 1932 eingeführten „Neuform-Zeichen“ treten mußte, ist offensichtlich. Seit dem Herbst 1935 und im Jahr 1936 hatte das von der Genossenschaft getragene Fachblatt für den Reformwarenfachmann regelmäßig aus dem 1935 gegründeten „Neuform-Laboratorium“ berichtet, das das „Neuform-Zeichen“ verlieh. Diese Texte waren im Grunde genommen Werbeartikel für Reformhausprodukte, mit Zahlentabellen über Nährwertgehalt, spezifisches Gewicht und chemische Inhaltsstoffe verbrämt. Mittlerweile hatte die „Fachabteilung Reformhäuser“, die das Fachblatt seit dem Sommer 1937 herausgab, die Neuform-VDR aber so weit in den Hintergrund gedrängt, daß diese Rubrik nicht mehr erschien. Die „Fachabteilung“ stellte die neue Gütemarke denn auch als ganz im Einklang mit dem Bemühen der Reformhäuser um Verbraucherschutz dar und betonte, die Reformhäuser hätten sich schließlich nicht aus egoistischen Gründen für Schaffung und Vertrieb von Qualitätswaren eingesetzt, sondern um der Gesundheit des Volkes förderlich zu sein. Daher sei „klar, daß es das Bestreben des Reformhauses sein muß, in seinem Warensortiment möglichst viele Erzeugnisse mit der Reichsgesundheitsgütemarke zu führen.“ Dann aber folgen die Sätze: „Aber wir können uns vorstellen, daß das Reformhaus auch in Zukunft Waren führen wird, die diese Reichsgesundheitsgütemarke nicht haben. […] Im Rahmen dieser Betrachtung wird klar, daß auch das sogenannte Neuformzeichen sich seine Bedeutung erhalten kann, ja sogar seine Bedeutung behalten muß.“452 449 450

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Leib und Leben, Oktober 1938, S. 214. Leib und Leben, Oktober 1940, S. 108; Leib und Leben, November 1940, S. 123; Leib und Leben, Dezember 1940, S. 136. – Zur Gütemarke auch MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 193f. Der Reformwarenfachmann vom 15. November 1941, S. 177. Zu den anerkannten Erzeugnissen auch Leib und Leben, Februar 1942, S. 19. Der Reformwarenfachmann vom 15. November 1941, S. 178. Vgl. auch Der Reformwarenfachmann vom 24. April 1941, S. 73.

2.2. Organisation

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An diesem leisen Aufbegehren mit dem Verweis auf die Bedeutung des „Neuform-Zeichens“ wird deutlich, wie wenig angetan die Reformwarenwirtschaft – und eben nicht nur die Neuform-VDR, sondern auch die „Fachabteilung“ – von der staatlichen Gütemarke war. Müller hatte Vertretern der Branche noch während einer Verhandlung im Juni 1937 zugesagt, auf die Schaffung eines staatlichen Wertzeichens zu verzichten, und, wie es der Herstellervertreter Walther Schoenenberger ausdrückte, anerkannt, daß „die Neuform die Stelle ist, der die Marktregelung im Reformhaus zusteht.“ Die Forschungsstelle in Dresden sollte, darin war man damals mündlich übereingekommen, sämtliche eingesandten Waren – unabhängig davon, ob sie zum Warenprogramm der Neuform-VDR gehörten – daraufhin prüfen, ob sie „biologisch“ seien oder nicht. Die Prüfung sollte jedoch keinen Einfluß auf den Vertrieb in Reformhäusern haben, das Prüfungsergebnis nicht zu Werbezwecken verwertet werden.453 Auch wenn die staatliche Gütemarke die Reformhausbetreiber nicht „rechtlich“ band, war ihr tatsächlicher Einfluß doch groß. Sie wirkte selbstverständlich auch in die Wirtschaft hinein und beeinflußte, was die Reformhäuser verkauften und was nicht. Das zeigen auch Aussagen der „Fachabteilung Reformhäuser“ über die Warenprüfung durch das Dresdner Institut. In der Vergangenheit der Reformhäuser und der Lieferanten seien „Irrtümer“ nicht ausgeblieben, schrieb das Mitteilungsblatt Der Reformwarenfachmann im Mai 1939, und zum Teil bestünden sie „noch heute“. „Hier setzt die Arbeit des Forschungsinstitutes ein. Es wird dafür sorgen, daß Falsches beseitigt und das Vorhandene wissenschaftlich durchdrungen wird.“454 Hinzu kam, daß der im September 1940 vom „Hauptamt für Volksgesundheit in der Reichsleitung der NSDAP“ gegründete „Reichsgesundheits-Prüfungs- und Beratungsdienst“ (RGD), der die Gütemarke verlieh, durchaus auch Waren „von Firmen, die vom Reformhaus und seinen Bestrebungen bestimmt noch nicht viel gehört haben“, für gut befand. Somit war 1941 damit zu rechnen, daß solche Waren in Kürze auf den Reformmarkt kämen. „Den Reformhäusern selber schadet das nichts. Aber ihre altbefreundeten Lieferanten könnten ins Hintertreffen geraten, wenn sie sich mit dem bewährten Alten begnügen, ohne auch an das bessere Neue, an die Fortschritts- und Entwicklungsarbeit zu denken.“455 Für den Begriff der Reformware stand Anfang 1942 eine „endgültige Formulierung“ nach wie vor aus.456 Mit dem Versuch, den Ausdruck einzugrenzen und zu sichern, ist auch eine Debatte über den Begriff „Reformhaus“ selbst verknüpft. Bedenken entstanden hier nicht nur, weil der Begriff der Reform als unbestimmt galt, sondern auch aus der Vermutung heraus, das Wort „Haus“ könnte für viele eine gewisse Größe der Geschäfte implizieren, wohl in Anlehnung an das Warenhaus. In wenigstens einem Fall ging der Streit vor Gericht, wobei das Amts- und 453

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Brief von Walther Schoenenberger (Schoenenberger Pflanzensaftwerk, Magstadt bei Stuttgart) an Ulrich Sabarth (Reform-Würz-Diät K.-G., Berlin-Halensee) vom 21. Juni 1937, S. 2. Eden-Archiv Oranienburg. Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 110. Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1941, S. 47. Der Reformwarenfachmann vom 15. Januar 1942, S. 1.

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2. Lebensreform als Netzwerk

das Landgericht Dresden die Eintragung als „Reformhaus“ im Jahr 1938 für unzulässig hielten. Das Oberlandesgericht München hob diese Urteile am 15. März 1939 wieder auf mit der Begründung, in der Verschmelzung mit „Reform“ verliere das Wort „Haus“ die erwähnte Bedeutung. Fortan konnte sich also jedes Geschäft, das Reformwaren führte, ohne Rücksicht auf seine Größe „Reformhaus“ nennen.457 Dazu, daß sich der Begriff des Reformhauses in den dreißiger Jahren endgültig durchsetzte, trug auch die „Fachabteilung“ maßgeblich bei, indem sie ihn ihren Mitgliedern für deren Geschäfte empfahl. „Wir kennen Reformhäuser mit den Namen ,Gesundkosthaus‘, ,Diäthaus‘, ,Edelkosthaus‘ und ,Edelhaus‘. Auch ,Reformgeschäfte‘ sind vorhanden. Alle diese Bezeichnungen sind heute unangebracht und dienen nur dazu, den klaren Begriff ,Reformhaus‘, der bei der Bevölkerung und bei den Behörden anerkannt ist, zu verwischen und zu verwirren.“458 Auch Bezeichnungen wie „Erstes Düsseldorfer Reformhaus“, „Hygiene-Reformhaus“ und „Vollreformhaus“ seien überflüssig oder gar irreführend. Für „Thalysia-Reformhaus“ und „Neuform-Reformhaus“ hatte die „Fachabteilung“ hingegen „volles Verständnis“. „Neuformhaus“ und „Thalysiahaus“ aber erschienen schon wieder bedenklich, ebenso „Bezeichnungen romantischer oder ideeller Natur“ wie „Eden“, „Vitamina“, „Kraftschöpfung“, „Jungbrunnen“ und „Zukunft“. Die „Fachabteilung“ hoffte, „daß diese Bezeichnungen bald verschwinden und Platz machen einer einfachen unzweideutigen und realen Bezeichnung: ,Reformhaus Müller‘ oder ,Reformhaus Schneider‘.“ So bürge der Besitzer mit dem eigenen Namen für die Güte der Waren.459 Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es etwa 2000 Reformhäuser. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Konjunkturlage, die man im nachhinein eine Scheinblüte genannt hat460 oder auch eine „Staatskonjunktur in extremer Form“, die, da sich der Staat nach einer Initialzündung nicht zurückzog, enorme Wachstumschancen verschenkte461 , verzeichnete die Reformbranche große Umsatzzuwächse: „Viel breitere Schichten als früher wenden sich unserer Qualitätsware zu, und auch die Kunden, die früher schon bei uns kauften, sind zahlungskräftiger geworden.“ Zudem erleichtere die nationalsozialistische Auffassung von gesunder Volksernährung „unsere Verkaufsarbeit außerordentlich“.462 Zur selben Zeit trat Alfred Liebe wegen abermaliger „Gerüchte“ als Geschäftsfüh-

457 458 459 460 461

462

Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 126. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juli 1938, S. 170. Der Reformwarenfachmann vom 15. August 1938, S. 198. So mit Blick auf die gewerblichen Genossenschaften im allgemeinen FAUST, Geschichte der Genossenschaftsbewegung (wie Anm. 203), S. 310. CHRISTOPH BUCHHEIM, Zur Natur des Wirtschaftsaufschwungs in der NS-Zeit, in: ders./MICHAEL HUTTER/HAROLD JAMES (Hrsg.), Zerrissene Zwischenkriegszeit. Wirtschaftshistorische Beiträge. Baden-Baden 1994, S. 97–119, hier S. 101, 111, 119. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juni 1939, S. 137.

2.2. Organisation

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rer zurück.463 Damit ging der ohnehin schon geschwächte Einfluß der NeuformVDR auf dem Reformwarensektor des „Dritten Reiches“ ganz zu Ende. Besonders deutlich wird das an einem Bericht der Zeitschrift Der Reformwarenfachmann über eine Generalversammlung der Genossenschaft im September 1940. Die Zeitschrift war, wie erwähnt, nicht mehr die Stimme der NeuformVDR, sondern der „Fachabteilung Reformhäuser“. Die Vorgänger-Zeitschriften Neuform-VDR-Fachblatt und Fachblatt für den Reformwarenfachmann hatten über Generalversammlungen der Neuform-VDR immer ausführlich und oft mit vielen Fotos berichtet. Oft umwarben sie schon im vorhinein die Mitglieder, doch an der nächsten Generalversammlung teilzunehmen. Die neue Branchenzeitschrift Der Reformwarenfachmann schrieb jetzt: „Über den rein geschäftsmäßigen Verlauf der Tagung im einzelnen zu berichten, ist hier nicht der Ort; es genügt, wenn das Ergebnis der Wahlen mitgeteilt wird.“ Dennoch ließ es sich der Berichterstatter nicht nehmen, eine weitere Tagung zu kommentieren, die einen Tag vor der Generalversammlung und im Zusammenhang mit ihr stattgefunden hatte. Insbesondere schalt er Alfred Liebe. Dieser habe „als Partei“ gesprochen und „Maßnahmen verteidigt, die er als Geschäftsführer der Neuform VDR getroffen hat.“ Der Autor unterstellte Liebe, durch die Darstellung seiner „subjektiven Sicht der Dinge“ einen falschen Eindruck erweckt zu haben.464 Im Oktober 1942 konnte Der Reformwarenfachmann dann aber zufrieden feststellen, die Generalversammlungen der Neuform-VDR verliefen nun schon seit einigen Jahren „ziemlich glatt, wenigstens wenn man sie vergleicht mit denen früherer, sehr bewegter Zeiten.“465 Bei Kriegsausbruch setzte die „Fachabteilung Reformhäuser“ die Berufsfortbildungskurse vorübergehend aus, da das Reformhaus „sich mit allen Kräften der Versorgung des Volkes mit den Nahrungs- und Bedarfsgütern des täglichen Lebens zu widmen“ habe. Einige Warengruppen, wie Milch und Milcherzeugnisse, Öle und Fette, Zucker und Marmelade, Nährmittel, Kaffee und Ersatzmittel, schwarzer Tee, Seifen und Seifenerzeugnisse und Mehl wurden bezugsscheinpflichtig, für Milch und Milcherzeugnisse sowie Öle und Fette mußten zudem Kundenlisten geführt werden.466 Obst- und Gemüsekonserven durften am Beginn des Winters noch nicht verkauft werden, weil die gemüsearme Zeit erst noch komme.467 Besonders wurde nun auch das Vollkornbrot gefördert, weil es 463

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In einem Rundbrief des Aufsichtsrats der Neuform-VDR und der „Hilfs- und Förderungsgenossenschaft für Reformunternehmen“ (HFR) an die Mitglieder beider Vereinigungen hieß es im Juni 1939, gegen Liebe seien in letzter Zeit heftige Angriffe vorgetragen worden, und „von interessierter Seite“ würden entsprechende Gerüchte verbreitet. Zur Zeit werde dies geprüft und versucht, den Ursprung der Gerüchte zu finden. Liebe habe schon vor mehreren Wochen aus persönlichen Gründen um Auflösung seines Dienstvertrages gebeten. Es seien keine „Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsführung, die der Genossenschaft einen materiellen Schaden hätten zufügen können“, festgestellt worden. NeuformRundbrief vom 16. Juni 1939. Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1940, S. 149f. Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1942, S. 109. Der Reformwarenfachmann vom 15. September 1939, S. 222. Der Reformwarenfachmann vom 15. Dezember 1939, S. 276.

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2. Lebensreform als Netzwerk

volkswirtschaftlich wie gesundheitlich von besonderem Nutzen sei, da es den Nährwert des Getreides besser ausnutze als Brot aus Weißmehl.468 Der Reichsgesundheits- und Reichsärzteführer Leonardo Conti mit seinem „Hauptamt für Volksgesundheit“ in der Reichsleitung der NSDAP schuf 1939 einen „Reichsvollkornbrotausschuß“ aus Ärzten, der Gesundheitsführung, der „Deutschen Arbeitsfront“, der „Fachgruppe Brotindustrie“, dem Lebensmittel- und Reformwareneinzelhandel und vielen anderen Gruppen und gliederte ihn seinem Amt an.469 Der Ausschuß sollte den Begriff des Vollkornbrotes festlegen und Vollkornbrote auf ihre Qualität hin prüfen.470 Auch das Dresdner Forschungsinstitut prüfte seit 1939 Vollkornbrote, ursprünglich nur aus dem „Gau Sachsen“, seit dem 1. Juni 1940 dann auch aus dem „Gau Sudetenland“. Vom 1. Januar bis zum 30. September 1940 wurden dort laut Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 4114 Brote untersucht.471 Als neue Organisation, die sich ebenfalls im wesentlichen mit dem Vollkornbrot und der Festlegung des Begriffs der Reformwaren beschäftigte, entstand im April 1940 ein „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“, dessen Vorsitz der Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ Paul Neuhaus übernahm.472 Die „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“, der auch die „Fachabteilung Reformhäuser“ angehörte, rief den Lebensmitteleinzelhandel im Januar 1940 dazu auf, sich an der „Vollkornbrotaktion“ zu beteiligen.473 Im Sommer 1942 ordnete der Reichsgesundheitsführer Conti an, daß die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ in den „Deutschen Volksgesundheitsbund“ zu überführen sei, womit alle Laien-Gesundheitsbewegungen unter diesem Dach zusammengefaßt waren. Die „Deutsche Lebensreform“ trug mittlerweile – passend zum übrigen Erstarren des nationalsozialistischen Systems – nicht mehr den Beinamen „Bewegung“. Sie wurde als „selbständige Organisation der Lebensreformwirtschaft“ unter dem „Hauptamt für Volksgesundheit“ neu geordnet. Es sollte vier Gruppen geben, ähnlich wie einst im mittlerweile aufgelösten „Nationalverband“: Reformwarenhersteller, Reformwarenfachleute, Reformwarengaststätten und Kur- und Erholungsheime.474 Die zunächst kommissarische, dann längerfristig gedachte Leitung der „Deutschen Lebensreform e.V.“, die zur Jah468

469 470 471 472

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474

Vgl. dazu UWE SPIEKERMANN, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im „Dritten Reich“, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, März 2001, H. 1, S. 91–128. Zum „Reichsvollkornbrotausschuß“ und zur „Vollkornbrotaktion“ im Krieg MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 190–198. Der Reformwarenfachmann vom 15. Dezember 1939, S. 274f. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 49. Der Reformwarenfachmann vom 15. August 1940, S. 114; Der Reformwarenfachmann vom 15. September 1940, S. 129; ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 53. – Der „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“ war einer von acht Arbeitskreisen, die gemeinsam wiederum den „Großen Arbeitskreis“ der „Deutschen Lebensreform“ bildeten. Vgl. BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 224f. Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Reichsgeschäftsstelle an den engeren Beirat und die Geschäftsstellen der Bezirksfachgruppen, 13. Januar 1940. BArch, R 13/XXX/102. Der Reformwarenfachmann, Ende August 1942, S. 85.

2.2. Organisation

103

reswende 1942/43 in „Deutsche Reformwarenwirtschaft e.V.“ und wenige Monate später in „Reichsverband Deutscher Reformunternehmen“ umbenannt wurde, übernahm nicht mehr Müller, der aus Gründen ausgeschaltet wurde, die selbst dem umtriebigen Branchenpolitiker Walther Schoenenberger unbekannt blieben475 , sondern der Oberregierungsrat Karl-Heinrich Franke. Er machte den Leiter der „Fachabteilung“ Paul Neuhaus zu seinem Stellvertreter.476 Franke übernahm auch die Führung des „Deutschen Volksgesundheitsbundes“. Der „Reichsverband Deutscher Reformunternehmen e. V.“ mit Sitz in München, der Conti unmittelbar unterstand, war zwar vor allem eine Dachorganisation für die Fachvereinigungen, nahm aber auch einzelne Unternehmer auf, die ihren Betrieb „vorbildlich“ führten.477 Schon seit Anfang 1940 herrschte Warenmangel im Reformhaus. Einige Warengruppen wie Trockenfrüchte, Nüsse und Pflanzenmargarine fehlten durch die verringerten Einfuhrmöglichkeiten völlig. Andere wie Lebkuchen, Dauerbackwaren und Schokolade waren nur eingeschränkt lieferbar. Die „Fachabteilung Reformhäuser“ sprach sich aber dagegen aus, auch andere Warengruppen als Reformerzeugnisse ins Programm aufzunehmen: „Niemals darf es einem Reformhaus gleichgültig sein, welche Waren es verkauft.“478 Das dürfte den meisten Reformhausinhabern, sofern sie nicht ohnehin ihre Geschäfte schlossen, weil sie zum Heeresdienst eingezogen wurden479 , aber spätestens seit 1943/44 in der Tat einigermaßen gleichgültig gewesen sein, gab es doch kaum noch etwas zu verkaufen. Zu diesem Zeitpunkt, als so gut wie alle Reserven – auch an Kleidung – in den Haushalten aufgezehrt waren, jeden Monat fast 25.000 Wohngebäude zerstört wurden und Teile der Bevölkerung verelendeten480 , fehlten auch im Reformhaus die meisten Warengruppen. Gründe waren der Rohstoffmangel, der Mangel an Arbeitskräften für die Verarbeitung, der eingeschränkte Transport und die Tatsache, daß die Front bei Warenlieferungen bevorzugt wurde.481 Bomben zerstörten viele Reformhäuser ganz oder zum Teil, und auch die Geschäftsstelle der Neu475 476 477 478 479 480

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Schoenenberger, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 17. Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1942, S. 110; Der Reformwarenfachmann, Ende Januar 1943, S. 2. Der Reformwarenfachmann, Anfang September 1943, S. 45–47. Der Reformwarenfachmann vom 10. Februar 1940, S. 17. Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1941, S. 89. Zur wirtschaftlichen Lage der Zivilbevölkerung in den Jahren nach 1942 ROLF-DIETER MÜLLER, Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, in: BRACHER/FUNKE/JACOBSEN (Hrsg.), Deutschland 1933–1945 (wie Anm. 350), S. 357–376, hier S. 370. – Christian Gerlach argumentiert, die Ernährungskrise im Deutschen Reich und in den von ihm besetzten Gebieten habe 1942 den Mord an den Juden im Generalgouvernement Polen und im Westen des Reichskommissariats Ukraine beschleunigt. Zunächst habe man „arbeitsunfähige“ Juden ermordet, um die Ernährung der nichtjüdischen Polen zu verbessern. In einer zweiten Phase sei man dann zur „restlosen“ Ermordung übergegangen, um Forderungen nach Agrarprodukten aus dem Reich zu erfüllen. Vgl. CHRISTIAN GERLACH, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg. Zürich 2001 [zuerst Hamburg 1998], S. 153–234. Der Reformwarenfachmann, Juni 1944, S. 1.

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2. Lebensreform als Netzwerk

form-VDR in Berlin wurde 1944 beschädigt.482 Die Siegermächte lösten 1945 die „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ und damit auch die „Fachabteilung Reformhäuser“ auf. 2.2.2.2.4. Naturheilkunde Hatte die im Kaiserreich erfolgreiche Naturheilkunde nach dem Ersten Weltkrieg rasch an Bedeutung verloren, so lebte sie im „Dritten Reich“ kurzzeitig wieder auf. Die „Neue Deutsche Heilkunde“ sollte nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten eine „organische“ Synthese von Naturheilmethoden und Schulmedizin herstellen. In Nürnberg wurde 1935 die „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ gegründet.483 Ihr konnten nur juristische, nicht natürliche Personen als Mitglieder beitreten.484 Ihr Leiter wurde Karl Kötschau (1892– 1981)485, der bis an sein Lebensende publizistisch aktiv bleiben und noch in den siebziger Jahren einen „Mangel an Auslese und Ausmerze“486 beklagen sollte. Im Jahr 1934 eröffnete das „Rudolf-Heß-Krankenhaus“ in Dresden. Heß hatte sich am 28. November 1933 im Völkischen Beobachter dafür ausgesprochen, „daß die Naturheilkunde den Rang erhält, der ihr gebührt“, und gefordert, „daß Schulmedizin und Naturheilkunde sich gegenseitig befruchten und ergänzen“.487 Neben einer chirurgischen Abteilung hatte das Krankenhaus eine Ernährungsabteilung, eine psychotherapeutische Abteilung, eine Abteilung für allgemeine biologische Methoden und eine hydrotherapeutische Abteilung. Die Leiter dieser Abteilungen waren bekannte Ärzte und Naturärzte wie der Schweizer Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939), Ragnar Berg (1873–1956), Alfred Brauchle (1898– 1964)488 und Werner Zabel (1894–1978)489 .490 Die erste Reichstagung der Arbeitsgemeinschaft fand im April 1936 in Wiesbaden statt.491 Reichsärzteführer Gerhard Wagner löste die Organisation aber schon am 2. Januar 1937 wieder auf, also eineinhalb Jahre nach ihrer Gründung. Im Deutschen Ärzteblatt gab Wagner dafür formale Gründe an. Eine Studie zur „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ vermutet, daß auch die „Schwierigkeiten, die Natur482 483 484 485 486 487 488 489 490 491

Am 10. Juni 1944 forderte die Gauwirtschaftskammer Berlin einen Sachverständigen für die Begutachtung eines Kriegsschadens in der Neuform an. Notiz in: BArch, R 13/XXX/83. Zur Reichsarbeitsgemeinschaft HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58). JÜTTE, Geschichte der alternativen Medizin (wie Anm. 40), S. 48. Zu Kötschau HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58), S. 85–99; SIEVERT, Naturheilkunde (wie Anm. 272), S. 192–202. KARL KÖTSCHAU, Naturmedizin – Neue Wege. Mensch und Natur sind ein Ganzes. Leer (Ostfriesland) 1978, S. 43. Völkischer Beobachter vom 28. November 1933. Zit. nach Edener Mitteilungen, Nr. 1/3, Januar/März 1934, S. 3. Zu Brauchle GUNDEL URSULA PLUM, Alfred Brauchle (1898–1964). Leben und Werk eines Arztes und Forschers der Naturheilkunde. Diss. Bonn 1993. Zu Zabel MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 307, Fn. 106. Leib und Leben, September 1934, S. 23. Leib und Leben, April 1936, S. 90. Zum Verlauf der Tagung HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58), S. 59–71.

2.2. Organisation

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ärzte überhaupt in einer einheitlichen Organisation zusammenzufassen, mitverantwortlich waren.“ Die Naturärzte hätten sich nicht auf die Synthese mit der Schulmedizin eingelassen. Umgekehrt hätten sich aber auch die Schulmediziner gegen die Zusammenarbeit gesträubt, weil sie ihr „Monopol“ gefährdet gesehen hätten. Insgesamt hätten sich die nationalsozialistischen Entscheidungsträger seit etwa 1936 wieder von der Naturheilkunde ab- und einer „exakten Wissenschaft“ zugewendet.492 Auch den Laienverbänden der Naturheilbewegung schenkten ranghohe nationalsozialistische Funktionäre – vor allem in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ – besondere Aufmerksamkeit.493 Sie förderten die Naturheilbewegung stärker als die Reformwarenwirtschaft, die zu sehr eine eigene wirtschaftliche Macht darstellte, die es zunächst einmal zurechtzustutzen galt, und erst recht stärker als den organisierten Vegetarismus, den man des Pazifismus verdächtigte. Die Mitgliederzahlen der Laienverbände lagen wohl auch deshalb weit höher als die der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ mit ihren paartausend Mitgliedern. Allein der 1897 gegründete „Kneipp-Bund“ hatte in den dreißiger Jahren mehr als 50.000 Mitglieder, die Mitgliederzahlen der Naturheilvereine waren noch deutlich größer.494 Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“, der die Vereine für Naturheilkunde nach wie vor zusammenfaßte, erhielt 1934 in Anlehnung an Vinzenz Prießnitz (1799–1851), der im österreichischen Schlesien eines der ersten Naturheilsanatorien gegründet hatte und als Begründer der Naturheilkunde verehrt wurde495 , den Namen „Prießnitz-Bund“. Parallel zur Gründung der „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ wurde 1935 in Nürnberg auch die „Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweisen“ gegründet, die dem Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit Gerhard Wagner unterstand.496 Im Mai 1935 fand unter der Schirmherrschaft des „Frankenführers“ Julius Streicher eine Reichstagung der deutschen Volksheilbewegung in Nürnberg statt, auf der sich Verbände der Naturärzte, der homöopathischen, der anthroposophischen und der psychotherapeutischen Ärzte sowie Ärzte für Klima- und Bäderkunde und Heilpraktiker mit Laienverbänden wie dem „Prießnitz-Bund“, der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und dem „Kneipp-Bund“ trafen. Die allopathischen Ärzte, also die Schulmediziner, folgten der Einladung hingegen nicht. Neben Streicher reiste auch Reichsärzteführer Wagner zu der Veranstaltung, zu der auch ein Festakt im Nürnberger Ufa-Palast gehörte. Der Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ Karl Kötschau hielt einen Vortrag über die Ziele der „Biologischen Medizin“, und Alfred Brauchle als Leiter der Klinik für Naturheilkunde am Rudolf-Heß-Krankenhaus sprach über „naturge492 493 494 495 496

HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58), S. 125–132. So auch SÜß, Der „Volkskörper“ (wie Anm. 32), S. 34. Kneipp-Blätter, H. 1, 1998, S. 120. Zu Prießnitz ROTHSCHUH, Naturheilbewegung (wie Anm. 35), S. 68–73. Zur Gründung der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweisen“ HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58), S. 49–57; BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 198f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

mäße Heilbehandlung“. Die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ war an einer gleichzeitigen Ausstellung unter dem Motto „Die Macht des Blutes“ „stark beteiligt“ und stellte sich damit der Öffentlichkeit zum ersten Mal vor.497 Ähnliche Veranstaltungen hielt die „Reichsarbeitsgemeinschaft“ seit ihrer Gründung alle zwei Jahre ab: 1937 in Düsseldorf, 1939 in Stuttgart und zum letzten Mal 1941 in Weimar.498 Ebenfalls 1941 überführte Conti die „Reichsarbeitsgemeinschaft“ – wie auch die „deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ und die organisierte Reformwarenwirtschaft – in den „Deutschen Volksgesundheitsbund“. 499 2.2.2.3. Wiederaufbau und Vertiefung (1945–1989) „Das neuform-Büro war beschlagnahmt, das Inventar lag im Hof und auf der Straße“, und die Räume waren teilweise von Bomben zerstört.500 Mit „mühsam gerettetem Restmobiliar und wenigen Akten“ begannen die geschäftsführenden Vorstandsmitglieder Alfred Lobbedey (1905–1979) und Georg Erwin Schwarz (1907–1982) im Jahr 1945 an der Wassertorstraße in Berlin-Kreuzberg den Neuanfang der Genossenschaft.501 Doch die Einheit der Neuform, die sich schon seit Anfang der vierziger Jahre vermehrt und nach dem Krieg dann fast immer mit kleinem „n“ schrieb502 und das „VDR“ meist wegließ, war im Deutschland der Besatzungszonen in Gefahr. Im Juli 1946 versandten Vorstand und Aufsichtsrat einen mahnenden Rundbrief an die Genossenschaftsmitglieder, in dem es hieß: „Die Trennung unserer Heimat durch Zonengrenzen hat die Frage aufkommen lassen, ob die jetzige Organisation unserer Genossenschaft noch zweckmäßig ist. Die unterschiedliche Behandlung der uns berührenden Probleme, z.B. des Arzneimittelverkaufs in den einzelnen Zonen und Ländern kann zu dem Wunsche führen, durch Verselbständigung und besonderen Zusammenschluß von Gruppen eine bessere Chance für die Reformhäuser zu erlangen. Wir haben Berichte vorliegen, daß Bestrebungen im Gange sind, die solche besonderen Zusammenschlüsse herbeiführen wollen. Grundsätzlich ist ein engerer bezirklicher Zusammenschluß unserer Mitglieder erwünscht, es kommt nur darauf an, ob es um eine Gruppenbildung innerhalb unserer Genossenschaft geht, oder um Zersplitterungsbestrebungen.“

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Edener Mitteilungen, Nr. 3, Heuet–Gilbhard (= Juli–Oktober) 1935, S. 109f. (Autor dieses Artikels ist Hanns Georg Müller); Neuform-Rundschau, Juni 1935, S. 154f.; Vorträge Kötschaus und Brauchles in: ebd., S. 156–161; vgl. auch Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 275. Zu den Reichstagungen BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 199–202. Zum „Deutschen Volksgesundheitsbund“ BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 202–211. Neuform-Echo, März 1975, S. 24. Neuform-Echo, April 1979, S. 24. Die veränderte Schreibweise mit kleinem „n“ wird hier – außer in wörtlichen Zitaten – um des Leseflusses willen nicht mitvollzogen. Dasselbe gilt für Zeitschriften der Reformbranche, deren Namen sich mal klein, mal groß schrieben. Um Verwirrung zu vermeiden, ist in dieser Arbeit beispielsweise immer großgeschrieben vom Neuform-Echo die Rede, obwohl es sich seit 1954 neuform-Echo und später neuform-echo schrieb. Entsprechendes gilt für die Reform-Rundschau, die sich seit März 1967 reform-rundschau nannte.

2.2. Organisation

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Der Brief endete mit den Sätzen: „Vergessen Sie nicht, daß unsere Genossenschaft, Ihre Genossenschaft ist. Sie haben die gleiche Verantwortung wie wir, die in dieser schweren Zeit die undankbare Aufgabe übernommen haben, die Genossenschaft zu leiten.“503 Beschwörende Worte wie diese verhinderten aber nicht, daß 1947 aus der Not heraus drei westdeutsche „Zonengenossenschaften“ entstanden: die „Nordwestdeutsche Neuform, Vereinigung Deutscher Reformhäuser“ mit Sitz in Düsseldorf, die „Neuform, Vereinigung Deutscher Reformhäuser in Hessen“ mit Sitz in Frankfurt und die „Lebensreform“ mit Sitz in München. Außerdem entstanden eine weitere Genossenschaft mit Sitz in Hamburg und eine „Südwestdeutsche Neuform“ in Stuttgart.504 In der „Ostzone“ entstand keine neue Teilgenossenschaft. Die Mitglieder der regionalen Genossenschaften waren nahezu ausschließlich nach wie vor auch Mitglieder der Berliner Hauptstelle der Neuform, zahlten ihre Beiträge jetzt aber an die neuen Genossenschaften. Somit waren die Befürchtungen der Berliner Zentrale eingetreten: Die Neuform war zersplittert. Die „Stammgenossenschaft“ oder auch „Stamm-Neuform“, wie sie sich nunmehr nannte, verblieb als organisatorischer Torso im von den Westzonen abgeschnittenen West-Berlin. Aufgrund der politischen Lage war sie zu „stärkerer Berücksichtigung des Westens“ entschlossen. Anfang 1949 stand die „Stammgenossenschaft“ aber zunächst vor der Situation, daß ihre Mitglieder im Westen zum größten Teil auch einer der westdeutschen Genossenschaften angehörten, an die sie ihre Beiträge zahlten. Das brachte die „Stamm-Neuform“, deren Eigenkapital durch Krieg und Kriegsfolgen ohnehin stark vermindert war, noch in zusätzliche Geldnot. Anfang 1949 zahlten ihr nur noch drei Hersteller Förderungsbeiträge. Mit ihnen hatte sie im Vorjahr erstmalig Verträge abgeschlossen. Die anderen, mit denen noch Verträge aus der Vorkriegszeit bestanden, verweigerten vorübergehend die Zahlungen. Vor allem nach der Währungsreform waren die Beiträge von Mitgliedern und Lieferanten stark zurückgegangen.505 Die westdeutschen Genossenschaften versuchten nun ihrerseits, sich unter Ausschluß der Berliner Hauptstelle zu vereinigen. Nachdem im Herbst 1948 ein erster Einigungsversuch fehlgeschlagen war506 , veranstalteten sie zu diesem Zweck am 20. März 1949 in Marburg abermals Generalversammlungen. Es erschienen aber nicht genügend Mitglieder der „Nordwestdeutschen Neuform“, so daß das Vorhaben an der Beschlußunfähigkeit dieser Teilgruppe scheiterte. Im 503 504

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Neuform-Rundbrief, Nr. 1, 21. Juli 1946. Ein Hinweis auf die Hamburger Genossenschaft findet sich nur im Neuform-Echo, August/September 1957, S. 211, nicht aber in den auffindbaren Quellen der vierziger Jahre. Bei der Verschmelzung zur „Westdeutschen Vereinigung Deutscher Reformhäuser“ (dazu unten im Text) waren 1949 nur noch die „Nordwestdeutsche Neuform“ und die „Hessische Neuform“ sowie die „Lebensreform“ übrig. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., Nr. 3, Februar/März 1949, S. 5, 7f.; Neuform-Rundbrief vom 16. September 1949, S. 1. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., Nr. 3, Februar/März 1949, S. 3.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Laufe der folgenden Monate brachten die „Nordwestdeutsche Neuform“, die „Hessische Neuform“ und die „Lebensreform“ die Einigung zu einer „Vereinigung Westdeutscher Reformhäuser“, die sich ebenfalls „Neuform“ nannte und ihren Sitz in Frankfurt haben sollte, dann aber doch auf den Weg. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Reformhäuser im Westen wieder auf 600 gestiegen. 507 Das waren hundert Geschäfte mehr als unmittelbar nach dem Krieg.508 Im „Großdeutschen Reich“ hatte es kurz vor Kriegsausbruch noch 2000 Reformhäuser gegeben. Viele von ihnen, vor allem in großen Städten, in denen es schon immer deutlich mehr Reformhäuser gegeben hatte als auf dem Land, waren ausgebombt. Das galt auch für das traditionsreiche, schon 1904 gegründete Frankfurter Reformgeschäft „Boermel-Ernst“. Das zweitälteste Frankfurter Reformgeschäft, die 1910 gegründete „Freya“, brannte 1943 aus.509 Aus den ehemaligen Ostgebieten – 1945 gab es etwa im Sudetenland 26 Reformhäuser510 – mußten auch viele Reformhausinhaber flüchten. Am 22. August 1949 tagten eine ordentliche Generalversammlung der Berliner „Stamm-Neuform“ und eine außerordentliche der neuen „Neuform, Vereinigung Westdeutscher Reformhäuser“ in Hannover. Die „Westdeutsche Neuform“ setzte folgendes auf ihre Tagesordnung: „Auflösung der Genossenschaft oder Verschmelzung mit der Neuform, Vereinigung Deutscher Reformhäuser“. Diese Alternative begründete die „Westdeutsche Neuform“ damit, „daß im Augenblick dieser Einladung noch nicht feststeht, ob die von den Generalversammlungen der unterzeichnenden Genossenschaften beschlossene Verschmelzung zu einer einheitlichen westdeutschen Genossenschaft aus formalen Gründen Rechtskraft erlangt hat bzw. überhaupt erlangen kann.“ Die Berliner „Stammgenossenschaft“ kündigte für ihre Generalversammlung den Tagesordnungspunkt „Verschmelzung“ an.511 Allerdings waren beide Versammlungen beschlußunfähig, weil nicht genügend Mitglieder angereist waren – im Fall der „Stamm-Neuform“ hätte ein Viertel der Genossen anwesend sein müssen.512 Dessenungeachtet nahm die Generalversammlung der „Stammgenossenschaft“ aufgrund der „eingetretenen politischen und wirtschaftlichen Vorgänge“ einige Satzungsänderungen an – wie sie das mit der Beschlußunfähigkeit vereinbarte, ließ sie offen. Der Passus „Reichsbürger im Sinne der Nürnberger Gesetzgebung“ – was laut dem „Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 1935 geheißen hatte: Staatsangehörige „deutschen oder artverwandten Blutes“513 – entfiel bezüg507 508 509

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Reform-Rundschau, Juli 1949, S. 2. Lebensreform – neues altes Lebensziel (wie Anm. 176), S. 31. Fragebogen Verlag Gerd Ammelburg, ausgefüllt vom Reformunternehmen Boermel-Ernst, Stempel vom 29. Januar 1955. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S 3/R 1110; Freya – 75 Jahre im Dienst der Gesundheit, in: Frankfurter Nachrichten vom 26. September 1985. Neuform-Echo, März 1972, S. 27. Einladungen zu den Generalversammlungen der Neuformgenossenschaften vom 1. August 1949, S. 3. Neuform-Rundbrief vom 16. September 1949, S. 2. In § 2 Abs. 1 hieß es: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in

2.2. Organisation

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lich der Aufnahmevoraussetzungen genauso wie die Forderung, der oder die Betreffende müsse „bei der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Fachgruppe Nahrungsund Genußmittel, Fachabteilung Reformhäuser (Nahrungs-, Körperpflege- und Kurmittel) als Mitglied gemeldet“ sein514 : Die Alliierten hatten alle diese Organisationen aufgelöst. Beide Genossenschaften beriefen kurze Zeit später weitere Generalversammlungen ein. Die „Westdeutsche Neuform“ tagte in Falkenstein im Taunus, die „Stamm-Neuform“, die vor allem Berliner und Mitglieder aus der „Ostzone“ erwartete, in Berlin.515 Dort beschlossen sie jeweils die Verschmelzung mit der jeweils anderen zur „Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser“. Der Anschluß der Länder- und Zonengenossenschaften an die „Stammgenossenschaft“ Neuform VDR wurde am 24. März 1950 in das Genossenschaftsregister beim Amtsgericht Berlin eingetragen.516 Damit gab es wieder eine einheitliche Neuform-Genossenschaft. Die meisten Herstellerbetriebe für Reformwaren im Westen nahmen nach Kriegsende die Produktion wieder auf. Daneben entstanden neue Herstellerunternehmen, die die Branche oft als Konkurrenz empfand, zumal einige Reformhausinhaber deren Waren in ihr Programm aufnahmen, was den alteingesessenen Lieferanten zu schaden schien. Die Neuform bezeichnete die Neugründungen Anfang 1949 als „Firmen für die Herstellung mehr oder weniger guter Waren gerade derjenigen Gattungen, die bisher Hauptumsatzartikel der Reformhäuser waren. Diese Erzeugnisse fanden aus verschiedenen Gründen ihren Absatz nicht nur in Drogerien oder Feinkostgeschäften, sondern auch in Reformhäusern.“ Eine „scharfe Trennung der Branchen“ gebe es daher „eigentlich nur noch dort, wo der Reformhausinhaber seiner Aufgabe als verantwortungsbewußter Reformwarenfachmann treu geblieben“ sei.517 Eines der ältesten lebensreformerischen Unternehmen, nämlich OranienburgEden mit seiner Obstproduktion, lag in der Ostzone und drohte den westdeutschen Reformhäusern verlorenzugehen. Seit 1950 unternahm Kurt Großmann (1906– 1990), Mitarbeiter in Eden seit 1924, in Bad Soden am Taunus den Versuch, „einen Teil des Arbeitsgebietes der Eden Gemeinnützigen Obstbau-Siedlung e.G.m.b.h. Oranienburg-Eden, im Bundesgebiet wieder erstehen zu lassen.“518 Das Stammhaus Oranienburg-Eden in der DDR blieb zunächst Hauptgesellschafter. 1963 überführte das Unternehmen einen Teil des Gesellschafteranteils in die

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Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Vgl. Reichsgesetzblatt 1935, Teil 1. Berlin 1935, S. 1146. Satzung der Neuform-VDR vom 17. September 1941. BArch, NS 3/1302; Antrag auf Satzungsänderungen für die Generalversammlung am 22. und 23. August 1949. Anlage zum Neuform-Rundbrief vom 1. September 1949. Neuform-Rundbrief vom 1. September 1949. Neuform-Echo, August/September 1957, S. 240. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., Nr. 3, Februar/März 1949, S. 1–3, hier S. 2. Eden-Hauspost, Nr. 1, Januar 1955, S. 1. Zur Gründung und weiteren Entwicklung der „Eden-Waren GmbH“ in Bad Soden sowie zur Eden-Stiftung BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37), S. 238–254.

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2. Lebensreform als Netzwerk

neu gegründete „Eden-Stiftung zur Förderung naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege“.519 Eden wurde 1972 zum „volkseigenen Betrieb“. Zwar äußerten Branchenangehörige immer wieder die Hoffnung, wieder eine Einheitsgenossenschaft wie die Neuform-VDR von 1930 schaffen zu können. Das aber hielt man aus rechtlichen Gründen für unmöglich.520 In den Jahren 1949 bis 1952 scheiterte aber eine reibungslose Zusammenarbeit von Herstellern und Neuform an den Spannungen zwischen den beiden Gruppen. Von einer Renaissance der „Einheitsfachgenossenschaft“ von 1930 waren Genossenschaft und Lieferanten damals ohnehin weit entfernt. Im „Dritten Reich“ waren die meisten Hersteller in der 1937 gegründeten Werbegemeinschaft WDR organisiert gewesen, deren Arbeit 1949 weitgehend ruhte. An ihre Stelle trat zunächst vorübergehend ein „Verband der Reformwarenhersteller“ mit Sitz in Hannover. Dieser kündigte die noch laufenden Verträge seiner Mitglieder mit der Neuform, um an die zerrüttete Genossenschaft, deren Zukunft damals noch ungewiß war, keine Beiträge mehr zahlen zu müssen.521 In der ersten Jahreshälfte 1950 entschloß sich die Neuform, nicht mehr über die jetzt offenbar doch wieder aktiv gewordene WDR als „Zwischenträger“ mit den Unternehmen zu verhandeln, sondern „vermittels unmittelbarer Verträge“.522 Die Hersteller erhielten aber schon wenig später eine neue und vergleichsweise kraftvolle Vertretung, was den direkten Kontakt der Genossenschaft zu den Unternehmen erschwert haben dürfte. Im August 1950 entstand nämlich eine „Arbeitsgemeinschaft der Reformwarenhersteller“ (ADR) mit Sitz in Oberursel – die Neuform saß noch in Berlin – aus einigen „alten Pionierfirmen“. Sie machte Alfred Liebe, der die Neuform-VDR 1939 verlassen hatte, zu ihrem Geschäftsführer. Liebe war mittlerweile Leiter des Unternehmens „Milupa Reform“ in Friedrichsdorf am Taunus nordwestlich von Frankfurt am Main und hatte als solcher „trotz jahrelanger Abwesenheit von der Reformwarenwirtschaft sehr schnell wieder Kontakt zu den Reformhausbesitzern“ gefunden.523 Vorsitzender der ADR wurde zunächst Walther Schoenenberger, der – ähnlich wie Liebe auf der Seite der Reformhäuser – auch schon vor dem Krieg auf Herstellerseite der wichtigste Branchenvertreter gewesen war. Die ADR machte sich, obgleich ein Herstellerverband, zunächst die Werbung für das Reformhaus zur Aufgabe. Sie begriff sich also als Nachfolgerin der Werbegemeinschaft WDR, die sich formal allerdings erst 1952 auflöste. Im Laufe des ersten Jahres des Bestehens der ADR schlossen sich ihr alle Hersteller, die Mit-

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Eden – ein Inbegriff der Gesundheit. Sonderdruck aus der Kneippstädter Publikation „Kurspiegel“ [Faltblatt]. Eden-Archiv Oranienburg. Klare Ziele (wie Anm. 234), S. 14. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., Nr. 4, April–Juni 1949, S. 9–13. Neuform-Fachblatt, August 1950, S. 3. Das Reformwaren-Echo vom 1. August 1950, S. 4.

2.2. Organisation

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glieder der WDR waren oder gewesen waren, an.524 Schon im Herbst 1950 machte sich die neugegründete Arbeitsgemeinschaft neben der Werbung auch die Branchenpolitik im weiteren Sinne zur Aufgabe.525 „Die Fühlungnahme mit der Neuform“ stieß aus Sicht der ADR „zunächst auf Schwierigkeiten“, aber nach zwei vorangegangen Besprechungen kam es dann am 12. November 1950 in Düsseldorf vor 160 Branchenangehörigen zu einem vorläufigen „Friedensschluß“ in Form von Gegenseitigkeitsverträgen. Bei der Unterzeichnung tauschten die beiden Parteien, vertreten durch Karl Dielmann (1897–1980) von der Neuform und Walther Schoenenberger von der ADR, ihre Füllfederhalter aus. 526 Schoenenberger erklärte aber schon im Frühjahr 1951 die Kündigung der Verträge mit der Begründung, die Neuform habe sich vertragswidrig verhalten. Mit den Reformhäusern selbst wollte die ADR aber weiterhin zusammenarbeiten und ihnen insbesondere Werbematerial zur Verfügung stellen527 – schließlich waren sie es, welche die Reformerzeugnisse der Hersteller verkaufen sollten. Anläßlich einer Generalversammlung der Neuform schlug die ADR dann im April 1951 vor, eine gemeinsame paritätisch besetzte Brancheneinrichtung für die Werbe- und Förderungsarbeit zu schaffen. Da die Generalversammlung ebenfalls in Düsseldorf stattfinden sollte, bot es sich an, auf den Versuch der Brancheneinigung vom 11. und 12. November des Vorjahres zu verweisen und die angebliche „Rolle des Rheinlandes“ für die Einigkeit von Herstellern und Reformhausinhabern insgesamt zu betonen. Die ADR beschwor in diesem Zusammenhang, von Fotografien unterstützt, auch die Bilder der Generalversammlung von 1936 in Köln mit der dort angeblich herrschenden „Brancheneinheit“, die aber eigentlich schon seit 1934 nur noch in Verträgen, nicht mehr in einer geschlossenen Organisation bestanden hatte. Außerdem stellte sie die – mittlerweile beide verstorbenen – Mitgründer der Neuform-VDR von 1930, den Edener Fritz Hampke (1885– 1950) und Hans Gregor (1897–1935), ebenfalls mit Fotos als Verfechter der „Brancheneinheit“ dar.528 Die Neuform ließ sich davon aber nicht beeindrucken, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, daß sie den Vorschlag der ADR unmittelbar angenommen hätte. Ungefähr zur selben Zeit schloß die Neuform, wie es die Mitgliederzeitschrift der ADR formulierte, „eine Reihe namhafter und alter Reformhausbesitzer“ aus, als „Revolutionäre“, wie es die Genossenschaft selbst im Rückblick darstellte.529 Der Anlaß ist nicht überliefert, aber auch diese Begebenheit kann für die Spannungen stehen, die die Branche zu Beginn der fünfziger Jahre prägten. Die ausge524

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Reformwaren-Echo vom 1. August 1951, S. 189. – Die Zeitschrift der ADR hieß 1950 Das Reformwaren-Echo und in den Jahren 1951 und 1952 ohne bestimmten Artikel Reformwaren-Echo. Das Reformwaren-Echo vom 1. November 1950, S. 43f. Das Reformwaren-Echo vom 1. Dezember 1950, S. 63, 73–76; SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 18f. Reformwaren-Echo vom 1. März 1951, S. 55. Reformwaren-Echo, Sondernummer vom Tag der Neuform-Generalversammlung [6. Mai 1951], S. 105, 115–118. Neuform-Echo, September 1978, S. 21.

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2. Lebensreform als Netzwerk

schlossenen Reformhausbetreiber verbanden sich im Juli 1951 zu einer „Förderungsgemeinschaft der Reformhäuser“ (FDR) als Gegenorganisation zur Neuform.530 Im November überraschte die ADR die Neuform dann mit einer „Gayelord Hauser Aktion“. Der Amerikaner Württemberger Abstammung pries die „fünf Wundernährmittel“ Bierhefe, Magermilchpulver, Joghurt, Weizenkeime und Rohrzuckermelasse an und versprach: „Ihr könnt 100 Jahre leben“.531 Hausers Ernährungsmethode hatte infolge eines Berichts in der Zeitschrift Reader’s Digest in Deutschland großen Anklang gefunden. Auch einige Reformhäuser machten gute Umsätze mit den von Hauser empfohlenen Nahrungsmitteln. Mit der Begründung, man dürfe sich „gegen die von Hauser aufgerüttelten Menschen nicht isolieren“, veröffentlichte die ADR Anzeigen von ihr angeschlossenen Unternehmen, die etwa Rohrzuckermelasse und Magermilchpulver herstellten.532 Der Neuform mit ihren eigenen Vertragsherstellern und ihrer eigenen Produktpolitik erschien das als Affront, und sie sandte ihren Mitgliedern Anfang Februar 1952 einen Fragebogen über die Erfahrungen und Einstellungen zu „Gayelord-HauserProdukten“. Die Herstellerseite empfand das wiederum als Brüskierung der „Hauser-Vertragsfirmen“. 533 Auf einem Treffen noch im November 1951 diskutierten die Branchenangehörigen über das Thema Hauser. An den Verhandlungen nahmen auch einige Vertreter der in der FDR vereinten ausgeschlossenen ehemaligen Neuform-Mitglieder teil. Außerdem kam Walther Schoenenberger, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Vorsitzender der ADR war. Branchenangehörige nahmen Schoenenberger offenbar zunehmend als eigene Partei wahr. ADR und Neuform erklärten ihre „Mißverständnisse“ für beendet. Zugleich nahm die Neuform die ausgeschlossenen Mitglieder, die die FDR gegründet hatten, wieder auf. Der Grund dafür ist nicht überliefert. Außerdem entstanden ein „Branchenrat der Reformwarenwirtschaft“ aus Mitgliedern beider Organisationen sowie ein „Fachausschuß Werbung und Presse“ und ein „Fachschulausschuß“.534 Es gab aber anscheinend nach wie vor noch viel „Maulwurfsarbeit und Kulissenpolitik“ von Branchenangehörigen, die die Verständigung anzweifelten.535 Im März 1952 gründeten ADR und Neuform in Koblenz dann „Die Deutsche Reformwarenwirtschaft“ als eingetragenen Verein und behaupteten: „Die Brancheneinheit ist vollzogen“. Der paritätisch besetzte Vorstand des Vereins ging aus dem „Branchenrat der Reformwarenwirtschaft“ hervor.536 Schon im Juli warf Schoenenberger dem Neuform-Vorstand Karl Dielmann dann aber wieder „Obstruktion“ vor, und dieser erklärte seinen Rücktritt – aus Sicht der Hersteller 530 531 532 533 534 535 536

Reformwaren-Echo vom 1. August 1951, S. 199. GAYELORD HAUSER, Bleibe jung – lebe länger! Stuttgart/Hamburg 1951, S. 22–25, 30. Reformwaren-Echo vom 5. November 1951, S. 305–307. Neuform-Fachblatt, Februar 1952, S. 1–14, 35. Reformwaren-Echo vom 1. Dezember 1951, S. 325f. Reformwaren-Echo vom 1. Januar 1952, S. 3. Reformwaren-Echo, April 1952, S. 109–111; Reformwaren-Echo, Mai 1952, S. 147; Neuform-Fachblatt, März/April 1952, S. 3–5.

2.2. Organisation

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deswegen, weil es nun auch „dem Aufsichtsrat der Neuform und seinem Vorstandskollegen zu dumm“ mit ihm wurde537 , er also gewissermaßen zum Rücktritt gedrängt worden sei. Im August 1952 fand dann eine Generalversammlung der Neuform statt, nach der man abermals von erreichter Brancheneinheit sprach, was sich diesmal auch als einigermaßen berechtigt erweisen sollte. Die Generalversammlung stimmte der Gründung einer gemeinsamen „Förderungsgesellschaft der Reformwarenwirtschaft“ (FDR, in späteren Jahren F.d.R.) mit Sitz in Oberursel zu. Neuform und Hersteller trugen die FDR zu gleichen Anteilen.538 Der Verwaltungsrat der FDR hatte sechs Mitglieder, jeweils drei von Neuform und Vertragsherstellern539 – inzwischen gab es wieder viele Verträge der Genossenschaft mit Reformwarenproduzenten. Mit der finanziellen Unterstützung von Reformhausinhabern hatte die FDR eine ähnliche Funktion wie in den dreißiger Jahren die „Hilfs- und Förderungsgenossenschaft für Reformunternehmen“ (HFR). Daneben war sie aber auch eine Marketingorganisation, die sich mit Werbung für das Reformhaus befaßte, übernahm also auch Aufgaben der Werbegemeinschaft WDR. Etwa gleichzeitig mit der Neugründung lösten sich die ADR, die (alte) „Deutsche Reformwarenwirtschaft e.V.“540, die WDR und die HFR auf. Nachfolger der ADR war der „Verband der Reformwaren-Hersteller“ (VRH), zu dem sich fast alle Vertragshersteller der Neuform zusammenschlossen. Bei seiner Gründung am 7. Juli 1952 hatte der Verband ungefähr 50 Mitglieder.541 Die Neuform sollte 70.000 Mark zum Stammkapital der „Abteilung Treuhand“ der FDR einzahlen, die Hersteller sollten sich mit 110.000 Mark beteiligen. Die neue Gesellschaft betonte, daß sie für den organisatorischen Aufbau zunächst einiges Geld investieren müsse: für die Kapitalertragssteuer, für Gerichts- und Notarkosten und für Büroräume und Personalkosten. Dieser Hinweis diente wohl dazu, die Hoffnungen allzu zuversichtlicher Neuform-Mitglieder auf Unterstützung zu dämpfen. Die Hilfe bei der „Schaffung eines neuen Absatzgebietes durch die Existenz-Neugründung eines Flüchtlings“ sollte für die FDR vordringlicher sein als die Eröffnung einer „dritten Filiale“ durch einen „Reformhausbesitzer ,Schulze oder Müller‘“. In der Wichtigkeit gleich hinter dem Flüchtling stand in der Ausgebombte, dessen Mittel zur Existenzgründung nicht ausreichten. „Inwieweit wir in einigen Jahren schon in der Lage sind, einen großzügigeren Standpunkt einzunehmen, steht auf einem anderen Blatt.“542 537 538

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Reformwaren-Echo, Juli 1952, S. 236. Neuform-Echo, September 1952, Sonderbeilage u. S. 310. Diese FDR war nicht identisch mit der „Förderungsgemeinschaft der Reformhäuser“ (FDR), die ein Jahr zuvor die aus der Neuform ausgeschlossenen Reformhausinhaber gegründet hatten. Neuform-Echo, September/Oktober 1958, S. 252. Die „Deutsche Reformwarenwirtschaft e.V.“ von 1942/43, die wenige Monate später in „Reichsverband Deutscher Reformunternehmen“ unbenannt wurde, war die Nachfolgerin der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“, vgl. oben S. 103. Im März 1952 war in Koblenz die neue „Deutsche Reformwarenwirtschaft e.V.“ entstanden, vgl. oben im Text. Diese bestand weiterhin. SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 6. Neuform-Echo, Oktober 1952, S. 336f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Rückblickend empfand man 1952 als ein Jahr der Einigung. Die Geschäftsstelle der Neuform zog im Januar 1953 im Sinne einer „Zentralisation in der Branche“ von Berlin nach Bad Homburg, wie sie es schon 1949 bei der Vereinigung mit der „Westdeutschen Vereinigung Deutscher Reformhäuser“ beschlossen hatte. In Bad Homburg saßen jetzt in Gemeinschaftsbüros Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Neuform, der FDR, der (neuen) „Deutschen Reformwarenwirtschaft e.V.“, des Verlags der Branchenzeitschrift Neuform-Echo und der Kundenzeitschrift Neuform-Kurier, des Sekretariats der Reformhaus-Fachschule und der Pressestelle der Neuform.543 Zum 1. Juli zogen die Organisationen dann innerhalb Bad Homburgs in das „Haus der Lebensreform“ an der Kaiser-Friedrich-Promenade um544, wo sie, wie schon am ersten Bad Homburger Standort, ebenfalls zur Miete unterkamen. Der juristische Sitz der Genossenschaft war aber laut Satzung noch 1969 Berlin. Im Jahr 1975 zog die Neuform in einen eigenen Neubau ins benachbarte Oberstedten545, das seit 1972 zu Oberursel gehörte. In den siebziger Jahren wurde auch der juristische Sitz der Genossenschaft nach Oberursel verlegt. Seit 1952 gab es außerdem einen „Fachverband der Reformhäuser“ (Refo) im „Hauptverband des Deutschen Lebensmitteleinzelhandels“. Vorsitzender des „Refo“ wurde der ehemalige Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ in der „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ Paul Neuhaus. Seine Stellvertreter waren Franz Thiemann (1906–2000) und Fritz Fellisch (geb. 1906).546 Die Organisation hatte ihren Sitz ebenfalls in Bad Homburg und beschäftigte sich mit Themen wie dem Schutz des Namens Reformhaus und dem Entwurf des neuen Arzneimittelgesetzes.547 Die Frage, inwieweit Waren, die als Arzneimittel besonderen Vorschriften unterlagen, in Reformhäusern verkauft werden durften und wie sie von apothekenpflichtigen Waren abzugrenzen waren, hatte schon seit den dreißiger Jahren immer wieder für Unsicherheit und Streit gesorgt. Im Januar 1955 fand die erste Mitgliederversammlung des „Refo“ statt, der sich von da an „Bundesfachverband Deutscher Reformhäuser e.V.“ nannte.548 Auch nach 1955 war eine der wichtigsten Aufgaben des „Refo“ die Beratung der Branche in Fragen des Arzneimittelrechts und der Arzneimittelgesetze. Außerdem beschäftigten ihn Fragen des Lebensmittelrechts, des europäischen Rechts und des Schutzes von Bezeichnungen wie „Reformhaus“ und „Reformware“. Er war der „Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels“ angegliedert.549 Auf private Initiative einzelner Branchenangehöriger gab es seit Januar 1947 wieder Fachschulkurse, zunächst im „Kurheim am Aufstieg“ in Kronberg im Taunus, dann in Königstein im Taunus. 550 Von 1952 an war die Förderungsgesell543 544 545 546 547 548 549 550

Neuform-Echo, Januar 1953, S. 11. Neuform-Echo, Juni 1953, S. 230. 50 Jahre Neuform (wie Anm. 162), S. 4. Neuform-Echo, September 1952, S. 306. Neuform-Echo, November 1952, S. 413. Der „Refo“ schrieb sich in späterer Zeit mit kleinem „r“. Hier wird aus Gründen der Lesbarkeit an der Schreibweise mit großem „R“ festgehalten. Neuform-Echo, Februar 1955, S. 49. Neuform-Echo, Juli 1975, S. 20; Neuform-Echo, August 1977, S. 22.

2.2. Organisation

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schaft FDR Trägerin einer neuen Fachschule, die seit Januar 1954 zwischenzeitlich auch im „Haus der Lebensreform“ untergebracht war. Später trug sie eine „Stiftung Reformhausfachschule“ mit den Stiftern „Refo“, Neuform, FDR, VRH und „Verein der Förderer der Fachschule“. Im Jahr 1956 entstand die noch heute bestehende Reformhaus-Fachschule in Oberstedten in einem ehemaligen Kinderheim, das die Fachschule kaufte. Anfang der fünfziger Jahre nahm die Neuform den Fachschulbesuch als Vorbedingung für die Mitgliedschaft in ihre Satzung auf. Die Zahl der zu absolvierenden Kurse und deren Dauer schwankte. Im Jahr 1974 wurde die Reformhaus-Fachschule in Reformhaus-Fachakademie umbenannt. Für die Lehrlingsausbildung im Reformhaus gab es zunächst noch keine einheitlichen Richtlinien. Viele Lehrlinge besuchten Drogistenschulen oder Klassen des Lebensmitteleinzelhandels.551 1964 genehmigte die Industrie- und Handelskammer dann einen „Bildungsplan“ für die Lehrlinge der Reformhäuser, den der „Refo“ ausgearbeitet hatte.552 Seit den fünfziger Jahren war die sogenannte Branchenausweitung immer wieder im Gespräch. Die Nachfrage nach Reformprodukten und Reformgeschäften stieg. Auch Kaufleute, die sich nicht als Lebensreformer verstanden, zeigten sich interessiert daran, Neuform-Reformhäuser oder Neuform-Reformabteilungen in ihren bestehenden Geschäften zu eröffnen. Das galt vor allem für Drogisten. Die Neuform verfolgte hier das Konzept einer „gelenkten Ausweitung“. Das hieß, daß sie sich zwar nicht gegen die Aufnahme von Drogisten sperrte, aber doch ihre Eintrittsbedingungen verschärfte, um den Zustrom von Kaufleuten, die nicht aus dem Umfeld der Lebensreform kamen, zu begrenzen, um die lebensreformerische Idee aufrechtzuerhalten. Wer eine Aufnahme in die Genossenschaft erstrebte, mußte seit Anfang der fünfziger Jahre einen Einführungslehrgang an der Fachschule absolvieren, der 300 bis 400 Mark kostete, je nach Vorbildung eine zweibis sechsmonatige Volontärszeit in einem Reformhaus nachweisen und nach der Aufnahme 100 Mark Eintrittsgeld zahlen sowie wenigstens einen Geschäftsanteil erwerben, der 200 Mark kostete. Reformabteilungen mußten räumlich getrennt vom übrigen Geschäft sein und einen eigenen Eingang haben. „Wer trotz dieser Forderungen mitmacht, muß schon ein erhebliches Interesse an der Sache haben, das über das rein geschäftliche doch wohl hinausgeht.“553 In den folgenden Jahren nahm die Genossenschaft dann aber viele neue Mitglieder auf, oft mehr als zehn in einem Monat. Außerdem genehmigte sie fast ebenso viele Verkaufsstellen für Neuform-Waren in Drogerien, Apotheken und Lebensmittelgeschäften. Sie schloß jetzt viel seltener Mitglieder aus als noch in den dreißiger Jahren. Ausschlüsse trafen, wenn sie denn vorkamen, fast immer Drogerien und so gut wie nie Reformhäuser.554 In den fünfziger Jahren war das Bestreben, die Idee der Lebensreform „reinzuhalten“, wie man sagte, insgesamt noch stark. Es gab in der Branche aber auch 551 552 553 554

Klare Ziele (wie Anm. 234), S. 9. Der Naturarzt, Nr. 2, 1984, S. 34. Neuform-Echo, April 1954, S. 157f. Vgl. etwa Neuform-Echo, November 1957, S. 312f.; Neuform-Echo, Juli 1958, S. 212f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Bestrebungen, den Reformhausinhaber zum „Nur-Kaufmann“ und das Reformhaus zum „Kaufhaus“ zu machen, also alles Weltanschauliche und im engeren Sinn Lebensreformerische zu tilgen.555 Im Jahr 1951 entstand eine „Gesellschaft für Lebensreform“ als eingetragener Verein, die „in allen größeren Städten mit öffentlichen Veranstaltungen in den Sälen an die Bevölkerung herantreten“ und für die Idee der Lebensreform werben sollte. Die „Gesellschaft für Lebensreform“ wandte sich an Privatpersonen und rief in der Kundenzeitschrift Reform-Rundschau zu Anmeldungen auf. Die Nähe ihres Namens zur „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ Hanns Georg Müllers von 1934 mag verwundern. Die „8 Freunde Hans Gregors“, die den Verein an Gregors sechzehntem Todestag ins Leben riefen, beriefen sich aber auf eine „Gesellschaft für Lebensreform“, die Gregor angeblich schon 1930 gegründet hatte und die vor allem durch Kurse für „neuzeitliche Küchenführung“ hervorgetreten und im „Dritten Reich“ gleichgeschaltet worden sei.556 Mit dem „Deutschen Reform-Jugendwerk“ entstand 1950 außerdem eine eigene Jugendorganisation der Reform, die 1960 mehr als tausend557 Mitglieder zählte. Anfang der sechziger Jahre wurde außerdem die „Deutsche Reform-Jugend“ (drj) gegründet, so daß es in den sechziger Jahren zwei lebensreformerische Jugendorganisationen gab. Sie organisierten alkohol- und nikotinfreie, vegetarische Sommerlager und ähnliche Veranstaltungen, sollten also den Gedanken der Lebensreform in der Jugend fördern. 1972 ging das „Deutsche Reform-Jugendwerk“ in der „Deutschen Reformjugend“ auf558 , die bis heute besteht. Weitgehend unabhängig von der Reformwarenwirtschaft wurde 1952 außerdem die „Deutsche Volksgesundheits-Bewegung e.V.“ mit Sitz in Hilchenbach in Westfalen gegründet, der sich die meisten Verbände und Einrichtungen für „naturgemäße“ Lebens- und Heilweisen anschlossen. In den fünfziger Jahren veranstaltete sie sogenannte Volksgesundheitswochen und warb damit in der Öffentlichkeit für die lebensreformerische Idee.559 Neben dem organisatorischen Wieder- und Neuaufbau erforderte die Nachkriegszeit von der inzwischen nicht mehr ganz so jungen und innovativen Branche auch eine Auseinandersetzung mit neuen Strömungen im Lebensmitteleinzelhandel, vor allem mit der aus den Vereinigten Staaten kommenden Selbstbedienung. In Deutschland setzte sie sich seit dem Ende der fünfziger Jahre und damit vergleichsweise spät durch. Die Branchenzeitschrift Neuform-Echo beschäftigte sich erstmals Ende 1953 – zu diesem Zeitpunkt gab es insgesamt gut 150 Selbstbedienungsläden in Deutschland – mit dem modernen Verkaufskonzept. Der Autor Werner Altpeter argumentierte, das Reformhaus eigne sich durchaus zu einer „Teilselbstbedienung“, aber nur dann, „wenn es geräumig ist und in einer guten Geschäftsgegend liegt.“ Franz Thiemann habe als erster Reformhausbesitzer die „Teilselbstbedienung“ in einem neuen Geschäft im Stadtzentrum von Hannover 555 556 557 558 559

Vgl. Reformwaren-Echo vom 1. Juli 1951, S. 161. Reform-Rundschau, September 1951, S. 2. Laut Eden-Hauspost, April 1960, S. 3. Jugendkurier, Mai/Juni 1972, S. 10. Zu den „Volksgesundheitswochen“ vgl. unten S. 133.

2.2. Organisation

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eingeführt. Die Schriftleitung des Neuform-Echo stellte diese Ausführungen zwar zur Diskussion, bekannte sich aber zu der Ansicht, das Reformhaus verlange „eine individuelle Kundenberatung“, und vermutete, daß die Selbstbedienung „das persönliche Moment stark einschränken würde.“ Das Reformhaus dürfe nicht den Anstrich eines Warenhauses erhalten.560 Diese skeptische Haltung war nicht reformhausspezifisch. Der gesamte bundesdeutsche Einzelhandel folgte dem amerikanischen Selbstbedienungskonzept Anfang der fünfziger Jahre nur zögerlich. Der Kaufmann verstand sich in seinem Geschäft als „Herr im Hause“, der beriet und empfahl – seit ihrem Bestehen hatten auch die Branchenzeitschriften der Reformwarenwirtschaft die Reformhausinhaber über Verkaufsgespräche, Kundenkarteien und ähnliches belehrt. Hinzu kamen die beträchtlichen Investitionen in bauliche Veränderungen, die die Selbstbedienung erforderte.561 Trotzdem wuchs die Zahl der Selbstbedienungsgeschäfte im deutschen Lebensmitteleinzelhandel wenig später von 203 im Jahr 1954 auf mehr als 17.000 im Jahr 1960. Zudem nahm der Anteil der Selbstbedienungsläden am Gesamtumsatz von gut vier Prozent 1956 auf 62 Prozent 1964: Die „Durchdringung des Marktes“ schritt fort.562 Ein wichtiger Grund für diese Steigerung dürfte in zeitgenössischen Untersuchungen gelegen haben, die dem Selbstbedienungssystem gegenüber dem Bedienungssystem höhere Umsätze und damit auch Gewinne bescheinigten.563 Mit der Begründung, „daß die Möglichkeit, sich bedienen zu können, dem Wunsche vieler Verbraucher entspricht“, empfahl auch der „Bundesfachverband Deutscher Reformhäuser“, der „Refo“, den Reformhausinhabern Ende 1958, ernsthaft über die Selbstbedienung nachzudenken.564 Als 1960 in mehreren Ausgaben des Neuform-Echo unter der Überschrift „Das moderne Reformhaus“ Fotografien von Reformgeschäften erschienen, zeigten schon einige von ihnen Selbstbedienungsregale.565 Seit Beginn der fünfziger Jahre legte sich die finanzielle Nachkriegskrise der Reformbranche allmählich. Die Umsätze der Hersteller waren nach Angaben der Neuform bei einer Steigerung um 300 Prozent zwischen 1951 und 1954 „erfreulich hoch“. Sie lagen rund 50 Prozent über der Umsatzsteigerung der Reformhäuser.566 Im Jahr 1953 gab es wieder 800 Absatzstellen für Reformwaren, also Reformhäuser und an andere Verkaufsstellen angeschlossene Reformwarendepots, 1966 waren es schon 2200.567 Ebenfalls 1966 lag der Jahresumsatz der Reformhäuser bei 250 Millionen Mark. Der Edeka-Lebensmittel-Einzelhandel setzte im selben Jahr 9,6 Milliarden Mark um, der gesamte Lebensmittel-Einzel560 561

562 563 564 565 566 567

Neuform-Echo, Dezember 1953, S. 478f. KARL DITT , Rationalisierung im Einzelhandel: Die Einführung und Entwicklung der Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland, in: PRINZ (Hrsg.), Der lange Weg (wie Anm. 25), S. 315–356, hier S. 319–322. GRIES, Produkte (wie Anm. 27), S. 170. DITT, Rationalisierung (wie Anm. 561), S. 326. Neuform-Echo, Dezember 1958, S. 365–367. Vgl. auch Neuform-Echo, Januar 1959, S. 6f. Neuform-Echo, Februar 1960, S. 62; Neuform-Echo, März 1960, S. 105. Klare Ziele (wie Anm. 234), S. 11, 13. Lebensreform – neues altes Lebensziel (wie Anm. 176), S. 31.

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handel 42,6 Milliarden Mark.568 Ihre höchsten Umsätze erzielten die Reformhäuser in den achtziger Jahren. In den späten achtziger Jahren waren der Neuform rund 2800 Reformhäuser und Reformwarendepots angeschlossen.569 Seitdem ging die Zahl der Absatzstellen zurück. In den sechziger Jahren kam es vor, daß einzelne Reformhäuser Zigaretten, Bier und Wein anboten oder ihr Geschäft um eine Lotto-Annahmestelle erweiterten. Diesen Reformhäusern drohte die Neuform einen Ausschluß aus der Genossenschaft an, worauf diese die entsprechenden Waren zurückzogen. Dabei konnte die Neuform auf ihre Satzung verweisen, nach der es ein Ausschlußgrund war, „wenn trotz wiederholter Verwarnung Waren geführt werden, die mit dem Charakter als Reformhaus unvereinbar sind“.570 Umgekehrt tauchten Reformkostartikel zunehmend auch in ganz normalen Lebensmittelgeschäften auf, und das bereitete der Branche viel größere Schwierigkeiten. So richtete die Edeka-Gruppe schon im März 1957 eine Abteilung mit gesunden Lebensmitteln einer Produktlinie ein, die zunächst „Neuquell“ und seit 1958 „Wertkost“ hieß und unter anderem Diätmargarine, Sonnenblumenöl und Fruchtsäfte im Sortiment hatte.571 Das war nicht mehr mit dem Drogisten vergleichbar, der in der Zwischenkriegszeit auch einzelne Reformwaren verkauft hatte. Es war unmittelbare Konkurrenz in Form einer eigenen Marke, aufgezogen von einer der größten deutschen Lebensmittelketten und mit einem Namen, der zunächst stark an den der Neuform erinnerte. Laut dem „Refo“, der berufsständischen Vertretung der Reformhäuser, mehrten sich in den sechziger Jahren auch die „Fälle, in denen der Begriff bzw. die Verbindung des Begriffs Reform mit einer Lebensmittelbezeichnung nach unserer Meinung mißbräuchlich verwendet wird.“ Das geschehe nicht durch die Reformwarenwirtschaft, sondern vornehmlich durch „außerhalb stehende Wirtschaftskreise, die sich damit einen Wettbewerbsvorteil versprechen.“ Mit der Bezeichnung „Reform-“ versuchten diese dem Käufer eine Ware als etwas Besonderes darzustellen, „die noch nicht einmal die Qualität einer guten Konsumware erreicht.“ Zum Begriff „Reform-Honig“ liefen schon einige Prozesse, aber auch Öle, Fette, Fruchtsäfte und Kuchen seien betroffen. „Alle diese Versuche erscheinen uns wettbewerbsrechtlich sehr bedenklich, weil dem Verbraucher vorgetäuscht wird, es handele sich um eine besondere Ware, während in Wirklichkeit meistens nichts Besonderes vorliegt und in allen Fällen das reformerische Prinzip 568

569 570 571

Aufgaben und Bedeutung der Neuform für die Zukunft des Reformhauses. Grundsatz-Referat von Hans-Joachim Jentsch zur Generalversammlung der Neuform VDR 1967 in Mainz, S. 3. Lebensreform – neues altes Lebensziel (wie Anm. 176), S. 31; Geschäftsbericht der Neuform Vereinigung deutscher Reformhäuser eG 1989, S. 13. § 3 Abs. 3 Satzung der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H. vom Juli 1969. MICHAEL WILDT, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre. Frankfurt am Main 1996 [zuerst Hamburg 1994], S. 220. Vgl. auch Geschäftsbericht der neuform VDR e.G.m.b.H. für das Geschäftsjahr 1958/59, S. 1. Reformhaus-Fachakademie, Ordner Geschäftspapiere.

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absichtlich oder unabsichtlich mißverstanden wurde.“572 Mitbewerber am Markt nähmen – unberechtigt, wie der „Refo“ in einer Mischung aus moralischer Entrüstung und Eigeninteresse befand – von den Reformhäusern „erarbeitete“ Begriffe für sich in Anspruch. Aus dieser Lage heraus sei es „an der Zeit, gültig zu definieren, was ein ,Reformhaus‘ und was ,Reformware‘ ist.“573 Dabei seien Reformwaren von Reformhauswaren zu unterscheiden. Der Begriff der Reformwaren meinte ausschließlich Waren mit dem „Neuform-Zeichen“. Der Begriff der Reformhauswaren war weiter gefaßt: Wie der „Refo“-Vorstand im März beschloß und die Mitglieder des „Refo“ im November 1963 entschieden, sollte dieser Ausdruck als Sammelbegriff für alle Waren gelten, die unter Berücksichtigung bestimmter Auflagen im Rahmen des Reformhaus-Sortiments geführt werden konnten. Die Schwierigkeit der Sortimentsabgrenzung entstehe nicht zwischen Reformwaren und Reformhauswaren, sondern bei solchen Waren, die „dieses Sortiment zwar harmonisch vervollständigen, aber keine reformwidrigen Waren sein dürfen“, sogenannten Komplementärwaren. Das Reformhaussortiment ragte folglich über den engeren Bereich der Reformhauswaren und erst recht der Reformwaren hinaus und in jenen des allgemeinen Marktes hinein.574 Ein Beispiel ist der Bereich der Körper- und Schönheitspflegemittel: Manche Gegenstände, die der Körperpflege dienten, könne es mit einem besonderen reformerischen Akzent kaum geben, Zahnbürsten zum Beispiel. Es sei aber durchaus angebracht, das Sortiment durch sie zu ergänzen.575 Nach dem Krieg hatte die Neuform zunächst kein eigenes Labor mehr. Das 1939 eingeweihte Dresdner „Forschungsinstitut der Deutschen Lebensreform“ war durch den Krieg und die deutsche Teilung ohnehin außer Reichweite gerückt. Daher ließ die Genossenschaft Reformartikel in Bundesforschungsanstalten, landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsinstituten und in privaten Laboratorien untersuchen. Im Jahr 1973 richtete die Neuform in Bad Homburg dann wieder ein eigenes Labor mit modernen Geräten ein und testete dort seitdem regelmäßig Proben von Reformprodukten.576 Zwei Jahre später zog das Labor mit der Neuform nach Oberursel-Oberstedten um. Das Labor prüfte ein Produkt zunächst vor seiner Zulassung als Neuform-Vertragsware, also bevor es mit dem Zeichen der Genossenschaft ins Reformhaus gelangte. Auch danach kontrollierte die Neuform die Artikel immer wieder auf die Einhaltung ihrer Richtlinien, wozu Neuform-Mitarbeiter in der gesamten Bundesrepublik „verdeckt“ in Reformhäusern einkauften. Diese Richtlinien stellte die Neuform in den sechziger Jahren im Zuge der Diskussion über die „Reformwaren“ neu auf und entwickelte sie seitdem, den verfeinerten Analysemethoden entsprechend, weiter. Das Labor überprüfte die Erzeugnisse nicht nur auf sogenannte wertgebende Inhaltsstoffe, also Nährstoffe und Wirkstoffe, wie das schon in den dreißiger Jahren sowohl das „Neuform-Laboratorium“ in Berlin als auch das Dresdner For572 573 574 575 576

Vgl. Refo-Brief, Nr. 5, 1964, S. 1. Refo-Brief, Nr. 2, 1964, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Reform-Rundschau, August 1974, S. 16f.

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schungsinstitut getan hatten, sondern auch auf nicht erwünschte Rückstände und Schadstoffe wie Pestizide und toxische Schwermetalle. Mit ihrem eigenen „Qualitätslabor“ stellt die Reformhaus-Branche nach Neuform-Angaben einen der wenigen Vertriebswege dar, in dem auch von der Handelsseite her eine Qualitätskontrolle zusätzlich zu den Herstelleranalysen stattfand und stattfindet. Im Jahr 2002 gab die Neuform an, das Labor überprüfe wenigstens einmal im Jahr das vollständige Sortiment der Waren mit dem „Neuform-Zeichen“, es untersuche jährlich rund 25.000 einzelne Produkte.577 Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre waren insgesamt eine Zeit der Auseinandersetzung in den eigenen Reihen und zwischen den einzelnen Institutionen der Reformbranche. Mit der oben beschriebenen Einigung von Herstellern und Neuform im Jahr 1952 waren nicht alle inneren Schwierigkeiten behoben. Die Mitgliederzeitschrift Neuform-Echo verwies im Juni 1976 wohl nicht zufällig darauf, daß schon „bei der Gründung der neuform 1930 bei beiden Interessengruppen der Egoismus Pate stand“. 578 Intern war sogar – nur halb im Spaß – von „Branchenkrieg“ 579 die Rede. Der Reformwarenhersteller und Branchenfunktionär Walther Schoenenberger veröffentlichte 1967 einige „Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Situation der Reformwarenwirtschaft“.580 Darin analysierte er – als Privatmann, wie er betonte –angebliche Fehler und Mängel der Branche. So habe die berufsständische Vertretung, der „Refo“, zwar anfänglich erfolgreich an der Frage „Was ist eine Reformware?“ gearbeitet und auch für Lebensmittel im Reformhaus eine Definition gefunden, die sogar „von den Kommentatoren des Lebensmittelrechtes“ in die Literatur aufgenommen worden sei. Danach sei der Grundsatzausschuß des Verbandes aber „sanft eingeschlafen“: „Die Ursache dieser Schlafkrankheit liegt darin, daß die Neuform sich an der weiteren Bearbeitung der noch fehlenden Grundsätze nicht mehr interessiert gezeigt hat.“ Überhaupt arbeiteten Neuform und „Refo“ nicht ausreichend zusammen. Die „Gesellschaft für Gesundheitskultur“, wie die 1951 gegründete „Gesellschaft für Lebensreform“ inzwischen hieß, stagniere und beschränke sich darauf, Hausfrauenkurse in der Reformhaus-Fachschule in Oberursel anzubieten. Als große Gefahr schätzte Schoenenberger auch die „Gleichgültigkeit in großen Teilen der Branche“ ein. Die Generalversammlungen der Neuform verlören Jahr um Jahr an „Aktivität [sic]“, die Zahl der Teilnehmer gehe laufend zurück, und diejenigen, die kämen, seien immer die gleichen. Da sich die Konkurrenz für Gesundheitswaren immer mehr verschärfe, müsse das Reformhaus ein Spezialgeschäft bleiben. Es müsse ein Warensortiment anbieten, das möglichst nur im Reformhaus zu haben sei, sonst habe es „bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation im 577

578 579 580

Zum Neuform-Labor vgl. 75 Jahre Neuform – 75 Jahre Produktsicherheit und Beratungskompetenz. Qualität gestern und heute. Pressemitteilung der Neuform vom 14. Mai 2002, S. 2–4. Neuform-Echo, Juni 1976, S. 22. So Walther Schoenenberger in einem selbstgestalteten Comic-Heft für das Berliner Reformhausinhaber-Ehepaar Hubert, August 1956 [Kopie]. Eden-Archiv Oranienburg. Zum folgenden WALTHER SCHOENENBERGER, Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Situation der Reformwarenwirtschaft. o. O. 1967 [Selbstverlag], S. 1, 2–4, 8f.

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Einzelhandel keine Existenzberechtigung.“ Während sich andere Branchen zunehmend Mühe gäben, ihre Waren „den Reformbegriffen anzupassen“, seien „Marke und Reklame“ in der Reformwarenwirtschaft selbst oft „entscheidender als der Begriff ,Reform‘“, obwohl der Verbraucher „im Reformhaus eine Reformware“ erwarte.581 An der Schwelle zum Jahr 1962 schrieb auch die Hauszeitschrift der Bad Sodener „Eden-Waren GmbH“ Kurt Großmanns, die Reformwarenwirtschaft habe Sorgen: „Das Reformhaus steht heute, wirtschaftlich gesehen, in einem völlig anderen Lichtkegel als vor Jahren. Es steht heute weit, weit stärker im Wettbewerb als jemals zuvor. Der Existenzkampf wird immer härter.“ Auch wirke der europäische Markt „mit seinen Problemen und Auswirkungen“ immer mehr auf die Branche ein, außerdem seien die „zu erwartenden Auswirkungen des Arzneimittelgesetzes und der damit im Zusammenhang stehenden Werbeverordnung“ zu fürchten. Vertreter der gesamten Reformwarenwirtschaft, also der Reformhäuser und der Hersteller, müßten „wieder näher zusammenrücken“, um „den wettbewerbsrechtlichen Anforderungen der Zukunft“ gerecht zu werden.582 Aufgrund des Wettbewerbs nahm, wie schon erwähnt, in den sechziger und siebziger Jahren die Frage der „Branchenausweitung“ einen wichtigen Rang ein. „Sie war getragen von der Erkenntnis, daß Werbung, Produktentwicklung und Produktion der Reformwaren-Hersteller nur auf hohem Qualitätsstandard zu halten waren, wenn eine gewisse Absatzgröße vorhanden ist.“ Der „aufkommenden Reform-Konkurrenz in Supermärkten und Kaufhäusern“ wollte man mit einem breiten Netz von Fachhandels-Absatzstellen begegnen. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre befaßte sich der „Verband der Reformwaren-Hersteller“ auch mit Fragen der Packungsgestaltung und des Produktimages.583 Eine Art der Anpassung an veränderte Zeiten war in den siebziger Jahren die Aufnahme von Schönheitskosmetik in das Angebot der Reformhäuser. Von Anfang an hatten zur Reformwarenbranche auch Unternehmen gehört, die Körperpflegemittel herstellten. In den sechziger Jahren waren noch einige weitere Naturkosmetik-Produzenten hinzugekommen, so etwa 1959 die „Börlind GmbH“, die 1965 für ihre Naturkosmetik das „Neuform-Zeichen“ erhielt und damit Vertragslieferant der Neuform wurde.584 Gegen Kosmetik, die über Hautpflege hinausging und allein der Schönheit diente, gab es in der Branche aber große Widerstände. Bis heute trägt nicht einer der in Reformhäusern erhältlichen Lippenstifte das „Neuform-Zeichen“. Kosmetik und Körperpflege machten 1987 rund 13,5 Prozent des Gesamtsortiments aus. Die Lebensmittel hatten einen Anteil von rund 65 Prozent, wovon 14 581 582 583 584

Ebd., S. 10–13. Eden-Hauspost, Nr. 5, 1961, S. 2. SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 27. ANNEMARIE LINDNER, Ein Leben für die Naturkosmetik. Autobiographie. Weil an der Stadt 2000, S. 52. Der Name „Börlind“ ist eine Zusammenziehung aus den Namen der Anteilseigner, des Ehepaars Annemarie und Walter Lindner und des Drogisten Hermann Börner (1912–1995).

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2. Lebensreform als Netzwerk

Prozent diätetische Lebensmittel waren. Rund 21,5 Prozent des Umsatzes machten die Reformhäuser mit Naturarzneimitteln.585 Eine „Warenkunde für den Fachkaufmann im Diät- und Reformhaus“ aus den achtziger Jahren nennt als „wichtigstes Qualitätsmerkmal der neuform-Waren“ eine „höchstmögliche Naturnähe“.586 Die Gremien der Branche diskutierten aber schon seit längerem darüber, wo die Grenzen des „Natürlichen“ lägen. Durfte man Wirkstoffe aus der Natur ziehen, ihnen Alkohol beifügen und sie zu Toniken machen? Durfte man Vitamine isolieren und in Kapseln pressen, die zudem noch zum Teil aus Rindergelatine bestanden? Die Gesellschaft veränderte sich, und Nahrungsergänzungsmittel schienen angesichts von Zeitnot und Kantinenessen unerläßlich. Von „Vertretern der konsequenten, alternativen Richtung“ wurde mit Blick auf solche Anpassungsversuche an die moderne Gesellschaft der „Einwand gemacht, daß im Reformhaus […] zu viele Kompromisse geschlossen werden.“587 Im März 1977 hatte der VRH 65 Mitglieder588 , die Neuform 1400.589 Allen brancheninternen Streitigkeiten und Unsicherheiten zum Trotz war 1976 das für die Reformwarenwirtschaft bis dahin wirtschaftlich erfolgreichste Jahr. Zum selben Zeitpunkt stellte sie aber angesichts schlechter Prognosen für den Einzelhandel insgesamt und des „sehr vorsichtigen Verbraucherverhalten[s]“ schon fest: „Die goldenen Jahre sind vorbei; wir müssen uns allein von unserer Denkweise auf nüchterne, zu wenig Enthusiasmus neigende Entwicklungen einstellen.“590 Zwischen 1979 und 1986 konnten die Reformhäuser ihren Umsatz aber zunächst nochmals erhöhen: von 650 Millionen auf eine Milliarde Mark.591 Damit war der Höhepunkt der Branche erreicht. 2.2.2.4. Abtrennung: DDR In der sowjetischen Besatzungszone eröffneten in den ersten Jahren nach dem Krieg einige Reformhäuser wieder, etwa in Halle, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg.592 Manche von ihnen konnten sich bis zur „Wende“ von 1989 halten. Viele andere aber schlossen bald wieder, vor allem, weil das Angebot an Waren – das Wort „Produkte“ kannte der „theoretische und politökonomische Offizialdiskurs im Sozialismus“ nicht593 – stark eingeschränkt war und sich auch viele 585 586 587 588 589 590 591 592 593

100 Jahre Reformhaus-Geschichte. Themen für gesundheitsbewußte Verbraucher, Verlagsbeilage im Journalist. Remagen-Rolandseck 1987, S. 14. ERNST MANN/HANS HENRICH KÜSTHARDT, Warenkunde für den Fachkaufmann im Diätund Reformhaus. 2. Aufl. Bad Homburg 1987 [zuerst 1983], S. 10. Der Naturarzt, Nr. 2, 1984, S 35. Mitgliederverzeichnis in: SCHOENENBERGER, 25 Jahre VRH (wie Anm. 162), S. 33–36 50 Jahre Neuform (wie Anm. 162), S. 4. Neuform-Echo, Juli 1977, S. 4–7. Vgl. 100 Jahre Reformhaus-Geschichte. Themen für gesundheitsbewußte Verbraucher. Verlagsbeilage im Journalist. Remagen-Rolandseck 1987, S. 15. Telefonat mit Roland Bloeck, Vorstandsvorsitzendem der Eden-Genossenschaft Oranienburg i. R., am 1. Juli 2003. GRIES, Produkte (wie Anm. 27), S. 215.

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Herstellerbetriebe nicht halten konnten. Was blieb, waren sogenannte Diätregale in der Handelsorganisation (HO) und im Konsum. Wichtige Reformhauswaren wie Quark und Nüsse waren in der DDR nicht erhältlich.594 Einige Reformhausinhaber im Osten bezogen die Kundenzeitschrift Reform-Rundschau, soweit sie, wie man das nannte, „durchging“.595 Ende 1956 schätzte die Neuform, „daß in Mitteldeutschland noch ca. 160 bis 190 private Reformhäuser bestehen“. Davon entfielen 50 bis 70 auf Sachsen, 30 bis 40 auf Sachsen-Anhalt, 40 auf Thüringen, 10 auf Mecklenburg und 30 auf Ost-Berlin und Potsdam. Außerdem bestanden „ca. 10 staatliche und genossenschaftliche Reformwarenbetriebe. Sie führen im staatlichen Sektor die Bezeichnung ,HO-Diät‘ (HO = Handelsorganisation) und im genossenschaftlichen Sektor die Bezeichnung ,Konsum-Reformwaren‘.“ Unter den Lieferanten dominierten die „volkseigenen“ Hersteller, die zum großen Teil aus alten Privatbetrieben hervorgegangen waren, etwa der „VEB Lockwitzgrund-Dresden“ und der „VEB Thalysia“ in Leipzig.596 Der Obstbaubetrieb Eden in Oranienburg wurde 1972 „volkseigen“.597 Im Jahr 1964 schrieb der westdeutsche Beobachter Werner Altpeter, in „Mitteldeutschland“ gebe es „noch Reformhäuser, die jedoch in ihrem Warenprogramm beschränkt sind.“598 Ein handschriftliches Verzeichnis Ost-Berliner Reformhäuser von 1979 führt immerhin noch zwölf Reformhäuser und „HO-Reformhäuser“ auf.599 Im Neuform-Echo erschien im November desselben Jahres das Bild einer 80 Jahre alten Reformhausinhaberin, die das fünfzigjährige Bestehen ihres Geschäfts in Stralsund feierte, das sie noch privat führte.600 Vor dem Mauerbau war der Kontakt zu westdeutschen Reformhausinhabern und auch zur Neuform noch vergleichsweise rege, auch wenn die „Ostzone“ und die junge DDR in den Schriften der Branche im Westen nur hin und wieder vorkommen. Für die Neuform-Generalversammlung 1953 in München übernahmen die Genossenschaft und die FDR für einige „Gesinnungsfreunde und Kollegen in der Ostzone“ eine – wohl finanzielle – „Partnerschaft“, damit sie an der Veranstaltung teilnehmen konnten: „Wir freuen uns, sie für einige Tage unter uns zu wissen.“601 Später wurden die Neuform-Mitgliedschaften der ostdeutschen Reformhausinhaber in „ruhende Mitgliedschaften“ verwandelt, und der Kontakt auf Genossenschaftsebene riß ab. In ihrem Bericht über das Geschäftsjahr 1989 beschäftigte sich die Neuform ausführlich mit dem Ziel, auf dem Gebiet der DDR Neuform-Reformhäuser 594 595 596 597 598 599 600 601

Telefonat mit Roland Bloeck, Vorstandsvorsitzendem der Eden-Genossenschaft Oranienburg i. R., am 1. Juli 2003. Telefonat mit Roland Bloeck, Vorstandsvorsitzendem der Eden-Genossenschaft Oranienburg i. R., am 1. Juli 2003. Neuform-Echo, November 1956, S. 282f. BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37), S. 257. ALTPETER, Geschichte der Lebensreform (wie Anm. 47), S. 13. Berliner Reformhäuser [loses Blatt], Eden-Archiv Oranienburg. Neuform-Echo, März 1979, S. 18. Vgl. auch Neuform-Echo, Dezember 1953, S. 501. Neuform-Echo, August 1953, S. 317.

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2. Lebensreform als Netzwerk

aufzubauen. „Es ist ein erhebendes Gefühl sich vorzustellen, daß die alten Stammlande der Lebensreform Sachsen und Thüringen in absehbarer Zeit wieder reges Betätigungsfeld von Neuform-Reformhäusern sein werden und unsere Genossenschaft auch dieses Gebiet wieder umfassen wird.“ Die Struktur der Genossenschaft als Zusammenschluß unabhängiger Unternehmer sei „genau das, was unsere angehenden Kollegen wollen“. Das habe sich auf einer Versammlung von 120 DDR-Bürgern mit Ambitionen, ein Reformhaus zu übernehmen, an der Reformhaus-Fachakademie in Oberursel-Oberstedten bestätigt. Genossenschaften hätten in der DDR „beste Startvoraussetzungen“, denn sie verhinderten einen abrupten Wechsel von einem Zentralsystem zu einem Konzernsystem. Die Neuform prüfte die 200 „ruhenden“ Mitgliedschaften von DDR-Bürgern und stellte fest, „daß die Mitgliedspersonen für eine Geschäftsführung zu alt und zum allergrößten Teil verstorben sind.“ In der DDR würden aber noch einige wenige Reformhäuser unter einer Neuform-Mitgliedsnummer geführt. Um nach der „Wende“ von Anfang an in der DDR präsent zu sein und „das Feld nicht den Mitbewerbern [Bio-Läden und anderen Anbietern „biologischer“ Waren, F.F.] zu überlassen“, gewährte die Neuform in einer Übergangsregelung bis Ende 1992 „praktisch allen Interessenten die Bezugs- und Verkaufsberechtigung für neuform-Waren“.602 Anfang 1990 ließ die Branchenzeitschrift ausführlich Reformhausinhaber in der DDR zu Wort kommen. Da war beispielsweise die Frau aus Leipzig, die seit 1965 das Reformgeschäft ihrer Eltern führte, das diese 1933 eröffnet hatten, also kurz nach der Gründung der Neuform-VDR von 1930, und die wieder mit dabei sein wollte. Andere Reformhausinhaber aus Radebeul und Meerane in Sachsen wollten Neuform-Mitglieder werden, weil sie ihre Reformhäuser vor einiger Zeit von Neuform-Genossen übernommen hatten. Ein anderer, dessen Kinder in der Branche tätig waren, wünschte sich Reform-Fachzeitschriften. Ein Schweriner Reformhausbetreiber, nach eigenen Angaben der einzige Inhaber eines privaten Reformhauses in Mecklenburg, hatte 1954 einen Grundlehrgang der ReformhausFachschule absolviert. Verknüpft mit solchen Angaben war die Bitte an die Neuform-Mitglieder: „Wer dazu beitragen möchte, daß auch die Bürger der DDR im Sinne der Lebensreform leben und bald wieder Reformhauswaren kaufen können ohne den Weg gen Westen einschlagen zu müssen, der wende sich bitte an den refo mit einer genauen Beschreibung der Inventare und Einrichtungen [gemeint waren ausgemusterte Ladeneinrichtungen, Einrichtungsteile, Kühlregale und Möbel, F.F.], ob kostenlos oder unter welchen Bedingungen sie abgegeben werden können.“ Und sogar an den Aufbruchsgeist der Lebensreform appellierte der Neuform-Geschäftsführer Niels Petersen – wohl zum letzten Mal in der Geschichte der Reformhäuser: „Jetzt sind echte Pionierleistungen gefragt, um die Idee der Lebensreform in ihren ,alten Stammlanden‘ der DDR wiederzubeleben.“603

602 603

Geschäftsbericht der Neuform Vereinigung deutscher Reformhäuser eG 1989, S. 7. Neuform-Echo Aktuell vom 19. Februar 1990, 2/1990, S. 2f.

2.3. Kommunikation

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2.3. KOMMUNIKATION Im Juli 1907 mahnte der „Deutsche Vegetarier-Bund“ seine Mitglieder in einem Artikel in der Vegetarischen Warte: „Die Ausbreitung des vegetarischen Gedankens muß eine Hauptaufgabe jedes überzeugten Vegetariers sein.“ Als „Mittel zur Erreichung dieses Zweckes“ nannte er neben dem Gewinnen von Anhängern im Bekanntenkreis, der Gründung vegetarischer Ortsvereine, vegetarischer Speisehäuser und Siedlungen und der geduldigen „Bearbeitung der Presse“ auch das Verschicken von Flugblättern und ihr Liegenlassen in Bahn, Elektrischer oder städtischen Anlagen.604 Ganz ähnlich empfahl die Neuform-VDR den Kunden der Reformhäuser im Juni 1932, gelesene Hefte ihrer Kundenzeitschrift NeuformRundschau „irgendwo in einem öffentlichen Verkehrsmittel liegen[zu]lassen, damit sie auch noch bei anderen gute Anregungen geben können. Sehr nett ist es, wenn man heimlich das gelesene Heft in einem Verkehrsmittel weglegt und dann denjenigen beobachtet, der es nimmt. Vielleicht machen Sie sich einmal diesen Spaß!“605 Die Organisationen der Lebensreform kommunizierten, das zeigen die beiden Beispiele, nicht nur innerhalb ihrer selbst und miteinander. Sie wollten vielmehr auch die Außenwelt auf sich aufmerksam machen. Ihre Kommunikationsmedien waren vor allem Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse (2.3.1.), aber auch Veranstaltungen (2.3.2.). Mit ihrer Hilfe transportierte die Bewegung Wissen über gesünderes Leben, über ihre Institutionen und deren Angebot. Darüber hinaus machte sie auch immer mehr kommerzielle Reklame. Neben den Anzeigenseiten der Reformzeitschriften und den Ständen auf Ausstellungen nutzte sie dafür auch nicht-reformerische Zeitschriften und Zeitungen, das Radio und das Fernsehen (2.3.3). 2.3.1. Druckerzeugnisse Die Zeitschriften der Lebensreform lassen sich in drei Gattungen einteilen: Vereinszeitschriften (2.3.1.1.), Kundenzeitschriften (2.3.1.2.) und Mitgliederzeitschriften der Neuform-Genossenschaft, also Branchenzeitschriften (2.3.1.3.). Sie dienten der Kommunikation innerhalb des Netzwerks und jener zwischen Netzwerk und Außenwelt.606 Über die Zeitschriften hinaus übermittelte das Netzwerk aber auch mittels anderer eigener Veröffentlichungen Informationen (2.3.1.4.). Alle diese Publikationen entstanden in den verschiedenen politischen Systemen unter jeweils anderen Voraussetzungen. So prüfte im Zweiten Weltkrieg ein Arbeitskreis „Schrifttum und Presse der Deutschen Lebensreform e.V.“, der dem 604 605 606

Vegetarische Warte vom 10. Juli 1907, S. 166. Vgl. auch Vegetarische Warte vom 17. Februar 1912, S. 38. Neuform-Rundschau, Juni 1932, S. 117. Im Sinne der Rezeptionsästhetik kann auch bezüglich von Texten von wechselseitiger Kommunikation zwischen Autor und Leser gesprochen werden. Insofern ist der Leser nicht nur Empfänger, sondern auch selbst aktiver Sender von Informationen.

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2. Lebensreform als Netzwerk

„Reichsgesundheits-Prüfungs- und Beratungsdienst“ (RGD) unterstand, die Manuskripte für lebensreformerische Zeitschriften und Bücher.607 Seit der Mitte der neunziger Jahre kam mit den Fitness-Magazinen im Hochglanzstil eine neue Gattung von Zeitschriften auf den Markt, deren Inhalte sich zum Teil mit jenen der Lebensreform überschnitten. Ein Beispiel ist die besonders erfolgreiche Fit for Fun, deren Startauflage von 280.000 Exemplaren nach zwei Wochen vergriffen war, woraufhin der Verlag 100.000 weitere Hefte nachdruckte.608 Da diese Zeitschriften aber nicht der Lebensreform zuzurechnen sind, sondern dem sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts durchdringenden und ablösenden Fitness- und Wellnesstrend, werden sie nicht als eigenständige Publikationen, sondern nur in ihren Einflüssen auf das Reformschrifttum untersucht. 2.3.1.1. Vereinszeitschriften Die wichtigsten Vereinszeitschriften von Vegetarismus und Naturheilkunde der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik waren Der Naturarzt, die Vegetarische Warte und die Vegetarische Presse. Der bis heute bestehende Naturarzt erschien zuerst 1872, zunächst als Organ eines ersten Zentralvereins der Naturheilbewegung, seit 1888 als Vereinsblatt des „Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise“, der 1900 den Namen „Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ erhielt. Die Vegetarische Warte gab der „Deutsche Vegetarier-Bund“ seit 1895 heraus, 1897 vereinigte sie sich mit der seit 1880 existierenden Vegetarischen Rundschau. Die Vegetarische Warte erschien bis 1932. Vereinsmitglieder erhielten sie kostenlos, sie war aber auch über den Buchhandel zu beziehen. Die Vegetarische Presse entstand 1926 als Organ des „Deutschen Vegetarier-Verbandes“ und erschien auch nach der Auflösung des Vereins unter der Schriftleitung des ehemaligen Vorsitzenden Georg Förster noch bis 1940, bis zu ihrer Einstellung aufgrund Papiermangels 1941 unter einem Nachfolger. Seit 1933 gab die „Deutsche Gesellschaft für Lebensreform“ die Zeitschrift Leib und Leben heraus, die nach der Vereinigung der Gesellschaft mit dem „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ 1935 auch dessen Organ wurde. Zwischen 1937 und 1939 erreichte sie eine Auflage von etwa 5000 Exemplaren.609 Im Krieg löste Volk und Gesundheit die Zeitschriften Leib und Leben und Der Naturarzt ab. Der Naturarzt erschien im März 1942, in seinem 70. Jahrgang, zum vorläufig letzten Mal. Herausgeber von Volk und Gesundheit war der „Deutsche Volksheilbund“, dem seit 1941 mit der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und den Natur- und Volksheilbünden alle Laienorganisationen der Lebensreform angehörten. In der Zeit nach 1945 wurden die Vereinszeitschriften insgesamt unwichtiger für das Gesamtgefüge der Lebensreform. Die Vereine verkörperten die Lebensreform in dieser Zeit weit weniger als die Reformhäuser, 607 608 609

Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1941, S. 42. Zum „Traumstart für Fit for Fun“ vgl. Fit for Fun, H. 2, 5/1994, S. 7. BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 223.

2.3. Kommunikation

127

denen die beiden anderen Gattungen zuzuordnen sind: die Kunden- und die Branchenzeitschriften. 2.3.1.2. Kundenzeitschriften Die Kundenzeitschriften, die die Reformhäuser seit der Mitte der zwanziger Jahre verteilten, waren unentgeltlich oder kosteten einen geringen Betrag zwischen zehn und zwanzig Pfennigen. Diese Hefte waren mehr als bloße Anzeigenforen für Reformhauswaren. Sie vermittelten immer auch von der Bewegung für wichtig erachtetes Wissen über eine gesunde, „naturgemäße“ Lebensweise und gaben ihren Leserinnen und Lesern Orientierungshilfen, wie man gut reformerisch leben könne, um damit zur persönlichen Erfüllung zu gelangen und so zugleich die Gesundheit des Volkes, der Rasse, der als krank empfundenen Umwelt zu fördern. Im „Einführungsheft“ zur ersten Kundenzeitschrift Das Reformhaus hieß es im Dezember 1925, die neue Monatsschrift solle „neben der kaufmännischen [auch] eine geistige Beziehung zwischen den Reformhäusern und deren Abnehmern herstellen.“610 Werbeschriften waren die Reformhauszeitschriften selbstverständlich auch, und die Grenzen zwischen Waren- und Ideenwelt verflossen, wie es für die Reformhäuser auch insgesamt kennzeichnend ist. Nach dem „Einführungsheft“ erschien im Januar 1926 die erste reguläre Ausgabe der Zeitschrift Das Reformhaus. In den ersten fünf Jahren ihres Bestehens sollen jährlich mehr als eine Million Hefte dieser Zeitschrift „hinausgegangen“ sein.611 Schriftleiter war Hans Gregor. In Reformhäusern erhielten Kunden die Hefte des Reformhauses, die sonst 20 Pfennige oder 20 Mark im Jahresabonnement kosteten, unentgeltlich. Seit Mai 1929 gab der Edener Karl Bartes, Schriftleiter auch der Edener Mitteilungen, des Mitteilungsblatts der Edener Siedlungsgenossenschaft, die Zeitschrift Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens heraus, die – ganz wie Das Reformhaus – in den Reformhäusern verteilt wurde und angeblich einen Leserkreis erreichte, „der in die Hunderttausende geht.“612 Im Jahr 1930 erreichte die Auflage der Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens 250.000 Exemplare.613 Zum Januar 1931, nach der Vereinigung der Frankfurter V.D.R. mit der Oranienburger Neuform zur Einheitsgenossenschaft, verschmolz diese Zeitschrift mit den Zeitschriften Das Reformhaus und Die neue Ernährungslehre zur Neuform-Rundschau, Monatsschrift für biologische Lebensführung und Volksernährung. Im Titel war „6. Jahrgang“ angegeben, man stellte sich also in die Nachfolge des 1925/1926 zuerst erschienenen Reformhauses. Für Ende 1931 erwartete die Neuform-VDR Mitte des Jahres eine Jahresauflage der Neuform-Rundschau von 2,6 Millionen Exemplaren.614 Bei rund tausend 610 611 612 613 614

Das Reformhaus, Einführungsheft, Dezember 1925, S. 4. Das Reformhaus, Dezember 1930, S. 177. Neuform, Dezember 1930, S. 234. Neuform-Rundschau, Dezember 1935, S. 302. Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Juli 1931, S. 144.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Mitgliedern der Genossenschaft müßte damit jeder Reformhausinhaber in seinem Geschäft oder seinen Geschäften im Schnitt 2600 Hefte im Jahr verteilt haben, also gut 200 im Monat. Nachdem die Neuform-VDR von Frankfurt nach Berlin gezogen war, erschien die Neuform-Rundschau dort von Januar 1932 an in verdoppeltem Format in Kupfertiefdruck, der auch mehr Bilder ermöglichte als bisher.615 In der Januarausgabe 1932 erklärten Schriftleitung und Genossenschaftsleitung den Lesern ausführlich die neue Produktionsweise.616 Als Gregor die Neuform-VDR 1932 verließ, um seine Reformhaus-Fachschule zu gründen, übernahm Werner Altpeter die Schriftleitung der Neuform-Rundschau. Er war von Anfang an Mitarbeiter des Reformhauses gewesen. Ende 1933 hatte sich die Auflage auf 250.000 Exemplare im Monat gesteigert617 , und Ende 1935 bezeichnete sich die Neuform-Rundschau selbst als „das größte Blatt der deutschen Reformbewegung“.618 Seit 1937 durfte die Genossenschaft als wirtschaftliches Unternehmen kein eigenes Presseorgan mehr unterhalten. Daher verkaufte sie ihre Kundenzeitschrift an ihre Angestellten Werner Altpeter und Emil Schwabe, die sie als Mitglieder der Reichsschrifttumskammer privat weiterführen durften. Altpeter als Schriftleiter und Emil Schwabe, der den Anzeigenteil bearbeitete und die Geschäfte führte, gründeten 1937 den „Verlag der Reform-Rundschau Schwabe & Co.“ und änderten den Namen des Blattes zur Augustausgabe 1937 in Reform-Rundschau.619 Die Zahlung des Kaufpreises für die Zeitschrift erfolgte auf Raten, die der Verlag bis 1941, als die Reform-Rundschau ihre Produktion wegen Papiermangels einstellen mußte, aus den Erträgen zahlte, die er mit dem Vertrieb der Reform-Rundschau erzielte.620 Die Zeitschrift wurde weiterhin über die Reformhäuser verteilt, auch wenn sie nicht mehr der Neuform-VDR gehörte. Nach dem Krieg kehrte Werner Altpeter, der wie Schwabe Soldat gewesen war, in seine Heimatstadt Frankfurt zurück.621 Die amerikanische Besatzungsmacht verweigerte ihm dort die Lizenz, die Reform-Rundschau wieder herauszubringen. Als Begründung der Amerikaner gibt die Zeitschrift im Dezember 1975 in einem historischen Rückblick anläßlich ihres fünfzigjährigen622 Bestehens an, daß Altpeter „in den dreißiger Jahren Mitglied des ,Reichsverbands der deutschen Presse‘ gewesen“ sei, „einer Zwangsvereinigung, ohne die man überhaupt nicht als Schriftleiter hätte arbeiten können.“ Auf Fürsprache seines ehemaligen Regiments-Kommandeurs, der laut Reform-Rundschau am Attentat des 20. Juli 1944 615 616 617 618 619 620

621 622

Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Oktober 1931, S. 288; Reform-Rundschau, Dezember 1975, S. 18. Neuform-Rundschau, Januar 1932, S. 6. Neuform-Rundschau, Januar 1934, S. 23. Neuform-Rundschau, Dezember 1935, S. 302. Reform-Rundschau, Dezember 1975, S. 18. Im Frühjahr 1949 stand noch eine Restforderung von knapp 9000 Mark aus. Vgl. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., April–Juni 1949, Nr. 4, S. 5. Zum folgenden Reform-Rundschau, Dezember 1975, S. 18–21. Gerechnet seit dem im Dezember 1925 erschienenen „Einführungsheft“ der Zeitschrift Das Reformhaus.

2.3. Kommunikation

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beteiligt war und daher als „Opfer des Faschismus“ galt, erhielt Altpeter in der französischen Zone die entsprechende Lizenz – der Fürsprecher Altpeters lebte in Neuwied. Da einige Reformwarenhersteller ihm ihre erste Anzeige in seinem neuen alten Blatt im voraus bezahlten, konnte Altpeter einer in Neuwied ansässigen Druckerei den ersten Druckauftrag erteilen, so daß im April 1949 wieder eine Reform-Rundschau erscheinen konnte. Im Jahr 1952, als die Auflage auf 100.000 Exemplare im Monat gestiegen war, wechselte die Zeitschrift zum Unternehmen „Habra-Druck“ in Darmstadt, welche die Reform-Rundschau fortan abermals in Kupfertiefdruck produzierte. Im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik steigerte sich die Auflage von 50.000 Heften monatlich im Jahr 1950 auf 264.000 im Oktober 1959. Im Jahr 1951 war auch Emil Schwabe aus der „Ostzone“ nach Frankfurt zurückgekehrt und wieder bei der Zeitschrift eingestiegen. Nach seinem Tod 1965 übernahm Altpeter zusätzlich zur Schriftleitung auch die kaufmännischen Aufgaben. Er führte die Reform-Rundschau bis Ende 1975, als er in den Ruhestand ging. Seine Nachfolge traten für die Redaktion der Arzt Herbert Warning und für den Verlag der Stiefsohn Schwabes Günter Höpping an. Später übernahmen dessen Söhne die Leitung der Zeitschrift. Im September 1951 erschien der erste Neuform-Kurier. Die Neuform überließ die Reform-Rundschau also Altpeter und Schwabe und brachte selbst eine neue Kundenzeitschrift heraus, so daß es fortan zwei Reformhaus-Zeitschriften gab. Die Auflage des Kuriers erreichte im Jahr 1975 die Millionengrenze623 und stieg bis Ende 1977 auf mehr als 1,3 Millionen Exemplare im Monat an.624 Ende der achtziger Jahre gehörte der Neuform-Kurier zu den auflagenstärksten Kundenzeitschriften der Bundesrepublik.625 Zur Aprilausgabe 1994 benannte ihn die Neuform in Reformhaus-Kurier um. Im Vergleich mit der eher belehrenden und allgemeine Fragen einer gesünderen Lebensweise eingehender behandelnden Reform-Rundschau war der Kurier mehr ein Anzeigenblatt, das vor allem für Reformprodukte warb und nur kurze Artikel enthielt, die sich oft ebenfalls auf die Warenpalette der Reformhäuser bezogen. Die Reformhäuser hatten die Wahl, entweder nur die Reform-Rundschau oder nur den Neuform-Kurier oder aber beide Zeitschriften zu beziehen und zu verteilen. 2.3.1.3. Branchenzeitschriften In der Entwicklung der Branchenzeitschriften spiegelt sich die Entwicklung der Branche selbst. Diese Zeitschriften der Reformwarenwirtschaft, die mal monatlich, mal alle vierzehn Tage erschienen, richteten sich an die Branchenangehörigen, also etwa an die Mitglieder der Neuform-Genossenschaft und an die Mitarbeiter der Reformhäuser oder an die Mitglieder anderer Vereinigungen, etwa der Zusammenschlüsse von Herstellern. Andere Bezieher waren nur in Ausnahme623 624 625

Neuform-Echo, März 1975, S. 5. Neuform-Echo, Januar 1978, S. 33. Geschäftsbericht der Neuform Vereinigung deutscher Reformhäuser eG 1989, S. 5.

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2. Lebensreform als Netzwerk

fällen zugelassen. Seit 1927 gab der Inhaber einer „Kurmittel-Gesellschaft“, Gustav Schmidt, die Reformhaus-Nachrichten heraus. Im Oktober, November und Dezember 1929 erschienen dann die Neuform-Wirtschaftsbriefe der „alten“ Neuform, die ersten beiden unter der Herausgeberschaft von Karl Bartes, der dritte unter der Schriftleitung von Wilhelm Jenge (1896–1947). Beide Männer lebten in Oranienburg-Eden, wo auch die erste Neuform gegründet worden war. Das erste Neuform-VDR-Fachblatt erschien 1931 nach der Vereinigung von Neuform und V.D.R. zur Einheitsgenossenschaft. Auch hier war der Chemiker Jenge Schriftleiter. Der Edener blieb bis 1944 in dieser Position.626 Seit Oktober 1935 hieß die Zeitschrift, die nun einen festeren Einband mit großformatigen Titelbildern bekam, Fachblatt für den Reformhausfachmann. Diese Namensänderung war eine Folge der besonderen Förderung des Berufsstandes des „Reformhausfachmanns“ im Nationalsozialismus. Zur selben Zeit wandelte die NeuformVDR Jenges Angestelltenverhältnis in einen „freien“ Vertrag um, woraufhin das Fachblatt nicht mehr in Berlin, sondern in seinem Edener Haus entstand und auch in Oranienburg-Eden gedruckt wurde.627 Seit Juli 1937 erschien das Fachblatt wie die Kundenzeitschrift der Neuform-VDR im privaten „Verlag der Reform-Rundschau Schwabe & Co.“, weil die Neuform-VDR als wirtschaftliches Unternehmen keine eigenen Presseorgane mehr unterhalten durfte. Im August 1937 verschwand dann auch das „Neuform-Zeichen“ aus dem Kopf der Zeitschrift. Von Mai 1938 an und bis zu seiner Einstellung 1944 hieß das Blatt Der Reformwarenfachmann. Es war nunmehr das Organ der „Fachabteilung Reformhäuser“ in der „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ der „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“, der die Genossenschaft angegliedert war. Die „Neuform-Nachrichten“, die die Zeitschrift zunächst noch abdruckte, schrumpften auf eine halbe Seite, manchmal nur auf eine kleine Ecke. In kurzen Meldungen informierte diese Rubrik über neu in die „Neuform-Vertrags- und Überwachungsarbeit“ aufgenommene Waren, über von der Genossenschaft genehmigte Drucksachen und Rundschreiben der Hersteller, regionale Treffen von Neuform-Gruppen und ähnliches. Das übrige Heft berichtete regelmäßig über die Berufsförderungskurse und gab Hinweise zur Verbrauchslenkung im Reformhaus. Es befaßte sich also vor allem mit den beiden Hauptaufgabengebieten der „Fachabteilung“. Des weiteren ging es um bestimmte Reformwaren und um Fragen der Ernährung. Der Reformwarenfachmann kostete eine Reichsmark im Vierteljahr, die Mitglieder waren aber nicht verpflichtet, ihn zu beziehen. Zuvor hatten sie das Fachblatt noch unentgeltlich erhalten. Im Krieg, als die Zeitschrift zeitweise auf zwei Doppelbögen reduziert war, tauchte die Neuform-VDR dann in vielen Ausgaben überhaupt nicht mehr auf. Ihre Stimme blieb auf Rundbriefe an ihre Mitglieder beschränkt, in denen sie etwa 626

627

Außerdem gab er Kurse in Chemie und Warenkunde bei den Berufsförderungskursen des Reformwaren-Einzelhandels. Jenge trat nicht in die NSDAP ein. Er studierte von 1914 bis 1921 Chemie in Göttingen, wo er auch promoviert wurde. Ende 1929 stellte ihn die Neuform-VDR als Chemiker im Bürodienst und Schriftleiter an. BArch (ehem. BDC), RK, Jenge, Wilhelm, 4. Februar 1896. Vgl. Edener Mitteilungen, Juli/August 1996, S. 22–24.

2.3. Kommunikation

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zu ihren Versammlungen einlud. Anfang 1941 hieß es in einem Rückblick auf „10 Jahre Fachblatt“: „Ein wesentlicher Teil des Inhalts war in den ersten Jahren dadurch bestimmt, daß die Zeitschrift Mitteilungsblatt der Organisation ,Neuform-VDR‘ war. So hatte sie die Mitglieder dieser Genossenschaft zu unterrichten über deren Ziele, Pläne und Aufgaben. Eine amtliche Gliederung für die Reformhäuser gab es damals noch nicht, und so war diese Arbeit gleichbedeutend mit dem Aufbau und der Festigung des Standesbewußtseins bei den Berufsgenossen, von denen der weitaus überwiegende Teil erst auf eine recht kurze Erfahrung in diesem Geschäftszweig zurückblicken konnte. Nicht wenige waren überhaupt neu ins kaufmännische Leben eingetreten, kamen von ganz anderen Berufen her oder doch wenigstens nicht aus dem Einzelhandel.“

Daher habe das Fachblatt ihnen ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und das Fachwissen zu vermitteln gehabt, das nunmehr in den Berufsförderungskursen gelehrt werde. Heute müsse hingegen „mit dem Fortschreiten des organischen Aufbaus der deutschen Gesellschaft neben den besonderen Belangen der Reformwarenwirtschaft immer mehr auch ihr Zusammenhang mit dem Großen Ganzen aufgezeigt werden“.628 Im Januar 1943 wurde die Zeitschrift Der Reformwarenfachmann zusätzlich zum Organ der „Deutschen Reformwarenwirtschaft e.V.“, der Nachfolgerin der „Deutschen Lebensreform e.V.“.629 Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien zunächst die von der „Arbeitsgemeinschaft der Reformwarenhersteller“ (ADR) herausgegebene Zeitschrift Das Reformwaren-Echo. Während der Düsseldorfer Versammlung vom November 1950630 beschlossen Neuform und ADR dann aber, eine gemeinsame Branchenzeitung herauszubringen.631 Das Neuform-Reformwaren-Echo kam jedoch nur zweimal heraus, weil die ADR die in Düsseldorf geschlossenen Verträge mit der Neuform kündigte. Das Reformwaren-Echo, wie die Zeitschrift dann wieder – wenngleich unter Weglassung des bestimmten Artikels im Titel – hieß, erschien noch bis August 1952. Dann machte es dem Neuform-Echo Platz, das die paritätisch mit Vertretern der Hersteller und der Neuform besetzte „Förderungsgesellschaft der Reformwarenwirtschaft“ (FDR) herausgab und das man daher eine „Brancheneinheitszeitschrift“ nannte. Auch das seit Januar 1952 erscheinende Neuform-Fachblatt ging im Neuform-Echo auf, das im September 1952 erstmals erschien. Seit 1991 heißt die Branchenzeitschrift Neuform-Echo Aktuell, seit Oktober 1994 Reformhaus-Echo. Alle diese Zeitschriften enthielten brancheninterne Informationen wie Ankündigungen des Vorstands oder Berichte über Generalversammlungen der Genossenschaft, weiterhin Produktinformationen und Hinweise für die Reformhausinhaber über Verkaufs- und Werbestrategien, etwa über das Anlegen einer „Kundenkartei“ oder die Schaufenstergestaltung. Insofern ähnelte das Neuform-Echo dem Neuform-VDR-Fachblatt der Weimarer Republik. In den frühen fünfziger Jahren enthielt das Neuform-Echo auch fachliche Informationen, etwa über natürliche Ernährung. Angeblich lasen es damals auch 628 629 630 631

Der Reformwarenfachmann vom 15. Januar 1941, S. 4. Der Reformwarenfachmann, Ende Januar 1943, S. 2. Vgl. oben S. 111. Das Reformwaren-Echo vom 1. Dezember 1950, S. 74.

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2. Lebensreform als Netzwerk

viele Ärzte. Zum Januar 1955 wurden die beiden Gebiete getrennt: Das NeuformEcho, das die „Förderungsgesellschaft der Reformwarenwirtschaft“ (FDR) herausgab, wurde eine reine Branchenzeitschrift und enthielt dann vor allem auch viele Mitteilungen des Berufsverbandes „Refo“, etwa über die Fachschulung. Zusätzlich erschien eine neue Zeitschrift speziell für Ärzte. Diese konnten aber weiterhin das Neuform-Echo beziehen, und Reformhausinhaber durften umgekehrt auch die Ärztezeitschrift abonnieren.632 2.3.1.4. Andere Publikationen Neben den Zeitschriften transportierten vor allem lebenspraktische Ratgeber und weltanschaulich ausgerichtete Heftchen und Büchlein lebensreformerische Inhalte. Die Zahl der Ratgeber für ein gesünderes Leben stieg im Laufe der Jahrzehnte stark an, jene der unmittelbar auf die Idee der Lebensreform zielenden Schriften ging hingegen zurück. Zunehmend boten auch Ratgeber von Verlagen, die mit der Lebensreform nichts zu tun hatten, Informationen über Gesundheit und eine gesunde Lebensweise. Für die Lebensreformer selbst gab es aber weiterhin noch „spezifische“ Literatur, zum Beispiel Kompendien mit Adressen von lebensreformerischen Organisationen. Anfangs hatten diese Funktion vor allem die Vegetarier-Kalender erfüllt. Im Verlag des Vorsitzenden der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ Hanns Georg Müller, der „Müllerschen Verlagshandlung“, erschien 1938 zum ersten Mal ein Jahrbuch der deutschen Lebensreform, das 1939 und 1941 abermals herauskam. 1938 lag die Auflage bei 10.000 Exemplaren, 1939 bei 7000 und 1941 bei 5000. 633 In den fünfziger Jahren druckte Müllers Verlag mehrere Ausgaben eines „Handbuchs der Lebensreform“. Des weiteren sind noch die vielen Publikationen der Neuform-Genossenschaft zu nennen, so etwa Denkschriften und Jubiläumshefte. Weiterhin versandte die Neuform Mitgliederrundbriefe, deren Inhalt meist Einladungen zu Generalversammlungen und Bilanzen des vorigen Geschäftsjahrs waren. 2.3.2. Veranstaltungen Ein weiteres wichtiges Medium der Vermittlung von Wissen über Lebensreform und gesünderes Leben waren Veranstaltungen. Die Naturheil- und Vegetariervereine boten praktische Lehrgänge über „naturgemäße Lebensweise“ an, die oft auch Nichtmitgliedern offenstanden. Darüber hinaus gab es Vorträge über Vegetarismus und Naturheilkunde, die sich zwischen gesundheitlicher Aufklärung, populärwissenschaftlichen Themen und weltanschaulichen Fragen über die „Philosophie“ und die „Lehre“ vor allem des Vegetarismus bewegten. Ein Großteil des Vortrags- und Kursangebots der Reformwarenwirtschaft beschäftigte sich mit Themen rund um reformerische Ernährung und Küchenführung. 632 633

Neuform-Echo, November/Dezember 1954, S. 458. BArch (ehem. BDC), RK, Altpeter, Werner, 8. August 1902.

2.3. Kommunikation

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Weiterhin sind die Ausstellungen zu nennen, die lebensreformerische Gruppen zum Teil selbst organisierten, zum Teil mit eigenen Ständen beschickten. Im Kaiserreich waren die meisten dieser Schauen noch recht klein und in der Regel von lebensreformerischen Vereinen selbst organisiert. Beliebt war etwa die Präsentation von „Vegetarierkindern“, die deren Gesundheit und damit die Wichtigkeit des Vegetarismus unter Beweis stellen sollte. Auch Fotografien von gesund aussehenden Vegetariern zeigten die Vereine immer wieder. Seit den zwanziger Jahren beteiligten sich die Reformverbände auch an nicht im engeren Sinne lebensreformerischen Ausstellungen über Gesundheit und Hygiene, im Jahr 1930 etwa an der zweiten großen Hygieneausstellung in Dresden. Auf der ersten von 1911 fehlte die Lebensreform hingegen. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, daß die Bewegung die lebensreformerischen Inhalte um diese Zeit noch auf rein ideellem Wege verbreitete und ihre Konsumgüterwirtschaft erst in Ansätzen vorhanden war: Es gab zwar schon einige Reformwarenunternehmen, aber noch keine Organisation in Form eines Vereins oder einer Genossenschaft, die Ausstellungen mit sichtbaren materiellen Erzeugnissen hätte beschicken können. Mit der Gründung der V.D.R. und kurz darauf der Neuform-VDR und der Ausbreitung der Reform auf dem Konsumgütermarkt wurde die Lebensreform dann auch auf Messen sichtbar. Im Jahr 1952 gründeten drei Funktionäre der Lebensreform, Werner Altpeter, Hermann Forschepiepe und Rudolf Finke, die „Deutsche Volksgesundheitsbewegung“ als Organisatorin sogenannter Volksgesundheitswochen. Die meisten lebensreformerischen Vereine traten diesem Dachverband bei. Die Volksgesundheitswochen, zu denen in den fünfziger Jahren bis zu 60.000 Besucher kamen, sollten die lebensreformerische Idee in die Allgemeinheit tragen und mit Vorträgen, Wassertretbecken, Kräutergärten und Ausstellungsobjekten wie der „Gläsernen Frau“ und dem „Schlagenden Herzen“ aus dem Deutschen Gesundheitsmuseum in Köln zum Schauen, Zuhören und Mit- oder Selbermachen anregen.634 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts organisierte die Reformwarenbranche zudem jährlich sogenannte Reformhaustage, an denen oft auch Politiker wie 1968 die Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel teilnahmen.635 Seit den sechziger Jahren nahm die Veranstaltungstätigkeit der Lebensreform aber insgesamt ab. Die Kundenzeitschriften nahmen als Kommunikationsmittel nochmals an Wichtigkeit zu. Auch die Werbung in nicht-reformerischen Medien gewann an Bedeutung. 2.3.3. Werbung „Sollen wir öffentliche Groß-Reklame betreiben?“ fragte das Neuform-VDRFachblatt im Juli 1932.636 In ihrer Antwort warnte die Zeitschrift vor den beiden „Extremen“, „aus unserer Arbeit ein sektiererisches Geheimnis zu machen, sich 634 635 636

Zu den Volksgesundheitswochen FRITZEN, Spinat-Milch (wie Anm. 47), S. 370–372. Reform-Rundschau, Juli 1968, S. 2, 6f. Zum folgenden Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Juli 1932, S. 146f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

mit Dogmen und Anschauungen zu belasten, die von der Öffentlichkeit als weltfremd empfunden und abgelehnt werden“, und dem Versuch, „Reklame größten Stils“ in Presse, Kino und Rundfunk zu machen. Denn im zweiten Fall müsse es zu einer „Materialschlacht“ mit den „Gegnern“ der Reformbewegung kommen, in der die Reformhäuser und Reformwarenhersteller zwangsläufig unterlegen sein müßten: „wenn wir unsere Arbeit zu einer reinen Reklame-Angelegenheit machen, die sich rein mechanisch mit den Mitteln moderner Werbetechnik vorantreiben läßt […], dann begeben wir uns auf ein Gebiet, auf dem uns die anderen schon materiell bestimmt weit überlegen sind, auf dem sie uns bald an die Wand drücken können.“ Die Neuform-VDR fürchtete aber nicht nur werbetechnische „Abwehrmaßnahmen“ ihrer Konkurrenten auf dem Nahrungs- und Heilmittelmarkt – gemeint waren hier vor allem Apotheken, Drogerien und Feinkostläden, wobei deren angebliche große „Werbekraft“ bezweifelt werden muß. In etwas seltsam anmutender Logik äußerte die Genossenschaft auch die Sorge, die Konkurrenten könnten aufgrund einer extensiven Werbetätigkeit der Reformbranche deren „Betätigungsmöglichkeit“ überschätzen. Die Neuform-VDR wollte daher möglichst geringe Aufmerksamkeit auf sich ziehen und lieber auf Wegen wirken, „die unserer biologischen Bewegung angepaßt“ waren, auf daß bloß jene Menschen, die diese leisere Art der Werbung wahrnähmen, mehr und mehr Produkte im Reformhaus kauften. Man wollte also nicht an die „Masse“ herantreten, sondern man suchte, durchaus elitär, den einzelnen, „wie wir ja auch keine Massenwaren führen, sondern individuelle Wertware“. Im Sinne einer „Plan-Werbung“, die man der „kapitalistischen“ „Streu-Werbung“ gegenüberstellte, wie sie etwa die Warenhäuser betrieben, verfaßte die Genossenschaftsleitung gezielte Briefe an Ärzte und andere Berufsgruppen. Ähnlich empfahl sie den Reformhausinhabern, neu Zugezogenen, frisch Verheirateten und jungen Eltern in ihrem Ort „sofort einen individuell abgefaßten Werbebrief“ zu schicken oder sie gar persönlich zu besuchen. Man könne zum Beispiel „glücklichen Eltern zur Geburt gratulieren und unter Beifügung der Rundschau in dezenter Weise auf die Leistungen des Reformhauses aufmerksam machen.“ Die Genossenschaft stellte ihren Mitgliedern Werbematerial zur Verfügung, nicht zuletzt die Neuform-Rundschau mit ihren Anzeigen für Reformprodukte, und übernahm auch die Werbung für die Lieferanten-Mitglieder. Darüber hinaus belehrten viele Ausgaben des Fachblatts die Neuform-Mitglieder mit BeispielFotografien darüber, wie ein gut gestaltetes Reformhaus-Schaufenster auszusehen habe, wie man originelle und auffallende Werbesprüche formulierte637 oder wie man das Werbematerial, das stets zum mehrmaligen Gebrauch gedacht war638 , verwenden konnte. Im „Dritten Reich“ war auch die Reformwarenwirtschaft von dem nationalsozialistischen Ziel betroffen, eine nationalpolitisch motivierte Werbung zu etablie637 638

Neuform-VDR-Fachblatt vom 15. April 1935, S. 228. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 14. Juni 1936, S. 312.

2.3. Kommunikation

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ren639 und somit den Verbrauch gemäß den Erfordernissen des Staates zu lenken. 640 Insgesamt versuchten die Nationalsozialisten, Vorurteile gegen die Werbung abzubauen, die oft noch als „notwendiges Übel“ und als für den Einzelhandel zu teuer angesehen werde.641 Seit 1937 war die „Werbegemeinschaft der Reform-Unternehmen“ (WDR) für die Reformwarenwerbung zuständig. Das in der Weimarer Republik noch oft verwendete Wort „Reklame“ schwand nun völlig aus den Texten der Reformbranche. Das entspricht dem Anspruch der Nationalsozialisten, die angeblich „jüdische Reklame“ der Weimarer Republik durch eine „deutsche Werbung“ zu ersetzen.642 Der NS-Staat lehnte Werbung also nicht etwa gänzlich als kapitalistisch ab. Die Trennlinie zwischen „Kapitalismus“ und Nationalsozialismus verlief nicht jenseits der Werbung, sondern innerhalb dieser selbst. Während die kapitalistisch-liberalistische Reklame die Menschen irreführe und zum Kauf locke, sei die deutsche Werbung wahr, klar und zweckmäßig.643 Genauere Definitionen fehlten, aber das ideologische Konzept, das vor allem der 1933 gegründete „Werberat der deutschen Wirtschaft“644 und die „Nationalsozialistische Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute“ als berufsständische Organisation verbreiteten, zeitigte – trotz seiner Unschärfe im Detail – sichtbare Veränderungen der Werbung, jedenfalls in der Reformbranche. Zum einen tauchte das Wort „deutsch“ jetzt sehr oft in Werbetexten auf.645 Es ging um „deutsche Erzeugnisse“, oder das deutsche Volk oder der Deutsche an sich waren angesprochen und aufgefordert, gesund zu leben. Im September 1933 fragte das Neuform-VDR-Fachblatt die Mitglieder der Genossenschaft: „Sind Sie 639

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STEFAN HAAS, Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft, in: PRINZ, Der lange Weg (wie Anm. 25), S. 291–314, hier S. 310. Hierzu übersichtlich HARTMUT BERGHOFF, Von der „Reklame“ zur Verbrauchslenkung. Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 77–109. Vortragsentwurf „Werbung und Einzelhandel“ von Hans-Ferdinand Waldschmidt, Görlitz, Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Referat für Berufsförderung, undatiert. BArch, R 13/XXIX/9. Zum folgenden WALTRAUD SENNEBOGEN, Von jüdischer Reklame zu deutscher Werbung. Sprachregelung in der nationalsozialistischen Wirtschaftswerbung, in: ALBRECHT GREULE/dies. (Hrsg.), Tarnung – Leistung – Werbung. Untersuchungen zur Sprache im Nationalsozialismus. (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Bd. 86.) Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 173–214, hier bes. S. 176f., 184, 187, 191, 193f. Was manche Werbefachleute im nachhinein – wohl implizit im Sinne des Modernisierungsparadigmas des Nationalsozialismus – als Fortschritt gedeutet haben. Vgl. hierzu BERGHOFF, Von der „Reklame“ zur Verbrauchslenkung (wie Anm. 640), S. 78. – Zur allgemeinen Frage nach „Modernisierung“ oder „Degeneration“ der Werbung im nationalsozialistischen Deutschland ebd., S. 106–109, bes. S. 108, mit der Antwort, daß „insgesamt Stagnation und Rückschritt überwogen.“ Zum „Werberat“ ausführlich MATTHIAS RÜCKER, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus. Rechtliche Ausgestaltung der Werbung und Tätigkeit des Werberats der deutschen Wirtschaft. (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 229.) Frankfurt am Main u. a. 2000, bes. S. 103–174. Zur „deutschen Werbung“ ebd., S. 177–182.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Deutscher, Herr Kollege? Dann setzen Sie alles daran, soweit als irgend möglich ein deutsches Sondergeschäft zu sein!“ Dafür bot die Neuform-VDR ihre Hilfe an, indem sie den Reformhausinhabern „schlagartig aufeinanderfolgende kraftvolle Sonder-Werbungen für die wichtigsten deutschen Erzeugnisse des Warenprogramms“ zur Verfügung stellte.646 Ebenfalls seit 1933 konnten die Mitglieder bei der Neuform-VDR Schilder und Plakate mit dem deutschen Adler und dem Schriftzug „Deutsches Erzeugnis“ bestellen.647 Zum anderen verschwanden Sprachspiele und Reime aus der Werbesprache der Reformbranche, die nun unverblümter und weniger verspielt war. Die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ erwartete, daß Werbeschriften für Reformerzeugnisse „wahrheitsgetreu abgefaßt werden, wie es den Richtlinien des Werberates der deutschen Wirtschaft und der besonderen Aufgabe der Reformbewegung, Vorbild für andere Zweige von Industrie und Handel zu sein, entspricht.“648 Zu Feiertagen wie Erntedank gaben Richtlinien der Reichspropaganda-Leitung genau vor, mit welchem Material und unter welchem „Leitgedanken“ Schaufenster zu gestalten seien, wann der Inhaber damit beginnen dürfe und wann er die Dekoration wieder entfernen müsse.649 Die „Fachabteilung Reformhäuser“, die nunmehr für die Genossenschaft sprach, die sie zugleich immer mehr aus der Öffentlichkeit drängte, zeigte sich zwar auch im Mai 1937 noch der Ansicht, daß die Werbung für Reformwaren im wesentlichen auf die ohnehin schon lebensreformerisch eingestellten Verbraucher beschränkt bleiben müsse: „Die Werbung eines Reformhaus-Inhabers wendet sich zunächst nicht an die Adresse der Allgemeinheit und Gesamtheit, weil diese als solche nicht in gleicher Weise Kundschaft ist und sein kann wie z.B. bei einem allgemeinen Lebensmittelgeschäft oder einer Drogerie.“ In erster Linie müsse Reformhaus-Werbung Gemeinschaftswerbung sein, etwa mit Hilfe des einheitlichen „Neuform-Gütezeichens“. Ziel war es – und das stand im Widerspruch zu der im selben Artikel erwähnten Notwendigkeit, die Werbung auf lebensreformerische Kreise zu beschränken –, „noch weit über den jetzigen Interessentenkreis hinaus die lebensreformerische Idee zu tragen und um ihre noch weitergehende Anerkennung zu kämpfen.“ Dazu bedürfe es einer „Zusammenfassung aller ideellen und materiellen Kräfte“ und der „Verfolgung einheitlicher Ziele.“650 In diesem Bestreben und in der Widersprüchlichkeit der Aussagen ist schon angelegt, daß sich die Ablehnung der „öffentlichen Groß-Reklame“ nicht mehr lange würde aufrechterhalten lassen. Denn wie sollten die Reformhäuser und Reformwarenhersteller die Lebensreform einem größeren Kreis von Verbrauchern im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft machen, wenn sie immer nur ihren Stammkunden, die doch sowieso kamen, die Reform-Rundschau in die Hand drückten und ansonsten auf ihr Schaufenster und die Briefe an Zugezogene oder 646 647 648 649 650

Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. September 1933, S. 255, 260, 275. Neuform-VDR-Fachblatt vom 26. Oktober 1933, S. 311. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 48. Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 555 (Ausschmückung der Schaufenster zum Erntedankfest). Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 22. Mai 1937, S. 191f.

2.3. Kommunikation

137

junge Eltern vertrauten? Schon 1935 äußerte sich das Fachblatt zustimmend zur Anzeigen-Werbung in Tageszeitungen.651 Der Durchbruch kam Anfang der vierziger Jahre, also mitten im Krieg, als sich die Propagandamethoden allenthalben verschärften. Im Jahr 1941 entstand ein Neuform-Werbefilm mit Ton, der von Anfang Januar 1942 an und wenigstens bis Ende Juni in Kinos im ganzen Reich gezeigt wurde.652 Der Film hatte das „Ziel, das neuform-Reformhaus auch den Kreisen näher zu bringen, die bisher von seiner Existenz, seinen Zielen und Aufgaben nichts oder wenig wußten.“653 In der Bundesrepublik veränderte sich die Einstellung der Reformhäuser zur Werbung weiter in diese Richtung. Die Neuform schätzte die Reklame in der Gesamtgesellschaft immer positiver ein. Seit 1952 kümmerte sich die je zur Hälfte von Neuform und Herstellern getragene „Förderungsgesellschaft der Reformwarenwirtschaft“ (FDR, später F.d.R.) unter anderem auch um die Werbung. Hatte die Genossenschaft in der Weimarer Republik den Verzicht auf öffentliche Reklame unter anderem mit der Macht ihrer „Gegner“ begründet, so diente die Stärke der Konkurrenz nun im Gegenteil als Argument für stärkere Werbetätigkeit auch außerhalb der Reformbranche. Der Werbung komme immer größere Bedeutung zu, „eine Bedeutung, die sehr viel größer ist als vor 15 Jahren“, schrieb ein Branchenvertreter 1967. Damals, also Anfang der fünfziger Jahre, hätten die Reformhäuser noch kaum Konkurrenten gehabt, sondern eher Mühe, ihre Produkte überhaupt attraktiv für den Käufer zu machen. Heute aber sei der Konkurrenzkampf „wesentlich stärker und härter geworden.“654 Das Unternehmen Eden in Bad Soden bemerkte schon 1955 in seiner Hauszeitschrift, es werde „wohl nicht mit Unrecht diskutiert, daß für Reformhauswaren zu einem großen Teil immer wieder in denselben Kreisen geworben wird.“ Immer wieder würden vor allem „Freunde des Reformhauses und langjährige Kunden […] mit all den Werbemitteln bedacht […], die im Reformhaus zur Verteilung gelangen.“ Selbstverständlich dürfe die Werbung die alten Kunden nicht vernachlässigen, und auch die Hersteller könnten nicht darauf verzichten, in lebensreformerisch ausgerichteten Zeitschriften oder Büchern zu inserieren. „Wesentlich scheint uns aber, eine Werbung zu betreiben, die wirklich dazu angetan ist, den Käuferkreis des Reformhauses zu erweitern bzw. neue Menschen für die Idee der Lebensreform zu gewinnen“ – ein mittlerweile bekanntes Argumentationsmuster. So habe das Unternehmen Eden als erster Reformwarenhersteller mit der Werbung im Rundfunk begonnen und „die Anzeigenwerbung durch Texte, die in den Textteilen der Zeitungen eingestreut werden, als erste aufgegriffen und eingeführt.“ Als im Jahr 1955 im Magazin Der Stern ein Artikel erschien, „der sich in kritischer Form mit Fehlern und Nachteilen in der Lebensmittel-Industrie“ auseinandersetzte, habe man das zum Anlaß genommen, in einer Anzeige im selben Heft „in anschaulicher, großzügiger Weise unsere Richtlinien herauszustellen und weit 651 652 653 654

Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 278. Der Reformwarenfachmann vom 20. Oktober 1941, S. 173; Der Reformwarenfachmann vom 15. Dezember 1941, S. 202. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juni 1942, S. 70. SCHOENENBERGER, Kritische Bemerkungen (wie Anm. 580), S. 6.

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2. Lebensreform als Netzwerk

über 1 Million Leser auf das Reformhaus und das neuform-VDR-Zeichen hinzuweisen.“655 Im Mai und Juni 1975 machten die Reformhäuser zum ersten Mal Fernsehwerbung beim Sender Freies Berlin und im Vorabendprogramm des Zweiten Deutschen Fernsehens. Die Neuform nannte das „die bedeutendste Werbemaßnahme in der Geschichte der neuform-Reformhäuser“. Der Schritt kam verhältnismäßig spät, wenn man bedenkt, daß die „Konsolidierung“ des Werbefernsehens schon Mitte der sechziger Jahre, also zehn Jahre zuvor, abgeschlossen war.656 Insgesamt wurden 43 Einschaltungen des Spots gesendet, was angeblich „fast sechs Millionen Verbraucherkontakte“ bedeutete. Neben der „Erhöhung des Bekanntheitsgrades des neuform-Zeichens“, der Betonung von Natürlichkeit und Produktqualität und der unmittelbaren Umsatzerhöhung der beworbenen Produkte nannte die Neuform auch den „Abbau negativer Assoziationen, die ,NochnichtReformhauskunden‘ möglicherweise mit dem Reformhaus verbinden“, und die „Erschließung neuer Verbraucherschichten“ als „Aktionsziele“ der Fernsehspots.657 Damit hatte sich die einst abgelehnte „öffentliche Groß-Reklame“ als Werbemittel vollkommen durchgesetzt. Die Werbung im Reformhaus selbst mit Reformzeitschriften, Faltblättern mit Rezeptvorschlägen und ähnlichem blieb aber ebenfalls wichtig. Viele Reformhausinhaber gingen allmählich dazu über, die Hefte vor ihren Geschäften auf Ständern zum Mitnehmen anzubieten, um ebenfalls mehr und andere Menschen zu erreichen als nur die, die ohnehin hineinkamen und kauften. Neben neuen Werbetechniken wandte die Branche aber nach wie vor auch noch alte und erprobte an. So veröffentlichte das Neuform-Echo in den fünfziger Jahren in jedem Heft einen „Werbebrief des Monats“, den die Reformhausinhaber für Wurfsendungen in ihrem Umkreis als Vorlage benutzen konnten. 2.4. MENSCHEN Für die Entwicklung der Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert waren zwei Personengruppen entscheidend: zum einen die Funktionäre der Reformwarenwirtschaft, die außerhalb der Branche meist unbekannt blieben (2.4.1.), und zum anderen jene Autoren, die sich mit ihren Gesundheitskonzepten oft auch in Kreisen, die über die Reformbewegung hinausgingen, im Wortsinn „einen Namen machten“ (2.4.2.).

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Eden-Hauspost, Juni 1955, S. 22f. GRIES, Produkte (wie Anm. 27), S. 176. Neuform-Echo, Juni 1975, S. 25f.

2.4. Menschen

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2.4.1. Die „Generation Reformhaus“

2.4.1.1. Das Erklärungsmuster „Generation“ Es war eine überraschend konsistente Alterskohorte, die die Lebensreform im kurzen 20. Jahrhundert besonders prägte: die der um 1900, meist in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende Geborenen. Hatten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch Menschen ganz verschiedenen Alters die ideelle Aufbau- und Konsolidierungsphase der Bewegung bestimmt, so gestaltete jener feste Kern aus etwa Gleichaltrigen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich die Etablierung der lebensreformerischen Branche auf dem Konsumgütermarkt. Das heißt nicht, daß in den ersten Jahren der Genossenschaft nicht auch ältere und in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auch jüngere Menschen wichtige Positionen innerhalb der Reformbranche innegehabt hätten. Für sie ist aber keine derartige auf ihre Geburtsjahrgänge bezogene Geschlossenheit auszumachen wie für die hier zu untersuchende Alterskohorte, die auch die Branche selbst im Rückblick als eine Einheit wahrnahm. Die Geburtsjahre der beschriebenen Gruppe sind fast deckungsgleich mit denen der sogenannten Kriegsjugendgeneration, die Günther Gründel in seiner Schrift über „Die Sendung der jungen Generation“ von 1932 den Jahrgängen 1900 bis spätestens 1906/07 zuordnet.658 Hiermit ist ein Schlüsselbegriff gefallen, der seit den zwanziger Jahren und verstärkt wieder in neuerer Zeit sowohl als „erzähltechnische Allzweckwaffe“ als auch im Hinblick auf sein „analytisches Potential“ benutzt wird659: der Begriff der Generation. Aufgrund der verblüffend einheitlichen Geburtsjahrgänge der wichtigsten Protagonisten der Reformwarenwirtschaft des 20. Jahrhunderts soll dieses Deutungsmuster, dessen wissenschaftliche Verwendung noch heute im wesentlichen auf Karl Mannheims Aufsatz über „Das Problem der Generationen“ von 1928 aufbaut660 , auch hier herangezogen werden. 658

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Vgl. GÜNTHER GRÜNDEL, Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise. München 1932, bes. S. 22–48. Gründel unterscheidet drei generationelle Gruppen und ihr jeweiliges „Jugenderlebnis“: die junge Frontgeneration (geb. 1890–1900) mit dem „Fronterlebnis“, die Kriegsjugendgeneration (zwischen 1900 und 1906/07) mit dem „heimatlichen Kriegserlebnis“ und die Nachkriegsgeneration (nach 1910) mit der „Märchenwelt der Inflation“. ANDREAS SCHULZ/GUNDULA GREBNER, Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: dies. (Hrsg.), Generationswechsel und historischer Wandel. (= Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Bd. 36.) München 2003, S. 123, hier S. 4. Vgl. KARL MANNHEIM, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, VII. Jg. 1928, S. 157–185, 309–330. – Zum wissenschaftlichen Generationenbegriff und zu Mannheim SCHULZ/GREBNER, Generation und Geschichte (wie Anm. 659), S. 5–8. – Vgl. auch BARBARA STAMBOLIS, Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert. (= Edition der deutschen Jugendbewegung, Bd. 11.) Schwalbach/Taunus 2003, S. 17–20, 75–88.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Nach Mannheim gilt es, „das spezifische Miteinander der in der Generationseinheit verbundenen Individuen zu klären“, will man sich „das Phänomen des Generationszusammenhanges auf seine Fundamentalstrukturen hin“ vergegenwärtigen.661 Vor dem Wie muß aber zunächst die Frage nach dem Ob eines solchen „spezifischen Miteinanders“ hinsichtlich der in Frage stehenden „Generation Reformhaus“ beantwortet werden. Denn zwar können biographische Stationen mit Ulrich Herbert „als eine Sonde“ angesehen werden, die es ermöglicht, „das Funktionieren der Apparate ebenso wie das Handeln und Denken der Protagonisten aus der Nähe zu studieren.“ 662 Aber auch Herbert nennt die Verwendung des Begriffs der Generation als historische Kategorie „problematisch, weil weder exakt definiert werden kann, was eine Generation jeweils ausmacht und definiert, noch die Auswirkungen einer kollektiven Generationserfahrung einigermaßen präzise herausgestellt und als solche von anderen Einflüssen getrennt betrachtet werden können.“ Daher sei es nur dann fruchtbar, das Deutungsmuster der Generation zu verwenden, „wenn besonders bedeutsame und langfristig folgenreiche Ereignisse und Entwicklungen die Erfahrungen einer zu dieser Zeit heranwachsenden Altersgruppe geprägt und dadurch relativ scharf von den Erfahrungen anderer Altersgruppen unterschieden haben.“663 Diese Voraussetzung scheint hinsichtlich der zu untersuchenden Gruppe der zwischen 1900 und 1906 geborenen Vertreter der Lebensreform angesichts der prägenden Ereignisse des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm) nahezu idealtypisch gegeben. Bis auf das Ende dieser Epoche in den Jahren um 1990, an dem nur einige der Reform-Funktionäre noch lebten, erlebte die „Generation Reformhaus“ das gesamte „kurze 20. Jahrhundert“ mit seinen Verwerfungen, Kriegen, politischen Systemen und Gesellschaftsstrukturen. Ihr gesamtes Berufsleben war von den extremen Bedingungen und Ereignissen dieser Epoche geprägt. 2.4.1.2. Wie sich die Generation konstituiert Alle Personen, die der „Generation Reformhaus“ zuzurechnen sind, waren in wenigstens einem der Verbände oder einer der Organisationen der Lebensreform tätig, meist in der Reformwarenwirtschaft. Auf die Untersuchung von Reformhausinhabern und Reformwarenproduzenten ohne weiteres Amt in der Branche verzichtet die Untersuchung. Die biographischen Stationen der um die Jahrhundertwende geborenen Reformhausinhaber ähneln sich zwar so stark (Geschäftsgründung meist um 1926/27, Mitarbeit der Frau im Geschäft, Soldatenzeit, Zerstörung im Krieg, Wiederaufbau, oft Gründung weiterer Geschäfte und Eintritt der Kinder ins Geschäft 664), daß auch hier mühelos von einer Generationserfahrung gesprochen werden könnte. Mit der „Generation Reformhaus“ sind aber die un661 662 663 664

MANNHEIM, Problem der Generationen (wie Anm. 660), S. 170. ULRICH HERBERT , Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989. Bonn 1996, S. 25. Ebd., S. 42. Vgl. nur Neuform-Echo, März 1976, S. 22f.; Neuform-Echo, April 1976, S. 22.

2.4. Menschen

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mittelbar gestaltenden Kräfte der Reformwarenwirtschaft gemeint, also die auch branchenpolitisch tätigen Mitglieder der verschiedenen Verbände. Wenn oben gesagt wurde, daß die „Generation Reformhaus“ die Geburtsjahrgänge von 1900 bis 1907 umfaßte, so gilt das nur mit der Ausnahme von Hans Gregor und Karl Dielmann, die jeweils schon 1897 zur Welt kamen. Trotzdem müssen beide der „Generation Reformhaus“ zugerechnet werden: Gregor prägte die Branche bis zu seinem frühen Tod 1935 als wichtigster Wissensvermittler über Lebensreform und nach seinem Tod als geistige Bezugsperson der länger Lebenden aus der Gruppe wie kein anderer. Dielmann war im Gegensatz zu anderen vor der Jahrhundertwende Geborenen665 auch nach 1945 noch an führender Stelle in der Branche gestaltend tätig. Der Generationsbegriff wird also mit Marc Bloch bis zu einem gewissen Grad als dehnbar aufgefaßt, „wie jeder Begriff, der Menschliches unverzerrt auszudrücken sucht.“666 Hanns Georg Müller, dessen Geburtsjahr nicht ermittelt werden konnte, käme selbst dann nicht als Angehöriger der „Generation Reformhaus“ in Frage, wenn er, was nicht ausgeschlossen erscheint, im Zeitraum zwischen 1900 und 1907 geboren sein sollte. Denn er tauchte 1933 aus dem Nichts auf, um in den vierziger Jahren wieder nahezu ins Nichts zu verschwinden. Anfang 1951 durfte er für das Reformwaren-Echo noch einige „Grundwerke“ neuer lebensreformerischer Literatur zusammenstellen.667 Außerdem erschienen seit 1950 und bis in die sechziger Jahre hinein in seinem Verlag sowohl der Nachfolger des 1938 von ihm begründeten Jahrbuchs der Deutschen Lebensreform unter dem Titel Neues Jahrbuch der Lebensreform668 als auch eine Zeitschrift mit Namen Spur des Lebendigen.669 Über diese Veröffentlichungen hinaus spielte er keine Rolle mehr. Müller prägte also im wesentlichen nur die Lebensreform des „Dritten Reichs“ und weder die davor noch jene danach. Alle Angehörigen der „Generation Reformhaus“ sind Männer. Die „männliche Dominanz im gesamten öffentlichen Leben dieser Zeitepoche“, die Jürgen Reulecke mit Blick auf die jugendbewegte „Jahrhundertgeneration“ der in den

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Das gilt etwa für Joseph Krings (1892–1982). Im Ersten Weltkrieg Soldat, war er dann mehrere Jahre lang Vorstandsmitglied der Frankfurter V.D.R., nahm an den Einigungsverhandlungen zwischen dieser und der Oranienburger Neuform teil und wurde auf der Gründungsversammlung der Neuform-VDR am 13. Juli 1930 in den Aufsichtsrat der Genossenschaft gewählt, wo er bis 1934 blieb. In der Bundesrepublik scheint er in der Branche keine Positionen mehr innegehabt zu haben. Vgl. Neuform-Echo, Oktober 1972, S. 26; NeuformEcho, Mai 1982, S. 31. MARC BLOCH, Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers. Stuttgart 2002 [zuerst 1974, franz. 1949], S. 203. Reformwaren-Echo vom 1. März 1951, S. 78. Vgl. etwa HERBERT WARNING (Hrsg.), Neues Jahrbuch der Lebensreform 1956. Mit Anschriftenverzeichnis. Krailing bei München 1955. – 1956 war Müller Mitunterzeichner eines „Programms zur Rettung der Volksgesundheit“ der „Gesellschaft für Gesundheitskultur“. Dort wird er ebenfalls als Verleger in Krailing bei München aufgeführt: Reform-Rundschau, Januar 1956, S. 3f. Neuform-Echo, Mai 1954, S. 240.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Jahren nach 1900 Geborenen feststellt 670 , zeigt sich auch in der Reformwarenwirtschaft. Die Spitzenpositionen der Reformwarenunternehmen bekleideten fast nur Männer, und auch im Vorstand und im Aufsichtsrat der Neuform-Genossenschaft waren seit ihrer Gründung in der Weimarer Republik bis heute kaum Frauen. Ein Beispiel für eine in der Branchenpolitik tätige Frau ist Ellen Eitmann (geb. 1893671) aus Hamburg, die zwischen 1949 und 1959 wechselnd beiden Gremien angehörte. Das Neuform-Echo schrieb 1953 anläßlich ihres 60. Geburtstags: „Bekanntlich ist die Zahl der berufstätigen Frauen in der Reformwarenwirtschaft bei weitem stärker als die der Männer. Jedoch selten seit Bestehen unserer Branche waren es Frauen, die aktiv an der Lenkung der Branche und des Berufslebens teilgenommen haben.“672 Die von Anfang an hohe Zahl der Frauen, die als Angestellte in Reformhäusern arbeiteten oder auch selbst Reformhäuser führten, stieg im Lauf der Jahrzehnte noch. Darüber hinaus stellten Frauen auch den größten Anteil der Kunden der Reformhäuser. Diese Geschichte der Lebensreform ist aber nicht eine Sozialgeschichte, sondern eine Geschichte der geistigen und materiellen Produkte der Bewegung. Stimmen hörbar zu machen, die sonst stumm bleiben, ist ein legitimes Anliegen. Diese Studie sammelt aber vor allem Stimmen, die die deutsche Gesellschaft auch tatsächlich hörte. Und diese waren eben im Fall der Lebensreform meist männliche Stimmen. Die nachfolgende Tabelle stellt die Lebensdaten der Personen aus der „Generation Reformhaus“ und die wichtigsten Funktionen zusammen, die sie innerhalb der Lebensreform innehatten.

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JÜRGEN REULECKE, Im Schatten der Meißnerformel: Lebenslauf und Geschichte der Jahrhundertgeneration, in: WINFRIED MOGGE/ders., Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988, S. 11–32, hier S. 13. Ellen Eitann starb wahrscheinlich um 1986. Neuform-Echo, April 1953, S. 143.

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2.4. Menschen

Name Werner Altpeter

Funktion Mitarbeiter der Reform-Rundschau 1925–1975, seit 1932 als Schriftleiter Hein Beba Mitglied in Vorstand/Aufsichtsrat der Neuform 1952–1961 Karl Dielmann Mitglied in Vorstand/Aufsichtsrat der Neuform 1933–1935, 1940–1952, 1956–1966 Fritz Fellisch Verschiedene Positionen in der Branche seit 1947 Hermann Forschepiepe Schriftleiter lebensreformerischer Zeitschriften 1928–1939, 1951–1982 Hans Gregor Schriftleiter Das Reformhaus 1925–1932 Geschäftsführer der Neuform-VDR 1930–1932 Leiter der Reformhausfachschule 1932–1935 Kurt Großmann Leiter der „Eden-Waren-GmbH“ 1950–ca. 1985 Mitglied im Vorstand des VRH 1961–1977 Alfred Liebe Geschäftsführer der Neuform-VDR 1932–1939 Verschiedene Positionen in der Branche 1950– 1954 Alfred Lobbedey Vorstandsmitglied der Neuform-VDR 1940–1949 Ernst Mann Mitarbeiter der Reformhausfachschule 1932–1935 und seit 1948 Verschiedene Positionen in der Branche 1951– 1974 Paul Neuhaus Mitglied in Vorstand und Aufsichtsrat der Neuform 1933–1937, 1942/43 Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ seit 1935 Verschiedene Positionen in der Branche 1952– 1957 Walther Schoenenberger Leiter der Werbegemeinschaft WDR seit 1937 Nach 1945 verschiedene Positionen in der Branche Georg Erwin Schwarz Mitglied im Vorstand der Neuform seit 1945 Franz Thiemann Seit 1941 zahlreiche Positionen in der Branche

Lebensdaten 1902–1985 1904–1986 1897–1980 1906–? 1902–? 1897–1935

1906–1990 1902–1983

1905–1979 1905–1991

1905–1979

1900–1981 1907–1982 1906–2000

2.4.1.3. Die Akteure der Generation Der folgende Abriß skizziert die wichtigsten biographischen Stationen der einzelnen Personen, soweit das vorhandene Quellenmaterial sie überliefert hat. Im Anschluß wird aus den Gemeinsamkeiten der Biographien dieser Männer die allgemeine Generationserfahrung der Gruppe sichtbar gemacht. x Werner Altpeter (1902–1985) wurde als Sohn eines Ingenieurs und Industriellen in Heilbronn am Neckar geboren. Als Kind kam er nach Frankfurt am Main, wo er von 1909 bis 1918 die Klinger-Oberrealschule besuchte und von 1918 bis 1920 eine Lehre bei der Raiffeisenbank

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2. Lebensreform als Netzwerk machte. Anschließend arbeitete er bis 1925 als Kaufmann im landwirtschaftlichen Genossenschaftswesen. 1921 trat Altpeter in den „Deutschen Turnerbund“ ein, deren Frankfurter Jugendgruppe er zehn Jahre lang leitete. Von 1922 bis 1931 gehörte er einer völkischen Wandervogelgruppe an, 1922 und 1923 der „Brigade Ehrhardt“, die im Kapp-Putsch das Regierungsviertel in Berlin besetzt hatte und wie alle Freikorpsverbände 1920 eigentlich offiziell aufgelöst worden war. 1925 trat Altpeter „auf Grund der Schriften von Theodor Fritsch“, eines Deutschvölkischen und Antisemiten673, aus der evangelischen Kirche aus. In einem Fragebogen gab er im April 1937 „gottgläubig“ als Religion an, in einem im Selbstverlag erschienenen Heft über „Ursprung und Sinn des Weihnachtsfestes“ bemühte er sich um eine „symbolisch-esoterische“ Auslegung des Festes.674 Altpeter war von Anfang an in den Redaktionen der Kundenzeitschrift Reform-Rundschau und ihrer Vorläufer Das Reformhaus und Neuform-Rundschau tätig, seit 1925 als Hilfsredakteur des Schriftleiters Hans Gregor, seit 1932 selbst als Schriftleiter. 1931 zog er mit der NeuformVDR von Frankfurt nach Berlin um. Schon vor 1933 hielt Altpeter in Frankfurt, Wiesbaden und Berlin Vorträge „mit und ohne Lichtbilder über die Judenfrage.“ Im „Dritten Reich“ leitete er den Ortsverein Groß-Berlin der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und den „Arbeitskreis für Presse und Schrifttum“ der „Deutschen Lebensreform e.V.“. Der NSDAP trat er zunächst nicht bei, weil die Arbeit im Turnerbund „mich voll in Anspruch nahm.“ Er war aber nach eigenen Angaben bei der Gründung der Frankfurter Ortsgruppe der Partei zugegen. Am 1. März 1937 trat er dann doch in die NSDAP ein. Zu dieser Zeit lief ein Verfahren um das Verbot seines Buches „Werde Menschenkenner“, so daß es naheliegt, daß Altpeter mit seinem Parteieintritt eine Wiederzulassung des Bandes befördern wollte, der sich mit Fragen der „Naturellehre“ und der „Charakterkunde“ beschäftigte, also einen esoterischen Anstrich hatte und rassentheoretisch von den Vorstellungen der Nationalsozialisten abwich. Im Krieg war Altpeter Soldat. Die deutsche Niederlage traf ihn tief. Im April 1949 gab er die erste Reform-Rundschau der Nachkriegszeit heraus. Anfang der fünfziger Jahre war er Mitgründer der „Deutschen Volksgesundheitsbewegung“ und der „Gesellschaft für Lebensreform“. Er heiratete erst im reiferen Alter. Seine Frau Anneliese, wohl zuvor lange Jahre seine Sekretärin, publizierte in späteren Jahren unter dem Pseudonym „Anneliese von der Alz“ in der Reform-Rundschau als „Lebensberaterin“. 1975 beendete Altpeter seine Lehrtätigkeit in der Reformhaus-Fachschule, die er seit

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Biographische Angaben zu Theodor Fritsch (1852–1933) in: GERSTNER, Rassenadel (wie Anm. 3), S. 99. Wobei er sich unter anderem auf die Theosophin Helena Petrowna Blavatsky und den „Christ-Revolutionär“ und Naturarzt Karl Strünckmann berief. Vgl. WERNER ALTPETER, Vom Ursprung und Sinn des Weihnachtsfestes. Bad Homburg 1959.

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1947 ausgeübt hatte. Nach fünfzig Jahren in der Redaktion gab er zum 1. Januar 1976 auch die Schriftleitung der Reform-Rundschau ab.675 Hein Beba (1904–1986), dessen Vorname eigentlich Heinrich war, wuchs in einer Zechensiedlung in Gelsenkirchen dicht am Wald auf, die „ein Paradies für uns Kinder war“. Dort vergaßen er und seine Kameraden „bei unseren oft abenteuerlichen Spielen […] oft den Hunger, den der erste Weltkrieg allen beschert hat“. Zunächst im „Christlichen Verein junger Männer“ (CVJM) aktiv, widersprach Beba seinem Pfarrer, als dieser in einer Gruppenstunde die Spartakisten als „Abschaum der Menschheit“ bezeichnete. Daraufhin nannte der Geistliche Beba dessen Erinnerung nach einen „Kommunisten“ und fuhr fort: „Für Sie ist kein Platz in einem christlichen Verein.“ So fand Beba „zur Jugendbewegung, zu den Wandervögeln“, wo seiner Ansicht nach „ohne Scheuklappen diskutiert“ wurde. Mit fünfzehn Jahren wurde er Vegetarier. Um 1921 hörte er mit seiner Wandervogelgruppe einen Vortrag über die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells (1862–1930) mit ihren zentralen Begriffen Freiland, Freigeld und Festwährung. „Beim Hinausgehen sagte ich zu einem Freund, es war wie in der Kirche.“ Beba wurde Obmann in einem freiwirtschaftlichen Jugendverband. Beruflich war er zunächst Bergwerksvermesser, später lernte er das Tischlerhandwerk. Seit 1932 betrieb er Reformhäuser, zunächst in Westfalen, seit 1938 am Bodensee. In diesem Jahr heiratete er auch. Er hatte drei Kinder. Die Soldatenzeit verbrachte er nach eigenen Angaben mit Hilfe von Hermann Hesses „Siddharta“, „ohne einen Menschen getötet zu haben“, 1945 floh er aus einem russischen, dann aus einem amerikanischen Gefangenenlager. Wieder zu Hause in Konstanz, engagierte sich Beba abermals für die Freiwirtschaft, aber ohne großen Erfolg: „Hier hat Erhards Wirtschaftswunder den erneuten, begeisterten Anlauf gebremst.“ Im September 1951 gründete er die Kundenzeitschrift Neuform-Kurier, deren erste Nummern in Konstanz entstanden. 1951– 1956 war Beba Obmann der Neuform für die Gruppe Baden-Württemberg-Süd, 1952–1956 Aufsichtsratsvorsitzender der Neuform, 1956 bis 1961 Vorstandsmitglied der Neuform, 1954–1961 Mitglied im Verwaltungsrat der „Förderungsgesellschaft der Reformwaren-Wirtschaft“

BArch (ehem. BDC), RK, Altpeter, Werner, 8. August 1902; BArch (ehem. BDC), NSDAPMitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Altpeter, Werner, 8. August 1902; Leib und Leben, Dezember 1937, S. 248; ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299), S. 57f.; Eden-Hauspost, Nr. 3, 1962, S. 6; Erfassungsbogen für biographische Angaben, 6. November 1968, Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 41; Reform-Rundschau, Dezember 1975, S. 18–21 (hier wird „Anneliese von der Alz“ Altpeters „langjährige Sekretärin“ genannt); Neuform-Echo, August 1977, S. 22f. (hier der Hinweis, daß die deutsche Niederlage Altpeter schwer traf); Neuform-Echo, August 1982, S. 17f.; Neuform-Echo, November 1985, S. 31.

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(F.d.R.). Nach seinem vierzigjährigen Geschäftsjubiläum zog er sich 1972 aus seinen Geschäften zurück.676 Karl Dielmann (1897–1980) wurde in Wattenscheid im Ruhrgebiet geboren. Er stammte aus einer Bergarbeiterfamilie. Nach der Mittleren Reife begann er wie Beba eine Lehre unter Tage, mußte diese aber abbrechen, weil er im Ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Anschließend war er kurz als Korrespondent einer „Exportfirma“, als Einkäufer für Bergwerksbedarf und als Korrektor einer Zeitung tätig. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wurde er dann als „arbeitsunfähig“ eingestuft und bekam eine Rente. Dielmann kaufte 1927 zum ersten Mal in einem Reformhaus ein. Kurz darauf nahm er an einer lebensreformerischen Tagung im Sanatorium des Naturarztes Karl Strünckmann in Blankenburg teil, las Bücher des Schweizer Arztes Bircher-Benner und anderer Reformer. 1931 entschloß er sich, ein Reformhaus zu eröffnen. Ende 1933 kam er mit Paul Neuhaus in den von Alfred Liebe geleiteten Vorstand der Neuform-VDR, 1935 trat er wieder aus ihm zurück. 1940 bis 1946 gehörte er dem Aufsichtsrat an, seit 1946 wieder dem Vorstand, in dem er zunächst mit Alfred Lobbedey zusammenarbeitete. Im Februar 1949 übernahm Dielmann die alleinige Geschäftsführung des Vorstandes. Wegen eines Streits in der Branche – die Hersteller warfen ihm „Obstruktion“ vor677 – legte Dielmann sein Amt als geschäftsführendes Vorstandsmitglied 1952 nieder und eröffnete in West-Berlin ein neues Reformhaus. Er gab es aber bald schon wieder auf, weil er 1956 wieder in den Vorstand der Genossenschaft eintrat und geschäftsführendes Vorstandsmitglied wurde, was er bis 1966 blieb. 1957 bis 1967 war Dielmann außerdem Mitgeschäftsführer der Förderungsgesellschaft F.d.R.678 Fritz Fellisch (1906–?) gehörte seit seinem sechzehnten Lebensjahr der Jugendbewegung an. Er gründete 1932 in Neusalz an der Oder ein Reformhaus, das er im Februar 1939 nach Frankfurt an der Oder verlegte. Zu Beginn des Krieges wurde er eingezogen und kam danach in Gefangenschaft, seine Frau führte das Geschäft weiter. 1945 zerstörten Bomben Geschäft und Wohnung. Bis 1950 konnte das Ehepaar das wiedereröffnete Reformhaus erhalten, im Mai 1951 zog es jedoch nach Hamburg, wo ein neues Reformhaus und 1954 eine Filiale entstanden. Im März 1947 kam Fellisch in den Aufsichtsrat der Neuform, bald wurde er dessen Vorsitzender. 1952 legte er dieses Amt nieder und kam in den Vorstand der berufsNeuform-Echo, Juli 1957, S. 196; Gefährten, April 1963, S. 4; Neuform-Echo, Dezember 1972, S. 28; Neuform-Echo, Januar 1984, S. 17; Neuform-Kurier, März 1984, S. 32; HEIN BEBA, 80 Jahre alt und noch kein bißchen müde [geheftete Blätter, 1984]. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 115. Dazu oben S. 112. Neuform-VDR-Fachblatt vom 1. Dezember 1933, S. 350; Eden-Hauspost, Nr. 3, 1962, S. 7; Reform-Rundschau, April 1966, S. 2; Neuform-Echo, Juni 1966, S. 22, 26; Neuform-Echo, Oktober 1972, S. 28; Neuform-Echo, September 1977, S. 22; Neuform-Echo, August 1980, S. 24.

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ständischen Vertretung „Refo“, kurz darauf wechselte er wieder zur Neuform.679 Hermann Forschepiepe (1902–?), der in Siegen geboren wurde und evangelisch war, machte nach dem Besuch der Volksschule und des Realgymnasiums in Siegen zunächst eine kaufmännische Lehre in der Industrie. Zwischen 1920 und 1933 war er Wandervogel, seit 1919 außerdem im „Reichsverband für Deutsche Jugendherbergen“ tätig, anfangs ehrenamtlich, seit 1923 hauptberuflich in der Reichsgeschäftsstelle des Verbandes. Er baute die Jugendburg Freusberg im Siegtal aus und gründete die „Freusburg-Arbeitsgemeinschaft für Lebenserneuerung“. Von 1930 bis 1935 war er Mitglied des „Sauerländischen Gebirgsvereins“. Am 10. April 1933 wurde Forschepiepe als Werbe- und Verlagsleiter beim „Reichsverband für Deutsche Jugendherbergen“ von der NS-Reichsjugendführung entlassen und verhaftet. Der Militärregierung der Siegermächte gab er im Januar 1947 an, er sei „von der Hitler-Jugend ständig verfolgt und wirtschaftlich geschädigt“, sein Vermögen sei 1933 für einige Monate beschlagnahmt worden. Forschepiepe schrieb weiter: „Ich habe seit 1933 in jeder mir möglichen Form gegen die Nazis gearbeitet und als einziger in Siegen mich offen zu den Juden bekannt […].“ Seine „Freusburg-Arbeitsgemeinschaft“ benannte Forschepiepe 1935 in „Neuleben-Kreis“ um. Sie bestand unter seiner Leitung fort, bis sie 1939 aufgelöst wurde. Die Vereinszeitschrift Neuleben gab er ebenfalls bis Ende 1939 in eigenem Verlag heraus. In den dreißiger Jahren war er Leiter einer „Auskunfts- und Beratungsstelle“ der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“. Forschepiepe heiratete spätestens 1937. Er war nicht Mitglied der NSDAP, aber der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Volkswohlfahrt. Die Frage, für welche Partei er bei der Novemberwahl 1932 und der Märzwahl 1933 gestimmt habe, beantwortete er der Militärregierung im Januar 1947 mit „Deutsche Staatspartei“. Dieser Partei gehörte er nach eigenen Angaben in den Jahren 1932 und 1933 auch als Mitglied an. Seit 1951 gab Forschepiepe die Medizinalpolitische Rundschau heraus, die 1956 nach einer dreijährigen Pause als Gesundes Leben neu erschien und zum Organ der „Deutschen Volksgesundheits-Bewegung e.V.“ wurde.680 Seit 1951 war er mit Altpeter und Rudolf Finke Geschäftsführer der „Arbeitsgemeinschaft der Volksgesundheits-Bewegung“. 1952 gestalteten die drei Männer die erste „Deutsche Volksgesundheitswoche“ in Koblenz, 1955 wurde Forschepiepe Vorsitzender der „Volksgesundheitswoche“. Immer wieder setzte er sich auch für die Aufhebung des Zwangs zur Pockenimpfung ein. Forschepiepe blieb

Neuform-Echo, Februar 1956, S. 58; Neuform-Echo, Juli 1957, S. 198; Neuform-Echo, September 1982, S. 30. Fellisch starb nach dem September 1992. Das Todesdatum konnte nicht ermittelt werden. Gesundes Leben, H. 1, 1956, Aufschlagsseite.

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bis wenigstens 1982, also bis in sein achtzigstes Lebensjahr, Schriftleiter der Zeitschrift Gesundes Leben.681 Hans Gregor (1897–1935), vollständig Harri Hans Gregor, kam in Schweidnitz bei Breslau auf die Welt. Er war evangelisch. Als Kind war er lange und schwer krank, als Erwachsener immer noch von schwächlicher Konstitution. Er bekam nur eine einfache Schulbildung und verdiente „danach als Jungarbeiter sein Brot“. Im Ersten Weltkrieg war er nicht an der Front. Seit 1919/20 wirkte Gregor in der „Huter-Bewegung“, die sich im Anschluß an Carl Huter (1861–1912)682 der Physiognomik, „Charakterkunde“ und „Naturellehre“ widmete und von der auch Altpeter beeinflußt war. Insgesamt verstand sich Gregor als „Autodidakt auf naturwissenschaftlichem, philosophischem und psychologischem Gebiet“. In den zwanziger Jahren heiratete er seine fast sechs Jahre ältere Frau Johanna (1892–1974). Das Paar bekam eine Tochter, Waldgart. 1925 übernahm Gregor nach Gründung der V.D.R. die Schriftleitung der Kundenzeitschrift Das Reformhaus. Nach dem Übergang der V.D.R. zur Genossenschaft 1927 kam er in den Vorstand, in dem er auch nach dem Zusammenschluß mit der Oranienburger Neuform zur Neuform-VDR von 1930 blieb. Anfang 1932 schied er aus der krisengeschüttelten Neuform-VDR aus und gründete in Blankenburg im Harz die erste Fachschule für Reformhausinhaber und Reformhausmitarbeiter, die Anfang 1933 nach Sobernheim an der Nahe umzog. Johanna Gregor bereitete dort die Mahlzeiten zu. Vor 1933 war Gregor Mitglied der „Volkskonservativen Vereinigung“. Nach 1933 saß er im „Führerrat“ der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“. Gregor starb 1935 an einer Hirnhautentzündung. An seiner Beerdigung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof nahmen viele Lebensreformer und Funktionäre der gleichgeschalteten Reformwarenwirtschaft teil. Am Abend nach der Zeremonie veranstaltete die Neuform-VDR eine Gedächtnisfeier, auf der ein „Erinnerungs-Aufbau“ die Totenmaske und ein Bild Gregors zeigte. Der Naturarzt Karl Strünckmann hielt eine Rede, in der er Gregor als Lichtgestalt und Führerfigur darstellte. In ähnlichem Ton veröffentlichte Altpeter einen Nachruf in der Neuform-Rundschau. Hier erscheint Gregor als edler, „nordischer“ Charakter. Auf einer Generalversammlung der Neuform-VDR in Stuttgart, die kurz nach seinem Tod im August 1935 stattfand, schmückte sein Bild die Mitte des Podiums, am 9. November 1935 weihte ein Pfarrer auf seinem Grab einen „Denkstein“.683 Leib und Leben, Mai 1936, S. 121; BArch (ehem. BDC), RK, Forschepiepe, Hermann, 11. August 1902; Reform-Rundschau, August 1972, S. 2; Neuform-Echo, August 1972, S. 24; Gesundes Leben, August 1982, S. 7. – Zu Forschepiepe vgl. auch oben im Kontext der Gleichschaltung der Vegetariervereine, von der auch sein „Neuleben-Kreis“ betroffen war, S. 70ff. Zu Huter Neuform-Rundschau, Oktober 1936, S. 257. Rundbrief der Neuform-VDR an die Mitglieder vom 13. Februar 1932; Neuform-VDRFachblatt vom 1. Juli 1932, S. 132–136; Neuform-VDR-Fachblatt vom 5. April 1933, S. 81; BArch (ehem. BDC), RK, Gregor, Hans, 7. November 1897; Neuform-VDR-Fachblatt vom

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Gregor war auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine allgegenwärtige Bezugsperson der länger Lebenden seiner Generation. Sie versuchten, die Erinnerung an ihn auch bei den jüngeren Branchenangehörigen zu verankern. An seinem zwanzigsten Todestag versammelten sich im Sommer 1955 hundert Teilnehmer der Reformhaus-Fachschullehrgänge zu einer Gedenkfeier an seinem Grab und sangen „Dona nobis pacem“.684 Johanna Gregor gründete nach dem Tod ihres Mannes ein Reformhaus in Frankfurt, das später nach Neu-Isenburg zog und in den siebziger Jahren von der Tochter Waldgart geführt wurde.685 Noch in den sechziger Jahren hing das Porträt-Foto Gregors in einem der Veranstaltungsräume der ReformhausFachschule in Oberstedten, bevor es – zur selben Zeit, als die übrige „Generation Reformhaus“ nach und nach starb – in die dortige Bibliothek wanderte, wo es jahrelang hing. 2004 wurde es bei Aufräumarbeiten abgehängt und in ein Regal gelegt. Kurt Großmann (1906–1990) wurde „in ein normales, bürgerliches Elternhaus in Berlin“ hineingeboren. Auf eine Anregung des späteren Geschäftsführers der Eden-Genossenschaft in Oranienburg Fritz Hampke686 kam er 1921 als Fünfzehnjähriger zum Wandervogel, 1924 wurde er Mitarbeiter der Obstbausiedlung in Oranienburg-Eden: „Bedingt durch die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem verlorenen ersten Weltkrieg zog es [Eden, F.F.] viele Angehörige der Jugendbewegung an, die vielfach über Eden mit lebensreformerischen Gedankengängen vertraut gemacht wurden und denen sich dort neue Berufsaussichten erschlossen.“ Großmann arbeitete in Eden als Korrespondent, Disponent und Einkäufer, im Herbst 1939 trat er in die Geschäftsführung ein. Wohl um dieselbe Zeit heiratete er seine Frau Elly.687 1937 trat er in die NSDAP ein. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in der Marine, wo er Offizier wurde. Großmann kam in britische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 zurückkehrte. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst in der pharmazeutischen Industrie. Im November 1948 stimmten der Edener Vorstand und Aufsichtsrat seinen „Darlegungen, wie ich mir einen Wiederaufbau und damit [eine] Weiterführung der Edener Arbeit vorstellen kann, ohne Geldmittel, mit allem Risiko, das damit verbunden ist“, zu. 1949 genehmigten sie ihm, ein Schwesterunternehmen im Westen aufzubauen. 1950 fing Großmann in Bad Soden am Taunus als Einmann-Betrieb an, aus dem in den Folgejah2. Juli 1935, S. 361–366; Leib und Leben, Juli 1935, S. 207, 218; Neuform-Rundschau, August 1935, S. 178f.; Edener Mitteilungen, Nr. 3, 1935, S. 107f.; Der Naturarzt, August 1935, S. 235; Neuleben, H. 8, 1935, S. 218; Neuleben, H. 9, 1935, S. 233–235; Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 7. Dezember 1935, S. 688f. Neuform-Echo, August 1955, S. 251. Neuform-Echo, November 1974, S. 24. Hampke löste 1922 den von 1903 bis 1922 amtierenden Otto Jackisch ab und blieb bis 1945 Vorsitzender der Eden-Genossenschaft. 1981 sprach Großmann von „über vierzig Ehejahren“. Ähnlich Neuform-Echo, September 1981, S. 15.

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ren ein „namhafte[r] Herstellungsbetrieb für qualitative Reformwaren“ wurde, der Anfang der achtziger Jahre mehr als 300 Mitarbeiter beschäftigte. Großmann war von 1961 bis 1977 Vorstandsmitglied des „Verbandes der Reformwaren-Hersteller“ (VRH). Er saß außerdem im Vorstand des „Verbandes der diätetischen Lebensmittel-Industrie“, zeitweise auch im Verwaltungsrat der Förderungsgesellschaft F.d.R. 1962 entstand auf seine Initiative hin die „EDEN-Stiftung zur Förderung naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege“. 1977 erhielt Großmann das Bundesverdienstkreuz am Bande. Mitte der achtziger Jahre gab er die Geschäftsführung der „Eden-Waren GmbH“ an seinen Sohn ab.688 Alfred Liebe (1902–1983) kam als Sohn eines konfessionslosen Oberkellners in Königsberg zur Welt, zog aber schon in seinem siebten Lebensjahr nach Berlin. Er selbst gehörte ebenfalls keiner Konfession an, nach Angaben seiner zweiten Frau aus dem Jahr 1944 war er „gottgläubig“. Nach der Schule besuchte Liebe drei Jahre lang die Humboldt-Universität, wo er bei Werner Sombart studierte, und eine Genossenschaftsschule. Über Jugendbewegung, „Prießnitz-Bund“ und „Biochemischen Verein“ lernte er das Reformhaus zunächst als Kunde kennen. 1929 gründete er mit seiner ersten Frau ein Reformhaus an der Frankfurter Allee in Berlin, 1930 und 1931 folgten zwei weitere. Ende 1931 wählte ihn die Gruppe Berlin der Neuform-VDR zum Obmann. 1932 trat Liebe in den Vorstand der Genossenschaft ein, in dem er bis 1939 blieb. Unmittelbar nach der Machtübernahme dementierte die Neuform-VDR Gerüchte „politischer Art“ über Liebe. Am 1. Mai 1933 trat er, wohl im Zusammenhang mit diesen Gerüchten, in die NSDAP ein – zum selben Zeitpunkt wie Paul Neuhaus und Walther Schoenenberger. Ein Brief Schoenenbergers weist darauf hin, daß die Nationalsozialisten Liebe wenigstens in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ mehr einen „Saulus“ als einen „Paulus“ sahen. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog sich Liebe wegen abermaliger „Gerüchte“ aus dem Vorstand zurück. Er meldete sich als Kriegsfreiwilliger. Im September 1944 heiratete er zum zweiten Mal, seine zweite Frau Elisabeth war Stereotypistin beim Reichsrundfunk. Liebe besaß zur selben Zeit ein Haus in Berlin-Frohnau, in dem außer dem Paar auch seine zwei Kinder aus erster Ehe lebten. Nach dem Krieg gründete Liebe einen Gartenbaubetrieb in Glienicke zwischen Potsdam und Berlin, also in der sowjetischen Besatzungszone. 1949 siedelte er in den Westen um und erschien im August, angeblich rein zufällig, überraschend auf der Generalversammlung der Neuform in Hannover. Seine Gegner stellten daraufhin den AnBArch (ehem. BDC), NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Großmann, Kurt, 7. September 1906; Neuform-Echo, August/September 1956, S. 238; Neuform-Echo, September/Oktober 1966, S. 110f.; Reform-Rundschau, September 1971, S. 2; Neuform-Echo, September 1971, S. 28–30; Neuform-Echo, September 1981, S. 14f.; Rede Großmanns anläßlich seines 75. Geburtstages am 7. September 1981. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 845; Neuform-Echo, August 1986, S. 37; Neuform-Echo Aktuell, Nr. 8/1990, S. 13; BAUMGARTNER, Ernährungsreform (wie Anm. 37), S. 238.

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trag zu beschließen, Liebe dürfe nie mehr ein Amt in der Genossenschaft bekleiden. Der Antrag wurde abgelehnt. Liebe übernahm kurz darauf die Leitung der neu geschaffenen „Milupa-Reform“ bei dem Unternehmen „Milupa-Pauly“ in Friedrichsdorf am Taunus. Schon 1950 wurde er Geschäftsführer der „Arbeitsgemeinschaft der Reformwaren-Hersteller“ (ADR), 1952 bis 1954 war er Geschäftsführer der Förderungsgesellschaft FDR (die sich damals noch ohne Punkte abkürzte). 1953 übernahm er die Schriftleitung des Neuform-Kurier. Liebe schied 1954 aus seinen Ämtern aus und baute eine Werbeagentur auf, die vor allem Aufträge für die Reformwarenbranche annahm und in der seine Söhne Heinz-Dieter und Hans-Joachim mitarbeiteten. Außerdem gründete er in Frankfurt ein neues Reformhaus.689 Alfred Lobbedey (1905–1979) führte mit seiner Frau Hilde vor dem Zweiten Weltkrieg zwei Reformhäuser in Berlin-Kreuzberg. 1935 war er Leiter der Gruppe Berlin-Land in der Berliner Ortsgruppe der Reformhausbesitzer, 1937 wählten ihn die 280 Berliner Reformhausinhaber zum Obmann, 1940 kam er in den Vorstand der Neuform-VDR, 1941 war er Mitglied im „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“ in der „Deutschen Lebensreform e.V.“. Nach dem Krieg wurde Lobbedey 1945 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Neuform, was er bis 1949 blieb. Außerdem eröffnete er ein neues Reformhaus in Wilmersdorf, weil die Kreuzberger Geschäfte von Bomben stark beschädigt waren. Nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand der Neuform blieb Lobbedey in der Branche tätig, so war er von 1964 bis 1968 Erster Vorsitzender des „Vereins der Reformwaren-Fachvertreter“ (VRF).690 Ernst Mann (1905–1991) kam in Frankfurt am Main zur Welt. Mit 18 Jahren stieß er zur Jugendbewegung und über sie zur Lebensreform. Er machte eine kaufmännische Lehre und hatte verschiedene „Stellungen in der Schreibmaschinenbranche“, bevor er 1928 oder 1929 als Assistent des Vorstandes in die V.D.R. in Frankfurt eintrat, wo er vor allem Mitglieder betreute und Kaufleute beriet, die ein Reformhaus gründen wollten. Mann blieb 14 Jahre lang als kaufmännischer Mitarbeiter für die Genossenschaft In dem erwähnten Brief Schoenenbergers heißt es, Liebe habe der Forderung Hanns Georg Müllers nach 500 Reichsmark für eine Reformküche im „Rudolf-Heß-Krankenhaus“ in Dresden sofort zugestimmt, was Schoenenberger, „etwas in Erstaunen versetzte. Es ist aus dem Saulus ein Paulus geworden“: Brief von Walther Schoenenberger an Ulrich Sabarth (Reform-Würz-Diät K.-G., Berlin-Halensee) vom 21. 6. 1937, S. 4. Eden-Archiv Oranienburg. – Vgl. weiterhin Neuform-VDR-Fachblatt vom 23. Dezember 1931, S. 332; BArch (ehem. BDC), NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Liebe, Alfred, 12. Juli 1902; Neuform-VDR-Fachblatt vom 6. Mai 1933, S. 118; BArch (ehem. BDC), RK, Liebe, Alfred, 12. Juli 1902; Reformwaren-Echo, Juli 1952, S. 235–238; Neuform-Echo, Juli 1972, S. 28–30; Neuform-Echo, Juli 1977, S. 32; Neuform-Echo, Mai 1983, S. 30f. – Zu Liebe vgl. auch oben 2.2.2.2.3., S. 78ff. Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Januar 1935, S. 35; ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 43; Neuform-Echo, August 1955, S. 249; Neuform-Echo, März 1975, S. 24; Neuform-Echo, April 1979, S. 24f.

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tätig, 1931 siedelte er mit der Neuform-VDR nach Berlin über. Unter Hans Gregor wurde er 1932 Mitarbeiter der Reformhaus-Fachschule, an der er bis Herbst 1935 tätig war. Im April 1940 wurde er Mitglied der NSDAP. Im Dezember 1935 eröffnete Mann mit seiner Frau in Oberursel bei Frankfurt am Main ein Reformhaus, 1939 folgte im benachbarten Oberstedten die Gründung einer Vollkornbrotbäckerei zusammen mit Fritz Lieken, die aber 1944 kriegsbedingt schloß.691 Das Reformhaus lief weiter, obwohl Mann von 1944 bis 1948 Soldat und in russischer Kriegsgefangenschaft war. Als er zurückkehrte, war seine Frau gestorben. Ende 1948 nahm er seine Tätigkeit im Reformhaus wieder auf und wirkte an den Kursen für Reformhausmitarbeiter von Altpeter, Willy Croy692 und dem Arzt Herbert Warning (1909–1985)693 im Kurheim „Der Aufstieg“ in Kronberg im Taunus mit. Aus der Neuform wurde er 1951 kurzzeitig als „Revolutionär“ ausgeschlossen und gründete daraufhin die „Förderungsgemeinschaft der Reformhäuser“ (FDR) als „Gegenorganisation“ mit. Er war jahrzehntelang an der Reformhaus-Fachschule in Oberstedten tätig. Mann saß in Gremien von Neuform, „Refo“ und F.d.R. Von 1969 bis 1974 übernahm er die Redaktion des Neuform-Kurier und des Neuform-Echo. 1983 zog er sich in den Ruhestand zurück.694 Paul Neuhaus (1905–1979) kam in Wuppertal-Barmen zur Welt. Da sein Vater um 1902 das dortige Reformhaus seines Freundes Carl August Heynen – eines der ersten Reformgeschäfte überhaupt – gepachtet hatte, wuchs Neuhaus mit der Lebensreform auf. Weil er Diplom-Kaufmann werden wollte, machte er das Wirtschaftsabitur, anschließend arbeitete er zwei Jahre lang in einer Nahrungsmittelfabrik. Dann ging er nach Leipzig, um beim Reformwarenwerk und Versandhaus „Thalysia“ in der Herstellung zu arbeiten und gleichzeitig an der Handelshochschule zu studieren. Er wechselte zur Hauptverkaufsniederlassung der „Thalysia“ in Berlin und übernahm im Alter von 20 Jahren, also Mitte der zwanziger Jahre, die Das „Liekenbrot“ gibt es auch heute noch. Croy war nach dem Ersten Weltkrieg Mitinhaber des 1910 gegründeten Frankfurter Reformhausunternehmens „Freya“ geworden, zu dem mehrere Reformhäuser gehörten und bis heute gehören. Er starb 1953 im Alter von 63 Jahren. Vgl. Neuform-Echo, April 1953, S. 180; Reformhaus Freya 75 Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. September 1985. Warning, geboren am 12. November 1909 in Osnabrück, trat am 1. Mai 1931 in die NSDAP ein. 1940 war er Oberbannführer der HJ: BArch (ehem. BDC), PK, Warning, Herbert, 12. November 1909. Weitere biographische Angaben zu Warning bei MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 270f. Warning wird hier nicht zur „Generation Reformhaus“ gezählt, weil er erst nach 1945 zur Reformbewegung kam. Das Geburtsjahr 1909 wäre aufgrund des hier zugrundegelegten dehnbaren Generationenbegriffs kein Ausschlußgrund gewesen. BArch (ehem. BDC), NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Mann, Ernst, 27. Juli 1905; Neuform-Echo, August 1955, S. 248; Neuform-Echo, September 1968, S. 62; Reform-Rundschau, Juli 1975, S. 2; Neuform-Echo, Juli 1975, S. 20f.; Neuform-Echo, September 1978, S. 21; Neuform-Echo, Juli 1985, S. 19; Neuform-Echo Aktuell vom 23. Juli 1990, S. 14; Neuform-Echo 23. September 1991, S. 13.

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Leitung des dortigen Sortiments Lebensmittel. Als der Vater 1926 starb, ging er nach Magdeburg, wo er mit der Mutter das Reformhaus weiterführte, das sein Vater nach Ablauf der Pacht des Wuppertaler Geschäfts gegründet hatte. In den folgenden Jahren eröffnete Neuhaus zwei weitere „Vollreformhäuser“ in Magdeburger Vororten. Anfang 1931 wählten ihn die 29 Mitglieder der Gruppe Mitteldeutschland-Ost der Neuform-VDR zum Obmann. Seit dem 1. Mai 1933 war er Mitglied der NSDAP. Ende 1933 kam er mit 28 Jahren in den Vorstand der Genossenschaft, in dem er bis Januar 1937 blieb. Kaum später wurde er Leiter der „Fachgruppe Reformhäuser“ im „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“ und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Neuform-VDR. Außerdem war Neuhaus seit August 1935 Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ in der „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ der „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ in der „Reichsgruppe Handel“. 1938 wurde er stellvertretender Leiter des „Vereins zur Förderung der Berufsausbildung des deutschen Reformwareneinzelhandels“, der die Fachschulung der Reformhausinhaber und ihrer Mitarbeiter mitgestaltete, 1941 leitete er den „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“ der „Deutschen Lebensreform e.V.“, 1942 kam er abermals in den Vorstand der Neuform-VDR. 1943 trat Neuhaus in die Wehrmacht ein. Er war verheiratet. Nach dem Krieg waren seine drei Geschäfte von Bomben zerstört. Neuhaus führte eines von ihnen behelfsmäßig weiter, ging dann aber in den Westen. Anfang 1952 eröffnete er ein Reformhaus am Dornbusch in Frankfurt am Main. Im selben Jahr wurde er Vorsitzender einer Fachgemeinschaft „Reformwaren“ und Vorsitzender des Bundesfachverbandes „Refo“, was er bis 1957 blieb. Danach verkaufte er wegen schwerer Krankheit sein Reformhaus und legte seine Ehrenämter nieder. Nach seiner Genesung wurde Neuhaus Referent für fachpolitische Fragen im „Refo“. 1973 ging er in den Ruhestand.695 Walther Schoenenberger (1900–1981) kam in Altstetten bei Zürich zur Welt. Er besuchte in Deutschland die Schule und studierte Pharmazie in München. Nach dem Ersten Weltkrieg war er Mitglied des völkischen „Schutz- und Trutzbundes“. Nachdem er 1924 oder 1925 sein Staatsexamen abgelegt hatte, eröffnete er in Cannstadt eine Apotheke. Seit dem Ende der zwanziger Jahre stellte er mit seiner Frau, einer Deutschen, die er 1928 heiratete und mit der er mehrere Kinder hatte, Säfte aus frischen Pflanzen her. Ebenfalls 1928 baute er in einer leerstehenden Brauerei in Magstadt bei Stuttgart sein Unternehmen für „Frischpflanzensäfte“ auf, blieb aber bis nach dem Zweiten Weltkrieg zugleich praktizierender Apotheker. In den Jahren 1927 und 1928 lehnte es die Frankfurter V.D.R. Neuform-VDR-Fachblatt vom 28. Februar 1931, S. 34; BArch (ehem. BDC), NSDAPMitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Neuhaus, Paul, 10. August 1905; Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 25. Januar 1937, S. 33; ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 43; Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1942, S. 109; Reformwaren-Echo, Februar 1952, S. 52; Neuform-Echo, August 1955, S. 248; Neuform-Echo, März 1973, S. 30; Neuform-Echo, Januar 1980, S. 13.

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2. Lebensreform als Netzwerk zweimal ab, mit Schoenenberger einen Lieferungsvertrag abzuschließen. Es gelang ihm aber, einige Reformhausinhaber von seinen Säften zu überzeugen und sie als Dauerkunden zu gewinnen. Daraufhin nahm die V.D.R. die Produkte doch auf. Besonders Hans Gregor setzte sich nun für Schoenenbergers Säfte ein. Im Sommer 1930 war Schoenenberger an der Gründung der Einheitsgenossenschaft Neuform-VDR beteiligt und kam in den Aufsichtsrat. Wie Liebe und Neuhaus trat er zum 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Nach der Trennung der Hersteller von der Einheitsgenossenschaft wurde Schoenenberger Leiter der 1937 gegründeten Werbegemeinschaft WDR. 1937 kam er in den „Führerrat“ der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“, 1941 war er Kassenwart dieses Vereins, der inzwischen „Deutsche Lebensreform“ hieß, und Mitglied in dessen „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“. Außerdem war Schoenenberger Obertruppführer der SA, einige Zeit führte er in Magstadt einen Sturm. Sein Pflanzensaftwerk erhielt 1938 wie auch das Oranienburger Unternehmen „Eden“ ein Gaudiplom für hervorragende Leistungen. Im April 1941 wurde Schoenenberger durch eine einstweilige Verfügung aus der NSDAP ausgeschlossen. Grund dafür waren zunächst Anschuldigungen, er habe gegen devisenrechtliche Bestimmungen verstoßen, vor allem ausländische Bankguthaben besessen. Obwohl ihm offensichtlich keine größeren Vergehen nachgewiesen werden konnten, saß Schoenenberger dreieinhalb Monate lang in Untersuchungshaft. Er legte Einspruch gegen den Parteiausschluß ein, blieb aber ausgeschlossen, weil er Schweizer war und der NSDAP nur Reichsdeutsche angehören durften. Offensichtlich war seine Staatsangehörigkeit bei der Aufnahme nicht überprüft worden. Ein Brief Schoenenbergers an einen anderen Reformwarenhersteller aus dem Jahr 1937 zeigt, daß Liebe die Verhandlungen mit Vertretern der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ und der NSDAP üblicherweise ihm überließ. Weiter schrieb Schoenenberger: „Gegen Schluss der Verhandlung waren Herr Liebe vollkommen und Herr Neuhaus teilweise eingeschlafen, sodass ich die Verhandlungen allein zu Ende führen musste.“ Er war in einem späteren Urteil „einer der aktivsten und dauerhaftesten, ja hartgesottensten Branchenpolitiker“: „Böse ,Zungen‘ und auch Freunde haben behauptet, Schoenenberger betreibe die Branchenpolitik als sein Hobby.“ Nach dem Krieg war Schoenenberger unter anderem in der „Arbeitsgemeinschaft der Reformwarenhersteller“ (ADR) und als Verwaltungsratsmitglied der F.d.R. tätig. Seit 1991 gehört die Firma Schoenenberger zur „Salus-Schoenenberger-Gruppe“. Das Unternehmen, zu dem auch andere ehemals eigenständige Reformunternehmen wie seit 1932 die „Olbas-Gesellschaft“ und das „Henselwerk“ gehören, unterhält eigene Bio-AnbauProjekte und produziert mehrere Millionen Flaschen Frischpflanzensäfte im Jahr. Anfang der siebziger Jahre bekam Schoenenberger das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Da er nach wie vor Schweizer Staatsangehö-

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riger war, fand die Verleihung im Deutschen Generalkonsulat in Basel statt.696 Georg Erwin Schwarz (1907–1982) machte eine Ausbildung zum Exportkaufmann und übernahm Anfang der dreißiger Jahre das Reformhaus seiner Eltern in Berlin-Mariendorf. Unmittelbar nach Kriegsende kam er – laut Neuform-Echo „[p]olitisch unbelastet“ – in den Vorstand der Neuform, wo Alfred Lobbedey sein Kollege war. Wenig später gründete er das „Plantana-Werk“, in dem zunächst Getreide verarbeitet wurde, später kamen Heilkräuter und Gewürze hinzu. Schwarz wurde Ende 1949 Mitarbeiter beim „Vitaquellwerk“. Im Jahr 1956 war er Mitgründer des „Vereins der Reformwaren-Fachvertreter“ (VRF), in den folgenden Jahren dessen Vorsitzender.697 Franz Thiemann (1906–2000), geboren in Hannover, war Sportler, litt aber an Furunkulose, was ihm beim Rudern und Skifahren Beschwerden machte. Das führte den Einundzwanzigjährigen 1927 als Kunden in ein Reformhaus. Im Herbst des folgenden Jahres fing er nach einer Fachausbildung beim Reformwarenwerk „Thalysia“ in Leipzig und in Reformhäusern in Hamburg und Frankfurt am Main als Mitarbeiter des Reformhauses „Emma Schmelz“ in Hannover an, in dessen Geschäftsführung er 1931 eintrat. Anfang der dreißiger Jahre lernte Thiemann Hans Gregor an dessen Fachschule kennen, zwei Jahre später verbrachte er drei Wochen in der „Bircher-Benner-Klinik“ in Zürich. Ende der dreißiger Jahre leitete er den Ortsverein Hannover der „Deutschen Lebensreform“, 1941 war er Mitglied im „Arbeitskreis Lebensreformwirtschaft“ dieses Vereins. Seit 1936 betrieb er die „Schmelz-Schule für Gesundkost + Diät“, die bis 1978 insgesamt 68.000 Menschen besucht hatten. Nach „totaler Ausplünderung“ im Krieg begann 1951 ein neuer Aufstieg des Reformhauses Schmelz, das Ende der siebziger Jahre das größte europäische Reformhaus-Unternehmen war. Thiemann war an der Gründung der Reformhaus-Fachschule in Oberstedten beteiligt und wurde deren Vorsitzender. Gemeinsam mit Neuhaus, Fellisch und später Rudolf Lamsfuß698 führte er außerdem die Brief von Walther Schoenenberger an Ulrich Sabarth (Reform-Würz-Diät K.-G., BerlinHalensee) vom 21. Juni 1937, S. 1, 4. Eden-Archiv Oranienburg; ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 42f.; BArch (ehem. BDC), PK, Schoenenberger, Walther, 7. Juni 1901; Reform-Rundschau, April 1952, S. 9; NeuformEcho, März 1972, S. 26f.; Reform-Rundschau, April 1972, S. 2; Reform-Rundschau, Juni 1976, S. 2; Neuform-Echo, Juni 1976, S. 20–22; Neuform-Echo, April 1977, S. 14, 16; Neuform-Echo, Juli 1977, S. 32; Neuform-Echo, Juni 1981, S. 25; Neuform-Echo, Februar 1983, S. 23; 75 Jahre Partnerschaft mit Schoenenberger. Mit Frischpflanzensäften zum Erfolg. Pressemitteilung der Neuform VDR vom 14. Mai 2002. Neuform-Echo, März 1972, S. 32; Neuform-Echo, November 1974, S. 24; Neuform-Echo, Februar 1982, S. 21; Neuform-Echo, August 1982, S. 18. Rudolf Lamsfuß (1905–1983) war seit 1954 Hauptgeschäftsführer des Refo. Außerdem arbeitete er an der Reformhaus-Fachschule mit. Da er erst mit seiner Tätigkeit für den Refo zur Reformbranche kam – nach Studium und Promotion zum Dr. rer. pol. war er kaufmännisch und auf Verbandsebene im Lebensmitteleinzel- und Lebensmittelgroßhandel tätig –,

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berufsständische Vertretung der Reformhäuser, den „Refo“. Über die Reformwarenwirtschaft hinaus war er in der „Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels“, in der Industrie- und Handelskammer HannoverHildesheim und in der „Gesellschaft zur Förderung der Ganzheitsmedizin“ tätig. Thiemann erhielt 1976 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Noch 1990 leitete er mit seinen Söhnen „die dreißig Schmelz-Reformhäuser im Großraum Hannover.“ Im Januar 1998 ehrte die „Werner-und-Elisabeth-Kollath-Stiftung“ mit Sitz in Bad Soden den 92 Jahre alten Thiemann mit einer Laudatio.699 Den Angehörigen der Alterskohorte von 1900 bis 1906/07 wurde laut Günther Gründel der Erste Weltkrieg, den sie in der Heimat und nicht an der Front erlebten, „in den ersten Jahren geistigen Erwachens zu einem ganz ungewöhnlichen, starken und einzigartigen Jugenderlebnis, das seine Spuren tiefer in die jungen Seelen eingegraben hat, als den meisten von ihnen heute [1932, F.F.] schon bewußt ist.“700 Ob das so war, sei hier dahingestellt. Mit Sicherheit überlagerte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, von der Gründel noch nichts wissen konnte, später jene des Ersten. Fest steht aber, daß die um oder kurz nach 1900 geborenen Lebensreformer in den unruhigen, von Revolution, Inflation und Not gekennzeichneten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ihr Berufsleben begannen, das sie meist ohne große Umwege in die Nähe der Lebensreform führte. Fast alle kamen über die Jugendbewegung701 (Altpeter, Beba, Fellisch, Forschepiepe, Großmann, Mann) oder über die Bekanntschaft mit wichtigen Persönlichkeiten der Lebensreform wie Hans Gregor (Altpeter, Thiemann), Bircher-Benner (Thiemann) oder Karl Strünckmann (Dielmann) zur Reformbewegung und damit auch in die Branche. Die meisten absolvierten kaufmännische oder technische Ausbildungen. Nur Liebe, Neuhaus und Schoenenberger studierten an Hochschulen. Diese drei erlangten zugleich die höchsten Positionen in der Reformwarenwirtschaft.

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wird er hier trotz seiner Zugehörigkeit zur entsprechenden Alterskohorte nicht als Angehöriger der „Generation Reformhaus“ untersucht. Zu Lamsfuß vgl. Neuform-Echo, September 1970, S. 32f.; Neuform-Echo, August 1975, S. 18; Neuform-Echo, September 1980, S. 23; Neuform-Echo, April 1983, S. 28f. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1939 (wie Anm. 299, S. 58; Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941, S. 43; Neuform-Echo, Februar 1956, S. 58; Neuform-Echo, Januar 1966, S. 21; Neuform-Echo, Januar 1971, S. 32; Neuform-Echo, Januar 1976, S. 18f.; Neuform-Echo, Juni 1976, S. 22; Neuform-Echo, Dezember 1978, S. 16; Neuform-Echo, Januar 1981, S. 22; Neuform-Echo Aktuell vom 17. Dezember 1990, S. 16; Reformhaus-Echo, März–April 1998, S. 21; WERNER-UND-ELISABETH-KOLLATH-STIFTUNG (Hrsg.), 3. Werner-Kollath-Tagung, Hannover 1998. Bad Soden 1998, S. 105–111; Reformhaus-Echo, März/April 2000, S. 19. GRÜNDEL, Sendung (wie Anm. 658), S. 32. Die Geburtsjahre der „Generation Reformhaus“ fallen in die Spanne der Geburtsjahre der jugendbewegten „Jahrhundertgeneration“ der zwischen 1900 und 1914 Geborenen, wie sie Jürgen Reulecke beschreibt: REULECKE, Im Schatten der Meißnerformel (wie Anm. 670), S. 11–32. Die Reform-Rundschau nannte anläßlich des 70. Geburtstags Alfred Liebes dessen Weg von der Jugendbewegung zur Lebensreform „typisch für Anhänger der Lebensreform in den zwanziger und dreißiger Jahren“: Reform-Rundschau, Juli 1972, S. 2.

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Als sich die junge Republik Mitte der zwanziger Jahre einigermaßen stabilisiert hatte, erfolgten zwischen 1925 und 1930 die verschiedenen Zusammenschlüsse auf dem Reformwarensektor. Das war zugleich die Zeitspanne, in der die jungen Männer in die Branche eintraten, meist als Reformhausinhaber. An den Gründungen der V.D.R. von 1925, der Oranienburger Neuform von 1929 und auch an jener der Einheitsgenossenschaft Neuform-VDR von 1930 waren die meisten von ihnen noch nicht beteiligt. Viele von ihnen begannen aber bald danach aussichtsreiche Karrieren in der noch nicht fest etablierten, aber zügig wachsenden Branche. Das gilt besonders für Alfred Liebe, der von 1932 bis 1939 die Geschäfte der Neuform-VDR führte, also seit seinem dreißigsten Lebensjahr, für Paul Neuhaus als Leiter der „Fachabteilung Reformhäuser“ und für Walther Schoenenberger auf der Seite der Reformwarenhersteller. Alle drei traten zum 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Altpeter, Großmann und Mann wurden erst später Parteimitglieder. Die anderen Generationsangehörigen finden sich zumindest nicht in der NSDAP-Mitgliederkartei des „Berlin Document Center“. Das „Dritte Reich“ erlebten aber auch andere dieser Männer auf bedeutenden Posten in den Organisationen der gleichgeschalteten Lebensreform, meist der Reformwarenwirtschaft. Neben Liebe und Neuhaus waren auch Dielmann, Gregor und Lobbedey in Vorstand und Aufsichtsrat der Neuform-VDR tätig. Im 1933 gegründeten „Nationalverband Deutscher Lebensreform-Unternehmen“, dessen drei Ausschüssen der Geschäftsführer der Eden-Genossenschaft Fritz Hampke (1885–1950) vorsaß, waren Gregor, Liebe und Schoenenberger die Stellvertreter des Vorsitzenden. 702 Gregor und Mann, die zuvor auch Ämter in der Genossenschaft innegehabt hatten, betrieben die private Reformhausfachschule. Altpeter und Forschepiepe gaben Zeitschriften heraus, Altpeter führte außerdem einen Ortsverein der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“. Schoenenberger war nach der Zerschlagung der Einheitsgenossenschaft, in deren Vorstand er gewesen war, einflußreicher Branchenpolitiker auf Herstellerseite, vor allem als Aufsichtsratsvorsitzender der Werbegemeinschaft WDR. Gregor saß im „Führerrat“ der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“; Liebe, Neuhaus und Schoenenberger waren Mitglieder im „Führerrat“ ihrer Nachfolgerin, der 1937 gegründeten „Deutschen Lebensreform-Bewegung“.703 Thiemann war 1940 „Bezirksfachabteilungsleiter“ in Hannover und saß in der Prüfungskommission des ersten „Kriegs-Prüfungskurses“, also eines Fachschulkurses, der Anfang 1940 nach einer mehrmonatigen Pause nach Kriegsausbruch wieder stattfand.704 Er war – wie auch Schoenenberger und Lobbedey – Mitglied des 1940 gegründeten „Arbeitskreises Lebensreformwirtschaft“705 und – wie Schoenenberger, Neuhaus und Lobbedey – der Arbeitsausschüsse der 1942 entstandenen „Deutschen Reformwarenwirtschaft e.V.“706 Seit 1943 leitete er mit 702 703 704 705 706

Leib und Leben, September 1933, S. 27. Leib und Leben, August 1938, S. 159. Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1940, S. 35. Der Reformwarenfachmann vom 15. Oktober 1940, S. 146. Der Reformwarenfachmann, Ende Januar 1943, S. 2f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

Neuhaus die „Fachabteilung Reformhäuser“.707 Unter den 21 Männern, die im Mai 1938 in Oranienburg-Eden einen „Kursus für die Berufsförderungswarte der Fachabteilung Reformhäuser“ absolvierten, waren Beba, Dielmann, Liebe, Lobbedey, Neuhaus und Thiemann. Neuhaus bestand nicht nur den Kurs, sondern saß auch – zusammen mit Schoenenberger – in der Prüfungskommission, war also Prüfling und Prüfer zugleich. Die Berufsförderungswarte waren nach bestandener Prüfung in ihren Bezirken mit dem „Zustandekommen der Kurse“ für andere Reformhausinhaber betraut.708 Beba, Fellisch und Großmann wirkten vor dem Krieg hingegen stärker als Unternehmer denn als Funktionäre. Die meisten der Männer dürften vor dem oder spätestens im Zweiten Weltkrieg geheiratet haben (mit Sicherheit Beba, Fellisch, Forschepiepe, Gregor, Großmann, Liebe, Lobbedey, Mann, Neuhaus, Schoenenberger, wohl auch Thiemann). Altpeter heiratete offensichtlich erst in späterer Zeit seine langjährige Sekretärin. Im Zweiten Weltkrieg waren viele von ihnen Soldaten (belegt bei Altpeter, Beba, Fellisch, Großmann, Liebe, Mann, Neuhaus), die meisten von diesen kamen in Kriegsgefangenschaft. Die deutsche Kapitulation hat wahrscheinlich nicht nur den „Patrioten Werner Altpeter auf’s [sic] tiefste getroffen“.709 Doch machten sich alle Angehörigen der „Generation Reformhaus“ sogleich an den Wiederaufbau, denn sie waren zu jung, um sich Ende der vierziger Jahre schon aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen. In der frühen Bundesrepublik hatten sie Ämter in der Neuform oder in anderen reformerischen Branchenvereinigungen inne oder wirkten, wie Altpeter und Forschepiepe, auf dem Gebiet der Verbreitung lebensreformerischen Gedankengutes, sowohl publizistisch mit ihren Zeitschriften als auch mit Verbänden wie der „Volksgesundheitsbewegung“ und der „Gesellschaft für Lebensreform“. Die „Generation Reformhaus“ erlebte Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in ihrem vierten oder fünften Lebensjahrzehnt und gestaltete sie in ihrem kleinen Rahmen auch mit. Nach der Pensionierung folgten Ehrenämter, Goldene Ehrennadeln der Branche und Geburtstagsempfänge, mitunter auch staatliche Orden (Großmann, Schoenenberger, Thiemann). Bis auf Hans Gregor, der schon 1935 in seinem 38. Lebensjahr einer Krankheit erlag, starben die Männer allesamt in den siebziger, achtziger oder neunziger Jahren. Anläßlich des sechzigsten Geburtstags Alfred Liebes schrieb Walther Schoenenberger im Juli 1962: „In der Reformwarenwirtschaft häufen sich in den letzten Jahren die Jubiläen. Das ist ein sichtbares Zeichen dafür, daß die einst so junge Branche allmählich nicht mehr zu den jungen Branchen zählt. Sie ist zu einem Faktor in dem Wirtschaftsgeschehen der Bundesrepublik geworden.“710 Spätere 707 708

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Der Reformwarenfachmann, Dezember 1943, S. 54. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juni 1938, S. 142f. Es ist möglich, daß es sich bei dem Prüfling mit Namen Beba aus Buer in Westfalen auch um Hein Bebas Bruder Hans handelte. Die beiden führten dort bis 1938 gemeinsam ein Geschäft. Noch im selben Jahr ging Hein Beba nach Konstanz, und Hans Beba führte das Reformhaus mit seiner Frau weiter. Vgl. Neuform-Echo, Januar 1958, S. 25. Laut Neuform-Echo, Juli 1957, S. 196, bestand allerdings tatsächlich Hein Beba 1938 einen Kurs in Eden. Neuform-Echo, August 1977, S. 22, anläßlich des 75. Geburtstags Altpeters. Neuform-Echo, Juli 1962, S. 272.

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Geburtstagsartikel und Nachrufe bezeichneten die Jubilare oder Verstorbenen oft mit Ausdrücken wie „[Mann] der ersten Stunde“711 oder „Männe[r], die in den Anfangszeiten das Schicksal der neuform maßgeblich beeinflußt haben“.712 Auch das Wort „Persönlichkeit“ fällt mehrfach, etwa in Form der „markantesten Persönlichkeiten der neuform, die deren Geschichte maßgeblich beeinflußt haben“.713 Anläßlich des Todes Ernst Manns hieß es 1991: „Einer der letzten Zeugen und Mitgestalter der Geschichte der Reformwaren-Wirtschaft ist von uns gegangen – Ernst Mann.“714 Am häufigsten aber ist in dieser Textgattung der Begriff des Pioniers. Er macht die Wahrnehmung dieser Männer als einheitliche Generation besonders deutlich: als eine Generation des Aufbruchs, eine Generation, deren Leben von Aufbau, Zerstörung und Neuanfang geprägt war. Auch diese Topoi kehren in den Artikeln immer wieder. Nicht nur die später Geborenen empfanden so, auch die Dabeigewesenen selbst begriffen sich als zusammengehörige Gruppe, als Generation. Alfred Liebe schrieb im Juni 1971 in einem Artikel zum 70. Geburtstag Walther Schoenenbergers, außer „Walther Schoenenberger, Franz Thiemann, Kurt Großmann, Otto Ungerer715, den Herren Lauffs716 , Paul Neuhaus, Ernst Mann, Werner Altpeter, Alfred Lobbedey, Arthur Blunk717 , Walter Noack718 und Alfred Liebe [dem Schreiber selbst, F.F.]“ hätten wohl nur noch wenige Branchenangehörige die Gründung der Neuform-VDR von 1930 miterlebt.719 Aus Worten wie diesen spricht nicht nur eine Anerkennung für die Lebensleistung einzelner, sondern eben auch ein Bewußtsein dafür, daß es sich bei den „Senioren von heute aus dem Lager der Hersteller und der Reformhausinhaber“, wie Liebe sich und seine Altersgenossen nannte, um eine geschlossene Gruppe handelte, die den Aufbau der Branche und nach ihrer Zerstörung ihren Wiederaufbau gestaltete. 711 712 713 714 715 716

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Neuform-Echo, September 1978, S. 21, über Mann. Neuform-Echo, Juli 1977, S. 32, über Liebe. Neuform-Echo, September 1977, S. 22, über Dielmann. Neuform-Echo vom 23. September 1991, S. 13. Ungerer betrieb ein Reformhaus in Mannheim. Er starb 1982 oder 1983: Neuform-Echo, August 1983, Beilage „Generalversammlung ’83: Die Reden“, S. 14. Gemeint sind die Inhaber des Unternehmens Rabenhorst, Günther (1901–1990) und Walther Lauffs (1903–1981). Ihr Vater Alexander Lauffs (1865–1951) produzierte im Zuge der Antialkoholbewegung seit 1898 roten Traubensaft der Marke „Rabenhorst“ in Unkel am Rhein, wo die Brüder geboren wurden. Beide traten 1920 – in diesem Jahr wurde Walther 17 und Günther 19 Jahre alt – in die damals noch recht kleine väterliche Firma ein. Sie kamen um 1930 mit Hans Gregor in Kontakt, und der „Rabenhorster“ wurde zur Reformhausware. Nach dem Krieg kam das Kindergetränk „Rotbäckchen“ auf den Markt. Vgl. NeuformEcho, September 1978, S. 20; Neuform-Echo, Juli 1981, S. 18; Neuform-Echo, November 1981, S. 22; Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. November 1933, S. 331. Zu Blunk konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden. Walter Noack (1902–1983) betrieb seit 1927 ein Reformhaus in Berlin-Moabit. Vgl. Neuform-Echo, April 1977, S. 23; Neuform-Echo, Januar 1983, S. 29. Neuform-Echo, Juni 1971, S. 3. Ähnlich auch Neuform-Echo, Juni 1981, S. 25, zum 80. Geburtstag Schoenenbergers.

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2. Lebensreform als Netzwerk „Die Menschen, die zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurden und sich noch ihres Lebens freuen, repräsentieren eine Generation, die eine ereignisreiche Zeit erlebt und in ihr mitgewirkt haben [sic] bzw. es noch tun. Eine Generation, die viel hinnehmen mußte, von der viele am Unrecht mitschuldig geworden sind, eine Generation, die in die Knie gezwungen, doch nicht zerbrochen wurde. Eine Generation, die durch zwei Weltkriege hindurch mußte, durch Revolutionswirren und Staatsumwälzungen, die das Kaiserreich durchlebten, den Weimarer Staat, das dritte Reich mit all seinem Unrecht, seinen Folgen, davon insbesondere die Spaltung Deutschlands.“720

Insgesamt aber wurde die Rolle der jeweiligen Jubilare im Nationalsozialismus in solchen Texten nur selten angesprochen. In von Schoenenberger verfaßten Geburtstagsartikeln über Liebe findet sich der Hinweis, Liebe habe die Branche durch die schwierige Zeit des „Dritten Reiches“ gesteuert, und sogar die Behauptung, Liebe habe die nach 1933 entstandenen Organisationen der Reformbranche tatkräftig und freiwillig geschaffen. So erscheinen die Werbegemeinschaft WDR, die Fachschule und sogar der private „Deutsche Reform-Verlag“, in dem das Fachblatt und die Kundenzeitschrift von 1937 an erscheinen mußten, verzerrend als Verdienste Liebes, nicht als Zeichen eines Machtverlusts der NeuformVDR.721 Liebe selbst schrieb 1951, das „Gros der Reformhausbesitzer“ habe sich „zwar, wie es vorerst überall der Fall war, den neuen Geschehnissen ab 1933“ gefügt, die meisten hätten „dann aber doch sehr schnell wieder innerhalb der Reformwarenwirtschaft ihre Stimme erhoben […], in manchen Situationen sogar Mut bewiesen. Hieran änderte kein Führerprinzip, keine Fachgruppenleitung, keine politische Gesundheitsführung und auch keine gleichgeschaltete Genossenschaftsführung etwas.“722 Im Mittelpunkt der rückblickenden Artikel aber steht der Wiederaufbau. Der Nationalsozialismus, in dem Neuform-VDR und Hersteller zwischen Anpassung an den neuen Staat und Anbiederung bei der „Deutschen Lebensreform-Bewegung“ auf der einen Seite und dem Kampf um die relative Eigenständigkeit auf der anderen lavierten, dürfte aber zunächst wenigstens ebenso prägend für die Generation gewesen sein wie der Neubeginn nach 1945. In den Branchenzeitschriften aber ging es jetzt mehr um den Aufbau und um die Zukunft der Branche, nicht um Rückblick und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Anfang der fünfziger Jahre tröstete sich die Reform-Rundschau damit, daß die Lebensreform durch die Gleichschaltung wenigstens nicht vollständig aufgelöst wurde: „Immerhin bot [die ,Deutsche Gesellschaft für Lebensreform‘ und später die ,Deutsche Lebensreform-Bewegung‘] die Möglichkeit, auch im ,Dritten Reich‘ für die Gedanken der Lebensreform einzutreten, und gab zahlreichen Reformern Gelegenheit, sich zu versammeln und für ihre Sache einzutreten.“723 Man hatte weniger das Gefühl, dem System zugearbeitet oder gar Schuld auf sich geladen zu haben, sondern sah sich stärker als Opfer der Gleichschaltungspolitik, die die Einheitsgenossenschaft von 1930 zerschlagen und die Reformbranche 720 721 722 723

Neuform-Echo, Juni 1971, S. 3. Neuform-Echo, Juli 1962, S. 272f.; Neuform-Echo, Juli 1972, S. 28. Reformwaren-Echo vom 1. März 1951, S. 54. Reform-Rundschau, September 1951, S. 2.

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abhängig von der nationalsozialistischen Wirtschaft gemacht hatte, und dann vor allem als Opfer des Krieges und der Zerstörung. Eine Doppelseite im NeuformEcho, die im Juli 1955 Neuhaus, Mann und Lobbedey zum fünfzigsten Geburtstag gratulierte, begann mit der Bemerkung, wie schicksalsschwer die Kriegs- und Nachkriegszeit „auch für viele von uns aus der Reformwarenwirtschaft“ gewesen sei. Weiter heißt es, daß sich einige in ihr Schicksal gefügt und nicht mehr die Kraft aufgebracht hätten, von vorne zu beginnen. Dann stellt der Artikel Neuhaus als einen von denen dar, „die dem Schicksal trotzten und nach Jahren wieder klein anfingen“; Manns und Lobbedeys Lebensweg schildert er auf ähnliche Weise.724 Mit dem allmählichen Sterben der „Generation Reformhaus“ endete zugleich die Lebensreform im engeren Sinne: es wuchs oder wächst, soweit bisher ersichtlich, keine vergleichbare Generation mehr nach. Das Reformhaus bestand weiter, verlor aber seinen lebensreformerischen Impetus, der schon beim Rückzug der Pioniere aus dem Berufsleben, meist in den sechziger oder siebziger Jahren, langsam ein historisch geprägter, oft auch bloß rhetorischer Anspruch geworden war. Anfang der neunziger Jahre, als mit Ausnahme Thiemanns auch die letzten „Männer der ersten Stunde“ gestorben waren, geriet die Lebensreform endgültig zum historischen Phänomen. Sie war eine Erscheinung des kurzen 20. Jahrhunderts. 2.4.2. „Propheten“ Neben den Kollektiven der Organisationen der Lebensreform und der „Generation Reformhaus“ verbreiteten auch einige Einzelpersonen Rezepte für ein gesünderes Leben und fanden damit oft eine beachtliche Leser- oder gar Gefolgschaft. Ohne selbst im engeren Sinne Lebensreformer zu sein, waren die meisten von ihnen zugleich zentrale Bezugsgrößen der Bewegung, etwa als Vorläufer, Vorreiter oder, wie sie das lebensreformerische Schrifttum selbst oft nannte, als „Vorkämpfer“. Andere stehen hingegen stärker dafür, daß sich ursprünglich reformerische Ideen zunehmend aus dem Kontext der Lebensreform lösten. Üblicherweise hatten sie zu Beginn ihrer Karriere als Gesundheitskundige noch keine Organisation hinter sich, sie gingen nicht aus bestimmten Strukturen hervor, sondern gelangten mit ihrem jeweiligen Gesundheitskonzept zu Bekanntheit oder Berühmtheit. Oft entstanden aber, sobald eine gewisse Popularität erreicht war, Institutionen, Produkte und Organisationen, und es bildete sich eine Anhängerschaft. Häufig stilisierten Reformzeitschriften diese Männer, die keinem lebensreformerischen Verein angehörten, sondern im wesentlichen ihre persönlichen Ideen vermarkteten, zu großen Lebensreformern. In anderen, zeitlich späteren Fällen war es weniger die Lebensreform selbst als die Gesamtgesellschaft, welche diese Männer zu „Propheten“ machte. Gemeint sind mit diesem Begriff nicht unkonventionelle, messianische Lichtgestalten, nicht „barfüßige Propheten“725 , die durch die Lande zogen und ein 724 725

Neuform-Echo, August 1955, S. 258f. Vgl. LINSE, Barfüßige Propheten (wie Anm. 259). Allerdings gebraucht auch Linse den Begriff eher wertneutral im Sinne von Begründern oder Predigern einer Lehre, um die sich

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naturverbundenes Leben predigten, sondern vielmehr bürgerliche, seßhafte, gebildete und – bis auf beim Schlafen, Kneippen oder bei ähnlichen Tätigkeiten – ausnahmslos beschuhte Männer, die erfolgreich Ideen und Produkte verkauften – in Anlehnung an Max Weber Propheten-Surrogate in einer weitgehend prophetenlosen Zeit.726 Insofern ähnelten sie den „barfüßigen Propheten“, die ebenfalls als „Selfmademen“ eigene Konzepte unter die Leute brachten, wiederum doch. Der Unterschied liegt neben der Konventionalität, der Bürgerlichkeit der hier untersuchten „Propheten“ auch darin, daß sie neben ihrem Propagandaerfolg auch finanziellen Gewinn machten und Produktmarken schufen: mit dem Verkauf von Nahrung, Naturheilmitteln und Büchern, dem Betreiben von Sanatorien, dem Angebot von Kursen und Seminaren oder mit einer eigenen Fernsehsendung. Oft gründeten sie im Anschluß an ihren Erfolg eigene Organisationen. Die Lebensreform betrachtete sie im Unterschied zu den „barfüßigen Propheten“, die sie als „Auswüchse“ ablehnte, als Vorbilder. Im folgenden werden knapp einige von der Lebensreformbewegung besonders stark rezipierte sowie zwei weitere „Propheten“ aus neuerer Zeit vorgestellt, die keinen Eingang in den Kanon der Lebensreform mehr fanden – zu den Gründen dafür unten mehr. Bei den hier behandelten Männern – soweit ersichtlich, gab es im gesamten 20. Jahrhundert nicht eine „Prophetin“ der Lebensreform – handelt es sich lediglich um hervorstechende Beispiele aus einer Vielzahl von Vorläufern und Vorreitern der Lebensreform. An diesen Prototypen wird noch etwas deutlich: daß mit den „Propheten“ in der Regel sowohl geistige Gesundheitskonzepte als auch materielle Gesundheitsprodukte verbunden waren. x Der Wörishofener Pfarrer und Heilkundige Sebastian Kneipp (1821– 1897) schrieb einige Bücher über das Heilen und das Vorbeugen mit Wasser und über eine gesunde, maßvolle Lebensweise mit Bewegung und ausgewogener Ernährung, vor allem die Bände „Meine Wasserkur“ und „So sollt ihr leben“. Neben dem Kurbad Wörishofen, das schon zu seinen Lebzeiten entstand, geht auch der 1897 gegründete volksgesundheitlich ausgerichtete „Kneipp-Bund“ auf ihn zurück, der Heilbäder im In- und Ausland betrieb und betreibt. Der „Kneipp-Kaffee“, ein Produkt, das um die Jahrhundertwende die „Kathreiner’s Malzkaffee-Fabriken“ erzeugten, „welche vom hochw. Prälaten Kneipp das ausschließliche Recht erworben haben, für ihr Fabrikat den Namen und das Bild Kneipp’s führen zu dürfen“727 , und – später – von den „Kneipp-Werken“ in Würzburg vertriebene Sprudelbad-Tabletten und andere Produkte mit dem Antlitz des Autoren der

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eine Gefolgschaft gruppierte. – Ähnlich auch BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39), S. 23f. Der Begriff „Propheten“ wird sicher auch deswegen gewählt, weil der Führerbegriff durch seine Verwendung im Nationalsozialismus eindeutig negativ besetzt ist. Als solche bezeichnet Weber die Professoren. Vgl. MAX WEBER, Wissenschaft als Beruf [1919], in: ders., Schriften 1894–1922. Ausgewählt u. hrsg. v. Dirk Kaesler. Stuttgart 2002, S. 474–511, hier S. 507. SEBASTIAN KNEIPP, So sollt ihr leben. Winke und Rathschläge für Gesunde und Kranke zu einer einfachen, vernünftigen Lebensweise und einer naturgemäßen Heilmethode. Kempten 1897, S. 81.

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„Wasserkur“ auf der Verpackung gehören zu den nach dem Heilkundigen benannten Markenartikeln. Zwischen 1891 und 1897 hatte ein Würzburger Apotheker Verträge mit Kneipp abgeschlossen, die es ihm gestatteten, „mit dem Namen und dem Bilde des Herrn Pfarrer Sebastian Kneipp“ pharmazeutische und kosmetische Produkte zu entwickeln, herzustellen und zu vertreiben.728 Daraus gingen später die Kneipp-Werke hervor. In lebensreformerischen Zeitschriften erscheint Kneipp oft als „Vorkämpfer der Lebensreform“. Noch heute ist in Drogerien die „Luvos-Heilerde“ des Adolf Just (1859– 1936) erhältlich. Just gründete 1896 das Sanatorium „Jungborn“ im Harz, die um die Jahrhundertwende angeblich größte Naturheilanstalt der Welt729 , und wurde von seinen Nachfolgern und Kurgästen als Erfinder der „Jungborn-Kost“ verehrt, einer Diät aus Früchten und Nüssen mit wenig gekochtem Gemüse. Im Sommer 1904 bewohnten etwa 200 Gäste „aus den besseren und besten Gesellschaftsschichten“ die meist aus zwei Räumen bestehenden und nach drei Seiten offenen „Lichtlufthäuschen“, von denen jedes einen Namen hatte, in dem durch hohe Bretterzäune vor Blicken geschützten Park des Sanatoriums. Beim Essen standen auf langen Tafeln gefüllte Schalen mit Nüssen, Beeren, Pflaumen, Äpfeln und Birnen. Sie wurden „nur selten unterbrochen durch ein einzelnes Glas Milch und einen Teller Schrotbrot.“ Die Gäste konnten morgens ein Sitzbad nehmen, Lehmund Erdumschläge bekommen oder gar „Eingrabungen“ und „frei im Adamskostüm herumwandeln“ – nur zum Einnehmen der Mahlzeiten und zur Sprechstunde bei Adolf Just waren sie zur Bekleidung angehalten.730 Franz Kafka hatte mit diesem Bekleidungs- oder vielmehr Entkleidungskodex bei seinem Aufenthalt im Juli 1912 – seine Hütte hieß „Ruth“ – gewisse Schwierigkeiten. Bei der Gymnastik mußte er feststellen: „Alles, bis auf mich, ohne Schwimmhosen.“ Kafka notierte weiter in seinem Reisetagebuch: „Hie und da bekomme ich leichte, oberflächliche Übelkeiten, wenn ich, meistens allerdings in einiger Entfernung, diese gänzlich Nackten langsam zwischen den Bäumen sich vorbeibewegen sehe. Ihr Laufen macht es nicht besser. Jetzt ist an meiner Tür ein ganz fremder Nackter stehengeblieben und hat mich langsam und freundlich gefragt, ob ich hier in meinem Hause wohne, woran doch kein Zweifel ist. Sie kommen auch so unhörbar heran. Plötzlich steht einer da, man weiß nicht, woher er gekommen ist. Auch alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht.“731

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Vgl. www.kneipp.de/DE_de/kneipp-history.do, abgerufen am 20. Juni 2006. So etwa die Reform-Rundschau, März 1955, S. 5. – KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 91, Fn. 369 bestreitet jedoch diese Auffassung. Allerdings nennt auch er den „Jungborn“ „[e]ine der bedeutendsten Naturheilanstalten in der Zeit der Jahrhundertwende“. Der Mensch vom 15. August 1904, S. 245. FRANZ KAFKA, Tagebücher 1910–1923. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt am Main 1986, S. 488, 490.

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2. Lebensreform als Netzwerk Neben der Kuranstalt schuf Just auch ein „Jungbornversandhaus“, das den Sanatoriumsgästen nach ihrem Aufenthalt Reformnahrungsmittel, poröse Betten und Wäsche, Reformschuhe und ähnliches besorgen konnte.732 Just erscheint immer wieder in Reformzeitschriften, besonders, nachdem sein jüngerer Bruder Rudolf den „Jungborn“ übernommen hatte und sein Nachruhm beginnen konnte. Vor allem aber werden die Institution „Jungborn“ und die „Luvos-Heilerde“ beworben. Bei Just stehen stärker die Produkte im Vordergrund, ihrem Schöpfer widmeten die Blätter – im Vergleich zu Kneipp – etwas weniger Aufmerksamkeit, obwohl auch er in kaum einer Aufzählung von „Vorkämpfern der Lebensreform“ in Reformzeitschriften fehlt. Person und Werk des Schweizers Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939) beachteten die Lebensreformer hingegen ungefähr gleich stark. Auf den Arzt und Ernährungsreformer gehen eine Züricher Heilklinik und das „Bircher-Müesli“ zurück – wie auch der Schweizerdeutsche Begriff „Müesli“, in Deutschland in „Müsli“ abgewandelt, selbst.733 Immer wieder sind sowohl Bircher-Benner – meist von einem Porträtbild mit Brille, Vollbart, Anzug und Fliege begleitet – als auch die Klinik und das Müsli Themen von lebensreformerischen Zeitschriften. Anläßlich seines Todes im Jahr 1939 würdigten die Branchenzeitschrift Der Reformwarenfachmann und die Reform-Rundschau Bircher-Benner mit Aufmachern. Die Kundenzeitschrift schrieb in ihrem Nachruf: „Kein Name ist in der Lebensreform so bekannt wie der seine, keiner darüber hinaus so weit in die Öffentlichkeit vorgedrungen, ja beinahe volkstümlich geworden.“734 Im „Dritten Reich“ war die Verehrung Bircher-Benners insgesamt besonders verbreitet, wohl auch, weil er die wissenschaftliche Seite der Reform betonte und seiner Ernährungslehre im Vergleich mit dem deutschen Vegetarismus kaum etwas Krudes oder Esoterisches eignete, was zur Reform- und Gesundheitsauffassung des Nationalsozialismus paßte. Offenbar feindeten einige Schweizer Bircher-Benner an, weil er dem Nationalsozialismus nahestehe. Gewisse Affinitäten scheinen in der Tat bestanden zu haben, so lobte Bircher-Benners Sohn Ralph Bircher 1935 in der von Bircher-Benner herausgegebenen Zeitschrift Der Wendepunkt Hanns Georg Müllers offiziöses Blatt Leib und Leben.735 Umgekehrt lehnten aber auch einige wenige Deutsche Bircher-Benner ab, weil er eben Schweizer war. Die Neuform-Rundschau schrieb hingegen, „daß es sehr ungeschickt ist und gegen alle Erkenntnisse der Rassenforschung verstößt, wenn man Angehörige eiDer Reformhaus-Fachmann (wie Anm. 156), S. 8. Zu Bircher-Benner vgl. ALBERT WIRZ, Die Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg. Zürich 1993, bes. S. 47–75; MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 113–139; zu seiner Ernährungslehre MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 119–128. Der Reformwarenfachmann vom 15. Februar 1939, S. 29f.; Reform-Rundschau, März 1939, S. 50. Der Wendepunkt, September 1935, S. 548f.

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nes verwandten und gleichsprachigen Volksstammes als Ausländer erklärt, von denen wir nichts annehmen dürften.“736 Auch zur Zeit der Bundesrepublik erinnerten Reformzeitschriften noch an Bircher-Benner. Der in Finnland geborene und in Schweden beheimatete Are Waerland (1876–1955) gründete in den vierziger Jahren den ernährungsreformerischen „Waerland-Bund“, der nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland Anhänger fand und seit 1954 die Waerland-Monatshefte herausgab. Die „Waerland-Kost“ mit hohem Rohkostanteil ist lakto-vegetabil, enthält also zwar Milch und Milchprodukte, nicht aber Fleisch, Fisch und Eier. In den fünfziger Jahren veranstalteten die Waerlandisten, wie sie sich nannten, „Lebensführungskurse“ in Bad Soden am Taunus und in Bad Tölz. Der Reformwarenhersteller Batscheider vertrieb „Original Waerland Weizenschrot Zwieback“, auf dessen Packung Waerland abgebildet war.737 Auf der Düsseldorfer „Einigungstagung“ von Neuform und ADR vom November 1950 sprach der Frankfurter Reformhausbesitzer Friedrich Hepp, Vertrauensmann der „Deutschen Waerlandbewegung“, über diese Organisation und seine persönliche Begegnung mit Waerland.738 Insgesamt war Waerland aber in der Lebensreform, insbesondere in der Reformwarenbranche, nicht unumstritten, ähnlich wie der Ernährungsreformer Gayelord Hauser, über dessen Ernährungsprogramm Neuform und Hersteller Anfang der fünfziger Jahre fast ebensoviel diskutierten wie über Waerlands.739 Nach dessen Tod führte seine Frau Ebba sein Werk fort, die manche Reformer nicht als würdige Nachfolgerin anerkannten.740 Die „Waerland-Kost“ blieb denn auch im wesentlichen ein Phänomen der fünfziger Jahre. In dieser Zeit fanden Waerland und seine Gedanken immer wieder Eingang in die Zeitschriften der Reformbewegung, die Waerland als „Bundesgenossen“741 begriffen. Der Ernährungswissenschaftler Werner Kollath (1892–1970), der in den zwanziger Jahren mit seinen Vollkorn-Ideen noch keine rechte Anerkennung gefunden hatte, machte im Nationalsozialismus eine Karriere als Lei-

Neuform-Rundschau, Dezember 1935, S. 295. Anzeige in Reformwaren-Echo, Juni 1952, S. 195. Reformwaren-Echo vom 1. Dezember 1950, S. 66, 75. Dazu oben S. 112. FRIEDRICH ALBERT HEPP, Are und Ebba Waerland. Was war das wenig Gemeinsame, was das viele Trennende zwischen Beiden?; ders., Zwei Menschen. Was war das Gemeinsame, was trennte die beiden in ihrem kurzen Zusammensein? [maschinenschriftliche Manuskripte o. J.], Besitz Reformhaus Boermel-Ernst, Frankfurt am Main. Reform-Rundschau, September 1950, S. 3; Reform-Rundschau, Juli 1955, S. 11. – RALPH BIRCHER, Zu Waerland und Hauser, in: Der Wendepunkt, August 1955, S. 289–294, hier S. 290, erkannte zwar die Leistungen Waerlands und Hausers bezüglich der Wissensvermittlung über Gesundheit an, meinte aber, die „Erziehungsaufgabe am Volk gehört ja doch eigentlich in die Hand der Ärzte und nicht der Laien-Volksredner und -Autoren!“

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2. Lebensreform als Netzwerk ter des Hygieneinstituts an der Universität Rostock.742 Im Vorwort eines seiner Bücher – das er, wie er betonte, am Tag des Polenfeldzuges, also am 1. September 1939 begonnen hatte – bezeichnete er das nationalsozialistische Regime als „Befreiung“ und den 30. Januar 1933 als das „entscheidende Datum, das in unserm ganzen Volk Vergangenheit und Gegenwart anders sehen ließ.“743 Obwohl 1948 entnazifiziert744 , konnte Kollath in der Bundesrepublik keine wissenschaftliche Position an einer Universität mehr erlangen.745 Statt dessen vertrieb er das von ihm erfundene „Kollath-Frühstück“ aus frisch geschrotetem und über Nacht einzuweichendem Weizen746, für das er 1947 eine Möglichkeit der Haltbarmachung und Lagerfähigkeit erfand747, so daß es sich gut vermarkten ließ. Außerdem „erfand“ Kollath gesunde Tiernahrung, schrieb Artikel für die Reform-Rundschau und andere Zeitschriften und hielt Vorträge. Mit diesen Aktivitäten gelangte er zu wohl größerer Popularität als zu Zeiten seiner wissenschaftlichen Karriere. Die Reformbewegung behandelte ihn immer als Naturwissenschaftler748, dessen Schriften gleichwohl in ihrem Sinne waren und nicht unbedingt der allgemeinen naturwissenschaftlichen Richtung entsprachen, die viele Lebensreformer als „mechanistisch“ und „unlebendig“ empfanden. Die Würdigung als „wissenschaftlicher“ Vorkämpfer der Lebensreform durch die Bewegung hielt auch nach Kollaths Tod an. In einem Heft zum fünfzigjährigen Jubiläum der Neuform aus dem Jahr 1977 sind unter der Überschrift „Was ist Lebensreform?“ zwei große Porträt-Fotos abgedruckt: eines von Bircher-Benner und eines von Kollath.749 Um die Jahrtau-

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Zu Kollaths Ernährungslehre und seiner Rolle im Nationalsozialismus MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 207–259; nur zur Ernährungslehre MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 128–134. WERNER KOLLATH, Zur Einheit der Heilkunde. Stuttgart 1942, S. 76f. Im Jahr 1947 zunächst in Kategorie IV („belastet“) eingestuft, legte Kollath Einspruch ein, dem im Oktober 1948 stattgegeben wurde. Der für Kollath positive Verlauf des Einspruchsverfahrens erklärt sich mit einigen Falschaussagen, so etwa, seine Bücher seien im „Dritten Reich“ nicht gedruckt worden, da er „antifaschistisch“ tätig gewesen sei. Vgl. JÖRG MELZER, Werner Kollath 1933–1945. Dokumentensammlung und Kommentare. Hrsg. von der Werner-und-Elisabeth-Kollath-Stiftung. Bad Soden 2002, S. 52, Entnazifizierungsentscheidung mit Einstufung in Kategorie V („entlastet“): Dok. 19, S. 72. Vgl. Reform-Rundschau, Mai 1950, S. 3: „Um so schmerzlicher berührt die Tatsache, daß die deutschen Universitäten keinen Lehrauftrag für einen solchen Mann haben […]. Auch ein Zeichen der Zeit!“ Kollaths Karriere im Nationalsozialismus erwähnte die Zeitschrift nicht. – In einer Biographie ihres Mannes spart Elisabeth Kollath dessen Rolle im Nationalsozialismus ebenfalls völlig aus. Vgl. ELISABETH KOLLATH , Vom Wesen des Lebendigen. Biographie des Ernährungswissenschaftlers Prof. Dr. med. Werner Kollath (1892–1970). Stuttgart 1989. Rezept für das „Kollath-Frühstück“ im Neuform-Kurier, September 1951, S. 3. Zum Kollath-Frühstück ausführlich ELISABETH KOLLATH, Werner Kollath. Forscher, Arzt und Künstler. München 1973, S. 178–187. Und auch er selbst empfand sich wohl als solcher. Einer seiner Buchtitel macht das deutlich: WERNER KOLLATH, Die Ernährung als Naturwissenschaft. Heidelberg 1967. 50 Jahre Neuform (wie Anm. 162), S. 19.

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sendwende richtete die Reformhaus-Fachakademie in Oberursel-Oberstedten in ihren Räumen ein „Kollath-Zimmer“ ein. x Manfred Köhnlechner (1925–2002) war zunächst Manager, zog sich dann aber 1972 von seiner Position als Generalbevollmächtigter der „Bertelsmann-Gruppe“ zurück und schrieb in den siebziger Jahren viele Gesundheitsbücher. Außerdem hatte er eine eigene Fernsehsendung. In der Reform-Rundschau und anderen lebensreformerischen Blättern spielte Köhnlechner keine Rolle, auch wenn er ähnliche Forderungen vertrat wie die Lebensreform. Er steht somit für die Verselbständigung der Konzepte einer „naturgemäßen Lebensweise“, für ihre zunehmende Popularisierung und Wahrnehmung auch durch Kreise, die mit dem Begriff „Lebensreform“ nichts anzufangen wußten, also für die Loskoppelung dieser Konzepte von der Reformbewegung. Alles zusammen führte zur Aushöhlung der Reform, von der später noch zu handeln sein wird. x Ähnliches gilt in noch stärkerem Maße auch für Ulrich Strunz (geb. 1943). Der „Fitnesspapst“750 publiziert seit den neunziger Jahren eine auf Ernährung und Sport bezogene Serie unter dem Titel „Forever Young“, die über den Buchhandel und – wie auch vitaminhaltige Fruchtgummis mit dem Namen „Forever Fun“ und Nahrungsergänzungsmittel der Marke „For You“ – über das Internet vertrieben werden751 , veranstaltet Gesundheitskurse und trainiert Prominente. Strunz kann als Prototyp des Fitnesstrends der neunziger Jahre und der Jahrtausendwende gelten, der sich in einer individualistischen Betonung persönlichen Wohlfindens und persönlichen Spaßes und mit einem völligen Verzicht auf gesellschaftsreformerische Aspekte (die bei Köhnlechner in Form von Umweltschutz noch vorhanden waren) kategorial von der Lebensreform unterscheidet. Die Reformbewegung der neunziger Jahre nahm Strunz’ Publikationen und die gesamte Wellness-Welle zwar wahr und paßte sich ihnen in vielem an, die Person Ulrich Strunz beachtete sie aber nicht sonderlich. Oft nennt die lebensreformerische Literatur mehrere dieser „Propheten“ gemeinsam als Vorreiter der Lebensreform. 752 Was die Männer neben der erfolgreichen Vermarktung von Ideen und Produkten auf dem lebensreformerischen und dem allgemeinen Gesundheitsmarkt vor allem eint, ist ein bestimmter Habitus, der von den Einzelpersonen abstrahiert werden kann. Die wichtigste habituelle Praxis-

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Wie ihn laut seiner eigenen Internetseite zuerst im Jahr 1998 die Zeitschrift Wirtschaftswoche nannte. Vgl. www.strunz.com/www2/drstrunz/index.html, abgerufen am 12. Januar 2004, neuerdings nicht mehr im Netz. www.strunz.com/shop, abgerufen am 20. Juni 2006. Ein Beispiel von unzähligen ist der Band: Lüneburg. 100 Jahre De-Vau-Ge Gesundkostwerk (wie Anm. 166), S. 3, wo Bircher-Benner, Kneipp, Waerland und Kollath mit dem hier nicht unter die „Propheten“ gefaßten evangelischen Pfarrer Emanuel Felke (1856–1926) nennt, der Lehmkuren zur Gesundung und Gesunderhaltung empfahl. Zu Felke ROTHSCHUH, Naturheilbewegung (wie Anm. 35), S. 96f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

form753 der „Propheten“ war die Selbststilisierung als durch die eigenen Methoden rundum gesunder oder gesund gewordener Mann, gleichsam als Idealtypus. Diese vollkommene und nach außen gekehrte Gesundheit fehlte dem einfachen Zeitschriftenautor, der persönlich hinter seinen Texten zurücktrat – das äußerste an Selbstinszenierung waren hier kleine Fotos der jeweiligen Experten auf Ratgeberseiten. Dort sind Köpfe zu sehen, nicht Körper – es geht um weitsichtige oder wissenschaftliche, gut formulierte und wohlüberlegte Beratung: die eigene Gesundheit des Beratenden ist hier zweitrangig. Es stilisierten aber auch nicht alle „Propheten“ tatsächlich ihre Körper. Bei Köhnlechner geschah und bei Strunz geschieht das zwar eindeutig, aber etwa bei Kneipp standen mehr seine Doppelfunktion als Priester und Heilkundiger sowie sein angebliches intuitives Einfühlungsvermögen754 im Mittelpunkt, bei Just der Ruhm des Gründers eines bekannten Sanatoriums. Wichtig waren die jeweils auf die Person selbst zielende Verherrlichung und Idealisierung, ob sie sich nun auf einen vor Vitalität strotzenden Körper stützten oder auf andere Gesundheit herstellende oder aus Gesundheit sich speisende Aspekte wie die Fähigkeit zur Lebenskunst oder ein harmonisches psycho-physisches Gleichgewicht. Max Weber nennt den „Besitz eines magischen Charisma“ den Legitimationsgrund von Propheten und die „Orientierung der Lebensführung an dem Streben nach einem Heilgut“ – also hier der Gesundheit – den „Inhalt der Prophetie“. 755 Des weiteren gehört, ganz im Stil von Helden- und Heiligenlegenden, zum Inszenierungspaket erfolgreicher „Propheten“ auf dem Gesundheitsmarkt auffällig oft ein Bekehrungserlebnis zur konstruierten Geschichte des jeweiligen Protagonisten. Kneipp litt als Theologiestudent in Dillingen an der Donau an einer Krankheit. Die Ärzte vermutete eine Lungenblutung und sagten ihm ein nahes Lebensende voraus. In der Bibliothek der Theologischen Akademie, so wird jedenfalls berichtet, entdeckte der Student damals zufällig ein kleines Buch, das die Methoden des Wasserheilers Johann Siegmund Hahn (1696–1773) beschrieb: Kaltes Wasser sei, so hieß es in dem Bändchen, das geeignete Mittel zur Heilung fast jeder Krankheit. Worauf, wenn die Geschichte stimmt, Sebastian Kneipp in die eiskalte Donau stieg, genas und seine Wasserkur entwickelte. 756 Adolf Just begann sein Buch „Kehrt zur Natur zurück!“ um die Jahrhundertwende mit der Schilderung seiner eigenen Krankheitsgeschichte. Ihn plagte ein „schweres Nervenleiden, die Krankheit unseres Jahrhunderts, welches hauptsächlich die Folge von Vererbung war“. Aber die „schwere Schule des Leidens“ wies ihm den Weg, „wie man allein allem Siechtum und allem Leiden des Leibes si753

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PIERRE BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987 [franz. 1979], S. 277f. definiert Habitus als Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und zugleich ein Klassifikationssystem dieser Formen. KRABBE, Naturheilbewegung (wie Anm. 262), S. 79. MAX WEBER, Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. Zwischenbetrachtung [1920], in: ders., Schriften (wie Anm. 726), S. 609–652, hier S. 613. Vgl. MANFRED KÖHNLECHNER, Die machbaren Wunder. Heilmethoden, Heilerfolge. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 159.

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cher entgehen und alle Schmerzen und Krankheiten gründlich heilen kann.“ Das führte zu folgendem Entschluß: „Ich will nun […] nicht nach einer bestimmten kunstvollen Disposition und Regel ein Buch von Gesundheits- und Glückseligkeitslehren schreiben, sondern ich will einfach genau in derselben Stufenfolge, wie ich nach langen Irrfahrten endlich immer mehr auf den wahren Weg kam, der mich zur Natur und damit zur Gesundheit führte, meine Anschauungen mitteilen.“757

Damit war, bleibt man im Bild der Legende, der erste Schritt des Helden in Richtung „Aufbruch zu Taten und Abenteuern“ getan. Just kommt aber zunächst noch einmal auf seine Suche nach der richtigen Heilweise zurück. „Natürlich wandte ich mich bei meinem Leiden zunächst an die Schulmedizin; hervorragende Ärzte und Universitätsprofessoren wurden aufgesucht, aber Hilfe fand ich nicht.“ Obwohl die daraufhin angewandte Naturheilmethode Linderung brachte, war der Kranke enttäuscht über „viel Streit und Gezänk unter den einzelnen Vertretern“ der Naturheilkunde.758 Nun ist es von der textimmanenten Dialektik her an der Zeit, das eigene Produkt, die eigene Botschaft zu enthüllen, wobei sich Just bezeichnenderweise einer biblischen Metapher bedient: „Auf meinem Irrwege, in meiner grössten Verzweiflung, erschien mir damals plötzlich ein heller Stern“, der die folgende Wahrheit kündete: „Allein die Stimmen der Natur: Instinkt und Sinnesorgane (Gehör, Geruchs-, Geschmackssinn u.s.w.) sind hier Leiter.“759 Damit ist das Konzept seines erfolgreichen Sanatoriums enthüllt. Bei Bircher-Benner sorgte in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine chronisch magenkranke Frau „für das Ereignis, das meine Arzttätigkeit völlig wandeln sollte.“ Nachdem wochenlange Behandlungen nichts geholfen hatten, sprach der junge Arzt mit dem Präsidenten der abstinenten Samariter des Züricher Arbeiterquartiers Aussersihl über das Leiden der Patientin. Der Naturheilkundige und Vegetarier riet zu ungekochtem Obst und Gemüse – und es half. BircherBenner war „erstaunt und – niedergeschmettert. Der Vegetarier hatte gesiegt, hatte dem Arzt eine Lektion erteilt.“760 Waerlands Geschichte geht so: Da war ein chronisch schwächlicher Junge, der beim Spielen leicht außer Atem kam, schlecht in der Schule trotz seiner intelligenten Eltern, wißbegierig, aber zu müde und zu träge zum Lernen. Im Philosophiestudium konnte sich der junge Mann – es handelte sich natürlich um Waerland selbst – höchstens zwei Stunden am Tag konzentrieren, weil er während der übrigen Zeit hauptsächlich damit beschäftigt war, drei große Mahlzeiten und drei kleine „Kaffeemahlzeiten“ zu verzehren und zu verdauen. Dazu kam eine starke Migräne. Nur manchmal hob sich der Schleier, der Student fühlte sich gesund und 757

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ADOLF JUST, Kehrt zur Natur zurück! Die wahre naturgemässe Heil- und Lebensweise und das rechte Seelenheil. Das wiedergefundene Paradies. 2 Bde. 4. Aufl. Stapelburg-Harz 1900–1901 [zuerst 1896]. Bd. 1: Die Körperpflege. Wasser, menschliche Heilkräfte, Licht, Luft, Erde, Nahrung, Obstbau [1900], S. 1f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. MAXIMILIAN BIRCHER-BENNER, Vom Werden des neuen Arztes. Erkenntnisse und Bekenntnisse. Dresden 1938, S. 41f.

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2. Lebensreform als Netzwerk

bekam eine Ahnung davon, wie schön doch das Leben sein könnte.761 Also zog er aus, die Gesundheit zu suchen. Er fand sie in England in einem Schaufenster, die „Vorsehung“ griff ein und präsentierte ihm ein kleines Buch in blauem Einband, auf dem in goldenen Buchstaben stand: „Diät und Nahrung in Beziehung zur Gesundheit, Krankheit und Kraft der Ausdauer“, der Autor: Alexander Haig. 762 Im Vorwort las Waerland eine Leidensgeschichte mit glücklichem Ausgang, wie er selbst später eine schreiben sollte: Haig hatte an denselben Beschwerden gelitten wie Waerland. Dieser wandte nun Haigs Methoden an763 und ging „zur laktovegetabilischen Lebensweise unter völliger Ausschaltung von Fleisch, Fisch, Eiern, Salz, Essig, sowie allen Saucen und scharfen Gewürzen“ über. Alkohol und Tabak hatte er ohnehin nie angerührt. Nachdem er ein halbes Jahrhundert so gelebt hatte, konnte der 72 Jahre alte Mann 1948 von sich sagen, er habe im vergangenen halben Jahrhundert „mit einer nahezu unerschöpflichen Schaffenskraft gearbeitet“ und nie irgendeine Krankheit gehabt.764 Er starb drei Jahre später. Köhnlechner zog sich 1972 „zur allgemeinen Verblüffung über Nacht aus dem Wirtschaftsleben zurück“. Er begründete diesen Schritt so: „Nach 15 Jahren Top-Management ist der Zenit mit Sicherheit überschritten: abgenutzt, amtsmüde, gelangweilt und ohne die nötige Besessenheit […], soll man abtreten […].“ Köhnlechner brach „kompromißlos mit seiner beruflichen Vergangenheit“, verkaufte alle seine unternehmerischen Beteiligungen und lehnte „attraktive Angebote aus Wirtschaft und Politik“ ab, um sich ganz seinen Interessen Akupunktur, Neuraltherapie und Chirotherapie widmen zu können. Noch 1972 eröffnete er eine Naturheilpraxis in München, 1975 ein „Anti-Streß-Privatsanatorium“.765 Hier wird nicht so sehr ein Heilungserlebnis (wie bei Kneipp, Just und Waerland) oder Bekehrungserlebnis (wie bei Bircher-Benner) erzählt, sondern eher die Geschichte von dem, der tat, wovon andere nur träumen: sich ganz seinen Interessen zu widmen, aus der Mühle des täglichen stressigen Arbeitslebens auszubrechen. Für Strunz schließlich, der früher nach eigenen Angaben „Null Sport“ trieb, als Student und Arzt sehr viel arbeitete und Gänsestopfleber und süße Weine liebte, begann das neue Leben am 4. Dezember 1988. Das war der Tag, an dem er den Extremsportler Hubert Schwarz kennenlernte, der ihn zu Sport und Gesundheit bekehrte.766 Auch der Unternehmer und Fabrikbesitzer Louis Kuhne (1835–1899)767 , selbst kein „Prophet“, erzählte gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Heilungsge761 762 763 764 765 766 767

ARE WAERLAND, Die Grundprinzipien der modernen Gesundheitskultur. Stockholm 1950, S. 3f. Zu Alexander Haig und seiner Lehre der „Harnsäureverschlackung“ MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 98–102. ARE WAERLAND, Die Befreiung aus den Fesseln der Krankheiten. Stockholm 1950, S. 6f. ARE WAERLAND, Waerlands Gesundheitsprogramm. Berlin o. J. [um 1950], S. 8f. MANFRED KÖHNLECHNER, Die Managerdiät. 3. Aufl. München/Percha 1974 [zuerst 1972], S. 7–9. Laufen als Nadelöhr für ein glückliches Leben, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 4. Juli 1999, S. 12. Zu Kuhne MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 94–99.

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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schichte. Mit Hilfe der Naturheilmethode von chronischem Leiden erlöst, wurde Kuhne ein „full-blown health entrepreneur“ für Badeutensilien und andere Gesundheitsprodukte und erzielte auch mit seinen Büchern einigen Profit. Michael Hau fragt in diesem Zusammenhang, „whether the story of his illness and salvation is nothing more than a story of personal economic failure and success expressed in hygienic terms.“768 Diese Deutung erscheint auch mit Blick auf die erwähnten „Propheten“ zutreffend: Aus Gesundheit und Reform ließ sich trefflich Profit machen. Das hatten nicht nur die Reformwarenproduzenten und die Reformhäuser verstanden, sondern auch einige findige Einzelpersonen. Insofern war die Verbreitung von Wissen über gesünderes Leben durch die „Propheten“ immer auch Werbung – zum einen in Form der Werbung von Anhängern, um die eigenen Interessen besser durchsetzen zu können, und zum anderen im Sinne von Produktreklame. 2.5. NETZWERK UND GESELLSCHAFT Die Lebensreform wollte ihren Anhängerkreis beständig vergrößern, hatte stets (auch) die Masse im Blick. Ihr Ziel war es, daß immer mehr Menschen von lebensreformerischem Gedankengut erfuhren und lebensreformerische Produkte konsumierten. Sich selbst verstand sie dabei als eine Avantgarde, der die übrige Bevölkerung erst einmal nachfolgen müsse. Sie hatte also zugleich durchaus elitäre Züge. Im folgenden soll es neben dem Bemühen der Lebensreform, ihre Ideen zu verbreiten und für ihre Waren zu werben, vor allem auch um ihre tatsächliche gesellschaftliche Rezeption gehen, um die Wahrnehmung der Naturheilbewegung und des Vegetarismus (2.5.1.) sowie der Reformwarenwirtschaft (2.5.2.) in der deutschen Gesellschaft. 2.5.1. Vegetarismus und Naturheilkunde Die gesellschaftliche Bedeutung der lebensreformerischen Vereine war um 1900 größer, als es ihre geringen Mitgliederzahlen vermuten lassen. Der Vegetarismus und vor allem die Naturheilbewegung hatten über ihre Anhänger im engeren Sinne hinaus einen ansehnlichen Kreis von Sympathisanten. Die Lebensreformer traten an die Öffentlichkeit heran, und zahlreiche Menschen nahmen ihre Angebote wahr, auch wenn sie keinem lebensreformerischen Verein beitraten. Die Anhänger der Naturheilkunde waren nach Einschätzung einer lebensreformerischen Zeitschrift „weit zahlreicher als die ca. 160.000769 in den Verbänden sich zeigenden Mitglieder“.770 Angesichts des letzten Auftritts der Tänzerin Isadora Duncan 768 769

770

HAU, Cult of Health and Beauty (wie Anm. 52), S. 19, 21. Der Artikel ging von 900 Vereinen der Naturheilbewegung aus, was sich in etwa mit der Zahl von 902 Vereinen im „Deutschen Bund“ im Jahr 1906 deckt, die STOLLBERG, Naturheilvereine (wie Anm. 40), S. 289 angibt. Dort sind allerdings für 1906 nur 134.000 Mitglieder angegeben. Der Mensch, 12. Jg. 1905, H. 24, S. 358.

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2. Lebensreform als Netzwerk

(1877–1927) auf ihrer Berlin-Tournee von 1904, bei dem das Publikum die stets barfuß und in kurzem griechischem Kittel auftretende Amerikanerin frenetisch gefeiert hatte771, fragte dieselbe Zeitschrift rhetorisch: „Sollten die Lebensreformer doch mehr Anhänger haben, als sie vermuten?“772 Daß die Zeitschrift eine Tänzerin für die Lebensreform vereinnahmte, die zwar in ihrer Betonung von „Natürlichkeit“ durchaus Gemeinsamkeiten mit den Reformbewegungen aufwies, sich aber doch, soweit ersichtlich, nie selbst als Lebensreformerin bezeichnete, weist aber schon darauf hin, wie schwierig es ist, diesen „Sympathisantenkreis“ zu erfassen und analytisch abzugrenzen: Aus Sicht der Vegetarier und der Vertreter der Naturheilbewegung stellten sich alle Konzepte als lebensreformerisch dar, die irgendwie zu den eigenen paßten – eine Sicht, die jene Menschen, die diese Konzepte propagierten oder rezipierten, oft gar nicht teilten. Das ändert aber nichts daran, daß sich für die Naturheilbewegung, der es vor dem Ersten Weltkrieg wenigstens ebenso sehr um eine gesunde Lebensweise ging wie um natürliche Heilmethoden, mit Sicherheit deutlich mehr Menschen interessierten als bloß jene, die Mitglieder naturheilkundlicher Vereine waren. Viele Veranstaltungen, meist populärwissenschaftliche Vorträge zur gesundheitlichen Aufklärung oder Koch- und Ernährungskurse, waren öffentlich und wurden regelmäßig auch von Nicht-Mitgliedern besucht.773 Auch die Ortsvereine des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ organisierten öffentliche Veranstaltungen, etwa mehrtägige Ausstellungen in städtischen Gebäuden, die dann „auf besonderen Wunsch“ noch verlängert wurden und in andere Städte wanderten.774 Der „Berliner Vegetarier-Verein“ hielt im November 1887 gar eine Versammlung ab, „welche von Nichtvegetariern gut, von Vegetariern aber – leider – nur spärlich besucht war.“775 Vegetarismus und Naturheilbewegung der Jahrhundertwende waren, das geht aus dem Gesagten hervor, keine Sekten. Sie betonten immer wieder, „daß wir weltfreundlich und keine Sonderlinge sind, […] daß wir Menschenfreunde und nicht Selbstlinge sind, daß wir dem Gemeinwesen dienen und nicht nur unsern engen Kreisen uns weihen wollen.“776 Sekten wollen zwar neue, ausgewählte Mitglieder auf sich einschwören, sind aber schon vom Begriff her nur Teile, Abspaltungen, die sich bewußt von ihrer Bezugsgröße absetzen. Die naturheilkundlichen und vegetarischen Vereine waren hingegen weder esoterisch noch – trotz ihres Anspruchs, Vorreiter einer gesünderen Welt zu sein – ausgeprägt elitär wie andere Gruppen dieser Jahre, etwa okkultistische und spiritistische Zirkel oder das „Ge771

772 773 774 775 776

ISADORA DUNCAN, Memoiren. Zürich/Leipzig/Wien 1928 [engl. 1927], S. 175. – Duncan war 1902 mit einem Solo-Tanzabend in der Berliner Kroll-Oper in Deutschland bekannt geworden: LOTHAR FISCHER, Getanzte Körperbefreiung, in: ANDRITZKY/RAUTENBERG (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“ (wie Anm. 42), S. 106–123, hier S. 107. Der Mensch, XI. Jg., Nr. 10, 15. Mai 1904, S. 156. Für ein Beispiel vgl. Der Mensch vom 15. September 1904, S. 280. Vegetarische Warte vom 16. März 1912, S. 58; Vegetarische Warte vom 13. April 1912, S. 75. Vegetarische Rundschau, Dezember 1887, S. 374. Vegetarische Warte vom 3. Januar 1914, S. 1f.

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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heime Deutschland“ und der George-Kreis. Daß sie stärker in der Gesellschaft und im öffentlichen Bewußtsein präsent waren als diese Gruppen, machte sie selbstverständlich zugleich öfter zu Objekten von Satire und Karikatur. So verfaßten Journalisten lustvolle Berichte über Gäste und Gerichte von vegetarischen Speisehäusern. Ein Mitarbeiter einer Münchner Monatsschrift wollte 1907 einen „Nebel von schimmeliger Kokosbutter“ über dem Eingang eines vegetarischen Restaurants in München wahrgenommen haben. Die dort speisenden Frauen empfand er als „Engel in gotisch-hieratischen Gewändern, die mit der wirklichen Welt höchstens durch ein unsagbar scheußliches Matrosenhütchen zusammenhängen“. Die männlichen Gäste zeigten, so der Artikel weiter, „das müde und verfallene Aussehen der Leute, die nur ihrer Gesundheit leben.“777 Der Simplicissimus verlieh in einer Zeichnung von 1906 einem Limonadentrinker und zwei Biertrinkern ähnlich ungesunde und unzufriedene Gesichter und karikierte sie somit gleichermaßen778 – die Aussage der Zeichnung liegt auf der Hand. Im übrigen zeigt die Karikatur, daß der Konsum von alkoholfreien Getränken wie „Sinalco“ (= ohne Alkohol) in Wirtshäusern trotz des insgesamt recht geringen Zuspruchs779 um diese Zeit immerhin so verbreitet gewesen sein muß, daß die Mehrheit der Leser die Zeichnung in ihren eigenen Erlebnisschatz einordnen konnte. Auch Spottnamen wie „Gemüseheilige“780 , „Rohköstlergesichter, Zwiebacknasen, Himbeersaftstudenten“781 und „Kohlrabi-Apostel“ zeugen von einer gewissen Aufmerksamkeit, die den Lebensreformern in der Öffentlichkeit zuteil wurde. Daß alle diese Bezeichnungen heute im Rückblick freundlicher erscheinen als etwa „du dickes Bierschwein“, immerhin ein studentischer „Ehrentitel“ derselben Epoche782, mag auch damit zusammenhängen, daß die zentralen Konzepte der Lebensreform im weiteren Jahrhundert wenn nicht zu Allgemeingut, so doch wenigstens allgemein nachvollziehbar wurden, daß die „Gemüseheiligen“ und die „Himbeersaftstudenten“ im Laufe des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich über die „Bierschweine“ triumphiert haben. 2.5.2. Reformhäuser Im Jahr 1901 hatte die Vegetarische Warte den vegetarischen Restaurants die Rolle der wichtigsten Multiplikatoren der Lebensreform in der Gesellschaft zugewiesen: „Die vegetarischen Speisehäuser sind und bleiben vorläufig die vorzüglichsten praktischen Organe für die Verbreitung des Vegetarismus. Sie mani777 778

779 780 781 782

Zit. nach der Entgegnung in: Vegetarische Warte vom 10. Juli 1907, S. 168f. Zeichnung „Der Abstinenzler“ von Bruno Paul, Simplicissimus, 1906. Abgedruckt in: HERBERT REINOß (Hrsg.), Simplicissimus. Bilder aus dem Simplicissimus. Hannover 1970, S. 121. So jedenfalls JUDITH BAUMGARTNER, Antialkoholbewegung, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 141–154, hier S. 144. Vegetarische Rundschau, März 1890, S. 96. HEPP, Avantgarde (wie Anm. 38), S. 75. So ROBERT HESSEN, Alkohol oder Sport?, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 103, Januar–März 1901, S. 221–248, hier S. 226.

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2. Lebensreform als Netzwerk

festieren ihn, und zwar auffällig, offiziell, tagaus tagein und bieten Gelegenheit, seine Theorien kennen zu lernen.“783 Genau diese Repräsentations- und Kommunikationsfunktion verschob sich nach dem Ersten Weltkrieg von den vegetarischen Gaststätten zu den Reformhäusern, so wie das Zentrum des lebensreformerischen Netzwerks in der Zwischenkriegszeit langsam von Vegetarismus und Naturheilkunde zur Reformwarenwirtschaft wanderte, die aus ihnen hervorgegangen war und sich nun als eigene Strömung im Netzwerk präsentierte: als Reformhausbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Juli 1949, beschrieb die Reform-Rundschau die Funktion und den Anspruch der Reformhäuser noch ganz in diesem Sinne: „Sie alle wollen dasselbe, sie alle haben nur eine Mission, ein Strahlenzentrum zu sein für die Idee der Lebensreform, eine Rettungsstation für den von der Zivilisation, besonders von seiner eigenen Küche bedrohten Menschen.“784 Die Reformhäuser erreichten aber sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg trotz der Ausdehnung ihrer Branche und trotz Kino- und Fernsehwerbung noch einen verhältnismäßig kleinen und festgefügten Kundenkreis: Im Reformhaus kamen im wesentlichen Lebensreformer, dem Gedankengut der Lebensreform Nahestehende und, in späterer Zeit, „Alternative“ mit Gleichgesinnten in Kontakt. Für ihre regelmäßige Kundschaft waren die Reformgeschäfte in früheren Jahrzehnten in einem sehr umfassenden Sinne das, was sich in den neunziger Jahren zum aussageschwachen Schlagwort verfestigte und einige Jahre lang neben der 1993 eingeführten „Wortbildmarke Reformhaus“785 – weiße Schrift auf blauem Grund mit grüner Welle am unteren Rand – an vielen Reformhäusern zu lesen war: „Treffpunkt gesundes Leben“. Mancher Lebensreformer begegnete dort gar, wie im Jahr 1934 ein junger Mann aus Lauban in Schlesien, der späteren Lebenspartnerin: Man kam sich in einem Reformhaus in Garmisch-Partenkirchen, wo der Verwaltungssekretär seinen Urlaub verbrachte, über den Knäckebrotkauf näher. Wie der Lebensreformer 1939 rückblickend berichtete, schwor er selbst auf Sorte D, die Kundin neben ihm hingegen bevorzugte Typ H.786 „Wir haben auf einer Bank beide Sorten ausprobiert und verschiedene Zugaben aus dem Reformhaus auch. Und dann, ja dann habe ich sie über einen Wildbach getragen. [...] Zwei Jahre danach war Hochzeit.“787 Auch wer beim Betreten „seines“ Reformhauses nicht gleich ein modernes Märchen erlebte, dürfte auf seine Kosten gekommen sein. Neben den für ein gesünderes Leben notwendigen Produkten gab es Rezepte und Zeitschriften, wurden

783 784 785 786

787

Vegetarische Warte vom 23. Oktober 1901, S. 478. Reform-Rundschau, Juli 1949, S. 2. Reformhaus – eine gesunde Existenz. Oberursel 1997, S. 5. Beim in Reformhäusern erhältlichen „Flügge-Knäckebrot“ hieß „H“ das Hausbrot, „K“ das Kümmelbrot und „F“ das Feinbrot. Wofür „D“ stand, war auch mit einer Anfrage bei der von dem Mediziner und Naturarzt Carl Flügge (1867–1931) gegründeten Firma Flügge-Diät GmbH (heute in Stuttgart) nicht herauszufinden: Brief der Firma Flügge an F.F. vom 15. August 2003. Reform-Rundschau, Juli 1939, S. 154.

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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Fruchtsäfte, Joghurt und Milchmischgetränke ausgeschenkt788 , mitunter kochte die Inhaberin vegetarisch und ließ ihre Kunden von den fleischfreien Speisen kosten, oder es gab einen Hocker, auf dem man sich vor oder nach dem Einkauf niederlassen und erzählen konnte.789 Der Reformwarenverkäufer beschränkte sich idealerweise nicht darauf, „die gewünschten Waren zu verabfolgen und den Kaufpreis entgegenzunehmen“, sondern er war „auch bemüht, die Ziele der Reformbewegung […] zu propagieren und die einkaufenden Hausfrauen nach dieser Richtung hin aufzuklären und zu belehren.“790 Die Kunden der Reformhäuser waren zu jeder Zeit Menschen, denen es finanziell einigermaßen gut ging, denn die Reformhausprodukte hatten ihren Preis, was die Branche selbst denn auch wechselnd kritisierte und ändern wollte, um einen breiteren Kundenkreis zu gewinnen, oder heftig bestritt und vorrechnete, wie preisgünstig doch ein reiner Reformhaushalt zu führen sei und wie preiswert die Reformwaren angesichts ihrer Hochwertigkeit und ihres Nutzens für die Gesundheit seien.791 Schon Anfang des Jahres 1927 hieß es auf der zweiten Jahreshauptversammlung der V.D.R., eine der künftigen Hauptaufgaben der jungen Genossenschaft sei die „Erzielung von solchen Preisen ihrer Waren, daß diese in weiterem Umfang als bisher allen Teilen der Bevölkerung zugute kommen können.“792 Die Exklusivität war also nicht unbedingt beabsichtigt, und die Reformhäuser strebten durchaus nach einem weiteren Kundenkreis. Allerdings empfanden es einige Menschen gerade in der Frühzeit der Branche offenbar als peinlich oder leicht anrüchig, ein Reformhaus zu betreten. Darauf weisen auch Artikel in Fachzeitschriften für Reformhausinhaber hin, die erklärten, wie man am besten mit Kunden umgehe, die sich aus Versehen in Reformhäuser verirrten und erst drinnen voller Panik feststellten, wo sie gelandet waren.793 Die Scham oder Nervosität solcher Irrläufer legt nahe, daß sie mit Verkäufern und Kunden der Reformgeschäfte eine soziale Gruppe assoziierten, zu der sie selbst nicht gehören oder gezählt werden wollten. Ein gewisses Interesse an Reformprodukten war aber auch über die Kreise der Lebensreformer im engeren Sinne hinaus vorhanden. Dafür spricht, daß neben den Reformhäusern je nach Epoche auch Kolonial- und Feinkostgeschäfte, Drogerien, Apotheken und Supermärkte Reformwaren führten, zum Teil von Herstellern, die zugleich auch Reformhauslieferanten waren. Die Konkurrenz durch solche anderen Anbieter nahm vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte zu. Und auch nicht jeder, der ein Reformhaus betrat, fühlte sich unbedingt von der Idee der Lebensreform durchdrungen. Anscheinend war die Türschwelle der Reformgeschäfte für viele Menschen, die sich nicht als Lebensreformer verstanden, aber zugleich eine 788 789

790 791 792 793

Neuform-Echo, April 1977, S. 23; Neuform-VDR-Fachblatt vom 11. Juli 1931, S. 152. Von selbstgemachten vegetarischen Gerichten und ihrem Hocker berichtete die ehemalige West-Berliner Reformhausinhaberin Frieda Hubert (1909–1999) in einem persönlichen Brief vom 22. Oktober 1995. Eden-Archiv Oranienburg. BAKEL, Reformbewegung am Scheidewege (wie Anm. 191), S. 1. Vgl. etwa Neuform-Rundschau, März 1933, S. 66. Das Reformhaus, März 1927, S. 2. Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 528.

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2. Lebensreform als Netzwerk

gewisse Hemmschwelle, auch für jene, die sie mitunter doch überwanden. Im Jahr 1926 notierte ein Reformhausinhaber: „So mancher Mensch, der nicht den Mut hat, sich offen zu einer der großen Volksbewegungen zu bekennen, der kommt wie Nikodemus bei der Nacht zum Herrn, so heimlich ins Reformhaus. Schreiber dieses ist Besitzer eines solchen Geschäftes und könnte ganze Tagebücher schreiben über solche Erlebnisse.“794 Seit den zwanziger und verstärkt seit den dreißiger Jahren zeichnete sich zugleich eine gesellschaftliche Sensibilisierung für Themen der Gesundheit ab, vor allem für gesunde Ernährungsweisen. Die Reformhäuser glaubten im Zuge dieser Entwicklung auch eine größere Aufmerksamkeit für ihre eigenen Produkte erkennen zu können, und die steigenden Umsatzzahlen schienen ihnen recht zu geben. Auf einer Schau von Reformartikeln auf der Leipziger Herbstmesse 1932 gab es ein Plakat mit der Aufschrift: „Wer kauft Reform-Artikel? 1. Anhänger der Reformbewegung, die nach bestimmten Grundsätzen leben […], ihre Zahl hat die erste Million längst überschritten! 2. Millionen Volksgenossen, ganz besonders die jüngere Generation, handeln nach lebensreformerischen Grundsätzen (ohne Anhänger der Bewegung zu sein). Allen geläufige Begriffe (Vitamine, Sport usw.) beweisen das!“795 Der Aufbau des Werbetextes verrät zugleich, daß der eigentliche Kundenstamm der Reformhäuser trotz verschiedener Gesundheitsmoden und des unbestreitbaren Mentalitätswandels in manchen Kreisen des deutschen Bürgertums und auch der Arbeiterschaft einigermaßen festgefügt war. Denn die „Millionen Volksgenossen“, die der zweite Punkt nannte, führten zwar möglicherweise ein Leben, das mehr oder weniger im Sinne der reformerischen Ideen war. Daß sie auch tatsächlich im Reformhaus einkauften, wagten selbst die Plakatschreiber nur zu implizieren, indem sie als der Form nach zweite „Antwort“ auf die Leitfrage „Wer kauft im Reformhaus?“ einen ganzen Satz formulierten, der nichts über die Kaufgewohnheiten dieser Gruppe aussagte. Zugleich umwarben sie die unbewußt „reformerisch“ lebenden Menschen, indem sie nahelegten, daß sie wenigstens im Reformhaus einkaufen könnten. Die öffentliche Meinung über die Lebensreform war in der Weimarer Republik nicht eindeutig. Vielen dürfte sie einigermaßen gleichgültig gewesen sein, erschien sie wohl als einer von vielen Anbietern auf dem Markt. Andere sahen in den verschiedenen Bewegungen ein Abbild des modernen Zeitgeists, wieder andere begegneten ihnen mit Unverständnis oder leichtem Schauder. Das zeigt etwa eine Beilage des Berliner Tageblatts vom 6. Februar 1932. Das Vorwort dieser „Sondernummer Lebensreform“ beginnt mit den Worten, die Lebensreform sei zu einem Begriff geworden, „dem unsere Zeit Gesicht und Inhalt gab.“ Dann aber heißt es, die „ersten Pioniere“ der Lebensreform wie Sebastian Kneipp oder Eduard Baltzer hätten „nur ein Häuflein unentwegter ,Natur-Apostel‘ um sich zu sammeln“ vermocht, und bei dem Bild des unverständlichen Sonderlings, des belä-

794 795

Das Reformhaus, April 1926, S. 6. Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. September 1932, S. 174.

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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chelten Fanatikers und Sektierers seien die Anschauungen der Öffentlichkeit über Lebensreform meist stehengeblieben: „Sehr zu Unrecht.“796 Der Geschäftsführer der Neuform Karl Dielmann schrieb Anfang 1949 rückblickend über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Reformbranche im Begriff war, sich organisatorisch zu verfestigen: „Mit der Zahl der Reformhäuser wuchs auch die Bedeutung der Hersteller von Reformwaren. Neue Verbraucherschichten interessierten sich für diese Waren, die zu verwenden nach anfänglicher, oft spottender Ablehnung vielen zur Gewohnheit wurde, ohne daß diese Verbraucher ,Lebensreformer‘ waren oder sein wollten.“797 Im „Dritten Reich“ wurde die Bewegung zwar nach Einschätzung der Branche in manchen Veröffentlichungen noch als „der böse Feind hingestellt“, war aber mehr und mehr anerkannt.798 Trotz ihres schnellen Wachstums blieb die Reformwarenwirtschaft in den dreißiger Jahren aber eine kleine Branche, die bei weitem nicht die gesamte Bevölkerung erreichte. Das mag die folgende Begebenheit illustrieren. Im Mai 1939 forderte die „Fachabteilung Reformhäuser“ die „Wirtschaftsgruppe Gemeinschaftseinkauf“ bei der „Reichsgruppe Handel“ zum Beitritt zu einer „Arbeitsgemeinschaft für Reformwaren“ auf. Diese Arbeitsgemeinschaft, der neben der für die Reformhäuser zuständigen „Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel“ der „Wirtschaftsgruppe Einzelhandel“ auch die „Fachgruppe pharmazeutische Erzeugnisse“ der „Wirtschaftsgruppe chemische Industrie“ und die „Fachgruppe Brotindustrie“ der „Wirtschaftsgruppe Lebensmittelindustrie“ angehörten, strebte eine „gleichberechtigte Anerkennung von Reformwaren“ an. Der Vorsitzende der „Wirtschaftsgruppe Gemeinschaftseinkauf“, einer Organisation, der mit der „Rewe-Zentrale Deutscher Lebensmittel-Großhandels-Genossenschaften eGmbH“ und der „Edeka Großhandel eGmbH“ zwei große und einflußreiche Lebensmittel-Anbieter angehörten, antwortete erst Ende Oktober 1939. Er schrieb: „Wir haben bisher noch nicht zu Ihrer Aufforderung, der Arbeitsgemeinschaft für Reformwaren beizutreten, Stellung genommen. Grundsätzlich haben wir keinerlei Bedenken hiergegen. Jedoch ist der Kreis unserer Mitgliedsunternehmen, die an diesen Fragen interessiert sind, nicht sehr gross.“799 Wie der Vorgang endete, ist nicht überliefert. Er zeigt aber zumindest eines: Das Interesse anderer Anbieter auf dem Lebensmittelmarkt am Verkauf von Reformwaren war auch im „Dritten Reich“ gering, in einer Zeit, in der immerhin der Staat selbst für Vollkornbrot warb. In einem offiziellen Dokument zur „Vollkornbrotaktion“ von 1940 tauchen nur die „Fach796 797 798 799

Haus Hof Garten, Illustrierte Wochenschrift des Berliner Tageblatts vom 6. Februar 1932, S. 79. Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser e.G.m.b.H., Nr. 3, Februar/März 1949, S. 1. Leib und Leben, Juli 1937, S. 136. Brief der Fachabteilung Reformhäuser, Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Reichsgruppe Handel an die Wirtschaftsgruppe Gemeinschaftseinkauf, Reichsgruppe Handel vom 27. Mai 1939; Brief der Wirtschaftsgruppe Gemeinschaftseinkauf an die Fachabteilung Reformhäuser vom 27. Oktober 1939. BArch, R 13/XXX/102.

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2. Lebensreform als Netzwerk

gruppe Brotindustrie“ und der Lebensmitteleinzelhandel im allgemeinen auf, nicht aber die „Fachabteilung Reformhäuser“ im besonderen.800 Schon seit dem Ersten Weltkrieg fand sich in den Schriften der Lebensreform gleichwohl immer wieder der Topos, die lebensreformerischen Ideen seien im Begriff, sich gesamtgesellschaftlich durchzusetzen. Die Reformbranche hatte „das Gefühl, mehr oder minder offene Türen einzurennen.“801 Werner Altpeter schrieb 1953 zwei Sätze, die er in ähnlicher Weise auch in jedem anderen Jahrzehnt zwischen 1920 und 1980 hätte verfassen können: „Die Lebensreform ist seit etwa einem Jahr in zunehmendem Maße in eine neue Lage geraten, die ebenso erfreulich wie gefahrvoll ist. Die neue Lage besteht darin, daß in steigendem Maße Ideen, Parolen, Forderungen und Praktiken der Lebensreform von anderen Kreisen übernommen werden!“802 Worte wie diese beschreiben ein Phänomen, das sich schon seit den zwanziger Jahren vollzog, aber erst am Ende des Jahrhunderts seinen Abschluß fand: daß nämlich die Gesellschaft die Reformhäuser und ihre Organisationen überholte oder wenigstens mit ihnen gleichzog und ihnen damit das Bewegungselement und ihre Vorreiterfunktion nahm. Zunächst sah man das positiv. Ein von den Reformhäusern mit der Kontrolle von Produkten beauftragter Ernährungswissenschaftler schrieb Anfang 1930, die Reformhausbewegung habe „in gewissem Sinne einen Abschluß gefunden, nämlich insofern, als man heute nicht mehr von einer Bewegung, die neu einsetzt, sprechen kann, sondern von einer festgewurzelten Industrie- und Handelsgruppe, die sich dem der neuzeitlichen Lebensreform dienenden Verkaufsgebiet zugewandt hat.“803 Von einer Reformhausbewegung, jener Wortschöpfung der zwanziger Jahre, war vor allem nach der Gleichschaltung nur noch selten die Rede, nach dem Krieg überhaupt nicht mehr, und nun begann man auch, das zu beklagen. Im April 1949 rief die Kundenzeitschrift Reform-Rundschau ihren Lesern zu: „Eine Lebensreform-Bewegung, wie wir sie früher hatten, gibt es nicht mehr! Wohl gibt es noch einzelne Reformer, treue Anhänger einer einmal für richtig erkannten Idee, aber eine Bewegung gibt es nicht. Denn unter einer Bewegung versteht man eine größere Anzahl Personen, die eine gemeinsame Idee bewegt, deren Verwirklichung sie freiwillig, aktiv zustreben.“804 Indem sie selbst aber auch nach dem Krieg wieder Werbung für diese Idee machte, widerlegte die Zeitschrift im Grunde ihre eigene Aussage – und wie schon eingangs bemerkt, fühlten sich die Reformhäuser zur selben Zeit als „Strahlenzentren“ der Lebensreform. Im Jahrgang 1955 veröffentlichte das Neuform-Echo in einer regelmäßigen Rubrik „Man spricht von der Lebensreform“ Passagen aus Zeitungsartikeln und Rundfunksendungen. Diese Texte beschäftigten sich nahezu ausschließlich mit gesünderem Leben im allge800

801 802 803 804

Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Fachgruppe Nahrungs- und Genußmittel, Reichsgeschäftsstelle an den engeren Beirat, die Geschäftsstellen der Bezirksfachgruppen, 13. Januar 1940. BArch, R 13/XXX/102. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. Februar 1938, S. 29. Neuform-Echo, Juni 1953, S. 252. MAX WINCKEL, Das Reformhaus im Dienste der neuen Ernährungslehre, in: Das Reformhaus, Januar 1930, S. 2f., hier S. 2. Reform-Rundschau, April 1949, S. 2.

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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meinen, fast nie explizit mit der Lebensreform. Das war zwar mit dem Grundsatz „Lebensreform für alle“ zu vereinbaren, der nun zunehmend griff, der aber eben zugleich der Lebensreform selbst die Kontur und schließlich auch den Namen nahm: Von „Lebensreform“ war seit der Mitte der siebziger Jahre außerhalb historischer Rückblicke in den Texten der Reformwarenbranche nur noch selten die Rede. Parallel zu diesen Entwicklungen alterte die Branche unverkennbar, während sich die Gesellschaft – trotz stabil niedriger Geburtenzahlen seit dem Anfang der siebziger Jahre und einer gewissen „Vergreisung“ – natürlicherweise beständig erneuerte. Schon 1957 klagte die Neuform über Nachwuchssorgen. Sie führte ihren Nachwuchsmangel darauf zurück, daß das, „was uns früher zusammenführte, nämlich der Glaube an eine Aufgabe, eine Gemeinschaft“, in der Jugend fehle: „Geist und Form früherer Jugendbewegungen sind verschwunden und nicht rekonstruierbar […].“805 Im Frühling 1988 hieß es auf einem „Reformhaustag“ mit rund 500 Reformhausvertretern in Frankfurt am Main, die Branche wolle große Anstrengungen unternehmen, um mehr als bisher von ihrem „Alte-Leute-Image“ wegzukommen. Dabei komme ihr die „Biowelle“ und das wachsende Ernährungsbewußtsein in allen Teilen der Bevölkerung zugute.806 Auch durch diese Worte schimmert der Topos des sich in der Gesellschaft zunehmend durchsetzenden Gedankengutes der Lebensreform, der die Branche vom Anfang des kurzen 20. Jahrhunderts bis an sein Ende begleitete. Daß das gesündere Leben zu den großen Themen jener Epoche gehörte, war – das hatte Altpeter richtig erkannt – zugleich Chance und Dilemma der Reformhäuser.

805 806

Neuform-Echo, November 1957, S. 302. Meldung der Deutschen Presse-Agentur vom 24. April 1988.

3. EVOLUTION GESÜNDEREN LEBENS Das Netzwerk der Lebensreform hielt nicht nur über Organisationen, Kommunikation und die Menschen zusammen, die sie prägten, sondern auch aufgrund der Inhalte, die gemeinsam die Idee des gesünderen Lebens bildeten: mit Hilfe der Vorstellungen darüber, was ein gesünderes Leben theoretisch ausmache und wie es praktisch zu führen sei. Die organisatorische Form war gewissermaßen sekundär, sie entstand erst mit dem Bedürfnis, die Inhalte weiter zu entfalten, zu verwalten und zu verbreiten. Ganz wie die lebensreformerischen Organisationen, so veränderten sich im Laufe der Jahrzehnte auch die lebensreformerischen Gedanken und Konzepte. Das lag am Wandel der Welt und des Netzwerks, und zugleich induzierten die sich ändernden Inhalte der Lebensreform auch selbst solchen Wandel, griffen Moden auf und schufen andere. In einer Wechselwirkung veränderten die sich wandelnden Inhalte die Organisationen der Lebensreform und veränderten sich dabei selbst mit ihnen. Sie gaben der jeweiligen Epoche ein besonderes Gepräge, dem gesünderen Leben einen zeitspezifischen Charakter. Dieses Kapitel handelt von solchen diachronen Diskursverschiebungen, von der Evolution der Inhalte des gesünderen Lebens (3.). Anschließend wird es um jene Inhalte der Lebensreform gehen, die das Netzwerk bei all seinem Wandel zu jeder Zeit kennzeichneten, also um jene synchronen Diskurse, die das untersuchte Phänomen am Anfang wie am Schluß zur Lebensreform machten (4.). Die folgenden Abschnitte unterteilen den Zeitraum zwischen 1890 und 1990 in drei Phasen. Die beiden Übergänge zwischen ihnen sind jeweils von Veränderungen hinsichtlich der lebensreformerischen Inhalte gekennzeichnet, die mit dem Ende eines Weltkriegs, einem Wechsel der Staatsform in Deutschland und damit auch mit einem allmählichen Wandel der deutschen Gesellschaft einhergingen. Die lebensreformerischen Inhalte der drei Zeitabschnitte nennt die Untersuchung anders leben (1890–1918), vitaler leben (1918–1945) und ökologischer leben (ca. 1950–ca. 1990). Diese Ausdrücke, die nicht zeitgenössische Begriffe sind, sollen die Grundtendenz des gesünderen Lebens in den einzelnen Epochen heuristisch kennzeichnen. Sie erheben nicht den Anspruch, die Lebensreform der jeweiligen Zeit in allen ihren Facetten erschöpfend zu beschreiben. Leben meint hier die Lebensweise der Menschen. Lebensreform sagt, wie dieses Leben richtiger zu gestalten sei, eben anders, vitaler oder ökologischer. Das Konzept gesünder leben wölbte sich im gesamten 20. Jahrhundert über die zeitgebundenen Aufgaben und Versprechungen anders leben, vitaler leben und ökologischer leben, die somit Variationen, Interpretationen, Konkretisierungen ein und desselben Themas waren. Um die Jahrhundertwende definierten sich die Lebensreformer über ihr Gegenbild, sie wollten anders leben, als es die Gesellschaft ihnen vorzugeben schien, wollten eine neue, utopische Welt schaffen, die sich von der als krank empfundenen Wirklichkeit radikal unterscheiden sollte. In diesem Paradies verschmolzen der Mensch und die als grundgut imaginierte Natur zu

2.5. Netzwerk und Gesellschaft

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einem harmonischen Ganzen (3.1.). Die Zwischenkriegszeit und die Zeit des Zweiten Weltkriegs prägten der Vitalismus und der Gedanke eines zu steigernden Lebens. Das Leben selbst wurde in dieser Kernzeit des gesünderen Lebens immer mehr zu einer Größe eigener Art, erhielt einen zusätzlichen Akzent, der über die einfache Bedeutung der Lebensweise hinausging: das Leben sollte vitaler werden. In dieser Epoche stand die „innere Natur“ des Menschen im Mittelpunkt: sein Körper, sein Geist, sein Blut, seine Rasse (3.2.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlagerte sich das Interesse der Lebensreformer zur „äußeren Natur“, zur natürlichen Umwelt, die ihnen als denaturiert und kontaminiert erschien. Das ließ den Lebensreformern ein ökologischeres Leben in harmonischem Miteinander mit der Natur wünschenswert erscheinen (3.3.). Die drei Felder anders leben, vitaler leben und ökologischer leben sind nicht streng voneinander geschieden. In jedem von ihnen finden sich auch Aspekte von Vorstellungen, die in einem der jeweils anderen vorherrschten. Ein Grund für diese Verflechtungen ist, daß die Lebensreform den Menschen zu jeder Zeit als „Natur in der Natur“ begriff807, ihn also immer in der ihn umgebenden natürlichen Umwelt sah. Deshalb war die äußere Natur auch in der Zeit des vitaleren Lebens wichtig, in der die innere Natur im Mittelpunkt stand. Zur Zeit des ökologischeren Lebens, als die äußere Natur ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, verschwand die innere umgekehrt ebenfalls nicht aus dem Blickfeld der Lebensreform. Reform hieß in den zwanziger bis vierziger Jahren nicht ausschließlich Reform einzelner Körper und Reform des „Volkskörpers“. In reformerischen Publikationen dieser Zeit erschienen vielmehr auch Artikel über „gesunden Boden“ oder biologische Landwirtschaft. Umgekehrt war der Reformbegriff seit den fünfziger Jahren nicht deckungsgleich mit Umwelt- und Naturschutz: Auch zur Zeit der Bundesrepublik gaben Reformhauszeitschriften Hinweise zur Körperpflege. Darüber hinaus war die Reformwarenwirtschaft des gesamten kurzen zwanzigsten Jahrhunderts, um die es hinsichtlich des vitaleren Lebens und des ökologischeren Lebens vor allem gehen wird, äußerst traditionsbewußt. Sie bezog sich oft auf ihre Wurzeln, die sie in den Reformbewegungen der Jahrhundertwende sah. Daher finden sich in den Epochen des vitaleren und des ökologischeren Lebens viele Gedanken, die aus der Zeit des anderen Lebens stammen. Neben dieser gewissermaßen vertikalen Unschärfe waren die lebensreformerischen Diskurse auch horizontal nicht trennscharf von anderen Diskursen der jeweiligen Zeit abgegrenzt. Viele der Vorstellungen, über die das Netzwerk zusammenhielt und mit deren Hilfe es funktionierte, kamen auch andernorts vor. Die Ideen über ein gesünderes Leben waren nicht spezifisch lebensreformerisch, sondern sie bildeten ein „Mosaik von Zitaten“ (Julia Kristeva), zu dem die Bewegung zwar viele, aber bei weitem nicht alle Steinchen beitrug, die sie wiederum einem großen, gesamtgesellschaftlichen Steinbruch entnahm, dessen sich auch andere bedienten. Das gemeinsame Interesse des Netzwerks und anderer gesellschaftlicher Gruppen an Ernährung, Bewegung und Körperpflege schuf Schnittstellen

807

Vgl. unten S. 291.

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3. Evolution gesünderen Lebens

zwischen Lebensreform und Außenwelt: Das Netzwerk als Teil der Gesellschaft kommunizierte zu jeder Zeit mit anderen Teilen der Gesellschaft. 3.1. ANDERS LEBEN – DIE GUTE NATUR (1890–1918) Um die Jahrhundertwende warben Naturheil- und Vegetariervereine dafür, anders zu leben, als es ihrer Ansicht nach in der wilhelminischen Gesellschaft üblich war. Als Lohn versprachen sie ein anderes, ein gesünderes Leben. Anders leben war damit zugleich Aufgabe und Verheißung. Nicht nur der einzelne, auch die Gesellschaft sollte in den Augen der Reformer eine andere werden, eine gesündere als die gegenwärtige. Die Ideen der Lebensreformer, wie ein solches anderes Leben der Individuen und des Gemeinwesens erreicht werden und aussehen könne, changierten vor dem Ersten Weltkrieg zwischen Utopie und Realismus. Der Krieg selbst erschien den Vegetariern und Naturheilanhängern wenig später als ein Katalysator, der zu diesem erträumten anderen Leben, in diese erhoffte andere Welt führen werde. 3.1.1. Zwischen Utopie und Realismus Am 18. Oktober 1899 hielt der Vegetarier Benno Buerdorff auf Veranlassung des „Leipziger Vegetarier-Vereins“ einen Vortrag mit dem Titel „Der Weg zum Glück“. Nach einigen einleitenden Sätzen stellte er den „Verehrten Anwesenden“ die rhetorische Frage, welche Garantien sie persönlich für ein glückliches Leben hätten? Wahrscheinlich schwiegen seine Zuhörer wie erwünscht, so daß Buerdorff im Text fortfahren konnte: „Sie stutzen? Ja, weil Sie keine Garantien haben. Sie würden sie sonst deutlich fühlen.“808 Denn: „Die Garantie des Glückes ist Gesundheit, vollkommene Kerngesundheit nach jeder Richtung hin: gesunder Leib, gesunde Sittlichkeit, gesunder Geist, gesunde wirtschaftliche und soziale Verhältnisse und gesunde politische Verhältnisse. Das alles haben wir nicht. Wir haben keine Garantien für ein glückliches Leben. Unser scheinbares Glück ist nicht kerngesund, es ist kernfaul. Unser Volk ist krank nach jeder Richtung hin.“

Die Tatsache, daß das Volk unglücklich sei, so führte Buerdorff aus, bestätige die Existenz der „zahllosen Reformbewegungen auf allen Gebieten des Lebens“: der Naturheilbewegung, der Impfgegner, der Sittlichkeits- und der Antivivisektionsvereine, der Freidenker, der politischen und sozialen Vereine und der Friedensbewegung. „Sie alle versprechen Erlösung von dem einen oder anderen Uebel, aber keine vereinigt die vollkommene Erneuerung aller Verhältnisse in gesundheitli808

BENNO BUERDORFF, Der Weg zum Glück, in: Vegetarische Warte vom 15. Dezember 1899, S. 305–319, hier S. 306. Aus diesem Artikel auch die folgenden Zitate. Im Jahr 1900 erschien die Rede auch als Flugschrift des „Deutschen Vegetarier-Bundes“: vgl. ders., Der Weg zum Glück. Leipzig 1900. – Der „Leipziger Vegetarier-Verein“, auf dessen Einladung Buerdorff seine Rede hielt, gehörte zum „Deutschen Vegetarier-Bund“. Buerdorff war spätestens seit 1905 Bibliothekar dieses Bundes: Vegetarische Warte vom 23. Januar 1905, S. 41.

3.1. Anders leben – die gute Natur (1890–1918)

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cher, sittlicher, geistiger, sozialer und politischer Beziehung so fest miteinander verknüpft in sich wie die vegetarische […].“ Von der Abgrenzung gegenüber konkurrierenden reformerischen Strömungen und der Werbung für die eigene Richtung einmal abgesehen, fällt hier vor allem auf, daß Buerdorff Sittlichkeit, Geist, Politik und Soziales in enge Verbindung mit Gesundheit brachte – daß für ihn selbstverständlich auch der Körper in diesen Zusammenhang gehörte, zeigt der zuvor zitierte Abschnitt, in dem der „gesunde Leib“ gleich an erster Stelle genannt wird. Buerdorffs Verständnis von „vollkommener Kerngesundheit“ als Gesundheit von Leib, Geist und Sittlichkeit jedes einzelnen und zugleich Gesundheit der Gesellschaft weist auf eine in zweifachem Sinne ganzheitliche809 Vorstellung von Gesundheit hin: Sie zielt einerseits auf Körper und Geist und andererseits auf Mikro- und Makrokosmos, auf die kleine innere Welt der menschlichen Natur und die große äußere Welt der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Buerdorff beschrieb aber nicht nur ausdrücklich, was er unter Gesundheit verstand, sondern beklagte vor allem auch die Krankheit, die „Kernfäule“ des deutschen Volkes in geistiger, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht, die er mit drastischen Beispielen und Zahlen belegte: „13 mal 100.000“ Schwindsüchtige, „60 Tausend“ Prostituierte in der Reichshauptstadt, „83.000 Irrsinnige“ in Preußen, „200 bis 400 Tausend rüstige deutsche Männer, die vagabondierend im Lande umherziehen und durch Betteln eine Liebesgabe von jährlich beiläufig 100 Millionen Mark einstreichen“. Achtzig Prozent der deutschen Männer, die eine Ehe eingingen, seien vorher geschlechtskrank gewesen. „Und wie faul sind unsere politischen Garantien! Ist der ,bewaffnete Friede‘ vielleicht ein Beweis von gesunder Politik?“ Dennoch war der Vegetarier der Ansicht, daß eine heile Welt vollkommener „Kerngesundheit“ entstehen könne: „Man braucht nur zu wollen, um Paradiese zu schaffen.“ Damit stand Buerdorff im Einklang mit vielen seiner Zeitgenossen, die wie er ein anderes, gesünderes Leben schaffen wollten. Die absolute, ganzheitlich verstandene Gesundheit, mal eher persönlich, mal stärker gesellschaftlich gedacht, war mit großer Regelmäßigkeit das höhere Ziel allen Gesundheitsstrebens, das die lebensreformerischen Publikationen im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert benannten oder umschrieben. Kaum jemand formulierte diese Gedanken so deutlich wie die Lebensreformer. Anderswo verstand man unter Gesundheit ganz im Gegensatz zu den lebensreformerischen Vorstellungen weder ein ganzheitliches Wohlbefinden von Leib und Geist in Welt und Gesellschaft noch einen Zustand vollkommener Glückseligkeit, den es sich trotz seiner utopischen Züge anzustreben lohne.810 So definierte „Brockhaus’ Konversationslexikon“ in der Ausgabe von 1902 die Gesundheit ohne Hinweis auf Geist oder Gesellschaft als denjenigen „Zustand eines organischen Körpers, in dem alle Teile desselben in einem richtigen Verhältnis zu einander stehen und alle Verrichtungen, die zur Erhaltung die809 810

Zum Begriff der Ganzheit unten Kapitel 4.2, S. 283ff. Zu den Gesundheitsvorstellungen, welche die Lebensreform im gesamten 20. Jahrhundert kennzeichneten, vgl. unten Kapitel 4.1, S. 277ff.

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3. Evolution gesünderen Lebens

ses Verhältnisses nötig sind, ihren normalen Gang gehen“, und folgerte: „Ein Körper, der absolut gesund wäre, d.h. in dem alle Teile den ihnen zukommenden Grad von Größe und Stärke, die normale Form und Struktur haben, in welchem alle Verrichtungen vollkommen regelmäßig verlaufen, wird nie gefunden.“811 Wohl aber, so das Lexikon weiter, gebe es relative Gesundheit, einen Zustand, in dem zwar ein Körperteil stärker sei als der andere, die Schwäche des Schwächeren aber nicht empfunden, also nur ein Wohlsein gefühlt werde. Eine solche relative Gesundheit lehnten die meisten Autoren der Reformbewegung ab. Der Naturarzt und Kleidungsreformer Heinrich Lahmann formulierte das 1898 so: „Wir danken für eine Gesundheit, die nur eine hinter dem warmen Ofen ist. Wir wollen eine Gesundheit, die sich am Aequator und am Nordpol gleichmässig bewährt.“812 Die gesellschaftlichen Zustände im wilhelminischen Deutschland ließen sich trefflich als Argumente für die Notwendigkeit eines anderen Lebens verwenden, das zu einer solchen perfekten Gesundheit führen werde. Buerdorff lieferte in seinem Vortrag, wie gesehen, einen drastischen Bericht über den Zustand des als krank empfundenen Volkes, der geradezu nach einer Reform des Lebens und der Welt zu schreien schien. Ähnlich fragte 1911 der Hygieniker Robert Hessen: „Ob es heute noch irgendwo ganz gesunde Menschen in Deutschland gibt? Unsere Ansprüche sind so tief gesunken, daß vieles Minderwertige schon imponiert. Und ob wir geneigt wären, einen gesünderen Zustand einzutauschen durch Drangabe bestimmter Kulturannehmlichkeiten, an die wir gewöhnt sind?“ Weiter ist in seinem Buch über „Die sieben Todfeinde der Menschheit“ die Rede von Fabrikstädten, „wo neben einer normalen oder halbnormalen Minorität sich Millionen von Menschen herumstoßen, die, wenn man sie unzugerichtet ansieht, der Herrgott in seinem Zorn geschaffen zu haben scheint“; diese Menschen seien „[w]elk, flachbrüstig, schlecht schlafend, schlecht verdauend, widerstandsunfähig, pervers, und mit einem Nachwuchs, der solcher Eltern würdig ist“.813 Solche Schwarzmalerei war das eine wichtige Stilmittel der Gesundheitsliteratur der Jahrhundertwende. Das zweite, spiegelbildlich dazu, war die Beschreibung einer heilen, perfekten, gesunden Welt der Zukunft. Wie sich diese so mancher Reformer vorstellte, veranschaulicht vielleicht am besten eine Gesellschaftsutopie des Naturarztes Friedrich Eduard Bilz (1842–1922), der in Radebeul bei Dresden ein Naturheilsanatorium betrieb. In einer 1904 entstandenen Farblithographie stellte der Lebensreformer der in seinen Augen von Konkurrenzkampf, überfüllten Irrenanstalten und Zuchthäusern, Alkohol, Nikotin, Kriminalität und Krankheit geprägten Gesellschaft der Jahrhundertwende das „Volk im Zukunftsstaat“ des Jahres 2000 gegenüber.814 Während das Kernstück des damaligen „heutigen Staates“ ein Krankenzimmer mit mehreren Bettlägerigen bildet, steht 811 812 813 814

Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14., vollständig neubearbeitete Auflage. Neue Revidierte Jubiläums-Ausgabe. 17 Bde. Leipzig/Berlin/Wien 1901–1907. 7. Bd. 1902, S. 877f. HEINRICH LAHMANN, Das Luftbad als Heil- und Abhärtungsmittel. Stuttgart 1898, S. 24. ROBERT HESSEN, Die sieben Todfeinde der Menschheit. München 1911, S. 140f. Vgl. DIETHART KERBS, Die Welt im Jahre 2000. Der Prophet von Oberlößnitz und die Gesellschafts-Utopien der Lebensreform, in: BUCHHOLZ u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform, Bd. 1 (wie Anm. 46), S. 61–66. Dort auch eine Abbildung der Lithographie.

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im Zentrum der Utopie „Das irdische Paradies“, in dem gesunde, leicht bekleidete, „glückliche und zufriedene Menschen“ im Sonnenlicht am Ufer eines Gebirgsbächleins sitzen, Körbe mit Früchten tragen oder Reigen in freier Natur aufführen – die tägliche Arbeitszeit sollte sich innerhalb der kommenden hundert Jahre von zehn auf drei Stunden verringern. Die lebensreformerischen Zeitschriften, Bücher und Bändchen der Jahrhundertwende kennzeichnete insgesamt eine bukolisch-verheißungsvolle Sprache, die reich war an Tropen wie „vegetarisches Zeitalter“, „goldnes Zeitalter“, „Morgenröte“, „Erlösung“ und „Paradies“. Einige Lebensreformer erblickten im gesunden Leben offensichtlich das Heil, das über alle Welt kommen könne, wenn nur genug Menschen zur wahren, nämlich der „naturgemäßen“ Lebensweise „konvertierten“. Dieser unverbrüchliche Glaube an einen so beschaffenen Fortschritt der Menschheit und letztlich an das Gute im Menschen erklärt sich zum einen ex negativo mit dem Fehlen der kollektiven Erfahrung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg.815 Zum anderen aber war dieser Glaube schlicht zeitgemäß, die lebensreformerische Erlösungslehre eine von vielen Stimmen in einem großen Chor, eine von unzähligen Ideen, wie die als dekadent empfundene Gesellschaft zum Licht geführt werden könne. Wie Bilz verwendeten viele lebensreformerische Autoren der Jahrhundertwende das Jahr 2000 als Marke für jene zukünftige Zeit, in die sie ihre utopischen und chiliastischen Vorstellungen verlagerten. Im Schrifttum der Lebensreform waren Utopien und progressive Geschichtsentwürfe um 1900 viel häufiger als Mythen und konservative Geschichtsentwürfe.816 Auf die Gedanken der Lebensreform trifft insofern nicht zu, was Zygmunt Bauman mit Blick auf „fast alle modernen Phantasien“ von einer guten Welt beobachten zu können glaubt: daß sie nämlich antimodern waren.817 Oft ließen die Lebensreformer in ihren utopischen Texten in der Schwebe, wie denn genau die Zukunft aussehen werde, die sie erwarteten. Das mag zum einen daran liegen, daß der als krank empfundene Ist-Zustand leichter – und vermutlich auch lustvoller – zu beschreiben war als die erwartete heile Zukunft. Zum anderen skizzierten die Autoren ihre Utopien aber wahrscheinlich auch bewußt unscharf, um sie möglichst vielen Menschen erstrebenswert erscheinen zu lassen. In viele der allegorischen Bilder und Texte, die eine paradiesische Zukunft verkündeten, war zugleich deutliche Sozialkritik eingeflochten. Bei Bilz findet sie sich, ganz in der Tradition von Renaissance-Darstellungen des Infernos und der Erlösung, auf der einen Seite der Lithographie und damit der anderen, seligen Seite gegenübergestellt: die heutige Welt als Hölle, die künftige als Paradies. Ein Artikel über das Jahr 2000 in der Vegetarischen Warte widmete sich im April 1907 vor allem dem erwarteten Ende der Tierhaltung und der Schlachtung von 815 816

817

Der Erste Weltkrieg sollte die Zukunftserwartungen zwar nicht zerstören, aber immerhin „sachlicher“ werden lassen. Dazu unten S. 195. Zu dieser Unterscheidung MARTIN LINDNER, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart/Weimar 1994, S. 60–65. ZYGMUNT BAUMAN, Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg 1999 [engl. 1997], S. 26.

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Tieren, sprach aber auch – keineswegs „antimodern“ – die in der imaginierten Zukunft bevorstehende Frauenemanzipation und den Zusammenbruch aller häuslichen Dienstverhältnisse an.818 Sozialreformerische Ideen hegte auch Benno Buerdorff, der hinsichtlich der Verkürzung der Arbeitszeit sogar noch weiter ging als sein lebensreformerischer Mitstreiter Bilz, der für seinen „Zukunftsstaat“ einen dreistündigen Arbeitstag veranschlagt hatte. Buerdorff sagte in seiner Rede: „Wenn […] nur noch 2 Stunden täglich gearbeitet wird, dann nimmt unsere Kultur ein anderes und freundlicheres Aussehen an, dann müssen die Sklavenketten fallen, dann sind wir frei für Sport und geistige Genüsse, wie die alten Griechen es waren, deren Kultur auch kein Ideal war, aber in Wahrheit weit höher stand als die unsrige, ohne Fabrikschlote und Glacéhandschuhe.“819

Rhetorisch und vom Duktus her zielten diese utopischen Zukunftsbilder zwar grundsätzlich auf absolute Gesundheit, im Detail zeigt sich aber oft, daß die meisten Autoren nicht an eine Apokalypse glaubten, die über die Welt kommen und sie schlagartig zum Wahren, Schönen und Guten verändern werde. Darauf weist auch die Tatsache hin, daß Artikel über die Welt im Jahr 2000 und andere utopische Texte in den Zeitschriften meist im „Vermischten“ erschienen, etwa unter Überschriften wie „Für Herz und Gemüt“. Herausgeber und Redakteure lebensreformerischer Zeitschriften unterschieden also zwischen wissenschaftlichen und mehr „feuilletonistischen“, „weichen“ Themen und ordneten das eschatologische Genre eher letzteren zu. Vor diesem Hintergrund müssen die Texte über das Jahr 2000, über diese zahlenhafte Verkörperung einer guten Zukunft, gelesen werden: als literarische, bewußt übertreibende und mitunter auch ironisch gebrochene Utopien, die zwar wachrütteln, anregen, sensibilisieren sollten, die aber weder Leser noch Autoren ganz wörtlich nahmen. Auch eine Textpassage in Buerdorffs Vortrag, die im folgenden leicht gekürzt wiedergegeben wird, spricht für diese Deutung. Wie viele Gesundheitsutopien schillert dieser Text zwischen Absolutheit und Relativität und läßt offen, ob der Glaube an einen radikalen Wandel der Gesellschaft hin zu einer vollkommenen Gesundheit nun tatsächliches Ziel sei oder Metapher und Symbol. Auffällig ist, daß die Zukunftsvision Buerdorffs vom Konjunktiv zum Indikativ, vom Irrealis zum Futur übergeht. Hier wird die Zweideutigkeit also auch grammatikalisch deutlich. Am Anfang des Abschnitts steht zunächst ein Bekenntnis zur Wirklichkeit [Hervorhebung F.F.], bevor eine utopische Zukunft beschrieben wird, die im Textfluß unversehens zur anscheinend tatsächlich erwarteten wird: „Setzen Sie einmal den Fall, der ja in dieser Schroffheit nicht eintreten wird, aber durch den Gegensatz umso lehrreicher ist, dass nämlich unser Volk über Nacht aufgeklärt würde über das, was zum Leben nützlich und wünschenswert ist, und dass morgen früh niemand mehr Fleisch, Tabak, Bier, Kaffee, Senf, Korsetts, Bügeleisen, Impfjauche, Arzneigifte, und die übrigen Hexenkesselkünste kaufen würde, so würden hunderte [sic] von Gewerben und Industrien ausgelöscht und vertilgt sein und tausende [sic] von Fabrikanten und Millionen von Arbeitern von der Sklaverei unserer Misskultur befreit sein. Gleichzeitig würden sie natürlich dem Hungertode gegenüber stehen und eine so erhebliche Gefahr für das Gemeinwohl dar818 819

Vegetarische Warte vom 17. April 1907, S. 92f. BUERDORFF, Weg zum Glück (wie Anm. 808), S. 317.

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stellen, dass der Staat wahrscheinlich noch denselben Tag Mittel und Wege finden würde, den Millionen menschen- und kulturwürdige Arbeit zu verschaffen […]. So würden gleichzeitig grosse Obstwälder und in ihnen gesunde Wohnungen für alle geschaffen werden, die jetzt in den dumpfen, feuchten, lichtscheuen Winkeln der Städte hausen. Nach einigen Jahrzehnten würde ganz Deutschland ein einziger Fruchtgarten sein, viel schöner und grösser noch, als Württemberg jetzt schon einer ist. Und in diesem Garten würde in Licht, Luft und Lebenslust ein Geschlecht heranreifen, das mit Leichtigkeit die Welt erobern könnte, wenn es so dumm wäre, das zu wollen. Allerdings wird es die Welt erobern, aber nicht mit Feuer und Schwert, sondern durch das anziehende Beispiel seines Lebensgenusses, indem andere Nationen ebenso glücklich zu sein wünschen werden. Wie übrigens diese neue und wahre Kultur im Einzelnen aussehen wird […], das können wir getrost der Zukunft überlassen, die wenn erst einmal unser Volk über die Grundbedingungen eines menschenwürdigen Daseins aufgeklärt sein wird, sich ganz von selbst auf dieser Grundlage ebenfalls naturgemäß gestalten und entwickeln wird.“820

Daß die neue Kultur des Glücks nicht „schroff“ und „über Nacht“, sondern mittels Aufklärung des Volkes kommen werde, weist auf das Selbstverständnis der Reformer als Avantgarde, als Verkünder einer frohen Botschaft hin, die noch nicht zu jedem vorgedrungen sei. Gegen Ende seines Vortrags faßte Buerdorff zusammen: „Wir verkünden das Evangelium einer wahren, echten Kultur am offenen Grabe der hinsiechenden alten.“ Der Glaube an eine gute Zukunft, eine andere Welt, ein anderes Leben war also durchaus vorhanden, das Bewußtsein für die zu beseitigenden Mißstände ebenfalls. Die Botschaft von der angestrebten und erwarteten Gesundheit aller einzelnen und des ganzen Volkes, vom Sieg über den „kranken“ Ist-Zustand, wurde aber mitunter spektakulärer dargestellt, als es das faktisch Machbare erlaubt hätte; schnell geriet sie in den Texten zur unrealistischen Heilslehre. Die Utopie war aber nur die eine Seite. Die andere war die konkrete Annäherung an sie, das Herunterbrechen der Vision auf die Ebene des Handelns. Die reformerischen Schriften der Jahrhundertwende schillern zwischen abstrakter Weltverbesserungsrhetorik und Zukunftsmusik auf der einen Seite und moderner, praktischer, konkreter Lebenshilfe auf der anderen. James Whorton spricht in Hinsicht auf das Sanatorium „Yungborn” in New Jersey, eine Kopie der Naturheilanstalt „Jungborn“ im Harz, von „the curious mix of wisdom and folly that perfused early naturopathy”.821 Dieses Oszillieren ist auch in den Büchern des „Jungborn“Gründers Adolf Just vorhanden. In seinen Texten leuchtet hell die Frühlingssonne, singt froh die Lerche im blauen Äther, läßt die Nachtigall „in süsser Liebeslust“ melodische Weisen im Rosenstrauch erklingen, springen Reh und Hirsch über Stock und Stein822 – laut Just berichteten viele Gäste des „Jungborn“, sie fühlten sich wie in eine „neue Welt“, in ein „Märchenland“ versetzt.823 „Nur bei richtiger Rückkehr zur Natur […] können die Menschen wieder schön, gesund, fröhlich 820 821 822 823

Ebd., S. 317f. JAMES C. WHORTON, Nature Cures. The History of Alternative Medicine in America. Oxford/New York 2002, S. 200. ADOLF JUST, Das neue Paradies der Gesundheit. Die wahre Rückkehr zur Natur in kurzgefasster Darstellung. Post Stapelburg Harz/Leipzig o. J. [um 1897], S. 41. JUST, Kehrt zur Natur zurück, Bd. 1 (wie Anm. 757), S. VI.

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und glücklich werden“824: Auf diesen Satz ließe sich die Aussage der Texte reduzieren, gäbe es da nicht noch die genauen Beschreibungen, wie ein „naturgemäßes Bad“ zu nehmen sei, wie die „Jungbörner“, wie der Sanatoriumsleiter die Besucher seiner Heilanstalt nannte, ihre Nüsse zu knacken und welche Kleidung sie zu tragen hätten. Die Lebensreformer warteten nicht passiv auf die immer wieder mit ähnlichen Worten beschriebene Erlösung. Voraussetzung für die Verwirklichung einer perfekten Welt auf Erden war tätige Mitarbeit. Trotz aller utopischen Worte gilt das auch für Buerdorff, der in Leipzig auch über die „bewußte Erfüllung der vegetarischen Lebensbedingungen“ sprach.825 „Das heisst also nicht unfruchtbares Philosophieren und Schwärmen für bessere Zeiten, sondern es heißt Handeln“, schärfte der Vegetarier seinen Gesinnungsgenossen ein. „Alles Theorieren [sic] über die entferntere Zukunft hat keinen Zweck. Hand anlegen – das ist alles. Und mit diesem Handanlegen kann jeder von uns sofort bei sich selbst beginnen.“826 Es blieb nicht bei dieser abstrakten Aufforderung zur Tat. Die Protagonisten gesünderen Lebens gaben ihren Anhängern oft sehr lebensnahe Handlungsanweisungen für eine gesunde, „naturgemäße“ Lebensweise. Dabei hatten sie die Gesundheit des Individuums im Blick, die private Gesundheit, die Sorge um sich (Michel Foucault). Dieser war aber immer der höhere Zweck übergeordnet, nicht nur dem Individuum ein anderes Leben zu ermöglichen, sondern auf diesem Wege zugleich eine andere Gesellschaft zu schaffen. Der Ausbruch des Weltkriegs, so schien es zunächst, kam diesem Wunsch zur Hilfe. Die neue Gesellschaft, die er schuf, sollte aber auf andere Weise anders sein, als sich das die Lebensreformer erhofft hatten. 3.1.2. Der Erste Weltkrieg als Katalysator827 Im August 1914 präsentierte sich die Vegetarische Warte in einer markigen Sprache als tatkräftig, zupackend und zukunftsfroh. Sie schrieb: „Achtung verdient nicht das Volk, das händeringend den jetzigen Zustand der Welt bejammert, sondern nur dasjenige, das ernst und entschlossen mit der Wirklichkeit sich abzufinden weiß. Wir haben in diesen Tagen gesehen, daß solch männliche Fassung unserm Volke geblieben ist, trotz der vielen Züge von Erschlaffung und Verweichlichung, die wir an ihm zu tadeln als unsere ernste Aufgabe stets betrachten müssen. Heil ihm, daß es die Fähigkeit gezeigt hat, sich zu ermannen angesichts der Gefahr und sich zu läutern aus seinem ureigenen tiefen Kraftvorrat heraus!“828

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JUST, Das neue Paradies (wie Anm. 822), S. 39. So definierte sich der deutsche Vegetarismus seit 1870 in Anlehnung an seinen „Gründungsvater“ Eduard Baltzer. BUERDORFF, Weg zum Glück (wie Anm. 808), S. 318. Zur Naturheilbewegung im Ersten Weltkrieg schon ausführlich FRITZEN, „Unsere Grundsätze marschieren“ (wie Anm. 147). Daher konzentriert sich dieser Abschnitt auf die vegetarische Bewegung. Vegetarische Warte vom 15. August 1914, S. 152.

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Der „Wille zum Sieg“, den man als „Wille zum Siege über alles Morsche und alles Lebenskürzende“ verstand, solle nicht nur in den Waffenträgern leben, sondern auch „im ganzen übrigen Volke“.829 Zu Weihnachten 1914 äußerte ein Autor in der Vegetarischen Warte die Gewißheit, „daß es keinen Frieden gibt, der nicht ein Kind des Krieges ist, daß nur durch Schläge, die wehe tun und den Gegnern bis ins innerste Mark dringen, ein Frieden erzwingbar, niemals aber gutwillig erreichbar ist, und daß wir Deutschen die weltgeschichtliche Pflicht haben, diese Schläge auszuteilen, und zwar so gründlich, daß den Gegnern unseres Friedensbedürfnisses das Wiederaufstehen zumindest für die nächsten hundert Jahre vergehen muß.“830 Dabei wollte der „Deutsche Vegetarier-Bund“, der den aus England stammenden Vegetarismus eine „deutsche Errungenschaft“ nannte831 , tätig mithelfen: „Wir können uns […] nützlich machen, nämlich mit dem, was wir vor den anderen voraus haben, mit unsern Erfahrungen auf dem Ernährungsgebiete.“832 Wie vielen Schriftstellern, Vertretern künstlerischer Avantgarden und Reformbewegungen in Deutschland und im Ausland833 , so erschien der Krieg auch den Lebensreformern als reinigender Katalysator, als Reaktionsbeschleuniger834 , der das schlaff gewordene und übersättigte Volk in einen Zustand neuer Kraft überführen und „Schmerbäuche […] und noch anderen unnützen Ballast wegfegen“835 werde. Schon im Jahrzehnt vor Kriegsausbruch waren solche Hoffnungen in manchen Kreisen verbreitet. „Teilweise gegenläufig zu der Einstellung der breiten Massen, die den Gedanken eines kommenden großen Krieges überwiegend perhorreszierte, fand die Idee, daß ein Krieg eine Art von Gesundbrunnen für die saturierte, in materialistischem Gewinnstreben erstarrte bürgerliche Kultur darstellen würde, vielfach Zustimmung.“ Solche Vorstellungen von einer „revitalisierenden Wirkung eines Krieges auf die deutsche Gesellschaft“ hegten vor allem konservative Autoren.836 Aber auch der sozialdemokratische Abgeordnete 829 830 831 832 833

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Ebd. Vegetarische Warte vom 19. Dezember 1914, S. 226. Ebd. Vegetarische Warte vom 15. August 1914, S. 152. Zu den verbreiteten Vorstellungen vom Krieg als Befreiung, Hygiene oder Katharsis in Literatur und Kunst sowie im Intellektuellenmilieu HELMUT FRIES, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. 2 Bde. Konstanz 1994, 1995; THOMAS ANZ, Vitalismus und Kriegsdichtung, in: WOLFGANG J. MOMMSEN (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996, S. 235–247. – Vgl. auch UWE SCHNEIDER/ANDREAS SCHUMANN (Hrsg.), „Krieg der Geister“. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000; GUNTHER MAI, Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg. München 1987, S. 14–17, 26f.; NIPPERDEY, Machtstaat vor der Demokratie (wie Anm. 123), S. 778. Als solchen beschrieb der Chemiker und Lebensphilosoph Wilhelm Ostwald, der 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, im Jahr 1895 den Begriff des „Katalysators“: LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 91, Anm. *. Dort wird Ostwald allerdings fälschlicherweise als „Physik-Nobelpreisträger“ bezeichnet. Vgl. Vegetarische Warte vom 10. Oktober 1914, S. 188. WOLFGANG J. MOMMSEN, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg: Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914, in: ders., Der auto-

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3. Evolution gesünderen Lebens

Konrad Haenisch, der am 17. Februar 1917 in einer Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses eine Rede über Bevölkerungspolitik und Sozialreform hielt, hatte – in abgemilderter Form – solche Vorstellungen. Bei den „allerdings nur sehr dünnen Bevölkerungskreisen“, so Haenisch, die schon vor dem Krieg an Überernährung und übermäßiger Zufuhr tierischen Eiweißes gelitten hätten, bei diesen dünnen Schichten – nach einem Zuruf verbesserte sich der Abgeordnete mit „oder auch dicken Schichten, wenn Sie wollen“ – habe „der Krieg wie eine Art Entfettungskur gewirkt, er hat manchen von diesen Damen und Herren eine Reise nach Karlsbad erspart. Eine Reihe von Spezialärzten in Berlin […] hat sich öffentlich darüber geäußert, daß ihre Sprechstunden verödet sind, seitdem die eiweißärmere, derbere Kriegskost eingeführt ist.“837 Der Abgeordnete erkannte aber auch, daß zu den „Schichten, die schon vor dem Kriege sehr mangelhaft ernährt waren, und bei denen infolge der Kriegskost vielfach direkt eine Unterernährung eingetreten ist“838 , weit mehr Menschen gehörten als zur dünnen Schicht der Dicken. Folglich müsse man sich mehr um jene kümmern als um diese. Bei den bürgerlichen Lebensreformern hingegen finden sich solche Einsichten nur selten: Sie interessierten sich mehr für die Schmerbäuche als für die hungernden Kinder, für die Haenisch in seiner Rede Schulspeisungen forderte. Denn nicht notleidende Schüler, sondern die vermeintlich oder tatsächlich übergewichtigen und ungesund lebenden Bürger standen für die kranke Welt, die es mit einem anderen Leben zu reformieren gelte. Als sich der Ausnahmezustand in Staat und Gesellschaft nach dem ersten Kriegsjahr immer mehr zum Normalzustand entwickelte839 , mischten sich zwar langsam Bedenken in die lebensreformerischen Vorstellungen vom reinigenden Krieg. Aber auch angesichts der sich verschärfenden Not840 stellten die Lebensreformer die Annahme, der Krieg wirke als Hygiene, im Gegensatz zu anderen Gruppen841 auch später nie grundsätzlich in Frage. Die Reformzeitschriften gaben im Weltkrieg Hinweise, wie Feldärzte nach Meinung der Lebensreformer mit verwundeten Gliedern umgehen sollten. Hier findet sich das Postulat der Naturheilkunde, daß so wenig wie möglich operiert werden solle, statt dessen sei mit Wasser zu heilen. Eine städtische Armenpflege-

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ritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main 1990, S. 380–406, hier S. 383. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session, 1916/17, 4. Bd., 60.–76. Sitzung [17. Februar bis 8. März 1917]. Berlin 1917, Sp. 3704. Ebd., Sp. 3706. KLAUS HILDEBRAND, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. 1871–1945. 2. Aufl. Stuttgart 1996 [zuerst 1995], S. 335. Zur Versorgungslage an der „Heimatfront“ VOLKER ULLRICH, Kriegsalltag. Zur inneren Revolutionierung der Wilhelminischen Gesellschaft, in: WOLFGANG MICHALKA (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München 1997 [zuerst 1994], S. 603– 621, hier bes. S. 607. Zum vielfachen Verlust der Hoffnungen auf Katharsis bei Dichtern und Gelehrten seit 1915 FRIES, Die große Katharsis (wie Anm. 833). Bd. 2: Euphorie – Entsetzen – Widerspruch: Die Schriftsteller 1914–1918, bes. S. 114–121.

3.1. Anders leben – die gute Natur (1890–1918)

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rin und Vegetarierin bat die „deutschen Vegetarierinnen“ in einem Aufruf, ihren „Mitschwestern“ bezüglich „einer vernünftigen fleischlosen Ernährung“ beratend zur Seite zu stehen: „Klärt jede Frau, mit der ihr zu tun habt, darüber auf, warum sie keinen Pfennig des Unterstützungsgeldes für Fleisch auszugeben braucht, warum dies in jetziger Zeit sträfliche Verschwendung bedeutet, und sagt ihr, welches die besten Ersatzmittel dafür sind.“842 Weiterhin diskutierte die Vegetarische Warte eine mögliche „vegetarische Truppenverpflegung“ und berief sich in diesem Zusammenhang auf zugleich wissenschaftliche und militärische Autorität, indem sie einen Marine-Oberstabsarzt mit den Worten zitierte: „Es wäre für unsere Wehrmacht zu Wasser und zu Lande, für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit unserer Armee- und Marinetruppen, ein großer Vorteil, wenn die bisher übliche Ernährungsweise allmählich in eine mehr vegetabile und womöglich vegetarische umgewandelt werden könnte.“843 Diese Vorgehensweise ist kennzeichnend für die lebensreformerischen Zeitschriften im Weltkrieg. Immer wieder meldeten sie triumphierend, daß Politik, Wirtschaft oder Medizin lebensreformerische Gedanken und Praktiken aufgegriffen hätten. In der Tat drang vieles, was die Reformbewegungen im Kaiserreich propagiert hatten, während des Kriegs in die Gesamtgesellschaft ein und wurde zu Allgemeingut – auch durch die Popularisierungsleistung der Lebensreform, vor allem aber aufgrund der allgemeinen Zeitumstände im Krieg, der insofern tatsächlich als Reaktionsbeschleuniger wirkte. Politiker und Vertreter der Nahrungsmittelindustrie priesen in der Not den hohen Nährwert von Vollkornbrot844 , das vor allem in der Produktion billiger war als Weißbrot – Anhänger der Ernährungsreform aßen schon seit langem ihr Simons-, Steinmetz- oder Sanitasbrot.845 Im Krieg zeigte sich auch, wie viel sättigender doch Hülsenfrüchte, Getreide und Kartoffeln im Vergleich zum Fleisch seien, und abermals: wie viel kostengünstiger, mußten doch die Schweine und Rinder, bevor sie zu Wurst und Braten wurden, erst einmal kräftig von all diesen pflanzlichen Nahrungsmitteln fressen846 – die Vegetarier verbreiteten solche Rechenexempel schon lange. Staatliche Stellen erkannten immer mehr den Nutzen von frischer Luft für Schulkinder und verordneten Sportunterricht im Freien – die Naturheilvereine betrieben schon seit Jahren sogenannte Licht-Luft-Bäder. Das Korsett, der Hauptangriffspunkt der Kleidungsreformer847 , 842 843 844 845

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Vegetarische Warte vom 29. August 1914, S. 162. Vegetarische Warte vom 26. September 1914, S. 180. Vgl. etwa Vegetarische Warte vom 10. Oktober 1914, S. 188. Das Simons- und das Steinmetzbrot tragen die Namen ihrer Erfinder, der Brotreformer Gustav Simons (1861–1914) und Stefan Steinmetz (1858–1930). Zu diesen und weiteren Broten der Ernährungsreform ausführlich MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 111– 119. Das Sanitasbrot, das bei Merta fehlt, war eine Weiterentwicklung des Simonsbrotes: vgl. Vegetarische Warte vom 26. Juni 1907, S. 154f. Nach einer populären Rechnung beanspruchten zehn Millionen Schweine so viele Kartoffeln wie 64 Millionen Menschen und verbrauchten zudem noch soviel Getreide wie 20 Millionen Menschen. Vgl. MICHAEL SALEWSKI, Der Erste Weltkrieg. Paderborn u. a. 2003, S. 176. KAREN ELLWANGER/ELISABETH MEYER-RENSCHHAUSEN, Kleidungsreform, in: Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 87–102, hier S. 87.

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3. Evolution gesünderen Lebens

war nach 1918 nahezu verschwunden. Und schließlich ereignete sich 1914 die angeblich erste „alkoholfreie Mobilmachung“ in der deutschen Kriegsgeschichte848 – das war natürlich ganz im Sinne der Antialkoholbewegung. Im Dezember 1918 resümierten der Vorstand des „Deutschen VegetarierBundes“ und die Schriftleitung der Vegetarischen Warte: „Die Ernährungsweise, die der Krieg dem Deutschen Volk aufgezwungen hat, war ein Massenexperiment, das jedem, der sehen will und seine Augen nicht vor ihm unliebsamen Dingen verschließt, den Beweis geliefert hat, daß das Fleisch kein unentbehrliches, unbedingt notwendiges Nahrungsmittel ist.“849 Daß sich „lebensreformerisches“ Wissen so machtvoll durchzusetzen schien, erwies sich für die Organisationen der bürgerlichen Lebensreformbewegung aber als zweischneidig. Denn einerseits sahen sie ihre eigenen Ideen auf dem Vormarsch, andererseits aber betrachteten Vertreter von Politik, Wirtschaft und Medizin den Durchbruch dieser Konzepte nur selten als Verdienst lebensreformerischer Bestrebungen, sondern eher als allgemeinen Wandel der Zeit. Der preußische Abgeordnete Haenisch, der seine Rede mit einer Eloge auf die Naturheilmethode, die vegetabile Kost, die Abstinenzbewegungen, die proletarische Jugendbewegung und den Wandervogel beendete und der Lebensreform „für ihre vor dem Kriege und im Kriege geleistete wertvolle Aufklärungsarbeit“ Dank und Gruß aussprach850 , war insofern eine Ausnahme. Bevor Haenisch die Bewegungen lobte, betonte er, daß er diese Ausführungen „natürlich nur in meinem eigenen Namen, nicht im Namen meiner Fraktion“ mache.851 848

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Offensichtlich gehörten zur Truppenverpflegung im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 noch Wein oder Bier, vgl. RUDI SPLITT, Wandlungen in den Normen der Truppenverpflegung. Diss. Greifswald 1961, S. 14. Für den Ersten Weltkrieg listet Splitt ausführlich die „Kostsätze der kaiserlich-deutschen Armee“ auf. Hinweise auf Alkohol als Bestandteil der Verpflegung finden sich hier in der Tat nicht, vgl. ebd. S. 15–21. – Zur „alkoholfreien Mobilmachung“: Der Naturarzt, Oktober 1914, S. 244. Auch Haenisch erwähnte sie in seiner Rede: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session, 1916/17, 4. Bd., 60.–76. Sitzung [17. Februar bis 8. März 1917]. Berlin 1917, Sp. 3707. – Zur Rolle des Alkohols im Krieg vgl. auch die 1923 erschienene Aufsatzsammlung: DEUTSCHE FORSCHUNGSANSTALT FÜR PSYCHIATRIE IN MÜNCHEN (Hrsg.), Die Wirkungen der Alkoholknappheit während des Weltkrieges. Erfahrungen und Erwägungen. Berlin 1923, bes. S. 210f. In der Argumentationsweise der Naturheilbewegung durchaus ähnlich – wie diese gingen die Autoren davon aus, daß der kriegsbedingte Mangel die Entbehrlichkeit und Gesundheitsschädlichkeit bestimmter Konsumgüter erst sichtbar mache –, führt der Band am Beispiel Bayerns den „Nachweis“, daß der unfreiwillige „Massenversuch“ im Krieg „den Alkoholismus und die schweren Räusche mit den an sie sich knüpfenden Schäden und Gefahren praktisch so gut wie verschwinden“ lassen habe. Vegetarische Warte vom 21. Dezember 1918, S. 252. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session, 1916/17, 4. Bd., 60.–76. Sitzung [17. Februar bis 8. März 1917]. Berlin 1917, Sp. 3710. – Als Haenisch 1919 an die Spitze des Kultusministeriums trat, meldete der Naturarzt das denn auch freudig: Der Naturarzt, Januar 1919, S. 10. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session, 1916/17, 4. Bd., 60.–76. Sitzung [17. Februar bis 8. März 1917]. Berlin 1917, Sp. 3710.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Am Ende des Krieges waren die Gesundheitsdiskurse der Gesellschaft jenen der bürgerlichen Lebensreformbewegung immer ähnlicher geworden, auch wenn die Idee des gesünderen Lebens die deutsche Bevölkerung bei weitem nicht ganz durchdrang. Zugleich war das Gegenbild einer hinsichtlich gesundheitlicher Fragen weitgehend unwissenden Gesellschaft verschwunden, über das sich die Reformer doch definierten. Mit dem Gegenbild aber schwand auch die Wirkkraft der Utopie, denn die Bewegung lebte schließlich von der angeblichen Differenz zwischen sich selbst und der Gesellschaft, die sie überwinden wollte. Insofern erschien das lebensreformerische Konzept eines anderen Lebens nicht mehr sinnvoll: das einst als anders Empfundene entsprach mehr und mehr dem Eigenen, das somit überflüssig zu werden drohte. Die Zeiten hatten sich verändert, und die bürgerlichen Vegetarier und Naturheilanhänger konnten ihre alte Rolle der Gesundheitskundigen, die ihr Wissen in die gesamte Gesellschaft tragen wollten, nicht mehr spielen. Das übernahmen zunehmend neue, jüngere und zeitgemäßere Strömungen der Lebensreform wie die Reformhausbewegung. Das vitalere Leben, für das die Reformbranche seit den zwanziger Jahren eintrat, steht im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts. 3.2. VITALER LEBEN – DIE INNERE NATUR (1918–1945) Der Ausdruck des vitaleren Lebens mag auf den ersten Blick tautologisch anmuten. In der Epoche zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber war die Forderung nach einem lebendigeren Leben nicht Pleonasmus, sondern Programm. Es war eine Zeit, die das Leben liebte und lobte und an ihm litt, eine Zeit, deren Wissenschaft, Literatur und Populärkultur fasziniert und durchdrungen waren von Vitalismus und Biologismus, Erleben und Erlebnis, Lebensphilosophie, Lebensideologie und Lebenspathetik. Im folgenden wird zunächst der Leitbegriff des Lebens untersucht, der, wie in der gesamtgesellschaftlichen Rede, so auch in den Diskursen der Lebensreform – die das Wort „Leben“ ja auch selbst im Namen trägt – allgegenwärtig war (3.2.1.). Anschließend geht es darum, wie sich in der Zeit des vitaleren Lebens die Diskurse vor allem der Reformwarenwirtschaft, aber auch des Vegetarismus und der Naturheilbewegung entwickelten. Dabei steht zunächst die Lebensreform der Weimarer Republik (3.2.2.) und dann jene des „Dritten Reichs“ im Mittelpunkt (3.2.3.). Viele lebensreformerische Publikationen, vor allem die Kundenzeitschriften der Reformhäuser, ließen es nicht bei abstrakten vitalistischen Konzepten bewenden. Sie klärten ihre Leserinnen und Leser zwischen 1918 und 1945 auch konkret darüber auf, wie das Leben zu steigern sei, auf daß es lebendiger, vitaler werde: vor allem mit Körperpflege und Körperkultur, also mittels Bewegung, Hygiene und Reinlichkeit, mit, wie man es nannte, „Erziehung zu Kraft und Schönheit“. Über die Gesundheit der Einzelkörper sollte sich, so die Vorstellung der Lebensreformer, auch die Lebenskraft des deutschen „Volkskörpers“ verbessern (3.2.4.).

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3. Evolution gesünderen Lebens 3.2.1. Das Leben steigern

3.2.1.1. Lebensideologie und Lebenspathetik Um 1900 wurde der Terminus des Lebens in Deutschland, so hat es der Literaturwissenschaftler Wolfdietrich Rasch formuliert, zum „Grundwort der Epoche“, zu ihrem „Zentralbegriff, vielleicht noch ausschließlicher geltend als der Begriff der Vernunft für die Aufklärungszeit oder der Begriff Natur für das spätere 18. Jahrhundert.“852 Das Leben blieb über mehrere Jahrzehnte ein solcher „Zentralbegriff“, nach Martin Lindner bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein. Die Zeit des vitaleren Lebens fällt somit in die Mitte dieser „lebensideologischen“ Epoche, wie Lindner sie nennt.853 Daß Schriftsteller und Dichter, Maler und Wissenschaftler so verschiedener Disziplinen wie der Biologie, der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie und der Geographie begeistert vom Leben waren, schlug sich in populären Schriften und Gebrauchstexten in Form eines verflachten, aber meist tief empfundenen Lebenspathos nieder. In mancher Hinsicht war die Epoche des vitaleren Lebens, um Worte aus einer Rede Thomas Manns von 1930 zu benutzen, eine Zeit, „da überall gegen den allzu reinen Intellektualismus, den nachtvergessenen Tages- und Verstandeskult abgelaufener Jahrzehnte, gegen das zugleich mechanistische und ideologische Weltbild, den seichten Fortschrittsglauben einer versinkenden oder versunkenen Epoche der vitalistisch-irrationale, der lebensgläubige, ja lebensmystische Rückschlag an der Tagesordnung“854 war. Zugleich aber trug der alltägliche Umgang mit dem Leben nicht nur irrationale, sondern auch rationale Züge. Auch einige Strömungen der Lebensreform stellten sich gerade in ihrer Betonung des Lebendigen auf die Seite derer, die sich gegen eine mystisch-irrationale Vorstellung vom Leben wandten. In diesem Sinne karikierte die Vegetarische Warte im Mai 1918 eine allzu profan-gefühlige Haltung zum Leben als einen charakteristischen deutschen Wesenszug, den sie entschieden zurückwies: „Wenn wir Deutschen in der Dämmerstunde bei Kaffee und Kuchen zu philosophieren beginnen, und Herr Müller einmal seinen geistreichen Tag hat, an dem er gern möglichst tiefsinnig erscheinen möchte, so fragt er wohl seine Nachbarin melancholisch: Was ist das Leben, mein Fräulein, und warum leben wir?“ Das selbstgrüblerische Denken über das „Lebens-Problem“ an sich entbehre aber, so fuhr der Artikel fort, „nicht ganz des ungesunden Zuges und hat vor allen Dingen nichts mit dem goethischen

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WOLFDIETRICH RASCH, Aspekte der deutschen Literatur um 1900, in: ders., Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 1–48, hier S. 17. LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816). THOMAS MANN, Die Bäume im Garten. Rede für Pan-Europa gehalten am 18. Mai 1930, in: ders., Politische Schriften und Reden. 2 Bde. Frankfurt am Main 1968, Bd. 2, S. 173–179, hier S. 176.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Erkenntnisdrange zu tun, der die Welt, die Natur, das Leben der Menschen in objektiver Weise ergründen möchte.“855 Diese Unterscheidung zwischen einem „ungesunden“ und einem „gesunden“ Drang, das Leben zu ergründen, ist für die Epoche des vitaleren Lebens insgesamt kennzeichnend. Vor allem die jungen Stränge der Lebensreform wie die Reformhausbewegung stellten sich entschieden auf die „gesunde“ Seite und grenzten sich von der als „ungesund“ und kulturpessimistisch empfundenen ab. Zwar erscheint das Leben auch in den Reformhauszeitschriften nicht letztgültig ergründbar, es hatte auch für die Autoren der Reformwarenwirtschaft Eigenschaften, die sich menschlichem Zugriff und Verstand entzogen, war überschießend und eigendynamisch, eine absolute Größe, die sich nicht in ihre Bestandteile zergliedern ließ, ohne daß das Ganze dabei verlorengegangen wäre. Insofern war der Lebensbegriff der Reformhausbewegung vitalistisch, ganzheitlich und energetisch. Die Texte lassen aber keinen Zweifel daran, daß sie ihren Umgang mit dem Leben als objektiv-ergründend, als „gesund“ im Sinne des Artikels aus der Vegetarischen Warte verstanden. Die Reformhausbewegung fühlte sich in der Weimarer Republik an der Schwelle einer lebendigen „neuen Zeit“, in einer gerade anbrechenden Zukunft, als deren Träger sie die Jugend sah. Die Lebensreformer empfanden diese „neue Zeit“ als ungleich näher als ihre Vorgänger um die Jahrhundertwende das utopische Paradies. Die Reformbewegung arbeitete darauf hin, daß aus den wenigen, die schon von der „neuen Zeit“ durchdrungen waren und die die Reformhauszeitschriften die „Stillen im Lande“ nannten, möglichst viele werden sollten. Was genau mit dem von den Reformhäusern vertretenen Lebensstil des „neuzeitlichen Lebens“ gemeint war, definierten die Reformhauszeitschriften nicht ausdrücklich, aber ihre Leser dürften anhand ihrer praktischen Hinweise für „neuzeitliche“ Küchenführung, Körperpflege und Kinderernährung recht genau gewußt haben, was „neuzeitlich leben“ bedeutete: Der in den Schriften endemisch verwendete Terminus beschrieb eine auf das Maßvolle und Geschmackvolle, das Praktische, Sparsame und Nützliche zielende gesunde Lebensweise mit Hilfe der Produkte der Reformhäuser, aber auch über deren Warenpalette hinaus, etwa in zweckmäßig eingerichteten Wohnungen mit heller, klarer, geradliniger Architektur.856 Unablässig sprachen die Autoren der Reformzeitschriften auch vom lebendigen, kräftigen, schönen Körper des „neuzeitlichen“ Menschen – in einem rationalen, kristallinen, kühlen Pathos. Das Lebensverständnis der Reformhausbewegung war also, um in zeittypischen Adjektiven zu sprechen, im Gegensatz zur „warmen“, „feuchten“, „trüben“ Lebensauffassung anderer, oft kulturpessimistischer Strömungen, „kalt“, „trocken“ und „klar“. 857 855 856

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Vegetarische Warte vom 25. Mai 1918, S. 105. Zum Konzept des „neuzeitlichen Lebens“ ausführlich FLORENTINE FRITZEN, „Neuzeitlich leben“. Reformhausbewegung und Moderne 1925–1933, in: MORITZ FÖLLMER/RÜDIGER GRAF (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main/New York 2005, S. 165–185. Die Kälte ist im Diskurs der Neuen Sachlichkeit zentral. Dazu HELMUT LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main

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3. Evolution gesünderen Lebens

Das half diesem Strang der Lebensreformbewegung nach 1933 dabei, sich zügig an die Vorstellungen der Nationalsozialisten darüber anzupassen, was unter Lebensreform zu verstehen sei. Nicht Urwüchsigkeit, „Wildwuchs“ und „Auswüchse“ sollten sie bestimmen. Vielmehr sollte ihr ein Pragmatismus innewohnen, der sich an der modernen Chemie, Biologie und Ernährungswissenschaft ausrichtete – die wiederum selbst auf „rationale“ Weise lebensideologisch waren – und nicht etwa eine eigene Weltanschauung oder Ideologie, die der nationalsozialistischen zuwidergelaufen wäre. Schnell münzten die Lebensreformer die in der Weimarer Republik noch erwartete, wenn auch schon in ihrem Kommen spürbare „neue Zeit“ um: Fortan meinten sie mit dem Begriff meist die Zeit nach dem 30. Januar 1933. Damit erlosch die Lebendigkeit der Lebensreform. Sie hatte ihr Ziel verloren, denn die „neue Zeit“ war angebrochen. Zuvor hatte die Bewegung aus eigenem Antrieb vitalere Menschen und eine vitalere Gesellschaft schaffen wollen. Zwar bemühte sie sich im „Dritten Reich“ weiterhin, die Lebenskraft der Deutschen zu steigern, aber nicht mehr aus ihrem eigenem Wollen heraus, sondern weil es der nationalsozialistische Staat von ihr verlangte, dem sie zu dienen bereit war. Zugleich verengte sie ihre Ziele auf das eine Motiv, das deutsche Volk gesünder zu machen. Im offiziösen Jahrbuch der Deutschen Lebensreform hieß es 1938: „Was frühere Zeiten Lebensreform nannten, war fast nur Stückwerk: ein schlecht zusammenpassendes von zehn, zwanzig Idealen, während es doch nur ein Ideal hier geben kann: Leben und Lebenskraft unseres Volkes.“858 3.2.1.2. Begriffsfelder Neben dem Wort „lebendig“ war in den Texten der Reformbewegungen auch der Ausdruck „biologisch“ verbreitet. Die Neuform-Rundschau trug etwa den Untertitel „Monatsschrift für biologische Lebensführung und Volksernährung“. Der Lebensreformer Werner Altpeter schrieb 1939, das Wort „biologisch“, dem man „sehr oft“ in reformerischen Veröffentlichungen begegne, sei „bereits abgenützt“. Daher sei es „notwendig, einmal darzustellen, was wir darunter verstehen.“ Biologisch, so Altpeter, heiße auf deutsch lebensgemäß oder lebensgesetzlich. „Als biologisch bezeichnet man daher etwas, was vom Leben, von der Natur gewollt oder zum mindesten erlaubt ist.“ Diese Grenze sei sehr eng zu ziehen, weil sie der Mensch schon weit überschritten habe. Genauer wollte sich der Lebensreformer nicht festlegen: „Das Wort gehört zu jenen großen Begriffen, die sich einer scharfen Definition entziehen. Man kann auch sehr schwer ausdrücken, was deutsch ist.

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1994. Unter anderem beschreibt Lethen beschreibt die funktionalistische Architektur des Bauhauses als einen Versuch, „eine Umwelt zu bauen, in der die Schwüle des symbiotischen Zusammenlebens, die durch verstellte Räumlichkeiten gefördert wird, nicht entstehen kann. Die Architektur des ,Neuen Bauens’ forderte, Räume zu bauen, die funktionsgerechte Bewegungsabläufe und Transparenz ermöglichten und gleichwohl das opake Volumen des privaten Körpers schonten.“ Vgl. ebd., S. 164. Die Parallele zur Reformhausbewegung liegt auf der Hand. – Zum „Neuen Bauen“ vgl. auch ANDREAS K. VETTER, Die Befreiung des Wohnens. Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre. Tübingen/Berlin 2000. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 33.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Entweder man fühlt und weiß es, oder man steht dem Wort deutsch und dem Wort biologisch immer fremd gegenüber.“859 Insofern handelt es sich hinsichtlich des Begriffs des Biologischen in der Literatur der Lebensreform um ein ähnliches Phänomen wie im Hinblick auf die „neue Zeit“, die die „Stillen im Lande“ in der späten Weimarer Republik eben intuitiv zu spüren glaubten und offenbar nicht näher zu erklären wußten und brauchten. Auch für den Lebensbegriff selbst gilt das in gleicher Weise. So hieß es in einem Bändchen aus dem Jahr 1939, dessen Titel „Was heißt das Leben?“ eigentlich eine Antwort auf ebendiese Frage erwarten ließe, das Leben sei ewig und ein immerwährender Fluß, und es sei „überhaupt nicht zu erklären. So erübrigt sich jede Frage nach seinem Wesen oder nach dem, was es ist. Denn das Leben entsteht nicht, sondern es ist; es ist wie die Kraft und der Stoff, die auch niemand erklären kann.“860 Durch diese Offenheit war die Bewegung für viele Menschen anschlußfähig, eben weil sie nicht exakt sagte, was sie meinte, so daß jeder Anhänger seinen persönlichen Lebensbegriff unter die Lebensreform subsumieren konnte. Auch mit Blick auf die wichtigsten Ableitungen des Wortstamms „Leben“ in den Texten der Lebensreformbewegung, des „Erlebens“ und des „Erlebnisses“ nämlich, zeigt sich diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Autoren, das Gemeinte in Begriffe zu fassen.861 Das Erleben verwendeten die Texte regelmäßig als Chiffre für das Gefühl, vom nicht weiter erklärbaren Leben durchdrungen zu sein, sie umschrieben den Begriff insofern höchstens tautologisch. So gab sich die Reformhausliteratur, um mit einem Aphorismus aus einer ganzen Reihe von Sinnsprüchen zum Thema „Das Leben – ein Erleben“ im Oktoberheft 1926 der Kundenzeitschrift Das Reformhaus zu sprechen, überzeugt: „Unser Leben ist ein Erleben. Es ist so lang, als es Erlebnisse in sich schließt.“862 Leben und Erleben konnte der Mensch also letztlich nicht analytisch durchdringen, sie waren so groß und allumfassend, daß er keine Macht über sie hatte. Wer sich aber auf sie einlasse, so versprach die Reformbewegung in einer Form jener „Erlebnistrunkenboldigkeit“ (Martin Heidegger), die auch in den Wissenschaften der Zeit verbreitet war, werde mit Glückseligkeit belohnt. Daher warben die Texte dafür, offen zu sein für die Stimmen und Schwingungen der Natur. Das deckt sich mit der Vorstellung der Lebensphilosophen, für die „Leben“ in der Intuition lag (Henri Berg859 860 861

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WERNER ALTPETER, Was ist Lebensreform? Grundlegende Gedanken über sämtliche Gebiete der heutigen Lebensreform. Stuttgart 1939, S. 9. KARL WACHTELBORN, Was heißt das Leben? Was ist Ernährung? Hellerau/Dresden 1939, S. 3f. Zum Gebrauch des Erlebnisbegriffs bei Wilhelm Dilthey, Martin Buber und Franz Rosenzweig BERNHARD CASPER, Erlebnis und Ereignis – Zum Geschick und zur Bedeutung zweier Worte, in: STEPHAN LOOS/HOLGER ZABOROWSKI (Hrsg.), Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik. (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 127.) Berlin 2003, S. 115–131. Bei Dilthey erscheinen Leben und Erlebnis als „das Erstgegebene und das Letztintendierte“ (S. 118), Buber brachte es in die Nähe der Ekstase, ersetzte es später aber häufig durch „Ereignis“ (S. 119, 122). Das Reformhaus, Oktober 1926, S. 1f.

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3. Evolution gesünderen Lebens

son), im Gefühl, das sich gegen den Intellekt stellte.863 Diese Gabe der Offenheit aber, so Das Reformhaus, sei den meisten Menschen verlorengegangen. Der Mensch sei aber nur auf diesem Wege fähig zum wahren Erleben: „Abgesehen davon, daß wir jene höchsten Zustände [Vereinigung mit Gott, Wiederherstellung der Harmonie des Alls, Erkenntnis des Lebens, Vergeistigung der Seele, Schaffung eines „Edelmenschen“, F.F.] nicht denken, also auch nie genau und restlos in Begriffe fassen können, […] so wollen wir sie doch einmal, als einen überirdischen Kraftstromkreis betrachten. Diesen können wir nicht bewußt auf uns lenken, sondern er wird über uns kommen, wenn wir dafür offen sind, und das bezeichnet man als Erleben.“864

Daß sie sprachlich nicht weiter zum Leben vorstießen, bedauerten die Autoren nicht etwa als Mangel. Vielmehr schien diese Tatsache gerade die Erhabenheit des Lebens zu unterstreichen, seine über den leblosen Begriff hinausgehende Bedeutung zu betonen. Auch die Idee der Lebensreform war, wie es, um ein Beispiel von unzähligen zu zitieren, im Jahrbuch der Deutschen Lebensreform von 1938 hieß, „überhaupt nicht aus Büchern ganz kennenzulernen, nur eigenes Erleben vermag den Zugang zu ihr zu erschließen.“ Texte über die Lebensreform wie etwa die Artikel des Jahrbuchs konnten dieser Ansicht nach folglich nicht mehr leisten, als jenen, „die etwas wissen und ahnen von dem Geheimnis des Lebens und seinen Gesetzen, denen wir folgen müssen, wenn wir wirklich leben wollen“, den „Weg zu den Quellen“ zu zeigen.865 Daß den Lebensreformern das unmittelbare Erlebnis mehr galt als seine sprachliche Fixierung, wird auch an einem Bericht über die „Zweite Blankenburger Biologische Woche“ deutlich, eine Veranstaltung, die im Frühjahr 1932 im Sanatorium des Naturarztes Karl Strünckmann in Blankenburg im Harz stattfand. Die dort gehaltenen Vorträge, deren übergreifender Gegenstand die „allseitige Lebensreform“ war, waren laut der Zeitschrift Neuform-Rundschau „von solcher Fülle und Lebendigkeit, daß sie den Zuhörern zum gewaltigen Erlebnis wurden.“ Mancher habe gar die „große Kraft des Göttlichen, den Schein einer neuen Zeit aufblitzen“ sehen. Bevor der Autor von einzelnen dieser Vorträge berichtete, merkte er an: „Das Schwingungsgemäße, das Unaussprechbare war bei dieser Tagung das Ereignis, das sich nur blaß in den Worten eines kurzen Berichtes widerspiegeln kann.“866 Um das Leben rankte sich über die Begriffe des Biologischen, des Erlebens und des Erlebnisses hinaus noch ein ganzes Feld von Ausdrücken, die sich semantisch nicht unmittelbar von ihm ableiteten. Dazu gehören vor allem „Ganzheit“, „Gestalt“, „Polarität“, „Spannung“ und „Rhythmus“. Der Gebrauch eines dieser Begriffe, so Martin Lindner, impliziere in der Zeit zwischen 1890 und 1955 „bereits, daß es um das spezifisch lebensideologische ,Leben‘ geht, selbst wenn dies sonst nirgendwo konkret ausgesagt werden sollte.“867 In der 863 864 865 866 867

WILHELM SCHMID, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1999 [zuerst 1998], S. 40. Das Reformhaus, Januar 1926, S. 10. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 4. Neuform-Rundschau, Mai 1932, S. 79f. LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 103.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Reformhausliteratur der Zeit des vitaleren Lebens finden sich alle diese Ausdrücke in grundsätzlich großer, wenn auch im einzelnen unterschiedlicher Häufigkeit. Am wichtigsten waren dort „Ganzheit“ und „Rhythmus“, was darauf hinweist, daß es der Bewegung vor allem um Harmonie und weniger um „Polarität“ und „Spannung“ ging. Doch auch diese beiden Ausdrücke erwähnten die Zeitschriften und Bücher oft, und zwar nicht im Sinne starrer Gegensätze, sondern immer im Kontext eines ewig schwingenden, rhythmisch-zyklischen Lebens. Spannung begriffen die Lebensreformer also gewissermaßen im Sinne der „zweierlei Gnaden“ des Einatmens und Ausatmens in Goethes West-Östlichem Diwan, als Zusammenspiel von Systole und Diastole.868 „Im gesamten Leben der Natur“, schrieb dementsprechend der Schriftleiter der Zeitschrift Das Reformhaus, Hans Gregor, im März 1930, „wirkt einheitliches rhythmisches Geschehen, das als Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung beobachtet werden kann.“869 Karl Wachtelborn, der Autor des schon oben erwähnten Bändchens mit dem Titel „Was heißt das Leben?“, nannte im Jahr 1939 als Beispiele für Polaritäten Ich und Du, Geist und Stoff, Bewußtsein und Körper, das Positive und das Negative, das Männliche und das Weibliche, das Alkalische und das Saure, das Warme und das Kalte, das Trockene und das Feuchte. Mit diesen und anderen Gegensätzen sei die Welt aufgebaut, mit ihnen erhalte sie sich in einem lebendigen Gange: „[O]hne die verschiedenen Gegensätze gibt es keine Tätigkeit des Lebens und überhaupt keinen Vorgang in der Welt“.870 Auch die Gegenüberstellung von Geist und Leben war ein Signum dieser auch außerhalb lebensreformerischer Kreise von Polaritäten geprägten Epoche. Thomas Mann stellte 1930 einem „Geist-Vernunft-Tat-Glauben“ die „Lebenspathetik“ gegenüber, die „Tiefenwelt der Seele und des Gemütes“, die „Sphäre reiner Anschauung und schöpferischer Unbewußtheit“.871 Über das deutsche Volk sagte er: „Wirklich liebt es das Pathos heiliger Gebundenheit mehr als das der Freiheit, bewahrende Naturfrömmigkeit mehr als den emanzipatorischen Stolz, das gestaltlose Werden mehr als die Form und das Sein, die Hingebung an das Vergangene mehr als den zukünftig gerichteten Willen […].“872 Auf die Reformhausbewegung trifft das nur bedingt zu. Denn sie war durchaus formalistisch und rational, was sich in ihrer Betonung des Zweckmäßigen und Praktischen zeigt. In Erwartung der „neuen Zeit“ blickte sie in die Zukunft und kaum in die Vergangenheit. Das Motiv, früher sei „alles besser“ gewesen, taucht in den lebensreformerischen Texten dieser Epoche nicht auf, schließlich baute die Bewegung gerade auf der Kritik an der angeblich „falschen“ herkömmlichen Lebens868

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Die letzte Strophe des Gedichts „Talismane“ lautet: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott wenn er dich preßt, / Und dank ihm wenn er dich wieder läßt.“ Das Reformhaus, März 1930, S. 33. WACHTELBORN, Was heißt das Leben? (wie Anm. 860), S. 6. MANN, Bäume im Garten (wie Anm. 854), S. 175. Ebd., S. 176.

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weise auf, darauf, „daß die Masse der Bevölkerung immer noch im alten Gleis weiterfährt“, „daß unsere ganze Gesetzgebung und Volkswirtschaft, und die gesellschaftlichen Sitten auf die alte Lebensform und Haushaltsführung eingestellt sind“. 873 Das bedeutet aber nicht, daß Vergangenes außerhalb solcher kritischer Wendungen gar nicht vorkäme, manche Traditionen hatten sogar durchaus eine gewisse Vorbildfunktion oder sollten die Wurzeln bestimmter reformerischer Konzepte darstellen. So bezogen sich Lebensreformer und Vertreter der Körperkultur immer wieder auf die Antike. Für richtig erachteten früheren Ansätzen stellten die Autoren aber oft die als noch „bessere“ oder auch dank der Vorkämpferfunktion früherer Gruppen „klügere“ Gegenwart und die zu erwartende nahe Zukunft gegenüber. Das zeigt das folgende Beispiel über das Sonnenbaden: „Der Mensch des 20. Jahrhunderts mit seinem nüchternen Wesen betreibt heute wieder Sonnenhingabe, die freilich anders als die zu einstigen Zeiten ist. Die Sonnenbäder sind keine Tempel mit Priestern, sondern durch Zäune abgegrenzte Plätze, in denen es gestattet ist, sich unbekleidet, bis auf einen gewissen Schurz, der belebenden Sonne hinzugeben. Einigen Sonderlingen ist es zu danken, daß heute der Heilwert des Sonnenlichtes so gut wie allgemein anerkannt ist […].“874

Weiterhin band die Reformhausliteratur bei aller Vorliebe für Polaritäten den Begriff des Lebens selbst nie in ein solches Spannungsfeld ein. Sie stellte ihn also auch nicht dem Geist gegenüber, wie Thomas Mann es für diese Epoche der „Lebenspathetik“ allgemein beschrieb. Die Lebensreformer begriffen das Leben vielmehr als eigenständige und absolute Größe. Nie bezogen sie es auf seine unmittelbaren Antonyme, den Tod und das Tote. Wenn sie dem Leben überhaupt einen anderen Begriff gegenüberstellten, dann den Ausdruck des Unlebendigen, also ein Negativum, das sich nur über das Fehlen des Lebendigen definierte, ein Vakuum, das es mit Leben zu füllen galt. Daß sie das Leben nicht biologisch als gewissermaßen „starren“ Gegensatz des Todes ansah, ermöglichte erst ihre Sichtweise, daß es verschiedene Stufen des Lebendigen gebe, verschiedene Intensitäten des Lebens, und daß ein jeder es selbst in der Hand habe, sein eigenes Leben so vital wie möglich zu gestalten. Das Unlebendige zu bekämpfen und das Leben zu fördern sah die Reformbewegung der Zeit des vitaleren Lebens als ihre Aufgabe an. So legte sie Wert auf den Unterschied zwischen Lebensmitteln und bloßen Nahrungsmitteln, die ihr als nicht lebendig galten – im Reformhaus gab es selbstverständlich nur Lebensmittel. Sie waren „Träger von Stoffen, die uns mit der gesamten organischen und anorganischen Welt auf das engste verbinden, und durch die wir eingeschaltet werden in den ungeheuren Kreislauf der Stoffe und der Kraft, an den alles Geschehen auf der Erde geknüpft ist.“875 Unter diesen Stoffen schrieb man einigen eine besondere lebensfördernde Kraft zu: den Vitaminen.

873 874 875

Vgl. Das Reformhaus, Dezember 1930, S. 178. Das Reformhaus, April 1927, S. 1. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 21.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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3.2.1.3. Lebendige Nahrung: die Vitamine Mit einem Schlage, schrieb der Arzt Gerhard Venzmer 1935 in einem populärwissenschaftlichen „Kosmos-Bändchen“, seien nach dem Ersten Weltkrieg „die Vitamine ,modern‘ geworden; wie Pilze schießen die ,vitaminhaltigen‘ Arzneien, Nahrungsmittel usw. aus der Erde“.876 Ein Blick in die Anzeigenteile, aber auch auf die redaktionellen Seiten von Reformzeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre bestätigt Venzmers Beobachtung. Die Annoncen und Artikel priesen „Vitam-R“ an, einen vitaminhaltigen pflanzlichen Speisenwürzextrakt aus Hefe als Brotaufstrich877, „Vitam-Extra“, ebenfalls eine Brotaufstrichpaste, die hohen Nähr- und Sättigungswert und den „seltenen Geschmack der Gänseleberpastete“ versprach878, das Nahrungsergänzungsmittel „Vitase“, eine „Vereinigung von ,lebenswirksamen‘ Stoffen“879 , und „Vitaminose“, ein Präparat aus „kalt gewonnenem Spinatpreßsaft“, das „sämtliche Ergänzungsstoffe (Vitamine) dieses gehaltreichen Gemüses in unversehrter Form“880 aufweise. Eine Reformbäckerei aus Bad Kreuznach warb zwar nicht ausdrücklich mit dem Vitamingehalt ihres Zwiebacks, sondern mit seinem „Zusatz der radiumhaltigen Kreuznacher Heilquellen“. Aber auch sie verwendete den lateinischen Lebensbegriff für ihre Produkte, indem sie sich die Marke „Vitanova“ schützen ließ881 , wohl wissend, daß er Assoziationen auf neue Lebendigkeit und Lebenskraft – und auf Vitamine weckte. Entdeckt und erstmals wissenschaftlich nachgewiesen wurden die Vitamine von Casimir Funk (1884–1967), einem gebürtigen Polen, der nach seinem Studium in Bern und kurzen Stationen in England und Frankreich seit 1915 in Amerika forschte. Von Funk stammt auch die Bezeichnung „Vitamine“, die er im Jahr 1911 prägte.882 Der Begriff setzt sich aus vita, Leben und amin, stickstoffhaltige Substanz zusammen und zielt somit an der Sache vorbei, wie der Ernährungswissenschaftler Ragnar Berg schon 1922 bemerkte: „Gegen den Kollektivnamen Vitamin spricht, daß einige der darunter fallenden Stoffe gänzlich stickstofffrei sind, also überhaupt keine Vitamine sind.“883 Berg nannte die nicht-stickstoffhaltigen „Vitamine“ Komplettine, indem er den im Deutschen für die Vitamine ebenfalls 876

877 878 879 880 881 882

883

GERHARD VENZMER, Lebensstoffe unserer Nahrung. Was jeder von den Vitaminen wissen muß. Stuttgart 1935, S. 17. – Die in Stuttgart ansässige „Kosmos-Gesellschaft der Naturfreunde“ bezweckte, „die Kenntnis der Naturwissenschaften und damit die Freude an der Natur und das Verständnis ihrer Erscheinungen in den weitesten Kreisen unseres Volkes zu fördern“, und zwar durch „Verbreitung guter naturwissenschaftlicher Literatur“: ebd., S. 2. Neuform-Rundschau, Mai 1934, S. 92. Neuform-Rundschau, April 1934, S. 88; Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. Dezember 1937, S. 410. Neuform-Rundschau, Mai 1934, S. 110. Das Reformhaus, Januar 1927, S. 13. Neuform-Rundschau, April 1934, S. 88; Neuform-Rundschau, Oktober 1934, S. 237. VENZMER, Lebensstoffe (wie Anm. 876), S. 14; Vegetarische Warte, Januar 1927, S. 26. – Vgl. auch einen Nachruf auf Funk in: Eden-Hauspost, Juli 1968, S. 7 (Nachdruck aus Medizin heute). RAGNAR BERG, Die Vitamine. Kritische Übersicht der Lehre von den Ergänzungsstoffen. Leipzig 1922, S. 5.

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3. Evolution gesünderen Lebens

gebräuchlichen Namen „Ergänzungsstoffe“ ins Lateinische übersetzte und damit in die „internationale Sprache der Wissenschaft“ übertrug.884 Die Bezeichnung als Komplettine setzte sich nicht durch: Es blieb bei den Vitaminen Casimir Funks. Funk publizierte im Jahr 1914 einen „erste[n] Versuch einer Zusammenstellung unserer Kenntnisse über Vitamine und Avitaminosen“885 , also Vitaminmangelkrankheiten – diese Bezeichnung sollte sich in der Medizin durchsetzen. Die erste Auflage dieses Werkes über die Vitamine hatte noch die Aufgabe, „die Aufmerksamkeit der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fachgelehrten auf das neue und bestechende Gebiet zu lenken“.886 Bei Erscheinen der zweiten Auflage, 1922, stand die Vitaminlehre nach Einschätzung des Autors wissenschaftlich gesehen zwar schon „auf einer festen Grundlage und hat allgemeine Anerkennung gefunden“. Es seien aber „noch große Lücken in unseren Kenntnissen vorhanden“.887 Schon 1915 berichtete die Zeitschrift des „Deutschen Bundes der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ von den Vitaminen: Der Naturarzt nutzte Funks Entdeckung, um die Auffassung der Naturheilbewegung von einer gesunden Ernährung zu untermauern. Funk betone, daß geschälter Reis und weißes Mehl „als Hauptnahrung direkt gefährlich“ seien, Brot aus ganzem Getreidekorn dagegen sei „vitaminhaltig und darum entschieden vorzuziehen“.888 „Die eigentliche Vitamin-Ära“ begann laut Venzmer aber erst nach dem Ersten Weltkrieg.889 In seinem „Kosmos-Bändchen“ von 1935 stellte der Wissenschaftler fest, inzwischen sei der „schönste Vitaminrummel“ im Gange890 , und in Amerika herrsche sogar ein regelrechter „Vitaminfimmel“. Die Reformwarenwirtschaft sprach 1941 von einer „Vitaminsucht“, weil die Werbung den Vitamingehalt von Lebensmitteln so stark hervorhebe.891 Das galt aber auch für viele ihrer eigenen Lebensmittelhersteller. Der Naturarzt und Schriftsteller Friedrich Wolf (1888–1953)892 klagte 1928 angesichts von Produkten wie „Vitaminschokolade“, mit den Vitaminen werde von einer „geschäftstüchtigen Industrie“ ein „großzügiger schwindelhafter Modekult getrieben“: „Am liebsten würde man mit Vitaminnährsalzen sich den Braten würzen.“893 Die Vegetarische Warte befand im selben Jahr: „Keine Zeitung kann man heute mehr aufschlagen, keine Zeitschrift, keinen 884 885

886 887 888 889 890 891 892

893

Ebd., S. 5f. CASIMIR FUNK, Die Vitamine. Ihre Bedeutung für die Physiologie und Pathologie mit besonderer Berücksichtigung der Avitaminosen (Beriberi, Skorbut, Pellagra, Rachitis). Wiesbaden 1914, Vorwort. CASIMIR FUNK, Die Vitamine. Ihre Bedeutung für die Physiologie und Pathologie. 2. Aufl. München/Wiesbaden 1922, S. 1. Ebd., Vorwort zur zweiten Auflage. Das neuentdeckte Vitamin – eine Hauptstütze der Kriegsernährung, in: Der Naturarzt, August 1914, S. 123–127, hier S. 125. VENZMER, Lebensstoffe (wie Anm. 876), S. 15. Ebd., S. 17. Der Reformwarenfachmann vom 15. Juli 1941, S. 113. Zu Friedrich Wolf vgl. die Dokumentation von LEW HOHMANN, Friedrich Wolf. Bilder einer deutschen Biographie. Ost-Berlin 1988, mit einem Foto des Sohns Markus Wolf auf S. 301. FRIEDRICH WOLF, Die Natur als Arzt und Helfer. Halle (Saale) 2003 [zuerst 1928], S. 206f.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Artikel, keine Anzeige mehr lesen, worin uns nicht das Wort ,Vitamin‘ entgegentritt.“894 Die Vegetarische Warte beteiligte sich aber auch selbst am „Vitaminrummel“, hatte sie doch im Vorjahr diesem „Schlagwort unserer Zeit auf dem Gebiete der Ernährung“ eine sechsteilige populärwissenschaftliche Artikelserie gewidmet895 , die sich nach einer einführenden ersten Folge den damals bekannten Vitaminen zuwandte: dem Vitamin B und der ihm zugeordneten Mangelkrankheit Beriberi, dem Vitamin C und dem Skorbut, dem Vitamin A, dem die Zeitschrift fälschlicherweise die Rachitis als Mangelkrankheit zuordnete896 , sowie dem „Wachstumsvitamin“ D. Der letzte Teil der Serie beschäftigte sich mit dem Vorkommen der Vitamine in verschiedenen Nahrungsmitteln. Auch die Kundenzeitschrift Das Reformhaus erörterte im Sommer 1926 die Frage „Was sind Vitamine?“897 Der Umgang der Lebensreformer mit den Vitaminen war also ambivalent, trotz aller Kritik an der „Modeströmung“ nahm man doch selbst am „Vitaminrummel“ teil. Die Artikel spiegeln den Wissensstand der Zeit wider – sie sind noch recht spekulativ, oder, wie es die Vegetarische Warte ein paar Jahre zuvor im Februar 1918 formuliert hatte: „Vorläufig herrscht hier souverän die Hypothese.“898 „Vitamin“ sei zum „Schlagwort des Abendlandes geworden“, stellte die Zeitschrift dann 1927 fest, aber niemand wisse so recht, was es bedeute.899 Die Vertreter der Reformwarenwirtschaft Werner Altpeter und Hans Gregor schrieben noch 1930 in einem gemeinsamen Bändchen über die reformerische Ernährungslehre, es gebe „noch keine genauen Erklärungen was Vitamine oder Ergänzungsstoffe eigentlich sind.“900 In dieser Hinsicht war Venzmer fünf Jahre später schon optimistischer. „In dem Maße, wie die wirkliche Vitamin-Wissenschaft fortschreitet, wie sie Entdeckungen über Entdeckungen häuft, verlieren die geschäftstüchtigen Afterwissenschaftler und Nutznießer übertriebener Ängstlichkeit an Boden; und heute dürfen wir sagen, daß die Spreu vom Weizen geschieden ist.“901 Im Jahr 1942 schrieb die Zeitschrift Volk und Gesundheit, über das Vitamin C wisse „heute wahrlich jedes Kind Bescheid“.902 Im Reform- und Gesundheitsdiskurs der Zwischenkriegszeit verkörperten die Vitamine trotz aller Skepsis und zeitweiligen Kritik zweierlei: Lebenskraft und Wissenschaft. Der Schweizer Arzt und Ernährungsreformer Maximilian Bircher894 895 896 897 898 899 900 901 902

Vegetarische Warte, September 1927, S. 196. Vitamine. Neuentdeckte Kräfte in unserer Nahrung, in: Vegetarische Warte, Januar–Juni 1927, zit. Januar 1927, S. 24. Rachitis kann durch Mangel von Vitamin D entstehen. Vitamin-A-Mangel kann hingegen zu Nachtblindheit führen. Vgl. Was sind Vitamine?, in: Das Reformhaus, Juni 1926, S. 9f.; Fortsetzung des Artikels in: Das Reformhaus, Juli 1926, S. 8–11. Vitamine, in: Vegetarische Warte vom 2. Februar 1918, S. 23f., hier S. 23. Vegetarische Warte, September 1927, S. 197. WERNER ALTPETER/HANS GREGOR, Die neue Ernährungslehre. Frankfurt am Main 1930, S. 8f. VENZMER, Lebensstoffe (wie Anm. 876), S. 17f. Volk und Gesundheit, Juli/August 1942, S. 46.

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3. Evolution gesünderen Lebens

Benner betrachtete sie in einer zugleich wissenschaftlichen und vitalistischen Definition als „verdichtete Sonnenenergien, die unserem Körper sonnenhafte Kräfte vermitteln.“903 Das Interesse der Bevölkerung an den neu entdeckten Inhaltsstoffen der Nahrungsmittel war groß. Die Öffentlichkeit wurde „zu einem wichtigen Verbündeten der Wissenschaftler“, diese wurden „durch die Anforderungen von Öffentlichkeit und Industrie zusätzlich angespornt, es entstand ein ,Rückkopplungs- bzw. Synergieeffekt‘.“904 Zu Beginn der dreißiger Jahre stellte sich die Küchengeräteindustrie mit neuen vitaminschonenden Geräten wie Gemüsedünstern und Gasbacköfen zum Grillen auf die neuen Bedürfnisse ein.905 Im „Dritten Reich“ befaßten sich dann auch staatliche Stellen mit den Vitaminen. Im Sommer 1941 entstand eine beim Reichsministerium des Innern angesiedelte „Reichsanstalt für Vitaminprüfung und Vitaminforschung“ mit Sitz in Berlin906 , und auch das 1939 eröffnete „Forschungsinstitut der Deutschen Lebensreform“ in Dresden907 sollte Nahrungsmittel auf ihren Vitamingehalt hin prüfen. 3.2.2. Wissenschaft und Esoterik: Lebensreform in der Weimarer Republik Der Gedanke eines zu steigernden, eines vitaleren Lebens überwölbte zwischen 1918 bis 1945 die Diskurse über das gesündere Leben. Die folgenden beiden Kapitel untersuchen, wie sich zur Zeit des vitaleren Lebens die Inhalte des Vegetarismus, wie ihn der „Deutsche Vegetarier-Bund“ propagierte, der Naturheilbewegung und der Reformwarenbranche entwickelten. Dieses Kapitel (3.2.2.) widmet sich der Zeit der Weimarer Republik. Das darauf folgende beleuchtet die Affinitäten der lebensreformerischen Ideen zu den Diskursen des Nationalsozialismus und ihre Abweichungen von diesen (3.2.3.). Das übernächste Kapitel untersucht dann mit Blick auf die gesamte Zwischenkriegszeit den zentralen Diskurs des vitaleren Lebens: das Schreiben und Sprechen über die Gesundheit des menschlichen Körpers, also das Nachdenken darüber, wie die Lebenskraft des einzelnen und des „Volkskörpers“ zu steigern sei (3.2.4.). Vegetarismus und Naturheilkunde lösten sich in der Zwischenkriegszeit allmählich vom lebensreformerischen Netzwerk, und das Konzept des gesünderen Lebens schwand aus ihren Texten. Daher spielten auch der vitalistische Lebensbegriff und die Vorstellungen vom lebendigen, kräftigen und gesunden Körper in ihren Semantiken eine geringere Rolle als in denen der Reformwarenwirtschaft, die das Netzwerk mehr und mehr ausfüllte.

903 904 905 906 907

Vgl. ALTPETER/GREGOR, Die neue Ernährungslehre (wie Anm. 900), S. 9. PETRA WERNER (Hrsg.), Vitamine als Mythos. Dokumente zur Geschichte der Vitaminforschung. Berlin 1998, S. 12. Ebd., S. 15. Der Reformwarenfachmann vom 20. September 1941, S. 155. Zum „Forschungsinstitut der Deutschen Lebensreform“ oben S. 96ff.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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3.2.2.1. Verengung I: Vegetarismus als „verkappte Religion“ Vor dem Hintergrund schwindender Mitgliederzahlen setzte sich der „Deutsche Vegetarier-Bund“ in den ersten Nachkriegsmonaten damit auseinander, ob der ethische oder der gesundheitliche Vegetarismus wichtiger für die Bewegung sei. Hier zeichnete sich schon langsam ab, was sich im Laufe der zwanziger Jahre durchsetzen sollte: Der Bund zog sich immer stärker auf eine moralische Begründung des Vegetarismus zurück und machte den Fleischverzicht aus ethischen Gründen zu seiner zentralen Forderung. Damit verabschiedete er sich aus dem lebensreformerischen Netzwerk. Denn mit gesünderem, vitalerem Leben hatten seine Diskurse jetzt immer weniger zu tun. Im Jahr 1927 definierte die Vegetarische Warte den Vegetarismus als „die grundsätzliche Ablehnung und Bekämpfung des Fleischgenusses“908 und nannte „die Schonung der Tierwelt“ die „Idee des Vegetarismus“.909 In den zwanziger Jahren erhielt der Begriff des Vegetarismus damit eine engere Bedeutung. Er meinte nicht mehr eine gesunde Lebensweise im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes „vegetus“, rüstig, lebhaft, munter, sondern er zielte nunmehr stärker auf den Fleischverzicht aus ethischen Motiven. Bis zu ihrer Einstellung Ende 1932 berichtete die Vegetarische Warte immer wieder von „Greueltaten“, die in Schlachthöfen stattfänden.910 Daß sie diesen Topos nun so stark herausstellte, dürfte eine Reaktion auf den Erfolg neuer Strömungen wie der Reformhausbewegung sein, die die steigende Nachfrage nach allgemein-gesundheitlichen Themen befriedigten: Mit dem schärferen Profil, das den Vegetarismus von den vielen neuen Reform- und Gesundheitsbewegungen abhob, kämpfte der „Deutsche Vegetarier-Bund“ darum, seinen Einfluß zu bewahren. Allerdings war die vegetarische Bewegung in jenen Jahren stark zersplit911 tert. Aus dem Beispiel des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ können zwar durchaus Aussagen über die allgemeine Entwicklung des organisierten Vegetarismus in der Weimarer Republik abgeleitet werden, im Detail gab es aber auch Unterschiede zwischen den vielen Organisationen. Die seit 1926 erscheinende Vegetarische Presse unter der Schriftleitung von Georg Förster, der 1913 die „Deutsche Vegetarische Gesellschaft“ und 1918 den „Deutschen Vegetarier-Verband“ gegründet hatte912, war im Duktus zwar nüchterner als die Vegetarische Warte, aber auch ihre Inhalte zielten nicht sonderlich stark auf die Gesundheit einzelner oder darauf, die Gesellschaft im Sinne eines gesünderen Lebens zu verändern: Auch die Vegetarische Presse stellte den Fleischverzicht in den Mittelpunkt. Die Zeitschrift Lebenskunst verstand sich in den zwanziger und den frühen dreißiger Jahren noch nicht als eine Vegetarierzeitschrift. In dieser Zeit war in ihrem Titel nur von „Lebensweisheit und Charakterbildung, Körperstählung und Schönheits908 909 910 911 912

Vegetarische Warte, Dezember 1927, S. 363. Vegetarische Warte, Mai 1927, S. 141. Vgl. etwa Vegetarische Warte, Februar 1927, S. 42–47. So auch Das Reformhaus, März 1927, S. 21. Zu dieser Organisation und den folgenden Organisationen vgl. oben Kapitel 2.2.2.2.2., S. 70ff.

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pflege, naturgemäße[r] Lebens- und Heilweise, Alkohol- und Tabak-Abstinenz, Frauen-Interessen, Erziehungsreform, Jugendschutz usw.“ die Rede. Um 1932 übernahm sie dann der „Verband deutscher Vegetariervereine“ Karl Bartes’. Zu diesem Zeitpunkt wurde die „Fleischabstinenz“ in den Schriftkopf aufgenommen. Die „Freusburg-Arbeitsgemeinschaft“ Hermann Forschepiepes verstand sich in der Weimarer Republik ebenfalls nicht als Vegetariervereinigung. Nach 1933 bezeichneten die Nationalsozialisten die Organisation dann zwar als Vegetarierverein, aber das Selbstverständnis der Vereinigung, die sich in „Neuleben-Kreis“ umbenannte, war ein anderes. Der Verband trug ausgeprägt esoterisch-weltanschauliche Züge. Gesundheit und Gesellschaft waren in seiner Zeitschrift, die in der Weimarer Republik Blätter für Lebenserneuerung und seit 1933 Neuleben hieß, nebensächlich. Allen diesen Organisationen war mit dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden „Deutschen Vegetarier-Bund“, um den es in diesem Kapitel vor allem geht, gemeinsam, daß ihre Inhalte sich immer weiter von der Idee des gesünderen Lebens verabschiedeten, wie sie das lebensreformerische Netzwerk propagierte. Denn der ursprüngliche Wille des Vegetarismus, eine neue, andere, gesündere Welt zu gestalten und dem einzelnen ein anderes, gesünderes Leben zu ermöglichen, war nach dem Weltkrieg erloschen. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg glaubte der „Deutsche VegetarierBund“, in den durch den Krieg stark angewachsenen pazifistischen Kreisen Mitglieder gewinnen zu können. Diese Hoffnung stand in krassem Gegensatz zu den angriffslustigen und streitbaren Parolen des Bundes bei Kriegsausbruch.913 Nach dem Krieg wollte der Verband eine enge Verbindung erkennen zwischen dem, was der Pazifismus, und dem, was der Vegetarismus bekämpfe: „Töten unter den fürchterlichsten Qualen ist den Schlachtfeldern und den Schlachthöfen in ähnlicher Weise gemeinsam.“914 In Wahrheit ließ die Konzentration auf den Fleischverzicht den Kreis der als Mitglieder in Frage kommenden Menschen aber noch weiter schrumpfen. Im Februar 1919 schrieb ein Sanitätsrat in der Vegetarischen Warte: „Natürlich bin ich nach wie vor Anhänger des Vegetarismus im weiteren Sinne, d.h. der Lehre von der Erfüllung und Erstrebung natürlicher Lebensbedingungen; den Vegetarismus im engeren Sinne, d.h. die fleischlose Nährweise dagegen sehe ich nicht mehr wie früher als absolut giltiges [sic] Axiom an, sondern als eine noch nicht vollgeklärte Problemfrage.“915 Menschen wie er sollten im „Deutschen Vegetarier-Bund“ bald keine Heimat mehr finden. Die Organisation verlor gegenüber neuen Strömungen auf dem Gesundheitsmarkt an Bedeutung und büßte die Rolle eines Vorreiters der Lebensreform ein, die sie um die Jahrhundertwende innegehabt hatte. Die Anfangsjahre der Weimarer Republik erscheinen noch als Übergangszeit, in der vieles unklar und in Aufbau oder Wiederaufbau begriffen war, so daß sich trotz einer schon zu beobachtenden Tendenz zur Verengung des Vegetarismusbegriffs in den Konzepten des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ nicht eine klare Li913 914 915

Vgl. oben S. 188. Vegetarische Warte vom 8. Februar 1919, S. 25. Vegetarische Warte vom 22. Februar 1919, S. 37.

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nie, sondern vielmehr ein polyphones, unspezifisches Diskursgewirr ausmachen läßt. In der Vegetarischen Warte stritten die Autoren in den ersten Nachkriegsjahren noch viel und heftig über die Gewichtung des hygienischen oder gesundheitlichen im Verhältnis zum sittlichen, ethischen oder „religiösen“ Vegetarismus, bis sich die ethische Auffassung schließlich durchsetzte. Die dritte, die ökonomische Richtung des Vegetarismus – sie argumentierte, es sei volkswirtschaftlich günstiger, wenn sich alle Menschen rein pflanzlich ernährten916 – kam zwar auch immer wieder vor, blieb in der Auseinandersetzung aber zweitrangig hinter den beiden gegensätzlichen Hauptströmungen und diente der gesundheitlichen Richtung als Hilfsargument für einen mehr anthropozentrischen Vegetarismus. Schon den Verfassern der entsprechenden Texte selbst war bewußt, daß die Frage nach dem „wahren“ Vegetarismus eine grundsätzliche war und „von großer Bedeutung nicht nur für Methode und Taktik der Werbetätigkeit, sondern auch – was wohl wichtiger ist – für die geistige Durchdringung und innerliche Klärung des vegetarischen Gedankens.“ Insofern sei der Meinungsaustausch auch aufrichtig zu begrüßen.917 Im Dezember 1921 stellte ein Autor die folgenden „Betrachtungen über die ethische und religiöse Richtung des Vegetarismus“ an: „Wie ich erfahren habe, ist die von vielen Vegetariern hervorgekehrte Liebe zu den Tieren daran schuld daß Leute die dem Vegetarismus ferne stehen, nichts von ihm wissen wollen, weil er ihnen wegen der meist übertriebenen Feinfühligkeit als Schrulle erscheint und sie die Vertreter des Vegetarismus als gefühlsduselige, sonderbare Heilige ansehen. […] Ich glaube, der Vegetarismus würde an Ausbreitung nur gewinnen, wenn man in vegetarischen Büchern und Zeitschriften weniger das Tier als den Menschen berücksichtigen würde. Also müßte die gesundheitliche und volkswirtschaftliche Bedeutung des Vegetarismus hervorgehoben werden, und die Ausbreitung desselben soll, das wünschen wir doch alle, in größtem Umfange vor sich gehen.“918

Die Reaktion der streng ethisch-weltanschaulichen Richtung folgte im Januar 1922. Der Verfasser der Erwiderung bezog sich auf die zitierten Textabschnitte. Ignorierend, daß sogar der Autor jener Zeilen den Vegetarismus durchaus auch als „Weltanschauung“ und nicht rein gesundheitlich verstanden wissen wollte, stellte der Vertreter eines streng ethischen Vegetarismus die rhetorische Frage, „wie viele Menschheits-Bewegungen auf Erden schon aus gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Grundlagen entsprungen sind?“, beantwortete sie sofort mit „Nicht eine!“, um fortzufahren: „Wir müssen an die Herzen der Menschen appellieren und nicht an ihren Bauch und ihren Geldsack. Wer aus gesundheitlichen Gründen kein Fleisch ißt, ist vielleicht ein Hygieniker, wer aus wirtschaftlichen Gründen das gleiche tut, vielleicht ein Sparmeister. Aber Vegetarier sind sie doch um Gotteswillen nicht! Und wer je wieder zur Fleischkost zurückkehrte, ist überhaupt nie im Leben ein Vegetarier gewesen!“919

916

917 918 919

Zur ökonomischen Richtung des Vegetarismus vgl. die Abhandlung: J. SPONHEIMER, Der Vegetarismus, eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Versuch einer wissenschaftlichen Begründung des Vegetarismus. Berlin 1905. Vegetarische Warte vom 6. Mai 1922, S. 73. Vegetarische Warte vom 3. Dezember 1921, S. 187. Vegetarische Warte vom 28. Januar 1922, S. 16.

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Ebenfalls im Jahr 1922 bemerkte ein dritter Artikel, die Lage zusammenfassend: „Die Mehrzahl unserer heutigen Vegetarier spricht nicht gern von der diätetischen Seite des Vegetarismus. Für sie ist der Vegetarismus erst in zweiter Linie eine Magenfrage; sie betonen immer und immer wieder, daß er eine Weltanschauung ist mit höchsten ethischen Zielen und Bestrebungen.“920 Das war schon um die Jahrhundertwende so. Nur hatten die Vegetarier als Teil der Lebensreformbewegung damals als eine von wenigen gesellschaftlichen Gruppen überhaupt umfassend über Ernährungsfragen informiert, auch wenn ihnen diese Funktion selbst nicht unbedingt als die einzige und wichtigste Aufgabe ihrer Organisationen erschienen war. Das änderte sich in der Weimarer Republik grundlegend, weil sich seit dem Ersten Weltkrieg breitere gesellschaftliche Gruppen für Gesundheit und gesünderes Leben interessierten als noch im Kaiserreich. Durch die gestiegene Aufmerksamkeit für gesundheitliche Fragen ging der Nebeneffekt der vegetarischen Zeitschriften verloren, außer der vegetarischen „Lehre“ auch nahezu exklusive Ernährungsinformationen zu verbreiten. Insofern hatten auch die Worte, der Vegetarismus sei mehr als nur eine „Magenfrage“, im gesellschaftlichen Umfeld der zwanziger Jahre eine völlig andere Wirkung als in der Zeit um 1900. Im Kaiserreich war die Aussage zur „Magenfrage“ noch eine defensive und zugleich sich anpassende in einer tiefsinnigkeitsseligen Gesellschaft, die sich über die vermeintlich materialistischen „Gemüseheiligen“ lustig machte, deren einziger Glaubensinhalt angeblich eine gesunde Kost sei. Man wollte also beweisen, daß man auch „tiefsinnig“ sei, daß es einem um mehr ging als um den profanen Verzehr von Früchten und Vollkornbrot. Seit den zwanziger Jahren versuchten die Vegetarier hingegen, sich von einer gesundheitsgläubigen Gesellschaft abzugrenzen, in der Körperkultur, Diät- und Rohkost eine wahre Blütezeit erlebten – in einem Kochbuch von 1930 hieß es, das Wort Rohkost habe „heute schon beinahe eine Weltbedeutung“ und gehöre „zu den meist besprochenen Fragen im hauswirtschaftlichen Leben“921 –, und setzten den Spruch mit der „Magenfrage“ nun offensiv-profilschärfend ein. Die Sentenz zielte jetzt auf eine Besonderheit des Vegetarismus, die ihn von anderen Gruppen unterscheiden sollte: Im Gegensatz zu den vielen Diätkostbüchern biete er den Eingeweihten eben mehr, nämlich eine ganze Weltanschauung, eine Religion. Der Übergang zwischen beiden Formen vollzog sich im Ersten Weltkrieg. Im November 1914 bemerkte die Vegetarische Warte noch voller Triumph: „Vor wenigen Jahren noch brachten nur einzelne medizinische Zeitschriften Aufsätze über Ernährung mit reformerischer Gesinnung; jetzt verschließen sich wohl nur wenige oder keine diesen Aeußerungen, wenn sie in wissenschaftlicher Form vorgebracht werden.“922 Dem Autor dieser Zeilen war noch nicht bewußt, was diese Aufmerksamkeit für Gesundheitliches für die Zukunft der vegetarischen Bewegung bedeuten würde. Jene Vegetarier, die in den zwanziger Jahren trotz der 920 921 922

Ebd., S. 13. SOFIE ABEL, Fleischlose Ernährung – gekocht und ungekocht – nach neuzeitlichen Gesichtspunkten. Stuttgart 1930, S. 5. Vegetarische Warte vom 7. November 1914, S. 203.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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neuen, auf die moralische Begründung fokussierten Stoßrichtung des Vegetarismus noch die gesundheitliche Seite in den Vordergrund stellten, wurden von den ethischen Vegetariern bekämpft, die sich im „Deutschen Vegetarier-Bund“ schließlich fast vollständig durchsetzten. Es ist anzunehmen, daß die „Gesundheitlichen“ früher oder später zu anderen ernährungsreformerischen Bewegungen wie den „Neuformern“ wechselten oder einfach privat vegetarisch lebten, ohne Mitglied in einem lebensreformerischen Verein zu sein. Zugleich erschien es seit den zwanziger Jahren deutlich weniger absonderlich, wenn sich Menschen fleischfrei ernährten, als noch um die Jahrhundertwende: „Wer heute Vegetarier wird, wird eben Vegetarier, man betrachtet ihn weder als Todeskandidaten, noch glaubt man, daß er deshalb reif fürs Irrenhaus wäre. Ihren Kindern geben heute viele Menschen kein Fleisch, keine Wurst, keinen Alkohol.“923 Auch das zeigt, daß nach dem Krieg die Ziele vieler bürgerlicher Reformbewegungen erreicht waren, daß die Weimarer Gesellschaft die klassische Lebensreform in vielem überholte oder doch wenigstens mit ihr gleichzog. Weite Teile der Öffentlichkeit waren für den Gedanken einer gesünderen Lebensweise sensibilisiert. Seit die ursprünglichen Inhalte des Vegetarismus in aller Munde waren – die Vegetarische Warte beklagte sich 1928 über die Mode, die sich rund um gesunde Ernährung herausgebildet habe, insbesondere über Rohkostpräparate und Rohkostbücher924 – zogen sich die organisierten Vegetarier auf den ethisch begründeten Fleischverzicht zurück, von dem sie doch vor dem Krieg beständig betont hatten, er mache gerade nicht den Kern des Vegetarismus aus. Der einst so weite, integrative Blickwinkel der Vegetarischen Warte verengte sich immer mehr. Der Vegetarismus des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ wurde esoterischer und „religiöser“. Andere Reformbewegungen, auf die die Zeitschrift in den Jahren um 1900 regelmäßig geblickt hatte, spielten jetzt eine immer geringere Rolle in den Texten des „Deutschen Vegetarier-Bundes“. Wenn die Vegetarische Warte die Reformwarenbranche überhaupt erwähnte, dann kritisch. Im Frühling 1928 warf ein Artikel den Reformhäusern vor, nicht immer unverfälscht natürliche Nahrung anzubieten und „Beutelschneiderei“ zu betreiben.925 Der Vegetarismus des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ büßte seine Lebendigkeit, seinen Veränderungswillen, seine einstige Hoffnung auf ein anderes Leben und seinen Glauben an das Kommen einer anderen, gesünderen Welt ein. In der Zeit des vitaleren Lebens teilte er nicht die „klare“, „rationale“ Sicht jüngerer lebensreformerischer Strömungen auf das Leben, sondern er sah das Leben eher mystisch-irrational. Aber die Texte entbehrten selbst dann der Lebendigkeit, wenn sie vom Leben sprachen. Der Vegetarismus des „Deutschen Vegetarier-Bundes“ erstarrte, kapselte sich ab, verbarg sich hinter Bibel- und Sinnsprüchen, Gedichten, antiken und lebensphilosophischen Zitaten und einem mystischen Stil. Im August 1927 begann etwa eine zweiteilige Artikelserie zum Thema „Menetekel“ mit den Worten: „Menetekel! 923 924 925

Vegetarische Warte, September 1928, S. 195. Ebd., S. 196. Vegetarische Warte, April 1928, S. 91f.

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3. Evolution gesünderen Lebens

Waltendes Weltwort, laß dich beschwören! Wach auf aus dem ehernen Schreine der vergeltenden Ewigkeit und wehe brausend über das deutsche Geschlecht, wieder einmal an der Wende der Zeiten!“926 Viele Vegetarier der zwanziger Jahre waren somit „Hinterweltler“, wie der Publizist Carl Christian Bry die Anhänger der „verkappten Religionen“ seiner Zeit genannt hat. Während die Religion sage, der letzte Sinn des menschlichen Daseins liege jenseits des menschlichen Lebens, über dem Leben, sage die verkappte Religion: „Hinter deinem gewöhnlichen Leben und hinter der gewöhnlichen Welt liegt etwas bisher Verborgenes, etwas zwar seit langem Geahntes, aber für uns nie Verwirklichtes, eine noch nie realisierte Möglichkeit, der wir beikommen können und beizukommen gerade im Begriff sind. Der Anhänger der verkappten Religionen glaubt an etwas hinter der Welt. Man kann ihn kurzweg den Hinterweltler nennen. Der Fromme glaubt an ein unvorstellbares Reich jenseits der Wolken, der Hinterweltler an eine neue Wirklichkeit hinter der Tapete.“927

Der Hinterweltler sei, so Bry weiter, davon durchdrungen, daß „eines Tages all das, was heute noch Hinterwelt ist, die Welt besiegt und durchdrungen haben wird. An diesem Siege zu arbeiten, die Hinterwelt zur Welt zu machen, ist der Inhalt seines Glaubens.“928 Der Publizist faßte so unterschiedliche Strömungen wie Abstinenz und Astrologie, Yoga und Vegetarismus, Esperanto und rhythmische Gymnastik, den Kult des Übermenschen und die Psychoanalyse, Antialkoholismus und Brechung der Zinsknechtschaft, Jugendbewegung und Antisemitismus unter dem Begriff der „verkappten Religionen“ zusammen. Was die ethisch argumentierenden, organisierten Vegetarier der Weimarer Republik angeht, trifft Brys Analyse sehr genau zu. Seine Definition des Hinterweltlertums deckt sich mit dem, was man später „säkulare Religionen“ genannt hat.929 Aber auch Bry betonte, es brauche „nicht jeder, der einer der hier besprochenen Strömungen anhängt, unbedingt ein verkappt Religiöser und ein Hinterweltler zu sein. Es kommt darauf an, was er von dieser Strömung erwartet und erhofft.“930 Der Autor machte das am Beispiel der Jugendbewegung deutlich: „Wenn ein Trupp Wandervögel, Knie nackt und Laute um den Hals, durch die Lande zieht, so sind verschiedene Ansichten darüber möglich, ob diese Übung vom gesundheitlichen Standpunkt nützlich oder vom ästhetischen und politischen mit Mängeln behaftet ist. Die verkappte Religion fängt erst an, wo der Streit aufhört: in dem Augenblick nämlich, wo der Trupp Wandervögel behauptet, er sei nicht auf Grund seiner gesunden Beine und Lungen, sondern auf

926 927 928 929

930

Vegetarische Warte, August 1927, S. 228. CARL CHRISTIAN BRY, Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. Neuausgabe München 1979 [zuerst Gotha/Stuttgart 1924], S. 36f. Ebd., S. 37. Auch eine recht wirre und assoziativ geschriebene Studie aus dem Jahr 2000 faßt Reformbewegungen, Okkultismus, Esoterik, Theosophie, Rassismus und zahlreiche andere Strömungen zu einer „Religion der Reinheit“ zusammen: HERBERT RÄTZ, Die Religion der Reinheit. Reformbewegung, Okkultismus und Nationalismus – Geschichte und Struktur einer Alltagsreligion. Bad Homburg 2000. BRY, Verkappte Religionen (wie Anm. 927), S. 47.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Grund seiner Überzeugung von der Wichtigkeit des Jungseins etwas Besonderes und Welterlösendes.“931

Er hätte genauso gut den Vegetarismus als Beispiel wählen können: Wer aus gesundheitlichen Gründen kein Fleisch aß, mußte nicht unbedingt „verkappt Religiöser“ sein. Der organisierte Vegetarismus aber entwickelte sich immer mehr zur „verkappten Religion“. Esoterische Reformbewegungen, zu denen einige Vegetariervereinigungen zunehmend zu zählen waren, empfanden sich und ihre Gemeinschaft mehr und mehr als Auserwählte. Folglich sollte nur ihnen und ihren Mitstreitern das von der Bewegung versprochene Glück, das in aller Regel ein mehr weihevoll-geistiges als ein profan-gesundheitliches war, zuteil werden. Weil man keine Anhänger mehr gewann, wollte man auch gar keine mehr haben. 3.2.2.2. Verengung II: Naturheilkunde als Medizinkritik Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ reagierte auf ähnliche Weise auf die veränderte Gesellschaft der Weimarer Republik wie der „Deutsche Vegetarier-Bund“: mit einer Verengung seiner Inhalte. Stärker noch als die Vegetariervereinigung schwächte die größte Organisation der Naturheilbewegung ihre Bindungen zum lebensreformerischen Netzwerk. Das ging so weit, daß ihre Inhalte in der neuen, reduzierten Form kaum mehr für das standen, was „Lebensreform“ meinte: Die Naturheilkunde, wie sie der Bund propagierte, meinte immer weniger eine gesunde, lebendige Lebensweise im allgemeinen als eine Kritik an der Schulmedizin, die man in den zwanziger Jahren in einer Krise sah.932 Anläßlich des vierzigjährigen Bestehens des Naturheilbundes veröffentlichte der Naturarzt im Mai 1929 einen „Rückblick und Ausblick“. Zunächst stellte die Zeitschrift in einigen Zeilen knapp fest, die Gesundheitspflege sei zwar nunmehr „zum Schlagwort des Tages“ geworden, Staat, Gemeinden und Versicherungsvertreter übertrumpften sich mit Ausstellungen und Kundgebungen. Dabei stehe aber eindeutig die soziale Fürsorge im Vordergrund, und im „Volksbewußtsein“ sei die „Pflicht zur Gesundheit“ noch nicht lebendig: „Viel mehr, als erreicht wurde, ist noch zu tun!“933 Dann wandte sich der Naturarzt seinem eigentlichen Anliegen zu, dem der Artikel mehr als dreimal soviel Platz widmete wie der Notwendigkeit der Volksaufklärung. Werde die Leistung der Naturheilbewegung hinsichtlich der „Steigerung der gesundheitlichen Abwehrkräfte“ des Volkes durch die naturheilkundlichen Lehren und Einrichtungen – wenn auch „widerwillig“ – „von unseren Gegnern anerkannt“, so sei der „andere Teil der bahnbrechenden Arbeit unseres Bundes […] heftig umstritten.“ Gemeint war das Naturheilverfahren in der Krankenbehandlung: Trotz zweier Lehrstühle für Naturheilkunde, die 931 932

933

Ebd., S. 38. Zur „Krise der Medizin“ SIEVERT, Naturheilkunde (wie Anm. 272), S. 121–130; BOTHE, Neue deutsche Heilkunde (wie Anm. 58), S. 16–37; HAUG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft (wie Anm. 58), S. 29–38. Der Naturarzt, Mai 1929, S. 123f.

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3. Evolution gesünderen Lebens

1919 und 1924 eingerichtet worden waren934 , sei es immer noch „nicht gelungen, in der Praxis der überwiegenden Mehrheit der 47.000 Aerzte im Reiche die Macht der alten, von uns bekämpften Dogmen zu brechen.“ In der Ärzteausbildung und in Krankenhäusern spiele die Naturheillehre keine Rolle, „ärztliche Kampfverbände“ wollten die gesetzliche Kurierfreiheit aufheben, zwischen Naturheilern und „Pfuschern“, von denen man sich abgrenzte, werde nicht unterschieden.935 Diese und ähnliche Argumente hatte die Naturheilbewegung von Anfang an vorgebracht. Vor dem Ersten Weltkrieg aber war das Verhältnis zwischen Volksaufklärung über Allgemein-Gesundheitliches und Medizinkritik noch in etwa ausgewogen. Inzwischen aber spielte im Naturarzt die Medizinkritik eine weitaus größere Rolle als die einst auch in dieser Zeitschrift so zentralen Hinweise für eine gesündere Lebensweise. Die Naturheilbewegung war stärker als zuvor zur Interessengruppe auf dem medizinischen Sektor geworden. 3.2.2.3. Gesellschaftsnähe: Reformhausbewegung Neue, erst nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Gruppen wie die Reformhausbewegung hatten es leichter als Vegetarismus und Naturheilbewegung, sich auf dem Gesundheits- und Reformmarkt der zwanziger und dreißiger Jahre zu positionieren. Die Kundenzeitschriften der Reformhäuser erfüllten in der Weimarer Republik eine ähnliche allgemein-aufklärende Funktion wie im Kaiserreich die Publikationen der Naturheilbewegung und der Vegetarier. Obwohl sie sich immer wieder gegen übermäßigen Fleischkonsum aussprachen, obwohl die meisten Reformhausinhaber in den dreißiger Jahren Vegetarier gewesen sein dürften936 und obwohl es auf Generalversammlungen der Neuform-Genossenschaft „vegetarisch, alkohol- und nikotinfrei verlaufend[e] Festmähler“ gab937 , definierte sich die Reformwarenwirtschaft nicht über das Motiv des Fleischverzichts. Meist warben die Reformhäuser außerdem nicht für eine völlig fleischfreie, sondern bloß für eine fleischarme Kost im Rahmen einer allgemeinen gesunden Lebensweise mit weitgehend vegetabiler Kost. Die fleischarme Ernährung war somit in einen allgemeinen Diskurs eingebettet. Sie wurde nicht betont hervorgehoben, sondern mehr beiläufig und wie selbstverständlich erwähnt, genauso wie etwa die Notwendigkeit von Mineralstoffen und Vitaminen für den Körper. Die gerade erst entstehende Reformhausbewegung stellte Gesundheit und Lebenskraft in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen und strebte nach Verbreitung ihrer Ideen und Verbreiterung ihrer Anhängerschaft: Je mehr Menschen gesünder lebten, gesünder leben konnten, desto besser. Damit stand sie nicht allein. Auch die Volks- und Arbeitergesundheitsvereine meinten, wenn sie von Gesundheit sprachen, vor allem eine Gesundheit möglichst für das ganze Volk. Je mehr Menschen gesund und vital lebten, gesund leben konnten, desto besser. Im Juni 1924 934 935 936 937

Vgl. FRITZEN, „Unsere Grundsätze marschieren“ (wie Anm. 147), S. 171f. Der Naturarzt, Mai 1929, S. 124–126. Neuform-VDR-Fachblatt vom 27. Februar 1933, S. 45. Leib und Leben, September 1935, S. 282.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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hieß es in der Zeitschrift des Verbandes „Volksgesundheit“, der Zentralorganisation der Arbeitervereine für Gesundheitspflege und Heilkunde: „Der Drang, durch einige Tage oder Wochen in das Grüne zu entfliehen – auch gesundheitlich bemerkenswert – schuf das Urlaubsverlangen, die Sommerfrische, die Reisen, die mächtige Touristen- (Naturfreunde-) Bewegung und das impulsive Waldaufsuchen der vielen Millionen an freien, schönen Tagen.“938 Auch die Reformhausbewegung sprach gern von „Millionen“. In der Zeitschrift Das Reformhaus war im April 1926 die Rede von der „Entstehung ganz großer Volksbewegungen, die heute einige Millionen von Volksgenossen umfassen“939 , und Anfang der dreißiger Jahre schätzte auch die Branchenorganisation Neuform-VDR die Zahl aller Anhänger der Lebensreform auf mehr als eine Million.940 Diese Zahlen waren mit Sicherheit zu hoch gegriffen, machen aber die Stoßrichtung der Reformhausbewegung deutlich, ihr Streben in die Masse. Tatsächlich dürften die Zeitschriften der Reformhäuser in der Weimarer Republik eine deutlich größere Zahl von Menschen angesprochen haben als die des Vegetarismus. Die Reformhauszeitschriften enthielten mehr Hinweise, Buchtips und Ratschläge, oft auf die jeweilige Jahreszeit bezogene, und kurze, „vermischte“ Meldungen, ihre Fragekästen erschienen regelmäßiger und waren größer als die eher versprengten Frageecken in den Vegetarierzeitschriften. Die ReformhausBlätter waren nicht nur inhaltlich, sondern auch graphisch ansprechender und abwechslungsreicher aufgemacht als die vegetarischen Zeitschriften, vor allem mit mehr Fotografien und Zeichnungen, die seit dem Sommer 1927 in jedem Heft zu finden waren. Darüber hinaus boten die Reformhäuser zusätzlich zur gedruckten Theorie am selben Ort auch die entsprechende Ware zur praktischen Verwirklichung des Lesestoffs. Ziel der Reformhaus-Zeitschriften war die allgemeine Volksaufklärung, und so eigneten sie sich auch besser zum Durchblättern als die schwerere, ideologische und zum Teil nahezu den Schriften einer Geheimwissenschaft ähnelnde Kost von Vegetarier-Publikationen wie der Vegetarischen Warte, die nur noch Eingeweihte anzusprechen vermochten. Schon das „Einführungsheft“ der Zeitschrift Das Reformhaus vom Dezember 1925 machte den umfassenden Anspruch der „Vereinigung deutscher Reformhaus-Besitzer“ (V.D.R.) als Herausgeberin deutlich: „Unsere Bestrebungen haben sich nicht nur auf Nahrungs- und Kleidungsfragen zu beschränken, sondern müssen auf alle angrenzenden Gebiete erweitert werden. Insofern wird unsere Zeitschrift ein Bindeglied zwischen allen Erneuerungsbestrebungen auf körperlichen und seelisch-geistigen Gebieten.“941 Im „Vorspruch“ des Einführungsheftes waren zahlreiche Schlagwörter enthalten, die das gesündere Leben in der Weimarer Republik kennzeichneten [Hervorhebungen F.F.]. Dort hieß es: „Die Vereinigung deutscher Reformhäuser will mitarbeiten in dem Streben nach Einfachheit der Lebensführung, Belehrung über die Hygiene der Arbeit, der Erholung und der Ruhe, Be938 939 940 941

Volksgesundheit, Juni 1924, S. 52. Das Reformhaus, April 1926, S. 6. Neuform-VDR-Fachblatt vom 9. September 1932, S. 174. Das Reformhaus, Einführungsheft, Dezember 1925, S. 5.

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3. Evolution gesünderen Lebens lehrung über den Wert der Reinlichkeit, die Wichtigkeit der Hautpflege, Erziehung der Jugend zu Kraft und Schönheit, einer Heilreform im Sinne der Naturheillehre, Aufklärung über die gegebenen Heilkräfte des Lichtes, der Luft, des Wassers, der Wärme und der Kälte, der Diät, Bewegung und Ruhe, als Förderer des Lebens im Menschen in gesunden und in kranken Tagen. So werde für die Zukunft jedes Heim in diesem Sinne ein Reform-Haus. Jede Erneuerung findet ihren starken Halt in der Stammzelle des Volkskörpers, der Familie. Der Weg zum nächsten neuen Menschheitsfrühling geht durch den Einzelnen. Damit der Wenigen Viele werden, sei unsere Arbeit, dem Wohle der Allgemeinheit gewidmet.“942

Der Hinweis auf das „Reform-Haus“, mit dem hier idealerweise jeder Privathaushalt gemeint war, macht deutlich, daß die Bewegung nicht nur theoretisch vom vitaleren Leben schrieb, sondern daß sie auch praktisch auf eine vitalere Lebensweise aller einzelnen zielte. Jede Leserin und jeder Leser, so wünschten es sich die Autoren der Zeitschrift, sollte einem „Reformhaushalt“ vorstehen oder angehören. Um herauszufinden, wie genau die Rezipienten die Vorgaben, wie man in einem echten „Reform-Haus“ zu leben hatte, auch tatsächlich zu verwirklichen versuchten, stellte die Redaktion des Reformhauses mitunter Anfragen an ihren Leserkreis. So wollte sie im Februar 1930 „gerne wissen, wie sich unsere Leser, besonders die Hausfrauen, zu dem monatlichen Speisezettel stellen, ob er von manchen ganz durchgeführt wird und welche Erfahrungen gemacht wurden.“943 Dieser Speisezettel empfahl den Lesern bestimmte Nahrungsmittel für den gesamten Monat, die er in Tabellenform präsentierte. Im Märzheft informierte die Zeitschrift ausführlich über das Ergebnis der Rundfrage: Man sei mit den Anregungen der Leserinnen und Leser sehr zufrieden, „wenn auch zugegeben wird, daß der Speisezettel nicht vollständig durchgeführt wird“. Außerdem habe es die Klage gegeben, wer viel unterwegs sei, könne sich nicht an die Vorgaben halten, und auch „die Preisfrage wird in manchen Zuschriften angeschnitten.“944 Ein anderes Mittel, die Leser in einen über die Textrezeption hinausgehenden Dialog mit der Zeitschrift treten zu lassen, war der Abdruck von Kinder-Fotos mit Bildunterschriften wie „Ursula, geboren am 4. 12. 1926 in Frankfurt a. M. Bekommt seit Aufgabe der Milchnahrung viel Obst, alle Gemüse roh, Kartoffeln gedämpft. Jetzt keine Milch mehr, kein Fett, kein Fleisch, Wurst oder dergl.“945 Welche lebensreformerische Mutter wollte das nicht in der Ernährung ihrer Gertrud, Hermine oder Käthe nachahmen, zumal die blonde, vor Gesundheit strotzende Ursula, ein echtes Reformkind eben, mit ihren großen runden Kinderaugen von innen her zu strahlen schien. Im Oktober 1930 bat das Reformhaus abermals um Fotografien: „Schickt Bilder für die Zeitschrift! Wir wollen im nächsten Jahr in der Zeitschrift regelmäßig Bilder von Erwachsenen und Kindern bringen, die längere Zeit neuzeitlich bzw. vegetarisch gelebt haben, und bitten alle Leser, uns bei der Sammlung solcher Bilder behilflich zu sein.“ Als Grund für dieses Vorhaben gab die Redaktion an, die „Meinung, daß es sich bei der neuen Ernäh942 943 944 945

Ebd., S. 4. Das Reformhaus, Februar 1930, S. 30. Das Reformhaus, März 1930, S. 47f. Abbildung in: Das Reformhaus, September 1928, S. 3, sowie auf dem Pappdeckel der Ausgabe.

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rungslehre um eine Theorie handele, die von niemand durchgeführt wird und auf die Dauer vielleicht gar nicht durchgeführt werden kann, ist noch stark verbreitet. Man kann ihr am besten entgegentreten, wenn man lebende Beispiele bringt.“946 Die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Selbststilisierung nahmen einige Reformhauskunden offenbar gerne an. In den folgenden Monaten waren viele solcher „lebendiger Beispiele“ mit standardisierten Angaben – die Schriftleitung verschickte Vordrucke zum Ausfüllen – zu Name, Beruf, Alter oder Geburtsdatum, Art der Lebensweise (etwa vegetarisch, „neuzeitlich“, alkoholfrei, rauchfrei, kochsalzfrei, Frischkost, Rohkost, Dämpfkost) und darüber, seit wann der oder die Betreffende so lebte, in den Heften zu bewundern. Viele Männer, ob sie nun Kaufmann waren, Biochemiker oder Ingenieur, präsentierten sich mit nacktem Oberkörper, mal in antikischer Pose, mal am Meer in knapper Badehose, mal leptosom-vergeistigt, mal drall und mit Nickelbrille.947 Es gab aber auch klassische Bildvarianten mit Anzug und Krawatte. Fotografien von Frauen waren seltener. Sie hatten, anders als die abgebildeten Männer, die meist technische oder kaufmännische Tätigkeiten ausübten, eher reformerische oder künstlerische Berufe, waren etwa „Heilkundige“ oder arbeiteten in einem Reformhaus. Auch äußerlich entsprachen sie stärker als die Männer dem Klischee, das damals so mancher von der Lebensreform gehabt haben mag und das man im Rückblick als „alternatives“ Aussehen bezeichnen könnte.948 Die vergleichsweise Modernität der Reformhaus-Zeitschriften schließt auch einige irrationale Züge ein, die im lebensreformerischen Netzwerk und in der Zeit selbst aber völlig schlüssig erschienen sein dürften. Beispiele sind Artikel zu Themen wie „Die Heilwirkung der Farben“ oder biologistische Einführungen in „Naturellehre“, „Menschenkunde“ sowie „Körper-, Schädel- und GesichtsformenAusdruckskunde“. Diese „Lehren“ waren in der Zeit insgesamt und auch über die Lebensreform hinaus en vogue, erscheinen vor diesem Hintergrund also gerade nicht kryptisch, sondern – zumal in der leicht konsumierbaren Form, in der die Reformzeitschriften sie aufbereiteten – im Gegenteil hochmodern, sie waren aktuell, entsprachen dem Zeitgeist. Die Reformhausbewegung gab sich insgesamt betont rational, modern und zeitgemäß, pflegte etwa die Verbindung mit „Ernährungswissenschaftlern von Ruf und großer Sachkenntnis“. 949 Solche Bekenntnisse zur Wissenschaft waren in diesen Jahren oft in Reformhauszeitschriften zu lesen. Die Bewegung bemühte sich also, gesellschaftsoffen zu erscheinen, sich Märkte zu erschließen. Das unterschied sie von anderen, eher sektenhaften Zirkeln wie dem „Deutschen Vegetarier-Bund“. Im Dezember 1930, also kurz nach der Gründung der Einheitsgenossenschaft Neuform-VDR, schrieb Das Reformhaus, auf die vergangenen fünf Jahre seit der Gründung der „Vereinigung deutscher Reformhaus-Besitzer“ (V.D.R.) von 1925 zurückblickend, fünf Jahre zuvor habe noch niemand gewußt, 946 947 948 949

Das Reformhaus, Oktober 1930, S. 158. Neuform-Rundschau, Januar 1931, S. 13; Neuform-Rundschau, Mai 1931, S. 78; NeuformRundschau, Juni 1931, S. 93. Vgl. besonders die Fotografien in: Neuform-Rundschau, Februar 1931, S. 29. Das Reformhaus, Januar 1930, S. 3.

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welche Entwicklung „die ganze Bewegung nehmen und welches Schicksal die Zeitschrift selbst haben würde. Inzwischen hat besonders die Ernährungsreformbewegung einen ungeahnten Aufschwung erlebt.“ Bisher geleistete Pionierarbeit werde „nunmehr durch die Zeitentwicklung gefördert, um so mehr, als man unter den Trägern der Sache verständnisvolle Menschen hat, die auf die neuen wissenschaftlichen Forschungen eingehen.“950 Ein besonders deutliches Beispiel dafür, daß sich die Reformhausbewegung wissenschaftsfreundlich und „weltnah“ zu geben bemüht war, ist auch ihr schon eingangs erwähnter „rationaler“ Umgang mit der Frage, ob man Fleisch essen solle oder nicht. Wenn es etwa in der Kundenzeitschrift der Reformhäuser hieß, der Vegetarismus habe in den vergangenen Jahren, einmal durch die Kriegsverhältnisse, vor allem aber durch wissenschaftliche Erkenntnisse, „außerordentlich an Boden gewonnen, sodaß man heute sagen kann, die vegetarischen Nahrungsstoffe werden immer mehr Hauptteil der Volksernährung, und der Fleischkost wird von immer größeren Kreisen nur die Bedeutung einer Nebenkost zugestanden, während zugleich die Schar derer, die ganz auf Fleisch verzichten wollen, immer mehr wächst“951, dann vereinnahmte die Reformhausbewegung die fleischfreie oder fleischarme Kost ohne Skrupel für die eigene Sache. Sie meinte mit ihrem Lob des Vegetarismus, mit ihrer Freude über dessen gewachsene Akzeptanz nicht etwa die Vegetarier-Organisationen – diese erwähnte die Zeitschrift hier gar nicht. Indem Das Reformhaus schlicht eine Entwicklung beschrieb, ohne eindeutig Stellung zu beziehen, schon gar nicht mit einem Appell zum vollständigen Verzicht auf Fleisch, machte die Zeitschrift es allen potentiellen Kunden recht: den Vegetariern und denen, die weiterhin Fleisch essen wollten. Auch die beiden wichtigsten Autoren der Reformhausbewegung der Weimarer Republik, Hans Gregor und Werner Altpeter, machten in einem gemeinsam verfaßten Band über „Die neue Ernährungslehre“ deutlich, daß sie viel vom Vegetarismus hielten, der nun nicht mehr wie noch vor einiger Zeit als Irrlehre gelte. Im Zusammenhang mit dem Fleisch als Eiweißquelle schrieben sie: „Es sollen dabei [hinsichtlich der Nachteile des Fleischkonsums, F.F.] lediglich ernährungsphysiologische Gesichtspunkte zur Sprache kommen. Die von Vegetarierkreisen gebrachten Begründungen gegen den Fleischgenuß vom Standpunkt der Religion, der Bibel, des Christentums, der Ethik, und Aesthetik, der Sozialethik und Mystik bleiben dabei unberücksichtigt.“952 Auch Altpeter und Gregor empfahlen die vegetarische Lebensweise nicht kategorisch, sondern sie gaben als idealen Anteil an der Ernährung drei Prozent Fleisch an. Damit sei aber „nicht gesagt, daß diese 3 Prozent notwendig seien, es soll vielmehr heißen, daß ein ganz geringer Fleischgenuß etwa in diesem Umfange bei sonst richtiger Ernährungsweise keine Schädigung hervorbringen kann […]. Andrerseits muß auch zugegeben werden, daß es Menschen gibt, denen man das Fleisch nicht ganz entziehen darf. Diese Fälle sind aber selten und es soll nach diesem Zugeständnis nicht jeder Einzelne denken, daß es für ihn gilt. Wir treten aus all diesen Gründen nicht für einen 100prozentigen Vegetarismus ein, aber eine ganz ge950 951 952

Das Reformhaus, Dezember 1930, S. 177. Ebd. ALTPETER/GREGOR, Die neue Ernährungslehre (wie Anm. 900), S. 28.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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hörige Verminderung des Fleischverbrauchs im allgemeinen muß aus wissenschaftlichen, gesundheitlichen, und auch aus volkswirtschaftlichen Gründen gefordert und die Durchführung fleischarmer oder fleischloser Kost mit allen Kräften gefördert werden.“953

Die Reformhausbewegung argumentierte also ausdrücklich wissenschaftlich-gesundheitlich. Angesichts der Popularität der Ernährungswissenschaft und der großen Zahl von Ernährungsratgebern warnte sie aber auch davor, von dem wachsenden Wissen der Gesellschaft über gesunde Ernährungsweisen auf eine ebenso starke Übernahme der Praktiken der Reform zu schließen: „So groß der theoretische Erfolg der Bewegung ist, so wenig darf man sich darüber täuschen, daß die Masse der Bevölkerung immer noch im alten Gleis weiterfährt und wesentliche Änderungen nur in kleinen Kreisen erfolgt sind.“ Weder den „Trägheitshang“ der meisten Menschen dürfe man vergessen noch, „daß unsere ganze Gesetzgebung und Volkswirtschaft, und die gesellschaftlichen Sitten auf die alte Lebensform und Haushaltsführung eingestellt sind […].“ Hinzu kämen die allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Zwar sei die „neuzeitliche Ernährung“ mit Reformhausprodukten aufs Ganze gesehen nicht teurer als die „bisherige“, aber die Umstellung der Lebenshaltung bringe eben einige Ausgaben mit sich „wie z.B. die Anschaffung von Büchern und Geräten, von neuen Kleidungsstücken.“ Und schließlich: „Nicht zuletzt hat sie [die neuzeitliche Ernährung] die große Presse trotz scheinbarer Freundlichkeit immer noch gegen sich.“954 Im Gegensatz zu den Vegetariern sah die Reformhausbewegung die „Ernährungsmode“, wie sie sich in der Presse, auf dem Buchmarkt und auf Ausstellungen zeigte, aber insgesamt positiv. Sie begriff sie im Sinne eines fruchtbaren Nährbodens, auf dem die eigene Aufklärungs- und Belehrungsarbeit gedeihen konnte. So freute sich Hans Gregor im Augustheft 1928 des Reformhauses über die Berliner Ausstellung „Die Ernährung“, die „sich ganz bewußt der Aufgabe unterzog, neuen besseren Ernährungsgepflogenheiten zur Anerkennung und Verwirklichung zu verhelfen.“ Hinter diesem „Riesenunternehmen“ stünden „sämtliche maßgebenden offiziellen Stellen. Das Reichsgesundheitsamt, Universitätsprofessoren von Ruf, Regierungskreise und eine große Zahl von sozialhygienischen Fachleuten.“955 Der Autor sparte bei aller Zufriedenheit mit der Popularisierungsleistung der Ausstellung aber auch nicht mit Kritik: Die „kapitalkräftige Industrie“ habe sich breitgemacht, „wo man ehrliche Volksaufklärung erwartete.“ Er wendete diese Kritik aber sogleich wieder ins Positive: „Wir wollen es uns ersparen, auf Einzelheiten einzugehen von dem Grundsatz geleitet, daß Protest nicht weiterbringt […]. Statt Protest brauchen wir aufbauende Tatkraft. Hier hat jeder einzelne das Seinige zu leisten.“ Denn „der Schritt zur eigentlichen Verwirklichung“ der neuen Forschungsergebnisse sei noch nicht getan. „Man warte nicht, bis sich die maßgebenden Stellen entschlossen haben, ihn zu tun. Jeder muß lernen, gründlich und folgerichtig bei sich und seinem engeren Wir-

953 954 955

Ebd., S. 31. Das Reformhaus, Dezember 1930, S. 178. Das Reformhaus, August 1928, S. 1.

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kungskreise anzufangen. Das ist nicht mehr schwer, weil die Erkenntnis weit gediehen ist.“956 Die Vertreter der Reformhausbewegung – also im wesentlichen die Autoren der Kundenzeitschriften – sahen sich selbst durchaus als Vorreiter, als eine Avantgarde, der die Gesellschaft erst einmal nachfolgen müsse. Sie glaubten aber zugleich, schon das Heraufdämmern einer künftigen Welt zu spüren, in der das ganze Volk verstehen werde, wie wichtig ein gesünderes, vitaleres Leben sei. Als eine Regierung antrat, die diese neue Zeit in mancher Hinsicht zu verkörpern schien, erkannten die Lebensreformer viel Eigenes in dem Gedankengut, das sich nun anschickte, Deutschland zu durchdringen. Andere Konzepte der neuen Machthaber paßten hingegen überhaupt nicht zu dem, was das Netzwerk der Lebensreform seit Jahrzehnten propagierte. 3.2.3. Affinitäten und Abweichungen: Lebensreform und Nationalsozialismus Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten glaubten viele Lebensreformer, Übereinstimmungen ihrer Ideen mit jenen festzustellen, die sie dem nationalsozialistischen Regime zuschrieben: „Überall erkennen wir unser eigenes Gedankengut und beobachten mit Freude sein Vordringen.“957 Umgekehrt gingen einige Nationalsozialisten, die mit Fragen der Gesundheit und der Ernährung befaßt waren, davon aus, daß viele Ansichten der Lebensreform der nationalsozialistischen Weltanschauung ähnlich seien. So sagte Hanns Georg Müller, den die „Gesundheitsführung“ der NSDAP nach der Machtübernahme an die Schaltstelle über die lebensreformerischen Vereine gesetzt hatte958 , Anfang 1938 in einer Rede: „Der Nationalsozialismus geht vom Gedanken der Einheit aus, und er fand in der Lebensreform-Bewegung, in ihrem Kern wenigstens, Gedanken, die auf diese Einheit des Lebens, auf die Betrachtung aller Dinge von einem ganzheitlichen Standpunkt aus zuliefen. Hier waren die Berührungspunkte.“959 Aus Müllers Worten läßt sich aber zugleich herauslesen, daß die lebensreformerischen Ideen seiner Ansicht nach in manchem auch vom nationalsozialistischen Gedankengut abwichen; der Einschub „in ihrem Kern wenigstens“ weist darauf hin. Mit dieser Formulierung legitimierte Müller zugleich den Korrekturanspruch, den die Nationalsozialisten mit Blick auf die Lebensreformbewegung erhoben. Je nachdem, ob Ähnlichkeiten oder Unterschiede überwogen, ordneten die Nationalsozialisten die einzelnen lebensreformerischen Organisationen in das System des „Dritten Reichs“ ein oder verboten sie oder brachten sie dazu, sich selbst aufzulösen. In diesem Prozeß schwanden die weltanschaulichen Unterschiede zwischen der „bereinigten“ Lebensreform, wie es damals hieß, und dem Nationalsozialismus. Müller schrieb im November 1935, als die Gleichschaltung der Lebensreform weitgehend vollzogen war, „ethische“ und „humanitäre“ Ge956 957 958 959

Ebd., S. 2. Neuform-VDR-Fachblatt vom 31. Mai 1934, S. 89. Vgl. oben S. 65. Fachblatt für den Reformhausfachmann vom 15. März 1938, S. 58.

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dankengänge der ursprünglichen Lebensreform verblaßten nun in den neuen organisatorischen Formen „gegenüber dem großen Ziel eines gesunden und leistungsfähigen Volkes.“960 3.2.3.1. Anpassung: Reformwarenwirtschaft „Die deutsche Reformwarenbranche ist gleichgeschaltet worden!“ rief das Neuform-VDR-Fachblatt im September 1933 seinen Lesern zu, mit „gleichgeschaltet“ ein Wort benutzend, das es erst seit einem halben Jahr gab.961 „Gleichgeschaltet dem neuen Aufbau in Deutschland, gleichgeschaltet dem Bemühen, Deutschland wieder zur Blüte zu bringen, der Landwirtschaft und der Industrie und damit dem deutschen Volke zu helfen!“962 An den neuen Reichskanzler knüpfte die Zeitschrift Hoffnungen für die Zukunft der Lebensreform: Hitler, so vermutete das Neuform-VDR-Fachblatt Anfang April 1933, stehe der Lebensreform nahe, weil er Vegetarier sei.963 Der Grund, warum die Nationalsozialisten die Lebensreform, wie sie die Reformwarenwirtschaft verkörperte, nicht verboten, sondern die Reformhäuser sogar förderten, war selbstverständlich ein anderer als der Vegetarismus Adolf Hitlers: Die Reformhäuser und Reformwarenunternehmen schienen gewillt und imstande, sich in den nationalsozialistischen Staat einpassen zu lassen und der Gesundheit des deutschen „Volkskörpers“ zu dienen. Der Glaube an gemeinsame Ziele machte den Organisationen der Reformwarenwirtschaft das Zusammengehen mit der neuen Macht nicht allzu schwer: „Was das Reformhaus, was die Lebensreformer lange Zeit für sich allein anstrebten, das ist heute allgemeines Ziel. Das macht unsere Arbeit leichter. Nicht nur deshalb, weil sie heute eher verstanden wird und Widerhall findet, sondern vor allen Dingen auch, weil unsere eigene Kraft vervielfacht wird durch das Bewußtsein, daß wir ganz unmittelbar damit dem großen Ganzen dienen.“964 In der nationalsozialistischen Ernährungsrhetorik war das Zurückfinden zu einer natürlicheren Ernährung ohne künstliche Farbstoffe und Konservierungsmittel ein beliebter Topos: „Lebensmittel sollten arm an Fett und reich an Ballaststoffen sein, während Genußmittel wie Kaffee, Alkohol oder Tabak entweder gemieden oder in geringem Maß konsumiert werden sollten. Man sollte wenig Fleisch essen und frische Lebensmittel der konservierten Büchsennahrung vorziehen.“965 Auf einer Reichstagung über „Volksgesundheit und Genußgifte“ rief der Reichsorganisationsleiter Robert Ley Anfang 1939 in Frankfurt am Main zu einem „Kampf gegen die Genußgifte“ auf und legte dar, wie, wann und warum er selbst auf Al-

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Leib und Leben, November 1935, S. 328. BENZ, Geschichte des Dritten Reiches (wie Anm. 360), S. 27f. Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. September 1933, S. 255. Neuform-VDR-Fachblatt vom 5. April 1933, S. 77. Der Reformwarenfachmann vom 15. April 1939, S. 81. PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 146.

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kohol und Nikotin verzichtet habe, denn: „Es ist nicht meine Sache, ob ich trinke oder rauche, das war einmal.“966 Daß die Nationalsozialisten eine gesunde Ernährung des deutschen Volkes anstrebten, hatte neben dem gesundheitlichen auch mit dem ökonomischen Nutzen zu tun, den man sich davon versprach. So hielt man Weißbrot gegenüber Vollkornbrot nicht nur für ernährungsphysiologisch minderwertig – seine Herstellung war auch teurer. Wenn der Fleisch-, Zucker- und Fettverbrauch in Deutschland verringert würde, so kalkulierten die Nationalsozialisten, hätte das nicht nur gesundheitliche Vorteile, sondern es würden auch finanzielle Einsparungen daraus resultieren.967 Diese Überlegungen waren nicht neu. Schon im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik hatte die Lebensreformbewegung mit einer Mischung aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Vorzügen des Vollkornbrotverzehrs und des Fleischverzichts argumentiert. Für sie war der ökonomische Nutzen aber immer dem gesundheitlichen untergeordnet. Die Einordnung in den nationalsozialistischen Staat bedeutete für die Lebensreform trotz der Nähe einiger Gedanken auch eine Anpassung an seine übergreifende Ideologie und seine Ziele und einen Abschied von allem, was nicht dazu paßte. In den Texten der Reformwarenbranche verschwand nach 1933 schnell alles Überschießende, Schwärmerische, oft auch verflacht Philosophische. Altpeters Buch „Werde Menschenkenner“, in dem es um Naturellehre, Rassen- und Charakterkunde ging, wurde von der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums als schädliches und unerwünschtes Schrifttum verboten.968 Hitler, der nach Victor Klemperers Beobachtung den Ausdruck „körperliche Ertüchtigung“ liebte, stellte das Körperliche in „Mein Kampf“ in den Vordergrund, wenn es um Erziehung ging: „Die Ausbildung des Charakters nimmt für Hitler ausdrücklich nur die zweite Stelle ein […]. An letzter Stelle aber, und nur widerwillig zugelassen und verdächtigt und geschmäht, steht in diesem pädagogischen Programm die Ausbildung des Intellekts und seine Versorgung mit Wissensstoff.“969 966 967 968

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Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1939, S. 53. PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 147f. Brief an die Reichsschrifttumskammer vom 12. Januar 1939 (gez. Reichsamtsleiter Krüger). BArch (ehem. BDC), RK, Altpeter, Werner, 8. August 1902. „Werde Menschenkenner“ war zunächst 1929 unter anderem Titel erschienen. Im April 1933 und 1937 erschien es dann unter diesem Titel, es folgte das Verbot. 1949 und 1966 brachte der Falken-Verlag das Buch in Neuauflagen heraus. In der Ausgabe von 1949 findet sich ein kurzes Kapitel über „Die Rassenfrage“. Das ursprüngliche Kapitel über die „Rassenfrage“ hatte Altpeter den Nationalsozialisten zu streichen angeboten, damit sein Buch wieder erscheinen dürfe. In der Ausgabe von 1949 betont Altpeter die Verschiedenartigkeit der Rassen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der Text im Vergleich zu früheren Ausgaben, die nicht auffindbar sind von „heiklen“ Passagen befreit. In der Ausgabe von 1966 fehlt das Rassenkapitel. Vgl. WERNER ALTPETER, Werde Menschenkenner! Einführung in die Gesichts-, Schädel-, und KörperAusdruckskunde auf Grund der Forschungen von Carl Huter, Carl Gustav Carus, Franz Joseph Gall, E. Ißberner-Haldane u. a. Berlin 1949, S. 60–63; WERNER ALTPETER, Werde Menschenkenner. Menschenkunde für jedermann. Wiesbaden o. J. [1966]. VICTOR KLEMPERER, LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1996 [zuerst 1975], S. 9f.

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Die Reformbewegung mußte sich von allem trennen, was nicht allein den Körper und seine Kräftigung betraf. Charakterkundliche und vor allem eigene rassenkundliche Ideen wie in „Werde Menschenkenner“ gingen über diese der Lebensreform zugedachte Aufgabe hinaus.970 Sie waren zwar nicht „intellektuell“ im engeren Sinne, doch reichte der weltanschauliche Wissensstoff, den sie boten, schon aus, die Partei zu alarmieren. Die Texte der Zeitschriften reihten sich in den nationalsozialistischen Gesundheitsdiskurs ein. Dieser gab zwar vor, zutiefst wissenschaftlich zu sein, war aber in Wahrheit selbst ideologisch durchtränkt. Deshalb duldete er keine andere Weltanschauung neben sich. Der Reformwarenwirtschaft blieb also nichts übrig, als diese Mischung aus Pseudo-Wissenschaftlichkeit und nationalsozialistischer Ideologie zu übernehmen. Seit 1933 gab sich die Neuform-VDR Mühe zu beweisen, „daß das Reformhaus nicht Tummelplatz für unnötige, ausländische Produkte ist, wie von den Gegnern behauptet.“971 So betonte die Genossenschaft, daß sämtliche Feigenbananen, die ihr Frankfurter Lager lieferte, von deutschen Plantagen kämen.972 Solche Hinweise waren zwar nicht völlig neu, und das wiederum weist auf eine gewisse Nähe von so manchem reformerischen Gedankengut zu einigen nationalsozialistischen Ideen hin. Daß die Feigenbananen „ein deutsches Erzeugnis“ seien, weil sie aus „der ehemalig deutschen Kolonie Kamerun“ kamen, hatte die Neuform-Rundschau ihren Lesern auch schon im April 1932 mitgeteilt 973 , und das NeuformVDR-Fachblatt hatte im November 1932 das Roggenvollkornbrot als „deutsches Produkt“ gelobt.974 Im „Dritten Reich“ wurden solche Aussagen dann aber signifikant häufiger und verschärften sich zugleich in Ton und Inhalt. Nichts, was in Deutschland wachse, dürfe ungenutzt bleiben, hieß es seit der Mitte der dreißiger Jahre in den Reformhauszeitschriften, und nur, was unbedingt nötig sei, solle eingeführt werden. Seit 1938 erschien in jeder Ausgabe der Branchenzeitschrift Der Reformwarenfachmann eine Rubrik zum Thema „Verbrauchslenkung im Reformhause“. Sie wies die Reformhausbetreiber an, worauf sie ihre Kundschaft jeweils hinzuweisen hätten: etwa darauf, daß Kartoffeln im März und April besonders schonend zuzubereiten seien, weil es in diesen Monaten an frischen Nahrungsmitteln und Vitamin C mangele, und daß die Kunden möglichst selbst Wildgemüse für den Frischverbrauch sammeln sollten.975 Die Reformwarenwirtschaft war schon Ende 1933 von Sprache, Zeichen und Symbolen des „Dritten Reichs“ durchdrungen. Das zeigen vor allem Kleinigkeiten. Wo bis 1932 meist einfach von Obst und Gemüse die Rede war, ging es jetzt öfter als zuvor um „deutsche Früchte“ und „Schätze aus der deutschen Landwirt970

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Auch der alte Vorstand der 1905 in Berlin gegründeten „Gesellschaft für Rassenhygiene“ war im Juni 1933 zum geschlossenen Rücktritt gezwungen worden, weil er den Nationalsozilisten nicht radikal genug war. Vgl. JÜRGEN REULECKE, Rassenhygiene, in: KERBS/ders. (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 197–210, hier S. 208. Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. September 1933, S. 255. Ebd., S. 260. Neuform-Rundschau, April 1932, S. 72. Neuform-VDR-Fachblatt vom 18. November 1932, S. 217. Der Reformwarenfachmann vom 15. März 1939, S. 61.

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schaft“. In den Rezeptecken der Kundenzeitschrift fanden sich „Deutsche Würzkräuter“ oder eine „Deutsche Bauernspeise“. Funktionäre der Neuform-Genossenschaft unterschrieben mit der Grußformel „Neuform Heil“976 und sprachen seit 1936 von ihrem „Genossenschaftsführer“ und dessen „Gefolgschaft“.977 Das entsprach dem Vokabular des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934, das das Verhältnis der Mitglieder von Wirtschafts- und Verwaltungsbetrieben zueinander „im Sinne von Führung und Gefolgschaft“ regelte.978 Gleichzeitig wehrte sich der Neuform-VDR-Geschäftsführer Alfred Liebe im Januar 1935 dagegen, von „alter“ und „neuer“ Reformbewegung zu sprechen: Das nämlich müsse von den Reformhausbetreibern, die „jahrelang ihre Pflicht getan haben, in den letzten eineinhalb Jahren auch taten und sie auch in Zukunft tun werden“, als „etwas Überhebliches“ angesehen werden.979 Damit verwies Liebe auf die eigene Tradition der Reformhäuser, die er nicht erst 1933 beginnen lassen wollte. Hanns Georg Müller betonte hingegen im September 1934 in der offiziösen Zeitschrift der „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, Leib und Leben: „Die Reformbewegung des Jahres 1934 stellt etwas anderes dar, als diejenige des Jahres 1932. Das ist eine Tatsache, mag sie auch noch nicht jedem einzelnen zum Bewußtsein gelangt sein.“980 Ähnlich hieß es im Jahrbuch der Deutschen Lebensreform von 1938: „Das Wort Lebensreform hat heute einen anderen Inhalt als vor wenigen Jahren.“981 Der in Aussagen wie diesen ausdrücklich, oft aber auch nur implizit vorgetragene Anspruch des Nationalsozialismus auf Anpassung setzte sich in der Lebensreform nicht immer vollständig durch. Auf dem Gebiet der Markenbezeichnungen der Reformprodukte verteidigte die Reformwarenbranche wenigstens teilweise ihre Traditionen. Diese waren insofern in Gefahr, als viele Reformprodukte keine deutschen Namen trugen. Zahlreiche Waren hatten ausländisch, oft griechisch oder lateinisch anmutende Namen wie „Frugella“, „Frugipan“, „Gerstola“, „Granola“, „Kalobion“, „Layadont“, „Makrobion“, „Nussana“, „Nutose“, „Vitam-R“ oder „Vitanova“. Andere trugen Phantasienamen wie „KiKaKana“, was sich aus den Anfangssilben der Inhaltsstoffe des Produkts – Kieselerde, Kalzium, Kalium und Natrium – zusammensetzte, oder „Olbas“, eine latinisierte Zusammenziehung aus „Baseler Öl“ (oleum basileum). Auch wenn die Sprache des „Dritten Reiches“ selbst „von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte“ – Victor Klemperer nennt „Garant“ und „diffamieren“ als Beispiele –wollte diese Buntheit nicht recht zur „Lingua Tertii Imperii“ passen, die Klemperer „bettelarm“ genannt hat: „es ist, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt.“982

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Neuform-VDR-Fachblatt vom 30. Dezember 1933, S. 389. Fachblatt für den Reformwarenfachmann vom 25. Januar 1937, S. 33f. SCHMITZ-BERNING, Vokabular (wie Anm. 361), S. 253. Neuform-VDR-Fachblatt vom 17. Januar 1935, S. 1. Leib und Leben, September 1934, S. 3. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 18; ähnlich auch Neuform-Rundschau, Juli 1936, S. 190. KLEMPERER, LTI (wie Anm. 969), S. 17, 25, 29.

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Auch nach 1933 benannten Hersteller neue Produkte zunächst gemäß der lebensreformerischen Tradition noch oft mit Namen, die sich aus Splittern von Fremdwörtern zusammensetzten. So brachte die Nahrungsmittelfabrik „Weghorn“ im Frühling 1935 „Navisan“ auf den Markt, ein pflanzliches Produkt, das die Drüsen anregen und das Blut reinigen sollte983 , und die Neuform-VDR nahm das Nerven-Tonikum „Tonerva“ des „Natura-Werks“ in ihr Warenprogramm auf.984 Wenig später, im September 1935, druckte das Neuform-VDR-Fachblatt einen Auszug aus der Zeitschrift Muttersprache des „Deutschen Sprachvereins“ ab, der nicht nur „Mischlinge“ wie die Wörter „Lebensreform“ und „Reformhaus“ „unerfreulich“ nannte, sondern auch ausländisch anmutende Warennamen: „Gewiß, die Mehrzahl der Warenbezeichnungen in den Reformgeschäften ist deutsch; aber die fremdsprachlichen, die Kunstwörter und die Mischlinge aus deutsch und fremd nehmen zu. […] Deutsche Namen für deutsche Waren? Altmodisch! ,Neuformer‘ formen neue, ,naturgemäße‘, ,Reformnamen‘. – ,Da wendet sich der Gast mit Grausen. ‘“ In ihrer Replik betonte die Neuform-VDR zunächst, das Schrifttum des Reformhauses halte sich „im Vergleich zu anderen ähnlichen Veröffentlichungen doch verhältnismäßig rein von Fremdwörtern.“ Unter Sprachpflege solle man aber „nicht immer nur die Fremdwort-Freiheit verstehen“, sondern etwa auch, schlechten Stil zu vermeiden. Dann kam die Genossenschaft auf die Reformwaren zu sprechen. Weil das Reichspatentamt keine „offenen deutschen Wörter“ schütze, müsse man „seine Zuflucht nehmen zu fremden Bezeichnungen oder Kunstwörtern. Denn nicht immer läßt sich mit dem Firmennamen allein […] eine genügend schutzfähige Bezeichnung schaffen.“985 Genau diesen Weg gingen einige Hersteller jetzt aber vermehrt: Neuen Produkten, die auf den Markt kamen, gaben sie seit der Mitte der dreißiger Jahre öfter als früher Bezeichnungen, die unmittelbar und auf deutsch bestimmten, worum es sich handelte, und stellten ihnen ihren eigenen Namen voran, etwa „Batscheider Knäckebrot“ oder „PflugHafermehl“. Die Namen etablierter Marken wie der Produktlinie „Granola“ des „De-Vau-Ge-Werks“ oder der „KiKaKana“-Erzeugnisse des Unternehmens Flügge änderten sich aber nicht. Auf den Seiten der Kundenzeitschrift der Reformhäuser tauchten unterdessen immer wieder Themen auf, die vom Gedankengut des Nationalsozialismus angeregt waren. Im Juli 1934 schrieb Werner Altpeter, der Schriftleiter der NeuformRundschau, über „Die Nase als Charaktermerkmal“. Den Artikel begleitete eine Graphik mit verschiedenen Nasentypen: der „Kindesnase“, der „Slawennase“, der „Deutschen Nase“, der „Griechischen Nase“, der „Römernase“ und der „Judennase“. Im Text selbst kam die „Judennase“ nicht vor.986 Im September desselben 983 984 985

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Neuform-VDR-Fachblatt vom 16. Mai 1935, S. 301. Neuform-VDR-Fachblatt vom 15. April 1935, S. 215. Neuform-VDR-Fachblatt vom 21. September 1935, S. 525f. Der Artikel „Reformwaren“ von Paul Hundt erschien in Nr. 5, 1935 der Zeitschrift Muttersprache des „Deutschen Sprachvereins“. Neuform-Rundschau, Juli 1934, S. 159. – Der Aufsatz stammte aus Altpeters Buch „Werde Menschenkenner“, das 1937 verboten wurde. In den zwei späteren Auflagen erschien der

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Jahres fragte, ebenfalls in der Neuform-Rundschau, der Arzt Fritz Künkel: „Paßt Dein Charakter ins Dritte Reich?“ Der nationalsozialistische Staat brauche „wirhafte Menschen“, ließ der Autor die Leser wissen, keine „ichhaften“ wie die „Heimchen“, deren beschauliches Leben aus Bratäpfeln, Limonade und mündelsicheren Renten bestehe, keine von Beifall und Bewunderung abhängigen „Stars“, keine „Tölpel“, die aus Furcht vor Niederlagen von vornherein auf alles verzichteten, und keine herrschsüchtigen „Cäsaren“. Die Frage nach der charakterlichen Eignung für das „Dritte Reich“ heiße also: „Wie weit bist Du noch Heimchen oder Star oder Tölpel oder Cäsar?“987 Weiterhin verwies die Reformbewegung oft auf ihre eigene Leistung im nationalsozialistischen Staat und ihre Wichtigkeit für ihn. So meldete die Neuform-Rundschau im August 1934, die 28. SS-Standarte, Hamburg, sei bei einem Gepäckmarsch von einer Anzahl Reformhäusern verpflegt worden und siegreich gewesen, was klar auf die Reformnahrung zurückzuführen sei.988 In der ersten Hälfte des Jahres 1939 ließ die Reform-Rundschau im Anschluß an ein Preisausschreiben „dankbare“ und „begeisterte Reformhauskunden“ zu Wort kommen. Die erste Preisträgerin aus Berlin, die 100 Reichsmark gewann, lobte ganz unpolitisch die Zutaten zum „Bircher-Müsli“, den „guten trüben Apfelsaft“, Fruchtnußpasten, die „Anregungen durch Druckschriften, die aufklären, raten und helfen“, sowie die „freundlichen Verkäufe[r], die uns gern beraten, und mit denen man seelisch verwächst.“989 Ähnlich lesen sich die meisten anderen abgedruckten Lobeshymnen auf das Reformhaus, deren Verfasser ihm meist ihre Gesundheit zu verdanken glaubten.990 Die Redaktion veröffentlichte aber auch eine Stellungnahme, in der andere Anklänge zu spüren sind: „Wir kennen keine Halbheiten, wir Menschen der neuen Zeit, was wir tun, tun wir ganz und mit der vollen Kraft unseres Willens und unseres Körpers. [...] Wir wissen sehr gut, daß man seinen Körper auch vollwertig ernähren muß, wenn man von ihm alles verlangt! Hier fangen wir an, ein ,Ganzes‘ zu tun, denn hier ist die Wurzel alles Könnens. Und mit dieser Erkenntnis marschieren wir siegessicher auf das Ziel zu, das wir uns gestellt haben: Wir wollen die gesündeste Rasse sein!“991

So schrieb ein Fräulein aus Erfurt, dessen Aussage für viele vergleichbare, oft unreflektierte Passagen in der Kundenzeitschrift stehen kann. Der Schriftleiter Altpeter schrieb ebenfalls kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, dem Fräulein ähnlich: „Alle Lebensreform hat im nationalsozialistischen Staat den Zweck, die Volksgesundheit und damit Wehrfähigkeit, Gebärfähigkeit und Leistungsfähigkeit zu steigern.“992

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Text abermals, in der Graphik fehlte nun allerdings die „Judennase“. Vgl. ALTPETER, Werde Menschenkenner (wie Anm. 968), Ausgabe von 1949, S. 31, Ausgabe von 1966, S. 37. Neuform-Rundschau, September 1934, S. 194f. Neuform-Rundschau, August 1934, S. 191. Reform-Rundschau, Januar 1939, S. 3. Reform-Rundschau, März 1939, S. 56f.; Reform-Rundschau, Juni 1939, S. 130. Reform-Rundschau, Juni 1939, S. 130. ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 5.

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Im März 1941 kam auch der „Nachwuchs des Reformhauses“993 in der Reform-Rundschau zu Wort, und hier sind das deutsche Volk verherrlichende Tendenzen schon deutlicher vorhanden als vor dem Krieg. Als Motivation für ihre Arbeit nannten die Lehrlinge und jungen Angestellten zwischen 14 und 24 Jahren, die sieben Mark für ein veröffentlichtes Foto mit Kurzbeschreibung erhielten oder sogar zwanzig, wenn ihre Einsendung zu den fünf „besten“ gehörte994 , den Dienst an der Gesunderhaltung des deutschen Volkes. Die Aussagen ähneln einander stark. Ein Achtzehnjähriger aus dem bayerischen Kulmbach gab an, es sei eine erstrebenswerte Aufgabe, „mitzutun beim Freiheitskampf unseres Volkes“, ein gleichaltriger Frankfurter war „stolz darauf, an unserem zukunftsreichen Werk mitarbeiten zu können“, und eine junge Frau aus Hannover sah „in meinem Beruf eine große Verpflichtung, schon als Lehrling mitzuarbeiten am Aufbau einer neuen Lebensordnung unseres Volkes.“ Aber auch das hielt sich in gewisser Weise „im Rahmen“. Es entsprach, mit aller Vorsicht gesagt, schlicht dem „Zeitgeist“ im nationalsozialistischen Deutschland. Zugleich kam dieser „Zeitgeist“ den Wünschen und Hoffnungen vieler Vertreter der Reformwarenwirtschaft durchaus entgegen. Vor der Machtübernahme hatte die Branche einen Umbruch, eine „neue Zeit“ ersehnt und erwartet. Schon 1926 hatte sich die damalige Kundenzeitschrift Das Reformhaus über mangelnde „Führung“ im „Staatskörper“ und über die „Schwerfälligkeit“ beklagt, an der die „demokratische Staatsverwaltung“ kranke.995 Reformer wie Anfang des Jahres 1932 Hans Gregor empfanden die Welt als „Chaos“, sahen ein „Ringen um Ordnung und Gestaltung“ vor sich gehen. Sie glaubten aber zugleich schon zu spüren, daß sich in der „zusammenbrechenden Zivilisation“ und dem „Ungeist einer versinkenden Epoche“ etwas Neues ankündigte, daß das „mechanistisch-technische Zeitalter“ allmählich einem „neuen Zeitgeiste“ wich. Diese Empfindung nannte Gregor die „biologische Welle“, von der viele schon erfaßt seien und die sich, da war sich der Lebensreformer sicher, bald vollständig durchsetzen werde.996 Die Lebensreformer glaubten das Neue seit etwa 1932 ganz nah, der Umbruch schien sich nun gewaltiger zu vollziehen als noch Ende der zwanziger Jahre, als nur die „Stillen im Lande“ die „neue Zeit“ schon wahrzunehmen imstande waren, und erst recht als zur Zeit der Jahrhundertwende, als man die andere, gesündere Zukunft in das utopische Jahr 2000 zu projizieren pflegte.997 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten modelte die Reformbewegung den Umbruch dann in die „große deutsche Revolution“ um, die laut Hans Gregor, der 1932 von der „biologischen Welle“ geschrieben hatte, nichts anderes war „als der Aufbruch zum Lebensgesetz.“998 Dem neuen Staat entspreche ein neuer Mensch, der „außer 993 994 995 996 997 998

Reform-Rundschau, März 1941, S. 36f. Aufruf des Verlags der Reform-Rundschau, Schwabe & Co., an alle Lehrlinge und Mitarbeiter im Reformhaus, in: Der Reformwarenfachmann vom 15. Januar 1941, S. 13. Das Reformhaus, September 1926, S. 7. Neuform-Rundschau, Januar 1932, S. 2. Zu den „Stillen im Lande“ und der „neuen Zeit“ vgl. S. 195f., zu den Zukunftsutopien der Jahrhundertwende S. 182ff. Neuform-Rundschau, Juni 1933, S. 122f., 128.

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der neuen Gesinnung eine erneuerte Leiblichkeit“ brauche. Die seit der Jahrhundertwende erwartete Erneuerung sah man dankbar im neuen politischen System, in der nationalsozialistischen Bewegung gekommen: „Laßt der politischen auch die eigene innere Wiedergeburt folgen! Man kann nicht privat seinen alten Trott weiterleben, wenn draußen alles zum Umbruch drängt.“999 3.2.3.2. Ambivalenz: Vegetarismus Gegen Ende der Weimarer Republik erwarteten die Vegetarier im Vergleich mit den Vertretern der Reformwarenwirtschaft weniger eine „neue Zeit“ als einen „Führer“. Seit dem Jahr 1930 zeichnete sich in der Vegetarischen Warte und in der Vegetarischen Presse ein starker Personenkult ab. Immer wieder erschienen in den Zeitschriften biographische Skizzen von Vegetariern oder von Menschen, die man für den Vegetarismus vereinnahmte. Im Jahr 1930 schmückte sich die Vegetarische Warte in jeder Ausgabe mit Abbildungen berühmter vermeintlicher oder tatsächlicher Vegetarier: Dem Leser leuchteten die Antlitze Tolstois, Shelleys, Lord Byrons und Voltaires entgegen, meist von kurzen Auszügen aus ihren Werken begleitet. Auch 1931 prangte auf der ersten Seite eines jeden Heftes das Porträt eines „großen“ Vegetariers oder Lebensreformers. Dort erschienen Vertreter des Vegetarismus und der Naturheilkunde des 19. Jahrhunderts wie Richard Nagel, August Aderholdt, Gustav Schlickeysen und Theodor Hahn, weiterhin die Frau des Vegetariers und Revolutionärs von 1848 Gustav Struve, Amalie, und Arthur Schopenhauer. Im Jahrgang 1932 sollten die zwölf Hefte die „Patenschaft der auserlesensten vegetarischen Geister des Altertums“1000 erhalten. Am Anfang einer jeden Ausgabe stand ein Bild eines solchen antiken „Profeten“. Auf Pythagoras im Januar folgten im Februar Sokrates und Plato im März, den Kreis schlossen, nicht mehr im engeren Sinne antik, Augustinus, Hieronymus und Buddha in den letzten drei Heften des Jahrgangs. Sie waren die zugleich die letzten der Vegetarischen Warte.1001 Man kann diesen Personenkult durchaus als Führerkult1002 deuten, wie ihn in der „geistigen Situation der Zeit“ viele Gruppen pflegten.1003 Die Vegetarische Presse versah ihre regelmäßig erscheinenden und von Abbildungen begleiteten biographischen Texte sogar ausdrücklich mit der Überschrift „Führer“. In einen 999 Neuform-Rundschau, Februar 1934, S. 26. 1000 Vegetarische Warte, Januar 1932, S. 2. 1001 Der „Deutsche Vegetarier-Bund“ bestand noch einige Zeit ohne Bundeszeitschrift weiter. Vgl. oben S. 76. 1002 Das Wort des Führertums spielte in zahlreichen Reformbewegungen der Weimarer Republik eine herausragende Rolle, vor allem aber in der Jugendbewegung. Vgl. PETER SCHRÖDER, Die Leitbegriffe der deutschen Jugendbewegung in der Weimarer Republik. Eine ideengeschichtliche Studie. (= Geschichte der Jugend, Bd. 22.) Münster 1996, S. 59–67, bes. S. 65: Führer als „Kristallisationspunkt und Inkarnation des Bundes“. Vgl. auch HANS BLÜHER, Führer und Volk in der Jugendbewegung. Jena 1917. 1003 Zur Bedeutung des Führertums in der „Herrschaft der Masse im Apparat“ vgl. KARL JASPERS, Die geistige Situation der Zeit. 4. Aufl. Leipzig 1932 [zuerst 1931], S. 62–65.

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Artikel mit der Überschrift „Die ersten Aufgaben des Führers“ beschäftigte sich die Vegetarische Warte im Jahr 1931 auch explizit mit der Sehnsucht nach Führern oder einem Führer, die „heute mehr denn je durch unser Volk“ gehe: Lange schon, so hieß es dort, seien die Leser daran gewöhnt, „auf der ersten Seite des Heftes das Bild eines Menschen zu schauen, der zu den wahren Führern auf dem Wege zu edlerem Menschentum gehörte.“1004 Die Zeitschrift fuhr fort: „Man stelle sich vor, es käme heute ein wirklicher Führer an die Spitze unseres Staates, ein Mann mit krystallklarem Blick für die Lebensbelange seines Volkes und ein Mann von stahlharter Willenskraft.“ Im folgenden erörterte der Text die Hauptaufgaben, die dieser Mann zu lösen hätte. Zu ihnen zählte der Autor vor allem die Abschaffung der Tierwirtschaft und die daraus folgende Umstellung der Landwirtschaft. Sie nahmen den größten Teil des Artikels in Anspruch. Der letzte Absatz erwähnte dann als „zweite Hauptaufgabe des Führers“ noch die „Lösung der Bodenfrage im Sinne eines Damaschke“1005, also mittels der Wahrung privaten Bodeneigentums bei Besteuerung des Wertzuwachses zugunsten der Allgemeinheit.1006 Den Führer, der zwei Jahre später die Macht im Deutschen Reich übernahm, begrüßte die Bewegung, auch weil er selbst Vegetarier war, zunächst entsprechend freudig. Ähnlich wie die Reformwarenbranche die lange ersehnte „neue Zeit“ im nationalsozialistischen Staat zu erblicken glaubte, so sahen die Vegetarier ihren erwarteten Führer in Adolf Hitler gekommen. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, so meldete die Vegetarische Presse schon im Februar 1933 in absurder Selbstüberschätzung, sei der „bisher größte Außenerfolg der vegetarischen Bewegung.“1007 Weil ein Professor aus Blankenese die Nachricht, Hitler esse kein Fleisch, als „zu schön, als daß sie wahr sein konnte“, empfand, hatte er angeblich schon einige Jahre vor dem Oktober 1933, als sein Artikel in der Vegetarierzeitschrift Lebenskunst erschien, einen Brief an die Münchner „HitlerKanzlei“ geschrieben. Zu seiner großen Freude habe diese ihm mitgeteilt: „Jawohl, Herr Hitler ist seit einem Jahre Vegetarier und macht keine Ausnahmen.“ Damit verband sich für den Autoren die Hoffnung, „daß von der Regierung des neuen Reiches (auch die anderen Führer, Dr. Goebbels z.B., werden wohl mehr oder weniger in das vegetarische Fahrwasser, in dem unser guter Volkskanzler sich offenbar sehr wohl fühlt und vollste Leistungsfähigkeit zum Heil und Segen des Vaterlandes entfaltet, mit hineingerissen werden) auch in den so überaus wichtigen Ernährungsfragen viel Gutes, ja, das Allerbeste zu erwarten ist.“1008

Hitler hatte offenbar 1931 tatsächlich weitgehend aufgehört, Fleisch zu essen.1009 Daß er keine Ausnahmen machte, bestritt im Jahr 2002 seine frühere Sekretärin 1004 Die ersten Aufgaben des Führers, in: Vegetarische Warte, Oktober 1931, S. 238–240, hier wie auch das folgende Zitat S. 238. 1005 Ebd., S. 240. 1006 Mit diesem Konzept unterschied sich Adolf Damaschke (1865–1935) von radikaleren Bodenreformern, die den Boden verstaatlichen wollten. 1007 Vegetarische Presse, Februar 1933, S. 13. 1008 Die Lebenskunst, Oktober 1933, S. 196. 1009 PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 158.

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Traudel Junge in einem Dokumentarfilm.1010 Auch historische Studien gehen davon aus, daß Hitler ab und zu ein Fleischgericht aß, so soll er bayerische Leberknödel und Wildtäubchen gemocht haben. 1011 Schon vor 1933 nutzten die Nationalsozialisten Hitlers Vegetarismus, indem sie den persönlichen Asketismus ihres „Führers“ als Modell für einen reinen, nationalsozialistischen Lebensstil hochhielten. Dazu gehörten auch Hitlers Alkohol- und Nikotinabstinenz. Ein um 1932 erschienener Bildband von Heinrich Hoffmann und Baldur von Schirach mit dem Titel „Hitler wie ihn keiner kennt“ behauptete, „marxistische Lügner“ täuschten „den Arbeitern“ vor, Hitler feiere Gelage bei Sekt und schönen Frauen. „In Wirklichkeit trinkt Hitler nie einen Tropfen Alkohol! (Hitler ist auch Nichtraucher)“.1012 Der Zivilbeamte Henry Picker schließlich notierte am 20. April 1942, Hitlers 53. Geburtstag, im Führerhauptquartier: „Der Tag steht im Zeichen des Chef-Geburtstags. […] Es gibt heute Koteletts, Rotkohl, Kartoffeln und Sauce, hinterher Obstsalat. Dazu für die Begleitmannschaften und so fort überall den gleichen Wein (Piesporter Goldtröpfchen) und eine Tasse Bohnenkaffee zu Mittag. Zum Abendessen: Bratkartoffeln mit Schinken und Spargelsalat. Herrlich für alle außer für Hitler, der ja weder Fleisch noch Wein anrührt.“ 1013

Warum sich Hitler des Fleisches enthielt, ist nicht ganz eindeutig. Die historische Forschung hat als Grund dafür unter anderem den Einfluß des Vegetariers Richard Wagner, die Tierliebe des „Führers“, seine Verdauungsprobleme oder einfach den Wunsch nach mehr Gesundheit und Kraft angeführt.1014 Möglich wäre weiterhin, Hitlers Vegetarismus schlicht im Purismus des Reinlichkeitsfanatikers und Zwangsneurotikers zu sehen, der sich, wie Picker berichtet, im „Führerhauptquartier“ oft mehrmals am Tag duschte und seine Leibwäsche wechselte, sich vor jedem Essen und vor jeder Besprechung mit „Odol“-Mundwasser den Mund spülte und sich „x-mal am Tag“ die Hände wusch. 1015 Wie auch immer: Einige Vegetarier begrüßten 1933 in dem neuen Reichskanzler so überschwenglich wie opportunistisch einen „Gesinnungsgenossen“. Trotzdem wurden die vegetarischen Vereine nach 1933 gleichgeschaltet und innerhalb der neu geschaffenen „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“ in eine Randexistenz oder in die Selbstauflösung gedrängt. Die Nationalsozialisten, die mit der Gleichschaltung der Lebensreform betraut waren, betrachteten die Vegetarier aufgrund ihrer angeblich pazifistischen Haltung und ihres angeblich ungepflegten, urwüchsigen Aussehens mit Argwohn.1016 Hitlers persönlicher 1010 Vgl. den Film von André Heller und Othmar Schniderer: Im toten Winkel. Hitlers Sekretärin. Österreich 2002. 1011 PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 158. 1012 HEINRICH HOFFMANN/BALDUR VON SCHIRACH (Hrsg.), Hitler wie ihn keiner kennt. 100 Bild-Dokumente aus dem Leben des Führers. Berlin o. J. [um 1932], S. 69. 1013 HENRY PICKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. 2. Aufl. Stuttgart 1981 [zuerst 1979], S. 228. 1014 Überblick und Nachweise bei PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 158–160. 1015 PICKER, Tischgespräche (wie Anm. 1013), S. 25. 1016 Zum Vegetarier-Bild der Nationalsozialisten vgl. oben S. 77. – Tatsächlich hatten sich die Vegetarier nach dem Ersten Weltkrieg Zulauf aus pazifistischen Kreisen erhofft (vgl.

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Vegetarismus änderte auch nichts daran, daß jene Nationalsozialisten, die mit volksgesundheitlichen Aufgaben befaßt waren, die fleischfreie Ernährung als einseitig und übertrieben empfanden. Hitler sagte im April 1942 zu Goebbels, er wolle bis nach dem Krieg warten, um das Thema Vegetarismus anzugehen. Weiterhin meinte er, der Nationalsozialismus hätte in Deutschland nie triumphieren können, hätte er, Hitler, darauf bestanden, jeglichen Fleischkonsum zu verbieten.1017 Ein konsequenter Vegetarismus widersprach wohl auch dem Ganzheitskult vieler Nationalsozialisten.1018 In den 1935 veröffentlichten „Richtlinien für Ernährung“ der im August 1933 gegründeten „Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung“, die für Propagierung der nationalsozialistischen Ernährungspolitik und Ernährungslehre im Volk und für Verbrauchslenkung zuständig war1019, hieß es: „Die rein vegetarische Ernährung […] wird nicht propagiert. Wenn einzelne Personen aus besonderen Gründen sich vegetarisch ernähren wollen, so sind hiergegen keine Bedenken geltend zu machen.“ Ähnlich erkannten die Richtlinien die Rohkost zwar als „Zukost“ an, als ausschließliche Nahrungsquelle sei sie aber nur auf ärztliches Anraten zu empfehlen.1020 Dementsprechend urteilte auch ein Lehrbuch über „neuzeitliche Ernährung“ von 1939, für Kuren seien vegetarische Speisen und Rohkost zwar sinnvoll, als längerfristige Ernährungsweisen hingegen nicht: „Als Volksernährung können Rohkost und vegetarische Ernährung unter keinen Umständen anerkannt werden. Sie sind in diesem Sinne als Modeströmungen scharf abzulehnen.“1021 Das entsprach inzwischen auch der Auffassung der angepaßten Reformwarenwirtschaft, die in der Weimarer Republik fleischarme und fleischlose Kost noch gleichermaßen akzeptiert und die Wahl zwischen beiden weitgehend dem einzelnen überlassen hatte. Die Branchenzeitschrift Der Reformwarenfachmann schrieb demgegenüber 1939, zwar stehe eine starke Reduzierung des Fleischverbrauchs auf dem Programm der Ernährungsreform, eine vollkommen fleischlose Ernährung komme aber aus volkswirtschaftlichen Erwägungen nicht in Betracht. Zudem sei die Schädlichkeit eines geringen Fleischverzehrs „weder durch die Erfahrung noch durch wissenschaftliche Betrachtungen“ nachweisbar: „Das Reformhaus von heute lehnt es also in der gewissenhaften Verfolgung der neuen Ernährungslehren und -Richtlinien ab, für einen reinen Vegetarismus, als allgemeine Ernährungsform gesunder Menschen einzutreten.“ Diesen Standpunkt ver-

1017 1018 1019 1020 1021

S. 206), im Krieg selbst allerdings waren sie noch äußerst kämpferisch aufgetreten (vgl. S. 188). Das weist auf eine eher opportunistische Neigung zum Pazifismus hin als auf tiefe Überzeugung. PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 161. Ähnlich KRABBE, „Die Weltanschauung“ (wie Anm. 47), S. 440. Zum Konzept der Ganzheit im Nationalsozialismus unten S. 284. Zur „Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung“ und ihren Aufgaben MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 150, 162–173. Reichs-Gesundheits-Blatt 1935, S. 729. Zit. nach Leib und Leben, September 1935, S. 276. FERDINAND BERTRAM, Die Grundlagen der neuzeitlichen Ernährung des deutschen Menschen. Ein Leitfaden für Studierende und Ärzte. Leipzig 1939, S. 82.

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trete das Reformhaus seit Ende der zwanziger Jahre. Die „in den Reihen der Reformhäuser“ stattfindenden „Kämpfe der Jahre 1927 bis 1929 um die fleischlose oder die fleischarme Ernährung“ hätten zu einem Sieg und einer allgemeinen Anerkennung der fleischarmen Kost geführt.1022 Werner Altpeter schließlich schrieb 1939, die Frage „Was ist Lebensreform?“ erörternd: „Die heutige Lebensreform steht auf dem Standpunkt, daß die niederen Reiche den höheren zu dienen haben, wobei in maßvoller Weise auch das Tierreich einbezogen wird.“1023 3.2.3.3. Amalgamierung: Naturheilbewegung Wie die Organisationen der Reformwarenwirtschaft, so fand auch der Naturheilbund einige seiner Ziele in der nationalsozialistischen Ideologie wieder. Im Mai 1933 veröffentlichte er eine Erklärung, in der er sich zur „Mitarbeit an den Aufgaben der nationalen Regierung“ bereiterklärte.1024 Im Juni druckte er Abschnitte aus Hitlers „Mein Kampf“ über die „körperliche Ertüchtigung im völkischen Staat“ und das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ ab.1025 „Seit der Machtübernahme durch den Führer hat die Gesundheitsführung des nationalsozialistischen Reiches ihre gesetzgeberische Aufbauarbeit Problemen zugewandt, um die unser Bund lange gerungen hat.“1026 Die nationalsozialistische Jugenderziehung, den Arbeitsdienst, die Mütterschulung durch die „NS-Frauenschaft“, die „Betreuung von Mutter und Kind“ durch die NSV und die nationalsozialistischen „Richtlinien für eine vernünftige Ernährung und gegen den Mißbrauch der Genußmittel“ sah man als Bestätigung der eigenen Anschauungen: „Sind doch diese Arbeiten darauf gerichtet, Kraft und Gesundheit unseres Volkes durch enge Verbindung mit der Natur zu sichern.“1027 Der „Deutsche Volksheilbund“, unter dem 1941 alle heilkundlichen und lebensreformerischen Vereinigungen zusammengefaßt wurden, war dem Nationalsozialismus dann völlig ergeben. Sein Leiter Karl-Heinrich Franke prangerte 1943 mit Blick auf die Weimarer Republik eine „Vernachlässigung der naturgemäßen Heilweise als Folge des mechanistischen Denkens eines liberalen Zeitalters“ an. Im Volk hingegen habe sich noch ein „einfaches, natürliches, lebensgesetzliches Denken“ erhalten. „Die Weltschau Adolf Hitlers eröffnete dem Volke aber erst im vollen Umfange wieder den Blick für die großen das Schicksal der Völker und Einzelmenschen bestimmenden Lebensgesetze.“1028 Solche Auffassungen teilten nicht nur die Vertreter der anderen Laienverbände der Volks- und Naturheilbewegung, sondern auch die meisten Naturärzte, 1022 1023 1024 1025

Der Reformwarenfachmann vom 15. Mai 1939, S. 118f. ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 12. Der Naturarzt, Mai 1933, S. 115. Der Naturarzt, Juni, 1933, S. 141f. KLEMPERER, LTI (wie Anm. 969), S. 9, beobachtet mit Blick auf „Hitlers Kampfbuch“, daß Hitler den „Ausdruck ,körperliche Ertüchtigung’, den er dem Lexikon der Weimarer Konservativen entnommen hat“, „liebt“. 1026 Der Naturarzt, Januar 1939, S. 2. 1027 Ebd., S. 2f. 1028 Volk und Gesundheit, Oktober–Dezember 1943, S. 74.

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die sich von der „Neuen deutschen Heilkunde“ eine Aufwertung der in der Weimarer Republik wenig beachteten und 1927 mit dem „Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ zusätzlich geschwächten Naturheilkunde versprachen.1029 Die Hoffnung, im Nationalsozialismus werde alles besser werden, hegten aber nicht alle Vertreter des Fachs. Die Gedanken des Naturarztes Friedrich Wolf (1888–1953) etwa, der seit 1912 in sozialistischen Vereinigungen tätig war, unterschieden sich grundsätzlich von denen der nationalsozialistischen Ärzte und Naturärzte. Besonders Wolfs These, es gebe ein Recht auf Gesundheit, das der einzelne vom Staat einfordern könne, paßte nicht recht zur nationalsozialistischen Ideologie, die stärker die „Pflicht zur Gesundheit“ betonte, die der einzelne gegenüber dem Staat zu erfüllen habe.1030 3.2.4. Der menschliche Körper Zwar spielte der menschliche Körper in allen drei Phasen der Lebensreform eine wichtige Rolle. Zur Zeit des vitaleren Lebens aber gewann er eine besondere Bedeutung. Der Körper stand deutlicher sichtbar im Zentrum des lebensreformerischen Interesses als zur Zeit des anderen und des ökologischeren Lebens und war auch öfter selbst Reflexionsgegenstand. Die Zeit des vitaleren Lebens war die Zeit der „inneren Natur“, also der Natur, die der Mensch selbst verkörperte. 3.2.4.1. Zur „Körpergeschichte“ Ob der Körper eine Geschichte habe, ist in historischen Studien inzwischen zu einer rhetorischen Frage geworden1031, die zwar noch immer regelmäßig und mit vielen Verweisen auf die Forschungslage erörtert wird, an deren Antwort aber kaum mehr ein Zweifel besteht, wohl seit dem Aufkommen des „Körperthemas“ in der Geschichtswissenschaft nie ein ernsthafter Zweifel bestanden hat: ja, der Körper hat eine Geschichte, diese nennt sich Körpergeschichte und ist methodisch meist Diskursgeschichte – „hinter die auf den Werken Foucaults basierende Ein1029 Vgl. Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1927, Teil I, S. 61–64. In § 7 heißt es wörtlich: „Die Behandlung von Geschlechtskrankheiten und Krankheiten oder Leiden der Geschlechtsorgane ist nur den für das Deutsche Reich approbierten Ärzten gestattet. Verboten ist, solche Krankheiten anders als auf Grund eigener Wahrnehmung zu behandeln (Fernbehandlung) oder in Vorträgen, Schriften, Abbildungen oder Darstellungen Ratschläge für die Selbstbehandlung zu erteilen.“ – Nichtapprobierte Krankenbehandler fühlten sich von dem Gesetz bei der Heilung von Geschlechtskranken eingeschränkt und begriffen es als Eingriff in die Kurierfreiheit. Vgl. Der Naturarzt, Mai 1927, S. 124. 1030 SIEVERT, Naturheilkunde (wie Anm. 272), S. 211–225. Nach der Machtübernahme emigrierte Wolf nach Österreich, dann lebte er kurzzeitig in der Schweiz, in Frankreich, Moskau und Spanien, 1939 wurde er in Südfrankreich verhaftet. Nach drei Jahren Haft entkam er der Auslieferung nach Deutschland durch eine Ausreisemöglichkeit in die Sowjetunion. Später lebte er in der DDR. – Zur „Pflicht zur Gesundheit“ unten S. 246f. 1031 Die etwa SARASIN an den Beginn seiner „Geschichte des Körpers“ stellt: Vgl. SARASIN, Reizbare Maschinen (wie Anm. 50), S. 11: „Hat der Körper eine Geschichte?“

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sicht der diskursiven Konstruktion von Körperlichkeit führt kein Weg zurück“1032 – oder Geschlechtergeschichte, was Vertreter anderer Ansätze1033 wiederum beklagen. Im Anschluß an Foucault soll Körpergeschichte meist als „Genealogie“ betrieben werden, die „den Ereignissen dort auflauer[t], wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen – in den Gefühlen, der Liebe, dem Gewissen, den Instinkten“. 1034 Diese Forderung erweist sich inzwischen durch ihren Erfolg als nahezu banalisiert, besteht doch mittlerweile eine regelrechte Tendenz dazu, die Geschichte gerade im „Unterirdischen“1035 zu erwarten und zu suchen. Dazu paßt, daß die Körpergeschichte, ein Anfang der neunziger Jahre in der deutschen Geschichtswissenschaft noch weitgehend unbekannter Begriff1036, seit einigen Jahren auch in Deutschland en vogue ist. Körperhistoriker betrachten den Körper nicht als eine der historischen Entwicklung entzogene Universalie, sondern als eine Kategorie, die „kontextgebunden variable Bedeutungen für unterschiedliche Prozesse“ annehmen kann1037, die „durch Weltdeutungsmuster und soziale Interaktion schon immer entscheidend mitbestimmt“1038 war. Üblicherweise geht die Forschung davon aus, daß sich kulturelle Werte in Körper „einschreiben“.1039 Schon Nietzsche, so ist zu lesen, habe „den Körper gleichsam als eine Wachstafel gedacht, in die sich die Geschichte einschreibe“.1040 Als früher Bürge für die Historizität des Körpers und die Legitimität einer Geschichte des Körpers wird neben Nietzsche auch Marc Bloch genannt, der 1949 in seiner „Apologie der Geschichte“ feststellte: „Wir haben gelernt, daß sich auch der Mensch stark verändert hat, und zwar sowohl mental als 1032 UTE PLANERT, Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft, H. 4, 2000, S. 539–576, hier S. 541. 1033 CAROLINE BYNUM, Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie, H. 1, 1996, S. 1–33, hier S. 32, meint etwa, „daß moderne Auseinandersetzungen mit Person und Körper sich in letzter Zeit vielleicht zu sehr auf die Themen von Geschlechterrolle und Sexualität konzentriert haben“. 1034 MICHEL FOUCAULT, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main 1993 [zuerst München 1974, franz. 1971], S. 69–90, hier S. 69. 1035 Zur „unterirdischen Geschichte“ MAX HORKHEIMER/THEODOR W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, S. 276. 1036 Vgl. MAREN LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000, S. 9. 1037 Einleitung, in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hrsg.), Körper macht Geschichte – Geschichte macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte. Bielefeld 1999, S. 8f. 1038 TILMANN WALTER, Medikalisierung, Körperlichkeit und Emotionen: Prolegomena zu einer neuen Geschichte des Körpers, in: Journal für Psychologie 8, H. 2, 2000, S. 25–49, hier S. 31. 1039 Zu diesen „Körperschriften“ ALEIDA ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 241–248. 1040 PHILIPP SARASIN, Mapping the Body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Historische Anthropologie, H. 3, 1999, S. 437–451, hier S. 440. Vgl. auch ASSMANN, Erinnerungsräume (wie Anm. 1039), S. 244–248.

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auch in den subtilsten Mechanismen seines Körpers. Wie könnte es anders sein? Seine mentale Atmosphäre hat einen grundlegenden Wandel erfahren, seine Hygiene und Ernährungsweise nicht minder. Dennoch muß es in der menschlichen Natur und den menschlichen Gesellschaften einen durchgängigen Grundbestand geben.“1041 Die meisten Autoren sehen den Körper nicht nur als Leibhülle des einzelnen. Die Historisierung des Körpers bedeute vielmehr auch eine Historisierung „der pluralen Körper in der Geschichte der Menschheit“.1042 In diesen Zusammenhang gehören Ideen wie die vom „Volkskörper“ und von der Gesellschaft als Organismus. Zugleich gibt es die Vorstellung, jeder einzelne, individuelle Körper bündele andere, historische Körpererfahrungen und sei damit überindividuell. In diesem Sinne stellte Roland Barthes, selbst von Tuberkulose geheilt, beim Lesen des „Zauberbergs“ von Thomas Mann fest, daß sich seine eigene überstandene Krankheit mit der Hans Castorps vermischte: „Je me suis alors aperçu avec stupéfaction (seules les évidences peuvent stupéfier) que mon propre corps était historique. En un sens, mon corps est contemporain de Hans Castorp […], mon corps, qui n’était pas encore né avait déjà vingt ans en 1907, année où Hans pénétra et s’installa dans ,le pays d’en haut’, mon corps est bien plus vieux que moi, comme si nous gardions toujours l’âge des peurs sociales auxquelles, par le hasard de la vie, nous avons touché. Si donc je veux vivre, je dois oublier que mon corps est historique, je dois me jeter dans l’illusion que je suis contemporain des jeunes corps présents, et non de mon propre corps, passé.”1043

Das eigene körperliche Erleben hat hier also eine Geschichte, die älter ist als der Körper selbst. Insofern sind bestimmte Ereignisse schon in den Körper eingeschrieben, obwohl sie dem Erleben selbst zeitlich vorgelagert sind. Nicht nur individuelle und kollektive Erfahrungen prägen den Körper des Individuums, sondern auch jemals Gedachtes, sofern es mit Hilfe eines Textes zum Subjekt vordringt. Zugleich zeigt das Beispiel, daß Körper als etwas Zeitloses, Überzeitliches aufgefaßt werden können, daß es Barthes nicht schwerfiel, seinen Körper ins Jahr 1907 und nach Davos zu versetzen – seine évidence und stupéfaction kommen so der aus Filmen und Comics bekannten Bewegungsform des Beamens gleich, bei der Körper Orte ohne räumliche Bewegung und ohne Zeitdifferenz wechseln können. Insofern waren die Körper anderer Zeiten sowohl andere als die heutigen, weil sich andere kulturelle Werte in sie eingeschrieben haben, als auch die gleichen, weil bestimmte Körpererlebnisse unabhängig von der jeweiligen Kultur sind. Das verweist auf den Topos, daß der Mensch zugleich ein Körper sei und einen Körper habe, daß sich also ein gewisser Teil des Körpers der Reflexion deswegen entziehe, weil er als unverrückbar Eigenes gedanklich letztlich nicht zugänglich sei. 1041 BLOCH, Apologie (wie Anm. 666), S. 49. Auf Bloch beruft sich etwa SARASIN, Reizbare Maschinen (wie Anm. 50), S. 12; vgl. auch ders., Mapping the Body (wie Anm. 1040), S. 440f. 1042 LORENZ, Leibhaftige Vergangenheit (wie Anm. 1036), S. 10. 1043 ROLAND BARTHES, Leçon. Leçon inaugurale de la chaire de sémiologie littéraire du Collège de France, prononcée le 7 janvier 1977. Paris 1978, S. 44f.

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In die nachfolgende Untersuchung der Körpervorstellungen der Lebensreformer fließen einige Elemente dieser „Körperdebatte“ ein, insbesondere das „Einschreiben“ von Kultur in Körper, die Überindividualität von Körpern und die von Foucault so genannte Sorge um sich.1044 Die Methode der folgenden Abschnitte ist eine im engen Wortsinn diskursanalytische: Sie analysiert Körperdiskurse der Reform- und Gesundheitsschriften der zwanziger bis vierziger Jahre. Dabei geht es nicht um historische Körper, sondern um historische Körperkonstrukte, um ideale Körper in der Vorstellungswelt einer bestimmten und eng umrissenen Gruppe von Menschen, nämlich der Autoren von Reformhauszeitschriften des Zeitraums von 1925 bis 1945. Insofern ist für den hier untersuchten Kontext auch nicht, wie mitunter in anderem Zusammenhang geschehen, zu beklagen, der Körper scheine sich „in Sprache aufzulösen“.1045 Denn die Körper, um die es in den nächsten beiden Abschnitten gehen wird, sind ohnehin nichts als Sprache und waren auch nie etwas anderes. Inwieweit historische Subjekte versuchten, ihre eigenen historischen, körperlichen Körper diesen sprachlich codierten KörperSchnittmustern anzupassen oder wenigstens anzunähern, und inwieweit sie sich selbst als Teile eines zu schaffenden gesunden „Volkskörpers“ sahen, ist hingegen kaum mehr nachzuvollziehen. 3.2.4.2. Die Entdeckung des Körpers um 1900 Am 17. Februar 1917 sprach der Sozialdemokrat Konrad Haenisch in einer Rede über Bevölkerungspolitik und Sozialreform vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus vom menschlichen Körper. „Brockhaus’ Konversationslexikon“ von 1903 handelte dieses Thema zwischen kurzen physikalischen, geometrischen und zahlentheoretischen Definitionen hinter der Spitzmarke „Körper“ knapp mit der Aussage ab, man unterscheide zwischen organisierten Körpern, „die einen gesetzmäßigen Stoffwechsel haben und sich fortpflanzen“, und unorganisierten, „die als eine bloße Anhäufung kleinster Teile (Moleküle, Atome) derselben anzusehen sind“ 1046 – von Körperpflege, Körperkultur und Körperhygiene keine Spur. Dazu paßt Haenischs Bemerkung, es sei gar kein Zweifel, „daß die allermeisten Menschen heute von ihrem Körper, von seinen Organen, von den Funktionen der Organe und dem, was dem Körper frommt und nicht frommt, gar keine Ahnung haben.“ Für den preußischen Abgeordneten folgte daraus die Notwendigkeit der Volksaufklärung über gesundheitliche Fragen: „Ich verlange daher die Einführung eines praktischen und theoretischen Gesundheitsunterrichtes nicht nur in den hö-

1044 Vgl. MICHEL FOUCAULT , Die Sorge um sich (= Sexualität und Wahrheit 3). 2. Aufl. Frankfurt am Main 1991 [zuerst 1989, franz. 1984]. 1045 So bei BYNUM, Warum das ganze Theater (wie Anm. 1033), S. 1 u. 4. 1046 Vgl. Brockhaus’ Konversations-Lexikon (wie Anm. 811), S. 634f. Den Begriff „Leib“ definiert das Nachschlagewerk nicht. Allerdings verweist es unter „Leibeserziehung“ auf „Gymnastik und Turnen“.

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heren Schulen, sondern auch in den Volksschulen.“1047 Das werde eine der wichtigsten Aufgaben nach dem Kriege sein. Haenisch sah also einen Mangel hinsichtlich des Körperbewußtseins der Deutschen und ihres Wissens über Körperpflege, der sich im fast völligen Fehlen des „Körperlichen“ in einem der wichtigsten deutschen Lexika der Jahrhundertwende widerspiegelt. „Wir leben im Jahrhundert der Körperkultur“, schrieb demgegenüber die Berliner Illustrirte Zeitung 1917, also im selben Jahr, in dem Haenisch seine Rede hielt. „[H]eutzutage, da auch in den einfacheren Wohnungen Badezimmer sind, und ständige Warmwasserversorgung durchaus kein unerschwinglicher Luxus mehr ist, ist die Reinlichkeit ganz selbstverständlich geworden. Wir sind durch öffentliche Badeeinrichtungen usw. so verwöhnt worden, daß wir die Kultur unseres Körpers als etwas Alltägliches hinnehmen, wie etwa das Kämmen unserer Haare.“1048 Wie paßt das zusammen? Die wilhelminische Epoche zwischen den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und 1918 war eine Umbruchszeit, in der in verschiedenen Kontexten unterschiedlich intensiv und laut über Körperliches nachgedacht wurde. Wer über die Jahrhundertwende schreibt, so hat es Georg Kamphausen formuliert, kommt nicht umhin einzugestehen, „daß sich hier nichts zu einem einheitlichen Bild fügt“, und „das Gewirr der Stimmen und Tendenzen, Bewegungen und Entwicklungen, Traditionsbrüche und neuer Traditionsbildung“ zu erwähnen, das um diese Zeit herrschte.1049 Ähnlich weisen Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke in der Einleitung ihres Sammelbandes zu den deutschen Reformbewegungen auf „jenes immens facettenreiche sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Klima“ hin, in dem in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch die Reformbewegungen gedeihen konnten.1050 Erst die zunehmende Individualisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte die Entdeckung des Körpers im modernen Sinne möglich.1051 Es wird kein Zufall sein, daß bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur Handspiegel gebräuchlich waren und großflächige Spiegel um die Jahrhundertwende aufkamen.1052 Der Körper war um 1900 bei weitem nicht nur Reflexionsgegenstand von Lebensreformern, Künstlern und Ärzten. Doch handelte es sich im deutschen Bürgertum außerhalb dieser Diskursgemeinschaften, um mit Michel Foucault zu sprechen, in vieler Hinsicht um eine Gesellschaft, die „lautstark ihre Heuchelei gei1047 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, III. Session, 1916/17, 4. Bd., 60.–76. Sitzung [17. Februar bis 8. März 1917]. Berlin 1917, Sp. 3710. 1048 Berliner Illustrirte [Illustrierte] Zeitung, Nr. 2, 1917. Zit. nach Der Naturarzt, April 1917, S. 77f. 1049 GEORG KAMPHAUSEN, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890. Weilerswist 2002, S. 19f. 1050 DIETHART KERBS/JÜRGEN REULECKE, Einleitung der Herausgeber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 10–18, hier S. 12. 1051 Dazu DAVID ARMSTRONG, A New History of Identity. A Sociology of Medical Knowledge. London 2002, bes. S. 5–16. 1052 WALTRAUD POSCH, Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit. Frankfurt am Main 1999, S. 26.

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ßelt, redselig von ihrem eigenen Schweigen spricht und leidenschaftlich und detailliert beschreibt, was sie nicht sagt“1053: Über den Körper sprach man pausenlos, aber oft verdeckt, in Anspielungen, voll Lust und Scham. Die wilhelminische Rede über den Körper war selten „normal“, alltäglich und „neutral“, sondern meist emotional aufgeladen, das Körperliche mitunter nahezu synonym mit dem Sexuellen. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, der, wie gesehen, für viele lebensreformerische Ideen und damit auch für das wissenschaftlich unterfütterte Wissen über Gesundheit als Reaktionsbeschleuniger wirkte. Der Krieg sprühte dieses Wissen ins allgemeine Bewußtsein, in alle Schichten, in viele Texte, in die öffentliche Rede. Für das Wissen über den menschlichen Körper gilt das in besonderem Maße. 3.2.4.3. Der Körper als Objekt I: Hygiene, Kraft und Schönheit “Relax,” she whispered, and all at once Will felt the hot fluid surprise of it, his insides flooding as if a dam had burst, as if all the tropical rivers of the world were suddenly flowing through him, irrigating him, flushing, cleansing, churning away at his deepest nooks and recesses in a tumultuous cathartic rush. It was the most mortifying and exquisite moment of his life. That night he slept like a baby. T. C. Boyle, The Road to Wellville (1981)1054

„Organismusbesen“ war der Titel eines zuerst 1920 erschienenen und in den folgenden Jahren noch mehrfach aufgelegten Bändchens, das für Fastenkuren und Rohkost warb. Was genau der sprechende Titel bedeute, erklärte der Autor Emil Grotzinger erst in einer der späteren Auflagen ausdrücklich: „Organismusbesen, – ein Besen, der den ganzen Organismus reinigt, rücksichtslos alles hinausfegt, auf daß Körper und Geist frei werde [sic] von Schmutz und Staub.“1055 In der Kundenzeitschrift der V.D.R.-Reformhäuser, die das Bändchen verkauften, hieß es im Juli 1927, Grotzinger schildere „die Mittel, mit denen wir unseren Organis-

1053 So beschrieb Foucault die viktorianische Gesellschaft, die für ihn in gewisser Weise bis in die Gegenwart der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts fortdauerte: MICHEL FOUCAULT, Der Wille zum Wissen. (= Sexualität und Wahrheit, Bd. 1.) 3. Aufl. Frankfurt am Main 1989 [zuerst 1983, franz. 1976], Kapitel „Wir Viktorianer“, S. 11–23. 1054 Der Roman von T. C. Boyle spielt Anfang des 20. Jahrhunderts im vom Erfinder der Cornflakes John Harvey Kellogg betriebenen Sanatorium „Battle Creek“ in Kalifornien. 1055 EMIL GROTZINGER, Organismusbesen. Die körperliche und geistige Wiedergesundung. Lehmrade bei Mölln o. J. [um 1927], S. 7. Der Lebensreformer Grotzinger wurde 1885 geboren und feierte 1975 seinen 90. Geburtstag: Reform-Rundschau, September 1975, S. 2.

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mus tüchtig auskehren können.“1056 Solche gründliche Reinigung des Körpers oder auch nur das Reden darüber bereitete den Zeitgenossen des vitaleren Lebens offenbar eine große Lust. Die Körperhygiene war zugleich innerlich und äußerlich gedacht, betraf vor allem die Haut, den Verdauungstrakt und das Blut. In den Kundenzeitschriften der Reformhäuser ging es in fast jeder Ausgabe ums Schwitzen, um Dampfbäder und Bürsten, Wickel und Güsse, Spülungen, Tees, Säfte und reinigende Nahrungsmittel. Die Reformhauswaren traten dabei in eine enge kausale Beziehung zum menschlichen Körper und zu seiner gesundheitlichen Verfassung. Wer bestimmte Produkte aß, trank oder auf andere Weise in seinen Körper einführte, bekämpfte damit Leiden und steigerte sein Wohlbefinden. Bestimmte Bäder und Packungen wirkten gegen bestimmte Beschwerden, wieder andere Präparate stärkten die körpereigenen Abwehrkräfte. Von allen Organen des menschlichen Körpers beschäftigte sich die Reformhausliteratur am meisten mit der Haut.1057 Um ihre lebenswichtige Funktion zu veranschaulichen, erzählten die Zeitschriften immer wieder eine Geschichte von zwei Kindern, die auf einer Weihnachtsfeier als Engel auftreten sollten und, für die Vorführung vollständig mit Bronze bestrichen, starben.1058 Die Haut galt als Spiegel „körperlicher und seelischer Innenwertzustände“: Hautausschlag gehe auf verdorbene Säfte, auf unreines Blut zurück. Auch als „Instinktorgan“ verstand man die Haut: Über ihre Farbe und ihren Geruch erkenne man, ob ein Fremder ein „Mensch meiner Art“ sei.1059 Als „Hauptmittel“ zur Hautpflege nannte der Lebensreformer Hans Gregor „Luft, Licht und Wasser“. Als Neuform-VDR-Geschäftsführer, als der Gregor nicht nur für die Idee der Lebensreform werben, sondern auch Reformwaren absetzen wollte, fügte er sogleich hinzu: „Im weiteren sind Oel und Massage, auch Heilerde und Moorbäder sehr wohltuend.“ Auch das Tragen poröser Wäsche sei ein „wichtiger Bestandteil allgemeiner Hautpflege“.1060 Wer seinen ganzen Körper mit Lehmerde bestrich, dem versprach die Kundenzeitschrift glatte und frische Haut.1061 Alle für diese Praktiken notwendigen Utensilien gab es selbstverständlich im Reformhaus. Eine „sehr tiefgreifende, gesundheitsdienliche und überaus belebende Hautbehandlung“ versprach weiterhin ein „Ölschaber“, mit dessen Hilfe laut NeuformRundschau eine Reinigung von Haut und Poren erzielt werde, wie sie durch Wasser und Seife niemals möglich sei. Dazu rauhte man die Haut, vor allem am Rükken, mit einer Gummibürste auf und rieb anschließend Pflanzenöl in sie ein. Das Öl drang in die Poren und verband sich, so versprach die Zeitschrift, mit den Schmutzteilchen. Dann kratzte man Öl und Dreck mit der „Rillseite“ des Holzschabers wieder ab. „Ist die Rille voll, so streicht man das Öl an einem Tuch oder weichem Papier ab. Ist dies Tuch weiß, so sieht man ganz deutlich die Menge 1056 Das Reformhaus, Juli 1927, S. 20. 1057 Zum Hautpflege-Diskurs in der Nacktkultur vgl. MÖHRING, Marmorleiber (wie Anm. 42), S. 332–357. 1058 Vgl. statt vieler Neuform-Rundschau, Juni 1932, S. 103. 1059 Neuform-Rundschau, Juni 1932, S. 102f. 1060 HANS GREGOR, Haut und Bekleidung, in: Das Reformhaus, März 1926, S. 4f., hier S. 5. 1061 Das Reformhaus, Mai 1926, S. 3.

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Schmutz, die sich in den Poren befunden hat […].“ Anschließend rieb man die Haut mit einem Frottiertuch ab und bearbeitete sie nochmals mit der Bürste. Ideal sei es, so der Autor und Erfinder dieser „tiefgreifenden Hautbehandlung“, dann noch mit einem wechselnd auf heiß und kalt eingestellten Fön eine „Luftdusche“ zu nehmen. Diese Behandlung könne man mehrmals wiederholen, bis das Öl verhältnismäßig klar sei – und man solle sich ihr alle paar Tage unterziehen.1062 Neben der Haut widmete die Reformhausbranche auch dem Darm große Aufmerksamkeit. Im Mai 1927 erklärte die Zeitschrift Das Reformhaus kleinteilig, wie man sich mit Salbei- und Kamillenteeaufguß oder Seifenwasser und mit Hilfe von Irrigatoren oder Spülkannen die unteren Verdauungsorgane auswusch. Über die Reinigung des Afters heißt es in diesem Kontext: „Eine fast peinliche Frage das Ganze, aber doch der Behandlung wert […].“1063 Spülapparate mit einem eineinviertel Meter langen Schlauch produzierten etwa die „Thalysia-Werke“ in Leipzig, die außerdem „Frauenduschen“ mit dem Namen „Frauenfreund“ aus Gummi und dazu antiseptische „Spülmittel“ herstellten.1064 Weiterhin sollten Obstkuren dabei helfen, den Organismus von Harnsäurebelastungen zu reinigen, denn: „Sauberkeit des Darmes und regelmäßige Entfernung der Abfallstoffe ist erstes Gebot, um den Organismus und das Blut rein zu halten.“ Dabei halfen nicht nur Früchte, sondern auch „Peribran, der Kanalreiniger“, ein Mittel, das den Darm angeblich zur Arbeitsfreudigkeit erzog1065, und „Brotella“, ein Reformhausprodukt, das laut einer Anzeige „die alten Kotreste aus den Falten des Darmes entfernt“.1066 Die Neuform-Rundschau machte 1935 die Gleichung auf: „reiner Darm – gesundes Blut; gesundes Blut – reine, schöne Haut; reiner Körper, edle Gedanken“, um fortzufahren: „Darum macht jeder ernst denkende Mensch wenigstens im Frühjahr und Herbst seine Darmreinigungskur mit Neuform-Arya-Laya-Darmöl.“ Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Textes fand sich sogleich eine Werbeanzeige für das Produkt.1067 Zur Blutreinigung dienten auch Tees und Säfte.1068 Empfohlen wurden weiterhin Frühjahrskuren wie die „innere Frühjahrsreinigung“ des Körpers mit Wacholdersaft oder Sauerkraut aus dem Reformhaus. Die meisten Menschen, schrieb Das Reformhaus, wüßten gar nicht, wie verschmutzt ihre Gewebe seien: „Man wäscht sich mit Seife, trägt weiße Wäsche, putzt stundenlang an den Fingernägeln herum und verlangt saubere Wohnräume, aber für die

1062 Neuform-Rundschau, März 1933, S. 63. 1063 Das Reformhaus, Mai 1927, S. 17. 1064 GARMS, Die gesunde Frau (wie Anm. 192), S. 23; Richtige Ernährung und Gesundheitspflege. Thalysia-Katalog, 26. Folge, 2. Ausgabe. Leipzig 1934, S. 47. 1065 Neuform-Rundschau, Mai 1933, S. 113. 1066 Das Reformhaus, Juni 1927, S. 27. 1067 Neuform-Rundschau, März 1935, S. 76f. Ganz ähnlich die Kombination von Meldung und Anzeige bezüglich der Frühjahrskuren mit angeblich blutreinigendem „Elektrobio-KräuterKraftelexier“ in: Neuform-Rundschau, April 1935, S. 100, 104. 1068 Das Reformhaus, Mai 1926, S. 2.

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Reinheit der inneren Körpergewebe hat man wenig Sinn. Ein feiner Anzug gilt mehr als ein strahlendes Auge, ein sauberer Kragen mehr als eine reine Haut.“1069 Reinheit und Sauberkeit gehörten somit zu den wichtigsten Konzepten der Reformwarenwirtschaft der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre. Die Reformhauszeitschriften informierten nicht nur über Produkte der Branche und deren reinigende Wirkung, sondern auch über gesamtgesellschaftliche Bemühungen um mehr Hygiene. Im August 1930 berichtete Werner Altpeter von der zweiten großen Dresdner Hygieneausstellung.1070 In diesem Zusammenhang definierte er Hygiene als „alle Bestrebungen, die der Gesunderhaltung von Mensch und Nutztier dienen.“ Persönliche Hygiene meine Körperpflege und private Reinlichkeit, öffentliche Hygiene ziele auf Aufgaben der Gemeinden und Staaten wie Wasserversorgung, Gesetzgebung und Sanitätswesen. Das Hauptbestreben der Hygienetätigkeit sei es, „Reinlichkeit in alle Gebiete menschlichen Lebens einzuführen, und man versteht unter Hygiene im engeren Sinn: Sauberkeit, und hygienisch heißt dann soviel wie reinlich.“ Treibe man Hygiene und Reinlichkeit aber zu weit, „dann werden sie lebensfeindlich.“ Das gelte etwa für das Sterilisieren und Abkochen von Milch. Was die Autoren nicht für natürlich hielten, lehnten sie ab, auch wenn es hygienischer, antiseptischer erschien als das Natürliche selbst. Somit waren Natur und Natürlichkeit, die zu den überdauernden Leitbegriffen der Lebensreform gehören1071, den Lebensreformern wichtiger als Reinlichkeit, die vor allem die Zeit des vitaleren Lebens kennzeichnete. Neben der Hygiene waren auch Kraft und Schönheit wichtige Konzepte des vitaleren Lebens.1072 Eine seit 1901 und bis 1927 bestehende lebensreformerische Zeitschrift trug den Titel Kraft und Schönheit. Im Gegensatz zur zuerst 1903 erschienenen mehr durchgeistigten, sich an „bildungsbürgerliche Schöngeister“ richtenden Schönheit konzentrierte sich diese Zeitschrift auf den gesunden Körper, der zugleich als bester Garant für einen gesunden Geist galt.1073 Mit Blick auf die Gewichtung von Körper und Geist lagen die Zeitschriften der Reformhäuser zwischen den beiden anderen Blättern. Schönheit kam für sie stark von innen, was auf die Bedeutung des Geistigen hinweist, aber sie konnte, wenn das Innere des Menschen sich im Gleichgewicht befand, ganz wie auch die Kraft über Körperpflege und körperliche Ertüchtigung befördert werden. Höhere Anforderungen an den einzelnen schienen eine Steigerung der persönlichen Lebenskraft zu fordern:

1069 Das Reformhaus, März 1927, S. 13. 1070 Das Reformhaus, August 1930, S. 113–118. Aus diesem Artikel auch die folgenden Zitate. – Die erste Dresdner Hygieneausstellung hatte 1911 stattgefunden. 1071 Von wird unten in Kapitel 4 zu handeln sein. 1072 Die Schlankheit spielte verglichen mit Kraft und Schönheit eine vergleichsweise geringe Rolle, jedenfalls beachteten sie zahlreiche andere Gruppen stärker, vor allem Ärzte und Ernährungswissenschaftler. MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), behauptet zwar eine enge Verbindung von Diätkost und Schlankheitskult mit Körperkultur und Lebensreform, weist diese aber nicht nach. Die Schlankheit kommt auch in den lebensreformerischen Ideen und in den Praktiken der Körperkultur, die Merta selbst darstellt, kaum vor. 1073 HAU, Cult of Health and Beauty (wie Anm. 52), S. 44f.

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„Die gegenwärtige Zeit drängt durch ihre gesteigerten Ansprüche auf eine Vermehrung der menschlichen Lebenskraft hin.“1074 Als Mittel und Wege zur Schönheitspflege auf „naturgemäßer“ Grundlage nannte Hans Gregor im Juni 1926 die folgenden Praktiken: Vermeiden von Überanstrengung, zeitiges Zurruhegehen, frühes Aufstehen, Schlafen bei offenen Fenstern, Bewegung im Freien, reine Ernährung, Darmpflege, Hautpflege, Massagen, Ölen, Luftbäder.1075 Als „Grundlage der Schönheit“ galt die Sauberkeit: Die Körperpflege diene neben der „Förderung der Gesundheit“ auch der „Pflege der Schönheit, wobei künstliche Mittel möglichst in den Hintergrund treten sollen.“ Gemütspflege und Ausbildung des Geistes seien ebenfalls wichtig. Es gehe um den „Einklang unserer heiligen Dreieinigkeit: Körper, Seele und Geist. Und gerade auf diesem Einklang beruht die wahre Schönheit.“1076 Für die Lebensreformer galt das Gebot „schön sein, nicht nur schön scheinen“: Feine Haut und schönes Aussehen durften wahre Reformanhänger nicht mit äußerlichen Mitteln vortäuschen. Das beste Schönheitsmittel sei eine edle Gesinnung. Pickel, Ausschläge und Gesichtsrötungen könnten nicht allein durch äußere Mittelanwendung vertrieben werden: „Mag die Kreme oder der Puder noch so gut riechen und von zehn Filmdivas gebraucht und begutachtet sein. Solche Erscheinungen sind der Ausdruck schlechter Blutbeschaffenheit oder krankhafter Zustände in den Eingeweiden. Frauenleiden und Stuhlverstopfung sind häufig die Ursachen.“1077 Schönheit kam in den Vorstellungen der Reformhausbranche, die ja nicht nur Nahrung, sondern auch Körperpflegemittel verkaufte, aber nicht nur von innen, sondern von innen und außen zugleich – ganz so, wie auch die Körperhygiene sowohl von innen als auch von außen erfolgen sollte. Im August 1935 warb die Neuform-VDR für eine „Spezialpackung“ aus dem Reformhaus. In dieser Packung befanden sich Zutaten für eine vierwöchige Schönheitskur: Brennesselsaft zum Trinken und Gurkenmilch zum Auftragen, „Kraftöl“ zum Einmassieren, Hautcreme und Bademilch.1078 Seit den zwanziger Jahren war außerdem eine Vielzahl von Verjüngungsprodukten auf dem Markt, auch in Reformhäusern.1079 In einer Werbeanzeige von 1927 pries ein Reformwarenhersteller eine indische Beere mit dem Namen Lukutate als „Verjüngungs-Frucht“ an: Instinktiv suchten alternde Elefanten und Papageien in der Wildnis diese Frucht. Jetzt war die Lukutate auch in der Zivilisation erhältlich – dank des Hannoveraner Unternehmens Hiller, das seiner Anzeige den Hinweis beifügte: „Lukutate ist Natur, keine ,Kunst‘“.1080 Auch im Hinblick auf 1074 1075 1076 1077 1078 1079

Das Reformhaus, Januar 1926, S. 3. HANS GREGOR, Strahlende Schönheit, in: Das Reformhaus, Juni 1926, S. 1f., hier S. 2. Die Lebenskunst vom 16. Februar 1931, S. 27. Das Reformhaus, April 1927, S. 5f. Neuform-Rundschau, August 1935, S. 196. Zu Konzepten der Verjüngung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts HEIKO STOFF, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln/Weimar/Wien 2004. 1080 Anzeigen etwa in: Das Reformhaus, August 1927, S. 31; Vegetarische Warte, Mai 1927, S. 155.

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die Verjüngung war die Reform nicht auf revolutionäre Thesen und Mittel aus, sondern sie setzte gerade ihren Sinn für das rechte Maß als Werbestrategie ein. So inserierten die Cannstatter „Henselwerke“ 1926: „Lassen Sie sich nicht einreden, daß es Mittel gibt, durch die Greise zu Jünglingen werden. Das Leben ist kein feststehender Zustand, sondern ein wechselnder, es unterliegt wie die Tages- und Nachtzeiten weisen Naturgesetzen und alles geht mit rechten Dingen zu. […] Julius Hensels Nährsalze regeln den Stoffwechsel, verjüngen die Zellen und erhöhen die elektrische Spannung im Blute.“ Alterserscheinungen wie Arterienverkalkung und Schwächezustände träten mit Hilfe des Mineralstoffpräparats1081 „erst nach dem biblischen Alter auf, ohne den Lebensabend zu verbittern.“1082 Im März 1927 sprach sich die Kundenzeitschrift gegen die Einnahme künstlicher Medikamenten zur Lebensverlängerung aus. Anlaß des Artikels war ein 99 Jahre alter Franzose, der angeblich Holzteer zur Darmreinigung benutzte, worauf er sein hohes Alter zurückführte. Die Zeitschrift empfahl natürliche Mittel wie Darmfunktionsöl, das man schlucken oder mittels einer Spritze in den After einführen sollte1083, Heilerden oder Joghurt: „Wenn wir also fleißig die Mittel der Reformbewegung benutzen, so sind wir auf einem guten Wege und ich hoffe, daß mancher Leser des ,Reformhaus‘ die gleiche Ueberschreitung des biblischen Alters erreichen wird.“1084 Zugleich wehrte sich die Reformbewegung, die sich in ihren Schriften doch selbst so gründlich mit dem menschlichen Körper beschäftigte, immer wieder gegen einen ihrer Ansicht nach übertriebenen Körperkult, gegen eine Körperlichkeit, die nichts anderes neben sich dulde. Der Körper dürfe nicht zum Idol werden, schrieb der Naturarzt Karl Strünckmann im Mai 1927. Er sei zwar Mittel, aber nie „Endzweck“.1085 Ähnlich äußerte sich im selben Jahr Hans Gregor: „Es wird so oft erwähnt, daß der moderne Mensch etwas für seinen Körper tue. Das ist an sich gewiß lobenswert. Sieht man aber genauer hin, so entdeckt man recht bedauernswerte Begleitumstände. Es scheint, als ob alles, was der ,moderne Mensch‘ in die Hand nimmt, entweder übersteigert wird oder verflacht. Das Sich-Zeigen-Wollen spielt leider eine große Rolle bei den Leibesübungen und verdirbt die gute Wirkung.“

Nur in „kleinen Kreisen“ würden Leibesübungen „in rechter Weise, mit Ernst, oft sogar mit heiliger Andacht“ betrieben. Die Formulierung verrät, daß auch die von den Reformern als „richtig“ empfundene Körperkultur durchaus kultische Züge trug. In diesen „kleinen Kreisen“, so Gregor weiter, sei das „Bewußtsein lebendig, daß jede Körperpflege im Dienste einer Idee stehen, zum mindesten aber im Hin-

1081 „Nährsalze“ war um die Jahrhundertwende und in den zwanziger Jahren die üblichere Bezeichnung für „Mineralstoffe“. Vgl. BERG, Die Vitamine (wie Anm. 883), S. 1: „[d]ie Mineralstoffe der Nahrung oder, wie sie wohl gewöhnlich genannt werden, die Nährsalze“. 1082 Das Reformhaus, Februar 1926, S. 22. 1083 Das Reformhaus, November 1927, S. 17f. 1084 Das Reformhaus, März 1927, S. 14f. 1085 KARL STRÜNCKMANN, Schmerzen und Sorgen, in: Das Reformhaus, Mai 1927, S. 13f., hier S. 14.

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blick auf die Gesamtheit, auf das Volkstum, betrieben werden muß, soll sie nicht eine fade Spielerei, ein Betätigungsfeld für die eigene Eitelkeit bleiben.“1086 Auch hinsichtlich des Sports, der sich in den zwanziger Jahren als Freizeitbeschäftigung für die Massen durchsetzte, betonten die Autoren, wie notwendig das rechte Maß sei. Das Reformhaus klagte 1926: „Wir treiben heute in einer Weise Sport, die uns dem sicheren Untergang noch schneller zuführen muß (geistlose, einseitige Fußballspiele, erbärmliche Sonntagsentheiligungen, Tier- und Menschenschinderei). – Turnvater Jahn würde mit heiligem Zorn dreinschlagen!“1087 Auch die Zeitschrift Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens verurteilte im Oktober 1929 die „Entartungen des Sports“.1088 Damit nahm die Reformhausbewegung an einem allgemeinen Diskurs teil. Erst im März 1929 hatte Hans Schlange-Schöningen, Abgeordneter der DNVP, im Reichstag gesagt, das „Sportleben“ sei etwas, „was wir in gesunder Form selbstverständlich gebrauchen als eine Selbstzucht geistiger und körperlicher Art“, es aber eine „Verirrung sondergleichen“ genannt, „wenn heute Weltrekordbrecher geradezu als die Retter Deutschlands gefeiert werden!“1089 Im „Dritten Reich“ verwandelte sich die pluralistische Körperkultur der Weimarer Republik in einen nordisch-arischen Körperkult.1090 Ein wichtiger Protagonist dieser Veränderung war der Vertreter der Freikörperkultur Hans Surén (1885– 1972), Sonderbeauftragter des Reichsbauernführers und Reichsinspekteur für „Durchführung und Inspektion der Leibeserziehung in der Landbevölkerung“1091, der schon Mitte der zwanziger Jahre seine Briefe „mit deutschem Gruß und Heil“ unterschrieb. 1092 An der Art der Präsentation von Körpern in der Kundenzeitschrift der Reformhäuser änderte sich nach 1933 hingegen vergleichsweise wenig. Die abgebildeten Menschen waren zwar seit der Mitte der dreißiger Jahre meist etwas muskulöser als noch in der Weimarer Republik, aber die Zeitschrift idolisierte sie nach wie vor nicht in dem Ausmaß, wie das in anderen Zeitschriften der 1086 HANS GREGOR, Leibesübungen und Sport, in: Das Reformhaus, August 1927, S. 1f. Zum Verhältnis von Körperkultur und der „Gesamtheit“ des Volkes unten Abschnitt 4, S. 243ff. 1087 Das Reformhaus, April 1926, S. 5. 1088 Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens, Oktober 1929, S. 102. 1089 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 424, 4. Wahlperiode 1928, 56. Sitzung, 15. März 1929, S. 1484. 1090 Die Freikörperkultur-Bewegung grenzte sich im „Dritten Reich“ von ihren oft sozialistischen Vorläufern der Weimarer Republik ab und stellte sich in den Dienst einer „arteigenen Leibeszucht“. Es gelang ihr, anfängliches Mißtrauen der Nationalsozialisten in eine Anerkennung der „arischen“ Freikörperkultur zu verwandeln. Insbesondere Darré stritt für eine Erlaubnis des Nacktbadens. 1942 wurde eine „Polizeiverordnung zur Regelung des Badewesens“ erlassen, die öffentliches Nacktbaden erlaubte, wenn angenommen werden konnte, das die Badenden von Unbeteiligten nicht gesehen wurden. Vgl. DIETGER PFORTE, Zur Freikörperkultur-Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland, in: ANDRITZKY/RAUTENBERG (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“ (wie Anm. 42), S. 136–145. 1091 Leib und Leben, August 1936, S. 182f.; Leib und Leben, Juli 1937, S. 141. – Zu Surén DIETGER PFORTE, Hans Surén – eine deutsche FKK-Karriere, in: ANDRITZKY/RAUTENBERG (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“ (wie Anm. 42), S. 130–135. 1092 Brief Hans Suréns an die Schriftleitung des Zwiespruchs (Dr. Fulda). Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 2370.

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Körperkultur und vor allem der Freikörperkultur.1093 Einen direkten Vergleich ermöglicht ein „Olympiadeheft“ der Neuform-Rundschau von 1936, das zwar kräftige Körper in sportlichen Posen zeigte, diese aber deutlich weniger griechisch-antikisierend darstellte und überhöhte als etwa Leni Riefenstahls OlympiaFilm aus dem selben Jahr.1094 Daß Körper formbar waren, daß sie durch Sport, Ernährung und Körperpflegemittel nicht nur gesünder wurden, sondern sich auch äußerlich veränderten, war eine allgemeine Erkenntnis der Zwischenkriegszeit. In einem Buch über „Körperschönheit und Körperkultur“ von 1928 heißt es: „Die jüngere männliche Generation legt Wert auf eine Erscheinung von muskelkräftiger Eleganz; sie nähert sich durch sportliches Training wieder dem athletischen Ideal der Griechen.“ Diese Bewegung habe die Frauen „mitgelockt“: Auch sie entdeckten die Freude am Sport, „der den Körper stählt und schmeidigt, und manche von ihnen erwies sich im Wettbewerb dem Mann ebenbürtig.“ So mache sich „eine Vermännlichung der Frau bemerkbar“. 1095 Die Wandelbarkeit von Körpern war ein wichtiger Ansatzpunkt der Reformhäuser. Mit Hilfe von Ernährung und Körperkultur ließen sich Menschen schaffen, die dem lebensreformerischen Bild gesunder, reiner, schöner, kräftiger, vitaler Geschöpfe entsprachen oder wenigstens näherkamen. In diesem Bestreben stießen die Vertreter der Reformwarenbranche aber auf Hindernisse. So bestand nach Ansicht der Kundenzeitschrift gegen Ende der zwanziger Jahre im Volk „noch die Ansicht, daß ein Kind in den ersten Lebensjahren eben ein kugelrundes Geschöpf sein müsse, etwa wie Rubens’sche Putten.“1096 Daß die „Putten“ und ihre Eltern künftig nur noch Reformwaren aßen, tranken und anzogen, sich mit ihnen wuschen, einrieben, abkratzten und ausspülten, auf daß ihre Körper innerlich und äußerlich vitaler würden, das war das erklärte Ziel der Reformbranche. 3.2.4.4. Der Körper als Objekt II: Volk, Staat und Rasse In Artikel 163 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1918 heißt es: „Jeder Deutsche hat, unbeschadet seiner persönlichen Freiheit, die sittliche Pflicht, seine körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ Mit dieser Norm statuierte die Verfassung eine sittliche Arbeitspflicht.1097 Der Autor eines Bandes über verschiedene Sportarten 1093 Inszenierte „deutsche“ Körper finden sich besonders im Organ des „Kampfringes für völkische Freikörperkultur“ Deutsche Freikörperkultur und in seinen Nachfolgern Gesetz und Freiheit und Deutsche Leibeszucht. Blätter für naturnahe und arteigene Lebensgestaltung. 1094 Neuform-Rundschau, Olympiadeheft, Januar 1936. 1095 HANS W. FISCHER, Körperschönheit und Körperkultur. Sport – Gymnastik – Tanz. Berlin 1928, S. 10. 1096 Das Reformhaus, September 1928, S. 1. 1097 Daß die Bestimmung eine sittliche, nicht eine rechtliche Pflicht zur Arbeit enthielt, sollte sie von Zwangssystemen abgrenzen, wie sie in der Sowjetunion gesehen wurden: Niemand sollte in Deutschland mit staatlicher Gewalt zu einer Arbeit gezwungen werden dürfen. Die bürgerliche Mehrheit in der Nationalversammlung stimmte der Arbeitspflicht nur mit dem

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und Körperkultur zitierte den Normsatz Ende der zwanziger Jahre isoliert auf der Aufschlagsseite und stellte ihn damit in einen völlig anderen Kontext.1098 Aus dieser Perspektive betrachtet, ordnete die Weimarer Verfassung den Körper des Menschen – und auch seinen Geist – in ein übergreifendes Ganzes ein, setzte körperliche Betätigung, unter der dieser Autor nicht so sehr Arbeit als vielmehr körperliche Ertüchtigung verstanden haben dürfte, in Beziehung zur deutschen Gesellschaft. In dieser Lesart forderte die Verfassung die Staatsbürger auf, ihre Körper zu stählen, um damit dem Gemeinwesen zu dienen. In ähnlicher Weise sah auch die Reformhausbewegung die Körper der einzelnen als Teile eines Volksganzen, eines „Volkskörpers“1099, dessen Gesundheit es zu steigern gelte. Alles reformerische Streben nach „Erneuerung“, so ihre Auffassung, gehe „darauf hinaus, unsere Volkskraft zur Höhe zu führen“, und die Mittel dazu seien Körperpflege und Gymnastik.1100 Damit wurde die Gesundheit des gesamten Volkes zur Aufgabe eines jeden Individuums. Ganz in diesem Sinne schrieb der Lebensreformer Emil Grotzinger in den zwanziger Jahren in seinem Bändchen „Organismusbesen“, Gesundheit sei nicht eine private „Angelegenheit jedes einzelnen, gewissermaßen eine Geschmacksache oder Ansichtssache“, sondern vielmehr „eine Pflicht, die jeder gegen sich, seine Familie und den Staat zu erfüllen hat.“1101 Wenn Reformanhänger über diese Pflicht sprachen, bedienten sie sich oft organischer Gesellschaftsmetaphern: „Betrachten wir nur einmal die Menschheit als einen Organismus; ist er nicht krank? […] Umstellung! Das werde der Weckruf unserer Tage.“1102 Daß auch der Weimarer Staat ganz offensichtlich auf „Volksgesundung“ hinarbeitete1103, führten die Lebensreformer auf ihre eigene Vorarbeit zurück. Der Schriftleiter der Zeitschrift Das Reformhaus, Hans Gregor, betonte aber zugleich, mit der verstärkten staatlichen Aufmerksamkeit für Gesundheit seien „die aus eigenem Antrieb an der Volksgesundung wirkenden Männer und Frauen nicht überflüssig geworden“. Denn „die Staatsaktionen zur Volksgesundung“ seien „von dem dafür notwendigen Geiste nicht zureichend durchdrungen“.1104 Weil die Lebensreform die Gesundheit des deutschen Volkes und die Reinlichkeit jedes einzelnen Bürgers so wichtig nahm, haben einige Historiker behauptet, sie habe schon seit dem späten 19. Jahrhundert antisemitische Züge ge-

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Passus „unbeschadet seiner persönlichen Freiheit“ zu. Vgl. CHRISTOPH GUSY, Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997, S. 353. FISCHER, Körperschönheit (wie Anm. 1095), Aufschlagsseite. Der Begriff des Volkskörpers war in der Weimarer Republik in vielen gesellschaftlichen Gruppen verbreitet. Vgl. MORITZ FÖLLMER, Der kranke „Volkskörper“. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 41–67. Das Reformhaus, September 1926, S. 7. GROTZINGER, Organismusbesen (wie Anm. 1055), S. 57. Das Reformhaus, Januar 1926, S. 9. Zur Weimarer Gesundheitspolitik vgl. etwa die Beiträge von Silke Fehlemann, Martin Weyer-von Schoultz, Ralf Stremmel, Elke Hauschildt und Julia Paulus in: WOELK/VÖGELE (Hrsg.), Geschichte der Gesundheitspolitik (wie Anm. 32). HANS GREGOR, Individuum und Staat, in: Das Reformhaus, April 1926, S. 2f., hier S. 3.

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tragen oder wenigstens als Nährboden des Antisemitismus gedient.1105 Mit Hilfe eines Analogieschlusses von Fremdkörpern auf fremde Körper1106 folgern sie ohne weitere Begründung, wer so hygienebewußt gewesen sei wie die Anhänger der Reformbewegungen und zugleich für die Volksgesundheit gestritten habe, der müsse nicht nur Schmutz am und im eigenen Körper, sondern auch „Verschmutzungen“ des „Volkskörpers“ bekämpft haben. Aber selbst wenn eine ideologische Nähe der Konzepte „Antisemitismus“ und „Volksgesundheit“ existiert1107, dürfen solche nur von „intuitiver Plausibilität“ genährten Deutungsmuster nicht den Blick in die Quellen versperren. Die Zeitschriften der Reformwarenwirtschaft geben für die Zeit der Weimarer Republik nichts her, was belegte, daß ihre Autoren bewußt oder unbewußt einen Analogieschluß von Volksgesundheit und Reinlichkeit zu Antisemitismus zogen. Es entspricht daher – wenigstens soweit diese bekannt sind – nicht den historischen Tatsachen, die Lebensreformbewegung in ihrer Gesamtheit schon für die Zeit vor 1933 des Antisemitismus zu bezichtigen. Der Umstand, daß einige lebensreformerische Strömungen nach 1933 die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten aufgriffen, darf nicht zu einer teleologischen Deutung des zuvor Gewesenen und im übrigen nicht zu einer Verallgemeinerung verleiten. Genausowenig können Artikel in lebensreformerischen Zeitschriften schon der Jahrhundertwende, die sich gegen antisemitische Auslassungen anderer lebensreformerischer Autoren wandten1108, als Beleg für eine Immunität gegenüber antisemitischem Gedankengut dienen. Die Lebensreformbewegung war nun einmal weit verzweigt, und es gab kaum einen zeitgenössischen Topos, den nicht auch eine ihrer Strömungen an irgendeiner Stelle wiedergegeben hätte – antisemitische und sich gegen den Antisemitismus richtende Aussagen eingeschlossen. Was jedenfalls vor 1933 noch nicht zu beobachten ist, ist eben jener Nexus zwischen Antisemitismus auf der einen Seite und Volksgesundheit und Reinlichkeit auf der anderen. Erst im „Dritten Reich“ hielt er Einzug in 1105 In diesem Sinne zuletzt MASSIMO FERRARI ZUMBINI, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt am Main 2003, S. 416: „Die Antisemiten können desto ungehinderter in der allgemeinen Strömung [der Lebensreform, F.F.] mitschwimmen, als die ganze Bewegung zwischen der ,Rückkehr zur Natur’ und der ,Wiederentdeckung des Körpers’ von Beginn an ein völkisches Element durchzieht.“ 1106 Einen solchen Analogieschluß zog, allerdings nicht mit Blick auf die Lebensreform, in den Jahren 1999/2000 eine Ausstellung des Deutschen Hygienemuseums in Dresden mit dem Titel „Fremdkörper – fremde Körper“, die in einem ersten Teil unter anderem aus der Sammlung eines Arztes unverdauliche Teile zeigte, die Menschen geschluckt hatten, und sich in einem zweiten der Diskriminierung und Verfolgung von Juden, Schwarzen und Sinti und Roma widmete. Vgl. den Katalog: ANNEMARIE HÜRLIMANN, Fremdkörper – fremde Körper. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen. Ostfildern-Ruit 1999. 1107 Einen Nachweis dieser Nähe versucht LARS RENSMANN, Antisemitismus und „Volksgesundheit“. Zu ideologiehistorischen Verbindungslinien im politischen Imaginären und in der Politik, in: CHRISTOPH KOPKE (Hrsg.), Medizin und Verbrechen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke. Ulm 2001, S. 44–82. 1108 Beispiele für Kritik am Antisemitismus in: Der Mensch vom 15. August 1904, S. 246; Der Vegetarier vom 15. Juni 1890, S. 99.

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die Zeitschriften – und selbst dann tauchte er in den Schriften zumindest der Reformwarenwirtschaft nicht sonderlich oft auf. Die in der Weimarer Republik verbreitete Sorge vor einer Degeneration des deutschen Volkes darf weiterhin nicht mit „völkischem“ Gedankengut gleichgesetzt werden. Auch in einigen eher linksgerichteten Kreisen war die Annahme verbreitet, das Volk verschlechtere sich biologisch. Das gilt auch für politisch linksstehende Reform- und Gesundheitsbewegungen. Die Zeitschrift Volksgesundheit, das Organ der Zentralorganisation der Arbeitervereine für Gesundheitspflege und Heilkunde, schrieb 1924: „Die Kulturvölker Europas fallen immer mehr der körperlichen und geistigen Entartung anheim. Auch wir Deutschen gehen dem Untergange entgegen, wenn die Zivilisation nicht andere Wege einschlägt.“ Die Entartungserscheinungen träten besonders „an den Fortpflanzungsorganen des Weibes“ und an der „körperlichgeistigen Verfassung“ des Kindes in Erscheinung. Daraus folgte für den Autoren: „Die Frau muß befähigt werden, die durch unsere Gesellschaftsordnung bedingten Gesundheitsschäden zu erkennen und [...] durch politisches, wirtschaftliches und persönliches Wirken zu beseitigen.“1109 Schon seit dem späten 19. Jahrhundert verwendeten viele Autoren biologische und biologistische Formulierungen rein provokativ, wie Martin Lindner feststellt. Man darf solche Aussagen also nicht in jedem Fall wörtlich nehmen. „Lebensideologische“ Gruppen übernahmen sie „zum Teil in polemischer Wendung gegen den bildungsbürgerlichen Idealismus und zum Teil, um ihre Spekulationen auch wissenschaftlich abzusichern, wobei diese Fachtermini (wie auch solche aus anderen Wissenschaften) dann weder ganz konkret noch rein metaphorisch gemeint sind.“ Das erweise sich vor allem beim Rassenbegriff, der nur im Extremfall im Sinne eines kruden Biologismus zu verstehen sei, und auch bei der „Züchtung“, die selbst dem „Erzhumanisten und Mystiker Max Brod ohne weiteres von der Hand“ gehe. 1110 Nach 1933 aber gaben die Nationalsozialisten Begriffen rund um „Volk“ und „Gesundheit“ neue, zugespitzte Bedeutungen, legten die zuvor einigermaßen verwischten semantischen Felder eindeutiger fest.1111 Das gilt auch für die „Pflicht zur Gesundheit“, die schon Grotzinger im „Organismusbesen“ beschrieben hatte, von der nun aber auch die Reichsgesundheitsführung ausdrücklich sprach. Der Körper des deutschen Bürgers sollte nun ganz dem deutschen Staat gehören. Diesem kam damit umgekehrt die Aufgabe zu, für die Erhaltung des einzelnen Körpers zu sorgen. Bei der „Pflicht zur Gesundheit“ handelte es sich also um eine wechselseitige Beziehung.1112 Das Jahr 1939 wurde zum „Jahr der Gesundheitspflicht“ erklärt.1113 Gesundheit im Sinne eines Vollbesitzes aller erreichbaren 1109 Mutter und Kind. Beilage zur Volksgesundheit, September 1924, S. 1. 1110 LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 83. 1111 Zur Etablierung der nationalsozialistischen Sprache GERHARD BAUER, Sprache und Sprachlosigkeit im „Dritten Reich“. Köln 1988, bes. S. 58–61. 1112 Vgl. etwa SIEVERT, Naturheilkunde (wie Anm. 272), S. 157f. 1113 In seiner Neujahrsbotschaft 1939 erklärte der Reichsjugendführer „das Jahr der Jugend 1939 zum Jahr der Gesundheitspflicht.“ Zit. nach Der Naturarzt, Februar 1939, S. 61. – Vgl. auch

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Kräfte zu verwirklichen, schrieb die Branchenzeitschrift Der Reformwarenfachmann im April 1939, sei „zunächst einmal die Aufgabe derer, die unmittelbar in der Arbeit an der Volksgesundheit stehen.“ Sie sei aber auch – „und mit solchem Nachdruck, in solcher Allgemeinheit ist diese Forderung vorher niemals von amtlicher Stelle vertreten worden“ – Aufgabe jedes einzelnen.1114 Schon das Februarheft 1934 der Neuform-Rundschau trug ganz im Sinne der „Pflicht zur Gesundheit“ den Schriftzug „Lebe gesund, Deutscher!“ auf der Titelseite. Im gleichnamigen Artikel im Heft hieß es: „Mit einem gesunden Staatsaufbau muß ein gesunder Körperaufbau Hand in Hand gehen, soll nicht das große Werk unter menschlicher Unzulänglichkeit leiden. Der Staatsreinigung im Politischen muß eine Blutreinigung im Körperlichen und eine Sinnesreinigung im Seelischen entsprechen.“ Die „Pflicht zur Gesundheit“ sei eine „völkische Pflicht“.1115 Im Weltbild des Nationalsozialismus war der Mensch nicht mehr zugleich Einzelwesen und Teil der Volksgemeinschaft: Das Volk war jetzt alles, der einzelne nichts. Gesundheit galt im „Dritten Reich“ – noch viel stärker als schon in der Weimarer Republik, in der das persönliche Wohlbefinden auch für sich genommen eine gewisse Rolle gespielt hatte und nicht immer an die Volksgesundheit rückgebunden war, – überhaupt nicht mehr als Privatangelegenheit, sondern ausschließlich als Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk.1116 Die Lebensreform übernahm diese Akzentverschiebung weitgehend. Altpeter schrieb 1936 in einem Band mit dem unfreiwillig komischen Titel „Essen – ja! Aber was? Und wie?“, während „früher in der öffentlichen Tätigkeit der Reformbewegung die persönliche Gesundheit angestrebt und stark betont wurde, sieht man [sie] heute mehr vom Standpunkt der Volksgesundheit aus. Nicht ichhalber, sondern der Gemeinschaft wegen wird eine gesundheitliche Lebensweise angestrebt.“1117 Schon im Ersten Weltkrieg hatte sich in der Gesundheitspolitik angesichts der erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften in der Industrie und im Feld eine Entwicklung in diese Richtung abgezeichnet: „the goal of individual health was eclipsed by the needs of the ,national community‘“.1118 Die Nationalsozialisten versuchten die Volksgesundheit dann aber – und das unterschied sie von den bisherigen Regierungen – auf zweifache Weise zu erreichen: einerseits durch Steigerung der Lebenskraft, indem sie die Lebensgewohnheiten des Volkes zu ändern suchten, und andererseits durch Rassenhygiene. Der erste der beiden Ansätze, also die Lebensweise der Menschen zu verändern, war seit der Jahrhundertwende ein

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PROCTOR, Blitzkrieg (wie Anm. 57), S. 146: Das Konzept der Pflicht zur Gesundheit wurde „1939 offiziell zu einem staatlichen Slogan“. Der Reformwarenfachmann vom 15. April 1939, S. 81. Neuform-Rundschau, Februar 1934, S. 26. SÜß, Der „Volkskörper“ (wie Anm. 32), S. 32–35; KRABBE, „Die Weltanschauung“ (wie Anm. 47), S. 455. WERNER ALTPETER, Essen – ja! Aber was? Und wie? Durch richtige Ernährung zur Gesundheit. Kampen auf Sylt 1936, S. 10. PAUL LERNER, Rationalizing the Therapeutic Arsenal. German Neuropsychiatry in World War I, in: BERG/COCKS (Hrsg.), Medicine and Modernity (wie Anm. 32), S. 121–148, hier S. 148.

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Anliegen auch des Vegetarismus und der Naturheilbewegung und dann seit den zwanziger Jahren der Reformhausbranche gewesen. Hier trafen sich die Ziele der Lebensreform mit denen des Nationalsozialismus. Die Rassenhygiene hingegen spielte in der Lebensreform im engeren Sinne – im Gegensatz zur völkischen Bewegung, in deren Diskursen sie zentral war – nur eine vergleichsweise geringe Rolle. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hielt sie dann zwar Einzug in die Reformhauszeitschriften. Aber der Kampf gegen Zivilisationsschäden und die Reform der Lebensweise blieben wichtiger. Viele Konzepte, die im Diskurs der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik noch wie literarische Phantasien angemutet hatten, machte das nationalsozialistische Deutschland zur Wirklichkeit. Es war nicht mehr nur so, daß die „utopia of perfect health, the vision of a world without illness, weakness, suffering, and misery […] was proclaimed with revolutionary pathos“. Vielmehr gab es im „Dritten Reich“ nun auch „a powerful call to social and political action and […] a particular kind of human hubris, a belief in human power to realize that utopia“ – und zwar durch Sterilisation und Euthanasie.1119 Im Gegensatz zur späteren Euthanasie spielte sich die Sterilisationskampagne in aller Öffentlichkeit ab.1120 Hinsichtlich der Rassenhygiene, wie sie sich völkische Gruppen seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder ausgemalt hatten, fand somit ein Übergang von „ideas into politics“1121 statt. Mit dem Ersten Weltkrieg, so hat es Gisela Bock formuliert, hatte die ernstzunehmende Vorgeschichte von Sterilisation und Euthanasie begonnen, „the transition from single voices and mere forerunners to a powerful trend“. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten habe dann die tatsächliche Geschichte dieser beiden Mittel zum Zweck der „Gesundheit“ des deutschen Volkes begonnen.1122 Cornelie Usborne sieht bis nach dem Ersten Weltkrieg einen „nur geringen Einfluß“ der Rassenhygiene auf die Regierung und die staatliche Praxis. Die Eugenik der Weimarer Republik habe sich von der nationalsozialistischen Rassenhygiene „durch ihren Pluralismus“ unterschieden, aber auch „ganz entscheidend zur Entstehung eines geistigen Klimas“ beigetragen, „das einer faschistischen Doktrin mit all ihren Grausamkeiten Vorschub leistete.“1123

1119 GISELA BOCK, Sterilization and „Medical“ Massacres in National Socialist Germany. Ethics, Politics, and the Law, in: BERG/COCKS (Hrsg.), Medicine and Modernity (wie Anm. 32), S. 149–172, hier S. 155f. 1120 SÜß, Der „Volkskörper“ (wie Anm. 32), S. 38. 1121 JEREMY NOAKES, Nazism and Eugenics: The Background to the Nazi Sterilization Law of 14 July 1933, in: ROGER J. BULLON/HARTMUT POGGE VON STRANDMANN/ANTHONY B. POLONSKI (Hrsg.), Ideas into Politics. London 1984, S. 75–94. 1122 BOCK, Sterilization (wie Anm. 1119), S. 157. 1123 CORNELIE USBORNE, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik. Münster 1994 [engl. 1992], S. 26, 169. – Für ein Beispiel einer Schrift, die zu dem von Usborne beschriebenen „Klima“ beigetragen haben mag, EVA HÜBNER, „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Eine Programmschrift von 1920/22, in: HORST D. SCHLOSSER (Hrsg.), Das Deutsche Reich ist eine Republik. Beiträge zur Kommunikation und Sprache der Weimarer Zeit. (= Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft, Bd. 8.) Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 128–140.

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Der Nationalsozialismus inszenierte nicht nur gesunde und als schön empfundene Körper, sondern er schloß zugleich aus, was seinem Bild von Gesundheit und Schönheit zuwiderlief. Andere „Rassen“, schwache und kranke Menschen wurden, wie es im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hieß, „ausgemerzt“. Die Lebensreformer wollten hingegen seit dem späten 19. Jahrhundert eine gesündere Gesellschaft durch eine Reform aller ihrer Glieder schaffen. Sie strebten eine organische Umgestaltung an, nicht Vernichtung und Ausschluß. Die Vegetarier, die Naturheil- und die Reformhausbewegung bekämpften menschliche Angewohnheiten wie fettes Essen, Alkoholkonsum und Bewegungsmangel, aber nie den Menschen selbst oder einzelne Menschen. Die grundgute Natur brachte in ihrer Sichtweise kein „lebensunwertes Leben“ hervor, keine Aberrationen. Wohl in dieser Tradition schrieb Werner Altpeter noch kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs: „Voraussetzung für jedes gesunde Gemeinschaftsleben ist die Achtung vor dem eigenen und fremden Körper.“1124 Idealerweise sollte jeder seine Lebensmittel, seine Kleidung, seine Haushaltswaren und seine Körperpflegemittel im Reformhaus kaufen und in einem „Reformhaushalt“ leben. Ein Volk von Reformern, davon waren die Lebensreformer überzeugt, wäre ein gesünderes Volk. Zugleich ließen sie aber auch keinen Zweifel daran, daß sie sich das deutsche Volk vorstellten, wenn sie „Volk“ sagten. Ausdrücklich erwähnten sie das erst nach 1933. Das Ziel, den „Volkskörper“ zu stählen, radikalisierte sich auch in der Lebensreform insofern, als sie nunmehr das deutsche Volk zum gesündesten aller Völker machen wollte, vor allem seit Kriegsbeginn. Im „Dritten Reich“ war in den Reformhauszeitschriften meist nur „positiv“ vom deutschen Volk die Rede, das „Negativum“ anderer Gruppen, die nicht dazugehörten oder dazugehören sollten, fehlt in den Quellen fast völlig: Im Hinblick auf Menschen, die es „auszumerzen“ gelte, schweigen die Publikationen weitgehend. Sie lehnten eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aber auch nie ausdrücklich ab. Daher muß offen bleiben, ob den Autoren bewußt war, wie sehr ihre traditionsreiche Vorstellung von einer grundguten Natur der nationalsozialistischen Ideologie zuwiderlief. Fest steht jedenfalls, daß sich die Reformwarenwirtschaft den veränderten politischen Verhältnissen nach 1933 in ihrer Geschäftspolitik anpaßte. Die Neuform-VDR bemühte sich seit 1933 nicht nur, den Anteil von Auslandswaren in ihrem Sortiment zu verringern, sondern sie schloß auch ihre jüdischen Mitglieder aus und beendete Geschäftskontakte mit jüdischen Unternehmen. Neben Sterilisation und „Euthanasie“ hatte die Rassenhygiene noch eine weitere Komponente: das gezielte Fördern vermeintlich guten, gesunden Erbguts. Menschenzüchtungsphantasien hatte es um die Jahrhundertwende immer wieder auch in der Lebensreform gegeben. Vor allem Protagonisten der Nacktkultur wie Richard Ungewitter (1868–1958) hatten sich ausgemalt, Menschen von „reinem germanischen Typus“ beiderlei Geschlechts innerhalb efeuumrankter Mauern bei vegetarischer Lebensweise und ohne Bekleidung miteinander leben zu lassen, auf daß sie eine gesunde Nachkommenschaft zeugten. Anschließend sollten diese 1124 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 12.

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„Edelmenschen“ die Außenwelt befruchten.1125 Gezielte Versuche der Nationalsozialisten, „nordische Arier“ zu züchten, sind mit Blick auf die Konzentrationslager des „Dritten Reichs“ „the other side of the coin“ gennnt worden.1126 Davon abgesehen, daß die Metapher zweier Seiten derselben Medaille die falsche Assoziation weckt, jeder, der Menschen züchte, müsse auch Menschen töten und umgekehrt, ist dieses Bild auch insofern schief, als das Ausmaß nationalsozialistischer Züchtungsversuche im Vergleich zu den Sterilisationen und den Schrecken der Vernichtungspolitik verschwindend gering war. Wenn die Nationalsozialisten in der für diesen Zweck gegründeten Institution „Lebensborn“ überhaupt Menschen züchteten, dann nicht in großem Umfang. Die zeitgenössischen und bis in die Zeit der Bundesrepublik weiterwirkenden Gerüchte über angebliche Menschenzucht vor allem im als „Musterheim“ fungierenden Haus „Hochland“ im oberbayerischen Steinhöring dürften nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben; der „Lebensborn“ war wohl vor allem eine Anstalt zur Verringerung des Geburtenausfalls.1127 Bei Ungewitter sollten die „Edelmenschen“ die „Außenwelt“ noch „befruchten“. Im „Dritten Reich“ hingegen wurden jene, die nicht zu den „Edelmenschen“, die jetzt „Arier“ hießen, „ausgemerzt“ – die Utopie vom absolut „gesunden Volk“, jener Pervertierung des „gesunden Lebens“, versuchten die Nationalsozialisten vornehmlich durch Mord zu erreichen. Im Schrifttum der Reformwarenwirtschaft spielten Züchtungsgedanken keine Rolle, und auch die öffentlich ohnehin weitgehend verschwiegene Euthanasie kam nicht vor. Mit einer Verbesserung der Rasse durch eine gesündere Lebensweise und Sterilisationen beschäftigte sich Altpeter im Januar 1934 in einem Artikel über „Erneuerung oder Rassetod?“1128 Den mittleren Strich des Großbuchstaben „E“ in diesem Titel bildete ein Hakenkreuz. Dem Text waren Tabellen und Statistiken unter anderem zur „Zunahme der Geisteskrankheiten“, zu „Kosten der Geisteskranken“ im Vergleich zu Normalschülern und Hilfsschülern, zur stärkeren „Vermehrung“ von „Minderwertigen“ im Vergleich zu „Gesunden“ und zum Verhältnis zwischen sozialer Stellung und Kinderzahl beigefügt. Eine Graphik sollte den folgenden Sachverhalt veranschaulichen: „Wenn dieser Mann sterilisiert worden wäre, wären nicht geboren: 1 Unsoziale, 4 Taubstumme, 3 Stotterer, 2 Epileptiker, 1 Schwachsinnige, 1 körperl. Anormale“. Altpeter schickte seinem Artikel eine „persönliche Bemerkung“ voraus: „Man liest jetzt so viel über Rasseund Bevölkerungsfragen, und vielen Arbeiten ist anzumerken, daß sich die Verfasser in den letzten Monaten rasch einmal über die Dinge unterrichtet haben, weil es die Zeit fordert“ – er selbst aber beschäftige sich seit zwölf Jahren mit diesem Thema.

1125 RICHARD UNGEWITTER, Der Vegetarismus als Grundlage höheren Menschentums, in: Vegetarische Warte vom 30. Dezember 1904, S. 563–567, hier S. 566f. 1126 CATERINE CLAY/MICHAEL LEAPMAN, Master Race. The Lebensborn Experiment in Nazi Germany. London 1995, S. ix. 1127 GEORG LILIENTHAL, Arzt und Rassenpolitik: Der „Lebensborn e.V.“, in: FRIDOLF KUDLIEN (Hrsg.), Ärzte im Nationalsozialismus. Köln 1985, S. 153–166. 1128 Neuform-Rundschau, Januar 1934, S. 8–10. Aus diesem Artikel auch die folgenden Zitate.

3.2. Vitaler leben – die innere Natur (1918–1945)

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Zwar hatte Altpeter schon in den Jahren 1926 und 1927 eine Aufsatzreihe über „rassenkundliche Fragen“ in der Zeitschrift Form und Leben publiziert1129, doch war auch für ihn erst das Umfeld der nationalsozialistischen Zeit ein Anlaß, in der Neuform-Rundschau, die er bisher nicht als Plattform für diese Fragen genutzt hatte, einen großen Artikel über den drohenden „Rassetod“ zu veröffentlichen. Schließlich hatte, darauf wies der Autor ausdrücklich hin, das Reichspropagandaministerium den Wunsch bekanntgegeben, daß nicht nur Tageszeitungen, sondern auch alle anderen Zeitschriften die rasse- und bevölkerungspolitischen Bestrebungen der Regierung unterstützen sollten. Die Januarausgabe 1934 der Reform-Rundschau war als „Säuglings-Heft“ gestaltet und erschien Altpeter daher als „der beste Platz zur Behandlung derartiger Fragen“. Zwischen Artikeln über Säuglingsernährung, Kinder-Körperpflege und den „Atem der Kinder“ ging es nun also um die „drei große[n] Gruppen“ Rassefragen (Erbtüchtigkeit), Rassehygiene (Erbgesundheit) und Nachwuchsstärke (Geburtenzahl). Altpeter äußerte sich sorgenvoll angesichts der „Entnordung“ und des drohenden Verschwindens des „deutschen Menschen“. Immerhin warnte er davor, „die Rassenkunde zu einem Wertmaßstab für Einzelfälle zu machen.“ Es komme aber darauf an, den deutschen „Volkskörper“ gegen „außereuropäische Blutzufuhr zu schützen, insbesondere auch den jüdischen Einschlag fernzuhalten. Die Gesetzgebung im nationalsozialistischen Staat wird hier Regelungen schaffen.“ Bezüglich der Rassenhygiene nannte Altpeter die „keimschädigenden Ursachen“ Alkohol, Nikotin und Koffein, die „allermeist Folgen der Großstadtkultur“ seien: „Die rassenhygienischen Bestrebungen gehen dahin, den Verbrauch schädigender Genußmittel einzuschränken. Sie decken sich also hier mit den Bestrebungen der Reformbewegung.“ Der „Ernährungsfrage im biologisch-reformerischen Sinne“ müsse noch mehr Beachtung als bisher geschenkt werden. Um die Geburtenzahl zu heben, empfahl Altpeter die Steigerung der Lebenskraft und eine neue Einstellung dem Leben und der Natur gegenüber. Bei diesen pronatalistischen Floskeln differenzierte er nicht weiter zwischen verschiedenen Rassen und Schichten, es ging mehr allgemein um das vom Schrumpfen bedrohte deutsche Volk. Manche – nicht alle – Inhalte der Lebensreform wiesen, das geht aus alldem hervor, eine gewisse Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie auf. Jenen Vertretern der Reformwarenbranche, die für die Verbreitung der lebensreformerischen Idee standen, fiel es daher leichter, sich auf das neue Regime umzustellen, als denen, die das formale Zusammengehen mit den Organisationen der neuen Machthaber zu vollziehen hatten. Fürchteten die Branchenpolitiker um die Unabhängigkeit der Reformwarenwirtschaft, so paßten sich die mehr „geistigen“ Lebensreformer, so scheint es jedenfalls, publizistisch oft mit Freuden und wohl auch aus innerer Überzeugung an, zumindest aber mühelos. Hier muß aber eine persönliche Komponente beachtet werden. Für die Branchenpolitiker steht vor allem die Person des Neuform-VDR-Geschäftsführers Alfred Liebe, der aufgrund seiner eigenen Biographie und seiner Rolle im Netzwerk der Lebensreform in einem spannungsreichen Verhältnis zur Gesundheitsführung des „Dritten Reichs“ 1129 MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 335.

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stand. Wichtigster Publizist der Lebensreform war auf der anderen Seite der Schriftleiter der Kundenzeitschrift Werner Altpeter, der sich schon in den zwanziger Jahren in völkischen Kreisen bewegt hatte und viele Überzeugungen des Nationalsozialismus teilte. Letztlich ließen sich Altpeter und die anderen Zeitschriftenautoren aber vom eigenen Horizont der Lebensreform und ihren Traditionen leiten, wenn sie über Fragen schrieben, die auch in die Gesundheitspolitik des „Dritten Reichs“ paßten. Das gilt vor allem für die Vorstellung, daß Gesundheit durch eine gesündere Lebensweise geschaffen werden könne – und nicht durch menschliche Eingriffe in die menschliche Natur und ins menschliche Leben, wie sie Vernichtungspolitik, Sterilisation und Züchtungsversuche erforderten. Aus der historischen Distanz betrachtet, überschattete nationalsozialistisches, das deutsche Volk verherrlichendes, rassenhygienisches, auch antisemitisches Gedankengut zwar mehr als die Hälfte der Zeit des vitaleren Lebens, nicht aber die gesamte Zeit zwischen 1918 und 1945. Erst der Nationalsozialismus entfachte diese Anklänge in der Sprache der Reformwarenwirtschaft. Die Lebensreform der Weimarer Republik war noch nicht von ihnen geprägt, ihr darf also nicht „rückwirkend“ Gedankengut mit Nähe zum Nationalsozialismus zugeschrieben werden. Die Lebensreform der Weimarer Republik steuerte nicht auf den Nationalsozialismus und seinen „Führer“ zu. Um ihre Inhalte an die nationalsozialistische Ideologie anzupassen, mußten die Lebensreformer viele ihrer eigenen Konzepte bloß radikalisieren, was in einigen Fällen zu einer Perversion der Inhalte führte. Als das „Dritte Reich“ im Jahr 1945 Geschichte wurde, veränderten sich die Inhalte der Lebensreform abermals. Manches, was seit den zwanziger Jahren, und anderes, was erst seit 1933 aufs engste mit der Bewegung verbunden gewesen war, verschwand nun fast völlig. Damit veränderte sich auch die Lebensreform tiefgreifend. Ihre Grundideen, die der Nationalsozialismus eingedämmt, aber nicht vernichtet hatte, ließen die Bewegung nach 1945 im Westen Deutschlands noch einige Jahrzehnte lang weiterbestehen. In der DDR gab es zwar noch Reformhäuser, aber da dort eigene lebensreformerische Zeitschriften fehlten, kann für den Osten Deutschlands nicht mehr von einer Lebensreformbewegung gesprochen werden.1130 Im Westen blieb die Lebensreform trotz anfänglicher Zweifel auch nach 1945 zunächst bestehen. Seit den späten sechziger Jahren begann zugleich, vorerst schleichend, die Erosion ihrer Inhalte. 3.3. ÖKOLOGISCHER LEBEN – DIE ÄUßERE NATUR (CA. 1950–CA. 1990) In der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg standen die Körper der Menschen im Mittelpunkt des lebensreformerischen Interesses. Ihre Lebenskraft zu steigern, auf daß sie schön und kräftig, gesünder und vitaler würden, war in jener Epoche das Ziel der publizistischen und warenwirtschaftlichen Tätigkeit der Reformbranche. Ein solcher Fokus auf die „innere Natur“ des Menschen, auf die 1130 Deshalb kommt die DDR in diesem Kapitel, das sich mit den diachronen Ideen der Lebensreform beschäftigt, nicht vor. Zur Institutionengeschichte der Lebensreform in der DDR vgl. oben 2.2.2.4., S. 122ff.

3.3. Ökologischer leben – die äußere Natur (ca. 1950–ca. 1990)

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Natur also, die der Mensch mit seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist selbst verkörperte, verbot sich nach der Perversion der Körperkultur zum Körperkult, vor allem aber nach der Reduktion des Körpers auf Rasse und Blut, aus der der Mord an Millionen von Menschen gefolgt war. Körperliches erschien nach 1945, wenn auch weitgehend unausgesprochen, als desavouiert.1131 So war es nur folgerichtig, daß sich auch die Lebensreform, die den Menschen in ganzheitlichem Sinne stets als „Natur in der Natur“ begriff, nach dem Zweiten Weltkrieg stärker von der inneren, körperlichen Natur abwandte und sich der äußeren, der den Menschen umgebenden Natur zuwandte: der natürlichen Umwelt also, die die Reformer wie viele ihrer Zeitgenossen als vom Menschen, von seiner Zivilisation, seiner Industrie und Technik bedroht empfanden. Nur wenn die Natur wieder gesünder würde, so schimmert es durch die reformerischen Texte der fünfziger bis achtziger Jahre in steigendem Maße hindurch, sei ein gesünderes Leben möglich. Ziel der Reformer war in dieser Epoche ein ökologischeres Leben, also ein harmonisches Miteinander von Mensch und Umwelt. Dieses Miteinander erschien als Voraussetzung für die Gesundheit des Menschen und der Natur. Der Begriff der Ökologie, ursprünglich 1866 von dem Zoologen Ernst Haeckel zur Kennzeichnung einer Wissenschaft von den „Wechselbeziehungen der Organismen zur Aussenwelt und zueinander“ geprägt, erhielt seine Bedeutung als angemessener Umgang mit Natur im Sinne ihrer Erhaltung erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1132 Ökologie steht seitdem „nicht nur für eine Wissenschaft, sondern auch für einen ganzen Komplex von Werthaltungen, steht für eine Weltanschauung und ein Lebensgefühl.“1133 Beide Wortbedeutungen von „ökologisch“, die deskriptive Haeckels und die imperative, die sich erst in der Zeit des ökologischeren Lebens herausbildete, kennzeichnen zutreffend das hier Gemeinte. Der einzelne konnte zum Ziel eines ökologischeren Lebens beitragen, indem er ebendies in seinem kleinen Rahmen versuchte: ökologischer – und das hieß: in harmonischer Wechselbeziehung mit der Außenwelt und allen anderen Lebewesen und, darüber hinaus, umweltbewußter und verantwortungsbewußter – zu leben. Wie schon die Konzepte anders leben und vitaler leben war somit auch ökologischer leben nicht nur das Ziel der Lebensreform, sondern auch schon das Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Der Schwenk des lebensreformerischen Fokus von der inneren zur äußeren Natur zeigt sich besonders anschaulich in der Ikonographie der Reformhaus-Zeitschriften. Das Titelbild der Reform-Rundschau zierten, seit sie nach einer acht Jahre währenden Pause im Jahr 1949 von neuem erschien, signifikant mehr Bäume, Bäche und Tiere und signifikant weniger Menschen als vor der Erschei1131 Vielleicht lag diesem Zögern, nach dem Nationalsozialismus noch Körper zu inszenieren, ein ähnliches Empfinden zugrunde wie Adornos Diktum von 1949, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. 1132 THOMAS POTTHAST, Wissenschaftliche Ökologie und Naturschutz: Szenen einer Annäherung, in: JOACHIM RADKAU/FRANK UEKÖTTER (Hrsg.), Naturschutz und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main/New York 2003, S. 225–254, hier S. 225. 1133 LUDWIG TREPL, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen. Frankfurt am Main 1987, S. 12.

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nenspause, die 1941 begann. Auch die Fotografien, die die Kundenzeitschrift vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Hinweisen zu Gymnastik und Körperkultur beifügte, unterscheiden sich stark. In den dreißiger und frühen vierziger Jahren brachte meist recht spärliche Kleidung athletische Körper mit wohldefinierten Muskelpaketen zur Geltung. Die Leiber in den Heften aus der Zeit der alten Bundesrepublik, besonders der siebziger und achtziger Jahre, muten hingegen einigermaßen leptosom an – soweit das unter dem vielen Stoff der obligaten Trainingsanzüge, dem wichtigsten Kleidungsstück der „Trimm-Dich-Bewegung“ derselben Zeit, überhaupt erkennbar ist. Auch die Reformhausprodukte standen nun stärker für Natürlichkeit als dafür, den Körper zu kräftigen. „Immer mehr Deutsche schätzen die biologisch angebauten Rabenhorst-Gemüse in der Flasche!“ – so pries das Unternehmen „Rabenhorst“ im Jahr 1979 seine „Vorzugssäfte“ aus Möhren, Roter Bete und Sauerkraut an.1134 Über die Gemüsesäfte des Bad Sodener Herstellers „Eden“ hieß es im selben Jahr: „EDEN Gemüsesaft ist reiner Preßsaft aus biologisch-dynamischem DEMETER-Anbau und biologischem Anbau, ohne Verwendung von treibenden Mineraldüngern und ohne chemische Pflanzenschutzmittel, angebaut auf besten, gesunden Böden.“1135 Ein Produzent natürlicher Arzneimittel fügte seiner Anzeige den Satz bei: „Gegen Umweltgifte müssen wir uns zunehmend schützen, denn sie belasten unsere Organe und den Stoffwechsel.“1136 Die Anzeigen verwendeten oft Begriffe wie „unverfälscht“, „rein“, „natürlich“, „biologisch hochwertig“ und „sorgfältig ausgewählt“. Öfter als vor dem Krieg bildeten sie frisches Obst und Gemüse ab, vor allem aber Kräuter. Das Pflanzensaftwerk Walther Schoenenbergers warb in den siebziger Jahren immer wieder mit Fotos von der Ernte auf seinen Anbauflächen.1137 Eine Anzeige für „Eden“-Margarine begleitete im Jahr 1973 eine Fotomontage mit Früchten, Vollkornbrot und Ähren, die sich um eine Margarineschachtel gruppieren. Im Hintergrund schwimmt ein Schwan auf einem See. Der Slogan lautete: „Zurück zur gesunden Natur!“1138 Oft verwiesen die Anzeigen auch auf die lange Erfahrung des jeweiligen Herstellers. Schließlich waren viele der Reformwarenbetriebe schon um die Jahrhundertwende entstanden. In einer traditionsbewußten Branche wie der Reformwarenwirtschaft handelte es sich bei allem Wandel der Produktimages nach 1945 – weniger: „macht vital“, mehr: „ist natürlich“ – nur um graduelle Unterschiede, ganz wie sich auch in den Diskursen des redaktionellen Teils der Zeitschriften nur der Akzent verschob, von der „inneren“ zur „äußeren“ Natur wanderte, vom vitaleren zum ökologischeren Leben. Die Produzenten betonten im gesamten 20. Jahrhundert sowohl, daß ihre Erzeugnisse den Körper kräftigten und gesund erhielten, als auch, daß sie natürlich seien, oder genauer: ihre Reklame legte nahe, daß die Reformartikel eben gerade in ihrer Eigenschaft als naturbelassene Pro1134 1135 1136 1137

Anzeige in: Reform-Rundschau, Oktober 1979, S. 30. Anzeige in: Reform-Rundschau, Dezember 1979, S. 7. Anzeige in: Reform-Rundschau, März 1979, S. 24. Anzeigen in: Reform-Rundschau, April 1975, S. 19; Reform-Rundschau, Februar 1977, S. 13. 1138 Anzeige in: Reform-Rundschau, Oktober 1973, S. 9.

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dukte den Körper in besonderer Weise stärkten. Die Produktwerbung präsentierte „innere“ und „äußere“ Natur sowohl in der ersten als auch in der zweiten Jahrhunderthälfte als Einheit. Lediglich die Gewichtung der beiden Größen variiert: Nach 1945 griff die Reformwarenwirtschaft zunehmend jene neue Sorge um die Natur auf, die sich allmählich in der gesamten Gesellschaft zu zeigen begann, und nutzte sie als zusätzlichen Anreiz für den Kauf ihrer natürlichen Produkte. Daß in der zweiten Jahrhunderthälfte die „äußere“ Natur im Vordergrund stand, heißt jedoch nicht, daß es in dieser Zeit nicht auch Reformwarenreklame gegeben hätte, die die Vitalität des Körpers in den Mittelpunkt stellte.1139 Meist aber widmete sich die Lebensreform dem Körper nur noch mittelbar, eben mittels ihrer Sorge um die äußere Natur. Wenn die Menschen sich so verhielten, daß die natürliche Umwelt eine gesündere würde, so glaubten die Reformer, dann werde sich das auch günstig auf den menschlichen Organismus auswirken. Insofern projizierte die Bewegung ihre Sorge um die Gesundheit der Körper, wie sie in der Weimarer Republik und dann, pervertiert, auch im „Dritten Reich“ im Vordergrund gestanden hatte, nach außen. Aus der Beobachtung, daß der Mensch die Natur zu zerstören vermochte, erwuchs der Gedanke seiner Verantwortung für die Natur und damit auch für sein eigenes Wohlbefinden (3.3.1.). Diese Vorstellung äußerte sich im Lauf der Jahrzehnte auf verschiedene Weise. Die fünfziger Jahre waren noch stark von allgemeiner Zivilisations- und Konsumkritik geprägt (3.3.2.). Seit den sechziger Jahren entstanden neue Protestgruppen und soziale Bewegungen, mit denen die Lebensreform einige Ansichten und Ziele teilte, von denen sie sich in anderem aber auch deutlich unterschied (3.3.3.). Die neuen „Alternativen“ griffen denn auch nur in Ansätzen auf die inzwischen viele Jahrzehnte alten lebensreformerischen Traditionen zurück (3.3.4.). 3.3.1. Verantwortung für Natur und Umwelt Am 5. März 1956 erschien die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einem Leitartikel, dessen Titel „Zurück zur Natur“ lautete. Der Text erzählt zunächst von einem stadtflüchtigen Großstädter und einem Hobby-Landwirt, die ein „Lob des ländlichen Lebens“ singen, um dann ins Grundsätzliche überzugehen: „Einzelfälle, wie es sie immer gegeben hat und die nichts besagen? Vielleicht – aber warum macht man sich über sie Gedanken? Weil solche Gedanken in der Luft liegen!“ Die Menschen litten, so der Artikel weiter, an „Verarmung“, weil sie sich in der „Unnatur des städtischen Lebens“ immer mehr des Umgangs mit der Erde, der Pflanze, dem Tier entwöhnten: „Ueber den Wundern der Naturwissenschaft ist uns die Natur abhanden gekommen. Die Kinder plappern von Atomkraft und unterscheiden geläufig Autotypen und Radiomodelle, aber sie kennen Weizen und Hafer nicht auseinander, und die Natur ist ihnen nicht viel mehr als etwas Grünes.“ Unablässig setze das Stadtleben den Nerven zu, Reize, Lärm, Spannung und 1139 So warb etwa der Saftproduzent „Rabenhorst“ im Jahr 1975 mit dem Bild einer Tennisspielerin und dem Schriftzug „Trimm Dich fit“ für ein kalorienarmes Getränk. Anzeige in: Reform-Rundschau, Juni 1975, S. 12.

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Zerstreuung jagten sich. Die Natur aber verlange „mit sanftem Zwang, daß man sich konzentriere, auf das Beet, das man bestellt, auf das Tier, mit dem man sich abgibt. Sie strahlt dafür etwas aus, was friedlich macht, was uns anspricht, denn wir sind selbst Natur, nicht Mechanik.“1140 Daß diese Gedanken, wie der Journalist beobachtete, in der Luft lagen, war ein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch im Bewußtsein der Lebensreform war „die Forderung nach reinem Wasser, reiner Luft und Schutz vor radioaktiven Strahlen“ nach dem Krieg etwas Neues.1141 Um 1950 zeichnete sich somit in der Bewegung wie auch gesamtgesellschaftlich ein „radikaler Paradigmenwechsel“ ab, wie der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges feststellt: „Er ist charakterisiert durch ein wachsendes Mißtrauen gegenüber den technischen Fortschritten, durch eine tiefgreifende Resignation angesichts der technischen und sozialen Zerstörungen im Zeitraum zweier Weltkriege, durch einen grundsätzlichen Zweifel an der Wirksamkeit der mechanistisch-ökonomischen Modelle.“1142 Zerstörerische Eingriffe des Menschen in die Natur hatten Kulturkritiker und Lebensreformer auch schon um die Jahrhundertwende angeprangert, schon mit der beginnenden Moderne war in Ansätzen entstanden, was der Philosoph Hans Jonas – allerdings erst 1979 und mit Blick auf seine Gegenwart – ein Bewußtsein für die „Verletzlichkeit der Natur“ genannt hat.1143 Das bekannteste Beispiel für einen solchen frühen Text ist die Rede „Mensch und Erde“, die der Lebensphilosoph und Psychologe Ludwig Klages (1872–1956) anläßlich des „Ersten Freideutschen Jugendtages“, einer Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig, im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner hielt.1144 Auch der Sanatoriumsbetreiber Adolf Just wandte sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts gegen den schädlichen Einfluß, den der Mensch auf die Natur nehme: „Der Mensch in seiner Verirrung hat die Natur gewaltig gestört. Er hat die Wälder ausgerodet, wodurch sogar die Wetterverhältnisse und das Klima verändert wurden. Manche Pflanzen- und Tierarten hat der Mensch ganz vernichtet, obwohl dieselben durchaus nötig waren. Überall wird heute durch Rauch und dgl. die Luft verdorben, und die Flüsse werden verunreinigt. Dieses und anderes sind grobe Eingriffe in die Natur, die die Menschen heute ganz übersehen, die doch von grösster Bedeutung sind und überall nicht nur bei Pflanzen, sondern auch bei Tieren, die von Anfang an nicht so zähe und widerstandsfähig wie die Menschen sind, sofort ihre nachteiligen Folgen zeigen müssen.“1145

1140 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. März 1956, S. 1. Ganz ähnlich KARL KÖTSCHAU, Gesundheitsprobleme unserer Zeit. 2 Bde. München 1955, Bd. 1, S. 31: „Die moderne Jugend bewundert mehr die verschiedenen Autotypen als die verschiedenen Bäume und Gewächse der Natur.“ 1141 ALTPETER, Geschichte der Lebensreform (wie Anm. 47), S. 11. 1142 HEINRICH SCHIPPERGES, Medizin an der Jahrtausendwende. Fakten, Trends, Optionen. Frankfurt am Main 1991, S. 62. 1143 HANS JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984 [zuerst 1979], S. 26–28. 1144 Abgedruckt in: MOGGE/REULECKE, Hoher Meißner 1913 (wie Anm. 670), S. 171–189. 1145 JUST, Kehrt zur Natur zurück, Bd. 1 (wie Anm. 757), S. 5.

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Um die Jahrhundertwende artikulierten aber nur verschwindend wenige Menschen solche Gedanken. Darauf weist auch Justs Aussage hin, die von ihm beschriebenen Eingriffe in die Natur würden „heute ganz übersehen“. Daß den meisten Menschen diese Eingriffe offensichtlich nicht als sonderlich gefährlich erschienen, ja, daß sie wohl kaum über sie nachdachten, liegt nahe. Die Gefahren, die die menschliche Zivilisation für die natürliche Umwelt darstellte, waren damals, verglichen mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eben in Quantität und Qualität noch sehr gering. Vor allem waren die Eingriffe in die Natur örtlich begrenzt: Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es noch nicht die technischen Mittel, die eine tiefgreifende oder gar totale Naturzerstörung als drohende Möglichkeit erscheinen ließen. Texte wie Justs und Klages’ Anklagen und der gesamte Naturschutz der ersten Jahrhunderthälfte sind daher nicht mit dem Umweltdenken späterer Jahrzehnte zu vergleichen.1146 Eine Kritik an den Folgen der Moderne für die Gesundheit der Natur war in der Zivilisationskritik des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“ denn auch weitaus seltener als die Kritik an den Folgen der Moderne für die Gesundheit des einzelnen und des Gemeinwesens, die man eben viel unmittelbarer erfuhr. Daß die Gesundheit der Natur vom Menschen abhängig war und daß die persönliche und die gesellschaftliche Gesundheit wiederum abhängig waren von der Gesundheit der Natur, sind Gedanken erst der zweiten Jahrhunderthälfte. Die Verknüpfung des „Gesundheitszustandes“ der Natur mit dem Wohlergehen der Menschheit fehlt in den frühen Texten weitgehend. Vor dem Ersten Weltkrieg war der Naturschutz vielmehr ästhetisch oder national (im Sinne eines Schutzes des „deutschen Bodens“ oder der besonderen Beziehungen der „deutschen Seele“ zur Natur) motiviert. In der Weimarer Republik verschob sich der Schwerpunkt des Naturschutzes zum Schutz von Flächen zur Erholung der Bevölkerung. Eine „ökologische Zielsetzung des Naturschutzes blieb sowohl den staatlichen Stellen wie auch den entstandenen Naturschutzverbänden eher fremd.“1147 Im „Dritten Reich“ wurden zwar umfassende naturschutzrechtliche Regelungen erlassen1148, aber der Gedanke einer staatlichen oder allgemein-menschlichen Verantwortung für die Risiken der Technik war noch nicht vorhanden. Als der Mensch dann begriff, daß er große Macht über die Natur besaß und zugleich für sein eigenes Überleben auf die Natur angewiesen war, entstand der Gedanke einer Verantwortung für die verletzliche Natur, die dem Menschen ob1146 Davor, die Lebensreform durch die „heutige Ökobrille“ zu betrachten, warnte auf einem Darmstädter Symposion am 19. Januar 2002, ebenfalls mit Blick auf Klages’ Rede, auch Joachim Radkau. 1147 MICHAEL KLOEPFER, Umweltrecht. 2. Auf. München 1998 [zuerst 1989], § 2 Rdnrn. 48–54, S. 84–87. – Zum „romantischen“ Gehalt des frühen Natur- und Heimatschutzes KURT HAMMERICH/RALF MÜLLER/BETTINA SCHAFFRATH, Natur: Zwischen Schutz und Nutzung. Sankt Augustin 1995, S. 25–35. 1148 Dazu EDELTRAUD KLUETING, Die gesetzlichen Grundlagen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz, in: RADKAU/UEKÖTTER (Hrsg.), Naturschutz und Nationalsozialismus (wie Anm. 1132), S. 77– 105; KARL DITT , Die Anfänge der Naturschutzgesetzgebung in Deutschland und England 1935/49, in: ebd., S. 107–143.

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jektiv zugewiesen sei und die er – eben kraft seiner Macht – fühlen müsse. Diese Verantwortung zielte auf den Schutz der Natur vor schädlichem menschlichen Einfluß. Sie ergänzte gewissermaßen den biblischen Auftrag der Schöpfungsgeschichte, in dem es heißt, der Mensch solle über die Tiere und Pflanzen herrschen – einen Auftrag also, der auf den Gebrauch, die Nutzung und Gestaltung der Natur zielte. Auch Hans Jonas nannte Ende der siebziger Jahre die „Natur als eine menschliche Verantwortlichkeit“ ein „Novum“.1149 Im Zuge dieser Entwicklungen bekam die „äußere Natur“ auch einen neuen Namen, wurde zur anthropozentrischen „Umwelt“, die den Menschen umgab und beeinflußte.1150 Auch der Begriff des Umweltschutzes, der aus den Bemühungen zu einer Institutionalisierung der Umweltpolitik der sozialliberalen Koalition entsprang, machte seit 1969 eine „steile Karriere“.1151 Auch die Lebensreform bezog die Umwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als entscheidende Größe in ihre selbstund gesellschaftsreformerischen Konzepte mit ein, die nun vor allem auf eines zielten: auf ein ökologischeres Leben. Risiken für die Gesundheit wurden seit ungefähr 1960, das ging vor allem von neuen medizinischen Erkenntnissen aus, nicht mehr wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg in anderen Menschen (etwa in Keimen) oder in der zerstörerischen Natur (in Naturkatastrophen) gesehen, sondern zunehmend in der Interaktion des Menschen mit der Natur: Im menschlichen Handeln, im individuellen und vor allem im kollektiven, lagen hier zugleich Gefahr und Chance.1152 Da nicht sicher war, ob das kollektive menschliche Handeln zur Rettung der Menschheit oder zur Katastrophe führen würde, empfanden viele wie der Naturheilpraktiker und Buchautor Manfred Köhnlechner, der 1978 feststellte: „Wir leben nun einmal im Jahrhundert der Angst. Es ist heute normal, Angst vor dem nächsten Tag zu haben [...].“1153 Der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker schrieb 1969, die Zukunft sei vor allem deswegen ungewisser als je zuvor, weil die Welt sich noch nie so schnell verändert habe.1154 Neu war im Vergleich zur 1149 JONAS, Prinzip Verantwortung (wie Anm. 1143), S. 27. 1150 Gemeinhin zählt man zur Umwelt mehr Elemente als zur Natur, neben allem Lebendigen etwa auch Wasser, Boden und Luft. Der weite Naturbegriff der Lebensreform bezog allerdings alle diese Elemente als anorganische, unbelebte Natur mit ein. 1151 Neben Hans-Dietrich Genscher, der im November 1969 nach einem einprägsamen Namen für die für das neue Politikfeld zuständige Abteilung im Bundesministerium des Innern gesucht haben soll, gilt auch die Ministerialbürokratie als „Urheber des Begriffs“. Vgl. KLOEPFER, Umweltrecht (wie Anm. 1147), § 2 Rdnr. 73, S. 95. 1152 ARMSTRONG, New History of Identity (wie Anm. 1051), S. 113–116, bes. S. 115. – Eine pessimistische Sicht etwa bei ULRICH BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986, S. 43: Der „hochdifferenzierten Arbeitsteilung“ entspreche eine „allgemeine Komplizenschaft und dieser einer allgemeine Verantwortungslosigkeit. Jeder ist Ursache und Wirkung und damit Nichtursache.“ 1153 MANFRED KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner. München 1978, S. 274. 1154 CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER, Wie wird und soll die Rolle der Wissenschaft in den siebziger Jahren aussehen?, in: ders., Die Einheit der Natur. Studien. 5. Aufl. München 1986 [zuerst 1971], S. 21–38, hier S. 21. Zuerst in: CLAUS GROSSNER u. a. (Hrsg.), Das 198. Jahrzehnt. Eine Team-Prognose für 1970–1980. Hamburg 1969, S. 495–510.

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Jahrhundertwende und zur ersten Jahrhunderthälfte auch ein gesteigerter Zukunftspessimismus, der an die Stelle des einst stärkeren Fortschrittsoptimismus trat. Das frohe Hoffen auf eine „neue Zeit“, wie es die Lebensreformer in der Weimarer Republik gepflegt hatten, verkehrte sich in sein Gegenteil. In der Reform-Rundschau war sogar vom drohenden Ende der Menschheit die Rede, wenn auch „nur“ in Form einer Prophezeiung eines brasilianischen Wissenschaftlers.1155 Mit Jürgen Habermas kann in Hinsicht auf die zweite Jahrhunderthälfte von einer „Erschöpfung der utopischen Energien“ gesprochen werden. Denn nicht nur die lebensreformerischen Vorstellungen von einer besseren Zukunft schwanden1156, auch die sozialutopische Erwartung der ersten Jahrhunderthälfte, daß „Wissenschaft, Technik und Planung“ als „verheißungsvolle und unbeirrbare Instrumente einer vernünftigen Kontrolle von Natur und Gesellschaft“ wirkten, wurde durch „massive Evidenzen“ erschüttert. Kernenergie, Waffentechnologie, das Vordringen in den Weltraum, die Genforschung, biotechnische Eingriffe in das menschliche Verhalten, Informationsverarbeitung, Datenerfassung und neue Kommunikationsmedien erwiesen sich, so Habermas, als „von Haus aus Techniken mit zwiespältigen Folgen.“1157 Das heißt zwar nicht, daß die Hoffnung auf eine bessere Zukunft völlig erstorben wäre. Der mögliche Fortschritt erschien nun aber, um mit Wilhelm Schmid zu sprechen, „nicht mehr als großer, unaufhaltsamer Grundstrom der Geschichte, sondern, bescheidener, als punktuelle Verbesserung spezifischer Verhältnisse.“1158 Auch die Lebensreformer strebten nach wie vor nach einem gesünderen Leben. Sie hofften, die Welt, verstanden sowohl als private Lebenswelt als auch als Umwelt, auf diesem Wege ein wenig verbessern oder doch wenigstens falsche Entwicklungen hemmen und bremsen zu können. Aber sie glaubten nicht mehr an eine „neue Zeit“ oder gar an ein kommendes Paradies.1159 Neben der Angst war auch die „toxische Gesamtsituation“ seit den späten fünfziger Jahren ein Gemeinplatz der Reformliteratur. Dieser Begriff geht auf den 1155 Reform-Rundschau, Juni 1975, S. 4. 1156 In anderen Gruppen gab es im Gegensatz zur Lebensreform aber durchaus auch noch „grüne Utopien“. Der Roman „Ökotopia“ von Ernest Callenbach aus dem Jahr 1975 ist ein besonders deutliches Beispiel. Für einen Überblick „grüner Utopien“ des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. JOST HERMAND, Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins. Frankfurt am Main 1991; zur Verbindung von Ökologie und Utopie MARTIN D’IDLER, Neue Wege für Übermorgen. Ökologische Utopien seit den 70er Jahren. Köln 1999; für die grün-alternative Bewegung und die Partei der Grünen vgl. auch GÖTZ WARNKE, Die grüne Ideologie. Heile-Welt-Mythen, Gesellschaftsutopien und Naturromantik als Ausdruck einer angstbestimmten Politik. Frankfurt am Main u. a. 1998. 1157 JÜRGEN HABERMAS, Die neue Unübersichtlichkeit. Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Merkur 431, Januar 1985, S. 1–14, hier S. 2. 1158 SCHMID, Philosophie der Lebenskunst (wie Anm. 863), S. 184. 1159 Allerdings ist modernistischer Utopismus, der die unveränderliche Herrschaft eines bestimmten Neuen in allen künftigen Zeiten immer wieder aufs neue proklamiert, auch dann nicht überwunden, wenn er einfach von der postmodernen Utopie vom Verzicht auf jegliches Neue in allen künftigen Zeiten abgelöst wird: BORIS GROYS, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main 1999 [zuerst München 1992], S. 9f.

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Heidelberger Pharmakologen Fritz Eichholtz (1889–1968)1160 zurück, der ihn eigentlich nur für das umgrenzte Gebiet chemischer Lebensmittelzusätze verwandte. Der Ausdruck wurde aber schnell umgeprägt und meinte fortan den Zustand der Umwelt, die viele Lebensreformer in ihrer Gesamtheit als vergiftet oder wenigstens als durch die Gifte der Zivilisation ernsthaft bedroht empfanden.1161 Der Körper sei gezwungen, schrieb die Reform-Rundschau 1986, sich mit einer wachsenden Menge neuartiger Fremd- und Giftstoffe auseinanderzusetzen, die seine Entgiftungsmöglichkeiten bei weitem überforderten.1162 Angesichts der „gesamttoxischen Situation“ erfolgte aus Sicht der Zeitschrift Neuform-Echo gegen Ende der sechziger Jahre „höchst überraschend und plötzlich der Durchbruch des Gesundheitsgedankens in der breiten Öffentlichkeit und auch im politischen Bereich. Die Verantwortlichen in Staat, Verwaltung und Wirtschaft können drohende und eingetretene Schäden nicht länger ignorieren.“1163 Tatsächlich avancierten die Umweltprobleme in den siebziger Jahren zu einem „neuen zentralen Thema der gesellschaftspolitischen Diskussion im Zeichen von Überlebensthemen.“1164 Toxische Bodenbelastungen und Schadstoffe in der Luft traten jetzt in neuer Quantität und Qualität auf. Neue, flächendeckende Messungsmethoden dürften diese Wahrnehmung noch verstärkt haben. Die befürchtete ökologische Katastrophe blieb aber aus – auch durch eine neue Umweltpolitik. Die politische und gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit für Umweltschäden und die Annahme, der Mensch, besonders der Mensch in den Industrienationen, trage eine „globale Verantwortung“1165, trafen sich mit vielen Forderungen der Lebensreform. Die Bedrohung der Natur, der Garantin für Gesundheit, rief zur Tat und zum Protest. 3.3.2. Die fünfziger Jahre Seit die Reform-Rundschau im April 1949 erstmals wieder erschienen war, beklagte sie immer wieder die Folgen der modernen Technik, die die Natur zerstöre 1160 Biographische Angaben zu Eichholtz bei MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 315. 1161 FRITZ EICHHOLTZ, Die toxische Gesamtsituation auf dem Gebiet der menschlichen Ernährung. Umrisse einer unbekannten Wissenschaft. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956. – Vgl. auch KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. 23: Der Begriff habe sich durchgesetzt; RALPH BIRCHER, Fundgrube zu Gesundheitsfragen. Ungeahnte Fülle wertvoller Fingerzeige. Bad Homburg/Erlenbach-Zürich 1980, S. 30: Der Begriff sei lange abgelehnt worden, gehöre heute aber zum „Repertoire seriöser Biologen“. – Vgl. außerdem: Neuform-Echo, Januar 1975, S. 11; Reform-Rundschau, Februar 1975, S. 2; Reform-Rundschau, März 1977, S. 3. 1162 Reform-Rundschau, März 1986, S. 17. 1163 Neuform-Echo, Januar 1975, S. 11. 1164 ANDREAS RÖDDER, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990. München 2004, S. 8. 1165 Zum „Aufbrechen der umweltethischen Frage“ als Folge der „Krise des Projekts der Moderne“ und zum Verantwortungsbegriff in der Umweltethik vgl. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Stuttgart 1994, S. 50–52.

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und somit auch die Gesundheit des Menschen bedrohe.1166 Besonders oft beschäftigte sich die Zeitschrift mit der Nutzung der Kernenergie und der Gefahr eines Anstiegs von „Atomkranken“ in aller Welt.1167 Der Ernährungswissenschaftler Werner Kollath, der der Lebensreform nahestand und auf den sich die Bewegung regelmäßig berief, veröffentlichte 1959 auch ein Buch über die „Atomkrankheit“.1168 Damit fügte sich die Lebensreform in einen Chor verschiedener gesellschaftlicher Stimmen ein, der in den fünfziger Jahren gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik stritt. Vertreter der SPD, der Gewerkschaften, des Protestantismus und einige Hochschullehrer gehörten zu dieser frühen, weitgehend „außerparlamentarischen Opposition“.1169 Weiterhin warnte die Reform-Rundschau vor der „Kehrseite der Motorisierung“. Einen entsprechenden Artikel ergänzten Fotografien von zu Schrott gefahrenen Kraftfahrzeugen mit Bildunterschriften wie „Es ging schief (im wahrsten Sinne des Wortes)“.1170 Auch gegen Fluglärm, den „akustischen Luftterror, dem wir bei der gegenwärtigen Weiterentwicklung überschneller Flugzeuge mit Düsenantrieb und Strahltriebwerken wohl bald in Stadt und Land ausgesetzt sein werden“, wandte sich die Zeitschrift schon einmal vorsorglich.1171 Auch Konsumkritik spielte in den lebensreformerischen Texten dieser Zeit eine wichtige Rolle.1172 In der Bundesrepublik setzte in den fünfziger Jahren eine neue Form des Konsums ein, die sich von den kargen Jahren der unmittelbaren Nachkriegszeit abhob. Obwohl das erste Jahrzehnt nach der Währungsreform von 1948 für deutsche Arbeitnehmerfamilien „ungleich genügsamer, eingeschränkter und grauer“ war, als es Begriffe wie „Konsumgesellschaft“ und „Wirtschaftswunder“ nahelegen1173, machte sich doch eine Entwicklung hin zu einer Gesellschaft bemerkbar, in der primäre Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung und die Wiederherstellung eines „Normalzustandes“ weitgehend befriedigt waren. Die Menschen konnten sich jetzt wieder stärker sekundären Bedürfnissen zuwenden. 1166 Zur Lebensreform in den fünfziger Jahren mit besonderem Blick auf die Wissenspopularisierung der Bewegung schon ausführlich FRITZEN, Spinat-Milch (wie Anm. 47). 1167 Etwa Reform-Rundschau, Januar 1957, S. 2. 1168 WERNER KOLLATH, Der Mensch oder das Atom? Freiburg 1959. 1169 HANS KARL RUPP, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer: Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD. Köln 1970, zur sozialen Zusammensetzung der „Volksbewegung“ bes. S. 120, 202f., 288–301. 1170 Reform-Rundschau, Juli 1955, S. 16f. 1171 Ebd., S. 20. 1172 WOLFGANG RUPPERT , Zur Konsumwelt der 60er Jahre, in: AXEL SCHILDT/DETLEF SIEGFRIED/KARL CHRISTIAN LAMMERS (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S. 752–767, hier S. 766f., nennt lediglich Vertreter der Frankfurter Schule wie Herbert Marcuse und Vertreter der „68er-Bewegung“ mit ihrer Propaganda gegen Kaufhäuser als Konsumkritiker. Dementsprechend kam die Konsumkritik seiner Meinung nach erst Mitte der sechziger Jahre auf. 1173 MICHAEL WILDT, Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren, in: AXEL SCHILDT/ders. (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1998, S. 275–289, hier S. 280.

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Vor diesem Hintergrund warnte Werner Altpeter im Februar 1952 vor den seelischen Gefahren durch die „drei ,O‘s“ Kino, Radio und Auto, beklagte die allgemeine „Dekadenz“ der Zeit und zeichnete Amerika als Schreckensbild.1174 Der Imperativ eines ökologischeren Lebens erstreckte sich somit auch auf das Gebiet seelischer „Verschmutzung“. Gemeint war nicht nur eine Reinhaltung der Natur von allem Unnatürlichen, sondern auch eine Reinhaltung des Gehirns und der Psyche von allem „Unsauberen“. Vor allem aber befaßte sich die lebensreformerische Konsumkritik der fünfziger Jahre mit der Ernährung. Die Texte der Reformhauszeitschriften unterscheiden sich in diesem Punkt von manchen anderen Publikationen der fünfziger Jahre, in denen ebenfalls von gesundem Essen die Rede war. So betonten Hausfrauenzeitschriften der Zeit bloß, daß gesunde Nahrung Krankheiten abwehre. Das umgekehrte Argument, der Konsum von Fleisch, Kuchen und weißen Brötchen sei ungesund und müsse daher reduziert werden, fehlte in diesen Publikationen hingegen noch weitgehend.1175 Im November 1959 prangerte Altpeter den hohen Fettverzehr und auch die „seelische Übersättigung“ der Bundesdeutschen an: „In Einzelhandelskreisen sprach man nach der Währungsreform von einer ,Freßwelle‘. Die Leute wollten sich endlich einmal wieder richtig satt essen. Dieser folgte eine Bekleidungswelle, die ihrerseits von einer Einrichtungswelle abgelöst wurde. Neuerdings spricht man von einer ,Edelfreßwelle‘ und meint damit, daß den Verbrauchern nichts gut genug ist, daß sie übertriebene Qualitätsansprüche stellen.“1176 Selbstverständlich aber profitierte auch die Reformwarenwirtschaft, deren Produkte besondere Hochwertigkeit verhießen und eine Form von Luxus darstellten, von eben der „Edelfreßwelle“, die Altpeter kritisierte.1177 Die Reformhauszeitschriften beklagten nicht nur einen Konsum, den sie für dekadent, gefährlich oder ungesund hielten. Sie versuchten zugleich, anderen Konsum zu fördern, indem sie – auch im redaktionellen Teil – für ihre Gesundheitsprodukte warben. Zu diesem Zweck führte der Neuform-Kurier 1957 etwa eine Rubrik mit dem Titel „Der kosmetische Rat“ ein. Die Kundenzeitschriften berichteten aber bei weitem nicht nur über Reformprodukte, sondern etwa auch, begleitet von Fotos mit Palmenstränden, über Reiseländer wie Italien und Spanien.1178 In den Zeitschriften spiegelte sich somit auch die allgemeine Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft. Im Juli 1959 in1174 Reform-Rundschau, Februar 1952, S. 7. – Dieser und andere zeit-, moderne- und konsumkritische Artikel Altpeters finden sich auch in dem Band: WERNER ALTPETER, Zeichen der Zeit. Kritik am modernen Menschen. 33 Aufsätze aus der Reform-Rundschau. Frankfurt am Main 1956. 1175 WILDT, Vom kleinen Wohlstand (wie Anm. 571), S. 209–211. 1176 Reform-Rundschau, November 1959, S. 7. 1177 Die historische Forschung übernahm zunächst das Bild von den „Konsumwellen“ nach 1948 aus der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Inzwischen kritisieren es einige Autoren, weil es zu starr sei. Vgl. etwa ARNOLD SYWOTTEK, Zwei Wege in die „Konsumgesellschaft“, in: SCHILDT/ders. (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau (wie Anm. 1173), S. 269–274, hier S. 272. 1178 Reform-Rundschau, August 1958, S. 14f.; Neuform-Kurier, April 1959, S. 6f.; ReformRundschau, Juli 1959, S. 16f.

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formierte die Reform-Rundschau ihre Leser über die „Wirkung der Sonnenstrahlen“. Dem Wissensstand der Zeit gemäß schätzte sie diese Wirkung, sofern man das Sonnenbad wohl dosierte, als wohltuend und gesund ein. Auf den beigefügten Fotografien sind Frauen im Badeanzug oder Bikini und mit Strohhüten zu sehen, eine trägt sogar eine modische Sonnenbrille. Im Sommer 1955 hatte die Zeitschrift noch vom Tragen einer solchen als „keiner sehr liebenswürdig[en] Geste von ,Frau Mode‘“ abgeraten, weil angeblich weder Ultrarot- noch Ultraviolettstrahlen das Auge zu schädigen vermöchten, und noch 1957 hatte sie Sonnenbrillen sogar eine „Ausartung der Modetorheit“ genannt.1179 Die Reformhauszeitschriften paßten ihre Texte und Bilder also sowohl in ihrer Zivilisations- und Konsumkritik als auch hinsichtlich jener Phänomene der Moderne, die sie für gut befanden oder doch wenigstens als gegeben hinnahmen, der veränderten Welt, der neuen Gesellschaft, den Entwicklungen der modernen Technik und des Konsumgütermarktes an. Auch zeigen sich Ansätze einer Anpassung an das erwachende Umweltbewußtsein. Die Lebensreform bahnte sich ihren Weg zwischen einer Kritik der modernen Gesellschaft und der Teilhabe an ihr. Zugleich stellten sich die Zeitschriften in die unmittelbare Nachfolge der Lebensreformbewegung der ersten Jahrhunderthälfte. Die erste Ausgabe des neu geschaffenen Neuform-Kurier schrieb im September 1951 über die Vertreter der frühen Naturheilbewegung und die Gründer der ersten Reformhäuser, die bis zur Jahrhundertwende noch „Gesundheitshäuser“ oder „Gesundheits-Zentralen“ geheißen hatten: „Die Phantasten von damals haben in allem, was sie sagten, recht behalten. Heute weist die exakte Wissenschaft diese Dinge nach. Das Reformhaus ist das Gesundheitshaus von damals geblieben.“1180 Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit während des Nationalsozialismus fand in der ReformRundschau hingegen nicht statt. Grotesk oder gar zynisch wirkt in dieser Hinsicht ein Artikel des Vorsitzenden der „Gesellschaft für Lebensreform“, die das lebensreformerische Gedankengut in die Öffentlichkeit tragen sollte. Denn der Arzt Herbert Warning beschäftigte sich unter der Überschrift „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ keineswegs mit dem, was der Titel suggerierte: „Von ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ war in den letzten Jahren oft die Rede, ja es hat sich herausgestellt, daß solche Verbrechen in einem kaum vorstellbaren Ausmaß begangen wurden. […] Es soll aber hier nicht von jenen Verbrechen gesprochen werden, die im Verlaufe des kriegerischen Geschehens auftraten, sondern von einer ganz anderen Sorte von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die es noch keine Gerichte gibt, ja, die weder den Tätern noch den Opfern bisher zu Bewußtsein gekommen sind!“

Es folgt eine Kritik der Konserve und des Weißmehls, der Industrie und der modernen Landwirtschaft: „Was will es schon heißen, wenn durch Kriege, etwa die beiden Weltkriege 1914–1918 und 1939–1945, auf beiden Seiten Millionen da-

1179 Reform-Rundschau, Juli 1959, S. 4f.; Reform-Rundschau, August 1957, S. 5; ReformRundschau, Juli 1957, S. 4. 1180 Neuform-Kurier, September 1951, S. 1.

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hinsanken, im Vergleich zu den Verlusten, die heute ununterbrochen durch unsere falsche Lebensführung entstehen?“1181 Obwohl gerade gegen die auch von der Reformbewegung kritisierte „Atombewaffnung“ und für eine „atomwaffenfreie Zone“ in Mitteleuropa durchaus schon Demonstrationen stattfanden, etwa am 15. Februar 1958 in Tübingen, wo sich rund tausend Menschen auf dem Marktplatz versammelten1182, fehlten in den Kundenzeitschriften der Reformhäuser Aufrufe, öffentlich gegen Umweltzerstörung und Umweltverschmutzung zu protestieren, in den fünfziger Jahren noch völlig. Das politische Engagement der Reformbewegung erschöpfte sich im schriftlichen Protest auf den Seiten ihrer Zeitschriften. Neben der Kritik an der Atombewaffnung wandte sich die Bewegung zwar auch gegen andere Mißstände, nannte etwa das Krankenversicherungssystem die „Maschinerie einer Mammutorganisation“ 1183 und kritisierte die Impfung gegen Pocken und Polio.1184 Über diese Form der Interessenpolitik aber ging die Lebensreform nicht hinaus. Im September 1953 stellte Altpeter die Frage, ob die Lebensreformer eine eigene Partei gründen sollten, verneinte sie aber sogleich mit der folgenden Begründung: „Die Reformer sind im allgemeinen starke Individualisten und an politischen Dingen in noch höherem Maße uninteressiert als die übrige Bevölkerung.“1185 Dieses Desinteresse stamme nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus der Erkenntnis, „daß die Politik mehr oder weniger eine Oberflächenerscheinung ist und die eigentlichen Entscheidungen auf einer tieferen Ebene fallen, nämlich da, wo es um die gesamte Lebenseinstellung geht, also an der Grenze zur Religion.“ Altpeter wies darauf hin, daß sich seiner Meinung nach keine der bestehenden Parteien der „drohenden Gesundheits- und Zivilisationsbedrohungen“ bewußt sei. Reformideen spielten im politischen Leben „gar keine Rolle“, und vom Wachstum der Anhängerschaft der Reformbewegungen nähmen die großen Parteien nicht Notiz. Der Autor hängte seinem Artikel „das Gesundheitsprogramm der nicht vorhandenen Reform-Partei“ an. Es forderte ein Lebensmittel- und Arzneimittelgesetz und eine Neuordnung des Krankenkassenwesens im lebensreformerischen Sinne, verlangte nach Lehrstühlen für Naturheilkunde und Ernährungswissenschaft sowie nach einer Reform des Impfgesetzes. Die Lebensreform artikulierte in den fünfziger Jahren aus ihrer eigenen Tradition heraus einen Protest, den dann auf ähnliche Weise seit den siebziger Jahren vermehrt auch andere Gruppen aussprachen: eine Kritik an der Zerstörung der Natur, an der Entfremdung des Menschen von ihr, an der Technisierung der Welt, an „Zivilisationsschäden“, am übermäßigen Konsum ungesunder, fetter Nahrung und zweifelhafter Produkte der Unterhaltungsindustrie. In der Nachfolge von „1968“ entstanden verschiedene Bewegungen, die ähnliche Ziele verfolgten. Diese ordneten sich politisch eher links als rechts ein und wurden auch von Au1181 1182 1183 1184

Reform-Rundschau, Mai 1952, S. 3. – Zu Warning vgl. oben Fn. 693. RUPP, Außerparlamentarische Opposition (wie Anm. 1169), S. 125f. Reform-Rundschau, Mai 1955, S. 2; vgl. etwa auch Reform-Rundschau, Januar 1959, S. 3. Reform-Rundschau, Januar 1950, S. 4f.; Reform-Rundschau, April 1952, S. 4; ReformRundschau, Juni 1955, S. 11. 1185 Reform-Rundschau, September 1953, S. 378. Hieraus auch die folgenden Zitate.

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ßenstehenden eher im linken Lager gesehen. Auch als, zunächst auf kommunaler Ebene, seit den späten siebziger Jahren Parteien wie die „Alternativen Listen“ und die „Grünen“ entstanden, die sich für manches einsetzten, was den lebensreformerischen Forderungen ähnlich war, geschah das ausschließlich auf der linken Seite des Parteienspektrums.1186 In welchem Verhältnis diese neuen Gruppen zur traditionsreichen Lebensreformbewegung standen, die bis 1933 „rechte“ und „linke“, vor allem aber unpolitische Gruppen vereint hatte, von denen die biegsamen, anpassungsfähigen dann mit den Organisationen der Nationalsozialisten zusammengegangen waren, davon handeln die nächsten Abschnitte. 3.3.3. „1968“ und seine Folgen Gästebücher einer einzigen Institution, nur miteinander und nicht mit ähnlichen Alben anderer Einrichtungen verglichen, sind nicht für gesellschaftliche Entwicklungen repräsentativ. Der Bruch, der sich im Oktober 1971 in den entsprechenden Bänden der Reformhaus-Fachschule im Taunusort Oberstedten vollzog, ist dennoch signifikant und kann insofern in gewisser Weise wiederum doch für einen Wandel stehen, der gemeinhin in der Chiffre „1968“ gebündelt wird. In den fünfziger und sechziger Jahren hatten Teilnehmer der Kurse für Reformhausmitarbeiter, Krankenschwestern und Arzthelferinnen sich regelmäßig in ordentlicher Handschrift in den Gästebüchern verewigt, in Versform kleine Anekdoten aus ihrer Zeit in der Fachschule dargeboten und ihren Ausbildern so höflich wie stereotyp gedankt. Wenn sich nicht weibliche, sondern, was seltener vorkam, männliche Teilnehmer der Gruppen eintrugen, war immer wieder spitzbübisch von nächtlichem „Ausbüchsen“ in ein nahes Gasthaus die Rede – der Betrachter denkt unwillkürlich an die brave Aufmüpfigkeit der Protagonisten aus Internats-Romanen der fünfziger und frühen sechziger Jahre, auch an das „Fliegende Klassenzimmer“. Mit einem im Oktober 1971 in eines der Alben geschmierten Eintrag aber vollzieht sich ein optischer und inhaltlicher Stilwandel. Der neue Stil, der sich über die Einträge der siebziger Jahre hinzieht (und der an anderer Stelle sehr viel radikaler zum Vorschein kam als an der Reformhaus-Fachschule), war gekennzeichnet von der dreisten Aufmüpfigkeit der siebziger Jahre, von größerer Respektlosigkeit gegenüber Institutionen – hier gegenüber der Institution der Reformhaus-Fachschule und der Institution des Gästebuchs selbst.1187 Der Wandel, den die deutsche Gesellschaft in den sechziger Jahren erlebte, machte sich also auch im Umkreis der Lebensreform bemerkbar. Im Mai 1967 durfte, auch das ist ein Detail, das über sich selbst hinausweist, auf dem Titelblatt 1186 Zur Entstehung und Entwicklung der Partei „Die Grünen“ JOHANNES SCHWARZE, Geschichte, Ideologie und Programmatik der Grünen. Diss. München 1999; stärker gegenwartsbezogen MARKUS KLEIN/JÜRGEN W. FALTER, Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung. München 2003. Vgl. auch JOACHIM RASCHKE, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Köln 1993. 1187 Vgl. Gästebücher der Reformhaus-Fachschule der fünfziger bis siebziger Jahre. Reformhaus-Fachakademie.

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der Reform-Rundschau erstmals ein junger Mann eine junge Frau küssen: züchtig auf die Wange. Die Reform-Rundschau verfolgte gesellschaftliche Entwicklungen in den sechziger und siebziger Jahren besonders aufmerksam. Sie sparte kaum einen Lebensbereich aus, beschrieb und kommentierte die sich wandelnden Arbeitsverhältnisse und ihre Folgen für die Ernährung der Arbeitnehmer und für das Zusammenleben in den Familien, schrieb etwa über „Grüne Witwen“, die in Trabantenstädten auf die Heimkehr ihrer berufstätigen Männer warteten und dort vor Langeweile krank würden.1188 Die Angst vor der Zukunft, so hieß es an anderer Stelle, drücke sich in einer „Tendenz zu erhöhter Sexualität, Vergnügen aller Art und einer abermals vergrößerten Reisewelle“ aus.1189 Besonders auf dem Gebiet der Sexualität verzeichnete die Reform-Rundschau seit den späten sechziger Jahren Veränderungen, die sie mißbilligte. Im Juni 1968 beklagte sich die Kundenzeitschrift über die „Verbrechen und Perversitäten“, mit denen Kinos, Buchläden, Leihbüchereien und Kioske die Jugend überschütteten. Diese „steigende Schmutzwelle“ rege „unreife Menschen“ zu „Untaten aller Art“ an.1190 Auch Musikzeitschriften für „Beatfreunde“ und insbesondere deren Kontaktanzeigen verurteilte die Reform-Rundschau scharf.1191 Weiterhin wandte sie sich gegen die „Antibabypille“1192, gegen Abtreibung und gegen einen Sexualkundeunterricht, der „Gebrauchsanweisungen“ erteile.1193 Hier zeigt sich abermals, daß die Reinhaltung der Umwelt des Menschen das beherrschende Thema dieser Jahrzehnte war: Nicht nur die Bäche galt es reinzuhalten, sondern eben auch die Sexläden abzuschaffen oder doch wenigstens vor ihnen zu warnen. Das von außen Drohende war das Signum dieser Epoche. Die Lebensreform sah es sowohl in den Umweltgiften als auch in der von ihr beklagten „Schmutzwelle“ der Populärkultur, vor allem in einer Übersexualisierung der Welt. Ohne alle diese von außen kommenden schädlichen Einflüsse, so die Botschaft, könnte der Mensch ökologischer leben – im Sinne einer Harmonie seines Inneren mit der Außenwelt. Zur selben Zeit, als sich die Frauenzeitschrift Brigitte mit „Deutungsangebot[en] der neuen Frauenbewegung“ beschäftigte, als sich die weibliche Sexualität in den Texten des Magazins zunehmend von Liebe, Ehe und Mutterschaft entkoppelte, als Brigitte die Reform des Paragraphen 218 forderte1194 und sich im Stern

1188 1189 1190 1191 1192

Reform-Rundschau, Juli 1968, S. 18f. Reform-Rundschau, August 1968, S. 2. Reform-Rundschau, Juni 1968, S. 6. Reform-Rundschau, November 1966, S. 17. Der Pharmakonzern Schering brachte am 1. Juni 1961 die erste „Antibabypille“ auf den europäischen Markt. Vgl. BEATE KELDENICH, Die Geschichte der Antibabypille von 1960– 2000. ihre Entwicklung, Verwendung und Bedeutung im Spiegel zweier medizinischer Fachzeitschriften: „Zentralblatt der Gynäkologie“ und „Lancet“. Diss. Aachen 2002, S. 65, zu gesellschaftlichen Reaktionen ebd., S. 90–118. 1193 Vgl. etwa Reform-Rundschau, September 1975, S. 8. 1194 DORA HORVATH, Bitte recht weiblich! Frauenleitbilder in der deutschen Zeitschrift Brigitte 1949–1982. Zürich 2000, S. 251, 253.

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374 Frauen unter dem Bekenntnis: „Ich habe abgetrieben“ abbilden ließen1195, schrieb auch Werner Altpeter in der Reform-Rundschau von einem „Zeitalter des Sex“ – doch unter anderem Vorzeichen. Der Schriftleiter der Reform-Rundschau sah die Gegenwart von einer Überbetonung der körperlichen gegenüber der seelischen Liebe geprägt, von einer fortschreitenden „Entblößung“ des weiblichen Körpers in der Öffentlichkeit, einer Durchlöcherung der Ethik und Moral, von Anarchie, „Sexualschilderungen“ in Literatur und Zeitschriften, Striptease, Miniröcken und „Sexläden“.1196 Einer 16 Jahre alten Schülerin, die mit ihrem zwei Jahre älteren Freund auf ihrem Zimmer „Platten hören, Schach spielen“ und sich unterhalten wollte und die beteuerte, dabei werde „nichts passieren“, schärfte die Lebensberaterin der Reform-Rundschau ein, in der Tat dürfe es auf keinen Fall zu Sexualkontakt mit dem Freund kommen, denn dazu sei das Mädchen noch nicht reif. Das Verhalten der Eltern – der Vater hatte die Schülerin wegen ihres Freundes „ziemlich verdroschen“ – billige sie zwar nicht, schrieb Altpeters spätere Ehefrau Anneliese von der Alz: „Aber Sie sollten auch einmal den Versuch machen, sie zu verstehen!“1197 Die Zeitschrift der „Deutschen Reform-Jugend“, Gefährten, stand der Sexualität außerhalb der Ehe und unter Minderjährigen zwar etwas aufgeschlossener gegenüber als die Reform-Rundschau, suchte aber meist das Gespräch mit der Elterngeneration und betonte, Sexualität dürfe nicht zum Konsum oder Selbstzweck werden.1198 Im Mai 1968 wandte sich die Reform-Rundschau entschieden gegen die „Jugend in Aufruhr“.1199 Zu einem friedlichen, besseren, ökologischeren Leben sollte nach Vorstellung der Lebensreform eine Gesellschaftsreform führen, nicht eine Revolution, wie sie sich viele Vertreter der Studenten erhofften. Die Lebensreform und die Kunden der Reformhäuser hingegen waren von Anfang an zutiefst bürgerlich, und auch das Alter und oft auch die politische Vergangenheit der „Generation Reformhaus“ paßten nicht zur Achtundsechziger-Bewegung. Auch die ästhetischen Vorstellungen gingen auseinander. Schon im Juni 1966 war in der Reform-Rundschau ein ablehnender Artikel Altpeters über „Die Gammler“ mit entsprechenden Fotografien aus den Innenstädten von Paris, Berlin und Frankfurt erschienen.1200 Die Devise „Sport ist Mord“, zu der sich wohl die Mehrzahl der „Achtundsechziger“ bekannt hätte, für die sich Intellektualität und körperliche Ertüchtigung weitgehend ausschlossen, wollte nicht recht zur Reformbewegung passen, die in ihren Publikationen immer wieder auch gymnastische Übungen beschrieb und empfahl. Und schließlich interessierten sich die Akteure von 1968 noch kaum für jenes in der Lebensreform entscheidende Thema dieser Jahre, das erst die „neuen sozialen Bewegungen“ aufgreifen sollten: die vom Menschen be1195 Der Stern vom 6. Juni 1971. – Vgl. auch MICHAEL GANTE, Das 20. Jahrhundert (II). Rechtspolitik und Rechtswirklichkeit 1927–1976, in: ROBERT JÜTTE (Hrsg.), Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1993, S. 169–207. 1196 Reform-Rundschau, November 1972, S. 4. 1197 Reform-Rundschau, Dezember 1968, S. 15. 1198 Vgl. etwa Gefährten, August 1968, bes. S. 1–7. 1199 Reform-Rundschau, Mai 1968, S. 7. 1200 Reform-Rundschau, Juni 1966, S. 6f.

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drohte Umwelt. Bei den „Achtundsechzigern“ selbst, etwa in den Berliner „Kommunen“ Dieter Kunzelmanns, Fritz Teufels und Rainer Langhans’, war ökologisches Denken nicht verbreitet. Dem „berühmte[n] Kommune-Müsli, das allmorgendlich mit der Lektüre von mindestens 5 Tageszeitungen und Früchten je nach Jahreszeit zelebriert wurde“1201, konnte später am Tag ein opulentes Essen aus Lachs und Hirschkeule folgen, das die „Kommunarden“ im Supermarkt zusammengestohlen hatten.1202 Insofern kann das „Kommune-Müsli“ nicht für eine ökologische Weltanschauung stehen. Die Jugendorganisationen „Deutsche Reform-Jugend“ und „Deutsches Reform-Jugendwerk“ standen der Achtundsechziger-Bewegung freundlicher gegenüber als die Reformhausbranche. Die Zeitschriften Gefährten und Jugendkurier diskutierten um 1968 intensiv über das Für und Wider der Studentenrevolte. Im Juni 1968 druckte Gefährten empört eine Liste von „in der Presse verwendeten Bezeichnungen für Protestierende und ihren Protest“ wie „Radaustudenten“, „Extremisten“, „Wirrköpfe“, „hysterische Rudel“ und „Einpeitscher“ ab1203, und im August 1969 wies ein Leserbriefschreiber lobend darauf hin, „daß sich die ,Gefährten‘ seit einem guten Jahr inhaltlich von sämtlichen übrigen Jahrgängen deutlich unterscheiden. Früher lebten wir geistig von verschnörkelten Wanderberichten, Reformeinheitsbrei […], Bastelei, beschaulichen Auslandsberichten. […] Diese Kost hat natürlich seine [sic] Werte. Aber auf die Dauer gesehen wären wir geistig in eine Sackgasse geraten.“ Zu den neuen Themen gehöre etwa die Frage der Wehrdienstverweigerung.1204 Aber auch die „Deutsche Reform-Jugend“ wollte dem Protest nicht „bedingungslos zustimmen“. Sie beklagte, daß sich die jüngere und die ältere Generation nicht verstünden und daß die Revolte „leider zunehmend in Brutalität, Unmenschlichkeit, ja Mord ausartete.“ Etwas altklug heißt es dann, die protestierende Jugend habe in der Nachkriegsgesellschaft keine Vorbilder finden können und sei in „einer von Naturwissenschaft und Technik geprägten Welt“ aufgewachsen, was letztlich zu den Unruhen geführt habe.1205 Die Aprilausgabe von 1970 des Jugendkurier erschien mit der Beatles-Langspielplatte „Rubber Soul“ auf dem Titelblatt und fragte: „Beat und Pop – auch im juku? Wie ist Deine Meinung dazu?“ Wer die Frage beantwortete, nahm an einer Verlosung „der schönen Popschallplatten“ teil. Das verrät die positive Einstellung der Redaktion des Jugend1201 KOMMUNE 2 [CHRISTL BOOKHAGEN u. a.], Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden! Berlin 1969, S. 57. Zu den „Kommunen“ vgl. auch FLORENTINE FRITZEN, Die Berliner „Kommunen“: Träger einer Kulturrevolution von 1968?, in: RICCARDO BAVAJ/DIES. (Hrsg.), Deutschland – ein Land ohne revolutionäre Traditionen? Revolutionen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte neuerer geistes- und kulturgeschichtlicher Erkenntnisse. Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 137–157. 1202 DIETER KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998, S. 60. 1203 Gefährten, Juni 1968, Umschlagsseite. 1204 Gefährten, August 1969, S. 15. 1205 Gefährten, Juni 1968, S. 1f.

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kurier zur Popmusik.1206 Die Zeitschrift äußerte sich 1972 auch zustimmend zur „Antibabypille“.1207 Die neue Populärkultur wurde aber nicht in allen ihren Facetten übernommen. Im Februar 1968 druckte Gefährten eine „Speisekarte“ mit den chemischen Bestandteilen verschiedener in „Hippie“-Kreisen konsumierter Drogen ab. Die Liste sollte beweisen, daß die „Hippies“ nicht etwa „die wahren Vegetarier“ seien, obwohl sie sich hauptsächlich von pflanzlichen Extrakten aus Mohn, Hanf und Pilzen ernährten.1208 Insgesamt entfernten sich die „Deutsche Reform-Jugend“ und das „Deutsche Reform-Jugendwerk“ also nicht besonders weit von ihrem Stamm, der „erwachsenen“ Lebensreform. Einige ältere Lebensreformer nahmen zudem Einfluß auf die Jugendorganisationen, indem sie regelmäßig Artikel in Gefährten und im Jugendkurier veröffentlichten.1209 So schrieb Altpeter im März 1968 im Jugendkurier, die deutsche Jugend dürfe nicht so werden wie die amerikanischen Hippies, angesichts derer der Lebensreformer seinen Ekel nicht verbarg. Deshalb seien „Verbesserungen unserer Gesellschaftsordnung“, die „Erarbeitung eines modernen Weltbildes“ und die „Einigung Europas“ dringende Anliegen.1210 In den siebziger und achtziger Jahren fanden sich dann vermehrt gesellschaftskritische, vor allem aber ökologische Forderungen der „neuen sozialen Bewegungen“ auf den Seiten der Reform-Rundschau wieder. Meist hatten diese Forderungen zwar schon früher zu den Zielen der Lebensreform gehört. Die größere gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit für diese Vorstellungen, die im wesentlichen auf die neuen Bewegungen und nicht auf die Lebensreform selbst zurückging, gab diesen Themen nun aber auch innerhalb der lebensreformerischen Texte ein größeres Gewicht – und mitunter ein neues, zeitgemäßes Antlitz. Der lebensreformerische Diskurs verflocht sich immer mehr mit gesamtgesellschaftlichen Strömungen und verlor dabei an genuinem, spezifisch lebensreformerischem Gehalt. Durch die größere politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit verschoben sich in den Reformzeitschriften die Akzentuierungen mancher Begriffe. Im Kern aber mußte die Lebensreform ihre traditionellen Angriffspunkte bloß aktualisieren. Anfang der siebziger Jahre gab die Reform-Rundschau dann auch ihre Zurückhaltung angesichts tatkräftigen politischen Engagements auf. 1973 schrieb sie: „Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers gegen Atomkraftwerke auf die Straße zu gehen.“1211 Im Jahr darauf beantwortete eine „Überparteiliche Bewegung gegen Atomkraftwerke“ mit Sitz in Luzern, der auch der Schweizer Lebens1206 1207 1208 1209

Jugendkurier, April 1970, S. 1f. Jugendkurier, Mai/Juni 1972, S. 6. Gefährten, Februar 1968, S. 19. Zu am Ende der fünfziger Jahre meist noch erfolgreichen, seit Mitte der sechziger Jahre dann aber in der Regel scheiternden Versuchen, „moralische und politische Werte der Gesellschaft in der Jugend zu verankern, indem man die Stile gleichsam von oben erzieherisch definierte“, DETLEF SIEGFRIED, Vom Teenager zur Pop-Revolution. Politisierungstendenzen in der westdeutschen Jugendkultur 1959 bis 1968, in: SCHILDT/ders./LAMMERS (Hrsg.), Dynamische Zeiten (wie Anm. 1172), S. 582–623, hier S. 606f. 1210 Jugendkurier, März 1968, S. 16. 1211 Reform-Rundschau, Mai 1973, S. 8. Gegen Kernkraftwerke etwa auch Reform-Rundschau, Oktober 1975, S. 8f.

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reformer Werner Zimmermann angehörte, die Frage „Atomkraftwerke – ja oder nein?“, nach eigenen Angaben auf eine umfangreiche wissenschaftliche Dokumentation gestützt, naheliegenderweise mit Nein.1212 Mit der Zeit kamen neue Aspekte wie der Protest gegen die Massentierhaltung1213 oder das Baumsterben1214 hinzu. Das ökologisch-alternative Milieu, das sich aus den „neuen sozialen Bewegungen“ herausbildete und zu einer „Gegenkultur“ vor allem jüngerer, meist politisch linksstehender Menschen entwickelte1215, hatte trotz einiger ähnlicher Ziele nur wenig mit den bürgerlichen Reformhausinhabern gemein. Der „alternativen Szene“ dürften Reformhausartikel auch schlicht zu teuer gewesen sein. In einer „Studie der Lebensmittel-Branche“ hieß es 1987, Waren wie Sanddornstäbchen, teure Fruchtsäfte und Knoblauchtabletten seien „für ein Establishment gedacht, das nicht so richtig der [alternativen] Bio-Health-Food-Kultur zugehört. Viel eher hat das Reformhaus in diesen Kreisen einen Hauch etwa folgender Bilder: die betuchte und wohlgeschminkte Dame der besseren Gesellschaft, die dort ihren Brennesselsaft kauft, der schon 1 Jahr im Regal gestanden hat oder der etwas verhärmte Altvegetarier, der dort seinen überteuerten Leberwurstersatz aus Hefeprodukten erwirbt.“1216 So sehr sich aber die Organisationen, Personen, Lebensstile und Überzeugungen der Lebensreform von denen anderer, neuerer Gruppen auch unterschieden: Sie einte das Streben nach einem ökologischeren Leben. In den siebziger Jahren traten, wohl im Zuge der in dieser Zeit konstatierten allgemeinen „Medikalisierung“ des Lebens1217, neben die ökologischen Themen auch zahlreiche Artikel zu im engeren Sinne medizinischen, also nicht allgemeingesundheitlichen Fragen. So waren die als Zivilisationskrankheit empfundenen Allergien ein häufiges Thema der Reform-Rundschau. Oft betrachteten die Artikel diese Fragen auch aus einer naturmedizinischen Perspektive. Seit den achtziger Jahren schrieb der Allgemeinmediziner Klaus Mohr regelmäßig über natürliche Heilweisen. Auch von einer drohenden Nivellierung des Lebens war nun immer wieder die Rede. Wer nur noch an Schalthebeln sitze, so war im März 1984 in der Reform-Rundschau zu lesen, komme nicht mehr in den Genuß der Freude über eine eigene produktive Leistung, und auch der Kummer über mißlungene Arbeit entfalle. Dadurch werde der Tag nicht wach genug erlebt, sondern „verdöst“, folglich sei der Nachtschlaf flach und unruhig.1218 Es bestehe eine „Tendenz zur

1212 Reform-Rundschau, September 1974, S. 3. 1213 Beitrittsformular des „Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung“ etwa in: ReformRundschau, Februar 1977, S. 10. 1214 Reform-Rundschau, März 1977, S. 17. 1215 RÖDDER, Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 1164), S. 68f. 1216 Zit. nach Neuform-Echo vom 15. Januar 1988, S. 3. 1217 Der Begriff der Medikalisierung des Lebens entstand um 1970. Nicht erfunden, aber besonders populär gemacht hat ihn IVAN ILLICH, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. 4. Aufl. München 1995 [zuerst Reinbek bei Hamburg 1975; engl. 1974]. 1218 Reform-Rundschau, März 1984, S. 23.

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Vereinheitlichung“, die Nahrung werde festgelegter, weniger abwechslungsreich, aus „Nahrungs-Individualitäten“ würden „verfügbare Stoffe.“1219 Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ist diese Furcht vor einer Erstarrung des Lebens unverkennbar. Die Flut der Nachrichten über das Robbensterben in der Nordsee und das Roden im Regenwald erzeugte einen gewissen Gewöhnungseffekt. Die ganz große ökologische Katastrophe schien vielen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abgewendet, aber die Welt blieb ungesund und gefährlich, nicht länger auf eine alltäglich drohende, sondern mehr auf eine behäbige Weise. Abhilfe konnte nur ein ökologischeres Leben schaffen, das man jetzt mehr im Kleinen anstrebte, eher im Privaten als mit Blick auf die gesamte Gesellschaft. Es begann eine Biedermeierzeit der Lebensreform, deren Beschaulichkeit allerdings dadurch gestört wurde, daß die Balkonkräuter sauren Regen aufsogen und das Reaktorunglück von Tschernobyl potentiell alle natürliche Nahrung verstrahlt hatte.1220 Reformhausprodukte versprachen zwar noch einen gewissen Schutz, doch ein ökologischeres Leben schien, paradoxerweise trotz der offensichtlichen Abwendung des totalen Kollapses der Umwelt, immer unmöglicher zu werden. 3.3.4. Die neuen „Alternativen“ und die Lebensreform der Jahrhundertwende Die Nähe mancher Konzepte der Lebensreform der zweiten Jahrhunderthälfte zu denen der „Alternativen“ der siebziger und achtziger Jahre wirft auch die Frage auf, inwieweit sich die seit 1968 entstandenen neuen Gruppen auf die „klassische“ Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende als Vorläufer bezogen. Hier ist zu beobachten, daß die „Alternativen“ nur selten auf die Lebensreform verwiesen und sich kaum in deren Tradition sahen.1221 Auch Christoph Conti, der einige Gemeinsamkeiten der Lebensreform und einiger späterer alternativer Bewegungen feststellen zu können glaubt und die frühen mit den späteren Gruppen in einem Band über „Alternative Bewegungen von 1890 bis heute“ vereint, räumt ein, daß die Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre sich als etwas „grundsätzlich Neues“ verstanden und nur punktuell auf ihre „Vorgänger“ zurückgriffen. Er ver1219 Reform-Rundschau, Juni 1985, S. 28. 1220 Zu Tschernobyl Reform-Rundschau, August 1986, S. 6–8. – HERMAND, Grüne Utopien (wie Anm. 1156), S. 176–184, sieht „in den frühen achtziger Jahren eine ähnliche DoomsdayStimmung wie […] zu Beginn der siebziger Jahre“. Dem widerspricht allerdings teilweise Hermands eigene Beobachtung, daß Intellektuelle, Wissenschaftler und Vertreter fast aller Parteien auf die Bedrohung mit Nichtbeachtung, Resignation oder Beschwichtigung reagiert hätten und zur „Tagesordnung“ übergegangen seien. Auch viele Umweltschützer hätten nicht praktische Lösungsvorschläge gemacht, sondern nur abstrakt auf einen „Bewußtseinswandel“ gehofft. Die Umweltschutzbewegung sei in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wegen der wirtschaftlichen Konjunktur, einer „Welle des Yuppietums und der Postmoderne“, der Priorität der „nationalen Frage“ und eines zunehmenden Mißtrauens gegenüber Ideologien „nicht recht vom Fleck“ gekommen. 1221 Zur „Geschichtslosigkeit“ der „neuen sozialen Bewegungen“ auch ULRICH LINSE, Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland. München 1986, S. 7.

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neint somit selbst eine kontinuierlich sich fortentwickelnde Geschichte der „alternativen“ Bewegungen.1222 Der Zweite Weltkrieg markierte einen deutlichen Einschnitt auch im Hinblick auf die Traditionslinien sozialer Bewegungen. Mit Blick auf die Lebensreform liegt das vor allem daran, daß viele der Organisationen mit den Nationalsozialisten zusammengegangen waren, insofern politisch eher rechts als links standen. In späteren Jahrzehnten artikulierten hingegen meist eher linksstehende Gruppen einen vernehmbaren Protest an der bundesdeutschen Gesellschaft. Die „Generation Reformhaus“ gehörte zu jenen Generationen, die die „Achtundsechziger“ der Mitschuld an der deutschen Vergangenheit und der Mittäterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus bezichtigten. „Linke“ Gruppen der Lebensreform wie der organisierte Vegetarismus, im Nationalsozialismus des „Internationalismus“ und des Bolschewismus verdächtigt, waren im Prozeß der Gleichschaltung so gut wie verschwunden. Lebensreformerische Siedlungsprojekte wie Eden in Oranienburg, das der Nationalsozialismus in vieler Hinsicht – etwa 1938 mit einem Gaudiplom für „hervorragende Leistungen“ als „nationalsozialistischer Musterbetrieb“1223 – gefördert hatte, eigneten sich aus diesen Gründen auch nicht als Vorbilder für die 1968 gegründeten Berliner „Kommunen“. Politisch unverdächtige Projekte und Konzepte der Lebensreform spielten bei den Planungen der „Kommunarden“ aber ebenfalls keine Rolle. Die 1902 gegründete vegetarische Siedlungskommune auf dem Monte Verità im Tessin1224 und die Ideen des Schriftstellers und Naturarztes Friedrich Wolf seien, so der ehemalige „Kommune“-Bewohner Dieter Kunzelmann in seiner Autobiographie, durch den Nationalsozialismus „Bewußtseinslöchern“ gewichen: „Viele Erfahrungen unserer Vorläufer waren vergessen und mußten neu gemacht werden.“ Gedankliche Vorbilder der „Kommunen“ seien vielmehr die Pariser Kommune von 1871, die Gedanken des Frühsozialisten Robert Owen (1771–1858), der Anfang des 19. Jahrhunderts in Amerika „Kommunen“ gegründet hatte, und Ideen des Dessauer Bauhauses gewesen.1225 Andere Traditionen lebten im Umkreis der neuen „alternativen“ Lebensformen hingegen wieder auf, was auf den ausgeprägten Eklektizismus der „Achtundsechziger“ hinweist. In manchen Wohngemeinschaften hingen Plakate mit Bildern des lebensreformerischen Malers und Illustrators Hugo Höppener (1868–1948) an der Wand, der sich als treuer Schüler und Gefährte des Malers und Lebensreformers Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) Fidus nannte. Das bekannteste Bild von Fidus, das „Lichtgebet“, „eine Art Emblem der frühen Nacktkulturbewegung 1222 CONTI, Abschied (wie Anm. 36), S. 193–198. Zu den Gemeinsamkeiten zählt Conti unter anderem eine „bewußte Abgrenzung vom Bürgertum“. Eine solche allerdings gab es in der Lebensreformbewegung im engeren Sinne kaum. Auch eine Zurückweisung des umfassenden Anspruchs rationalen Denkens, die Conti als weitere Parallele anführt, war nicht Allgemeingut der Lebensreform. So ist sie in der Reformwarenbranche nicht zu beobachten. 1223 Eden, 33. Jg., 1938, S. 42f. 1224 Zum Monte Verità ROBERT LANDMANN, Ascona – Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies. Frankfurt am Main 1979; MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 88–92. 1225 KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand! (wie Anm. 1202), S. 48.

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und eine der prägendsten Bildmetaphern“1226, zeigt einen androgyn aussehenden Jüngling, der nackt auf einem Berghang steht und die Sonne anbetend die Arme ausbreitet, um sich herum nur Himmel, Luft und Licht. Reproduktionen dieses Schlüsselbildes der Lebensreform, von dem der Maler zwischen 1890 und 1938 elf Fassungen anfertigte1227, waren Mitte der zwanziger Jahre nach Schätzungen „in jedem 10. deutschen Bürgerhaushalt“ vertreten. Im Jahr 1941 kaufte sich Martin Bormann, Chef der Parteikanzlei der NSDAP und späterer Sekretär Hitlers, eine Fassung des Gemäldes.1228 Seit dem Ende der sechziger Jahre hing das „Lichtgebet“ dann also neben Porträtbildern von Mao Tse-Tung und Che Guevara. Die Rezeptionsgeschichte des Bildes weist zugleich auf einen Wandel hin, der sich um 1968 vollzog. Denn in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren war das einst so bekannte Motiv kaum beachtet worden. Nach dem Krieg war die Fassung von 1922 ins Archiv der deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein bei Witzenhausen an der Werra gekommen. Am 17. Dezember 1964 schrieb Elsbet Höppener Fidus, die 87 Jahre alte Witwe des Fidus, noch aus dem „Fidushaus“ in Woltersdorf bei OstBerlin an den damaligen Archivleiter: „Hüten Sie freundlich das Original-Lichtgebet – bis wieder Zeiten kommen, wo Geist verstanden wird.“1229 Dazu paßt, wie sich 1963 eine Gymnasiastin der Obersekunda der Berliner Schillerschule über das Bild auf dem Ludwigstein äußerte: „Ich finde das Bild in seiner Aufmachung von größter Primitivität. Das Bild ruft in mir keinerlei Wirkung hervor, sondern entlockte mir nur ein mitleidiges lächeln [sic]. Ich finde es kitschig. Die Farben sind viel zu süßlich. Der Jüngling steht zwar gefühlsgeladen da, jedoch würde ich nicht einmal wagen diese Gefühle mit den Gefühlen der Jugend zu identifizieren. Das Bild ist kein Ausdruck der Jugendbewegung. Der Kopf ist in einer völlig unnatürlichen Stellung. Die Umrahmung des Bildes zeugt nicht von großem Können des Malers. Mir kommt das Bild so vor: gewollt und nicht gekonnt. Es ist Kitsch in reinster Form.“1230

Einer anderen Schülerin erschien es „unwahrscheinlich, daß sich auf dem künstlich hochgeputschten Gefühl dieses Bildes eine ganz Jugendbewegung aufbauen konnte“1231, und ein Schüler bemerkte kategorisch: „Über den künstlerischen Wert dieses Bildes braucht nicht gesprochen zu werden, da es in einer Zeit geschaffen wurde, in der die Kunst an einen Tiefpunkt gelangte.“1232

1226 TAVENRATH, „So wundervoll sonnengebräunt.“ (wie Anm. 42), S. 25f. 1227 Zur Bildgeschichte des „Lichtgebets“ und den verschiedenen Fassungen FRECOT/GEIST/KERBS, Fidus (wie Anm. 33), S. 288–301. 1228 Insgesamt riß die Fidus-Rezeption nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten allerdings zunächst weitgehend ab. Ebd., S. 299, 301. 1229 Postkarte von Elsbet Höppener Fidus an Hans Wolf. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Archivschachtel Hugo Höppener, Mappe N 3. 1230 Aufsatz von R.-D. Katsch über das Lichtgebet. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Archivschachtel Hugo Höppener, Mappe N 4. 1231 Aufsatz von Jutta Bielfeldt über das Lichtgebet. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Archivschachtel Hugo Höppener, Mappe N 4. 1232 Aufsatz von K. Wiesinger über das Lichtgebet. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Archivschachtel Hugo Höppener, Mappe N 4.

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3. Evolution gesünderen Lebens

Im Jahr 1968 besuchte dann der Berliner Maler und Restaurator Albert Hennig das Archiv auf der Burg und war, wie der damalige Burgarchivar berichtete, „so angeregt und überrascht von unserer Kunstsammlung, daß er zum Abschied äußerte: ,Saul ging aus eine Eselin zu suchen und fand ein Königreich‘. Nun schickt er eine Expertise über das Fidus-Bild.“ Man erwog eine Restauration.1233 Die Renaissance des „Lichtgebets“ und ihres Schöpfers begann. Im Mai 1972 trug das Zeit-Magazin ein Fidus-Bild auf dem Titelblatt und veröffentlichte einen Bericht über „Fidus, einen lichtgläubigen Deutschen, dessen Malerei wieder entdeckt wird“.1234 Im selben Jahr erschien seit den Fidus-Biographien von Wilhelm Spohr (1902) und Arno Rentsch (1925) erstmals wieder – und zugleich erstmals nach Fidus’ Tod 1948 – eine Monographie über den Maler und Graphiker.1235 Auch andere Lebensreformer wurden nun, besonders vom „alternativen Milieu“, wiederentdeckt. Das Magazin Der Spiegel beobachtete 1972 „die Verbreitung eines neuen Klages-Ruhms“. Zu seinem 100. Geburtstag werde der Kulturkritiker Ludwig Klages „als einer der ersten Kritiker der deutschen Leistungsgesellschaft gefeiert.“1236 Auch Hans Paasche (1881–1913) gehörte zu den Lebensreformern, die jetzt eine Renaissance erlebten. Der Sohn des Reichstagsvizepräsidenten Hermann Paasche war zunächst Marineoffizier, dann Pazifist, Lebensreformer, Schriftsteller, Gründer des „Deutschen Vortrupp-Bundes“ und Mitglied im Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats der Novemberrevolution. Bei einer Durchsuchung seines Gutes „Waldfrieden“ erschossen ihn im Jahr 1920 Soldaten der Reichswehr.1237 Vor allem seit seinem 100. Geburtstag am 3. April 1981 erschien Paasche nun als „Pazifist – Ökologe – Makrobiotiker – Antialkoholiker“1238, „als Vorläufer der heutigen Umweltschutzbewegung“1239, 1233 Vermerk von Burgarchivar Hans Wolf vom 10. September 1968. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Archivschachtel Hugo Höppener, Mappe N 4. – Um die Jahrtausendwende war das Gemälde ständig auf Reisen, so etwa zur vielbeachteten Darmstädter Lebensreformausstellung im Jahr 2001. 1234 Zeit-Magazin vom 26. Mai 1972, Nr. 21, S. 18–21. 1235 FRECOT/GEIST/KERBS, Fidus (wie Anm. 33); WILHELM SPOHR, Fidus. Minden 1902; ARNO RENTSCH, Fiduswerk. Dresden 1925. 1236 Der Spiegel, Nr. 45, 1972, S. 164. – Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hingegen schrieb zum selben Anlaß, Klages sei „kaum je unbekannter als heute“ gewesen: „Nur im dämmrigen Kreis seiner Verehrer lebt er gespenstisch fort […].“ Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 1972. – Am Rand eines Exemplars dieses Artikels im Archiv der deutschen Jugendbewegung steht denn auch handschriftlich: „Keine ausreichende Würdigung!“ Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 1306. 1237 Zu Paasche WERNER LANGE, Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland. Eine Biographie. Bremen 1995; HELMUT DONAT (Hrsg.), „Auf der Flucht“ erschossen … . Schriften und Beiträge von und über Hans Paasche. (= Schriftenreihe Das andere Deutschland, Nr. 1.) Bremen/Zeven 1981. – Vgl. auch Hans Paasche erschossen, in: Freideutsche Jugend, Juli 1920, S. 250–252; Zum Gedächtnis Hans Paasches, in: Die Lebenskunst, Nr. 9, 1920, S. 134–137. 1238 So die Unterzeile eines Werbeplakats des Berliner Verlags Jakobsohn für den „Lukanga Mukara“ anläßlich von Paasches 100. Geburtstag am 3. April 1981. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 2000. In dieser Akte auch weitere Hinweise auf zahlreiche Veranstaltungen anläßlich des Geburtstages.

3.3. Ökologischer leben – die äußere Natur (ca. 1950–ca. 1990)

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gar als „Deutschlands erste[r] ,Grüne[r]‘“. 1240 Gelegentlich begriff man ihn auch als „ein frühes Opfer des Rechtsradikalismus“, weil er von „rechtsradikalen Soldaten“ erschossen worden sei.1241 Insgesamt blieb der Blick der „Alternativen“ auf etwaige Vorläufer aber selektiv. Daß die neuen Protestgruppen kaum auf Erfahrungen älterer Bewegungen zurückgriffen, beklagte etwa Erich Lüth (1902–1989), der vor allem durch seinen Aufruf zur Aktion „Friede mit Israel“ von 1951 und das „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 19571242 bekannt wurde.1243 Angesichts der protestierenden Jugend schrieb Lüth im Juni 1970 in den Hamburger Anzeigen und Nachrichten, auf seine Zeit beim „Altwandervogel“ und in der „Freideutschen Jugend“ zurückblickend: „Nun sind fünfzig Jahre vergangen, ein halbes Jahrhundert also, seit ich mit anderen Altersgenossen auf die Barrikaden ging, um gegen ein längst versunkenes Establishement [sic], gegen Restauration und Spießertum zu kämpfen! Schauplatz unseres Ringens: Hamburg! Leider hat die APO sich meines Sachverstandes bisher nicht bedient. Dabei ist mein Jahrgang doch in die Literatur eingegangen! Es ist der Jahrgang 1902, der die Erfahrungen des ersten Weltkrieges zu nutzen suchte, wie Wolfgang Borchert mit seinem Theaterstück ,Draußen vor der Tür‘ das moralisch-expressive Fazit des zweiten Weltkrieges zog. Offenbar kam es dennoch zum Aufstand der APO, weil die Menschen aus beiden Weltkriegen so wenig gelernt haben.“

Lüth wandte sich gegen „Exzesse“ und „Verwilderung“, gegen Steinewerfer, Molotow-Cocktails und das Anzünden von Autos. Er verwies auf den Pädagogen Gustav Wyneken (1875–1964), der in Wickersdorf in Thüringen eine „Freie Schulgemeinde“ gegründet hatte, als Vorbild. „Auch wir schmückten uns damals mit langen Haaren, kurzen Hosen und nackten ,Stachelbeerbeinen‘. Wyneken aber verwies auf die Notwendigkeit einer Herrschaft der Vernunft, des Logos, der Gerechtigkeit, die feste Spielregeln schuf, und des musischen Eros, der den schöpferischen Geist beflügelte. Kunst war für ihn nicht Zerstörung der Form, sondern Gestaltung durch Formgebung.“1244 Auch in einem Vortrag anläßlich einer Gedächtnisausstellung für den Wandervogel Walter Hammer (1888–1966) bemerkte Lüth 1969, daß „nur eine kleine Anzahl der heute Zwanzigjährigen in un1239 Der Spiegel, Nr. 18, 1982, S. 92–95. 1240 So eine Pressemitteilung der Universität Bremen vom 12. Januar 1982. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 2000. 1241 Freiheit und Recht. Die Stimme der Widerstandskämpfer für ein freies Europa, 30. Jg., Nr. 4, Oktober/November 1984, S. 12. 1242 Vgl. BVerfGE 7, S. 198–230. 1243 Lüth sah Anfang der zwanziger Jahre unter dem Einfluß des DDP-Politikers und Chefredakteurs des Hamburger Anzeigers Curt Platen ein, „daß Abstinenz, Vegetarismus und Nichtrauchen, daß also Lebensreform gewiß menschliche Prinzipien und sogar Qualitäten, doch beileibe noch keine politischen Prinzipien seien.“ Er trat 1927 der DDP bei. Vgl. ERICH LÜTH, Ein Hamburger schwimmt gegen den Strom. Hamburg 1981, S. 25. Vgl. auch ders., Das Ende der Jugendbewegung vom Hohen Meißner. Ein Bekenntnis zu neuen Zielen. Hamburg 1925, S. 3: „Die deutsche Jugendbewegung ist tot.“ 1244 ERICH LÜTH, Stachelbeerbeine und Jugendkultur, in: Hamburger Anzeigen und Nachrichten vom 13. Juni 1970. Ob Lüth mit „in die Literatur eingegangen“ auch auf Ernst Glaesers Generationenroman „Jahrgang 1902“ von 1928 anspielt, wird nicht deutlich.

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3. Evolution gesünderen Lebens

serer Bundesrepublik“ noch von Hammer wisse, „von seiner Mitwirkung an der Freideutschen Jugendbewegung vom Hohen Meißner, […] von seinen Ideen zur Lebensreform“ und davon, daß er „gegen den Fleischgenuß“ kämpfte, „radikaler Vegetarier“ war und sich „gegen das ,Rauchstinken‘“ einsetzte: „Unseren Zwanzigjährigen brennen andere Namen und Fragen auf den Nägeln. Diese neuen Namen heißen Vietnam, Biafra; oder es sind die KZs und Folterungen in Griechenland.“1245

1245 Rede Erich Lüths, gehalten am 6. Dezember 1969 in Wuppertal anläßlich der GedächtnisAusstellung für Walter Hammer. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 1650. Zu Hammer vgl. ERNA HAMMER-HÖSTEREY/HUGO SIEKER (Hrsg.), Die bleibende Spur. Ein Gedenkbuch für Walter Hammer 1888–1966. Hamburg 1967.

4. KONTINUITÄTEN GESÜNDEREN LEBENS Das lebensreformerische Netzwerk war, das haben die vorigen Kapitel gezeigt, in beständiger Wandlung begriffen. Obwohl es sich aber immer wieder neu organisierte, obwohl sich Teile aus Bewegung und Branche lösten und neue hinzukamen, obwohl sich im Laufe der Jahrzehnte viele der lebenreformerischen Konzepte wandelten, hielt das Netzwerk am Ende seines Bestehens doch immer noch über die selben Grundinhalte zusammen wie zu Beginn. Diese Vorstellungen bildeten in ihrem Zusammenspiel die Idee des gesünderen Lebens, über die das Netzwerk zu jeder Zeit kommunizierte und funktionierte. Voraussetzung dieser überdauernden Konzepte der Lebensreform war ein neuer Gesundheitsbegriff, der um die Jahrhundertwende entstand (4.1.). Mit ihm hängen alle weiteren Grundinhalte der Lebensreform zusammen: die Idee der Ganzheitlichkeit (4.2.), das Konzept der Natur als Leitbild (4.3.) und der Reformgedanke (4.4.). Die Diskurse über diese Inhalte – Gesundheit, Ganzheitlichkeit, Natürlichkeit und Reform – rissen nie ab, solange das Netzwerk bestand. Sie machten die Lebensreform zu einem Phänomen des gesamten 20. Jahrhunderts. Als sich diese zentralen Konzepte des gesünderen Lebens am Ende des Jahrhunderts aufzulösen, zu verselbständigen oder zu verändern begannen, höhlte das die Lebensreform langsam aus. 4.1. GESUNDHEIT UND KRANKHEIT Im Jahr 1916 eröffnete der Reformer Johannes Müller auf Schloß Elmau am Wettersteingebirge zwischen Garmisch-Partenkirchen und Mittenwald eine Anstalt, deren Gäste „familienartig“ sonnenbaden, tanzen, Konzerten und Vorträgen lauschen und versuchen konnten, „die Ergebnisse der neuen Ernährungsforschung und Zubereitung“ in die Praxis umzusetzen. Die Institution begriff sich als „keine Kuranstalt, sondern [als] ein körperlich-seelisches Erholungsheim für Gesunde“, wie es in einem Hausprospekt aus dem Jahr 1932 heißt. Eine Fußnote erläuterte dieses Selbstverständnis: „Das heißt erstens, daß es nicht für Kranke bestimmt ist, die noch ärztliche Behandlung und besondere Pflege brauchen, zweitens, daß in ihnen die Freudigkeit und der Wille zur Gesundheit herrschen muß, aber es heißt nicht, daß Leidende ausgeschlossen sind. Wir hoffen für sie vielmehr nicht nur auf die heilende Kraft der klimatischen Faktoren, die sich schon für viele Nervöse und andere Leidende in wunderbarer Weise bewährt haben, sondern auch auf den Einfluß des Elmauer Lebens. Dazu ist aber nötig, daß sich die Leidenden möglichst von ihrer Beschäftigung mit dem Leiden freimachen und den heilenden Kräften der Natur und der gesunden Menschen aufschließen, statt sich als Kranke zur Geltung zu bringen. Wenn sie in diesem Sinne aufrichtig gesund werden wollen, sind sie uns willkommen.“1246 1246 Schloß Elmau. Unter Leitung von Dr. Johannes Müller [Prospekt]. Frühjahr 1932. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 1867.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

Die Gesundheit, nicht die Krankheit, war in Elmau Richtwert und Bezugspunkt; Krankheit wurde nur dann akzeptiert, wenn der Kranke tatkräftig nach Gesundheit strebte, wenn er, wie es im Reformschrifttum oft hieß, den „Willen zum Gesundsein“1247 hatte. Ähnlich beschrieb der Schriftsteller und Naturarzt Friedrich Wolf 1928 Krankheit als ein Negativum, als etwas, das durch die Lebenskraft des Organismus unter Mithilfe der Naturheilkunde geheilt, also in ein gesundes Stadium überführt werden könne.1248 Dieses Verhältnis von Gesundheit und Krankheit, in dem die Gesundheit ebenbürtig neben die Krankheit trat oder diese gar verdrängte, entstand um die Jahrhundertwende, als Krankheiten durch neue Erkenntnisse der Medizin immer weniger als eigenständig, unabhängig und unbeherrschbar erschienen, als „Würgeengel der Menschheit“1249, denen der Mensch weitgehend hilflos gegenüberstand. Krankheit wurde jetzt immer weniger als eine eigene Größe und immer mehr als Folge einer falschen, ungesunden Lebensweise angesehen. Damit wurde Gesundheit „machbar“. Ihre Definition wandelte sich von einer Definition ex negativo zu einer positiven Definition. Auch im Bewußtsein der Lebensreformer kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer Gesundheitsbegriff auf. Früher, so hieß es 1956 im Neuen Jahrbuch der Lebensreform, habe dem seit dem Altertum bekannten Begriff der Krankheit noch keine eindeutige Definition der Gesundheit gegenübergestanden. Erst „in den letzten fünfzig Jahren“ sei man „vielerorts bemüht, eine Klarstellung des Begriffes ,Gesundheit‘ zu erarbeiten.“1250 Neue Gesundheitsdefinitionen unterschieden sich vor allem darin von früheren Vorstellungen, daß sie unter Gesundheit einen Idealzustand verstanden, ihr also einen Mehrwert verliehen, den das bloße Fehlen von Krankheit nicht erfaßte. In einem 1942 erschienenen Lehrbuch schrieb der Ernährungswissenschaftler Werner Kollath: „Als ,gesund‘ betrachte ich Menschen, die folgende Lebensführung von selbst haben: frühes Schlafengehen, guten Nachtschlaf, morgens frühzeitig frisch aufwachen, nach guter Verdauung mit Appetit frühstückend und gern arbeitend. In der Arbeit und im Leben haben sie ein gemächliches, aber stetiges Tempo; sie haben Zeit, ihrer Gesundheit durch aktive Körperbewegung zu leben. Abends ohne Bedürfnis nach Reizmitteln. Sie haben Sinn fürs Familienleben. Seelisch sind sie ohne Komplexe, ohne Hast, dem Tage zugewandt aber auch mit Ruhe der wohl vorbereiteten Zukunft gedenkend. Unverstellt, aber vorsichtig. Gesund im gelegentlichen Verschwenden, sich wehrend, wenn eine Störung vorkommt.“

1247 Vgl. etwa A. TROMSDORFF, Der Tageslauf des Lebensreformers. Was jeder von der deutschen Lebenserneuerungs-Bewegung wissen muß. Ein praktischer Wegweiser zu naturgemäßer Körper- und Geisteskultur. 3. Aufl. Pfullingen in Württemberg o. J. [ca. 1934], S. 16. 1248 WOLF, Natur als Arzt und Helfer (wie Anm. 893), S. 420–423. 1249 So noch 1884 der Vegetarier August Aderholdt (1828–1890). Vgl. AUGUST ADERHOLDT , Die naturgemäße Lebensweise (Vegetarianismus) in gesundheitlicher, therapeutischer, ökonomischer, socialer, moralischer und pädagogischer Beziehung. Vier Vorträge gehalten zu Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1884, S. 2. – Aderholdt war Chemiker und stammte aus dem Harz, 1874 nahm er die vegetarische Lebensweise an: Fest-Zeitung zum Internationalen Congress am 13.–17. September 1889 zu Köln a. Rh., veranstaltet vom Deutschen Verein für naturgemäße Lebensweise. Sonderausgabe des Vegetarier. Berlin 1889, S. 5; Der Vegetarier vom 1. November 1890, S. 161. 1250 WARNING (Hrsg.), Neues Jahrbuch der Lebensreform (wie Anm. 668), S. 23.

4.1. Gesundheit und Krankheit

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Kollath betonte, daß dieser harmonische Einklang körperlicher und seelischer Komponenten beim normalen Menschen nicht vorhanden sei, indem er ergänzte, solche Gesunden finde man „praktisch nur unter Neugeborenen, kleinen Kindern und Bauern.“1251 Ähnlich äußerte sich 1954 der Arzt Karl Kötschau (1892–1981), wie Kollath regelmäßiger Autor verschiedener reformerischer Zeitschriften. Kötschau schrieb, Gesundheit sei ein instabiler Zustand, der nur durch ständige Leistung erhalten werden könne, ein Optimum, eine ideale, nie erreichte Norm.1252 Ähnlich liest sich auch die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus den vierziger Jahren. Sie findet sich in der Präambel der Verfassung der WHO. Die Organisation bestimmt Gesundheit als einen „state of complete physical, mental and social well-being“, der „not merely the absence of disease or infirmity“ meine.1253 Auch diese umfassende Definition zeichnet ein Idealbild von Gesundheit. Zugleich reduziert die WHO die Gesundheit, ganz wie die Lebensreformer, nicht auf die volle Funktionstüchtigkeit des menschlichen Körpers, wie das etwa im deutschen Grundgesetz geschieht, wo lediglich von einem Recht auf „körperliche Unversehrtheit“ die Rede ist1254, sondern sie beschreibt Gesundheit als ein Zusammenspiel mehrerer Variablen der inneren und äußeren Lebenssituation des Menschen. Nicht nur die Gesundheit, auch die Krankheit war im Denken der Lebensreform – wie auch im medizinischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts – eine überschießende Größe. Beide Zustände, Gesundheit und Krankheit, erklärten sich nicht bloß aus dem Fehlen des jeweils anderen, hingen aber jeweils eng mit dem anderen zusammen. Zu wahrer Gesundheit war mehr nötig als die Abwesenheit von Krankheit, und Krankheit konnte sich schon breitmachen, bevor eine Abwe1251 KOLLATH, Einheit der Heilkunde (wie Anm. 743), S. 182. 1252 KARL KÖTSCHAU, Vorsorge oder Fürsorge? Auftakte einer Gesundheitslehre. Stuttgart 1954, S. 26. 1253 Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19–22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948. Zit. nach www.who.int/governance/en, abgerufen am 20. Juni 2006. – Zur Gesundheitsdefinition der WHO vgl. LABISCH, Homo Hygienicus (wie Anm. 32), S. 12; MALTE BÜHRING, Naturheilkunde. Grundlagen, Anwendungen, Ziele. München 1997, S. 42; CLAUS LEITZMANN, Geschichte und Bedeutung gesunder Ernährung, in: VOLKER SCHMIEDEL (Hrsg.), Ganzheitliche Diätetik. Ernährungsformen, Heilfasten, Orthomolekulare Medizin. München/Wien 1998, S. 3–7, hier S. 3. 1254 Vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ – Das Recht auf körperliche Unversehrtheit umfaßt „Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne, die freilich nicht zu eng gesehen werden darf“. Das seelische und soziale Wohlbefinden stehe allerdings nicht unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1, weil es tatbestandlich nicht klar genug gefaßt werden könne. Die Definition von Gesundheit in der Satzung der WHO liege dem Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zugrunde und könne ihm auch mit ausdehnender Interpretation nicht zugrunde gelegt werden. Ein Argument dafür sei, daß das Grundgesetz den Begriff „körperliche Unversehrtheit“ verwende, obwohl der Gesundheitsbegriff der WHO 1949 schon bekannt war. Vgl. HERMANN VON MANGOLDT /FRIEDRICH KLEIN/CHRISTIAN STARCK (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. Bd. 1: Präambel, Artikel 1 bis 19. 4. Aufl. München 1999, Art. 2 Abs. 2 Rdnr. 177.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

senheit von Gesundheit unzweifelhaft zutage trat. Seit der Jahrhundertwende entdeckte man zunehmend, daß die Übergänge zwischen den beiden Zuständen unscharf waren und sich überlappten. Mit Blick auf die Krankheit schrieb der Lebensreformer Werner Altpeter im Jahr 1939: „Krankheiten entstehen nicht von heute auf morgen. Das Ausbrechen einer Krankheit ist der letzte dramatische Akt. Der Mensch aber denkt, solange er keine Schmerzen hat, sei er gesund.“1255 Hinsichtlich der Gesundheit ging Ralph Bircher, der Sohn Bircher-Benners, in den fünfziger Jahren davon aus, „daß wirkliche Gesundheit etwas ganz anderes, sehr viel Höheres, Schöneres und Begehrenswerteres ist als der durchschnittliche Gesundheitszustand jener Mehrheit der Bevölkerung, die sich augenblicklich nicht in ärztlicher Behandlung befindet.“1256 Erst die Vorstellung einer solchen „Grauzone mit fließenden Übergängen“1257 zwischen offensichtlicher Krankheit und wahrer Gesundheit, eines Bereiches also, der keinem der beiden „reinen“ Zustände eindeutig zuzuordnen war, ermöglichte das Phänomen der Lebensreformbewegung, ermöglichte Publikationen wie ein Bändchen von 1952, in dem Altpeter von A wie Appetitlosigkeit bis zu Z wie Zuckerkrankheit alle möglichen Leiden mit Empfehlungen zu Kost, Anwendungen und Kurmitteln zur Heilung und Vorbeugung auflistete.1258 Denn nur mit der neuen Grundannahme erschienen Gesundheit und Krankheit überhaupt durch den einzelnen beeinflußbar. Verstünde man sie als zwei trennscharf voneinander abgegrenzte Felder, zwischen denen es keine Übergangszone gibt, so könnten keine anderen als rein medizinische Eingriffe Gesundheit erzeugen und Krankheit beenden – und der Lebensreform wäre die Grundlage entzogen. Der unbestimmte Bereich zwischen gesund und krank aber schuf die Möglichkeit und die Notwendigkeit, auch mittels einer veränderten Lebensweise Krankheiten zu bekämpfen und ihnen vorzubeugen, Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen: Der Graubereich bot Chancen zur Optimierung weg von Krankheit und hin zu mehr Gesundheit, zu einem gesünderen Leben. Er eröffnete die Chance, aus eigener Kraft wenn nicht zu einem vollständig gesunden, so doch zu einem gesünderen Leben zu gelangen. Doch war die Zwischenzone nur eine notwendige Bedingung für das gesündere Leben, denn ihre Existenz allein reichte auf dem Weg zu einer besseren Gesundheit nicht aus. Außer dem grauen „Dazwischen“ war auch das „Mehr“ der positiven Gesundheitsdefinition entscheidend. Für ein gesünderes Leben, das mehr meinte als ein Leben, das nicht in Krankheit verbracht wurde, waren bestimmte Elemente notwendig, die durch medizinische Behandlung allein nicht herstellbar waren – vor allem ein Bewußtsein für Ganzheitlichkeit und Natürlich-

1255 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 36f. 1256 RALPH BIRCHER, Kernsätze der Ernährung. Was die Ernährung zur Gesundheit beitragen kann. 2. Aufl. Zürich/Frankfurt am Main 1954 [zuerst 1951], S. 5. 1257 HEINRICH SCHIPPERGES, Gesundheit und Gesellschaft. Ein historisch-kritisches Panorama. (= Schriften der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Nr. 12.) Berlin/Heidelberg/New York 2003, S. 2. 1258 WERNER ALTPETER, Reformerische Ratschläge für Krankheitsfälle. Erste Hilfe bei Verletzungen und leichten Krankheitsfällen. Frankfurt am Main 1952.

4.1. Gesundheit und Krankheit

281

keit. Mittel zum Zweck dieser Annäherung an den Idealzustand war nicht die Medizin, sondern eine reformerische Lebensweise. Der neu entdeckte Graubereich und die positive Gesundheitsdefinition bildeten, das klang schon an, nicht nur den Ansatzpunkt der Lebensreform. Diese Vorstellungen drangen im Laufe des Jahrhunderts auch immer mehr ins allgemeine Bewußtsein und in Wissenschaft und Medizin ein. Hans-Georg Gadamer ging 1991 zwar davon aus, daß sich die medizinische Wissenschaft „am ehesten als die Wissenschaft von der Krankheit definieren“ lasse. Zwar lebten die Menschen in Verteidigung gegen Angriffe auf ihre Gesundheit. „Dennoch sind wir nicht in einer ständigen Abwehrhaltung. Wir sind selber Natur, und es ist die Natur in uns, die mit dem abwehrbereiten, in sich gefügten organischen System unseres Leibes zugleich unser ,inneres‘ Gleichgewicht zu halten weiß.“1259 Der Weg zu dieser ganzheitlich-natürlichen Form von Gesundheit, der die Mitwirkung des einzelnen erforderte, war aber beschwerlich, und die Frage, was gut für die Gesundheit des Menschen sei, ließ sich aufgrund der im Lauf der Jahrzehnte ins Unermeßliche steigenden Zahl der Angebote immer schwerer beantworten. Auch viele Ärzte und Naturärzte scheiterten hier, wie der Gründer des Naturheilsanatoriums „Weißer Hirsch“ bei Dresden, Heinrich Lahmann (1860–1905), schon 1898 einräumte: „Wenn heute jemand fragt: Wie soll ich leben, um gesund zu bleiben, so wird er einen solchen Wirrwarr von Antworten bekommen, dass er froh sein kann, wenn er den Mut behält, im alten Schlendrian fortzuleben, da dieses Leben einem Leben als Hypochonder vorzuziehen ist. Wieviele von uns Aerzten, die wir doch die Sache verstehen müßten, könnten denn, ehrlich gesagt, den Frager bescheiden: Wie, was, wann und wie oft er essen und trinken, wie, wann, wie lange und wie oft er schlafen, wie und wo er wohnen, wie er lüften, wie er heizen, wie er sich bei Tag und bei Nacht kleiden, wie er arbeiten, wie er sich erholen, wie, wann, wie lange und wie oft er baden soll, wie ... Nun, die übrigen Fragen sollten wir uns hier schenken, da sie zum Teil sehr intim werden. Von diesen ,Wies‘ und ,Wieviels‘, von all diesen ,Kleinigkeiten‘ ist aber das Leben, ist die Gesundheit, ist auch die Krankheit abhängig!“

Schlimmer noch, als einen derart überforderten Arzt zu konsultieren, sei es jedoch, so Lahmann weiter, „eines der vielen populären Gesundheitsbücher“ zu fragen – daß Menschen zu solchen Druckerzeugnissen griffen, sei „heute leider häufiger der Fall“. Denn in Wasser- und Naturheilbüchern stehe oft „mehr Falsches als Wahres“.1260 Was aber war die Wahrheit? Sie zu kennen, glaubten neben den Verfassern der von Lahmann abschätzig „populär“ genannten Ratgebern auch viele Lebensreformer, ja, viele dieser Bücher stammten von Autoren, die der Lebensreformbewegung zuzurechnen sind – Lahmann selbst nicht ausgeschlossen. Sein hier zitiertes Bändchen heißt „Das Luftbad“, und mit Blick auf den Text wird deutlich, daß der Reformer die Wirkkraft dieser Praktik als Heil- und Abhärtungsmittel für etwas uneingeschränkt „Wahres“ hielt.

1259 HANS-GEORG GADAMER, Über die Verborgenheit der Gesundheit, in: ders., Über die Verborgenheit der Gesundheit. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main 1993, S. 133– 148, hier S. 135, 148. Zuerst in: Erfahrungsheilkunde, Acta medica empirica. Zeitschrift für die ärztliche Praxis, Bd. 40, Nr. 11, 1991, S. 804–808. 1260 LAHMANN, Luftbad (wie Anm. 812), S. 3f., 6.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

Dem Populärdiskurs gingen wissenschaftliche Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts voraus. Vor allem erkannte die Physiologie, daß die Lebensweise und äußere Faktoren den Gesundheitszustand beeinflußten, daß Luft und Nahrung gesund oder krank machen konnten. Diese Einsichten eröffneten einen riesigen und mit fortschreitendem Wissen noch wachsenden Markt für Gesundheitskonzepte und Gesundheitsprodukte. Die Lebensreformbewegung mit ihren Reformideen und Reformwaren war im 20. Jahrhundert einer der eifrigsten und erfolgreichsten Nutznießer dieser Erkenntnisse. Sie verwirklichte das bisher ungekannte Angebot des „Selbermachens“, die Möglichkeit, durch eigenes Tun, durch bestimmte Praktiken Gesundheit ohne Zutun Dritter zu erhalten und herzustellen.1261 Auf dem Gebiet der Gesundheit wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts dem Eindruck der Lebensreform nach mehr und mehr der Laie zuständig.1262 Das Individuum, so schien es, hielt die Kontrolle über den eigenen Körper und über die persönliche Gesundheit – wenigstens zum Teil – selbst in der Hand. Seit der Jahrhundertwende konnte der medizinische Laie dann auch in besonderen Geschäften Produkte kaufen, die ausschließlich für die private Gesundheitspflege bestimmt waren: Im Reformhaus war der einzelne Kunde, nicht Patient. Die Produkte, die er dort erwarb, halfen ihm dabei – zumindest glaubte man das –, auf der Stufenleiter der Gesundheit höher zu klettern, gesünder zu leben als zuvor. Neben ihrer Funktion als Inbegriff des Gesunden standen die Erzeugnisse der Reformwarenindustrie auch für die drei anderen zentralen Ideen des gesünderen Lebens: für den Gedanken einer reformerischen Verbesserung, für Natürlichkeit und für Ganzheitlichkeit. Mit Hilfe des Reformgedankens und mit Natürlichkeit und Ganzheit als ideellem Rüstzeug versuchten die Lebensreformer aber nicht nur individuelle Krankheiten zu bekämpfen und die Gesundheit einzelner zu steigern. Sie wollten auch Krankheiten der sozialen, natürlichen oder künstlichen Umwelt des Menschen abwehren und das Gemeinwesen und die äußere Natur gesünder gestalten. In einem Analogieschluß vom kranken Menschen zur kranken Gesellschaft1263 erschien ihnen ihre jeweilige Gegenwart als krank; krank war somit alles, was es im Sinne der Reform zum Guten zu verwandeln galt. Die Lebensreform diagnostizierte, je nach Epoche, verschiedene Krankheiten der Umgebung des Menschen, die sie mit ihren reformerischen Heilmitteln Ganzheit und Natur kurieren zu können vorgab: Um die Jahrhundertwende wollte sie die Krankheit der dekadenten Gesellschaft mit einem anderen Leben heilen, in der Zwischenkriegszeit jene des siechen „Volkskörpers“ mit vitalerem Leben lindern, in der zweiten

1261 HAU, Cult of Health and Beauty (wie Anm. 52), S. 30, schreibt über die „occupational therapy“ in Naturheilsanatorien, zu der etwa das Sägen von Holz gehörte: „Patients could get the feeling that they actively participated in their recovery.“ 1262 RALPH BIRCHER, Sturmfeste Gesundheit. 20 Jahre länger jung. Bad Homburg/ErlenbachZürich 1980, S. 11, spricht wie selbstverständlich von der Zuständigkeit des Laien für Gesundheit. 1263 Zu solchen Analogieschlüssen ALEXANDER MITSCHERLICH, Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin I. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1967 [zuerst 1966], S. 14–16.

4.2. Ganzheitlichkeit

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Hälfte des 20. Jahrhunderts hoffte sie der Krankheit der kontaminierten Natur mit ökologischerem Leben beizukommen. 4.2. GANZHEITLICHKEIT Der moderne Begriff der Ganzheit kam zwar erst um 1910 auf1264, das Ganzheitsdenken aber stammt schon aus der griechischen Antike.1265 Um 1800 war die Ganzheit Gegenstand der klassischen und der romantischen Naturphilosophie und des deutschen Idealismus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das ganzheitliche Denken vorübergehend verdrängt, vor allem durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begann dann im Nachdenken über die Natur eine wahre Renaissance der Ganzheitskonzepte aus der Zeit um 1800, in der Wissenschaft und in anderen Lebensgebieten.1266 Auch der Lebensreform diente die Ganzheit seit der Jahrhundertwende als ein Ordnungsbegriff, der die Welt harmonisch strukturierte (4.2.1.). Der menschliche Körper war in den lebensreformerischen Gesundheitskonzepten auf dreifache Weise in Ganzheitsdiskurse eingebunden. Die Reformer betrachteten den Körper als ein Ganzes (4.2.2.), betonten das ganzheitliche Zusammenspiel von Körper und Seele oder Körper und Geist (4.2.3.) und wiesen auf den Zusammenhang von innerer und äußerer Natur, Mikro- und Makrokosmos hin (4.2.4.). In die lebensreformerischen Diskurse über diese drei Ebenen der Ganzheit flossen nicht nur europäische, sondern auch asiatische Ganzheitskonzepte ein (4.2.5.). 4.2.1. Ganzheit als Allheilmittel Ganzheit, Ganzheitlichkeit und „das Ganze“ gehören zu den in der Reformliteratur am meisten gebrauchten und am vielseitigsten eingesetzten Begriffen. Zugleich sind sie einigermaßen verschwommen, ähnlich wie die ebenfalls oft verwendeten und mit der Ganzheit verwandten Ausdrücke der Harmonie, des Gleichgewichts und des Einklangs. Definitionen des Ganzheitsbegriffs finden sich 1264 LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 103, mit Bezug auf HEINRICH SCHMIDT, Philosophisches Wörterbuch. Neubearb. von Georgi Schischkoff. 21. Aufl. Stuttgart 1982 [zuerst 1934], S. 197. 1265 Die christlich-jüdische Tradition betonte hingegen mehr die Spaltung von Leib und Geist oder Leib und Seele sowie jene von Mensch und Natur. Im vor-kartesianischen Zeitalter fand sich allerdings oft noch eine Synthese, so etwa bei Hildegard von Bingen, die Leib und Seele zwar als zwei verschiedene Aspekte ansah, die aber zugleich eine einzige Wirklichkeit (unum opus) seien: SCHIPPERGES, Medizin an der Jahrtausendwende (wie Anm. 1142), S. 69. 1266 Eduard von Hartmann schrieb im Sommer 1902 in den Preußischen Jahrbüchern, die Schellingsche Naturphilosophie sei seit der Renaissancezeit der „erste kühne Versuch“ gewesen, die Natur als ein Ganzes zu betrachten: EDUARD VON HARTMANN, Moderne Naturphilosophie, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 109, Juli–September 1902, S. 1–15, hier S. 1. – Auch die Gestaltpsychologie, die ganzheitliche Formen als Grundeinheiten menschlichen Denkens begreift, entstand seit etwa 1890, vgl. LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 103f.

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in der Reformliteratur nur selten.1267 Schon auf den ersten Blick aber fällt auf, daß Ganzheit im Reform- und Gesundheitsschrifttum des 20. Jahrhunderts ein ausnahmslos positiv besetzter Begriff war. Der Naturarzt Karl Kötschau sprach 1978 von der „lebendigen Ebene der Ganzheitswissenschaft“, die klar von der „unlebendigen Ebene der engeren und eigentlichen Naturwissenschaft“ abzugrenzen sei1268, und die Neuform-Genossenschaft beschrieb Gesundheit im Jahr 1997 als „ein ganzheitliches Wohlbefinden“.1269 Im Gegensatz zu anderen populären Schlagwörtern des frühen 20. Jahrhunderts überdauerte der Begriff der Ganzheit die Jahrzehnte1270; auch im heutigen Gesundheitsdiskurs ist er noch allgegenwärtig. Die Kontinuität des Begriffs auch nach 1945 muß zunächst erstaunen, da ihn auch Ärzte und Wissenschaftler des Nationalsozialismus oft benutzten.1271 Oft parallelisierten sie die Ganzheit mit der vom Staat angestrebten „Totalität“. So erschien im Februar 1940 in der ReformRundschau ein Artikel mit dem Titel „Gedanken eines biologischen Arztes“, der mit den Worten begann: „In unseren Tagen ist der Gedanke der Ganzheit, die Idee der Totalität, durch den Nationalsozialismus wieder zur lebendigen Tat geworden. Durch den Liberalismus und den Individualismus war der Gedanke der Ganzheit […] immer mehr unterdrückt und verschüttet worden.“1272 Der Mißbrauch des Ganzheitsbegriffs durch Vertreter des „Dritten Reichs“ war aber geringer und weniger verbreitet als etwa der Mißbrauch des Wortes „Organismus“. Verwandten den Ausdruck der Ganzheit im Nationalsozialismus vor allem Ärzte, Biologen und Psychologen1273, so benutzten den Begriff des Organismus auch 1267 Diese Beurteilung findet sich auch bei BIRCHER, Sturmfeste Gesundheit (wie Anm. 1262), S. 148: Der Begriff der Selbstverwirklichung bleibe meist verschwommen und inhaltsleer, ähnlich wie die Begriffe Gesundheit, Ganzheitsdenken und Ökologie. Vgl. auch HERBERT SCHÖNFELD, Erfahrung und Ganzheit. München/Basel 1962, S. 7: Definition und Grundlegung zum Begriff „Ganzheitsmedizin“ fehlten; Reform-Rundschau, August 1987, S. 16: Ganzheitsmedizin als „ziemlich inhaltsleere[r] Begriff“. 1268 KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. VI. 1269 Reformhaus – eine gesunde Existenz (wie Anm. 785), S. 1. 1270 Zum Ganzheitsbegriff im Wandel der Zeiten ANNE HARRINGTON, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur NewAge-Bewegung. Reinbek bei Hamburg 2002 [engl. 1996]. 1271 Insofern ist es auch nicht ganz richtig, wenn Robert Jütte schreibt, nach 1945, als nationalsozialistische Bezeichnungen wie „biologische Medizin“, „Synthese von Hochschulmedizin und Naturheilkunde“ und „Neue Deutsche Heilkunde“ als politisch vorbelastet galten, sei die „Ganzheitsmedizin“ zum „Zauberwort [geraten], mit dem man eine desavouierte Strömung in der Medizin wieder salonfähig zu machen hoffte.“ Vgl. JÜTTE, Geschichte der alternativen Medizin (wie Anm. 40), S. 56f. – Zur nationalsozialistischen Ganzheitslehre, ihrem Abstieg in späteren Jahren des „Dritten Reichs“ und zu Rechtfertigungen „ganzheitlicher“ Mediziner der Zeit nach 1945, die schon im Nationalsozialismus praktiziert hatten, ausführlich HARRINGTON, Suche nach Ganzheit (wie Anm. 1270), S. 318–355. 1272 KARL STRÜNCKMANN, Gedanken eines biologischen Arztes, in: Reform-Rundschau, Februar 1940, S. 20f. 1273 Beispiele bei HARRINGTON, Suche nach Ganzheit (wie Anm. 1270), S. 320f. Allerdings fand sich in der politischen Sprache der Nationalsozialisten auch der Ausdruck des „organischen Ganzen“, vgl. ebd. S. 319.

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nationalsozialistische Politiker, meist im Kontext der Gleichschaltung und „Reorganisation“ der deutschen Gesellschaft nach 1933.1274 Der Begriff des Organismus galt daher nach 1945 zunächst als desavouiert, die Ganzheit aber blieb. Den „Lebensideologen“, wie Martin Lindner die Vertreter jener geistigen, literarischen und wissenschaftlichen Strömungen der Zeit zwischen 1890 und 1955 nennt, durch deren Texte der Gedanke eines „Lebens in der Krise“ hindurchschimmert, war die Ganzheit im politischen Diskurs der Gegensatz zum individualistischen Liberalismus. Das zeigen auch die „Gedanken eines biologischen Arztes“. Erkenntnistheoretisch stand der Ganzheit der Atomismus gegenüber.1275 In seinem Bändchen „Was ist Lebensreform?“ machte sich Werner Altpeter 1939 beide Gegensatzpaare zunutze. Zunächst nannte er als Beispiele für eine „Zerstörung des Ganzheitsgedankens“ das zersplitterte „Facharzttum“ in der Medizin, weiterhin die Verarbeitung einzelner Bestandteile von ursprünglich naturbelassener Nahrung, so bei Weißmehl oder Zucker, und die Extraktion von Pflanzenbestandteilen für Arzneimittel. „Der Mensch fing an, die Ganzheiten zu zerteilen und ihre Bestandteile einzeln zu betrachten, zu untersuchen und zu behandeln. Dieses ist das Grundprinzip der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Die Erforschung der Einzelheit war das große Ziel.“1276 Dann kam Altpeter auf den Gesellschaftskörper der vor-nationalsozialistischen Vergangenheit und damit implizit auch auf den im Nationalsozialismus pejorativ verstandenen Liberalismus zu sprechen: „Der Einzelmensch wurde überbewertet, individualisiert, das Volk, die Gesamtheit, wurde unterbewertet, und wo man von Volk sprach, meinte man die Summe der vielen Einzelmenschen, nicht aber die lebendige Einheit wie wir sie heute sehen.“ Wenige Sätze später hieß es dann: „Während der alte Staat sich an viele Dinge nicht herantraute, beansprucht der Nationalsozialismus Totalität, was dasselbe ist wie Ganzheit.“1277 Wer im 20. Jahrhundert Ganzheitlichkeit propagierte, bezog sich in der Regel auf eine meist recht vereinfacht, oft auch verzerrt imaginierte Antike oder auf die Zeit um 1800: vor allem auf verflachte Versionen der Naturphilosophie oder ganz konkret auf Goethe. Das geschah in den seltensten Fällen bewußt.1278 Ob die Autoren der Lebensreform Schlegel oder Schelling tatsächlich gelesen hatten, ob sie Goethes Werk über die aus ihrem Zusammenhang gelösten geflügelten Zitate hinaus kannten, sei dahingestellt. Die Konzepte, die die Lebensreformer propagierten, die Floskeln, die sie verwendeten, gehen jedenfalls auf diese Traditionen zurück. Vor allem pantheistische Versatzstücke, Vorstellungen also von der Welt als einem lebendigen Wesen, einem göttlichen Organismus, einem zweckmäßig

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Für ein Beispiel hinsichtlich der Gleichschaltung der Lebensreform vgl. oben S. 95. LINDNER, Leben in der Krise (wie Anm. 816), S. 103. ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 8. Ebd., S. 8f. Das heißt nicht, daß es im Gesundheitsschrifttum überhaupt keine explizite Auseinandersetzung mit diesen geistesgeschichtlichen Konzepten gäbe. Ein Beispiel ist HEINRICH SCHIPPERGES, Goethe – seine Kunst zu leben. Betrachtungen aus der Sicht eines Arztes. Frankfurt am Main 1996.

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geordneten Ganzen, in dem alle Teile miteinander verwandt sind1279, flochten die lebensreformerischen Autoren oft in ihre Schriften ein. Goethes Gedanken über eine schöpferische Natur und das Naturganze als einen ewig webenden Wirkungszusammenhang1280 tauchen immer wieder in den Reformzeitschriften auf. Anders als die Naturphilosophen nannten die Schriften Goethe auch explizit als Autorität, um ihre Aussagen zu untermauern. Die Deutschen, so hat es Thomas Bernhard formuliert, nehmen Goethe eben „ein wie eine Medizin und glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft; Goethe ist im Grunde nichts anderes, als der Heilpraktiker der Deutschen […], der erste deutsche Geisteshomöopath. Sie nehmen sozusagen Goethe ein und sind gesund.“1281 Für den wahren Kern dieser satirischen Überspitzung sprechen die im Zusammenhang der Ganzheit besonders häufigen Textbausteine wie „Das hat schon Goethe erkannt und gesagt.“1282 Zur Reformbewegung paßte auch Goethes Gesundheitsbegriff, der, entgegen anderen Strömungen seiner Zeit, die die Krankheit mehr beachteten, schon jenen positiven Mehrwert hatte, der sich erst um 1900 allgemein durchsetzen sollte. Im „Torquato Tasso“ sagt Leonore zur Prinzessin, nachdem diese von langer Krankheit genesen ist: „Und nun bist du gesund, bist lebensfroh.“ Die Prinzessin aber antwortet, den Mehrwert für sich verneinend: „Ich bin gesund, das heißt, ich bin nicht krank“.1283 Im Fall der deutschen Reformhausbewegung diente das geistige Medikament Goethe mitunter sogar der Werbung für Gesundheitsprodukte. Die NeuformRundschau zeigte sich im Mai 1933 der Ansicht, es gebe „wohl kaum eine Weltanschauung, die so sehr für die Reformbewegung spricht wie die Goethes. Noch hat kein Mensch wieder mit so viel Verstand und Liebe zugleich den Gedanken von der in allen lebendigen Erscheinungen wirkenden Kraft der Gottnatur erfaßt wie er.“ Am Beispiel des Gedichts „Über allen Gipfeln ist Ruh“ beschrieb die Kundenzeitschrift sodann die beruhigende Wirkung der „Waldeskraft“ und des „Waldeszaubers“ für Nervenkranke, um schnell auf eine der „geheimnisvollsten Wurzeln“ des Waldes zu sprechen zu kommen: den Baldrian. Am Ende des Artikels stand eine kleine Werbeanzeige, die eine Flasche Baldrianwein der Reformhaus-Marke „Elektrovin“ und eine Hand mit erhobenem Glas zeigte: „Guter Schlaf durch ein Gläschen Baldrianwein“.1284

1279 So eine Definition des Begriffs „Pantheismus“ von FRANZ JOSEF WETZ, Friedrich W. J. Schelling zur Einführung. Hamburg 1996, S. 43. 1280 Zum Ganzheitsbegriff bei Goethe HARRINGTON, Suche nach Ganzheit (wie Anm. 1270), S. 32–37; zu Goethes Naturanschauungen HERMAND, Grüne Utopien (wie Anm. 1156), S. 50– 59. 1281 THOMAS BERNHARD, Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1996 [zuerst 1986], S. 576. 1282 So etwa in Reform-Rundschau, Februar 1940, S. 20. 1283 2. Szene des 3. Aktes, V. 1818f. 1284 Neuform-Rundschau, Mai 1933, S. 111f.

4.2. Ganzheitlichkeit

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4.2.2. Ganzheit des Körpers Die Lebensreform begriff den menschlichen Körper als eine Ganzheit, die beständig in Gefahr sei, dem analytischen menschlichen Forscherdrang und damit einer Zersplitterung zum Opfer zu fallen. „Der ganze Körper ist’s“, schrieb Friedrich Wolf 1928 in seinem Naturheilbuch, und daß es ihm fast widerstrebe, den Körpers anatomisch zu beschreiben, heiße Anatomie doch „Zerschneidung“.1285 Die moderne Naturwissenschaft war der Gegenpol dieser Ganzheitsidee. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts warf die Lebensreform vor allem der naturwissenschaftlichen Medizin „atomistisches“ Denken vor. Diese, so ist besonders in naturheilkundlichen Publikationen zu lesen, betrachte lediglich den kranken Körperteil, nehme aber den Körper als gesamten Organismus nicht ausreichend in den Blick. Autoren wie im Jahr 1911 der Hygieniker Robert Hessen nahmen Anstoß an einem „altmodischen Patientenstandpunkt, wo nicht Menschen, sondern ,Krankheiten‘ behandelt“ würden.1286 Von Bismarcks naturheilkundlich orientiertem Leibarzt Ernst Schweninger soll ein Wort stammen, das die Reformzeitschriften immer wieder zitierten: Er behandle „nie eine Krankheit, sondern immer den ganzen Menschen“.1287 Beklagt wurde auch ein zu großes „Spezialistentum“ der Medizin.1288 Angriffspunkt solcher Vorwürfe war der moderne Krankheitsbegriff, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte und besagte, daß jede krankhafte Störung einen lokalen Anfang und einen anatomischen Sitz im Körper habe.1289 Die Entstehung der modernen klinischen Pathologie, die es dem Arzt ermöglichte, Leichen aufzuschneiden und die einzelnen Organe zu betrachten, markiert diesen Bruch zwischen dem medizinischen Blick des 18. und des 19. Jahrhunderts.1290 Dieser Bruch rief wiederum die ganzheitliche Gegenbewegung hervor. Wie die Neovitalisten sahen viele Lebensreformer im Körper ein ganzheitlich wirkendes Bauprinzip.1291 Sie betonten die Wirksamkeit des Ganzen in 1285 WOLF, Natur als Arzt und Helfer (wie Anm. 893), S. 26, 33. Im folgenden erklärte Wolf seinen Lesern dann allerdings kleinteilig den menschlichen Körper, bei der Zelle beginnend, auf rund 150 Seiten. 1286 HESSEN, Die sieben Todfeinde (wie Anm. 813), S. 134. 1287 Vgl. etwa Das Reformhaus, April 1926, S. 5f. 1288 So in Reform-Rundschau, Februar 1940, S. 20. Auch GADAMER, Verborgenheit (wie Anm. 1259), S. 136, nennt „Spezialisierung“ den „Gegenbegriff“ der Ganzheit. 1289 Zur Entwicklung des Gegensatzes zwischen „Naturheilkunde“ und „naturwissenschaftlicher“ Medizin JÜTTE, Geschichte der alternativen Medizin (wie Anm. 40), S. 27–32, hier besonders S. 28. 1290 Hierzu MICHEL FOUCAULT, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt am Main 1988 [zuerst München 1973, franz. 1963], S. 162–185. 1291 Zu den Neovitalisten zählte neben Ernst Haeckel (1834–1919) auch der Biologe Hans Driesch (1867–1941). In einem berühmten Streit mit seinem Fachkollegen Wilhelm Roux trafen eine statische und eine ganzheitlich-entelechetische Auffassung des Körpers aufeinander. Roux hatte 1888 nach der ersten Furchung der Zellen in Froscheiern die eine der beiden Blastomeren mit einer heißen Nadel abgetötet, ohne sie dabei von der anderen, lebendigen zu trennen. Es zeichnete sich die Entwicklung eines halben Froschs ab. Roux nannte das „Mosaikentwicklung“: Für alle Teile stehe von vornherein fest, was einmal aus ihnen wer-

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den Teilen des Körpers und waren der Ansicht, daß die organische Entwicklung des Leibes von Kräften beherrscht werde, die, wie Ernst Cassirer es ausdrückte, „von prinzipiell-anderer Art“ sind als physikalische und chemische Kräfte: von den im Organismus selbst liegenden Kräften der Entelechie, die seine Entwicklung und Vollendung bewirkten. 1292 Entscheidend für die Ganzheitlichkeit des Körpers war somit die Vorstellung, daß in jedem Teil zugleich das Ganze stecke. Lebensreformer, die so dachten, sahen den Körper nicht als Maschine, sondern als lebendigen Organismus, in dem die einzelnen Teile „wußten“, was das Ganze „wollte“. Sie betrachteten die Körperfunktionen also final, nicht kausal. Die aus der Aufklärung stammende physikalische Maschinenmetapher lebte im Gesundheits- und Reformschrifttum aber neben dem Ganzheitsdiskurs weiter. Der Ernährungsreformer Gayelord Hauser sah den Körper 1951 als Motor1293, und auch Ralph Bircher nannte ihn 1980 eine Maschine.1294 Andere Autoren wandten sich gegen die Maschinenmetapher. Hanns Kurth schieb 1970 im Kontext der „Abnutzung“ von menschlichem Körper und Maschine, die zum Vergleich der beiden verleite, der Mensch sei keine Maschine, sondern eher mit einem Fluß vergleichbar, „weil der menschliche Organismus ein gewaltiger Komplex ist, in welchem sich zwar ständig Zerstörungen vollziehen, aber gleichzeitig auch die Selbsterneuerung im Gange ist.“1295 Ähnlich äußerte sich Kötschau: Der Mensch sei keine Maschine und deshalb auch nicht technisch reparierbar.1296

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den solle. Er sah in seinem Experiment den Beweis, daß Organismen wie Maschinen derart aus Teilen zusammengefügt seien, daß jeder Teil sich entwickelte, ohne des Ganzen teilhaftig zu sein. Driesch wiederholte den Versuch an einem Seeigelei, trennte aber die abgetötete Blastomere ab. Die noch lebende schloß sich zu einer neuen Kugel zusammen, und es entstand eine normale, wenn auch ziemlich kleine Seeigellarve; sie war nur halb so groß wie andere, die aus ganzen Eiern entstanden waren. Das bewies für Driesch, daß in den Teilen zugleich das Ganze steckte. Vgl. KAREN GLOY, Mechanistisches – organizistisches Naturkonzept, in: dies. (Hrsg.), Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik. Bonn 1996, S. 98–117, hier S. 108; dies., Das Verständnis der Natur. 2 Bde. München 1996. Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, S. 155f.; KLAUS MICHAEL MEYER-ABICH, Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung. München 1988, S. 89f. ERNST CASSIRER, Kant und die moderne Biologie [1940/41], in: ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache. Hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth. Leipzig 1993, S. 61–93, hier S. 76f. HAUSER, Bleibe jung (wie Anm. 531), S. 15. BIRCHER, Sturmfeste Gesundheit (wie Anm. 1262), S. 43. – Der Naturheilpraktiker Köhnlechner verglich das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper in den siebziger Jahren mit einem Mann, der mit seinem Auto schlecht umgehe und daher ständig damit in die Kfz-Werkstatt müsse; ein Auto müsse zum TÜV, der Mensch zum Gesundheits-Check. Den Körper nannte er eine „Lebensmaschine“: KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 13f., 109, 140. Vgl. auch ders., Machbare Wunder, S. 168. HANNS KURTH, Richtig leben, länger leben. Rezepte für gesunde Lebensweise. 6. Aufl. München 1970 [zuerst 1966], S. 60f. KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. 33.

4.2. Ganzheitlichkeit

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In diesen widerstreitenden Diskursen spiegeln sich zwei Elemente, die für die gesamte Reform- und Gesundheitsliteratur des 20. Jahrhunderts kennzeichnend sind. Gemeint sind Denkstrukturen, die sich als eine materialistische und eine transzendentale Richtung bezeichnen ließen. Eine Synthese zwischen beiden bildete ein oft beschriebenes Netzwerkmodell des Körpers, das zwar durchaus final war, aber doch Lebendiges mit Nicht-Lebendigem zusammenbrachte. In der Tradition der Hygieniker des 19. Jahrhunderts, die den Körper entsprechend ihrem Erfahrungshorizont als Telegraphennetz gesehen hatten1297, stellte Köhnlechner 1975 den Vergleich an: „Die Versorgungseinrichtungen dieses Supersystems entsprechen Post, Telefon, Stromnetz, Wasserleitung, Abwasserkanal, Straßensystem, Müllabfuhr, Verkehrswesen, Versorgung mit Nahrungsmitteln.“1298 Ähnlich bildete die Neuform-Rundschau im April 1935 anläßlich einer Ausstellung über „Das Wunder des Lebens“ in Berlin auf ihrem Titelblatt den Funkturm auf dem Messegelände mit seinen unzähligen Verstrebungen und daneben einen stilisierten menschlichen Körper mit seiner Blutbahn ab.1299 Philipp Sarasin spricht hinsichtlich des Körperbegriffs der Hygieniker des 19. Jahrhunderts von „reizbaren Maschinen“. Die Schriften der Hygienebewegung implizierten, so Sarasins These, eine Verbindung des materialistischen Maschinenmodells mit dem physiologischen Konzept der Reizbarkeit.1300 Hinsichtlich des Reformdiskurses des 20. Jahrhunderts kann man in Anlehnung an Sarasin in einem ähnlichen Oxymoron von der Vorstellung des Körpers als „ganzheitlicher Maschine“ sprechen1301 – beherrschbar und beeinflußbar zwar, aber dabei doch über sich selbst hinausweisend, einem höheren Ziel als dem der bloßen Funktionstüchtigkeit folgend. 4.2.3. Leib und Seele, Körper und Geist Daß sich der Organismus in den Vorstellungen der meisten Lebensreformer nicht selbst genügte, daß er nicht autark war, führt zu den beiden weiteren Ebenen der Ganzheitlichkeit. Die zweite umfaßt über den Körper hinaus auch den Geist oder die Seele, in vielen Fällen das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele: Für Bircher-Benner war der Mensch die „größte aller Symphonien“, weil er als einziges Lebewesen Leib, Geist und Seele in sich vereinige.1302 Ulrich Linse sieht die „Entdeckung“ des Körpers in diesem ganzheitlichen Sinne und den Versuch der

1297 Vgl. hierzu SARASIN, Reizbare Maschinen (wie Anm. 50), S. 350–353. 1298 MANFRED KÖHNLECHNER (Hrsg.), Handbuch der Naturheilkunde. 2 Bde. München 1975. Bd. 1, S. 30. 1299 Neuform-Rundschau, April 1935, S. 81. 1300 SARASIN, Reizbare Maschinen (wie Anm. 50), S. 20. 1301 Ähnlich spricht MÖHRING, Marmorleiber (wie Anm. 42), S. 260, mit Blick auf den medizinisch-hygienischen Diskurs der Nacktkultur vom „Naturkörper“ als „organischer Maschine“. 1302 MAXIMILIAN BIRCHER-BENNER, Der Menschenseele Not. Erkrankung und Gesundung. Zürich 1933, S. 298. Zit. nach WIRZ, Moral auf dem Teller (wie Anm. 733), S. 81.

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Rückgewinnung der leibseelischen Harmonie des Menschen gar als die eigentliche „Leistung“ der Lebensreformbewegung an.1303 Der bekannteste ganzheitliche Ausspruch im Zusammenhang mit Gesundheit ist wahrscheinlich mens sana in corpore sano aus den Satiren des Juvenal (58– 130 n. Chr.). Der römische Dichter empfahl seinen Lesern, alle Bitten an die Götter zu unterlassen, da diese im Unterschied zum Menschen das ihm Nützliche erkennen und es ihm schenken: si consilium vis, permittes ipsis expendere numinibus quid conveniat nobis rebusque sit utile nostris.1304 Wer dennoch eine Bitte vortragen wolle, solle um – modern gesprochen – ganzheitliche Gesundheit beten: orandum est ut sit mens sana in corpore sano.1305 „Das Zitat […] gehörte früher zur notwendigen Lebensausstattung jedes Gebildeten, zierte eine Unmenge von Turnhallen und diente allgemein zur Begründung dafür, daß ein notwendiges Wechselverhältnis zwischen Geist und Körper bestehe, daß in einem ungesunden Körper auch kein gesunder Geist hausen könne. Dies ist zwar mit dem ursprünglichen Zitat nicht gemeint […]. Gedanken zur Verbindung zwischen beiden sind aber durchaus antik […].“1306 Tausendfach verwendet – nicht immer im ursprünglichen Sinne eines Gebets, eines Wunsches, sondern oft auch als Beschreibung eines bestimmten Menschentypus, etwa des idealisierten „antiken Menschen“ – schliff sich die Sentenz auch in der Lebensreform zu einer Floskel ab, die schließlich fast synonym mit gesundem Leben überhaupt wurde. Der symbolische Satz sei „schlimm mitgenommen worden von den Reformern“, klagte denn auch ein Leser der Kundenzeitschrift Das Reformhaus Anfang 1930 in einer Zuschrift an die Redaktion.1307 Ein tieferes Nachdenken über die Spannungsfelder von Leib und Seele, von Körper und Geist fand in der Reformliteratur nicht statt. Auch war die Verwendung von „Seele“ oder „Geist“ in vielen Fällen recht beliebig. Oft gebrauchten die Reformer die Ausdrücke synonym. Die beiden Begriffe meinten meist vage alles „Metaphysische“ der menschlichen Existenz. Diese zweite Form der Ganzheitlichkeit zielte besonders stark auf das Unbewußte: Formeln wie „Für Körper und Geist“ setzte nicht zufällig auch die reformerische Produktreklame ein, um Wohlbefinden, Entspannung und Harmonie zu suggerieren. 4.2.4. Mikro- und Makrokosmos Die dritte Ebene der Ganzheitlichkeit ist noch weiter gefaßt als die zweite. Auch sie bezieht sich auf einen Einklang, auf ein Gleichgewicht: auf die Harmonie 1303 So etwa ULRICH LINSE, Zeitbild Jahrhundertwende, in: ANDRITZKY/RAUTENBERG (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“ (wie Anm. 42), S. 10–49, hier S. 16. 1304 JUVENAL, Satiren. Lateinisch – deutsch. Hrsg., übersetzt und mit Anm. versehen von Joachim Adamietz. München 1993, S. 228f. (Zehnte Satire, Verse 346–348). 1305 Ebd. (Zehnte Satire, Vers 356). 1306 HARTMUT GALSTERER, „Mens sana in corpore sano“ – Der Mensch und sein Körper in römischer Zeit, in: ARTHUR E. IMHOF (Hrsg.), Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München 1983, S. 31–45, hier S. 35. 1307 Das Reformhaus, März 1930, S. 165.

4.2. Ganzheitlichkeit

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nämlich von innerer und äußerer Natur, von Mikro- und Makrokosmos. Der Mensch erscheint als Teil eines größeren Systems. Im Sinne des antiken PhysisBegriffs meinte die Lebensreformbewegung mit dem Begriff der Natur sowohl die Natur, die der Mensch selbst verkörperte – eben mit seinem Körper, aber auch mit seiner Seele und seinem Geist –, als auch die Natur „da draußen“, die natürliche Umwelt. 1308 In diesem Sinne sahen die Lebensreformer den Menschen als „Natur in der Natur“.1309 In einem Band über „Körperschönheit und Körperkultur“ von 1928 heißt es etwa, der Wanderer bewege sich „mit Vorliebe im Gebirge, um dessen eigentümliche Natur an seinem Körper zu erfahren, den die Bewegung auf und ab viel stärker durcharbeitet als der Marsch auf der immer gleichen Ebene.“1310 Ein Artikel über „Die Natur im Frühling“, der 1926 in der Zeitschrift Das Reformhaus erschien, spricht zunächst von der Sonne, von „Mutter Erde“, Wetter und Wolken, Pflanzen und Vögeln. Dann wirbt der Text für die Heilkraft der äußeren Natur, betont ihren Nutzen für die innere: „Wirf ab im Licht-Luftbad die Hüllen, die den Körper trennen von der liebenden, gütigen Mutter Natur! Die Stärke, die Glut und Kraft der Sonne, der sanfte Kuß des Lichts, der Hauch der Luft – sie lassen die Pulse rascher schlagen, das Blut lebhafter in den Adern kreisen, die Haut sich röten und bräunen. Wärme, Kraft, Wohlgefühl, Freude am Leben empfinden Körper und Geist, wenn Licht und Luft ungehemmt auf sie wirken.“1311

Im Juni 1926 führte Das Reformhaus die Rubrik „Monatsratschläge für gesunde Lebensführung“ ein, die den Leser befähigen sollte, „seine Lebensführung den Naturgesetzen mehr und mehr anzugleichen und aus jeder Jahreszeit den größtmöglichen Nutzen für seine persönliche Entwicklung zu ziehen.“1312 Solche Ratschläge waren notwendig, weil sich der moderne Mensch nach Ansicht der Lebensreformer weit von seiner eigentlichen Bestimmung als „Natur in der Natur“ entfernt hatte. Nur ein gesünderes Leben – in seinen zeitgebundenen Ausprägungen als anderes, vitaleres oder ökologischeres Leben – konnte das ganzheitliche Gleichgewicht wiederherstellen. Die Trennung von Leib und Geist, von Leib und Seele begann, so läßt sich mit Blick auf den biblischen Mythos formulieren, mit dem Biß Adams und Evas in den Apfel, mit der Erkenntnis des Menschen im Paradies; jene zwischen Mensch und Natur nahm mit der Vertreibung aus dem Garten Eden ihren Anfang. Ähnlich deutete der Sanatoriumsbetreiber Adolf Just Ende des 19. Jahrhunderts den Zusammenhang der Schöpfungser1308 HEINRICH SCHIPPERGES, Zur Theorie der Lebensordnung und Praxis der Lebensführung in historischer Sicht, in: Lebensreform als ganzheitliche Daseinsgestaltung. 25 Jahre EdenStiftung zur Förderung naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege. Bad Soden o. J., S. 11–34, hier S. 21f. 1309 Wörtlich findet sich der Ausdruck „Natur in der Natur“ bei HEINRICH PUDOR, Katechismus der Nackt-Kultur. Leitfaden für Sonnenbäder und Nacktpflege. Berlin-Steglitz 1906, S. 8: „Zeige dich als Wesen der Erde, eins mit der Natur, Natur in der Natur […].“ – Diese Vorstellung findet sich auch in der ganzheitlich ausgerichteten Medizin. Vgl. dazu GADAMER, Verborgenheit (wie Anm. 1259), bes. S. 148. 1310 FISCHER, Körperschönheit (wie Anm. 1095), S. 99. 1311 Das Reformhaus, Mai 1926, S. 1f. 1312 Monatsratschläge für gesunde Lebensführung, in: Das Reformhaus, Juni 1926, S. 2–7, hier S. 2.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

zählung und des Verhältnisses des Menschen zur äußeren Natur: Der Mensch „ass Sachen, die ihm im natürlichen Zustande nicht schmeckten, also für ihn verboten waren, nachdem er sich dieselben durch Kunst (Feuer, chemische Prozesse u.s.w.) geniessbar und schmackhaft gemacht hatte. Der Sündenfall bestand im Essen des Verbotenen, er war ein Abfall von der Natur.“1313 Aus dem Bruch resultierte der Wunsch nach Rückkehr zu einem als einheitlich-harmonisch imaginierten Urzustand. Die Vegetarische Warte schrieb 1901: „Was vielen Vegetariern bewusst und unbewusst in der Seele lebt, was den größten Geistern der Mensch[heit] als Ideal vorgeschwebt hat – ein goldenes Zeitalter, ein Himmelreich, ein Zukunftsland der Freiheit und des Glückes – es hat seine tiefste Wurzel in der Erinnerung und dem Sehnen nach der verlornen Harmonie des Lebens, nach dem ,verlornen Paradiese‘.“1314 Das ganzheitliche Denken überwand die auf das Verhältnis Mensch-Natur applizierte Subjekt-Objekt-Spaltung.1315 Das Individuum, von der Natur losgerissen und zum Fremdling in der Welt geworden, trat in den Worten der Vegetarischen Warte in einen Gegensatz zu allem übrigen: „Subjekt (Mensch) und Objekt (Natur) stehen sich jetzt gegenüber mit der Losung: ,Ich vor allem!‘“1316 Die Psychoanalyse deutete dieses Phänomen als ein Lösen des Ichs von der Außenwelt. „Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach.“ Dieses „primäre Ichgefühl“, das sich im Seelenleben vieler Menschen erhalten habe, dieses Gefühl einer unauflösbaren Verbundenheit, einer Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt, verbunden mit einer Empfindung der „Ewigkeit“, nannte Sigmund Freud 1930 ein „ozeanisches“ Gefühl.1317 Ähnliches Gedankengut findet sich auch in der Lebensreform: „Das ursprüngliche unbewusste Gefühl der Einheit und Harmonie des Lebens, – wonach wir Vegetarier jetzt bewusst streben – das sich äussert als stete Heiterkeit, oder, wie Göthe [sic] es nannte, als ,Stimmung‘, ist die Grundlage der geistigen und sittlichen Entwickelung, sowohl des Einzelmenschen, wie auch der Menschheit.“1318 Die Menschen, heißt es in Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“, hatten „immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst.“1319 Mit der Annahme der Lebensreformer, das Selbst sei Teil der Natur und die Natur Teil des Selbst, schien das Konzept der Ganzheitlichkeit dieses Spannungsfeld in Harmonie und Wohlgefallen aufzulösen. Wahrscheinlich war das ganzheitliche Denken deshalb 1313 1314 1315 1316 1317

JUST, Das Neue Paradies (wie Anm. 822), S. 12. Vegetarische Warte vom 8. März 1901, S. 104. Vgl. GLOY, Mechanistisches – organizistisches Naturkonzept (wie Anm. 1291), S. 99f. Vegetarische Warte vom 8. März 1901, S. 103f. SIGMUND FREUD, Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: ders., Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort. Frankfurt am Main/Hamburg 1953, S. 65–129, hier S. 65–68. 1318 Vegetarische Warte vom 8. März 1901, S. 103f. 1319 HORKHEIMER/ADORNO, Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 1035), S. 45.

4.2. Ganzheitlichkeit

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so verlockend. Wenn die Entzauberung der Welt die Ausrottung des Animismus ist1320, dann half die Ganzheitlichkeit in der Lebensreform bei ihrer Wiederverzauberung. Manchmal war die „äußere Natur“ auch mit anderem Inhalt gefüllt als mit jenem der natürlichen Umwelt. So wurde die innere, menschliche Natur in den Jahren um 1900, zur Hochzeit biologistischer und darwinistischer Theorien, oft auch in die zeitliche Dimension des Evolutionsprozesses eingebettet. So paraphrasierten lebensreformerische Zeitschriften der Jahrhundertwende Ernst Haeckels „Biogenetisches Grundgesetz“. Diese Theorie besagte, daß die Ontogenese die Phylogenese imitiere, daß also jeder Mensch während seiner Embryonalentwicklung noch einmal die Stammesgeschichte des Lebens durchlaufe. Haeckel verstand den Menschen als einen Mikrokosmos, der gleichwohl die Ordnungsstrukturen des evolutionären Makrokosmos in sich berge. Die Vegetarische Warte druckte 1909 einen Text des 1887 gestorbenen „Gründungsvaters“ des Vegetarismus Eduard Baltzer ab, in dem es hieß, der Mensch sei „eine einheitliche Natur im Kleinen, wie die Welt im Großen lebt, vervollkommnungsfähig, wie in seinem Geschlecht, so individuell in der kurzen Spanne seines Lebens.“ Der Mensch erscheint hier als „gesunde Zelle im Gesellschafts-Körper, und je gesünder alle Zellen werden, desto froher, rascher, schöner entfaltet sich das Ganze der menschlichen Gesellschaft.“1321 Mitunter war die äußere Bezugsgröße auch der gesamte Kosmos. Die ReformRundschau beschrieb die Erde im Februar 1984 als lebendigen Organismus, als in das Sonnensystem eingeordneten „Bürger des Weltalls“, und bettete Tier und Mensch in die Rhythmen der Jahreszeiten und der Tageszeiten, der geophysikalischen Phasen, des Luftdrucks, der Winde, des Erdmagnetismus und der Stellung des Mondes in den Tierkreisbildern ein.1322 Ähnlich, nur noch deterministischer, hieß es schon 1926 in der Vorgängerzeitschrift der Reform-Rundschau, der Kundenzeitschrift Das Reformhaus: „Jeder deiner Gedanken verbindet sich mit allen gleichartigen Gedanken im ganzen All. Nach dem einen großen Gesetz, daß Verwandtes sich zu Verwandtem finden muß, nach demselben Gesetz, nach dem die Sterne fallen und steigen, nach demselben Gesetz, nach dem die Schneeflocke sich bewegt, nach demselben Gesetz, nach dem die chemischen Verbindungen sich herstellen […].“1323 In der Lebenspraxis findet sich die Vorstellung, der Mensch sei Teil eines großen Ganzen, in reformerischen Bemühungen, den Wohnraum von störenden Einflüssen zu befreien und „natürlicher“ zu gestalten. Die Idee des gesunden oder 1320 Ebd., S. 15. 1321 Vegetarische Warte vom 23. Januar 1909, S. 13. Eine Zellenmetapher findet sich auch in: Das Reformhaus, Dezember 1925, S. 9: „Nur wenn jeder Bürger unseres körperlich-seelischen Zellenstaates alles daran setzt, ausschließlich für seine Brüder zu leben und zu wirken, dann bekommt ein jeder selbst ja in der Fülle alles, was er braucht. […] Wo die Selbstsucht unter den Zellen in unserem Körper einreißt, da entsteht Krankheit. Das ist im Körper des Menschen nicht anders als im Volkskörper.“ 1322 Reform-Rundschau, Februar 1984, S. 6. 1323 Das Reformhaus, September 1926, S. 1.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

auch „ganzheitlichen“ Wohnens kam schon um die Jahrhundertwende auf: mit der Ablehnung der dunklen, schlecht gelüfteten, mit Möbeln, viel Stoff und Nippes vollgepackten und kaum genutzten „guten Stube“, die es durch eine helle, klar aufgeteilte Wohnküche zu ersetzen gelte. Deren Prototyp wurde in den zwanziger Jahren die „Frankfurter Küche“ der Architektin Grete Lihotsky.1324 Im Kampf gegen Staubfänger und Bakterienhorte zeigt sich im übrigen auch die Nähe der Lebensreform zur Hygienebewegung und ihr Interesse an der wissenschaftlichen Hygiene. Unter allen Wissenschaften, schrieb 1907 der Lebensreformer Heinrich Pudor (1865–1941) in einem wütenden Artikel gegen Polstermöbel und für die Reinheit von Luft, Wohnung, Wäsche, Kleidung, Geschirr und Speisen, sei die Hygiene diejenige, die am meisten Bedeutung für das praktische Leben besitze: „Wir können […] sehen, daß auf allen Gebieten, in allen Lebensaltern die Gesundheit mit der Hygiene anfängt und aufhört.“1325 Die Ausführungen Pudors bewegten sich ganz in den von dem Münchner Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901) vorgegebenen Bahnen. Pettenkofer beschrieb die Abhängigkeit der Gesundheit des Körpers von der Außenwelt so: „Es genügt nicht nur die Physiologie des Körpers, wir brauchen auch eine Physiologie seiner Umgebung, soweit der Grad seiner Gesundheit dadurch beeinflußt wird. Wir brauchen eine Kenntnis der Luft, des Bodens, der Nahrung, des Hauses, der Kleidung, des Bettes, wir brauchen eine über den Organismus hinaus fortgesetzte Physiologie.“1326

„Das Haus ist eine dritte Haut“1327, schrieb in diesem Sinne auch der Naturheilpraktiker Manfred Köhnlechner im Jahr 1978 – als zweite sah er die Bekleidung. Jeder Raum besitze seinen eigenen „Gesundheitswert“, zusammengesetzt aus Größe, Licht-, Luft-, Temperaturverhältnissen, Lärmbelastung „und manchem anderen“. Immer wieder war in Ratgebern und Zeitschriften zu lesen, Licht und Luft müßten in den Wohnraum hereingelassen werden, besonders zum Schlafen. In den nach mehreren Seiten hin offenen Lichtlufthütten im „Jungborn“ fand sich diese Forderung im Ideal verwirklicht. Die meisten Bestrebungen richteten sich aber auf eine reformerische Verbesserung der Umwelt, die den Menschen unmittelbar umgab, nicht auf eine Revolutionierung des Lebensstils – auch in den Lichtlufthäuschen lebten die Besucher des Sanatoriums schließlich nur während der Auszeit ihrer Kur. Im November 1930 beschäftigte sich die Zeitschrift Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens mit dem Thema „Die neue Wohnung, ein Bild der neuen Zeit“. Ganz im Sinne der Ideen des „Neuen Bauens“ schilderte der Autor, ein Architekt, den Wandel von Haus

1324 Zur Frankfurter Küche LORE KRAMER, Rationalisierung des Haushaltes und Frauenfrage – Die Frankfurter Küche und zeitgenössische Kritik, in: ROSEMARIE HÖPFNER/VOLKER FISCHER (Hrsg.), Ernst May und das neue Frankfurt 1925–1930, Frankfurt am Main 1986, S. 77–84. 1325 HEINRICH PUDOR, Hygienisches von der Hauswirtschaft, in: Vegetarische Warte vom 9. Januar 1907, S. 4f., hier S. 4. 1326 Zit. nach BERGDOLT, Leib und Seele (wie Anm. 31), S. 307. 1327 KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 79.

4.2. Ganzheitlichkeit

295

und Wohnung als Wandel des Zeitgeistes, wobei sich auch organizistisch-ganzheitliche Anklänge finden1328: „Zum Wohnen, nicht zum Aussehen wird das Haus gebaut! Wie ein lebendiger Organismus wächst es aus den Forderungen, die die Aufgabe stellt. Der Mensch steht im Mittelpunkt, dem Leben soll das Haus dienen. [...] Früher: Reiche, aufgelöste Formen mit Erkern und Türmchen, die Flächen überladen mit einer Fülle von schmückenden Zutaten. Heute: Schlichtheit, Klarheit und Ruhe. Geschlossene, breit gelagerte, betont erdverbundene Formen.“1329

Beispiele für die Verwirklichung dieser Forderungen sind die in den zwanziger Jahren entstandenen Wohnsiedlungen nach den Planungen des Baudezernenten Ernst May (1886–1970) in Frankfurt am Main. 4.2.5. Rezeption fernöstlicher Ganzheitskonzepte Das ganzheitliche Denken der Lebensreformer förderte ihr Interesse an außereuropäischen Traditionen, in denen die Ganzheit ebenfalls eine herausragende Rolle spielte. Das gilt vor allem für asiatische Traditionen. Die bis heute anhaltende Konjunktur asiatischer Gesundheitslehren und Gesundheitspraktiken begann im wesentlichen in den siebziger Jahren mit einem gesteigerten Interesse an asiatischen Kulturen, das in der Flower-Power-Bewegung1330 besonders ausgeprägt war. Aber auch schon die Lebensreformer der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit interessierten sich für asiatische Länder, vor allem für deren Religionen. Die Vegetarische Warte veröffentlichte immer wieder Artikel über den Buddhismus1331 und den Brahmanismus. Im Jahr 1948 publizierte der Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann ein Buch über Leben und Werk Mahatma Gandhis, den er 1931 in London und in der Schweiz bei Romain Rolland kennengelernt hatte.1332 Besonders oft bezogen sich die Lebensreformer auf Gandhis 1925 erstmals in deutscher Sprache erschienenen „Wegweiser zur Gesundheit“.1333 1328 Zum „Hunger nach Ganzheit“ in der Weimarer Republik, der sich auch im Bauhaus zeige, PETER GAY, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918– 1933. Neuausgabe Frankfurt am Main 1987 [zuerst 1970; engl. 1968], S. 131–137. 1329 Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens, November 1930, S. 211. 1330 Hierzu bezüglich der Wiederentdeckung der Akupunktur im Zuge der „hippie ideology“ in Nordamerika WHORTON, Nature Cures (wie Anm. 821), S. 256f. – Zu Hinduismus und Buddhismus etwa Gefährten, Dezember 1969, S. 5–10. 1331 Zur Verbindung von Buddhismus und Lebensreform MARTIN BAUMANN, „Importierte“ Religionen: das Beispiel Buddhismus, in: KERBS/REULECKE (Hrsg.), Handbuch Reformbewegungen (wie Anm. 46), S. 513–522; ULRICH LINSE, Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität, in: HANS-G. KIPPENBERG/BRIGITTE LUCHESI (Hrsg.), Religionswissenschaft und Kulturkritik. Marburg 1991, S. 325–364. 1332 WERNER ZIMMERMANN, Mahatma Gandhi. Sein Leben und sein Werk. Seine Lehren für uns alle. München 1948, S. 38. 1333 MAHATMA GANDHI, Wegweiser zur Gesundheit. Die Kraft des Ayurveda. Mit Beiträgen von Rocque Lobo und Ettore Levi. Neuausgabe Köln 1988 [zuerst Erlenbach-Zü-

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

Die wachsende Beliebtheit asiatischer Gesundheits-Methoden ist auch ein Indikator für einen immer internationaler werdenden Eklektizismus auf dem Reform- und Gesundheitsmarkt. Es muß zugleich erstaunen, daß die Lebensreform asiatische Gesundheitslehren unter Betonung ihrer Ganzheitlichkeit oft als Gegenbild zu „dem“ westlichen Denken stilisierte, ist das Ganzheitsdenken doch auch im europäischen Kulturkreis selbst stark verankert. Ein ähnliches Phänomen findet sich bei der Meditation, die – von Augustinus und den Mystikern bis zu Charles de Foucauld – in der christlichen Religion von Bedeutung ist. Die Reformer übernahmen Meditationspraktiken aber nicht aus dem eigenen Kulturkreis, sondern vor allem aus dem Buddhismus und dem Yoga.1334 4.3. NATUR UND NATÜRLICHKEIT Die Natur ist gütig, aber auch streng, langmütig, aber unerbittlich, Führerin, Helferin, Fee, liebevolle Mutter, Allmutter und große Meisterin; sie hat Hände, einen Busen und einen Schoß, ist zugleich Teil des Menschen und das ihn Umgebende; der Mensch kann wider seine Natur handeln, sich der Natur entfremden, zu ihr zurückkehren oder voranschreiten, gemäß den Schlagworten „Zurück zur Natur“ und „Vorwärts zur Natur“; die Natur heilt – natura sanat, non medicus –, rächt sich aber auch mit Krankheit, wenn der Mensch nicht auf ihre Stimmen hört; die Natur ist eine Apotheke, die alle für die Gesundheit des Menschen notwendigen Mittel bereithält, sie legt dem Menschen reife Frucht in den Schoß und deckt ihm den Tisch: Die Lebensreformer machten die Natur oft zum Subjekt oder personifizierten sie, was auf ein Gefühl großer Nähe und Vertrautheit schließen läßt. Auch wenn die Reformer glaubten, stets von der Natur „an sich“ zu sprechen, sprachen sie doch immer von Naturkonstrukten, die sie ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend erfanden.1335 Die Natur hatte in ihren Texten die Funktion eines Leitbildes. Natürlichkeit fungierte als Handlungsmaxime: Eine „naturgemäße“ Lebensweise war für den, der Gesundheit anstrebte, höchstes Gebot. rich/München/Leipzig 1925], S. 29. Als Beispiel für die Rezeption des „Wegweisers“ vgl. WOLF, Natur als Arzt und Helfer (wie Anm. 893), S. 210. 1334 Vgl. etwa Was ist Joga?, in: Reform-Rundschau, März 1966, S. 7. – Auch ein Werk über Geschichte, Systematik, Forschung und Theorie der Meditation beginnt seine Darstellung der historischen Entwicklung der Meditation mit den östlichen Kulturen und kommt erst danach „zu unserer eigenen Tradition, da die östlichen Meditationsformen zeitlich älter, methodisch vielfältiger, eindeutiger in der Betonung der Erfahrungen und damit weniger von tradierten Glaubenssätzen überlagert sind.“ Vgl. KLAUS ENGEL, Meditation. Geschichte, Systematik, Forschung, Theorie. 2. Aufl. Frankfurt am Main u. a. 1999 [zuerst 1995], S. 17. 1335 Die Beziehung zwischen mentalen Natur-Bildern und naturaler Realität ist umstritten, wobei die Position, Natur sei ein mentales Konstrukt, das in das Belieben des kulturellen „Subjekts“ gestellt sei, verglichen mit der Position, es gebe eine „objektive“ Natur, zur Zeit „zweifellos die populärere“ ist. Vgl. ROLF PETER SIEFERLE, Einleitung: Naturerfahrung und Naturkonstruktion, in: ders./HELGA BREUNINGER (Hrsg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte. Frankfurt am Main/New York 1999, S. 9–18, hier S. 11.

4.3. Natur und Natürlichkeit

297

Die Natur stand in der Lebensreform für Verläßlichkeit. Der Mensch war Teil der Natur, die Natur Teil des Menschen. Die innere, jeweils eigene, instinktiv erfahrbare Natur ließ auf die äußere, umgebende Natur schließen. Wer nur bereit sei, so die Botschaft der Reformer, sich auf die Natur einzulassen, nicht wider sie zu handeln, sondern sich von ihren Gesetzen leiten zu lassen, die gemäß der Ganzheitsidee nicht nur im Großen wirksam, sondern auch in das eigene Innere eingeschrieben waren, der war auf der sicheren Seite. Die Natur war Garantin der Gesundheit. Gefahren lauerten nicht länger – wie noch im vorindustriellen Zeitalter – unmittelbar in den Unwägbarkeiten der Natur, in ihrer Gewalt, der der Mensch einst schutzlos ausgeliefert war. Sie drohten nun vielmehr auf der anderen Seite, auf jener der Kunst und der Kultur, vor allem aber auf jener der Zivilisation und der Wissenschaft. Sie alle entfremdeten, so beschrieben es die Lebensreformer, den Menschen seinem naturgegebenen Zustand, zerstörten seine Naturnähe, zerschnitten seine Naturverbundenheit. Trotz alledem blieb der Mensch aber immer „Natur in der Natur“. Die Natur war die Grundeinheit, innerhalb – nicht außerhalb – derer sich auch alle menschlichen Naturwidrigkeiten abspielten.1336 Daß der technische Fortschritt die Natur zu bezwingen, zu zähmen schien, daß die modernen Naturwissenschaften die Natur berechenbarer machten, nahm dem Menschen Furcht vor der Natur und schuf zugleich neue Furcht vor ihr. Daraus, daß die Natur komplexer sei als alle Versuche, sie zu nutzen oder zu kontrollieren, erwachse eine „paradoxe Dynamik“, schreibt Rolf Peter Sieferle: „In dem Maße, wie die Zugriffe auf die Natur zunehmen, nimmt die Beherrschung der Natur ab.“1337 Indem die Lebensreform die Natur bedingungslos zu ihrem Bezugspunkt und zur grundguten, gerechten Größe machte, verwandelte sie die neue Furcht in Ehrfurcht. Die Unberechenbarkeiten der Natur, die im Sinne der „paradoxen Dynamik“ mit den Berechnungsmöglichkeiten zunahmen, ließen sich wahlweise als Zurückschlagen, als Rache der Natur am Menschen deuten, der sie nicht achtete, oder aber als Zeichen dafür, daß die Natur Opfer des zerstörerischen Menschen geworden sei, was nun auch den Menschen selbst in Gefahr bringe. Die Variante der Natur als erzürnter Göttin, als strafender Mutter, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das üblichere Erklärungsmuster. 1338 In der zweiten Jahrhunderthälfte, als eine „toxische Gesamtsituation“ zur globalen ökologischen Katastrophe zu führen schien, herrschte die Vorstellung eines schuldhaften kollektiven Handelns vor, das die Natur und den Menschen selbst krank mache und nur durch ein anderes kollektives Handeln wiedergutgemacht werden könne.1339 Zu jeder Zeit

1336 Ein Satz Hans-Georg Gadamers beschreibt das treffend: „Gegen die Natur kann man nur sein, wenn man Natur ist und wenn die Natur mit uns ist.“ GADAMER, Verborgenheit (wie Anm. 1259), S. 148. 1337 ROLF PETER SIEFERLE, Die Natur treibt uns in die Defensive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. August 2002, S. 33. 1338 Belegstellen sind Legion. Ein Beispiel ist Die Lebenskunst vom 16. Februar 1931, S. 24: Krankheit als „Rache der Natur für die Verkennung, Verachtung, Missachtung, Verhunzung der Natur von Seiten des Menschen.“ 1339 Hierzu oben Kapitel 3.3.1., S. 255ff.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

aber verwiesen Krankheit und Katastrophen auf die Frage nach dem Verhältnis der Kunst, der Zivilisation, der Kultur und der Wissenschaft zur Natur. Dabei waren es selbstverständlich erst diese „Gefahren“, die das positive Naturbild der Lebensreform ermöglichten. Der Mensch wußte, wie es der aus der katholischen Jugendbewegung kommende Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini (1885–1968)1340 im Jahr 1950 formulierte, „nun intellektuellwissenschaftlich einfachhin mehr, als er sinnenhaft sehen, ja auch nur vorstellen kann“. Dadurch veränderte sich sein Verhältnis zur Natur: „Es verliert die Unmittelbarkeit, wird indirekt, durch Rechnung und Apparat vermittelt. Es verliert die Anschaulichkeit; wird abstrakt und formelhaft. Es verliert die Erlebbarkeit; wird sachhaft und technisch.“1341 Diese vielfach empfundene Entfremdung von der Natur durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt machten sich die Protagonisten gesünderen Lebens zunutze. Aus der indirekt, abstrakt und sachhaft gewordenen Natur erwuchs jene „neue Natürlichkeit“ der Moderne, die bewußt erlebt wurde und damit nicht mehr eine Natürlichkeit im ursprünglichen Sinne war.1342 Die Moderne schuf also erst die Voraussetzungen für die „menschenfreundlichen“, verklärenden Naturkonzepte, die sich gegen die Moderne selbst richten sollten. In der Zivilisation, so heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“, übten die natürlichen Verhältnisse nicht mehr unmittelbar, sondern durch das Bewußtsein der Menschen hindurch, also gefiltert, ihre Macht aus. Den Schritt vom Chaos zur Zivilisation büßten die Menschen mit der Anbetung dessen, dem sie vorher bloß wie alle anderen Kreaturen unterworfen waren.1343 Zwar hat der Ausdruck „Natur“ schon seit der griechischen Antike seine Kontur durch Entgegensetzungen erhalten.1344 In der Philosophie gewinnen die Begriffe „Natur“ und „natürlich“ erst von ihrem jeweiligen Gegenbegriff her ihre spezifische Bedeutung, in Gegensatzpaaren haben sie „ihren eigentümlichen

1340 Guardini war seit 1924 geistlicher Leiter des katholischen Jugendbewegungsbundes „Quickborn“ (lebendiger Quell), dessen Zentrum die Burg Rothenfels am Main war. Die Anregung für den Namen „Quickborn“, der zunächst eine seit 1913 erscheinende Zeitschrift und dann auch den Bund bezeichnete, gab eine Gedichtsammlung von Klaus Groth. Die Burg Rothenfels erwarb der Bund im Jahr 1919. Vgl. einen Beitrag von Winfried Mogge zum Bündischen Jahrbuch 1963 [maschinenschriftliches Manuskript], S. 2. Archiv der deutschen Jugendbewegung, A2–130/12. – Vgl. auch das Flugblatt „Für und wider Quickborn“: „Quickborn ist ein Quell, ein Gebirgsbach, ein Strom“, Archiv der deutschen Jugendbewegung, A2–130/1. – Zu Guardini und Rothenfels ausführlich HANNA-BARBARA GERL, Romano Guardini 1885–1968. Leben und Werk. 3. Aufl. Mainz 1987 [zuerst 1985], S. 153–249. 1341 ROMANO GUARDINI, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung. Würzburg 1950, S. 77. 1342 Die Wendung zu einer neuen Natürlichkeit vollzog Guardini nicht, er verwendete den Ausdruck der „nicht-natürlichen Natur“, der sich als wertfreie Diagnose verstand: Er sei „nicht als Ausdruck eines Urteils, sondern als Beschreibung genommen“: GUARDINI, Das Ende der Neuzeit (wie Anm. 1341), S. 80. 1343 HORKHEIMER/ADORNO, Dialektik (wie Anm. 1035), S. 28. 1344 GERNOT BÖHME, Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1992, S. 113f.

4.3. Natur und Natürlichkeit

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Ort“.1345 Doch erlangten diese Gegenüberstellungen in der Moderne eine neue Qualität. Sie gingen nunmehr über die rein philosophische Reflexion hinaus und berührten unmittelbar die Lebenspraxis in Form der eigenen Gesundheit wie auch der Gesundheit der Gesellschaft. Eine bewußte „naturgemäße Lebensweise“, die sich stets zwischen Natur und Kunst, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit bewegen mußte (4.3.1.), war erst auf dieser Grundlage möglich. In diesem Sinne machte die Lebensreform die Natur, jenen „Normbegriff für das Vernünftige und Richtige“ 1346 der abendländischen Tradition, gegenüber den „menschengemachten“ Elementen der Zivilisation (4.3.2.), der Kultur (4.3.3.) und der Wissenschaft (4.3.4.) zum Leitbild.1347 Diese Gegensätze waren nicht starr. In vielem ergänzten sie sich in den Augen der Lebensreformer harmonisch-ganzheitlich im Sinne zweier Pole, die beide als lebensnotwendig erschienen. 4.3.1. Natur und Kunst1348 Im August des Jahres 1918 erschien in der Vegetarischen Warte ein Artikel mit dem Titel „Zur Psychologie des gesunden Menschen“.1349 Darin stellte der Autor Hugo Erdmann einige „Kriterien des gesunden Menschen“ zusammen, die der ganzheitlichen Gesundheitsdefinition Werner Kollaths von 19421350 ähneln: „Lebens- und Arbeitsfreudigkeit, Lust am Kampf, gesunde Neigung zum anderen Geschlecht (Familiensinn), harmonisches Gleichgewicht aller körperlich-seelischen und geistigen Kräfte

1345 ROBERT SPAEMANN, Natur, in: HERMANN KRINGS/HANS MICHAEL BAUMGARTNER/CHRISTOPH WILD (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. 6 Bde. München 1973, 1974. Bd. 4 [1973], S. 956–969, hier S. 957. 1346 NIPPERDEY, Arbeitswelt und Bürgergeist (wie Anm. 67), S. 185. 1347 Das Gegensatzpaar „Natur und Geschichte“, jene vermeintliche oder tatsächliche „spezifische Antinomie des 20. Jahrhunderts“ – vgl. LOTHAR GALL, Natur und Geschichte – eine spezifische Antinomie des 20. Jahrhunderts? (= Heidelberger Universitätsreden, Bd. 11.) Heidelberg 1996 –, kommt anders als die anderen Gegensatzpaare nicht explizit in den Texten der Lebensreform vor. Der Sache nach findet sich der Gegensatz von Natur und Geschichte in der Vorstellungswelt der Lebensreform aber durchaus. Die Natur als das Ewige, Ursprüngliche, zugleich stets Erneuerbare, hatte die Erinnerung an das Paradies, an ein Goldenes Zeitalter, noch in ihren Bausteinen gespeichert. Naturbelassene Produkte boten dem Lebensreformer daher die Möglichkeit, der Geschichtlichkeit, der zeitlichen Welt zu entfliehen: Wer sie konsumierte, erhaschte einen Augenblick von Ewigkeit. 1348 „Kunst“ meint hier in einer Definition Gadamers „jenen Inbegriff von Können, der als die gefährliche Begabung des menschlichen Wesens uns allen bekannt ist.“ Der Begriff wird verstanden als „Techne“, als das „Wissen und wissende Können, von dem aus die griechische Antike den ersten Schritt zu unserer heute die Welt umspannenden Könnerschaft und Wissenschaft getan hat.“ Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Zwischen Natur und Kunst, in: ders., Verborgenheit (wie Anm. 1259), S. 111–120, hier S. 111f. Zuerst in: PETER HAHN/WOLFGANG JACOB (Hrsg.), Viktor von Weizsäcker zum 100. Geburtstag. (= Schriften zur anthropologischen und interdisziplinären Forschung in der Medizin, Bd. 1). Berlin/Heidelberg 1987, S. 45–50. 1349 Zum folgenden Vegetarische Warte vom 31. August 1918, S. 173f. 1350 Vgl. oben S. 278.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens und im gesunden Sinne eine unphilosophische Natur, d.h. in diesem Falle ein Mensch, der nie über sich selbst grübelt, denn jedes egozentrische Denken ist ein krankhaftes Zeichen.“

In einem im Feld geschriebenen Nachtrag ergänzte Erdmann „als hauptsächliches Moment bei der Vollgesundheit des Menschen“ noch die „Organlosigkeit“, von der er sich nicht sicher war, ob er sie in dem vor seiner Einberufung zum Heeresdienst verfaßten Haupttext schon erwähnt hatte (was nicht der Fall war): „Bei dem gesunden Menschen funktionieren sämtliche Organe mit fast automatischer Selbstverständlichkeit und Sicherheit. Der Betreffende weiß nicht, daß er überhaupt einen Körper hat.“ Die Lebensfreude und die Freude an der Arbeit leuchten als Gesundheitsindikatoren sofort und gewissermaßen „zeitlos“ ein; die Lust am Kampf paßt zu den darwinistischen und vitalistischen Strömungen der Vorkriegszeit, die die „Tat“ rühmten und forderten, und zu der verbreiteten aufbruchsbereiten, mitunter begeisterten Stimmung unmittelbar bei Kriegsausbruch; die gesunde Neigung zum anderen Geschlecht läßt sich in den hygienischen und den sozialreformerischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts einordnen; das harmonische Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele ist ein aus der Zeit um 1800 stammendes, bis heute verbreitetes ganzheitliches Konzept. Aber ein „organloser“ Mensch „ohne Körper“ als gesundheitliches Ideal – und das aus der Feder eines Lebensreformers, eines Anhängers folglich jener berühmten Körperkultur des frühen 20. Jahrhunderts, die doch bekanntlich – zahlreiche mit vielen Fotografien nackter oder leicht bekleideter Menschen in sportlichen oder „natürlichen“ Posen bebilderte zeitgenössische Alben und historische Studien erzählen davon – einen regelrechten „Cult of Health and Beauty“ (Michael Hau) betrieb, sich also kaum mit anderem als mit Somatischem beschäftigte? Und mehr noch: In den Augen des Vegetariers Erdmann soll ein gesunder Mensch „unphilosophisch“ sein, soll folglich nicht über sich und sein Leben nachgrübeln, sondern sich schlicht in einem psychisch-physisch-mentalen Gleichgewicht befinden. Warum dann das viele Sprechen über Reformen, wozu die vielen Texte über Gesundheit? Schließlich reflektierten die Autoren der Lebensreform in ihren Schriften ununterbrochen darüber, was gesund und was natürlich sei. Bewies Erdmann also nicht mit seinem Nachdenken und Schreiben über die Kriterien des gesunden Menschen, daß er selbst eine, in welchem Ausmaß auch immer, „philosophische“ Natur war – und folglich durch das eigene Raster hindurchfiel, also ungesund lebte? Diese Fragen führen zu einem Grundproblem des Gesundheitsverständnisses der Lebensreform, das zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, zwischen Natur und Kunst schillerte. Denn einerseits wollten die Reformer so natürlich wie möglich leben, andererseits kippte ihre gedanklich überformte Natürlichkeit aber oft zum Künstlichen um, geriet zur Pose, ganz so, wie sie oft auf Fotografien in lebensreformerischen Zeitschriften und Büchern zu sehen ist. In ihrem Nachdenken über Gesundheit intellektualisierte die Lebensreform das Natürliche und ließ es so zu einem Erzeugnis des menschlichen Geistes werden, zum Kunstprodukt. Die Lebensreform machte die Elemente der Natur zu einer „persönlichen Angelegen-

4.3. Natur und Natürlichkeit

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heit mit einem hohen Ausprägungsgrad von Intimität.“1351 Alle ihre an der Maxime der Natürlichkeit orientierten Verhaltensweisen aber waren Kulturpraktiken. Der Reformer sollte sich an der Luft und im Wasser bewegen, dort möglichst auch Gymnastik machen, sollte Sonnenlicht an seine Haut lassen, Schnee-, Tau- und Moorbäder nehmen, Mineralien oder Heilerde schlukken, Tee aus Kräutern kochen und Lehmsalbe auf der Haut verreiben. Wenn die Reformer solche Praktiken anpriesen, rühmten sie regelmäßig die gesunde, unreflektierte Lebensweise der Kinder, Tiere und „Naturvölker“, die diese Handlungen ohne Nachdenken, schlicht ihrer Intuition oder ihrem Instinkt folgend, natürlicherweise ausführten – eben „organlos“ im Sinne des Vegetariers Erdmann. Jeder Versuch der Lebensreformer aber, diese anscheinend reine Natürlichkeit möglichst naturgetreu zu imitieren, mußte wie jede Mimesis ein Schauspiel bleiben, ganz wie selbst das realistische Drama nicht mehr als eine – gleichwohl seiner Intention nach äußerst naturnahe – Nachahmung der Wirklichkeit darstellt 1352, ein Kunst-Werk – und das war den Reformern wohl bewußt. Nur der Mensch kann Theater spielen, und genau diese Fähigkeit macht seine Kultur aus, die somit zu seiner Natur gehört: „Menschen sind in der Lage, zu wissen, daß sie wissen; sie vermögen über ihr eigenes Denken nachzudenken und zu beobachten, daß und wie sie beobachten.“ Ja, sie können, wie Norbert Elias weiter formuliert, „unter bestimmten Bedingungen weiterklimmen und ihrer selbst als Wissender gewahr werden, die sich ihres Wissens über sich selbst als Wissende bewußt sind. Sie sind, mit anderen Worten, in der Lage, auf der Wendeltreppe des Bewußtseins von einem Stockwerk mit einer spezifischen Sicht zu einem höheren mit der seinen hinaufzusteigen und herunterblickend sich selbst zu gleicher Zeit auf anderen Stufen der Wendeltreppe stehen zu sehen.“1353 Auch für die Lebensreform in ihrem intellektuellen Bemühen um mehr Natürlichkeit, um instinktive, intuitive, körperlose und unreflektierte Gesundheit gab es aus diesem Selbst-Reflexionsvermögen kein Entrinnen.1354 Dennoch schrieben die Lebensreformer unentwegt und begeistert über die reine Natürlichkeit der Kinder, Tiere und „Naturvölker“, die für sie ein Zeichen von perfekter Gesundheit war.1355 Diese Vorstellungen dürften ihren Ursprung in 1351 So für die Naturheilkunde BÜHRING, Naturheilkunde (wie Anm. 1253), S. 105. 1352 Vgl. dazu ERICH AUERBACH, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 9. Aufl. Tübingen und Basel 1994 [zuerst 1946], bes. S. 306. 1353 NORBERT ELIAS, Probleme des Selbstbewußtseins und des Menschenbildes, in: ders., Die Gesellschaft der Individuen. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994 [zuerst 1987], S. 99–205, hier S. 144f. 1354 Der Gedanke, daß der Mensch „von Natur aus künstlich“ sei, findet sich besonders deutlich in der Anthropologie Helmuth Plessners von 1924. Vgl. dazu LETHEN, Verhaltenslehren (wie Anm. 857), S. 80–95. 1355 Auf Kinder, Tiere und Naturvölker blickten nicht nur Lebensreformer. Im Grunde war ihre Beispielhaftigkeit universell einsetzbar; die Spanne der Texte, in denen ihr unverdorbener Instinkt dem zivilisierten Menschen als Gegenbild vorgehalten wird, ist weit. Sie reicht von einem zivilisationskritischen Diskurs in Hausfrauenzeitschriften der fünfziger Jahre, der die „Naturvölker“ einer als denaturiert empfundenen Zivilisation gegenüberstellte – dazu WILDT, Vom kleinen Wohlstand (wie Anm. 571), S. 211–213 –, bis hin zur Internetseite des

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der Lehre des bayerischen Militärarztes Lorenz Gleich (1789–1865) vom Naturinstinkt haben: Naturinstinkt bedeutete für Gleich das „natürliche“ Gefühl des Menschen für gesundes Verhalten, „Naturdiätetik“ war für ihn eine gesunde Lebensführung, die dem Instinkt folgte.1356 Schon ein Bändchen von 1873 führte den Ekelschauer, den Kinder instinktiv beim Biertrinken empfänden, als Beweis für die Schädlichkeit des Bieres für die Gesundheit an1357, ein anderes Büchlein von 1882 nannte den Instinkt den „Generalgesundheitsminister“ der Natur.1358 Die Lebensreformer griffen diese Sprechweisen auf und füllten sie mit oft exotischem Leben. Der Sanatoriumsleiter und Kleidungsreformer Heinrich Lahmann rühmte 1898 die Natürlichkeit der Eskimos und der Feuerländer1359, und Adolf Just präsentierte im Jahr 1907 „Naturmenschen“, Tiere und Kinder als Beispiele für Lebewesen, die sich ganz auf ihren natürlichen Instinkt verließen.1360 Im Oktober 1929 hieß es in der Zeitschrift Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens über die „Stillen im Lande“, also über Lebensreformer und der Lebensreform nahestehende Menschen: „Sie haben den Hochmut des bloßen Gehirnwissens abgelegt und sind wieder Kind geworden, sie können mit Kindern und wie die Kinder spielen, strahlen und fröhlich sein.“1361 Die seit einer Begegnung mit Maximilian Bircher-Benner von der „naturgemäßen“ Lebensweise überzeugte Schauspielerin Franziska Kinz schrieb 1973 in einem Ratgeber, vieles habe sie „von meinem Spaniel ,Ganymed‘ gelernt“1362, was im übrigen zeigt, daß sich der Topos der unverdorbenen Natürlichkeit oft am Rande des Kitsches bewegte. Auf das Naturwissen der Tiere, das die Menschen kopieren sollten, berief sich auch Theodor Stöckmann (1872–1947), der den sogenannten Naturschlaf propagierte und den die Lebensreformer oft zitierten. Stöckmann empfahl, den Schlafrhyth-

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Fitness-„Propheten“ Ulrich Strunz, auf der es heißt: „Als Kinder waren wir glücklich. Wir sind herumgehüpft, fröhlich, haben ohne nachzudenken gegessen und dazwischen geträumt. Niemand hat uns gewarnt vor Blutfett und Herzinfarkt. Wir waren, wir lebten im Hier und Jetzt. Und haben dabei fröhlich gelacht. 400-mal täglich. Das ist vorbei.“ Vgl. www.strunz.com/team, abgerufen am 20. Juni 2006. BÜHRING, Naturheilkunde (wie Anm. 1253), S. 10. RICHARD NAGEL, Rückkehr zur Natur! oder: Wie soll der Mensch leben? Diätetische Winke in Bezug auf Branntwein, Bier, Wein, Kaffe, Thee, Chokolade, Gewürze, Salz, Zucker u. Tabak und die Impfung. Barmen 1873, S. 7. RICHARD NAGEL, Das Fleischessen vor dem Richterstuhle des Instinkts, des Gewissens und der Vernunft, der Religionsgeschichte und der Naturwissenschaften, oder: Der Weg zum Paradiese der Gesundheit. Berlin 1882, S. 11. LAHMANN, Luftbad (wie Anm. 812), S. 9–11. ADOLF JUST, Die Hilfe auf dem Wege! Geistes- und Seelenleben. Jungborn-Stapelburg a. Harz 1907, S. 8f. – Zur Rolle der „Naturvölker“ in Reformbewegungen, die für nicht-verplante Zeit, eine unmittelbare Beziehung zur Natur, überschaubare Gemeinschaften, sinnvolle Arbeit, geldlose Wirtschaft und ganzheitliche Lebenszusammenhänge stehen konnten, auch CONTI, Abschied (wie Anm. 36), S. 199. Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens, Oktober 1929, S. 103. FRANZISKA KINZ, Praktische Ratschläge zur naturgemäßen Lebensweise. München 1973, S. 28. Schon einige Jahre zuvor hatte die Schauspielerin ein Buch zur Lebenshilfe veröffentlicht: dies., Jedem das Seine. München 1967. Vgl. auch die Besprechung des Bandes mit verschiedenen Pressetexten in: Eden-Hauspost, Dezember 1968, S. 6.

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mus anzunehmen, nach dem alle Tiere außer den Nachttieren lebten, also bei Sonnenuntergang schlafen zu gehen und bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen.1363 Beliebt war im Reformschrifttum auch das am Himalaja lebende Volk der Hunza oder Hunsa. In einem Ernährungsratgeber des Fitness-„Propheten“ Ulrich Strunz hieß es im Jahr 2000 unter dem Stichwort „Aprikose“: „Im Bergvolk der Hunzas im Karakorum werden die Menschen durchschnittlich 10 Jahre älter als Mitteleuropäer. Ihre Verjüngungskur: mehrmals täglich Aprikosen. Darin steckt immunstärkendes und zellschützendes Beta-Carotin.“1364 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Hunza schon eine rund achtzig Jahre währende Karriere als glänzendes Beispiel für gesundes Leben hinter sich. Vor allem Ralph Bircher schrieb immer wieder über das „Volk, das keine Krankheiten kennt“.1365 Manche Autoren unternahmen sogar Reisen an den Himalaja. Daß sie dort zweierlei vorhatten: mit den Hunza zu leben und das Leben der Hunza zu erforschen1366, zeigt wiederum, daß das lebensreformerische Interesse am „Naturinstinkt“ sowohl Annäherung an eine unverfälschte Natürlichkeit als auch forschendes Erkennen war. Die Reformer waren sich darüber im klaren, daß sie das naturnahe Leben anderer, zivilisationsferner Völker nicht gänzlich imitieren konnten; für die Lebensweise von Tieren und Kindern gilt Entsprechendes. Ralph Bircher schrieb 1984 in einem Artikel über ein mexikanisches Indianervolk, dessen Angehörige nach seinen Angaben in „Kick-Ball-Rennen“ ohne Pause bis zu 300 Kilometer durch das Bergland liefen und bei der Hirschjagd zwei Tage lang hinter demselben Tier herrannten: „Für uns kommt es natürlich nicht in Frage, zum Leben der Tarahumana mit ihren Kick-BallRennen und Jagdmethoden überzugehen. Das ist nur ein Beispiel, ein Hinweis, um zu bedenken, daß auf diesen, wie auf vielen anderen Gebieten ungeahnte Möglichkeiten in uns Menschen stecken, die zu erkennen und zu entwickeln uns die Zukunft zu bestehen, helfen mag.“1367

Die „Naturvölker“ hatten also vor allem die Funktion, dem „Zivilisationsmenschen“ seine Entfernung von einer „naturgemäßen Lebensweise“ zu verdeutlichen. Oft schwang zwischen den Zeilen die implizite Frage mit, was diese Menschen wohl von den „überzivilisierten“ Europäern dächten, wenn sie die Möglichkeit erhielten, diese zu studieren, und welche Hinweise sie den Opfern ihrer eigenen Zivilisation geben könnten. Ein literarisches Beispiel für diese Vorbildfunk1363 THEODOR STÖCKMANN, Schlafe vor Mitternacht! Neubearb. v. Georg Alfred Thienes. 5. Aufl. Stuttgart 1953 [zuerst Stuttgart/Leipzig 1933]. Zum Naturschlaf nach Stöckmann auch KARL SUTER, Länger leben ohne zu altern. Gelnhausen-Gettenbach 1960, S. 123–125. Vgl. auch Der Naturarzt, November 1931, S. 353–355; Leib und Leben, April 1939, S. 157. 1364 ULRICH STRUNZ, Forever Young. Das Ernährungsprogramm. München 2000, S. 98. 1365 Neben zahlreichen Zeitschriftenartikeln vgl. vor allem RALPH BIRCHER, Hunsa. Das Volk, das keine Krankheit kennt. 4. Aufl. Bern 1952 [zuerst 1942]. 1366 IRENE VON UNRUH, Traumland Hunza. Erlebnisbericht von einer Asienreise. Mannheim 1955; vgl. auch KIRSTINE NOLFI, Meine Erfahrungen mit Rohkost. Vortrag auf der 1. Deutschen Volksgesundheits-Woche 1952 in Koblenz. 2. Aufl. Hilchenbach (Westfalen) o. J. [ca. 1955], S. 18–20, wo das Hunzavolk als „strahlendes Beispiel“ für gute Gesundheit erscheint. 1367 Reform-Rundschau, März 1984, S. 11.

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tion sind die fiktiven Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara, dem der Lebensreformer Hans Paasche in den Jahren 1912 und 1913 – nach dem Vorbild der „Lettres Persanes“ des Baron de Montesquieu – seine Zivilisationskritik in den Mund legte.1368 4.3.2. Natur und Zivilisation „Es gibt wenig Sagen, die einen so tiefen Sinn gerade für unsere Zeit haben, wie die Prometheussage. Wir alle sind mit hineingezogen in das titanische Werk der Bewältigung der Natur – wir alle arbeiten hier oder dort mit daran, die Kräfte des Himmels und der Erde für den Menschen zu erobern. Und uns allen wird die Büchse der Pandora gereicht mit der unersättlichen Schar der Genüsse und der Träume von den Genüssen der Zukunft. Wir alle verfallen der Versuchung, materiell zu werden in diesem Ringen nach Macht über die Materie.“1369

Prometheus und die Büchse der Pandora – es liegt in der Natur des Menschen, und nicht erst des modernen Menschen, daß er die Grenzen überschreitet, die ihm die Götter setzen, die die Natur absteckt, und daß er zugleich immer wieder über diese ihm eigene Eigenschaft nachdenkt. Erst die moderne Gesellschaft aber begann, sich selbst als eine „Zivilisation“ im Sinne bewußter Aktivität zu verstehen und aus diesem Selbstbild heraus zu handeln.1370 Mit dem Beginn der Moderne steigerten sich daher auch die Reflexionen über die Grenzen des Menschen ins Unermeßliche. Auf einmal paßten die antiken Metaphern noch etwas besser als zuvor, schienen die griechischen Sagen vom sich über die Natur erhebenden Menschen, wie es in dem zitierten Abschnitt aus einem Lebensführungs-Leitfaden von 1911 heißt, „einen so tiefen Sinn gerade für unsere Zeit“ zu haben. Die Flut der zivilisationskritischen Texte stieg seit dem späten 19. Jahrhundert ins Unüberschaubare an. Die Lebensreform nahm an diesem Diskurs teil. An erster Stelle der die Jahrzehnte überdauernden Gegenspieler der Natur stand in ihrem Schrifttum die Zivilisation. Die ihr zugeordneten Übel variierten. Im März 1986 zählte die ReformRundschau einige von ihnen und ihre negativen Folgen für die Gesundheit des Menschen auf: Die moderne Bauweise mit Heizsystemen lasse die körpereigene Abwehr verkümmern; Maschinenarbeit, Verkehrs- und „Nachrichtenmittel“ führten zu körperlichem Trainingsmangel, industrielle Erzeugung und Verarbeitung 1368 HANS PAASCHE, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Hrsg. v. Franziskus Hähnel und mit einem Nachwort von Iring Fetscher. Bremen 1988 [zuerst 1912/13], S. 58. – Seit 1977 vertrieb der Verlag Tanner + Staehlin unter dem Titel „Der Papalagi“ ein zuerst 1921 erschienenes Werk, das sich stark an den „Lukanga Mukara“ anlehnte und zum „Kultbuch der achtziger Jahre wurde“. Die Verleger des „Lunkanga Mukara“ konnten vor Gericht nichts gegen das Plagiat erreichen. Vgl.: Ein Plagiat bekommt recht. Die Verleger des Papalagi-Vorbildes verloren zwei Prozesse, in: Die Zeit vom 24. November 1989, S. 89. 1369 FRIEDRICH WILHELM FOERSTER, Lebensführung. 2. Aufl. Berlin 1911 [zuerst 1909], S. 307f. 1370 Insofern kann die „moderne Zivilisation“ mit Zygmunt Bauman ein Pleonasmus genannt werden: BAUMAN, Unbehagen (wie Anm. 817), S. 7.

4.3. Natur und Natürlichkeit

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von Nahrungsmitteln zu einem Mangel an Vitaminen, Faserstoffen und Mineralien. Ein „Bombardement von Lärm, Radio, Fernsehen und Reklame“, Verkehrsstreß, beruflicher Konkurrenzkampf und die Angst vor Arbeitslosigkeit, Alter und Einsamkeit bewirkten psychosomatische Krankheiten, Sucht, Aggressivität und Kriminalität, „welche unsere Gesellschaft auch finanziell auf das schwerste belasten.“1371 Der Inbegriff der Zivilisation aber war die anonyme, graue, ungesunde Großstadt.1372 Wie die meisten „Zivilisationsübel“ blieb sie im gesamten 20. Jahrhundert ein Angriffspunkt der Lebensreform, die Autoren paßten ihre negativen Großstadtbilder lediglich ihrer jeweiligen Zeit an: Immer lärmte der Verkehr1373, doch erzeugte er am Anfang des Jahrhunderts „Nervosität“ und „Streß“ an seinem Ende; zum Streß durch Verkehrslärm gesellte sich seit den siebziger Jahren der Streß des mit dem Auto im Stau Stehenden.1374 Immer war die Stadtluft schlecht, „rauchig“ zuerst und später „versmogt“. Am Ende der vierziger Jahre war zeitgemäß von einer „durch Trümmerstaub durchsetzten Atmosphäre“1375 die Rede. Zu jeder Zeit aber galt, daß der Mensch nicht anpassungsfähig an das Zivilisationsprodukt „Großstadt“ sei, wie Karl Kötschau 1955 schrieb1376, wohnte ihm doch im Sinne der Ganzheit selbst recht eigentlich die Natur inne, auch wenn er sich von ihr entfernt hatte und nicht mehr auf sie hörte. Auch verschiedene „Zivilisationskrankheiten“ beklagten die Reformer. Vor allem Klagen über Zahnleiden durchzogen das Schrifttum des gesamten Jahrhunderts. Schon 1913 schrieb ein Breslauer Zahnarzt als Erklärung für das Überhandnehmen der Zahnfäule vor allem bei der Jugend: „Wir genießen die meisten Nahrungsmittel heut in verfeinertem, gekünsteltem Zustande, nicht wie die Natur sie uns bietet.“1377 Der Reformer Werner Altpeter bemängelte 1939, daß von 100 Pimpfen der Hitlerjugend 86 ein krankes Gebiß hätten.1378 Seit den fünfziger Jahren tauchten in Reformzeitschriften dann vermehrt die auch von Medizinern als 1371 Reform-Rundschau, März 1986, S. 17. 1372 Zur Großstadtkritik, allerdings auf die Jahrhundertwende beschränkt, CLEMENS ZIMMERMANN/JÜRGEN REULECKE (Hrsg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900. Basel/Boston/Berlin 1999. 1373 Zum Verkehr als Signum und Symbol der Moderne JOHANNES ROSKOTHEN, Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne. München 2003. 1374 Auch ein Bestseller über das „Phänomen Streß“ aus dem Jahr 1976 beginnt mit dem Streß im morgendlichen Stau auf dem Weg zur Arbeit: FREDERIC VESTER, Phänomen Streß. Wo liegt sein Ursprung, warum ist er lebenswichtig, wodurch ist er entartet? 13. Aufl. München 1993 [zuerst Stuttgart 1976], S. 13f. 1375 Reform-Rundschau, Mai 1949, S. 2. Vgl. auch Reform-Rundschau, Oktober 1949, S. 2: „Durch den Trümmerstaub ist die Luft der deutschen Städte noch schlechter geworden als sie es bereits durch Schornsteinrauch und Autogase schon war.“ 1376 KÖTSCHAU, Gesundheitsprobleme (wie Anm. 1140), S. 31. 1377 A. KUNERT, Unsere heutige falsche Ernährung als letzte Ursache für die zunehmende Zahnverderbnis und die im ganzen schlechte Entwicklung unserer Jugend. 3. Aufl. Breslau 1913, S. 7. – Zu Zahnfäule und Parodontose als Zivilisationskrankheiten etwa auch Neuform-Rundschau, Juni 1935, S. 151; Reform-Rundschau, Mai 1949, S. 3. 1378 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 16.

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„Krankheit unserer Zeit“1379 empfundenen Krebsleiden auf, in den siebziger Jahren kamen Herz-Kreislauferkrankungen und Allergien hinzu. Die Reform-Rundschau schrieb 1987: „Da die Zivilisation zweifellos vom Menschen gemacht und gewollt ist, sind die Zivilisationskrankheiten konsequenterweise als die zu verantwortende Nebenwirkung dieser Zivilisation anzusehen. [...] Der Mensch ist hinsichtlich der Zivilisationskrankheiten zu seinem eigenen Opfer geworden.“1380 Dieses Muster kehrte in den Schriften immer wieder. Der moderne Mensch griff willentlich in die Natur ein und schnitt sich damit den Zugang zu seinen eigentlichen, natürlichen Lebensbedingungen ab, er begab sich der Möglichkeit, ein „naturgemäßes“, gesundes Leben zu führen. Die Zivilisation erschien zugleich als Menschenwerk und als unentrinnbares Schicksal des Menschen. Abschaffen wollten die Lebensreformer die Zivilisation aber nie. Sie befürworteten vielmehr, die als negativ empfundenen Auswirkungen der Zivilisation einzudämmen, der Zivilisation Grenzen zu setzen, der Natur zu ihrem Recht zu verhelfen. Sie bemühten sich, möglichst viel Natur und Natürlichkeit in die als unumgänglich, als notwendiges Übel – aber eben nicht als unentrinnbares Schicksal im Sinne Oswald Spenglers, für den es nur die Möglichkeit gab, sich dem unausweichlichen Untergang hinzugeben1381 – empfundene zivilisatorische Welt „einzubauen“, ob in der Form von Stadtbegrünung, Geräten zur Verbesserung des Raumklimas, Gymnastik und Entspannungspausen bei längeren Autofahrten1382 oder der Forderung, die Nahrung „so natürlich wie möglich“ zu belassen. Die lebensreformerische Gartenstadtbewegung wollte diesen Mittelweg besonders konsequent gehen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts unabhängig voneinander in England und Deutschland entstanden, versprach sie „Health of the Country – Comforts of the Town“1383, eine Kombination also von Arbeit und Wohnen am selben Ort und ein harmonisches Miteinander von Zivilisation und Natur. Der englische Erfinder der Gartenstadt, Ebenezer Howard, beschrieb seine Vorstellung von der künftigen „Garden City of Tomorrow“ im Jahr 1902 so: „There are not only two alternatives – town life and country life – but a third alternative in which all the advantages of the most energetic and active town life, with all the beauty and delight of the country, may be secured in perfect combination. Human society and the beauty of nature are meant to be enjoyed together.”1384 In Hellerau bei 1379 Vgl. KARL-HEINZ GEBHARDT, Krebs – Krankheit unserer Zeit, in: WOLFGANG KIRCHESCH (Hrsg.), Medizin heute. Krankheiten als Probleme unserer Zeit. München 1971, S. 118–140. 1380 Reform-Rundschau, April 1987, S. 15. 1381 OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1979 [zuerst 1923]. Vgl. auch ROLF PETER SIEFERLE, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt am Main 1995, S. 106–113, bes. S. 126: Für Spengler ist die technische Zivilisation zur Selbstvernichtung verurteilt, es bleibe nichts, als den Untergang in Würde zu vollziehen. 1382 Reform-Rundschau, Mai 1986, S. 4; Reform-Rundschau, Juli 1984, S. 26. 1383 So das Schlagwort der im Jahr 1903 von Ebenezer Howard (1850–1928) gegründeten „First Garden City“ Letchworth. Plakat von 1925, Garden City Museum Letchworth, Hertfordshire, England. 1384 EBENEZER HOWARD, Garden Cities of Tomorrow. London 1902. Garden City Museum, Letchworth, Hertfordshire, England.

4.3. Natur und Natürlichkeit

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Dresden und in Letchworth im englischen Hertfordshire verwirklichten die Reformer diese Ideen zumindest teilweise.1385 Ein solcher „dritter Weg“ zwischen Zivilisation und Natur findet sich in der Lebensreform allenthalben.1386 In die modernen Fabrikationsstätten der „EdenWaren GmbH“ in Bad Soden am Taunus, inmitten „ausgedehnter Obsthaine“ gelegen, drang „durch die großen Fenster der modernen Bauweise viel Licht in die Arbeitsräume“: Natur und Technik, so ließ der Edener Betrieb im Sommer 1956 verlauten, stünden hier „in harmonischem Zusammenhang.1387 Der Naturmediziner Kötschau schrieb 1978, es sei „theoretisch denkbar, daß eine Technik entwikkelt werden könnte, die in die Natur einordnungsfähig ist.“1388 Im Jahrbuch der Deutschen Lebensreform hieß es 1938, man dürfe „in solchen Fragen nicht fanatisch sein und nicht, wie es so oft geschieht, den kleinsten technischen Eingriff – vom Kochen an – als schädlich ablehnen“. 1389 Meist billigten die Autoren, da sie die zivilisatorische Welt als gegeben voraussetzten, der Zivilisation durchaus eine gewisse Nützlichkeit zu. Die Reform-Rundschau meinte 1987: „Gerechterweise darf [...] aber nicht vergessen werden, daß die naturwissenschaftliche Medizin, die dieser naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation entstammt, auch eine Reihe von Fortschritten in der Krankheitsbekämpfung gebracht hat.“1390 Aus Sicht der Lebensreformer gäbe es freilich die meisten der zu bekämpfenden Krankheiten ohne die Zivilisation gar nicht erst. In ihrer Wahrnehmung verhielt es sich so, daß – in einer Formulierung Hans Jonas’ – „zu einem beträchtlichen Grad die Technik selbst die Probleme schafft, die sie dann durch einen neuen Vorwärtsschub ihrer selbst zu lösen hat.“1391 Wichtig war auch der Begriff des Ausgleichs. Der moderne Mensch, der Zivilisationsmensch, hieß es mit großer Regelmäßigkeit, müsse sich Ausgleich verschaffen angesichts des vielen Sitzens – Altpeter sprach 1939 von einer „Sitzkrankheit“, die nach „Bewegungsausgleich“ in Form von Sport und Turnen, Massagen und Irisch-Römischen Bädern verlange1392 –, angesichts der Arbeit bei künstlichem Licht und in geschlossenen Räumen, auch angesichts der einseitigen Beanspruchung des Geistes, wobei Seele und Körper zu kurz kämen. Die Zeitschrift Volk und Gesundheit empfahl dem „Büroarbeiter“ im November 1942, mitten im Weltkrieg, seine Arbeitsräume regelmäßig zu lüften, in Arbeitspausen Atemübungen zu machen und nicht mit der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren, sondern zu Fuß zu gehen.1393 1385 Zur „Spannung zwischen Idee und Verwirklichung“ der Gartenstädte HARTMANN, Deutsche Gartenstadtbewegung (wie Anm. 44), S. 129. 1386 Zum „Dritten Weg“ vgl. auch unten S. 321ff. 1387 Eden-Hauspost, Nr. 6/7, 1956, S. 21, Foto eines Arbeitsraums ebd., S. 20. 1388 KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. 2. 1389 ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 25. 1390 Reform-Rundschau, April 1987, S. 15. 1391 HANS JONAS, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main 1987, S. 22. 1392 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 28–30. 1393 Volk und Gesundheit, November 1942, S. 74.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens 4.3.3. Natur und Kultur

Die Lebensreformer stellten das Leitbild der Natur nicht nur der Zivilisation gegenüber, sondern sie brachten es auch mit der Kultur in Verbindung. Im Vergleich zur Zivilisation, die die Reformer als notwendiges Übel verstanden, in das es möglichst viel Natur zu integrieren gelte, sahen sie die Kultur positiver im Sinne einer harmonischen Ergänzung der Natur. Insofern standen die Semantiken der Reformzeitschriften im Einklang mit auch allgemein üblichen Assoziationen zu Zivilisation und Kultur, wie sie der Literaturtheoretiker Terry Eagleton beschreibt: „Zivilisation war etwas Abstraktes, Entfremdetes, Fragmentarisches, Mechanistisches, Utilitaristisches und stand im Banne eines krassen materialistischen Fortschrittsglaubens; Kultur war ganzheitlich, organisch, sinnlich, eingedenkend und trug ihr Ziel in sich.“1394 Die Kultur hat in dieser Aufzählung ausschließlich Eigenschaften, die auch der Natur immer wieder zugeschrieben werden. Verstand die Lebensreform den Gegensatz Natur – Zivilisation stärker im Sinne einer Antinomie, so begriff sie die Gegenüberstellung von Natur und Kultur eher als komplementär. Die Kultur strebe, so ist bei Kötschau zu lesen, zwar über das „Natürlich-Primitive“ hinaus, jedoch nicht „im Sinne des Contra, sondern im Sinne des Pro.“1395 Die Vegetarische Warte mahnte 1909, auch der begeistertste „Naturmensch“ werde und müsse „den Weg zum goldenen Mittelmaß finden“: „Das aber ist in diesem Falle die Vereinigung der Natur mit der Kultur.“1396 Der Ernährungsreformer Kollath schrieb 1942, in der Zivilisation herrschten Technik und Maschine über das Leben, in der Kultur hingegen forme das Leben die unbelebte Umwelt.1397 Ähnlich meinte Kötschau: „Diese unsere Zivilisation ist technisch bestimmt. Man hat sie nur, soweit man die Technik um sich hat. Kultur kann man überall haben, auch in der Wüste, nämlich überall da, wo kultivierte Menschen beieinander sind. [...] Daher: je mehr Zivilisation, je mehr Technik, um so weniger Kultur.“1398 In der Kundenzeitschrift Das Reformhaus war 1926 die Rede von einer „kulturlosen Zivilisation“.1399 1394 TERRY EAGLETON, Was ist Kultur? Eine Einführung. München 2001 [engl. 2000], S. 20f. – Zum Gegensatzpaar Kultur und Zivilisation allgemein: JOHANN KNOBLOCH u. a. (Hrsg.), Europäische Schlüsselwörter III. Kultur und Zivilisation. Hrsg. vom Sprachwissenschaftlichen Colloquium (Bonn). München 1967. – Vgl. auch eine Gegenüberstellung von der Kultur und der Zivilisation zugeordneten Begriffen im Denken und Werk Oswald Spenglers in: SIEFERLE, Die Konservative Revolution (wie Anm. 1381), S. 109. 1395 KÖTSCHAU, Gesundheitsprobleme (wie Anm. 1140), S. 19. 1396 Vegetarische Warte vom 10. Juli 1909, S. 149. 1397 KOLLATH, Einheit der Heilkunde (wie Anm. 743), S. 136. 1398 KÖTSCHAU, Gesundheitsprobleme (wie Anm. 1140), S. 13. – Ähnliche Vorstellungen wie die, Kultur könne man auch in der Wüste haben, finden sich schon in der Antike. Herodot kannte zwar noch nicht die abstrakten Begriffe von Wildheit und Zivilisation, aber seine Schilderungen des wilden Lebens an den Randzonen der bekannten Welt, in Libyen etwa, haben wohl entscheidend dazu beigetragen, daß sich diese Kategorien im modernen Bewußtsein etabliert haben. Neben den Formen des wilden, rohen Daseins zeigt Herodots Bild von der „Randvölkerwelt“ auch Elemente des Typus vom edlen Wilden, die der lebensre-

4.3. Natur und Natürlichkeit

309

Nach Norbert Elias meint der Begriff der Zivilisation im Gegensatz zur „Kultur“ im Deutschen „nur einen Wert zweiten Ranges, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfaßt.“1400 Die Zivilisationskritik, im wesentlichen ein Phänomen des deutschen Sprachgebiets, richtete sich also gegen Äußerlichkeiten, nicht gegen etwas, das dem Menschen in irgendeiner Weise selbst innewohnte. Zivilisation ist vom Menschen geschaffene Umgebung, Zivilisationskritik wollte also äußere Umstände, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Zustände verändern. Kultur hingegen umfaßt laut Elias das, „durch das man im Deutschen sich selbst interpretiert, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt“. Die deutsche „Kultur“ beziehe sich im Kern auf geistige, künstlerische und religiöse Fakten, und der Begriff habe die Tendenz, „zwischen Fakten dieser Art auf der einen Seite, und den politischen, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fakten auf der anderen, eine starke Scheidewand zu ziehen.“ Lediglich im synonym verstandenen „kultur- und zivilisationskritischen“ Zusammenhang nannten die lebensreformerischen Texte die Kultur mitunter in einem Atemzug mit der Zivilisation, setzten sie mit ihr gleich und stellten sie der Natur antithetisch gegenüber: „Kultur und Zivilisation haben den Menschen in zunehmendem Maße von der Natur getrennt, die ursprünglichen, natürlichen Verhältnisse in komplizierte, künstliche Verhältnisse verwandelt.“1401 Weitaus öfter aber trat in der Kulturkritik der Lebensreform nicht die Kultur an sich als Widerpart der Natur auf. Meist kritisierte die Bewegung eine „falsche“ Kultur im Namen einer als richtig empfundenen, „wahren“ Kultur. Die Vegetarische Warte unterschied 1927 zwischen „Edelkultur“ auf der einen Seite und „Scheinkultur“ oder „Talmikultur“ auf der anderen. 1402 Von zwei Arten von Kultur sprach 1899 auch der Vegetarier Benno Buerdorff: „Es giebt zwei Arten von Kultur, eine physiologische und eine pathologische, d. h. eine gesunde und eine krankhafte. […] In der gesunden Kultur werden die gesunden Bedürfnisse des gesunden Menschen befriedigt, seine Lebenskraft, seine körperliche, moralische und sonstige Tüchtigkeit und Genussfähigkeit bis an die Grenzen der natürlichen Möglichkeit erweitert, das Leben ist Genuss. In der krankhaften Kultur werden dem Menschen unnatürliche Bedürfnisse anerzogen, die seine Lebenskraft brechen, ihn krank machen und eine unersättliche Gier nach neuen, unnatürlichen und raffinierten Genüssen wachrufen […]. In der gesunden Kultur ist der Mensch der Mittelpunkt und die Richtschnur der Bestrebungen, und ihr Ziel ist Hervorbringung der besten Männer und Frauen. In der krankhaften Kultur dagegen ist der Mensch der Sündenbock der Kultur, und ihr Ziel ist die Hervorbringung irgend welcher ein-

1399 1400 1401 1402

formerischen Verherrlichung von Naturvölkern entsprechen: In größter Entfernung von der Zivilisation erscheinen unvermutet auch Formen einer idealen Lebensweise, welche die Ambivalenz zivilisatorischer Errungenschaften spüren läßt. Vgl. REINHOLD BICHLER/ROBERT ROLLINGER, Herodot. Darmstadt 2000 [zuerst Hildesheim 2000], S. 44– 47. Das Reformhaus, Oktober 1926, S. 4. Hierzu und zum folgenden: ELIAS, Prozeß der Zivilisation, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 89–95. Reform-Rundschau, Mai 1949, S. 2. Vegetarische Warte, Februar 1927, S. 50–53.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens gebildeter Werte, welche die anerzogenen krankhaften Bedürfnisse befriedigen sollen, aber niemals können, und an denen das Volk sich langsam aufreibt.“1403

Ziel der Lebensreformer war eine „gesunde Kultur“ in diesem Sinne, ein Zustand, in dem der durch die Zivilisation von seinem ursprünglichen Zustand entfremdete Mensch auf einer höheren Ebene mit der Natur verschmolz. In den Worten Romano Guardinis fühlt sich jeder, der sich bemüht, „in Lebensweise und Heilform, Erziehung und Bildung das ,der Natur Gemäße‘ wiederzugewinnen“, vor der Entscheidung, ob dieses Bestreben „romantisch, als Rückkehr zu einem Naturverhältnis, das es nicht mehr gibt – oder aber realistisch, in Beziehung zum Kommenden gemeint ist.“1404 Die Lebensreformer, die in diesem Sinne auf „realistische“ Weise naturgemäß leben wollten, wandelten Rousseaus „Zurück zur Natur“ oft in ein „Vorwärts zur Natur“1405 um. Laut Kollath sollte das ausdrücken, daß „wir nicht die Vergangenheit als Gradmesser anzunehmen haben, sondern ein in der Zukunft liegendes Idealbild des gesunden Menschen.“1406 Im Mai 1933 schrieb die Neuform-Rundschau: „Freilich rufen wir ja manchmal in jäher Erinnerung: ,Zurück zur Natur.‘ Welch ein seltsamer Ruf. Ist die Natur nicht immer da? Muß es nicht heißen: ,Vorwärts zur Natur!‘“1407 Altpeter schrieb 1939 über das Wort Rousseaus, das im Sommer 1938 auch das Motto der „2. Reichstagung der Deutschen Lebensreform-Bewegung“ in Innsbruck gewesen war1408: „Die Gefahr des Mißverstehens ist bei dieser Losung sehr groß. Sie wurde z.B. so ausgelegt, als ob der Mensch zu den Urzuständen seines Geschlechtes zurückkehren müsse, in härenem Gewand gehen, Wurzeln und Beeren essen und in einer Höhle wohnen. Eine jahrtausendlange Entwicklung läßt sich aber nicht rückgängig machen, die Errungenschaften von Kultur und Zivilisation können, dürfen und brauchen nicht geopfert zu werden.“1409

Statt eines Weges zurück in die „Primitivität“ sei es deshalb Aufgabe der Lebensreform, einen „harmonischen Ausgleich“ zwischen den Forderungen der Natur und den Schöpfungen des Menschen zu schaffen, „einen rhythmisch wiederholten Wechsel zwischen Naturzustand einerseits und moderner Lebensweise andererseits.“1410

1403 BUERDORFF, Weg zum Glück (wie Anm. 808), S. 316. 1404 GUARDINI, Das Ende der Neuzeit (wie Anm. 1341), S. 80f. Guardini sieht die Rolle der „verschiedenen ,Lebensreformen‘“ in diesem Zusammenhang aufgrund ihrer „unfruchtbaren Abseitigkeit“ eher negativ. 1405 Meist Werner Kollath zugeschrieben. Etwa in: Reform-Rundschau, Mai 1950, S. 3; ReformRundschau, November 1953, S. 7. 1406 WERNER KOLLATH, Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene. Eine Einführung für Mediziner und Naturwissenschaftler, Volkswirtschaftler und Techniker. Leipzig 1937. 1407 Neuform-Rundschau, Mai 1933, S. 111. 1408 Die Lebensreform, Oktober 1938, S. 441. 1409 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 22f. 1410 Ebd., S. 23.

4.3. Natur und Natürlichkeit

311

4.3.4. Natur und Wissenschaft Ohne die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften sind die Naturbegeisterung des modernen Menschen und seine intensive Beschäftigung mit der Natur nicht denkbar. Im Jahr 1859 erschien Charles Darwins „On the Origin of Species“, in den folgenden Jahrzehnten publizierten Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche und viele andere Autoren auch in Deutschland populäre Schriften zur Abstammungs- und Entwicklungslehre. Bölsches dreibändiger Bestseller „Liebesleben in der Natur“ verschaffte dem 1896 gegründeten Verlag Eugen Diederichs, der auch viele lebensreformerische Publikationen und die Zeitschrift Die Tat verlegte, in Kürze fünfstellige Absatzziffern.1411 Diese Bücher und naturkundliche Vorträge, die allerorten stattfanden, ermöglichten es jedermann, sich selbst als dilettantischer Naturforscher zu betätigen, Fossilien zu sammeln und sie zu bestimmen. Die Faszination der Evolutionstheorie beruhte zum großen Teil auf der Vorstellung, „daß die Natur von einer allmächtigen Gesetzmäßigkeit durchzogen war, die es forschend zu erkennen und subjektiv zu bewundern galt.“1412 In dramatischem Wechselspiel mit steigender Subtilität der Forschung, so schreibt der Philosoph Hans Jonas, zeige sich die Natur selbst immer subtiler1413: das gilt auch für den Blick des nicht-professionellen Naturforschers. Beide Seelen in der Brust des dilettantischen Faust kamen so auf ihre Kosten, die erkennende und die staunende. Zugleich beruhte die „quasireligiöse Faszination“ des Darwinismus aber auch auf dem „neuen Gefühl des Einsseins von Mensch und Natur“1414, in dem sich das Ganzheitsdenken der Reformbewegungen mit Ernst Haeckels Monismus traf. Denn auch Vertreter der Lebensreformbewegung waren um die Jahrhundertwende von der Evolutionstheorie fasziniert. Vegetarier verwendeten die gemeinsame Abstammung von Mensch und Tier als Argument gegen den Fleischkonsum: „Wenn ihr ,Brüder‘ seht in den Tieren, wie Häckel so schön schreibt, wie es Bölsche betont, dann müßt ihr – wollt ihr nicht als Kanni1411 Diederichs übernahm den bei S. Fischer wenig erfolgreichen Bölsche im Jahr 1898. Vgl. GANGOLF HÜBINGER, Der Verlag Eugen Diederichs in Jena. Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 31–45, hier S. 33. Eugen Diederichs (1867–1930) gründete seinen Verlag 1896 in Florenz, begann 1897 mit der Verlagsarbeit in Leipzig und siedelte 1904 nach Jena über. Vgl. auch JUSTUS H. ULBRICHT/MEIKE G. WERNER (Hrsg.), Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949. Göttingen 1999. 1412 ANDREAS DAUM, Das versöhnende Element in der neuen Weltanschauung. Entwicklungsoptimismus, Naturästhetik und Harmoniedenken im populärwissenschaftlichen Diskurs der Naturkunde um 1900, in: VOLKER DREHSEN/WALTER SPARN (Hrsg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Stuttgart 1996, S. 203–215, hier S. 207. Daum formuliert die zitierte Überzeugung für die Popularisierer naturkundlicher Informationen. Diese dürften sie allerdings in die Bevölkerung getragen haben. 1413 JONAS, Technik (wie Anm. 1391), S. 26. 1414 JOACHIM RADKAU, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 259.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

balen gelten – schon aus ethischen Gründen dem Vegetarismus huldigen.“1415 Mit Erkenntnissen der Entwicklungslehre begründeten Lebensreformer die „Stellung des Menschen als Fruchtesser im Tierreiche“1416; hierbei stützten sie sich darauf, daß Affen kein Fleisch äßen und daß das Gebiß des Menschen nicht auf Fleischverzehr ausgerichtet sei.1417 Als Beweis für die Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen bemühten Lebensreformer auch die moderne Serumsforschung.1418 Die Reformbewegung verfolgte aktuelle wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Entwicklungen aufmerksam und baute sie, falls sie ihre Weltanschauung zu untermauern schienen, zustimmend in ihre Schriften ein. Die ebenfalls zu Darwins Theorie gehörende Selektion paßte hingegen nicht zu den harmonisierenden Vorstellungen der Lebensreformer von einer guten, menschenfreundlichen Natur. Die „grausame“ Seite des Darwinismus, die vor allem der „Kampf ums Dasein“ verkörperte, lehnten die Lebensreformer der Jahre um 1900 ab.1419 Auch am Materialismus der Naturwissenschaft übten die Schriften Kritik, wenn die Autoren ihr animistisches Naturbild gefährdet sahen. Die Vegetarische Rundschau kritisierte im Frühjahr 1890 die „naturwissenschaftlich[e] Verblödung unserer Zeit“. Zum Zweck exakter Forschung sei die Natur „entseelt“, eine mechanistisch-atomistische Naturerklärung sei zum Dogma geworden.1420 In späteren Epochen ist ein ähnlich eklektizistischer Umgang mit Erkenntnissen der Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaft, zu beobachten. Verweise auf wissenschaftliche Autorität streuten die Lebensreformer immer dann in ihre Schriften ein, wenn sie der eigenen Sache – also der Popularisierung der Idee des gesünderen Lebens – nutzten. Das geschah oft in verkürzter Form, etwa mit einem knappen Hinweis auf wissenschaftliche Autorität wie „amerikanische Untersuchungen haben gezeigt“ oder „wie jetzt Wissenschaftler der Forschungsgruppe X in Y herausgefunden haben“.1421 Zugleich ist eine Furcht vor einer zu verwissenschaftlichten Welt zu beobachten, die mit der Sehnsucht nach mehr Innerlichkeit einherging: Der Mensch dürfe sich nicht nur auf wissenschaftliche Zahlen und Fakten verlassen, er müsse vielmehr lernen, auch auf seine Intuition, auf sein Gefühl zu hören. In einfachen ländlichen Gasthäusern, schrieb Mitte der zwanziger Jahre der Leiter des Eden-Sanatoriums in Oranienburg, in denen die Wirtin selbst koche, schmeckten die Gerichte anders und besser, als wenn man sie selbst exakt nachkoche. Das liege an bestimmten Kräften, die den Händen der Frau entströmten: „Das ist das Geheimnis vieler guter Wirtschaften, und ich wage zu behaupten, daß es bei solcher Seelenstärke überhaupt keiner Ernährungslehre bedarf, weil 1415 Vegetarische Warte vom 20. Februar 1909, S. 39. 1416 Mit den „morphologischen Beweisen“ für diese Einordnung des Menschen beschäftigt sich ein ganzes Kapitel in: PETER ANDRIES, Der Vegetarismus und die Einwände seiner Gegner. Leipzig 1893. Bei der Schrift handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer in den Jahren 1890 und 1891 verfaßten und in der Vegetarischen Rundschau publizierten Artikelserie. 1417 ADERHOLDT , Naturgemäße Lebensweise (wie Anm. 1249), S. 10. 1418 Vegetarische Warte vom 23. April 1905, S. 189–192. 1419 Vegetarier-Bote vom 15. Oktober 1910, S. 45. 1420 Vegetarische Rundschau, März 1890, S. 78. 1421 Zu dieser Technik auch FRITZEN, Spinat-Milch (wie Anm. 47), S. 366.

4.3. Natur und Natürlichkeit

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hier die Speisenzusammensetzung nach besseren Gesetzen erfolgt, als alle Experimentalwissenschaft ertifteln kann: nämlich nach der Intuition.“ Diese Kräfte lägen in jeder Frau, nur seien sie mitunter durch geistige Verwirrung oder körperliche Krankheit unwirksam gemacht.1422 Das Wissen des Körpers darüber, was gut für seine Gesundheit und für das Wohlbefinden auch der Seele sei, war nach Ansicht der Lebensreformer allen noch so präzisen ernährungsphysiologischen Nährwert- und Kalorientabellen überlegen. Die Vegetarische Warte schrieb 1909: „Zu jeder Stunde weist uns die innere Stimme unseres Herzens, wofern sie nicht durch unnatürliche Mittel betäubt und erstickt wird, den Weg, der uns frommt.“1423 Ähnlich hieß es im April 1927 in Das Reformhaus: „[Ein] Ueberfressen gibt es in der Natur nicht, mag auch die Nahrung den Geschöpfen in Massen zur Verfügung stehen. Ohne Professor, Nährwerttabelle und Kalorieberechnung ernähren sie sich alle – mit Ausnahme des Menschen und der von ihm vergewaltigten Haustiere – nach Menge und Art völlig richtig.“1424 Die Neuform-Rundschau setzte sich 1932 mit einem im Deutschen Museum in München aufgestellten Kalorien-Automaten auseinander, der zwei Kurbeln hatte, um Größe und Alter einzustellen, und der dann entsprechend den Kalorienbedarf ausrechnete: „Für den einigermaßen gesunden Menschen gibt es eigentlich gar keine Kalorienfrage, denn der gesunde Hunger zeigt uns immer an, ob wir genügend Kalorien aufgenommen haben oder nicht.“1425 In späterer Zeit hieß dieses Körperwissen „somatische Intelligenz“. Die Rolle der Wissenschaft in der Lebensreform war also ambivalent. Sie hatte zwei wesentliche Funktionen: Einerseits diente sie zur Unterfütterung lebensreformerischer Konzepte, andererseits ließ sie sich aber auch gut als Gegenbild zur lebendigen Natur verwenden. In einigen Schriften vor allem der frühen Lebensreform setzten Autoren die von ihnen abgelehnte mechanistische, atomistische „Wissenschaft“ zur Unterscheidung von der akzeptierten, organizistischen, wahren Wissenschaft in Anführungsstriche.1426 Ähnlich unterschied auch der Arzt und Philosoph Karl Jaspers Ende der fünfziger Jahre zwischen zwei Tendenzen der naturwissenschaftlichen Forschung. Die erste, die „Tendenz zur bloßen Technik“, gehe mit einer Einschränkung auf das Exakte einher. Sie bringe die Verkümmerung der anderen Tendenz der Naturwissenschaft mit sich: des Sinns für das Biologische, des morphologischen Sehens, des Erspürens im Lebendigen.1427 Diese zweite, positiv bewertete Strömung der Naturwissenschaft1428, die für die 1422 HEINRICH WILL, Ernährungsreform. Gesundheitliche, wirtschaftliche und kulturpolitische Betrachtungen. Trittau 1926, S. 13. 1423 Vegetarische Warte vom 20. März 1909, S. 63. 1424 Das Reformhaus, April 1927, S. 2. 1425 Neuform-Rundschau, Juni 1932, S. 117. 1426 So etwa in Vegetarische Warte vom 9. Januar 1907, S. 2–4. 1427 KARL JASPERS, Der Arzt im technischen Zeitalter. Vortrag gehalten auf der 100. Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 1958 in Wiesbaden, in: ders., Der Arzt im technischen Zeitalter. Technik und Medizin. Arzt und Patient. Kritik der Psychotherapie. 2. Aufl. München 1999 [zuerst 1986], S. 39–58, hier S. 46. 1428 Die Vorstellung, daß die Biologie als lebendige Wissenschaft höher stehe als die als starr empfundene Physik, findet sich auch bei MEYER-ABICH, Wissenschaft (wie Anm. 1291),

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

Lebensreformer vor allem die Biologie und die Physiologie verkörperten, paßte gut zum Ganzheitsdenken (im Sinne von „alles webt und lebt“) und zur Vorstellung von der Lebendigkeit der Natur. Die starre, unlebendige Seite der Wissenschaft hingegen lehnten die Lebensreformer grundsätzlich ab.1429 Das Jahrbuch der Deutschen Lebensreform von 1938 beklagte etwa, die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts habe dafür gesorgt, daß den Menschen die „Achtung vor der natürlichen Wesenseinheit, der geheimnisvollen Harmonie in der Zusammensetzung der Nahrungsmittel“ verlorengegangen sei, weil man „nur noch Eiweiß, Fette, Kohlehydrate usw.“ kannte.1430 In Fragen der Ernährung verkörperte meist die Chemie das „unlebendige“ Gegenstück der Natur. Der Leiter des Eden-Sanatoriums betonte 1926, die Wissenschaft dürfe „kein Maßstab werden bei einem so wichtigen Ding wie der Ernährung. Nur die Natur, wie wir sie um uns sehen und wie sie in uns lebt, kann uns die Richtlinien geben. Die Wissenschaft kann nachträglich chemische Analysen machen, aber diesen Begriff des Lebendigen, wie es in allen Dingen spukt, kann sie niemals in Formeln bringen.“1431 Auch Adolf Just war stolz darauf, daß man in seiner Naturheilanstalt nicht auf die chemischen Bestandteile der Speisen achtete und „hierdurch nicht zu einer falschen Ernährungsweise geführt“ werde.1432 Meist aber lehnten die Lebensreformer die Chemie nicht vollständig ab. Schließlich betrieb die Neuform-VDR schon in den dreißiger Jahren ein eigenes Labor, um Reformnahrungsmittel chemisch zu analysieren. Die Reformer legten aber Wert darauf, daß der Blick für das Ganze – bei aller Wissenschaftlichkeit, die man für die eigenen Nahrungsmittelanalysen durchaus beanspruchte – nicht verloren gehen dürfe. Altpeter schrieb 1939: „Es kommt bei der neuen Ernährungslehre und in der Praxis gar nicht so sehr auf die Betonung eines einzelnen Nahrungsmittels oder eines bestimmten Stoffes (z.B. Kalk) an. Das Grundprinzip ist vielmehr der Ganzheitsgedanke. Die Wissenschaft hat erst einen Teil des

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1430 1431 1432

S. 91. Nach seinem holistischen Ansatz sind die Gesetze der Physik zwar aus denen der Biologie abzuleiten, nicht aber die Gesetze der Biologie aus denen der Physik. „Anders gesagt: Die Organismen physikalisch zu beschreiben, gelingt erst dann, wenn die Physik zur Biologie geworden ist.“ Eine „ganzheitliche“ Auffassung der Biologie hat auch der Biologe Adolf Portmann: Biologische Arbeit dürfe sich nicht von „begrifflichen Sonderungen, wie Leib und Seele, Natur und Geist“ leiten lassen. Vgl. ADOLF PORTMANN, Biologie und Geist. Frankfurt am Main 1973 [zuerst Zürich 1956], zit. S. 12. Schon Schelling bestritt die Exklusivität der Naturwissenschaft hinsichtlich wahrer Erkenntnis der Natur mit der Begründung, diese habe die Natur als bloßes Produkt zum Gegenstand, nicht als Produktivität. Den Begriff des Organismus ordnete Schelling in jeder Hinsicht dem des Mechanismus über. WETZ, Friedrich W. J. Schelling (wie Anm. 1279), S. 49. – Die „positive“ Seite der Naturwissenschaft, das, was Jaspers das „Erspüren im Lebendigen“ nennt, verkörpert bei Schelling die Naturphilosophie, nicht die Naturwissenschaft: „Es ist wahr, daß uns die Chemie die Elemente, Physik die Silben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.“ Zit. nach WETZ, Friedrich W. J. Schelling (wie Anm. 1279), S. 65. ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1938 (wie Anm. 28), S. 21. WILL, Ernährungsreform (wie Anm. 1422), S. 40. JUST, Kehrt zur Natur zurück (wie Anm. 757). Bd. 2: Der Jungborn. Weitere praktische Anweisungen und die äussersten Ziele und Schlussfolgerungen, S. 410f.

4.4. Der Reformgedanke

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Gebietes erforscht, und über die Ernährungsvorgänge im menschlichen Körper weiß man noch lange nicht genug, ich glaube sogar, daß hier noch mehr verborgen ist, als bisher entdeckt wurde. Wir können auch nicht warten, bis die Wissenschaft alle Einzelheiten der Ernährungszusammensetzung und alle Feinheiten des Stoffwechsels ergründet hat.“1433

Im Zusammenhang mit natürlichen Heilweisen kontrastierten die Lebensreformer meist die Medizin mit der Natur. Der „modernen Wissenschaft“ der „Schulmedizin“, einer Wortschöpfung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts1434, warfen die Autoren vor, dem Naturgeschehen lediglich kausalen Charakter zuzubilligen, nicht aber, wie es in der Naturheilkunde geschehe, finalen. In der Naturheilkunde setze nicht der Mensch die Natur ein, um Heilung zu erzeugen, vielmehr sei die Natur selbst aktiv: Der dem Körper „eingeborene Selbstarzt“1435, die vis medicatrix naturae, bringe Heilung und Hilfe. Meist suchten Naturärzte und Naturheilpraktiker aber auch hier den Ausgleich. Die Naturheilkunde, so ist oft zu lesen, sei eine sinnvolle Ergänzung zur „Schulmedizin“ und wolle diese keineswegs ersetzen.1436 4.4. DER REFORMGEDANKE Wenn Lebensreformer von Gesundheit, Natur und Natürlichkeit oder Ganzheit sprachen, dann klang das oft recht grundsätzlich. Um nichts ging es in ihren Zeitschriften und Ratgebern mehr als um Gesundheit im Sinne eines ganzheitlichen Einklangs des Menschen mit der Natur. Die Absolutheit ihrer Formulierungen hat oft zu dem Mißverständnis verleitet, die Lebensreformer seien ausschließlich lebensferne Utopisten gewesen, die nach einer Verwirklichung von Unerreichbarem strebten. In Wahrheit handelte es sich bei der Vorstellung von einer gesünderen Gesellschaft um nicht mehr, aber auch nicht um weniger als um eine Zielbestimmung, die das Handeln anleiten sollte, die aber auch die Lebensreformer selbst nicht für vollständig „realisierbar“ hielten. Das unerreichbare Idealbild von Gesundheit verpflichtete und motivierte dazu, wenigstens und immerhin gesünder zu leben. Das Mittel der Lebensreformer war nicht eine Revolution, sondern eine Reform, eine Anpassung an gesellschaftliche Realitäten, nicht ein Bruch mit diesen. Die Ziele der Lebensreform wie Gesundheit, Ganzheit und Natürlichkeit waren Leitbilder, sie beschrieben nicht einen tatsächlich für möglich gehaltenen, zukünftigen Zustand. Immer wollte die Lebensreform das Hergebrachte verbessern, nie sich von der modernen Gesellschaft entfernen (4.4.1.). Zugleich holte der Reformgedanke die zunächst abstrakten Vorstellungen von Gesundheit, Ganzheit und Natürlichkeit mit der Idee des gesünderen Lebens auf die Handlungsebene herunter, machte sie für den einzelnen praktisch anwendbar (4.4.2.). 1433 ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 18. 1434 FRITZEN, „Unsere Grundsätze marschieren“ (wie Anm. 147), S. 159f.; BÜHRING, Naturheilkunde (wie Anm. 1253), S. 28. 1435 Volksgesundheit, August 1924, S. 89. 1436 Vgl. statt vieler KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 7f.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens 4.4.1. Reform als Synthese von alt und neu

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Werner Altpeter das Bändchen „Was ist Lebensreform?“ Darin wandte der Lebensreformer das „Hegelsche Gesetz“ von These, Antithese und Synthese auf die Reformbewegung an: „[S]o ist die alte bürgerliche Lebensführung mit all ihren Fehlern die konservative These. Als Reaktion auf die These traten im vorigen Jahrhundert die vegetarische Bewegung und die Naturheilbewegung als revolutionäre Antithese in Erscheinung. Allmählich bildete sich dann in der Lebensreform die Synthese, die weder das Alte läßt, noch das Neue zur Allgemeingültigkeit erhebt, sondern einen Lebensstil prägt, der von These wie Antithese gleichweit entfernt ist. Der Irrtum aller Vertreter der These besteht darin, daß sie glauben, es könne so bleiben wie es ist. Der Irrtum ihrer Widersacher besteht darin, daß sie glauben, das Alte würde vollkommen zerstört und ihre neue Form der Antithese käme restlos zum Durchbruch. In Wirklichkeit sind beide dem Untergang geweiht und erleben gleichzeitig eine Auferstehung in der Synthese.“1437

So schlüssig dieser Syllogismus erscheint, so irreführend ist er in Wahrheit. Denn auch die meisten Anhänger der Vegetarier- und Naturheilvereine, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren, empfanden sich schon als eine Synthese, wie sie Altpeter für die Lebensreform erst späterer Zeit beansprucht. Sie forderten eine Reform, nicht eine Revolution1438, waren nicht antithetisch, wollten „keinen Umsturz, sondern eine ruhige, friedliche Entwickelung.“1439 Dabei sollte es auch nach ihrem informellen Zusammenschluß zur Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert bleiben, wie Altpeter es – hier durchaus zutreffend – beschrieb. In der Kundenzeitschrift Das Reformhaus hieß es im September 1926: „Revolutionen bringen an sich nie Besserung. Sie haben nur ihre Bedeutung als Zertrümmerung des Erstarrten.“1440 Nach Joachim Raschke sind die Ziele sozialer Bewegungen nicht zwangsläufig revolutionär im Sinne eines kompletten Umsturzes des bestehenden Gesellschaftssystems. Gleichwohl ist ihr Handeln immer darauf gerichtet, mehr oder weniger relevante Strukturen der Gesellschaft zu verändern oder deren Veränderung zu verhindern.1441 Die Lebensreform wollte beides: die Gesellschaft reformieren und gesellschaftliche Entwicklungen hemmen, die sie für „krank“ hielt. Im Sinne einer „Veränderung als Besserung innerhalb des bestehenden Systems, das prinzipiell nicht in Frage gestellt wird“1442, kämpfte die Bewegung nicht gegen die Gesellschaft, sondern setzte sich für die Gesellschaft ein, wollte sie umgestalten, nicht zerstören. Nie wollte die Lebensreform das Alte vollständig auflösen, stets nur Teile des Hergebrachten tilgen – alles als dekadent und nicht mehr zeitgemäß Empfundene. Ihr Ziel war es, neues Leben zu schaffen, aber auf 1437 1438 1439 1440 1441 1442

ALTPETER, Was ist Lebensreform? (wie Anm. 859), S. 44. Vgl. auch KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 49. ADERHOLDT , Die naturgemäße Lebensweise (wie Anm. 1249), S. 46. Das Reformhaus, September 1926, S. 7. RASCHKE, Soziale Bewegungen (wie Anm. 97), S. 77. EIKE WOLGAST, Reform, Reformation, in: OTTO BRUNNER/WERNER CONZE/REINHART KOSELLECK (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997. Bd. 5: Pro– Soz. (1984), S. 313–360, hier S. 356.

4.4. Der Reformgedanke

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der Grundlage der bestehenden Gesellschaft. Sie sollte sich organisch umgestalten, und zwar dadurch, daß sich ihre kleinsten Glieder, die einzelnen, zum Besseren wandelten, indem sie gesünder lebten. „Die allseitige richtige Individualreform muss zur praktischen Socialreform führen“, schrieb die Vegetarische Warte im Februar 19011443, und ein gutes Jahr später: „Die Gesellschaftsreform lässt sich nur auf der Basis der Einzel-, der Selbstreform durchführen.“1444 Auch die Zeitschrift Der Mensch betonte 1905, „daß Hand in Hand mit der Sozialreform die Individualreform gehen“ müsse.1445 Die Lebensreform entstand aus der Gesellschaft selbst heraus, die sie verändern wollte. Die Bewegung war nicht ein abgeschirmtes System, nicht ein Raumschiff, das aus dem Irgendwo kam und im wilhelminischen Deutschland landete. Denn zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich die deutsche Gesellschaft, so hat es Paul Nolte formuliert, „durch eine besonders starke Unzufriedenheit mit sich selber, mit der Entwicklung ihrer eigenen Ordnung, aus. Daraus resultierte ihre Tendenz zur Projektion von Zukunftsentwürfen, von Utopien sozialer Harmonie und Stabilität, von in die Zukunft verlagerten Gegenbildern zu der Erfahrung der gegenwärtigen Ordnung.“1446 Insofern war die Lebensreform ein Ausdruck einer veränderungswilligen Gesellschaft, die über sich selbst nachdachte. Vegetarier und Anhänger der Naturheilweise waren fast immer fest in der bürgerlichen Gesellschaft verankert.1447 Schon das spricht gegen Altpeters These, diese Vorläufer der Lebensreform hätten eine „revolutionäre Antithese“ dargestellt. Wahrscheinlich stellte er diese Behauptung vor allem zu dem Zweck auf, die „bereinigte“ Lebensreform des „Dritten Reichs“ von Gruppen wie den Vegetariern abzuheben, die die Nationalsozialisten verboten oder in die Selbstauflösung gedrängt hatten. Selbstverständlich gab es auch spektakuläre Ausnahmen von der „Bürgerlichkeit“ der Lebensreformer, Wanderprediger mit Hirtenstab, Tunika, Kniehosen, Sandalen und Diadem auf der Stirn und abstrusen, aber eingängigen Botschaften, Erlösergestalten mit nackten Füßen, freiem Oberkörper und orthographisch eigenwilligen Schildern wie „ich komme zu euch in friden“1448, langem Haar, Voll1443 1444 1445 1446

Vegetarische Warte vom 23. Februar 1901, S. 73. Vegetarische Warte vom 23. April 1902, S. 173. Der Mensch, H. 13, 1905, S. 183. PAUL NOLTE, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte. Umrisse einer Ideengeschichte der modernen Gesellschaft, in: MERGEL/WELSKOPP (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft (wie Anm. 24), S. 275–298, hier S. 287. 1447 Zur kleinbürgerlichen Sozialstruktur der Vegetarier vgl. BARLÖSIUS, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 39); zu den bürgerlichen Trägerschichten der Naturheilbewegung STOLLBERG, Naturheilvereine (wie Anm. 40). 1448 Der 1874 geborene Gustaf Nagel propagierte „freie libe“ und „neue ortografi“ und ließ in einem 1900 erschienenen Bändchen ein Foto von sich abdrucken, auf dem er in der rechten Hand den Wimpel mit der erwähnten Aufschrift hält: GUSTAF NAGEL, das natürliche und unnatürliche sein oder meines lebens inhalt und zil. Berlin 1900. – Am 4. Juni 1928 meldete die Lübecker Zeitung, „der bekannte Naturapostel und Wanderredner“ sei in Farnroda bei Eisenach einem Herzschlag erlegen. „Er besuchte dort die Kirmes, wurde aber vom Landjäger gebeten, den Platz zu verlassen, damit kein Auflauf entstehe. Vor dem Gasthaus Witt-

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

bart und bodenlanger Kutte, Männer also, die im Straßenbild Aufsehen erregten, „barfüßige Propheten“, wie sie schon oben erwähnt wurden1449; die Nackten in der Siedlungskommune auf dem Monte Verità bei Ascona im Tessin sind ein weiteres Beispiel. Aber selbst diese verschwindend wenigen „extremen“ Lebensreformer, die im engeren Sinne gar keine waren, forderten nicht eine Revolution. Sie inszenierten vielmehr sich selbst oder schufen Kommunen, die vom Anspruch her autark sein, idealtypisch also eben gerade gar keine Berührung mit der übrigen Gesellschaft haben und diese folglich auch nicht umwälzen sollten. Die meisten Lebensreformer bewegten folglich nicht eskapistische Motive, sondern sie strebten eine Veränderung der bestehenden Gesellschaft an.1450 Die in Vereinen organisierte Lebensreformbewegung im engeren Sinne grenzte sich von experimentellen und, nicht zuletzt im Erscheinungsbild, unkonventionellen Gruppen ab. Unter tausend Vegetariern, so schätzte die Schriftleitung der Vegetarischen Warte 1905, treffe man kaum einen, der die Haare lang wachsen lasse.1451 Der Mensch warnte 1904 vor „Naturmenschen“, deren Verhalten „oft bloße Eitelkeit, Ehrgeiz u. dgl. zur Ursache“ habe. „[D]iese Leute“ nisteten sich bei anderen Menschen ein, „um dort ein feines Faulenzerleben unter Vorspiegelung allerlei schöner Vorhaben und Ziele zu führen.“ Es gelte, die „Bewegung von Elementen zu säubern, die aus der Gutmütigkeit und manchmal Sentimentalität unserer Freunde sich ein faules Leben bereiten wollen.“1452 Hintergrund des Artikels war, daß sich seit einigen Monaten in Karlsruhe der „Naturapostel“ Arthur Gräser (1897–1958), meist Gusto Gräser genannt, herumtrieb.1453 Aussteiger wie er entfernten sich ebenso weit vom normalen bürgerlichen Alltag wie die Anhänger der sogenannten Boheme. Beide fanden im übrigen – und das zeigt, wie sehr sich die „Extreme“ berührten – auf dem Monte Verità ein gemeinsames Idyll.1454 Dorthin flohen sie aus der als zu geordnet empfundenen Gesellschaft. Der eigentlichen Lebensreform hingegen erschien die bestehende Gesellschaft als zu chaotisch, zu destruktiv, wie Christoph Conti formuliert: „Sie wollten nicht in die Tiefen des

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genstein ist er dann zusammengebrochen.“ Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 1898. Siehe oben S. 161. KRABBE, Gesellschaftsveränderung (wie Anm. 2), S. 15. Ähnlich LINSE, Zeitbild Jahrhundertwende (wie Anm. 1303), S. 16; MERTA, Wege und Irrwege (wie Anm. 49), S. 84. Vegetarische Warte vom 23. September 1905, S. 503. Der Mensch vom 1. September 1904, S. 264. Gräser, aus „guter Familie“ stammend, war zunächst Kunstschlosser und dann Bildhauer und Maler, um 1896/97 im Dichten und Herumziehen seine Berufung zu finden. Er brach zu einer „Lebenswanderschaft“ auf, die er teilweise auch in einem Wohnwagen verbrachte. Um 1901 lernte er in Basel Hermann Hesse kennen, für den er zu einer Art „Guru“ wurde. Vgl. Brief Hermann Müllers an Winfried Mogge vom 6. November 1977, S. 2f. Archiv der deutschen Jugendbewegung, ID 814. – Kurz vor seinem Tod 1958 ließ sich Gräser noch in mittelalterlicher Tracht mit langem Bart und runder Brille fotografieren. Vgl. Heimat und Bild. Beilage des Lichtenfelser Tagblatts vom 28. April 1958. – Zu Gräser als „Vorbild“ und „Anreger“ anderer „Inflationsheiliger“ LINSE, Barfüßige Propheten (wie Anm. 259), S. 68– 75. CONTI, Abschied (wie Anm. 36), S. 66.

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Rauschs, sondern ins Licht, in die Klarheit, in eine durchsonnte Natur.“1455 Das wahrscheinlich bekannteste Bild aus dem Umkreis der Lebensreform, das „Lichtgebet“ des Fidus1456, illustriert dieses Streben. Doch der Jüngling, der sich nach Himmel, Sonne und Luft reckt, gibt nur eine Richtung, eine Orientierung an. Bilder wie das „Lichtgebet“ und utopische Texte über eine ideale Gesellschaft waren buntes Beiwerk der zentralen Idee des gesünderen Lebens. Denn die Lebensreformer auch schon der Jahrhundertwende waren nicht realitätsfremd oder radikal. Sie proklamierten keine „Antithese“: schließlich gab es auch die starre „These“ nicht. Die antithetische Konstruktion Altpeters gibt aber, auch wenn sie hinsichtlich der Vorläufer der Reformbewegung an den historischen Tatsachen vorbeizielt, einen Hinweis auf das Selbstverständnis der Lebensreformer. Unter Reform stellten sie sich stets ein Vermitteln zwischen Altem und Neuem vor, das zwar immer nach vorne gerichtet war, das Alte überwinden wollte, aber eben nicht radikal, sondern in Form einer Umgestaltung auf der Grundlage des Vorhandenen. Ziel war es, ein gesünderes Leben zu schaffen – sei es ein anderes, ein vitaleres oder ein ökologischeres. Ein harmonisches Gleichgewicht von Körper, Geist, Seele und äußeren Lebensbedingungen war eine Orientierungsmarke, gewissermaßen das Ende des Regenbogens. Wie streng dieser Richtwert darüber hinaus auch als Fixpunkt des jeweils eigenen, täglichen Lebens zu gelten hatte, hing freilich vom jeweiligen Autor und von der Epoche ab. Ob das imaginierte und erhoffte Neue oder das rückblickend konstruierte Alte mehr Gesundheit zu versprechen schien, war je nach Epoche unterschiedlich. Eine vollständige Gesundheit von Körper, Geist und Lebensverhältnissen war in der Vorstellungswelt der Lebensreformer des gesamten 20. Jahrhunderts in der gegenwärtigen Welt grundsätzlich unmöglich. Sie blieben in aller Regel realistisch und strebten ein gesünderes Leben an. Selbst zur Zeit der Jahrhundertwende, als die Vegetarier von einem künftigen goldenen Zeitalter sprachen, war eine absolute Gesundheit nur scheinbar das Ziel der Lebensreform. In den Texten blitzt immer wieder ein Augenzwinkern auf. Leser und Autoren utopischer vegetarischer Texte wußten auch um 1900 sehr wohl, daß sich der idyllische Ort perfekter Gesundheit und Glückseligkeit immer wieder entzog. Doch motivierte der rhetorische Glaube an seine Erreichbarkeit die Protagonisten des Vegetarismus in ihrem Kampf für eine andere Welt und seine Anhänger in ihrem Streben nach einem anderen Leben.1457 Um 1900 verlagerten die Reformer ihre Hoffungen noch weit in die Zukunft, oft in das Jahr 2000. In den zwanziger Jahren rückte die erhoffte „neue Zeit“ näher, Anfang der dreißiger Jahre schien sie unmittelbar bevorzustehen, gerade im Anbruch begriffen zu sein. Die Lebensreformer konnten daran mitarbeiten, ihr ganz zum Durchbruch zu verhelfen. Die „neue Zeit“ trug zwar auch noch utopische Züge, verstand sich aber vor allem im Sinne eines auf das Sparsame, Einfache und Nützliche zielenden Lebensstils, der sich vom als überkommen empfundenen herkömmlichen abhob 1455 Ebd., S. 73. 1456 Zur Rezeptionsgeschichte des „Lichtgebets“ oben S. 272ff. 1457 Vgl. oben Kapitel 3.1.1., bes. S. 187ff.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens

und den jeder einzelne in seinem persönlichen Leben verwirklichen sollte, um die Gesellschaft und den „Volkskörper“ gesunden zu lassen. „Reformieren heißt erneuern“, schrieb Das Reformhaus 19261458, und 1930: „Reform hat die Bedeutung von Fortschreiten, Umbilden, Verbessern und ist nicht Konservatismus oder gar Rückschritt.“1459 Nach 1933, als die „neue Zeit“, jener Lieblingsbegriff der Reformzeitschriften seit der Mitte der zwanziger Jahre, tatsächlich angebrochen zu sein schien, meinte der Begriff des Neuen meist die Gegenwart des nationalsozialistischen Deutschlands. Als das Bewegungselement des Nationalsozialismus um 1938 verblaßte, verschwand auch die „neue Zeit“ allmählich aus den Zeitschriften der gleichgeschalteten Lebensreform. Vor diesem Hintergrund verfaßte Altpeter 1939 seine Gedanken über einen abgeschlossenen Dreischritt, an dessen Ende die reformerische Synthese zwischen alt und neu stehe. Altpeters Text markiert somit einen Wendepunkt: Bis Anfang der dreißiger Jahre zielte die Lebensreform noch stärker auf das Neue und auf eine „neue Zeit“. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr dann das Alte im Sinne der „guten alten Zeiten“, in denen vieles besser gewesen sei, eine Aufwertung.1460 Die Lebensreform der fünfziger bis achtziger Jahre gab sich ausgesprochen realistisch, oft pessimistisch. Fast alles Lyrisch-Utopische war nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Gesundheitskonzepten verschwunden. „Die Sprache der eine paradiesische Zukunft ausmalenden Opportunisten und Futuristen bezaubert uns heute. Aber sie ist zu billig, um wahr zu sein“1461, schrieb Kötschau 1978 in einem Band über Naturmedizin. Bei Köhnlechner hieß es im selben Jahr: „Nur werden wir bei diesem Streben nach Gesundheit unweigerlich verzweifeln und versagen, falls wir uns unter dem Begriff ,Gesundheit‘ einen paradiesischen Zustand blühender, jugendlicher Kraft und makelloser Schönheit vorstellen. Ein Vollbad im Jungbrunnen. Das ewige Leben. Das gibt es nicht.“1462 Auch die Weltgesundheitsorganisation, die Gesundheit ähnlich umfassend definierte wie die Lebensreform1463, war hinsichtlich ihrer Zielsetzung sprachlich vorsichtiger. Sie beschrieb ihr Ziel in den vierziger Jahren in ihrer Verfassung als „die Erreichung eines möglichst guten Gesundheitszustandes durch alle Völker“.1464 1458 Das Reformhaus, Januar 1926, S. 9. 1459 Das Reformhaus, Januar 1930, S. 2. 1460 Anläßlich seines fünfundsiebzigjährigen Bestehens warb etwa das Frankfurter Reformhausunternehmen „Freya“ im September 1985 für Reformprodukte zu „Preisen wie zu Omas Zeiten“ und erinnerte damit zugleich an die Anfangszeit der Lebensreform. Anzeige in: Frankfurter Nachrichten vom 19. September 1985; Hinweis auf Sonderpreise aus „Omas Zeiten“ auch in: Reformhaus Freya 75 Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. September 1985. 1461 KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. III. 1462 KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 10. 1463 Vgl. oben S. 279. 1464 Wörtlich heißt es in Artikel 1 WHO-Verfassung, zit. nach www.who.int/governance/en, abgerufen am 20. Juni 2006: „The objective of the World Health Organization (hereinafter called the Organization) shall be the attainment by all peoples of the highest possible level of health.” Die Übersetzung wurde übernommen aus KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 11.

4.4. Der Reformgedanke

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Mit der Krise des Fortschrittsdenkens, mit dem Verschwinden der Hoffnungsfreudigkeit auf die Zukunft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in den Zeitschriften auch der Reformbegriff seltener. Der Ausdruck der Lebensreform blieb im redaktionellen Teil bis Mitte der siebziger Jahre gebräuchlich – ungefähr bis zu dem Zeitpunkt, als Altpeter die Redaktion verließ. Schon 1964 aber verfaßte Altpeter mit einem Bändchen „Zur Geschichte der Lebensreform“ gewissermaßen den Nachfolger seines Werks „Was ist Lebensreform?“ von 1939.1465 Die Historisierung der Reformbewegung und ihrer Ideen setzte ein. Seit den späten siebziger Jahren erschien der Begriff der Lebensreform in den Kundenzeitschriften der Reformhäuser fast nur noch in historischen Rückblicken auf die Ursprünge der Bewegung und in Anzeigen im Stil von „Lebensreformer sucht Gleichgesinnte“. Der Begriff verlor zunehmend an Kontur – ganz wie die Lebensreformbewegung selbst.1466 4.4.2. Die Praxis des „Dritten Weges“ Der auch in der Reformliteratur selbst mitunter so genannte Dritte Weg zwischen Bewahrung und Revolution, eben die Reform, war nicht nur ein theoretisches Konzept. Synthese und Ausgleich standen auch im Mittelpunkt der Praxis der Lebensreform. Schon im Dezember 1887 richtete die Vegetarische Rundschau die „dringende Mahnung“ an die „Gesinnungsgenossen“, „oft haarsträubende Experimentierereien zu unterlassen.“ Übertriebenes Fasten und andere suchtartige vermeintlich gesunde Verhaltensweisen, warnte die Zeitschrift, führten mitunter sogar zum Tode.1467 Adolf Just, der Leiter des Sanatoriums „Jungborn“, legte seinen Patienten zwar eine fast ausschließlich aus Früchten und Nüssen bestehende Kost nahe. In seinem Kurheim gab es aber keine strikten Vorschriften: „Es soll sich keiner [...] grossen Zwang anthun und sich nicht mit Vorwürfen quälen, wenn er nicht gut allein von rohen Früchten leben kann. Man soll sich in keiner Weise bei der Kur und Lebensweise eine gewisse frohe heitere Stimmung nehmen lassen.“1468 Dem Schriftsteller Franz Kafka verbot ein „Jungborn“-Arzt im Sommer 1912 „das Obstessen mit dem Vorbehalt, daß ich ihm nicht folgen muß.“1469 Ähnlich wie bei Just heißt es in einem Gesundheitsratgeber des Naturheilpraktikers Manfred Köhnlechner aus dem Jahr 1978, niemand solle sich „zum Sklaven irgendeiner Ernährungsphilosophie machen lassen“: 1465 ALTPETER, Zur Geschichte (wie Anm. 47). 1466 Auch im allgemeinen bundesdeutschen Diskurs verlor der Reformbegriff zunächst immer mehr an konkretem Gehalt: WOLGAST, Reform, Reformation (wie Anm. 1442), S. 360. Unlängst wieder eine positivere Aufladung bei PAUL NOLTE, Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. München 2004. Nolte fordert, die Generation der zwischen den späten fünfziger und den späten sechziger Jahre Geborenen solle „Verantwortung für eine neue Republik“ übernehmen. 1467 Vegetarische Rundschau, Dezember 1887, S. 375. 1468 JUST, Kehrt zur Natur zurück, Bd. 2 (wie Anm. 1432), S. 408. 1469 KAFKA, Tagebücher (wie Anm. 731), S. 489.

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4. Kontinuitäten gesünderen Lebens „Die richtige Ernährung ist wichtig, im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig. Aber den Rest seines Lebens im ständigen Zwang zu verbringen, umgeben von Verboten und unerbittlich einzuhaltenden Regeln, ist auch nicht der Weg, der zur Gesundheit führt. Ein fröhlich genossenes Festmahl – mag es noch so viele Ernährungssünden enthalten – kann mehr zum Wohlbefinden beitragen als ein nur widerwillig hinuntergeschlucktes Gesundheitsmüsli.“1470

Im Februar 1939 diskutierte Altpeter in der Zeitschrift der gleichgeschalteten „Deutschen Gesellschaft für Lebensreform“, Leib und Leben, die Frage „Lebensreform mit oder ohne Ausnahme?“ Der Autor unterteilte die Anhänger der Lebensreform in hundert-, neunzig- und fünfzigprozentige Reformer.1471 Die fünfzigprozentige Haltung nannte Altpeter knapp eine gefährliche „Halbheit“ und „Verrat an der Sache“. Ihm kam es auf die Unterscheidung zwischen hundert- und neunzigprozentiger Lebensreform an. Während die „Hundertprozentigen“ einer „restlosen Durchführung“ der lebensreformerischen Forderungen den Vorzug gaben, gestatteten sich die „Neunzigprozentigen“ bei derselben Grundlinie gelegentlich auch einmal eine Ausnahme. Altpeter betrachtete diese Frage als „Freiheitsproblem“: Die Abhängigkeit von Fleisch, Nikotin und Alkohol sei genauso schädlich wie die Abhängigkeit von der Abstinenz. „Die wahre Freiheit besteht darin, daß man weder vom Genußmittel noch von der Abstinenz abhängig ist und folglich kein Gegner der Ausnahme zu sein braucht.“ Man könne, schrieb Altpeter an anderer Stelle, sonntags und „bei anderen besonderen Anlässen“ statt Obst, Bircher-Müsli und Vollkornbrot mit Säften und Milchprodukten durchaus „auch mal Kakao oder Bohnenkaffe mit Kuchen frühstücken.“1472 Solche Freiheit sei einer „hundertprozentigen, nicht zur Schau gestellten Enthaltsamkeit“ ebenbürtig. Wer „hundertprozentig“ lebensreformerisch lebte, mußte also nicht zwingend von der Abstinenz abhängig sein. Aber zu solcher Perfektion brachten es nach Altpeters Ansicht nur sehr wenige Menschen: „Wir denken an den Führer und Mussolini.“1473 Der Artikel schließt so: „Die Aufgabe der Lebensreform im nationalsozialistischen Deutschland ist es, Alkohol-, Fleisch- und Nikotingenuß erheblich herabzumindern, sie aus ihrer heutigen beherrschenden Stellung zu vertreiben. Es ist jedoch nicht notwendig und wahrscheinlich auch gar nicht möglich, sie restlos zu beseitigen. An jener großen Aufgabe aber sollen die ,Neunzigprozentigen‘ ebenso wie auch die ,Hundertprozentigen‘ mitwirken.“

Daß die Lebensreform nicht „hundertprozentig“ für eine völlige Beseitigung von Genußmitteln kämpfte, sondern ihrem harmonischen Modell des Ausgleichs, des „Dritten Weges“ treu blieb, vertrug sich gut mit der Auffassung der nationalsozialistischen Gesundheitsführung, die jede Einseitigkeit in der Ernährung ablehnte. Wenn die Lebensreform in der Tradition des Liberalismus harmlos-naiv 1470 KÖHNLECHNER, Gesund mit Köhnlechner (wie Anm. 1153), S. 47. 1471 Leib und Leben, Februar 1939, S. 27f. Der Text war eine Erwiderung auf eine Zuschrift von W. Henschel mit dem Titel „Halbheiten in der Lebensreform“. Vgl. Leib und Leben, Januar 1939 [Heft nicht auffindbar]. – Ebenfalls abgedruckt ist Altpeters Artikel in: Reform-Rundschau, Juni 1939, S. 122f. 1472 ALTPETER, Essen – ja! (wie Anm. 1117), S. 34. 1473 Zum Vegetarier Hitler, der allerdings offensichtlich durchaus Ausnahmen vom Fleischverzicht machte, vgl. oben S. 227.

4.4. Der Reformgedanke

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von wahrer Freiheit sprach, dann zeigt das nur, daß sie tatsächlich kein revolutionäres Potential barg. Es zeigt, daß sie nicht radikal war, sondern stets nach einer reformerischen Synthese strebte, auch im Nationalsozialismus – obwohl dessen militantes politisches Vokabular im Grunde unvereinbar mit dem Reformbegriff war, eben weil mit „Reform“ zuviel „an Optionsmöglichkeit, an pejorativ verstandenem Liberalismus“ verbunden war.1474 Anfang der vierziger Jahre unternahm die nationalsozialistische Gesundheitsführung denn auch den Versuch, die Bezeichnung „Lebensreform“ außerhalb der Reformwarenwirtschaft, „wo sie längst zu einer Art Gattungsnamen von fest umrissener Bedeutung geworden ist“, durch „Lebensordnung“ zu ersetzen.1475 Altpeter erwog 1942, das kriegsbedingt vorübergehend eingestellte Jahrbuch der Lebensreform künftig Jahrbuch für natürliche Lebensordnung zu nennen.1476 Es gelang aber nicht mehr, die neue Sprachregelung zu verankern: Die „Reform“ blieb, auch im „Dritten Reich“. Der um die Jahrhundertwende erfundene „Dritte Weg“ führte, weil er kaum Angriffsflächen bot, anpassungsfähig und vermittelnd war, auf mehr oder weniger sicheren Pfaden durch alle politischen und gesellschaftlichen Systeme des 20. Jahrhunderts: durch das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“ und die Bundesrepublik.

1474 WOLGAST, Reform, Reformation (wie Anm. 1442), S. 360. 1475 ALTPETER (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Lebensreform 1941 (wie Anm. 297), S. 22. 1476 Allerdings blieb es bei der Einstellung. Für 1942 wurde der „Müllerschen Verlagshandlung“, in der das Jahrbuch erschien, kein Papier zugeteilt. BArch (ehem. BDC), RK, Altpeter, Werner, 8. August 1902.

5. DAS NETZWERK LÖST SICH AUF Jeder von uns muß wissen, nach welchem Bild er lebt und sich formt. John von Düffel, Ego (2001)

Nach einem jahrzehntelangen Erosionsprozeß löste sich das Netzwerk der Lebensreform, wie es diese Arbeit beschrieben hat, in den neunziger Jahren allmählich auf. Das lag nicht an der wirtschaftlichen Entwicklung der Reformhäuser, die zwar verhalten war, aber nicht grundsätzlich an der Zukunft der Branche zweifeln ließ. Im Jahr 1989 stellte die Neuform in ihrem Geschäftsbericht fest, „daß die Reformhäuser derzeitig Marktanteile verlieren“1477, und trotz der Ausdehnung auf den ostdeutschen Markt nahm die Zahl der Reformgeschäfte in den neunziger Jahren ab. Um die Jahrtausendwende stagnierte der Umsatz oder ging leicht zurück.1478 Anfang 2004 gab es bundesweit noch rund 1600 Reformhäuser und gut 2100 Neuform-Absatzstellen für Reformwaren. Das waren zwar 100 Verkaufsstellen weniger als 1966 (2200) und 700 weniger als 1990 (2800).1479 Der Rückgang lag aber im Rahmen dessen, was am Ende des 20. Jahrhunderts auch anderen Einzelhandelsunternehmen widerfuhr. Bemerkenswert sind Stagnation und Rückgang aber vor dem Hintergrund der allgemein wachsenden Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln und Gesundheitsprodukten. In den neunziger Jahren wuchs das Angebot für diese Waren auf dem immer pluralistischeren Markt rasch ins Unermeßliche. Die Reformhäuser, die schon immer gegen Konkurrenz gekämpft, sich aber im Laufe des 20. Jahrhunderts eine feste Nische für Gesundheitsprodukte erobert hatten, waren jetzt bloß noch ein Anbieter von unüberschaubar vielen. Aber auch der – nicht „dramatische“ – Verlust von Marktanteilen auf dem Gesundheitssektor war bloß mittelbar daran beteiligt, daß das Netzwerk der Lebensreform immer löchriger wurde. Denn vor allem löste es sich durch den Verlust der spezifisch lebensreformerischen Inhalte auf, die es durch das kurze 20.

1477 Geschäftsbericht der Neuform Vereinigung deutscher Reformhäuser eG 1989, S. 4. 1478 Im Jahr 1998 konnten die Reformhäuser ihren Umsatz nur noch um 0,2 Prozent steigern, im selben Jahr schlossen 39 Reformgeschäfte: Meldung der Deutschen Presse-Agentur vom 26. März 1999. Im Folgejahr 1999 ging der Umsatz der Reformhäuser und Reformwarendepots in Deutschland und Österreich im Vergleich zum Vorjahr um 3,8 Prozent zurück, er lag jetzt bei 1,25 Milliarden Mark. Vgl. Reformhäuser: moderater Umsatzrückgang 1999, Presseinformation der Neuform VDR vom 6. April 2000. 1479 Der Umsatz der Reformhäuser lag im Jahr 2004 bei 659 Millionen Euro. Im Januar 2006 hatte die Neuform 1031 Mitglieder, von denen einige auch Geschäfte in Österreich betrieben. Vgl. www.neuform.de/branche/zahlen_daten_fakten.htm, abgerufen am 20. Juni 2006.

5.1. Ein Ende von Natur und Körper?

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Jahrhundert getragen, es zusammengehalten und definiert hatten.1480 Seit etwa 1980 starben die Menschen, die das lebensreformerische Netzwerk als „Generation Reformhaus“ geprägt hatten und mit denen das Wort Lebensreform verbunden war.1481 Zwar bestanden die Organisationen der Reformwarenwirtschaft fort, aber die Kommunikation innerhalb des Netzwerks und nach außen funktionierte immer weniger mit Hilfe jener inhaltlichen Konzepte, die diese kurz nach 1900 geborenen Männer seit ihrem Eintritt in das Berufsleben in den zwanziger Jahren über die Jahrzehnte hinweg verbreitet hatten. In den neunziger Jahren lösten sich viele lebensreformerische Inhalte auf. Andere veränderten sich tiefgreifend oder wurden zu Allgemeingut. Alle aber büßten das genuin Lebensreformerische ein. Das war auch eine Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, die den Gesundheitsmarkt tiefgreifend veränderten. Zum einen entstand am Ende des 20. Jahrhunderts ein neues Verhältnis des Menschen zu Natur und Körper (5.1.). Zum anderen breitete sich in den neunziger Jahren eine neue Form der Individualisierung aus. Gemeinsam mit einem immer größeren Mißtrauen gegenüber ideologischen Deutungsmustern sorgte sie dafür, daß die meisten Anbieter für Gesundheitsprodukte ihren Blick von der Gesellschaft abwandten und ihn fast ausschließlich auf den einzelnen richteten (5.2.). 5.1. EIN ENDE VON NATUR UND KÖRPER? Die wissenschaftlich-technische Reproduzierbarkeit der Natur durch den Menschen, die Tatsache also, daß Natur „überhaupt nicht mehr das Gegebene“, sondern „das im Prinzip durch Herstellung Mögliche“ war1482, hob den Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit im späten 20. Jahrhundert weitgehend auf. Immer mehr künstlich veränderte Naturprodukte und reine Kunstprodukte kamen auf den Konsumgütermarkt, wobei die künstlichen Produkte oft dem Natürlichen nachempfunden und somit von einer künstlich hergestellten Natürlichkeit gekennzeichnet waren. Ein frühes Beispiel für ein solches „Natürlichkeitssurrogat“ ist die Margarine, die sich im Laufe ihrer Geschichte in der öffentlichen Wahrnehmung vom preiswerten Butterersatz zu einem Gesundheitsprodukt entwickelte, das Hochwertigkeit und Natürlichkeit suggerierte. Spätestens seit dem Anfang der fünfziger Jahre reicherten „konventionelle“ Hersteller ihre Margarine mit Vitaminen an und priesen sie als gesündere Ernährungsvariante zur Butter.1483 1480 Zu den Inhalten, die die Lebensreform im gesamten kurzen 20. Jahrhundert kennzeichneten, vgl. oben Kapitel 4, S. 277ff. 1481 Vgl. oben Kapitel 2.4.1, S. 138ff. 1482 BÖHME, Natürlich Natur (wie Anm. 1344), S. 107–124, zit. S. 115. 1483 In der Werbung erscheinen gerade die künstlichen Nahrungsmittel als besonders natürlich und gesund, meist nicht explizit, sondern eher über suggestive Techniken wie Farbgebung und Motivauswahl der Verpackung: „Gelang es nicht, einem Produkt mit mehr oder weniger guten Argumenten den Nimbus des Gesunden zu verleihen, dann ließen sich zumindest mit Bildern schöner, vitaler Menschen entsprechende Assoziationen erzeugen.“ Vgl. KÖNIG, Geschichte der Konsumgesellschaft (wie Anm. 25), S. 166–171, zit. 171.

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5. Das Netzwerk löst sich auf

Die Verkünstlichung der Nahrungsmittel ging in den achtziger Jahren so weit, daß man Lebensmittelbezeichnungen wie „Bioäpfel“ und „Biofleisch“ einführte.1484 Denn die Konsumenten empfanden, was sie früher fraglos als Natur vorausgesetzt hatten, immer weniger unbedingt und uneingeschränkt als natürlich. Vielen Autoren erschien es als bedrohlich, daß der Mensch mittels der Gentechnik „Natur“ – seine Nahrung und letztlich auch sich selbst – von Grund auf herstellen konnte. Der Naturarzt Karl Kötschau schrieb schon Ende der siebziger Jahre: „Ob es uns erfreut, in einem System von ,Gen-Planungsstellen‘ unter einem ,Welt-Gen-Rat‘ zu leben, der alle [menschliche, F.F.] Vererbung kontrolliert, das dürfte eine Frage sein, die wir uns vorsorglich heute schon überlegen sollten und nicht erst dann, wenn es soweit und damit zu spät ist.“1485 Die Reformwarenwirtschaft kritisierte weniger die auf die menschlichen Erbanlagen bezogenen Möglichkeiten des Klonens und des Züchtens embryonaler Stammzellen als gentechnisch veränderte Lebensmittel, aber auch Bestrahlungen von Nahrungsmitteln und neue Zusatzstoffe. In diesem Zusammenhang griff die Branche die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union an, die keine Kennzeichnungspflicht für genveränderte Lebensmittel verordne.1486 Wichtigstes Argument war die nach Ansicht von Branchenvertretern die mangelnde Natürlichkeit der „GenNahrung“: „Kunst-Food nein danke!“1487 Im Jahr 1993 sammelten die Reformhäuser 468.000 Unterschriften „für die deutliche und offene Kennzeichnung“ genmanipulierter Lebensmittel.1488 Im März 1996 demonstrierten die Neuform und der „Bund für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland“ (BUND) mit einer „Monstertomate“ gemeinsam vor dem Europäischen Parlament in Straßburg1489, es folgten weitere Aktionen der Neuform mit dem „Bund für Umwelt

1484 Vgl. BÖHME, Natürlich Natur (wie Anm. 1344), S. 10. 1485 KÖTSCHAU, Naturmedizin (wie Anm. 486), S. 32. 1486 Diese Angriffsfläche ist der Reformwarenwirtschaft in jüngster Zeit abhanden gekommen. Seit dem Jahr 2004 wird die Kennzeichnung von Produkten, die aus gentechnisch veränderten Organismen abgeleitet sind, durch zwei EG-Verordnungen geregelt: durch die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, vgl. Amtsblatt Nr. L 268 vom 18. Oktober 2003, S. 1–23, und die Verordnung (EG) Nr. 1830/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen und über die Rückverfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln und Futtermitteln sowie zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG, vgl. Amtsblatt Nr. L 268 vom 18. Oktober 2003, S. 24–28. Beide Verordnungen sind am 7. November 2003 in Kraft getreten und müssen seit dem 19. April 2004 angewendet werden. Weniger weitgehende Kennzeichnungspflichten gab es schon seit 1997. 1487 Reformhaus-Kurier, April 1994, Titelblatt, S. 12, 14, 34. 1488 Neuform-Echo Aktuell vom 27. September 1993, S. 1f.; Neuform-Echo Aktuell vom 17. Januar 1994, S. 9. 1489 Reformhaus-Kurier, Mai 1996, S. 28; Reformhaus-Kurier, Juni 1996, S. 29–36; vgl. auch Reformhaus-Kurier, Juni 1997, S. 10.

5.1. Ein Ende von Natur und Körper?

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und Naturschutz Deutschland“ (BUND), der Umweltorganisation Greenpeace und der Verbraucherzentrale in Hamburg.1490 Zugleich verfloß aber auch vor den Augen der Vertreter der Reformwarenbranche zunehmend der Übergang zwischen Natürlichem und Künstlichem. Die Abgrenzung zwischen beiden war den Lebensreformern von Anfang an schwergefallen.1491 Sie, die sich stets auf unverfälschte Natürlichkeit beriefen, konnten jetzt immer weniger kontrollieren, wo die Grenzen zwischen Natur und Kunst verliefen. Die Neuform und der „Verband der Reformwaren-Hersteller“ teilten 1999 zwar mit, ihr Ziel sei es, „den Einsatz der Gentechnologie im Bereich der Lebensmittelherstellung und die Verarbeitung gentechnisch veränderter Rohstoffe auszuschließen.“ Da diese aber weit verbreitet seien, könne „auch für neuformVertragswaren nicht zu 100 % die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Verunreinigung von konventionellen und ökologischen Rohstoffen mit GVO [gentechnisch veränderten Organismen] in Spuren ausgeschlossen werden.“1492 Die Reformwarenwirtschaft sah sich der Tatsache gegenüber, daß Natur aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und neuer technischer Möglichkeiten nicht mehr unbedingt natürlich war. In den Waerland-Monatsheften hieß es 1993: „Wenn es stimmt, was der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach Mitte des vorigen Jahrhunderts ausdrückte, daß nämlich ,Der Mensch ist, was er ißt‘, dann befinden sich die ,Normalverbraucher‘ bald auf dem Wege zum ,künstlichen Menschen‘.“1493 Am Ende des 20. Jahrhunderts erschien es zunehmend unmöglich, so hat es der Literaturtheoretiker Terry Eagleton formuliert, die Natur auf eine „fromme wordsworthsche Weise als etwas Zeitloses, Unausweichliches und stumm Ausharrendes anzusehen in einer Zeit, in der sie sich nur allzu offensichtlich als fügsames Material erweist.“1494 Der Soziologe Ulrich Beck spricht vom „hochgradigen Kunstprodukt Natur“, von einer „,artifiziellen‘ Natur“, vom „Artefakt ,Natur‘“.1495 Viele Autoren imaginieren die Zukunft postbiologisch und posthumanistisch, Donna Haraway konstatierte eine „Neuerfindung der Natur“1496, Francis Fukuyama rief das Ende des Menschen aus.1497 Nicht nur die äußere, physikalische Natur und die genetische Natur des Menschen erwiesen sich als fügsam und formbar. Auch die jeweils eigene Natur, der persönliche Körper, erschien dem 1490 Reformhaus-Kurier, Dezember 1996, S. 38f., 58. Kritik an der Europäischen Union etwa auch in: Reformhaus-Kurier, Mai 1997, S. 18f. 1491 Siehe oben Kapitel 4.3.1., S. 299ff. 1492 Gemeinsame Stellungnahme zur Gentechnologie der Neuform Vereinigung Deutscher Reformhäuser eG und des Verbandes der Reformwaren-Hersteller e. V., Pressemitteilung des „Arbeitskreises Gentechnik“ der Neuform VDR vom 30. November 1999. 1493 Waerland. Monatshefte für Gesundheitsvorsorge, Februar 1993, S. 5. 1494 EAGLETON, Was ist Kultur? (wie Anm. 1394), S. 132. 1495 BECK, Risikogesellschaft (wie Anm. 1152), S. 108f. 1496 DONNA HARAWAY, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hrsg. und eingel. von Carmen Hammer und Immanuel Stieß. Frankfurt am Main/New York 1995. 1497 FRANCIS FUKUYAMA, Das Ende des Menschen. Stuttgart/München 2002 [engl. 2002].

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5. Das Netzwerk löst sich auf

Menschen zunehmend als modellierbar1498: auf eine ähnliche Weise, wie das schon in der Zwischenkriegszeit, zur Zeit des vitaleren Lebens, der Fall gewesen war – und doch ganz anders. Denn der neue „neue Mensch“ erschien nicht mehr als „Natur in der Natur“. Um die Wende zum 21. Jahrhundert entstand eine neue Künstlichkeit, die sich zwar als Natürlichkeit tarnte, aber zugleich mit der neuen Natürlichkeit brach, wie sie die Lebensreformer um die Wende zum 20. Jahrhundert erfunden hatten. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty schreibt: „Die einzige Lehre aus der Geschichte wie aus der Anthropologie ist unsere außerordentliche Formbarkeit. Wir denken uns heute als das flexible, proteische, sich selbst gestaltende Tier, nicht mehr als das vernunftbegabte Tier oder das grausame Tier.“1499 Schon immer haben sich Körper unter dem Einfluß der Mode verändert – das anschaulichste Beispiel hierfür, von der Kleidungsreform bekämpft und nach dem Ersten Weltkrieg verschwunden, ist das Korsett des 19. Jahrhunderts. Im Barock war, vereinfacht ausgedrückt, üppige Weiblichkeit modern, also gab es in der Oberschicht viele „Rubens-Frauen“. In literarischen Kreisen der Romantik waren ätherisches Aussehen und Morbidität en vogue, also sahen mehr Menschen, die sich in diesem Umfeld aufhielten, bleich und mager aus. Neu war seit dem späten 20. Jahrhundert, daß sich Kunst und Körper so sehr vermischten, daß sie untrennbar erschienen. In den neunziger Jahren kursierte etwa die Vorstellung, Körperfunktionen würden über Computer und das Internet in einen „cybernetic organism“ (Cyborg) ausgelagert.1500 Zugleich aber sprach man von einer Wiederentdeckung des Tastsinns und haptischer Erfahrungen1501: Der Körper fragmentarisierte sich und blieb dabei allgegenwärtig. Giorgio Agamben schreibt, nicht der Körper sei technisiert worden, sondern sein Bild: „non il corpo è stato tecnicizzato, ma la sua immagine.“ Der gloriose Körper der Werbung, so der italienische Philosoph weiter, sei die Maske geworden, hinter der der fragile, niedere [minuto] menschliche Körper seine Existenz friste.1502 Fotografien von perfekten Körpern in FitnessMagazinen bilden fraglos eine Scheinwelt ab. Auf der anderen Seite aber streben immer mehr Menschen diesen Idealen nach. Die Reformbranche kritisierte zwar die Auswüchse dieses neuen Kults um den Körper, konnte sich ihm aber auch selbst nicht ganz entziehen.

1498 Zur Formbarkeit von Körpern FRANCE BOREL, Le vêtement incarné. Les métamorphoses du corps. Paris 1992, mit Beispielen aus verschiedenen Kulturen. 1499 RICHARD RORTY, Human Rights, Rationality and Sentimentality, in: OBRAD SAVIC (Hrsg.), The Politics of Human Rights. London 1999, S. 67–83, hier S. 72. Zit. nach EAGLETON, Was ist Kultur? (wie Anm. 1394), S. 124f. 1500 HARAWAY, Neuerfindung (wie Anm. 1496), S. 33–72. 1501 ROBERT JÜTTE, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000, S. 255–270. 1502 GIORGIO AGAMBEN, La comunità che viene. Turin 2001, S. 43.

5.2. Das Ende der Ideologien und die neue Individualisierung

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5.2. DAS ENDE DER IDEOLOGIEN UND DIE NEUE INDIVIDUALISIERUNG Nach der Zeit des ökologischeren Lebens, in der die „äußere Natur“ in den Reformzeitschriften im Vordergrund gestanden hatte, rückte in den neunziger Jahren also der Körper wieder stärker ins Blickfeld. Er erschien als nach künstlichem Vorbild formbarer Körper des einzelnen, nicht mehr als Teil eines übergreifenden Ganzen. Während in immer größerem Ausmaß persönliche Gesundheit als erstrebenswert dargestellt wurde, verschwand die Gesundheit der gesamten Gesellschaft allmählich aus den Diskursen. Wer über Gesundheit sprach, meinte nicht mehr die Gesundheit eines Volkes wie in der lebensreformerischen Utopie eines vegetarischen Zeitalters, nicht mehr die Gesundheit eines „Volkskörpers“, wie sie sich in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg auch viele Lebensreformer erträumten, nicht mehr die Gesundheit der äußeren, den Menschen umgebenden Natur, die sich, so glaubten die Lebensreformer der fünfziger bis achtziger Jahre, auch positiv auf das Zusammenleben der Menschen auswirken werde. Das neue Ziel der neunziger Jahre war ein privates schöneres Leben.1503 Utopien eines mehr oder weniger fernen Idealzustands perfekter Gesundheit der Gesellschaft – von der Lebensreform selbst weniger als erreichbare Größe denn als richtungsweisende Vorgabe an das Handeln gedacht – waren in den neunziger Jahren auch als rhetorische Muster nicht mehr gefragt. An ihre Stelle trat die neue Utopie perfekter Fitness und Wellness. Die Wellness, eine Zusammenziehung aus well-being und fitness, wurde im amerikanischen Kulturkreis schon seit den sechziger Jahren propagiert und kam im späteren 20. Jahrhundert von dort nach Europa. Laut Marktforschungsinstituten wurden in Deutschland um das Jahr 2000 jährlich mehr als 20 Milliarden Euro mit Wellness-Produkten und entsprechenden Dienstleistungen umgesetzt.1504 Mit Fitness- und Lifestyle-Magazinen im Hochglanzstil entstand eine neue Kategorie von Gesundheitsliteratur, die eine neue Sprache und auch neue Formen der graphischen und fotografischen Darstellung aufbrachte, in der die Schönheit des Körpers, den zur Zeit des ökologischeren Lebens viel Kleidung umhüllt hatte, wieder betont wurde. Im Gegensatz zur Reformliteratur behandelten die neuen Magazine – das erste war die seit 1994 erscheinende Zeitschrift Fit for Fun – ausschließlich Aspekte, die zur persönlichen Gesundheit und Schönheit beitragen sollten. Geistiges spielte im Fitness-Schrifttum bloß im Sinne von „BeautyPhilosophy, Cocktail-Tiefsinn, Glauben ans In-Label“ eine Rolle; Politik, Soziales und Kultur gehörten nur dazu, „sofern etwas daraus gerade für kultig erachtet wird.“1505 Wilhelm Schmid nennt als Kennzeichen des Lifestyles eine „im Ver-

1503 Man hat die deutsche Gesellschaft der neunziger Jahre und der Jahrtausendwende häufig eine „Spaßgesellschaft“ genannt, nach den terroristischen Anschlägen des 11. September 2001 war dann wenigstens ebenso häufig vom „Ende der Spaßgesellschaft“ die Rede. 1504 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Mai 2003, Beilage Medizin und Gesundheit, S. B 5. 1505 Vgl. MICHAEL FRITZEN, Helden unserer Zeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. September 2000, S. 1.

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5. Das Netzwerk löst sich auf

gleich zum Lebensstil noch weiter gesteigerte Veränderbarkeit und Oberflächlichkeit“, eine „flüchtige Stilisierung ohne jede Festlegung.“1506 Am Ende des 20. Jahrhunderts trat somit das Individuum in den Vordergrund der Gesundheitsdiskurse und aus dem „Schatten“ der Gesellschaftsreform heraus: Die Individualisierung war einer der „Mega-Trends hinter der Wellness“.1507 Auch die Zivilisationskritik wich aus den Semantiken rund um Gesundheit. In der deutschen Gesellschaft gab es am Ende der achtziger Jahre inzwischen unzählige Gruppen, die ähnliche Vorstellungen propagierten wie die Lebensreformer.1508 Wie die Lebensreformbewegung, so verlor auch die schon in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zunehmend erstarrte ökologische Bewegung im Laufe der neunziger Jahre immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 1996 konstatierten die Autoren eines Buches mit dem Titel „Öko-Optimismus“, „daß sich viele ökologische Glaubenssätze und Untergangs-Szenarien der letzten Dekaden schlicht als falsch oder übertrieben erwiesen haben.“1509 Lustvoll brachen die beiden Journalisten Tabus der ökologischen Bewegung, nannten die Verwertung von Tierfellen „ökologisch sinnvoll“ und wandten sich gegen den Boykott von Tropenholz, weil er dazu führe, daß in Malaysia Wälder verbrannt und zu Plantagen umgewandelt würden.1510 Und der Reformhaus-Kurier wies die Neuerscheinung nicht etwa ablehnend zurück, sondern empfahl sie voller Wohlwollen.1511 Das immer größere allgemeine Mißtrauen gegenüber weltanschaulichen Ideologien1512 dürfte ein wichtiger Grund für den Bedeutungsverlust der ökologischen Bewegung sein. Darüber hinaus trug die Tendenz zur Individualisierung dazu bei, daß ökologische Aspekte in den Hintergrund gedrängt wurden. Beide Entwicklungen waren, wenigstens teilweise, Folgen der Auflösung starrer Ordnungssysteme wie der klaren Einteilung der Welt in Ost und West. Der Globalisierungsprozeß rief neue Protestbewegungen wie „Attac“ hervor. Sie ersetzten die ökologische Bewegung zunehmend. In das Vakuum, das zugleich eine Marktlücke darstellte, stießen in den neunziger Jahren aber eben auch viele rein wirtschaftliche Anbieter wie Hersteller von Erzeugnissen rund um Fitness und Wellness. Eine gesunde Lebensweise wurde nun immer weniger mit ökologisch-alternativem Lebensstil als mit Lifestyle assoziiert. Vor dem Hintergrund dieses Stilwandels veränderten sich auch die Reformhäuser. Viele renovierten oder bauten um und sahen fortan heller, freundlicher, weiträumiger, offener aus.1513 In 1506 SCHMID, Philosophie der Lebenskunst (wie Anm. 863), S. 128. 1507 MATTHIAS HORX, Was ist Wellness? Anatomie und Zukunftsperspektiven des WohlfühlTrends. Kelkheim 2002, S. 9–11. 1508 Zu den „neuen Alternativen“ vgl. oben Kapitel 3.3.3. und 3.3.4., S. 265ff. 1509 DIRK MAXEINER/MICHAEL MIERSCH, Öko-Optimismus. Düsseldorf/München 1996, S. 333. 1510 Ebd., S. 209, 230. 1511 Reformhaus-Kurier, Februar 1997, S. 34. 1512 Der „Körperkult“ der neunziger Jahre kann selbstverständlich als neue, gewissermaßen privatisierte Ideologie angesehen werden. Hier sind ausschließlich gesellschaftlich-weltanschauliche Ideologien gemeint. 1513 Zur Veränderung der Warenpräsentation in Reformhäusern seit den neunziger Jahren vgl. auch Wo der Kunde Körner, Käse und Seife kauft. Reformhäuser: Deutschlands ältestes ist

5.2. Das Ende der Ideologien und die neue Individualisierung

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Reformgeschäften roch es jetzt weniger nach Hefeextrakt und Sauerteig mehr nach leichten Körperlotionen und frischem Gebäck: Der „Reformhaus-Muff vergangener Zeiten“1514 verflog. In den Regalen standen plötzlich Produkte, auf deren Etiketten das Wort „Wellness“ auftauchte. Das traditionsreiche Lüneburger „De-Vau-Ge Gesundkostwerk“ warb Ende der neunziger Jahre mit dem Foto einer Frau beim Hanteltraining für „Wellness- und Fitness-Specials“ der Hausmarke „granoVita“ wie Müsli, Leinsamen und „Soja-Drinks“.1515 Der Reformhaus-Kurier nannte das Müsli im August 2000 „Kult statt Körnerfutter“. Die einem entsprechenden Artikel beigefügten Fotos verschiedener potentieller Müsli-Esser zeigen, wen die Reformhäuser um die Jahrtausendwende anlocken wollten: die „Spontane“, die „Gesundheitsbewußte“, den „Schoko-Fan“, den „Geschäftsmann“, die „Eilige“, die „Knuspermaus“, den „Rüstigen“, den „Sportler“ und die „Allergikerin“ – kurz, eigentlich jeden.1516 Den Anspruch, die gesamte Gesellschaft anzusprechen, hatte schon die frühe Lebensreform. In den Jahrzehnten bis etwa 1990 mischte sich dieser Anspruch aber oft mit einem Zug zum Elitarismus: Ziel war es eben, die Gesellschaft im reformerischen Sinne umzugestalten und somit eine Gesellschaft von Reformhauskunden zu schaffen, die dann alle dem Bild vom wenigstens „neunzigprozentigen“ Lebensreformer1517 entsprochen hätten. Nun paßten sich die Reformhäuser stärker als früher an die Gesellschaft an, nahmen sie hin, wie sie war. Eine Bewegung, die die Idee der Lebensreform repräsentierte und sie nach außen trug, gab es jetzt nicht mehr. Um das Jahr 2000 setzte die Neuform die folgenden Worte auf ihre Internetseite: „Weltanschauliche Diskussionen werden [in der Branche, F.F.] kaum mehr geführt, jeder einzelne entwickelt seine eigene Überzeugung: seine persönliche Gesundheitsstrategie, ökologisches Verantwortungsbewußtsein und die Lust daran, sich selbst etwas Gutes zu tun.“1518 Daß der alte Diskurs in der Branche nicht ganz erstarb, zeigt immerhin der Hinweis auf „ökologisches Verantwortungsbewußtsein“ zwischen den jetzt in den Vordergrund tretenden Aspekten „eigene Überzeugung“ und „sich selbst etwas Gutes tun“. Das Einkaufen im Reformhaus wurde funktionaler und individualistischer. Die frühere spezifische Funktion der Reformhäuser als Treffpunkt eines dezidiert „ökologischen“ Milieus verblaßte. Wer ein Reformgeschäft betrat, wußte meist nicht mehr, was das Wort Lebensreform meinte.

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in Offenbach, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10. Dezember 2000, RheinMain-Teil. Lebensmittel Zeitung Spezial. Das Themenmagazin: Wellness – Das Geschäft mit dem Körperkult, H. 2, 2000, S. 78. Anzeige etwa in: Reformhaus-Kurier, März 1999, S. 40f. Ähnlich eine Anzeige desselben Herstellers, unter anderem für Fruchtschnitten und vegetarische Cevapcici: Hier finden sich das Bild eines Radsportlers und der Slogan: „Das gibt Power für die Ausdauer!“ Anzeige in: Reformhaus-Kurier, September 1999, S. 24f. Reformhaus-Kurier, August 2000, S. 4–6. Zur Unterteilung in „neunzigprozentige“ und „hundertprozentige“ Lebensreformer vgl. oben Kapitel 4.4.2., S. 322f. Von der Lebensreform zur Neuform: 75 Jahre Neuform VDR e.G. – Idee einer Organisation. Pressemitteilung der Neuform VDR vom 14. Mai 2002, S. 4.

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Um die Jahrtausendwende kauften die Kunden der Reformhäuser Reformprodukte weniger als in früheren Zeiten aus ideellen oder ideologischen Erwägungen heraus. Vielmehr waren jetzt meist rein gesundheitliche Gründe ausschlaggebend, etwa bei Allergikern. Auch das Vertrauen auf die Qualität der Reformhauswaren spielte angesichts von Tierseuchen und Futtermittelskandalen eine wichtige Rolle. Das Einkaufen im Reformhaus fand eklektisch zwischen Discounter und Feinkostladen, Drogerie und Wochenmarkt statt – jedenfalls in jenem Milieu, das seit etwa Mitte der neunziger Jahre festlegte und vorlebte, was unter gesundem Leben zu verstehen war: nicht mehr in erster Linie umweltbewußte, ökologische, auf die gesamte Gesellschaft blickende Reform, sondern vor allem persönliches Wohlbefinden. Der fast achtzig Jahre alte Arzt Helmut Anemueller (1920–2000)1519, der seit den fünfziger Jahren an der Reformhaus-Fachschule in Oberstedten unterrichtet hatte, gehörte zu den letzten, die für die Lebensreform in ihrer ursprünglichen Form warben und auch an der Bezeichnung „Lebensreform“ festhielten. Im Mai 1999 schrieb er im Reformhaus-Kurier: „Manchen mag der Begriff verstaubt oder gänzlich fremd erscheinen. Unter Umständen erinnert er an Sandalen, Freikörperkultur oder sektiererische Auffassungen. Das wäre schade, denn Lebensreform beinhaltet auch Gedanken und Ziele, die heute wieder aktuelle Bedeutung besitzen.“ Lebensreform sei „nicht nur auf die private Ausrichtung des Lebensstiles, das Gesundheitswesen und die Medizin zu beziehen, sondern auch auf Reformen sozialer und ökologischer Gegebenheiten. In Verbindung steht Lebensreform u. a. zu Bereichen wie Landschaftspflege, Gartenbau, Tierschutz, gesunder Kleidung, gesundem Bauen und einer Tendenz zur Bevorzugung vegetarischer Ernährung. Von all dem braucht nichts verlorenzugehen, wenn man heute auf das Gedankengut der Lebensreform zurückkommen würde. Alles wäre äußerst aktuell, nichts abgestanden oder verstaubt.“1520 In einem vor Branchenvertretern gehaltenen Referat sagte Anemueller ebenfalls 1999, die Lebensreform sei „zeitgemäßer denn je“: „Holt zurück, was zeitlos Wert besitzt und den Menschen wirklich nutzt […].“ Anemueller sprach von den lebensreformerischen Ärzten Maximilian Bircher-Benner, Alfred Brauchle, Herbert Warning, Friedrich Landmann und Werner Zabel1521, „die den geistigen In1519 Zu Anemuellers Ernährungsempfehlungen MELZER, Vollwerternährung (wie Anm. 57), S. 344–354. 1520 Reformhaus-Kurier, Mai 1999, S. 38. – Ähnlich hieß es im September 2000 in einem Artikel über „100 Jahre Reformhaus“, den Begriff der Lebensreform beim Leser nicht mehr voraussetzend: „Ursprung war die Lebensreform, eine Bewegung, die das Ziel hat, die Gesamtheit aller Lebensabläufe in ihrer natürlichen Funktion zu erhalten und zu unterstützen. Der Mensch soll sich in dieses System einordnen, es sich zunutze machen, ohne es aber auszubeuten oder gar zu zerstören.“ Dieser letzte Satz erinnert an den in den neunziger Jahren und bis heute häufig propagierten Gedanken der „Nachhaltigkeit“. Reformhaus-Kurier, September 2000, S. 18. Die „100 Jahre“ sind von der Eröffnung des ersten Reformhauses, das auch „Reformhaus“ hieß, an gerechnet: des Reformhauses Heynen in Wuppertal-Barmen. Vgl. dazu oben S. 45. 1521 Zu Bircher-Benner vgl. oben S. 104, 111f.; zu Warning S. 152, 263; zu Zabel und Brauchle S. 104. Landmann war Arzt in der Obstbaukolonie in Eden-Oranienburg.

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halt klassischer Diätetik in die Lebensreform mit einbezogen haben, getragen von einer gemeinsamen Ideologie Lebensreform. Schon zieht sich Dunkel über viele diesbezüglich verdienstvolle Namen zusammen und dies müßte aufgehalten werden.“ Es gelte, „dem an geistiger Substanz laufend verlierenden Zeitgeist wirklich etwas entgegen[zu]setzen“: „Wehrt Euch also gegen die Ansicht, die Idee und Kultur der Lebensreform trüge einen Zopf, sei verstaubt, altmodisch und man könne mit ihr nicht mehr viel anfangen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie wird aufblühen und wiederkommen, denn immer mehr Menschen suchen sinnvoll überlieferte Werte.“1522 Anemueller starb ein Jahr später. Franz Thiemann, der letzte Repräsentant der „Generation Reformhaus“, starb ebenfalls im Jahr 2000 in seinem 94. Lebensjahr. Zwischen dem, was die Lebensreform jahrzehntelang propagiert hatte, und dem Konzept der Wellness gab es durchaus inhaltliche Überschneidungen. Immerhin einte beide das Streben nach Gesundheit im Sinne eines individuellen Wohlbefindens. Die Lebensreform hatte schon immer auch auf die persönliche Gesundheit des Individuums geblickt. Ernährung, und Körperpflege gehörten zu jeder Zeit zu den zentralen Themen der Reformzeitschriften. Viele Konzepte, die sich um das Ziel der Gesundheit des einzelnen rankten, waren somit im Gegensatz zum Streben nach einer gesünderen Gesellschaft nicht etwa verschwunden, sondern im Gegenteil zu Allgemeingut geworden. Diese Gedanken der Lebensreform waren in den neunziger Jahren endgültig in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen, während ihre gesellschaftsreformerischen Konzepte nach einem Aufblühen in den siebziger und achtziger Jahren verblaßten. Auch die Vorstellung der Ganzheit, wie sie die Lebensreform im gesamten 20. Jahrhundert propagiert hatte, fand sich in der Werbung für neue, oft rein künstliche Präparate wieder, die „natürliches“ Wohlbefinden versprachen. Wenn Fitness-Magazine von Ganzheitlichkeit schrieben, dann zielten ihre Texte aber nicht auf alle drei Ebenen der Ganzheit wie die Lebensreform1523, sondern fast ausschließlich auf den Einklang von Körper, Geist und Seele. Die Zeitschrift Fit for Fun schrieb im Mai 1994 in ihrer ersten Ausgabe: „Das Fitness-Modell der Neunziger ist ganzheitlich, berücksichtigt neben dem Körper verstärkt auch die Seele.“1524 Der „ganze Körper“ und der Einklang von Mikro- und Makrokosmos kommen in Fitness-Magazinen kaum vor. Auch viele Themen aus klassisch lebensreformerischen Gebieten, vor allem aus der Naturheilkunde, erschienen, eklektisch ausgewählt, in Wellness-Zeitschriften. Wenn die Hefte über Fango-Pakkungen, Wasseranwendungen, Akupunktur und Akupressur berichteten, geschah das aber ausschließlich mit Blick auf das persönliche Wohlbefinden und ohne gesellschaftsreformerischen Ansatz. Die Kundenzeitschriften der Reformhäuser erkannten und nutzten die Übereinstimmungen zwischen der Wellness-Mode und den eigenen Überzeugungen, die sie mittlerweile ohnehin nicht mehr sonderlich konturiert propagierten. Die 1522 Reformhaus-Echo, Mai/Juni 1999, S 14f., 23. 1523 Zu den drei Ebenen der Ganzheit oben Kapitel 4.2.2., 4.2.3. und 4.2.4., S. 287ff. 1524 Fit for Fun, Mai 1994, S. 73.

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Themen bewegten sich nun rund um Rezeptvorschläge, Verbraucherschutz, Diät, Schlankheit, Kosmetik, Sport, Allergien und Krankheiten wie Rheuma, Tinnitus oder Magersucht. Fast alles war persönlich gefaßt, auf den einzelnen Konsumenten ausgerichtet. Das gilt auch für das Thema Umweltverschmutzung, das weiterhin, wenn auch weniger oft, in den Heften auftauchte. In einem Artikel über „Umweltverschmutzung durch Elektro-Smog“ ging es vor allem um die Folgen für den einzelnen, der in der Nähe eines Sendemastes lebte.1525 In einem Text über Solaranlagen stand der „Wunsch, das Haus von Atomstrom zu befreien“, im Vordergrund1526, und auf die Windkraft bezogen schrieb der Reformhaus-Kurier, wer einmalig 20.000 Mark in einen Windpark investiere, decke damit „auf Dauer seinen gesamten Energieverbrauch völlig schadstofffrei“.1527 Im Oktober 2000 warb die Zeitschrift dafür, auf „Ökostromversorger“ umzusteigen: Die Bundesregierung habe zwar den Atomausstieg beschlossen, den Kernkraftwerken aber eine Restlaufzeit zugestanden: „Wer persönlich schneller aussteigen will, der hat seit der Liberalisierung des Strommarktes im April 1998 die Möglichkeit dazu.“1528 Alle diese Artikel richteten sich an den einzelnen, der sein Wohlbefinden steigern konnte, wenn er versuchte, „Atomstrom“ oder Strahlung zu vermeiden. Unmittelbar auf die Gesellschaft bezogene Aussagen, wie sie noch in den achtziger Jahren üblich waren, fehlten selbst in solchen im weitesten Sinne „ökologischen“ Artikeln. Das einzige, was von der unmittelbaren Sorge um die äußere Natur blieb und nicht stärker anthropozentrisch als zuvor formuliert wurde, war der Tierschutz. Schon bald fanden sich in Reformzeitschriften auch Beiträge über Fitness und Wellness. So brachte der Reformhaus-Kurier im Januar 2002 das Thema „WinterWellness“ auf das Titelblatt.1529 Im Januar 1997 wies die Zeitschrift angebliche Vorurteile gegen Fitness-Studios zurück, denn sie brächten „Spaß, ganzheitliche Fitness, Streßabbau, Prävention und unterstützendes Training z. B. bei Rückenproblemen“.1530 Die in Oranienburg erscheinenden Edener Mitteilungen rezensierten im Frühjahr 1997 die „Forever Young“-Bücher des Fitness-„Propheten“ Ulrich Strunz und beurteilten sie äußerst positiv.1531 Die Reformzeitschriften, die nicht mehr für eine Reformbewegung standen und sich nicht mehr in erster Linie an lebensreformerisch denkende Kunden wandten, paßten sich also dem Stilwandel an, auch wenn ihre Semantik im Vergleich zu den neuen Magazinen vielfältiger und ihre Syntax komplexer blieb. Im wesentlichen, so empfand es die ReformRundschau, ging es doch beiden, den Reformhäusern und den Protagonisten von Fitness und Wellness, um dasselbe: um Lebendigkeit, Gesundheit und Wohlbefinden. Unter der Überschrift „Wellness … nur ein Zauberwort?“ schrieb die Zeitschrift im März 2003: 1525 1526 1527 1528 1529 1530 1531

Reform-Rundschau, September 1993, S. 37–40. Reformhaus-Kurier, September 1999, S. 16f. Reformhaus-Kurier, September 1998, S. 24f. Reformhaus-Kurier, Oktober 2000, S. 44. Reformhaus-Kurier, Januar 2002, S. 1. Reformhaus-Kurier, Januar 1997, S. 32–34. Edener Mitteilungen, März/April 2002, S. 42f.

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„Es springt uns auf Werbeplakaten, auf Urlaubsversprechungen entgegen, und doch findet man dahinter altbekannte positive Begriffe wieder. Hatte man nicht schon immer mehr fürs Wohlbefinden und für die körperliche Leistungsfähigkeit tun wollen, sogar bereits getan? Nicht erst Pfarrer Kneipp lehnte sich an die Erfahrung, dass Körper und Befinden eine Einheit sind, die man pflegen und bei Gesundheit erhalten muss. Der Begriff WELLNESS ist zusammengesetzt aus ,well-being‘, das heißt sich wohl fühlen und aus ,fitness‘, die Steigerung der körperlichen und auch geistigen Leistungsfähigkeit. Geht man dem Begriff auf den Grund, so verspricht er all das Positive, das jedermann sich heute wünscht, erhofft und vor allem selber mitgestalten kann.“1532

Der Priester und Heilkundige Sebastian Kneipp aus Wörishofen, 1897 gestorben und eine der wichtigsten Referenzfiguren der Lebensreform, einer ihrer „Propheten“, hatte, so stellte es die Reform-Rundschau dar, also auch nichts anderes gepredigt als das, was jetzt, bunt verpackt, als Wellness den Markt beherrschte.1533 Schon immer hatte sich die Reformbewegung ohne große Mühen an die jeweilige Gesellschaft angepaßt. Diesmal aber war es so, daß die Lebensreform in ihrer bisherigen, das Netzwerk konstituierenden Gestalt nicht mehr in die grundlegend veränderte Gesellschaft paßte, in der alles dezidiert „Ideologische“ nach dem Niedergang des Kommunismus und im Zuge der fortschreitenden Globalisierung keinen Platz mehr zu haben schien. Indem sie sich auch diesmal anpaßte, auf der Wellness-Welle mitschwamm und dabei zuließ, daß viel Eigenes fortgespült wurde, verlor sie immer mehr an Kontur. Die Ganzheit stand inzwischen für kaum mehr als den Slogan Body & Soul, die Natur war nicht mehr wie früher eine verläßliche Größe, und der Reformgedanke mit seinem Fokus auf die Gesellschaft hatte sich aufgelöst. Hinter dem Wort „Gesundheit“ ist ein neuer Gesundheitsbegriff entstanden. Das Ziel eines gesünderen Lebens hat sich individualisiert, vom Weltanschaulichen gelöst. Die Lebensreform ist zu einem Anbieter unter vielen geworden. Ohne Definitionshoheit für den sie einst konstituierenden Begriff der Gesundheit hat sie aufgehört, als Lebensreform zu existieren. Heute streben mehr Menschen als je zuvor nach einem gesunden, einem gesünderen Leben. Die Hoffnung auf mehr Gesundheit führt sie an viele Orte, manche von ihnen mitunter auch in ein Reformhaus.

1532 Reform-Rundschau, März 2003, S. 22. 1533 Die Nähe von Anbietern der Reform und der Wellness zeigte sich auch auf einer „ersten Messe rund ums Wohlbefinden“ in Frankfurt am Main, die erstmals im Jahr 2001 stattfand. Dort präsentierten sich einige hundert Anbieter, unter ihnen nicht nur Sauna- und Whirlpoolhersteller, verschiedene Sportbekleidungsfirmen und der Verlag der Zeitschrift Fit for Fun, sondern auch der „Deutsche Naturheilbund“ und der „Kneipp-Bund“. Letzterer warb auf der Messe für sein markengeschütztes Konzept der „Kneippness“: Der Pfarrer Kneipp sei doch recht eigentlich „der Erfinder der Wellness“ gewesen, hieß es. Vgl. FLORENTINE FRITZEN, Der neue Boom der Messen. Erste Ausstellung zu Wohlbefinden, in: Frankfurter Neue Presse vom 26. Oktober 2001, S. 3.

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5. Das Netzwerk löst sich auf

6. ZUSAMMENFASSUNG Gesundheit, verstanden als ein ganzheitliches Zusammenspiel des Menschen mit der ihn umgebenden Natur, war Zielbestimmung und Richtlinie der Lebensreformbewegung. Zugleich wußten die Reformer sehr wohl, daß sie diesen Idealzustand nie erreichen konnten. Mit Hilfe der Idee eines gesünderen, nicht eines vollständig gesunden Lebens versuchten sie, die Gesundheit des einzelnen Menschen und die Gesundheit der Gesellschaft dem Richtwert einer vollkommenen Gesundheit anzunähern. Ein gesünderes Leben für den einzelnen und für alle erschien ihnen als möglich, und zwar in der wirklichen, verbesserungsfähigen Welt, im eigenen, verbesserungswürdigen Leben. Ein völlig gesundes Leben hingegen konnten nur jene Lebewesen führen, die rein instinktgeleitet lebten. Das aber war dem erwachsenen, sich seiner selbst bewußten Menschen verwehrt, so sehr er sich auch darum bemühen mochte. Das Konzept des gesünderen Lebens kennzeichnet die Reformbewegung über die Jahrzehnte hinweg. Seine lange Dauer macht die Lebensreform zu einem Phänomen fast des gesamten 20. Jahrhunderts. In den verschiedenen Epochen zeigte sich das gesündere Leben mit jeweils spezifischem Antlitz. Um die Jahrhundertwende strebten die Reformer nach einem anderen Leben, das sich vor allem über sein Gegenbild definierte: über das als ungesund empfundene Leben in der modernen wilhelminischen Gesellschaft, die den Lebensreformern als dekadent und destruktiv, vor allem aber als krank erschien. Der Gegenwart, die in ihren Augen von körperlicher, geistiger, sittlicher und sozialer Krankheit geprägt war, setzten sie eine andere Welt entgegen: ein „vegetarisches Zeitalter“, auf das sie mittels Aufklärung des Volkes über gesündere Lebensführung hinarbeiteten. Diese gesündere, andere Zukunft verlagerten die Texte der Jahrhundertwende oft ins Jahr 2000. In der Weimarer Republik rückte die „neue Zeit“, wie die Lebensreformer die erhoffte bessere Zukunft seit den zwanziger Jahren nannten, in der Wahrnehmung der Reformbewegung näher. Die Lebensreformer erwarteten sie jetzt unmittelbar, fühlten sich selbst – im Gegensatz zur nachhinkenden Masse des Volkes – sogar schon von ihr durchdrungen. Sie glaubten, mit Hilfe lebensreformerischer Praktiken und Produkte vitaler zu leben als andere Menschen, die noch der „herkömmlichen“ Lebensweise verhaftet waren, und betonten immer wieder die Lebendigkeit, die der „neuzeitliche“ Lebensstil dem Körper und dem Geist des einzelnen verleihe. Überhaupt war der menschliche Körper, war die „innere Natur“ des Menschen in jenen Jahren zentral, und man glaubte, daß über die Gesundheit der Einzelkörper auch der deutsche „Volkskörper“ gesunden könne. Diese Vorstellung verstärkte sich nach 1933 noch. Im Nationalsozialismus wurde für viele Lebensreformer die Zukunft zur Gegenwart, schien ihnen die erträumte „neue Zeit“ gekommen zu sein. Im Ziel einer Steigerung der Volksgesundheit lag die Gemeinsamkeit von Lebensreform und nationalsozialistischer Gesundheitsführung. Die

5.2. Das Ende der Ideologien und die neue Individualisierung

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Bewegung blickte aber immer auch auf die Gesundheit des einzelnen, nicht ausschließlich auf die Gesundheit des „Volkskörpers“ wie die Nationalsozialisten. Nach 1945, nach der Perversion der Körperkultur zum Körperkult und der Reduktion des Körpers auf Rasse und Blut, aus der der Mord an Millionen von Menschen gefolgt war, wandte sich die Lebensreform stärker der „äußeren Natur“ des Menschen zu, die fortan auch „Umwelt“ hieß. Ein gesünderes Leben stellten sich die Lebensreformer der fünfziger bis achtziger Jahre vor allem als ökologischeres Leben vor. Der Mensch mußte Verantwortung für die Natur übernehmen, die er mittlerweile so weit zerstört hatte, daß seine eigene Gesundheit von der „toxischen Gesamtsituation“ der Umwelt bedroht zu sein schien. Im Protest gegen die Umweltverschmutzung trafen sich die Ziele der Lebensreform mit denen einiger neuer Gruppen, vor allem der ökologischen Bewegung. Die sozialen Trägerschichten der Bewegungen einte über das Ziel eines ökologischeren Lebens hinaus nicht viel. Im Aufkommen der „neuen sozialen Bewegungen“ zeigte sich aber, daß viele Ziele der Lebensreform zunehmend zu Allgemeingut wurden, daß die Bewegung sich mit ihnen auf dem Weg in die „Mitte der Gesellschaft“ befand. Das traf vor allem auf die allgemein-gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Gesundheit und eine gesunde Lebensweise zu. Schon im Ersten Weltkrieg glaubten die Lebensreformer, einen gesamtgesellschaftlichen Durchbruch ihrer Ideen beobachten zu können, den sie freudig begrüßten. Sie sahen aber hinsichtlich des Wissens der Menschen über Gesundheit noch immer große Defizite. Insofern fürchteten sie nicht, überflüssig zu werden. Das blieb bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein so. Dann aber begannen die Erfolge lebensreformerischer Ideen die Existenz der Bewegung zu bedrohen. Die Lebensreform wurde zu einem Anbieter von unüberschaubar vielen. Ende der achtziger Jahre verlor die ökologische Bewegung an Bedeutung. Der Blick auf die Gesundheit der Gesellschaft schwand immer mehr aus dem tonangebenden Gesundheitsdiskurs, der sich zunehmend auf die persönliche Gesundheit des einzelnen verengte. Ein neuer Trend, der sich unter den Schlagwörtern der Wellness und des Wohlbefindens zusammenfassen läßt, ergriff den ins Unermeßliche wachsenden Gesundheitssektor. Der Verlust der Exklusivität führte zum allmählichen Niedergang der Lebensreform. Der Wandel in den Ideen und Produkten der Lebensreform wurde von Veränderungen in der Organisation und in den Organisationen ihres Netzwerks begleitet, ging diesen voraus oder wurde umgekehrt von ihnen angestoßen oder begünstigt. Im späten 19. Jahrhundert bildete sich aus einigen schon seit der Mitte des Jahrhunderts entstandenen Vereinen das lebensreformerische Netzwerk heraus, das die Inhalte gesünderen Lebens verbreitete. Die wichtigsten Strömungen innerhalb des Netzwerks waren zunächst die Naturheilbewegung und die vegetarische Bewegung. Um die Jahrhundertwende entwickelten sich aus ihnen heraus die ersten Vorboten der Reformwarenwirtschaft. Reformwarenhersteller und Reformgeschäfte produzierten und verkauften fortan die Waren, die für ein gesünderes Leben notwendig waren. In den zwanziger und dreißiger Jahren verfestigte sich die Reformwarenwirtschaft organisatorisch und schob sich nach und nach ins Zentrum des Netzwerks der Lebensreform. Die Naturheilbewegung und der Vegetarismus wurden allmählich unwichtiger. Im Jahr 1930 entstand die Neuform-Ge-

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5. Das Netzwerk löst sich auf

nossenschaft. Ihr gehörten schon Ende der dreißiger Jahre fast alle Reformhausbetreiber an. Die Reformwaren repräsentierten die Bewegung sichtbar, greifbar und eßbar, und die Reformhäuser wurden zu Treffpunkten der Lebensreformer. Im Gegensatz zu anderen lebensreformerischen Organisationen wurde die Reformwarenwirtschaft im „Dritten Reich“ nicht verboten oder in die Auflösung gedrängt, sondern sogar in mancher Hinsicht gefördert. Zugleich unterlag sie der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik. Im Zweiten Weltkrieg fielen viele Reformhäuser Bomben zum Opfer. Nach 1945 gelangen dann aber rasch ein Neuanfang und ein Wiederaufstieg der Branche, die sich in den folgenden Jahrzehnten ausweitete. In den achtziger Jahren erzielte die Reformwarenwirtschaft ihre höchsten Umsätze. In den neunziger Jahren mußten viele Reformhäuser schließen, und der Umsatz stagnierte oder ging leicht zurück. Wichtigstes Kommunikationsmedium der Reformwarenwirtschaft waren Zeitschriften. Die Organisationen der Branche hielten über Mitgliederzeitschriften zusammen. Nach außen, also ins Netzwerk im weiteren Sinne, gelangten die reformerischen Ideen mit Hilfe der Kundenzeitschriften der Reformhäuser, die es seit 1925 gab. Untrennbar mit dem Netzwerk verbunden waren auch eine Reihe von Personen. Die einen repräsentierten als lebensreformerische „Propheten“ die Ideen, die das Netzwerk verbreitete. Andere verkörperten und stützten die Bewegung und die Branche mit Hilfe ihrer Posten innerhalb der Lebensreform und der Reformwarenwirtschaft. Eine Generation war ganz besonders mit der Lebensreform verknüpft: die der um, meist kurz nach 1900 Geborenen. Sie begannen in den zwanziger Jahren ihr Berufsleben, erlangten in den dreißiger Jahren hohe Positionen innerhalb der Branche und gestalteten nach 1945 den Wiederaufstieg mit. Die meisten von ihnen zogen sich in den sechziger bis achtziger Jahren in den Ruhestand zurück. An ihrem Lebensende erhielten sie oft Auszeichnungen. Anläßlich ihrer runden Geburtstage wurden sie als „Pioniere“ der Lebensreform geehrt. Viele von ihnen veröffentlichten nach wie vor Texte in den Branchen- und Kundenzeitschriften. Sie prägten die Lebensreform also auch dann noch, als sie keine Positionen mehr innehatten. Die meisten Angehörigen der „Generation Reformhaus“ starben zwischen 1980 und 1990. Das ist ein weiterer Grund, weshalb sich um diese Zeit auch die Geschichte des lebensreformerischen Netzwerks ihrem Ende zuneigte.

QUELLEN UND LITERATUR

1. ARCHIVALISCHE QUELLEN

1.1. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, Witzenhausen Archivmappen A2–130/1 A2–130/12

Quickborn Quickborn

Archivschachtel Hugo Höppener Personenakten ID 41 ID 115 ID 185 ID 814 ID 1306 ID 1650 ID 1867 ID 1898 ID 2000 ID 2370

Werner Altpeter Hein Beba Kurt Großmann Arthur Gustav Gräser Ludwig Klages Erich Lüth Johannes Müller Gustaf Nagel Hans Paasche Hans Surén

1.2. Bundesarchiv, Berlin Bestände des Bundesarchivs Berlin NS 3 SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt R 58 Reichssicherheitshauptamt R 13/XXIX Wirtschaftsgruppe Einzelhandel R 13/XXX Wirtschaftsgruppe Gemeinschaftseinkauf Bestände des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin NSDAP-Mitgliederkartei RK Reichskulturkammer PK Parteikorrespondenz

1.3. Eden-Archiv, Oranienburg Ordner „Reformwarenwirtschaft“ und „Vegetarismus“

340

Quellen und Literatur 1.4. Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

S 3/R 1110 S 3/R 18.852

Reformhaus Boermel-Ernst Reformhaus Freya

1.5. Reformhaus-Fachakademie, Oberursel Gästebücher der Reformhaus-Fachschule Ordner „Geschäftspapiere“ Ordner „Geschichte Lebensreform, Neuform, Hersteller, Verschiedenes“

2. ZEITSCHRIFTEN Das Reformhaus, Jg. 1–5, 1926–1930 Das Reformwaren-Echo, Jg. 1, 1950 Der Mensch, Jg. 11–12, 1904–1905 Der Naturarzt, Jg. 42–112, 1914–1984 Der Reformwarenfachmann, Jg. 8–14, 1938–1944 Der Vegetarier, Jg. 23, 1890 Der Wendepunkt, Jg. 12–55, 1935–1978 Deutsche Reformwaren-Zeitung, Jg. 1, 1933 Die Lebenskunst, Jg. 15, 1920, Jg. 25–28, 1930–1933 Eden, Jg. 30–34, 1935–1939 Edener Mitteilungen, Jg. 27–29, 1932–1934, Neuausgabe ohne Jg., 1995–2002 Eden-Hauspost, Jg. 1–14, 1955–1968 Fachblatt für den Reformhausfachmann, Jg. 5–8, 1935–1938 Fit for Fun, Jg. 1–8, 1994–2001 Gefährten, Jg. 1–7, 1963–1969 Jugendkurier, Jg. 13–22, 1963–1972 Leib und Leben, Jg. 1–10, 1933–1942 Mazdaznan Monats-Zeitschrift, Jg. 7, 1934 Neuform. Mitteilungen an die Mitglieder der Neuform VDR e.G.m.b.H., Jg. 1, 1949 Neuform. Stimmen zur Selbstgestaltung eines neuen Lebens, Jg. 1–2, 1929–1930 Neuform-Echo Aktuell, Jg. 38–42, 1990–1994 Neuform-Echo, Jg. 1–37, 1952–1988 Neuform-Fachblatt, Jg. 1–3, 1950–1952 Neuform-Kurier, Jg. 1–37, 1951–1987 Neuform-Reformwaren-Echo, Jg. 1, 1951 Neuform-Rundschau, Jg. 6–12, 1931–1937 Neuform-VDR-Fachblatt, Jg. 1–5, 1931–1935 Neuleben, Jg. 7–9, 1933–1935 Reformhaus-Echo, Jg. 42–49, 1994–2000 Reformhaus-Kurier, Jg. 44–52, 1994–2002 Reform-Rundschau, Jg. 13–72, 1937–2003 Reformwaren-Echo, Jg. 1–2, 1951–1952 Thalysia, Jg. 20, 1887 Vegetarische Presse, Jg. 9–24, 1926–1941 Vegetarische Rundschau, Jg. 7–10, 1887–1890 Vegetarische Warte, Jg. 32–65, 1899–1932 Volk und Gesundheit, Jg. 1–2, 1942–1943 Volksgesundheit, Jg. 34, 1924

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PERSONENREGISTER Aderholdt, August 226 Adorno, Theodor W. 292 Agamben, Giorgio 328 Ahrens, Theodor 90 Altpeter, Werner 20, 116, 123, 128– 29, 133, 143–45, 148, 152, 156– 59, 178, 179, 196, 203, 216, 220, 223, 224, 230, 239, 247, 249, 250– 52, 262–64, 267–69, 280, 285, 305, 307, 310, 316–21, 322–23 Alz, Anneliese von der 144, 267 Anemueller, Helmut 332–33 Ariès, Philippe 14 Augustinus 226, 296 Bakel, E. 61 Baltzer, Eduard 38, 41, 71–77, 176, 293 Barlösius, Eva 39–42 Bartes, Karl 55, 70–77, 127, 130, 206 Barthes, Roland 18, 233 Bauman, Zygmunt 185 Baumgartner, Judith 38 Beba, Hein 143, 145–46, 156–58 Beck, Ulrich 327 Berg, Ragnar 104, 201 Bergson, Henri 198 Bernhard, Thomas 286 Bilz, Friedrich Eduard 43, 184–86 Bircher, Ralph 164, 280, 288, 303 Bircher-Benner, Maximilian Oskar 104, 146, 156, 164–65, 166, 169, 170, 204, 280, 289, 302, 332 Bismarck, Otto von 287 Blackbourn, David 39 Bloch, Marc 232 Blunk, Arthur 159 Bock, Gisela 248 Boermel, Robert 43–46

Bölsche, Wilhelm 311 Borchert, Wolfgang 275 Bormann, Martin 273 Boyle, T.C. 236 Brauchle, Alfred 104, 105, 332 Braudel, Fernand 15 Braun, Carl 44–45 Bretschneider, Richard 70–75 Brod, Max 246 Buddha 226 Buerdorff, Benno 182–88, 309 Byron, George Gordon 226 Conti, Christoph 271, 318 Conti, Leonardo 102–3, 106 Croy, Willy 152 Daniel, Ute 15 Darwin, Charles 311 Derrida, Jacques 18, 19 Diederichs, Eugen 311 Diefenbach, Karl Wilhelm 272 Dielmann, Karl 111, 112, 141, 143, 146, 157, 158, 177 Donath, Fritz 55 Düffel, John von 324 Duncan, Isadora 171 Eagleton, Terry 308, 327 Eichholtz, Fritz 260 Eitmann, Ellen 142 Elias, Norbert 13, 15, 301, 309 Erdmann, Hugo 299–301 Ernst, Marie 43–46 Fellisch, Fritz 114, 143, 146–47, 155, 156–58 Fidus (= Höppener, Hugo) 23, 272– 74, 319 Finke, Rudolf 133, 147 Forschepiepe, Hermann 71–75, 133, 143, 147–48, 156–58 Förster, Georg 71–76, 126, 205

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Personenregister

Foucauld, Charles de 296 Foucault, Michel 18, 21, 188, 231– 32, 234, 235 Franke, Karl-Heinrich 103, 230 Freud, Sigmund 292 Fritsch, Theodor 144 Fukuyama, Francis 327 Funk, Casimir 201–2 Gadamer, Hans-Georg 281 Gandhi, Mahatma 295 Garms, Paul 46 Gesell, Silvio 145 Gleich, Lorenz 302 Goebbels, Joseph 227, 229 Goethe, Johann Wolfgang von 199, 285–86 Gräser, Arthur, gen. Gusto 318 Gregor, Hans 59, 62, 89–90, 92, 111, 116, 127–28, 141, 143, 144, 148–49, 152, 154, 155, 156–58, 199, 203, 216–18, 225–26, 237, 240, 241–42, 244 Gregor, Johanna 148–49 Gregor, Waldgart 148 Großmann, Kurt 109, 121, 143, 149–50, 156–59 Grotzinger, Emil 236, 244, 246 Gründel, Günther 139, 156 Guardini, Romano 298, 310 Guevara, Che 273 Habermas, Jürgen 18, 259 Haeckel, Ernst 253, 293, 311 Haenisch, Konrad 190, 192, 234–35 Hahn, Johann Siegmund 168 Hahn, Theodor 226 Haig, Alexander 170 Hammer, Walter 275 Hampke, Fritz 83, 111, 149, 157 Hanish, Ottoman Zaradusht A. 66– 67 Haraway, Donna 327 Hau, Michael 32, 171, 300 Hauser, Gayelord 112, 165, 288 Heidegger, Martin 197 Hennig, Albert 274

Hensel, Julius 241 Hepp, Friedrich 165 Herbert, Ulrich 140 Heß, Rudolf 80, 104 Hesse, Hermann 145 Hessen, Robert 184, 287 Heynen, Carl August 45, 152 Hieronymus 226 Hitler, Adolf 78, 81, 82, 97, 219, 220, 227–29, 230 Hobsbawm, Eric 140 Hoffmann, Heinrich 228 Höppener Fidus, Elsbet 273 Höpping, Günter 129 Horkheimer, Max 292 Howard, Ebenezer 306 Hubert, Frieda 55 Huter, Carl 148 Jaspers, Karl 313 Jenge, Wilhelm 130 Jonas, Hans 256, 258, 307, 311 Just, Adolf 163–64, 168–69, 170, 187–88, 256–57, 291, 302, 314, 321 Just, Gustav 47 Juvenal 290 Kafka, Franz 163, 321 Kamphausen, Georg 235 Kerbs, Diethart 235 Kinz, Franziska 302 Klages, Ludwig 256–57, 274 Kneipp, Sebastian 162–63, 164, 168–70, 176, 335 Köhnlechner, Manfred 167, 168, 170, 258, 289, 294, 320, 321 Kollath, Werner 165–67, 261, 278– 79, 299, 308, 310 Körner, Karl 86 Kötschau, Karl 104, 105, 279, 284, 288, 305, 307, 308, 320, 326 Krabbe, Wolfgang 23, 37, 38, 40 Kristeva, Julia 18, 181 Kuhne, Louis 170 Künkel, Fritz 224 Kunzelmann, Dieter 268, 272

Personenregister Kurth, Hanns 288 Lacan, Jacques 18 LaCapra, Dominick 13 Lagarde, Paul de 39 Lahmann, Heinrich 184, 281, 302 Landmann, Friedrich 332 Langbehn, Julius 39 Langhans, Rainer 268 Lauffs, Günther und Walther 159 Ley, Robert 219 Liebe, Alfred 59, 69, 79, 82–83, 86– 88, 92–93, 96, 100–101, 110, 143, 146, 150–51, 154, 157–60, 222, 251 Liebe, Hans-Joachim 151 Liebe, Heinz-Dieter 151 Lieken, Fritz 152 Lihotsky, Grete 294 Lindner, Martin 194, 198, 246, 285 Linse, Ulrich 289 Lobbedey, Alfred 106, 143, 146, 151, 155, 159, 157–61 Lobbedey, Hilde 151 Ludendorff, Erich 80 Luhmann, Niklas 17 Lüth, Erich 275–76 Mann, Ernst 143, 151–52, 156–61 Mann, Thomas 194, 199, 200, 233 Mannheim, Karl 139–40 Mao Tse-Tung 273 May, Ernst 295 Mohr, Klaus 270 Montesquieu, Charles de 304 Müller, Hanns Georg 65–66, 67, 69– 77, 81, 84, 92, 94–103, 132, 141, 164, 218–19, 222 Müller, Johannes 277 Musil, Robert 28 Nagel, Richard 226 Neuhaus, Paul 69, 88, 102, 103, 114, 143, 146, 150, 152–53, 154, 155– 59, 155–61 Nietzsche, Friedrich 39, 232 Noack, Walter 159 Nolte, Paul 317

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Owen, Robert 272 Paasche, Hans 274–75, 304 Paasche, Hermann 274 Pettenkofer, Max von 294 Picker, Henry 228 Platon 226 Prießnitz, Vinzenz 105 Pudor, Heinrich 294 Pythagoras 226 Radkau, Joachim 32 Raschke, Joachim 34–35, 38–39, 316 Regin, Cornelia 39 Rentsch, Arno 274 Reulecke, Jürgen 141, 235 Reventlow, Ernst zu 80 Riefenstahl, Leni 243 Rohkrämer, Thomas 32 Rolland, Romain 295 Rorty, Richard 328 Rosenberg, Alfred 80 Rousseau, Jean-Jaques 310 Sarasin, Philipp 25, 32 Schipperges, Heinrich 256 Schirach, Baldur von 228 Schlange-Schöningen, Hans 242 Schlickeysen, Gustav 226 Schmid, Wilhelm 259, 329 Schmidt, Gustav 130 Schoenenberger, Walther 57, 69, 91, 99, 103, 110–13, 120, 143, 150, 153–55, 156–60, 254 Schopenhauer, Arthur 226 Schwabe, Emil 128–30 Schwarz, Georg Erwin 106, 143, 155 Schweninger, Ernst 287 Shelley, Percy Bysshe 226 Sieferle, Rolf Peter 297 Sokrates 226 Sombart, Werner 150 Spengler, Oswald 306 Spohr, Wilhelm 274 Stöckmann, Theodor 302 Stollberg, Gunnar 39

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Personenregister

Streicher, Julius 80, 105 Strobel, Käte 133 Strünckmann, Karl 61, 146, 148, 156, 198, 241 Strunz, Ulrich 167, 168, 170, 303, 334 Struve, Amalie 226 Struve, Gustav 226 Studt, Karl 57 Surén, Hans 242 Teufel, Fritz 268 Thiemann, Franz 114, 116, 143, 155–56, 156–59, 161, 333 Titzmann, Michael 18 Tolstoi, Leo 226 Ungerer, Otto 159 Ungewitter, Richard 249–50 Usborne, Cornelie 248

Venzmer, Gerhard 201–2, 202, 203 Vogel, Martin 96 Voltaire 226 Wachtelborn, Karl 199 Waerland, Are 165, 169–70 Waerland, Ebba 165 Wagner, Gerhard 104–5 Warning, Herbert 129, 152, 263, 332 Weber, Max 162, 168 Weizsäcker, Carl Friedrich von 258 Whorton, James 187 Wolf, Friedrich 202, 231, 272, 278, 287 Wolf, Hermann 62 Wyneken, Gustav 275 Zabel, Werner 104, 332 Zimmermann, Werner 270

FRANKFURTER HISTORISCHE ABHANDLUNGEN Herausgegeben von Johannes Fried, Lothar Gall, Notker Hammerstein, Heribert Müller, Ulrich Muhlack, Werner Plumpe, Marie-Luise Recker, Luise Schorn-Schütte _________________________________________________________________________ Noch lieferbare Bände: 02. Uta Krüger-Löwenstein: Rußland, Frankreich und das Reich 1801–1803. Zur Vorgeschichte der dritten Koalition. 1972. XII, 150 S., 6 Taf., kt. 0575-7 03. Peter Domann: Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II. Die Auseinandersetzung der Partei mit dem monarchischen System, seinen gesellschafts- und verfassungspolitischen Voraussetzungen. 1974. VIII, 244 S., kt. 1787-9 06. Elsbet Orth: Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter. Fehderecht u. Fehdepraxis im 14. u. 15. Jahrhundert. 1973. X, 209 S., 5 Faltktn., kt. 0578-1 07. Joachim Ehlers: Hugo von St. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts. 1973. X, 246 S. m. 2 Abb., 1 Taf., kt. 1201-X 08. Paul Kluke: Außenpolitik und Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze zur englischen und deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Hellmut Seier u. Dieter Rebentisch. 1974. VIII, 273 S., kt. 1826-3 09. Lothar Dralle: Der Staat des Deutschen Ordens in Preußen nach dem II. Thorner Frieden. Untersuchungen zur ökonomischen und ständepolitischen Geschichte Altpreußens zwischen 1466 und 1497. 1975. X, 200 S., kt. 1863-8 12. Hans-Michael Möller: Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jhs. 1976. X, 288 S., 8 Abb., kt. 1995-2 13. Günter Barudio: Absolutismus – Zerstörung der „libertären Verfassung“. Studien zur „Karolinischen Eingewalt“ in Schweden zwischen 1680 und 1693. 1976. XII, 248 S., kt. 2362-3 14. Ernst Ritter: Das Deutsche AuslandInstitut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit

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FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART ISSN 0170-3226