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German Pages [270] Year 2017
Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft Herausgegeben von Heinrich Berger, Gerhard Botz, Stefan Karner, Helmut Konrad, Siegfried Mattl (†), Barbara Stelzl-Marx, Andrea Strutz, Ingo Zechner Band 4
Stefan Karner · Gerhard Botz · Helmut Konrad (Hg.)
Epoch en brüch e im 20. Jah rhun dert Beiträge
2017 B Ö H L AU V E R L AG W I E N KÖ L N W E I M A R
Gedruckt mit Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Das Umschlagbild wurde der Publikation Stefan Karner, Gerald Schöpfer (Hg.), „Als Mitteleuropa zerbrach“, Graz 1995, entnommen. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Dieter Bacher, Graz Korrektorat: Florentine Kastner, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20504-3
Inhalt Stefan Karner: Epochenbrüche im 20. Jahrhundert – Einleitung . . . . . . . . .
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1917–1919
Helmut Konrad: Die „Bruchlinie 1918“ – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . 17 Daniel Marc Segesser: 1918, a global caesura? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Hannes Leidinger: Der Erste Weltkrieg als eine mediengeschichtliche Zäsur? Gedanken zu einer kontroversiellen Forschungsdebatte. . . . . . . . . . . . . . . 35 Walter M. Iber: „… eines der Länder, welche den allermittelmäßigsten finanziellen Ruf auf der Welt haben.“ Währung und Staatsfinanzen in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. . . . . . . 55 Bernhard Bachinger: Bulgarien – Der Balkanstaat im Umbruch 1918/1919 . . . 71
1945
Gerhard Botz: 1945: Viele Brüche und Kontinuitäten – ein „Epochenbruch“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Tim Kirk: New Economic Orders. Nazi Plans for Post-War Europe and British Responses. . . . . . . . . . . . . . . 95 Kurt Bauer: 1945: Kontinuität trotz Bruch in lebensgeschichtlichen Erzählungen von zwölf Nationalsozialisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Dieter Bacher: Das Kriegsende 1945 als „Zäsur“ in der Biografie ziviler Zwangsarbeiter in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
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Inhalt
Boris Chavkin: 1945 als Epochenbruch. Die innere und äußere Seite des Spätstalinismus 1945–1953. . . . . . . . . . . 135 Brigitte Heller: Unternehmensführung in Zeiten politischer Systembrüche. Der Compass-Verlag 1938 bis 1947. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
1989–1991
Helmut Altrichter: 1989/91 – Der Zusammenbruch der Sowjetunion . . . . . 187 Manfred Wilke: Gorbatschow und die deutsche Frage 1985–1989 . . . . . . . 193 Mark Kramer: Russland, der Niedergang des sowjetischen Banken- und Finanzsystems und der Zusammenbruch der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . 209 Peter Teibenbacher: Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern. Hajnal, Demografische Krise und die Postmoderne (1985/90–2015) . . . . . . 227
SCHLUSSBETRACHTUNG
David Reynolds: Endings and beginnings in the international history of Europe’s „Short“ 20th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
ANHANG
Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Autorenverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
Stefan Karner
Epochenbrüche im 20. Jahrhundert – Einleitung
Thema des Bandes ist ein Forschungsfeld, mit dem sich die vier Institute des Clusters Geschichte bereits auf verschiedene Weise und über verschiedene Zugänge, nicht zuletzt in einer gemeinsamen Konferenz vor vier Jahren in Graz auseinandergesetzt haben: Es sind Aspekte jener Schnitt- und Schlüsseljahre, die das Ende des 2. Weltkrieges und den Beginn der tiefgehenden Teilung Europas markieren und die – nach Iván T. Berend und Eric Hobsbawm – das „kurze“ 20. Jahrhundert einleiteten bzw. beendeten, oder nach Francis Fukuyama, sehr missverständlich, gar das „Ende der Geschichte“ (gemeint war die ebenso wenig zutreffende Prophezeiung vom Ende der Ideologien) einleiteten. Die drei Einkerbungen 1917/18, 1945 und 1989/91 waren ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht die wesentlichen Zäsuren (lat. caesura für Einschnitt, Bruch, auch Hieb) des 20. Jahrhunderts. Dennoch galt es zu hinterfragen, inwiefern eben die drei ausgewählten „Wendejahre“ nicht nur Brüche waren, sondern in den Bereichen von Politik, Wirtschaft, Militär, Gesellschaft und Wissenschaft eben auch Kontinuitäten zeitigten, die teilweise bis heute wirken. Fragen, die in den einzelnen Beiträgen unterschiedlich und unter Auswahl verschiedener Teilaspekte im europäischen, von Daniel Marc Segesser und David Reynolds auch außereuropäischen Kontext unterschiedlich und unter Auswahl verschiedener Teilaspekte beantwortet und diskutiert werden. Daraus resultiert zunächst die Vermessung des Begriffs der Epoche. Im historischen Denken seit dem 19. Jahrhundert benennt die „Epoche“ eine Periode, die allgemein anerkannte, bedeutende Ereignisse und Zustände aufweist und durch markante Zäsuren von anderen Epochen abgegrenzt wird. So haftet dem Begriff der Epoche meist etwas von „Großartigkeit“ an, wie die „Belle Epoque“ in der Kultur- und Kunstgeschichte. In dem großen zeitlichen Ordnungsschema von Antike – Mittelalter – Neuzeit hat der Begriff „Epoche“ eine eher in der Populärwissenschaft und im Alltagsgebrauch weiter wirkende Ausprägung erhalten, die von neueren (wirtschafts-, sozial- und kulturhistorisch orientierten) Geschichtsdarstellungen skeptisch angesehen und daher eher vermieden wird. Die internationale Historiographie rekurriert also weniger auf den Epochenbegriff, der historische „Ganzheitlichkeit“ impliziert, sondern zieht – vor allem bei großräumigen Perspektiven – differenziertere, längsschnittartige, zeitübergreifende oder chronologisch quer liegende thematische Unter-
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scheidungen vor. So ist „Epoche“ mehr oder weniger von „Jahrhundert“, verstanden nicht als strikt kalendarischer Zeitabschnitt, verdrängt worden. In diesem Sinne wird „Jahrhundert“ als Einheit einer kontinuierlichen Entwicklung und mit „(epochen) typischen“ Gesamtmerkmalen – etwa „Extreme“ oder „Imperialismus“ – gedacht, es ist zu einer Art historischem „Leitbegriff“ geworden. Die Erfolgsstory und breite Akzeptanz der Begrifflichkeiten von dem „kurzen 20. Jahrhundert“ oder dem „langen 19. Jahrhundert“ spricht dafür. Obwohl gerade diese dicta deutlich zu hinterfragen sind. So wäre zu fragen, ob nicht erst die Einkerbung von „9/11“ im Jahre 2001, also 10 Jahre später, den Beginn des neuen, des 21. Jahrhunderts, global und für Europa, besser kennzeichne, als 1989/91, weil, wie dies Marianne Kneuer bezeichnet, „Nine Eleven“ einen enormen Rückschlag für Demokratie, Freiheitsrechte und Liberalität in der gesamten Welt bedeuteten. Seine Fernwirkungen, vom politischen Islamismus über den sogenannten „arabischen Frühling“ bis zum größten Migrationsbewegung aus dem arabischen Raum in Richtung Europa, den Fragen der Verteidigung europäischer Grund- und Freiheitswerte, der Stellung der Frau in der Gesellschaft und den riesigen Problemfeldern von Integration und Solidarität. Sie werden Europa und der Welt schon in wenigen Jahren ein neues Gesicht geben. „Epoche“ als historiographischem Großbegriff sind dagegen auch andere geschichtstheoretische und empirisch-deskriptive Probleme immanent, die bei der Verwendung dieses Begriffs zu bedenken sind. „Epoche“ impliziert scharfe Grenzen zwischen verschiedenen „Zeitspannen“, was zu dem, streng genommen eigentlich tautologischen Begriff des „Epochenbruchs“ geführt hat (denn Epoche bedeutet, vom Altgriechischen herkommend, ursprünglich nicht einen Zeitraum, sondern den „Haltepunkt“ zu etwas Neuem in einem noch zyklisch gedachten Zeitenlauf ). Zäsuren zur Grundlage historischer Untersuchung zu machen bedeutet jedoch, historische Wendezeiten, Friedensschlüsse, beschleunigte Transformationen, Revolutionen u. dgl. in ihrer spezifischen Dynamik und Kontinuitätseinbindung tendenziell unterzubelichten. Gerade solchen Übergangsphasen wie den jahrelangen „Nachkriegen“ nach 1918 oder nach 1945 wird, so erhellend ihre Erforschung auch sein könnte, oft zu wenig Interesse entgegen gebracht. Wie andererseits auch ein erweitertes Konzept von Epochenbruch innovativ werden kann, belegt etwa Kosellecks „Sattelzeit“ für die Wandlungsvorgänge jeweils etwa drei Jahrzehnte vor und nach 1800. Zäsuren, Diskontinuitäten, Strukturbrüche oder „Wendejahre“, die durchaus als Bausteine einer prozessual verknüpften und quellenbasierten Geschichte Bedeutung haben können, sind als isolierte Daten wenig aussagekräftig. Ihr jeweiliger historischer Stellenwert erwächst ihnen nur aus der Verbindung mit dem, was sich vom Vorher ins Nachher geändert hat, und aus den jeweiligen Fragestellungen und Erklärungskontexten. Andernfalls bleiben sie Datenballast.
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Daher sind Epochengliederungen und andere historiographische Periodisierungen, etwa von einer Nationalgeschichte auf eine andere Nation oder Kultur oder auf eine europäische oder Globalgeschichte (oder umgekehrt), nicht einfach übertragbar. Analoges gilt etwa für sozial- und kulturgeschichtliche Themen, wo große, wesentliche Zäsuren nicht die erwähnten drei großen Schnitt-Jahre, sondern etwa die Jahre der Einführung der „Anti-Baby-Pille“, der intellektuellen Brüche um „1968“ oder die weltwirtschaftlichen Krisenjahre 1973/77 („Ölkrisen“) und der intellektuelle Aufschrei des Club of Rome waren. Die Jahre 1918/19 als erster „Epochenbruch“ bedeuteten etwa nicht nur das Ende von vier bis dahin bedeutenden Imperien in Europa, Russlands, Österreich-Ungarns, des Osmanischen Reiches und des Deutschen Reiches. Sie markierten zugleich auch die „Geburt“ neuer Staaten, die durch den Zerfall der multiethnischen Reiche ihre, teilweise bereits lange gehegte und erkämpfte, staatliche Unabhängigkeit erlangten, wie die Tschechoslowakei, Ungarn, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, die baltischen Staaten, Polen oder Weißrussland und die Ukraine. Dabei lässt sich in einigen Fällen die politische „Zäsur“ nicht allein auf diese beiden Jahre reduzieren, weil diese bereits wesentlich früher begann und erheblich später endete. Der Transformationsprozess dauerte in der Realität länger, oft erlebte er herbe Rückschläge und wurde erst nach einem zweiten, ja dritten Schnittjahr abgeschlossen. Dies gilt mit Einschränkungen etwa für das Baltikum oder die Ukraine. Spricht man von 1917/1918 als politischer „Zäsur“, denkt man unweigerlich auch an den Übergang von „monarchistischen“ zu „republikanisch-demokratischen“ Systemen in Europa. Der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel wird im Band wiederholt angesprochen. Dabei wird unterstrichen, dass auch die während dieser „Zäsur“ geschaffene Neuordnung in ihrer Fortentwicklung zu den später etablierten totalitären Systemen, etwa den Räterepubliken im späteren sowjetischen Raum führte. Die Beiträge zum ersten großen Einschnitt im kalendarischen 20. Jahrhundert, den Jahren 1917/18, konzentrieren sich auf den Bereich Österreich-Ungarns und Bulgariens und lassen Russland, das Deutsche oder das Osmanische Reich außen vor. Auf verschiedene Art und Weise nähern sie sich der Fragestellung, inwieweit diese Phase, ja selbst der engere Zeitraum zwischen 1917 und 1922, als „Bruch“ gewertet werden kann. Daniel Marc Segesser wählt in seinem Beitrag eine breite, globale Herangehensweise und stellt, ausgehend von den Ereignissen in Europa, die Frage nach einer „globalen Zäsur“ 1918. Als Beispiele für seine Suche nach einem Zäsurjahr außerhalb Europas wählt er den Mittleren Osten, die britischen Kolonien, den asiatischen Raum (mit Fokus auf Japan und China) sowie Afrika (anhand der Beispiele Tansania, Südafrika und Französisch-Westafrika). Dabei kommt er zum Schluss, dass 1918 als „Zäsur“ zwar auch aus einer globalen Perspektive zu argumentieren ist, dass
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es aber auch wesentliche Entwicklungen, speziell in den britischen Kolonialreichen, in Afrika, in China und in Japan, gab, aufgrund derer der epochale „Bruch“ dort erst einige Jahre später anzusetzen ist. Oder, wie für Indien, überhaupt erst nach 1945. Segesser bleibt im großen Maßstab ambivalent: Die Jahre um 1918 waren beides, epochenbildende, tiefe Einschnitte, und gleichzeitig waren sie dies auch nicht. Hannes Leidinger analysiert die Rolle des Ersten Weltkrieges als „Zäsur“ aus mediengeschichtlicher Sicht. Er zeigt in seinem Beitrag zwar auf, dass dieser Krieg in zahlreichen Aspekten durchaus neue Entwicklungen in Kommunikation, Propaganda und Kunstschaffen bedingte, dabei aber zahlreiche, schon zuvor etablierte Denk-, Moral- und Handlungsmuster bestehen blieben. Man denke an die Entwicklung des Zeitungsmarktes oder die (eher ablehnende) Diskussion zur breiten Integration von Frauen ins Erwerbsleben (aus der kriegswirtschaftlichen Notwendigkeit heraus). Gerade am Mediensektor zeige sich, so Leidinger, dass man für diese Schnittjahre vielfach eher von Kontinuitäten als von einem allgemeinen „Bruch“ sprechen könne. Walter Iber hingegen behandelt in seinem Beitrag die „Zäsur 1918“ am Beispiel der Entwicklung der österreichischen Staatsverschuldung aus wirtschaftshistorischer Sicht. Er analysiert auf Basis des sprunghaften Anstiegs der Staatsschuld als Folge des Ersten Weltkrieges den folgenden Staatsbankrott, die Sparpolitik der 1920er Jahre und die finanzielle Sanierung des Nachfolgestaates Österreich und analysiert, inwiefern 1918 eine Zäsur in der österreichischen Finanzpolitik darstellte und es (mit ausländischer Hilfe) gelang, die finanzielle Krise des Staatshaushaltes in den Griff zu bekommen. Interessant ist auch der Vergleich, den Iber zu den Entwicklungen in Österreich nach dem zweiten „Bruch“ 1945 zieht, wenn er feststellt, dass die Siegermächte nach 1945 gegenüber 1918 auch im finanziellen Bereich ganz wesentlich „dazugelernt“ hätten. Zu einer ebenfalls stärker eingeengten, dafür in der Analyse detaillierte Perspektive greift Bernhard Bachinger in seinem Beitrag zu Bulgarien. Er skizziert die Entwicklungen Bulgariens von 1915 bis 1918 aus vor allem politischer und militärischer, aber auch gesellschaftlicher Perspektive. Anhand seiner Darstellung zeigt sich, dass zwar das Jahr 1918 in diesem Beispiel als klarer „Bruch“ mit der Zeit davor zutage tritt, die Entwicklungen aber, die zu diesem „Bruch“ führten, bereits weit vor diesem Jahr einsetzten. Der Wandel in Bulgarien um das Jahr 1918 kann daher nicht auf dieses eine Jahr reduziert werden. Bachinger liefert damit ein interessantes Beispiel dafür, dass als „Brüche“ betrachtete Zeitabschnitte nicht nur auf einzelne Jahre reduziert werden können, sondern die Entwicklungen, die in solchen Umbrüchen kulminieren, oft weit zurückreichen. Der zweite „Epochenbruch“, dem sich die Beiträge widmen, ist das Jahr 1945. Dieses markiere, wie immer wieder betont wird, eine große „Zäsur“, nicht nur in
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Bezug auf Europa. Das Ende des Weltkrieges in Zentraleuropa im April/Mai 1945 und das Ende des Krieges im Pazifik und in Fernost Anfang September 1945 führten zur totalen militärischen Niederlage Deutschlands und Japans, zum Ende des NS-Regimes und zum Ende der Vorherrschaft Japans in Fernost. Gleichzeitig bedeutete das Jahr 1945 den Beginn eines globalen Ost-West-Konfliktes, der für die kommenden Jahrzehnte als „Kalter Krieg“ die weltpolitische Lage bestimmen sollte. Doch wie Gerhard Botz in seiner Einleitung zu diesem Kapitel festhält, erscheint auch die Festlegung dieses Jahres als „Epochenbruch“ problematisch. Tim Kirk widmet sich dem „Epochenbruch“ 1945 aus der Perspektive der NS-deutschen Wirtschaftspläne für ein Nachkriegseuropa und der britischen Antworten darauf. Er greift damit einen interessanten Aspekt der Wirtschaftsgeschichte auf, und zeigt anhand der Darstellung dieser Planungen, wie sich viele Konzepte und Lösungsansätze für wirtschaftliche Probleme vor 1945 von denen nach 1945 unterschieden. So wurde etwa zwischen 1940 und 1945 von Seiten Großbritanniens versucht, Alternativen zu den NS-Lösungsansätzen zu finden, um auch einen Gegenpol zum NS-System bilden zu können. Da es das NS-Regime, vor allem zu Beginn dieser Phase im Kriege, schaffte, Europa seine Handlungsweisen mehr oder minder aufzuzwingen, erschien diese Konterstrategie Großbritannien und Europa auf wirtschaftlicher Ebene als die aussichtsreichste. Dies änderte sich 1945 mit dem Ende des Krieges – nun beruhten alle getroffenen Maßnahmen vor allem darauf, die wirtschaftspolitischen Lösungen des NS-Systems strikt abzulehnen. Kurt Bauer verfolgt in seinem Beitrag die Perspektive des Einzelnen, des Individuums, wenn er analysiert, wie ehemalige Nationalsozialisten das Jahr 1945 in ihren Lebenserzählungen memorierten. Dass dieses für sie in mehrfacher Hinsicht eine wesentliche Zäsur darstellte, überrascht nicht. Desillusionierung, Verlust des erworbenen gesellschaftlichen Status, Flucht, oder auch Gefangenschaft kam für viele einem, wie der Autor aus einer Lebensgeschichte auch zitiert, „völligen Absturz“ gleich. Auf Basis dieser grundlegenden Einschätzung analysiert Bauer die Argumentationslinien und die Schlüsse, die die Betroffenen aus dem Erlebten für ihren weiteren Lebensweg zogen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Dieter Bacher, wenn er fragt, inwiefern das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 von Angehörigen der auf dem Gebiet des heutigen Österreich eingesetzten zivilen Zwangsarbeiter, als „Zäsur“ erlebt und memoriert wurde. Auf Basis seiner Forschungen zum Aktenbestand des „Österreichischen Versöhnungsfonds“ (ÖVF) analysiert er die in den Antragsmaterialien vorliegenden Berichte zu diesem Thema. Anhand seiner Analyse zeigt sich, dass das Kriegsende aus der Sicht dieser „Opfergruppe“ zwar oftmals als klarer „Bruch“ erlebt wurde, aber gerade in den Biografien von in Österreich gebliebenen ehemaligen Zwangsarbeitern erstaun-
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liche Kontinuitäten auftreten, die teilweise Jahre über diesen „Bruch“ hinausgehen und das Kriegsende daher, anders als bei ehemaligen Nationalsozialisten, gar nicht so stark als „biografische Zäsur“ in Erinnerung blieb. Brigitte Heller nähert sich der Zäsur 1945 über das konkrete Beispiel eines Wiener Unternehmens – der Entwicklung und Tätigkeit des Compass-Verlages. Anhand der drei Geschäftsführer des Verlages zwischen 1938 und 1947 zeigt sie, wie diese, sowohl in ihren politischen Auffassungen als auch in ihrem Führungsstil, sehr konträren Persönlichkeiten die Existenz des Verlages als Familienunternehmen, unter anderem durch entsprechendes Reagieren auf die verschiedenen politischen Gegebenheiten, sichern konnten. An dem von Heller analysierten Beispiel des Compass-Verlages zeigt sich deutlich, welche Herausforderungen politische wie wirtschaftliche Veränderungen bedeuteten, und welche Strategien von Seiten der Unternehmer ergriffen wurden, um sich mit dieser Situation bestmöglich zu arrangieren, und welche wichtige Rolle gerade hier ein gewisser Weitblick und gute Netzwerke spielen konnten. Boris Chavkin wählt am Ende dieses Kapitels einen wiederum umfassenderen Blick auf das Thema – er widmet sich in seinem Beitrag der Rolle des Jahres 1945 als „Epochenbruch“ für die Sowjetunion des Spätstalinismus. Für die Sowjetunion bedeutete das Ende des Zweiten Weltkrieges, so Chavkin, zweifellos einen „Bruch“ – sie hatte ab diesem Zeitpunkt nicht nur militärisch endgültig den Rang einer Supermacht, vermochte ihren politischen Einfluss in Osteuropa erheblich zu erweitern und trat in dem darauffolgenden „Kalten Krieg“ der zweiten Supermacht USA als nicht zu unterschätzender Gegner entgegen. Dennoch – auch hier finden sich verschiedene Kontinuitäten in der Entwicklung, die sich über das Jahr 1945 hinweg nicht oder nur kaum änderten wie etwa das politische System der UdSSR, das sich, nach Chavkin, so gut wie nicht veränderte. Chavkin arbeitet in seiner Analyse die „Brüche“ und „Kontinuitäten“ heraus und zeigt, dass auch hier nicht simplifizierend einfach von einer „Zäsur“ gesprochen werden könne. Das dritte Kapitel des Bandes widmet sich dem dritten tiefen Einschnitt des 20. Jahrhundert, den Jahren 1989 bis 1991, womit nach Meinung vieler auch das 20. Jahrhundert vorzeitig zu Ende gegangen sei. Jedenfalls markiert dieser „Epochenbruch“, das Ende des „Kalten Krieges“, den Zerfall des Warschauer Paktes, des östlichen Wirtschaftsblocks und schlussendlich der Sowjetunion selbst. Damit einhergehend die Gründung neuer Staaten, die sich eine neue, westlich-demokratische Gesellschaftsordnung gaben und zum Großteil in die westliche Verteidigungsallianz und in die Europäische Union drängten. Umstürze durch Bajonette, fanden in diesem „Revolutionsjahr“, als das es teilweise auch bezeichnet wird, kaum statt, rudimentär nur in Rumänien. Die durch Michail S. Gorbatschow verfolgte Politik der „Perestrojka“ und „Glasnosť“ wirkte in diesen Entwicklungen als „Revolution von
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oben“, die einen Reformprozess im „Ostblock“ initiierte und antrieb, der schlussendlich zur Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands 1990 und zur Auflösung der Sowjetunion 1991 führte. Anders als bei den beiden vorangegangenen „Epochenbrüchen“ wird an diesem klar, dass 1989/91 nicht nur europäische, sondern auch geopolitische Bedeutung hatte: das Ende der für Jahrzehnte scheinbar unverrückbar etablierten, bipolaren Welt. Der symbolträchtige Besuch des sowjetischen Außenministers Eduard A. Ševardnadze im NATO-Hauptquartier in Brüssel am 19. Dezember 1989, der noch wenige Jahre zuvor absolut undenkbar gewesen war, machte deutlich, dass diese Jahre das Ende des „Kalten Krieges“ in vielerlei Hinsicht, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und ideologisch besiegelten, wie dies auch Helmut Altrichter in seiner Einleitung zu diesem Kapitel in einigen Facetten ausführt. Manfred Wilke widmet sich einer der zentralen Frage dieses „Epochenbruchs“ – der „deutschen Frage“ und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Dabei geht Wilke den Vorboten in Gorbatschows Politik für diesen Schritt nach. Er analysiert dieses Thema breit und bezieht nicht nur die sowjetische Politik gegenüber der BRD und der DDR, sondern auch gegenüber den USA und den „Bruderparteien“ der anderen sozialistischen Staaten mit ein. Er zeigt, dass diese Faktoren in Kombination mit dem Konflikt Moskaus mit der SED, die einsetzenden Fluchtbewegungen aus der DDR Richtung Westen über die Tschechoslowakei und Ungarn und die damit verbundene Bürgerbewegung in der DDR selbst schließlich dazu führten, dass sich Moskau der „deutschen Einheit“ nicht mehr entgegenstellen wollte und konnte. Danach folgt Mark Kramer mit seiner Analyse des Niedergangs des sowjetischen Banken- und Finanzsystems und seiner Rolle beim wirtschaftlichen Zusammenbruch der UdSSR. Er stellt bereits zu Beginn seines Beitrages fest, dass die verfehlte sowjetische Finanzpolitik und der Kollaps dieses Systems für die weiteren Entwicklungen von immanenter Bedeutung waren und führt auf Basis der Gesamtsituation des sowjetischen Finanzsystems zur Zeit der „Perestrojka“ die einzelnen Faktoren an, die dies bedingten und schrittweise verschlimmerten. Kramer beschäftigt sich dabei insbesondere mit der sowjetischen Politik gegenüber der eigenen Staatsbank und zeigt, dass eben diese massiven Eingriffe in die Aktivitäten der Bank und die überhastete „de facto-Privatisierung“ des Bankensektors den Niedergang des Staates eher beschleunigten als aufhielten. Dass diese „Zäsur“ in den vormalig sozialistischen Ländern Mittelosteuropas auch Auswirkungen auf ihre demografische Entwicklung hatte, beschreibt Peter Teibenbacher. Ausgehend von den Thesen John Hajnals analysiert Teibenbacher exemplarisch die Faktoren Heiratshäufigkeit, Status, Heiratsalter und eheliche Fertilität als zentrale Indikatoren des demografischen Wandels in diesen Staaten und stellt dabei fest, dass
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zwar zahlreiche Veränderungen sichtbar sind, sich aber dennoch gewisse Muster, die bereits aus vorsozialistischer Zeit stammten, über den Sozialismus hinaus bis heute erhalten haben. Am Ende des Bandes befasst sich David Reynolds in seinem Beitrag mit den differierenden Wahrnehmungen und Rezeptionen zu den drei genannten „Epochenbrüchen“ in West- und Osteuropa und schließt mit dieser umfassenden Betrachtung den Band inhaltlich ab. Er zeigt für jeden der „Brüche“ die zentralen Veränderungen auf und arbeitet dabei die wichtigsten Denk- und Interpretationsmuster sowie auch zäsurübergreifende Entwicklungen heraus. Reynold hält abschließend fest, was als eines der Hauptergebnisse aller Texte gesehen werden kann – dass alle drei „Epochenbrüche“ des 20. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet waren, dass sie sowohl als „Zäsuren“ wesentliche Veränderungen bewirkten, doch zugleich die ihnen inhärenten Kontinuitäten noch lange über diese „Brüche“ hinweg wirkten und angestrebte Veränderungen, etwa im demokratischen Wandel früherer sozialistischer Staaten blockierten. Abschließend gebührt mein Dank allen, die an der Konzeption, Planung und Durchführung der Konferenz sowie der Zusammenstellung und Veröffentlichung des Beitragsbandes beteiligt waren. Den Leitern der weiteren drei, im Cluster Geschichte der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft zusammengefassten Institute, Helmut Konrad, Gerhard Botz und Siegfried Mattl. Leider war es Mattl nicht mehr vergönnt, das Buch in seiner gedruckten Form in Händen zu halten – er verstarb 2015 nach schwerer Krankheit. Den Mitarbeitern meines Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung: Barbara Stelzl-Marx, Harald Knoll, Peter Ruggenthaler und Dieter Bacher. Juliane Nitsch assistierte bei der redaktionellen Betreuung der Texte, Gabriel Marchesan und Reinhard Möstl boten Hilfestellung bei der redaktionellen Endbearbeitung. Ein besonderer Dank gilt den Förderern meines Instituts und der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft für ihre Unterstützung. Insbesondere möchte ich noch dem Zukunftsfonds der Republik Österreich meinen großen Dank aussprechen, der für diesen Band eine Förderung gewährte. Ich danke Peter Rauch und Ursula Huber vom Böhlau Verlag für die Aufnahme dieses Bandes in ihr Verlagsprogramm und für seine Betreuung. Graz, im August 2016 Stefan Karner Sprecher des Clusters Geschichte
Helmut Konrad
Die „Bruchlinie 1918“ – eine Einleitung
Es steht außer Frage, dass jene historischen Ereignisse, die wir gemeinhin als „Epochenbrüche“ bezeichnen und mit denen wir die Geschichte periodisieren, die unsere akademischen Teildisziplinen definieren oder den Lernstoff der Schulbücher gliedern, nie eine vollständige Umwälzung im Sinn einer „Stunde Null“ bedeuten. Weder der Fall von Konstantinopel 1453 noch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 haben alle Lebensbereiche schlagartig umgestellt. Menschen lebten über diese „Brüche“ hinweg weiter (wenn auch oftmals schwer gezeichnet), deren Denken und deren Wertvorstellungen sich nicht wie mit einem Schalter umlegen lassen, und da gibt es die Kontinuitäten in Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Kultur. Vielfach erleben Zeitgenossen Epochenbrüche daher gar nicht als individuell bedeutenden Einschnitt. Daher kann man das Konzept der „Epochen“ überhaupt nur als Hilfskonstruktion zur Strukturierung der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin begreifen. Epochengrenzen sind wissenschaftsadministrative Schrebergartengrenzen. Sie sind allerdings nicht nur dies. Dass es Brüche gibt, ist wohl offensichtlich. Die so gewählten Trennlinien zwischen den Epochen sind zwangsläufig meist der politischen Geschichte entlehnt. Denn diese sind ereignisgeschichtlich gut datierbar. In unserem Fall liegen dabei etwa 1917 (Kriegseintritt der USA, Oktoberrevolution in Russland); 1918 (Kapitulationen der Mittelmächte und formales Ende des Ersten Weltkriegs); 1919 (Neuordnung Europas durch die Friedensverträge von Paris, allerdings 1920 inkludierend, beim Nahen Osten wohl sogar 1923). Politikgeschichtlich lassen sich starke Argumente dafür finden, dass diese Jahre einen markanten Bruch signalisieren. Neue Staaten entstanden in Europa und im Nahen Osten, ein gänzlich neues Gesellschaftssystem ergriff die Macht in Russland, die USA hatten sich als stärkste politische Kraft etabliert, und im Fernen Osten hatten die Ereignisse rund um Schandong die Weichen für kommende Konflikte gestellt und sogar die Keimzelle für den Maoismus bereits geschaffen. Das relativiert sich als weltumspannende Bruchlinie, wie der folgende Beitrag von Daniel Marc Segesser zeigt, wenn man Afrika mit ins Blickfeld nimmt, und auch in Lateinamerika sind diese Jahre zwar durch den Rückgang der europäischen und der Festigung des nordamerikanischen Einflusses in Wirtschaft und Politik gekennzeichnet, aber sie bilden keinen gravierenden Wendepunkt.
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Aber gerade weil der Erste Weltkrieg das erste kriegerische Ereignis war, das tatsächlich die Welt in ihrer Gesamtheit erfasste, ist der Epochenbruch auch außereuropäisch sichtbar. Von Australien bis nach Kanada entstanden in den Schlachten von Gallipoli oder von Passendale nationale Gründungsmythen, und für Neufundland, damals noch nicht kanadisch, sind die Nachwirkungen des Traumas von der Somme, wo wenige Minuten Schlacht ihren Niederschlag in der Demographie Neufundlands fanden, wohl auch als Epochenbruch zu charakterisieren. Das sind Gegenden der Welt, die für den Ersten Weltkrieg die Bezeichnung „Epochenbruch“ für sich ebenso stark beanspruchen können wie Zentraleuropa oder der Nahe Osten. Versucht man, wie Hannes Leidinger, die Frage des Epochenbruchs kultur geschichtlich zu fassen, so sind doch die Kontinuitäten stärker als die Brüche. Am Beispiel des Films kann das verdeutlicht werden, wie dies Hannes Leidinger überzeugend macht. Aber in der gesamten Kunstwelt ist wohl 1913 mit Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ als Wendepunkt prägend, und Marcel Duchams „Urinal“ 1917 führt uns näher zur eingangs genannten Epochengrenze. Auch die Kunst kennt also die Einschnitte, die radikale Neuverständnisse signalisieren. Der Zusammenhang von Krieg und einzelnen Kunstformen, etwa des Dadaismus, ist offensichtlich, denn da entstanden Formensprachen, die ohne die massive Gewalt, die Lautstärke und die Entpersönlichung des Kriegs nicht möglich gewesen wären. Die Moderne insgesamt, in deren Rahmen der Erste Weltkrieg nicht zu Unrecht als deren „dunkle Seite“ bezeichnet wird, steht aber wohl in einem größeren, zumindest zwei Jahrzehnte umfassenden Entwicklungszusammenhang. Technologiegeschichtlich wäre der Untergang der Titanic, mehr als zwei Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs, ein symbolhaftes Datum für die Krise des Fortschrittglaubens. Allerdings war es zweifellos der Maschinenkrieg, der das Antlitz der Welt geändert hat und der, wie die australische Forschung behauptet, alle, die an der Front waren, psychisch beschädigt zurückließ, nicht nur jene, die wir als shell shock-Opfer identifizieren. Nach diesem Krieg war klar, dass der Mensch im Kampf nur noch das Anhängsel an der Maschine war, deren Stärke, Genauigkeit und Normierung die Schlachten entschied. „08/15“1 hatte die Männer überformt, die Krise des Manns-Bildes war die Konsequenz. All das scheint mir dafür zu sprechen, die Jahre 1917, 1918 und 1919 als Epochenbruch zu akzeptieren. Für uns als Österreicher gilt das ohnehin. Mit der Ausru1
Diese gängige Redewendung für etwas gewöhnliches, nicht besonderes geht in ihrem Ursprung angeblich auf den Ersten Weltkrieg zurück und soll sich auf das auf deutscher Seite verwendete „Maschinengewehr 08/15“ beziehen. Mögliche Ursachen für diese Bedeutungsgebung sollen einerseits das regelmäßig durchgeführte, eintönige Training mit dieser Waffe und/oder andererseits die schlechte Qualität des Maschinengewehrs gewesen sein.
Die „Bruchlinie 1918“ – eine Einleitung
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fung der Republik gingen Jahrhunderte an Habsburgerherrschaft zu Ende, ein ganz neues politisches Gebilde, mehr oder eher weniger gewollt, war entstanden und hatte sich in einem gänzlich neuen politischen Umfeld zu etablieren. Die Geschichte der Republik Österreich beginnt 1918, obwohl sich natürlich die Parteienlandschaft schon Jahrzehnte vorher herausgebildet hatte und obwohl die handelnden Personen ihr politisches Vorleben hatten. Der Tod Victor Adlers genau in den Umbruchtagen steht zwar symbolhaft für das Ende einer politischen Tradition im multiethnischen und vielsprachigen Reich, die Weiterführung der Politik, wie sie etwa der Austromarxismus ab 1907 entwickelt hatte, stand 1918/19 aber außer Frage. Viel spricht also dafür, dass Fragezeichen hinter dem Wort Epochenbruch wegzulassen, einiges (aus meiner Sicht weniges) spricht dagegen. Wie immer ist es letztlich die genaue Fragestellung, die Definition des Forschungsfeldes, die hier den Ausschlag zu geben hat. Manchmal wird das Ziehen der Trennlinie Sinn machen, manchmal ist es zielführender, die Kontinuitäten zu betonen. Dennoch, wenn im 20. Jahrhundert ein „Epochenbruch“ überhaupt festgemacht werden kann, dann waren wohl die Jahre um das Ende des Ersten Weltkriegs der erste und entscheidende.
Daniel Marc Segesser
1918, a global caesura?
In an article in 2003 Jürgen Osterhammel claimed: „The war [of 1914 to 1918] was a global one long before the United States entered it, since Britain [and France as well] mobilized resources in all parts of [their] multi-continental Empire[s]. The war in the Pacific and in Africa began almost at once, Turkey and Japan became active participants early on, and Germany embarked upon a global strategy of subversion.“1
Osterhammel was in search of his nineteenth century, about which he has since written his large book. There he claims that only when the war was over did the world realise that the nineteenth century had come to an end.2 Eric Hobsbawm on the other hand claimed the First World War3 for his Age of Extremes. To him the beginning of the World War marked the „breakdown of the (western) civilization of the nineteenth century. This civilization was capi talist in its economy, liberal in its legal and constitutional structure, bourgeois in the image of its characteristic hegemonic class, glorying in the advance of science, knowledge and education, material and moral progress; and profoundly convinced of the centrality of Europe, birthplace of the revolutions of the sciences, arts, politics and industry, whose economy had penetrated, and whose soldiers had conquered and subjugated most of the world; […]“4
As these two quotes illustrate, the two authors disagree as to when the nineteenth century ended and the twentieth began, but they also differ in regard to the weight 1
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Jürgen Osterhammel, In Search of a Nineteenth Century, in: GHI Bulletin Washington D.C., 32/2003, 9–28, here 13, who bases his claims on Hew Strachan, To Arms. The First World War, Vol. 1. Oxford 2001, 694–814. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 87f. In this article the War of 1914–1918, which is also known as the „Great War“ or „La Grande Guerre“ will be named the First World War. On the terminology cf. Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, 4. Aufl., Wiesbaden 2014, 8–10. Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994, 6.
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they attribute to the non-European world. While Hobsbawm focuses more on Europe, Osterhammel also looks at developments outside. He points to the awakening anti-colonial movements in places like Egypt, Korea, India and China5 as much as to the continuities of colonial rule.6 In his conclusion, however, Osterhammel reduces the importance of the First World War: „The truly earth-shaking consequences of the First World War were limited to parts of Europe and the Middle East. […] For Africa, South and South East Asia the Great War was an intermezzo, partly disturbing, partly raising hope for a post-colonial future.“7 Does this mean that in a global perspective the First World War did not form a global caesura? This contribution proposes to take a closer look at this issue by focusing on the late war and early post war era in parts of Africa, Asia and the Pacific, bypassing eastern Europe which is the focus of other contributions8 as well as the United States9 and Latin America, which did not experience either the beginning or the end of the First World War as a notable caesura10, but where the war mainly served to accelerate the process of a more noted economic dominance of the United States.11
«Delendum est Imperium Ottomanorum»: The Middle East and the end of the First World War
Looking at the consequences of the war in territorial matters as well as regarding political, economic, social and cultural alterations the Middle East – and with it large parts of the Islamic world – was that part of the non-European world which experienced the greatest change, comparable probably only to that in eastern and southeastern Europe. Already in 1914 Great Britain had ascertained its rule over Egypt. In 1916 the Sykes-Picot agreement had divided what later became the mandates of Iraq, 5
See Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007, which was published after Osterhammel’s article. 6 Osterhammel, Century, 13f. 7 Ebd., 14. 8 See the contributions of Wolfram Dornik et al, Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–1922, Graz 2011. 9 For an overview see Jennifer D. Keene, The United States and the First World War, Harlow 2000. In common with Osterhammel (see above) I do not agree with Hans Herzfeld, Der Erste Weltkrieg, dtv Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1968, 13, who was convinced that the First World War only became a global war with the entry of the United States in 1917. 10 Osterhammel, Century, 14. 11 See Thomas Fischer, Die Souveränität der Schwachen. Lateinamerika und der Völkerbund, 1920– 1936, Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte, Bd. 98, Stuttgart 2012, 47–85.
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Lebanon, Syria and Palestine between France and Great Britain. In the same year the Arabic revolt had broken out, which led to the establishment of Hashemite dynasties in what was to become Iraq and Jordan. Finally the Ottoman Empire collapsed under the weight of Allied occupation, territorial losses and a Turkish renewal in Anatolia, the Caliphate was abolished and rebellions took place in Egypt as well as in Libya.12 In his book „Le Sort de l’Empire Ottoman”, Andrei N. Mandelstam, the last Russian dragoman in Constantinople before the war, made it clear already in 1917 that in his view there was no future for the Ottoman Empire: „La Turquie ayant violé les droits de l’homme et de la nation à l’égard de tous les peuples non-turcs […] doit être déclarée […] déchue de tout droit à leur tutelle. L’Empire Ottoman […] doit disparaître, et les différentes nations qui le composent, la nation turque comprise doivent recevoir des organisations autonomes, réglées sur le but commun de l’humanité. Delendum est Imperium Ottomanorum!“13
Although neither Mandelstam himself nor his – the Russian – government were finally involved in the process, his prediction proved right, when the government of the Sultan sued for peace at Mudros on October 30, 1918. Together with the occupation of Jerusalem by British forces in December 1917 and of Damascus in early October 1918 the armistice of Mudros paved the way for a territorial reorganisation of the Middle East, which in turn changed not only its political and economic structures, but also brought about significant social and cultural changes, not least amongst them a growing Jewish immigration into what became the British mandate of Palestine.14 Although 1918 only stood at the beginning – or if we consider the „decline“ of the Ottoman Empire in the 19th century in the wake of the defeat in the war of 1768–177415 – in the middle of a process, which was to last at least into the middle 1920s, the end of the First World War certainly marked an important caesura in the history of the Middle East.
12 For an overview cf. Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 2002, 69–92. 13 André [Andrei Nikolaevich] Mandelstam, Le Sort de l‘Empire Ottoman, Lausanne 1917, 586. 14 See Paul C. Helmreich, From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919–1920, Ohio 1974; Tom Segev, One Palestine, complete. Jews and Arabs under British Mandate, London 2000. 15 Although Suraiya Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl., München 2006, 84–107 does not speak about a «decline» of the Ottoman Empire in a long 19th century, she clearly sees it as a century of crisis.
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Statehood? The British Dominions and India at the end of the First World War
The issue of a caesura at the end of the First World War is less clear in the case of the British dominions and India, all parts of an empire, which had changed significantly since the end of what Osterhammel has called the short, core or Victorian nineteenth century from about 1830 to 1890.16 In the late 1880s the British empire saw the beginning of an instrument that lingers on up to the present, which are meetings of the political leaders of self-governing (today independent) parts of the Empire or today the British Commonwealth of Nations. First called Colonial and later Imperial Conferences, these meetings at first mainly served the British government to convince the white parts of the Empire of the necessity to participate in the common burden of imperial defence and to discuss matters of a common imperial economic policy, which, however, never materialised.17 With the beginning of the war in 1914 at first not many things changed. Australia, Canada, New Zealand and Newfoundland all entered the war at once and mobilised volunteers for service abroad. The same happened with the Royal Indian Army and troops from other parts of the dependent empire.18 On the political level, however, neither the governments of the dominions nor any Indian politicians that had become active in the wake of the Morley-Minto reforms of 190919 were included in decisions regarding the war.20 As it became clear that further efforts were necessary, bilateral discussions began and in 1917 the new British Prime Minister, David Lloyd George, convened a first Imperial War Conference accompanied by the first Imperial War Cabinet meeting ever.21 Although it would be wrong to say that the Prime 16 Osterhammel, Nineteenth Century, 19. 17 There is little research in regard to the Colonial and Imperial Conferences between 1887 and 1911. Most of the information must still be deducted from Arthur Berriedale Keith, War Government of the British Dominions, Oxford 1921, 8–18; and John E. Kendle, The Colonial and Imperial Conferences 1887–1911. A Study in Imperial Organisation, London 1967. Cf. also in regard mainly to defence matters Daniel Marc Segesser, Empire und totaler Krieg. Australien 1905–1918, Krieg in der Geschichte, Bd. 10, Paderborn, 2002, 135–145 and 227–235. 18 Stephen Constantine, Britain and the Empire, in: Stephen Constantine et al. (eds.), The First World War in British History, London 1995, 252–278, here 258–262. 19 On the Morley-Minto reforms of 1909 and the possibility for some native Indian politicians to be included in the central government of India’s viceroy cf. Stanley Wolpert, A New History of India, 8th Edition, New York 2009, 294–297. 20 Eric M. Andrews, The Anzac Illusion. Anglo-Australian Relations during World War I, Cambridge 1993, 65–71. 21 David French, The Strategy of the Lloyd George Coalition 1916–1918, Oxford 1995, 62–64.
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Ministers of the dominions and the delegates of the Indian government in Delhi got a large say in British war policy, the Imperial War Conference and War Cabinet of 1917, followed by a second one in 1918 except for Newfoundland paved the way for a separate representation at the Paris Peace Conference and later in the League of Nations.22 Although the formal influence of the British government on the Dominions was only ended by the statute of Westminster in 193123 and British colonial rule in India only vanished after the Second World War in 194724 the years at the end of the First World War between 1917 and 1920 can nevertheless be seen as an important caesura for the British dominions and India in constitutional matters as well as regarding their growing activities on the international level.25 In the case of India the death of many older leaders of the national movement, such as Gopal Krishna Gokhale or Bal Gangadhar Tilak as well as draconian measures by some officials of the British colonial government such as the massacre of Amritsar in 191926 opened up new alleys for new leaders. One of them was Mohandas Karamchand Gandhi with his movement of non-violence, which at least for parts of the interwar period shaped the anti-colonial movement in South Asia and turned the Indian nationalist movement from an essentially elitist affair to one, in which the fate of the masses mattered more than before.27 Although it might be too much to claim that the end of the First World War was a clear cut caesura for the British dominions and India, nevertheless the war and its end served as a catalyser in regard to the emergence of these countries as separate states on the world stage and in regard to the internal political development, without at the same time altering the strong ties with the imperial metropolis and colonial rule once and for all.
22 TNA, CAB 23/40-44A, Imperial War Cabinet, Minutes of Meetings, Miscellaneous, Committee of Prime Minister of the Dominions. Cf. also Andrews, Anzac Illusion, 131–134, 190f.; Constantine, Britain, 269; French, Lloyd George Coalition, 254f.; Karl Joseph Schmidt, India’s Role in the League of Nations, 1919–1939, Unpublished PhD at the Florida State University 1994, 14–31. 23 See Kenneth Clinton Wheare, The Statute of Westminster and the Dominions, Oxford 1949 for an overview on constitutional issues. 24 Wolpert, India, 361–369. 25 See the activities of India and New Zealand in the League of Nations. Schmidt, Role, 62–259; Philippa Mein-Smith, A Concise History of New Zealand, Cambridge 2005, 159; Keith Sinclair, A History of New Zealand, 4th Edition. Auckland 1991, 277. 26 See Wolpert, India, 313f. 27 Burton Stein, A History of India, 2nd Edition revised and edited by David Arnold, Chichester 2010, 287–297.
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A caesura in some fields and not in others: Japan and China at the end of the First World War
Looking at Japan and China it is again necessary to consider the end of the 1890s more closely. In 1894 the two powers engaged in a first Sino-Japanese War primarily fighting over the control of Korea. This war marked a rather important shift in East Asia, as Japan, which for a long time had been belittled as pirates of the East in China, began to take a more dominant position in the region, finally annexing Korea in 1910. Japan’s aim was of course not only to emancipate itself from the dominant regional power China, but also from the Western imperialist powers that had forced unequal treaties upon the country in the middle of the 19th century.28 In 1914 the elder statesman Inoue Kaoru therefore saw the war in Europe as a heaven sent chance, which the Empire had to take advantage of, in order to strengthen its position in East Asia and the Pacific.29 In a similar manner Chinese intellectuals such as Liang Qichao or Liu Yan also believed that the outbreak of war offered more opportunities than dangers in regard to a renewal of their country.30 From August 23, 1914 Japanese forces began to occupy German possessions in China (Qingdao) and the Pacific. China on the other hand was facing internal quarrels between the several factions of the revolution of 1911. When the war began the country had just gone through a deep political crisis, president Yuan Shikai replacing the first freely elected parliament, which had a Guomindang majority, by a presidential system giving him almost unlimited power.31 Not least due to the fact that many advisers of the Yuan government came from the United States it tried to join with its American counterpart in an effort to mediate between the warring European powers. As the Wilson administration, however, lacked enthusiasm for the Chinese proposal, nothing came out of it and the Japanese declaration of war against Germany and its occupation of the Shandong peninsula in late 1914 complicated matters even more for China.32 What could have been a golden opportunity not only for Chinese businessmen and traders finally turned into a disaster for the Yuan government. It 28 Reinhard Zöllner, Geschichte Japans. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2006, 269–301, 309–314; John Keay, China. A History, London 2008, 488–499. 29 Rudolf Hartmann, Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei, Berlin 1996, 119; Frederick R. Dickinson, War and National Reinvention. Japan and the Great War, 1914–1919, Cambridge MA 1999, 35. 30 Xu Guoqi, China and the Great War. China’s Pursuit of a New National Identity and Internationalization, Cambridge 2005, 82–84. 31 Jonathan Spence, In Search for Modern China, 2nd Edition. New York 1999, 278–281. 32 Xu, China, 87–93.
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had to accept most of Japan’s twenty-one demands of 1915, which sparked some anti-Japanese demonstrations, but which finally gave Japanese authorities a large say in many parts of China. Yuan tried to compensate this loss of prestige by recurring to elements of Confucianism and by making himself Emperor in January 1916, but this was not to save him and his government for long, as he died of uraemia on June 6, 1916.33 While in consequence China was precluded from officially entering the war up to August 1917, Japan was able to strengthen its position in East Asia and the Pacific politically, economically and militarily. When the war came to an end, therefore, this was not so much greeted as a relief, but seen as the end of a phase of great opportunities at least by large sections of the elite. Furthermore the peace still had to be won. China and Japan both tried heavily to persuade the major victorious powers assembled in Paris that their position was more legitimate than that of the other. Both powers mobilised forces to intervene in the Russian civil war and both sent large delegations to Versailles, which did, however, not contain the political leaders of the country such as Japanese Prime Minister Hara Takashi or Chinese president Xu Shi Chang. The Chinese delegation was headed by foreign minister Lu Zheng Zhiang, while the Japanese delegation was lead by elder statesman and former Prime Minister Kinmochi Saionji. As a major victorious power Japan was awarded five seats at the conference, while China had to accept to be represented only by two official delegates, which were shared among the six major Chinese representatives, amongst which Gu Wejun (V. K. Wellington Koo) was the most prominent figure. Finally Japan won the day, not least by blackmailing the Chinese representatives in Versailles. It was awarded the control over the Shandong peninsula as well as over the former German colonies in the Pacific north of the equator, a fact which sparked large scale demonstrations in China – known as the May Fourth Movement – and led the Chinese delegation to refuse to sign the Versailles peace treaty.34 Secret arrangements of the Japanese government with Britain, France as well as the government of Prime Minister Duan Qirui in China had finally won over the efforts of the same Duan government to strengthen its country’s position during the war by sending workers to Europe even before the official declaration of war.35 This was not least due to the fact that the several factions within the governing elites of China were mainly concerned 33 See Spence, China, 281–283. 34 See Thomas W. Burkman, Japan and the League of Nations. Empire and World Order, 1914–1938, Honolulu 2008, 91–94; Hutchinson, National Reinvention, 186–203; Manela, Wilsonian Moment, 58, 99–196; Xu, China, 244–270. 35 On the war workers cf. Xu Guoqi, Strangers on the Western Front. Chinese Workers in the Great War, Cambridge MA 2011.
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with strengthening their own political and military power basis.36 Regarding the one point, in which the Chinese and Japanese delegations agreed upon in Paris – the introduction of a racial equality clause into the covenant of the League of Nations – they failed to gain the necessary support in view of strong opposition from Australia, New Zealand and parts of the American delegation. Woodrow Wilson finally decided that the Japanese proposal could not be adopted due to the fact that no unanimity could be reached on this point.37 With the end of the war Japan gained a new status as a large power on the international stage, being awarded a permanent seat – finally the only one of a nonEuropean power – in the Council of the League of Nations. Nevertheless the elites in Japan were not ready to take up such a position, a fact that had become visible already in Paris by the absence of Japanese Prime Minister Hara Takashi – as the only head of government of a major power – at the peace conference. Furthermore the country had not really experienced the „horrors of war“, but had capitalised on the opportunity to catch up further with the western imperialist powers at little cost. Although there were sincere efforts within Japan to work with the League of Nations to establish peace in East Asia by international collaboration, there were also strong forces within the country, whose aim it was to extract the empire from internationalist co-operation. These latter forces proved to be successful and it would therefore be too much to claim 1918 as a caesura in the history of Japan.38 In China on the other hand the decision to award Shandong to Japan sparked the May Fourth Movement, which especially Marxist historians claim to have been the starting point for socialism and a new cultural movement in the country.39 Nevertheless the internal crisis in the wake of the establishment of the republic in 1911 and the death of Yuan Shikai in 1916 never really stopped. A period of disunion followed, which for some historians ended with the ascent of Chiang Kai Shek to power in 1927, while for others it continued up to the establishment of the People’s Republic of China in 1949/1950.40 While 1918 therefore formed a caesura in some fields in East Asia, in others it did not. The First World War certainly served as a catalyser of conflict 36 Duan Qirui is a good example. At the same time as he was trying to enhance China’s position within the alliance of the entente, he negotiated arrangements with the Japanese authorities to strengthen his own power base by gaining Japanese financial and military support. Spence, Modern China, 285–288. 37 Burkman, Japan, 80–86; Xu, China, 257f. 38 Burkman, Japan, 104–193; Dickinson, National Reinvention, 245–256. 39 See Thoralf Klein, Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, 45, 48f.; Spence, Modern China, 299–308. 40 Keay, China, 499; Helwig Schmidt-Glintzer, Kleine Geschichte Chinas, Munich 2008, 186–193.
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between Japan and China much more than the Paris Peace Conference was able to establish a new order.
The First World War as a caesura in Africa? Examples from Tanzania, South Africa and French West Africa
In contrast to the Second World War the First saw some of the fiercest and most di sastrous fighting in sub-Saharan Africa. While it ended in Togo in 1914, in Namibia in 1915 and in Cameroon in 1916, the last German commander of the whole war to surrender was Paul von Lettow-Vorbeck. From 1914 to 1918 he led a rather successful campaign against British, Indian, South African, Belgian and Portuguese forces in and around the German colony of East Africa.41 Although Lettow-Vorbeck was not able to defend the colony and its means of communication, he nevertheless embroiled a rather large number of Allied forces. This was not decisive for the outcome of the war, but in times when resources were scarce this was not without importance. Nevertheless the fact has to be kept in mind that from 1916 onwards the major part of the forces came from South Africa, which due to internal divisions would not have sent them to Europe, had Lettow-Vorbeck surrendered earlier.42 What was even more important for the further development of the country was, however, that Lettow-Vorbeck gave precedence to military over political and economic considerations and in this context even disregarded arguments and orders of his political superior, g overnor Heinrich Schnee, whenever he believed that the maintenance of civilian government was less important than his military aims. This led to a serious collapse of the internal administrative organisation of the colony.43 Furthermore he as well as his Entente opponents recruited as many carriers as they needed – sometimes by force – to move their troops in an environment which due to bad roads and missing railway lines was not very suitable for carrying heavier weapons or larger amounts of ammunition. This in turn led to a rural depopulation of large parts of German East Africa and as consequence to large-scale famines.44 The end of the First World War therefore not 41 See Tanja Bührer, Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegführung 1885–1918, München 2011, 401–477. 42 See Anne Samson, Britain, South Africa and the East Africa Campaign 1914–1918. The Union comes of Age, London 2006, 118–148. 43 Bührer, Schutztruppe, 453–467. 44 Ebd., 460–462; Stig Förster, Der globalisierte Krieg, in: Stephan Burgdorff/Klaus Wiegrefe (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2004, 201f.; Leonard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 59; Edward Paice, World War I.
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only marked an important political caesura for former German East A frica by laying the foundation for the modern national states of Tanzania, Rwanda and Burundi in form of the mandates of Tanganyika (under British control) and Ruanda-Urundi (under Belgian control), but also as one of the greatest hunger catastrophes in the area. Jürgen Osterhammel’s statement that for Africa the First World War was an intermezzo45 therefore needs to be modified to a certain extent, even if it is important to keep in mind that the situation in East Africa was in no way representative for the development of the whole of the black continent in that time. Nevertheless the First World War played a transformative role in other parts of Africa, too. In South Africa for example, in the long run it strengthened radical Boer nationalists. In 1914 the government of the country was faced with an armed rebellion in the wake of its decision to join the war on the side of the entente. The rebellion was led by some former Boer officers, who believed that the country would fare better, if it either remained neutral or even joined arms with Germany, which had supported the Boer forces in the war of 1899 to 1902. The government of Louis Botha and Jan Christiaan Smuts, created in the wake of the formation of the Union of South Africa, which amalgamated the former British self-governing colonies of the Cape and Natal with the former Boer republics of Oranje and Transvaal, was able to overcome the rebellion and to occupy the German colony of South West Africa, today Namibia.46 Nevertheless its freedom of action was limited. In contrast to the other British dominions South Africa never joined the military and economic effort of the empire to a large extent. The strength of the South African forces in Europe was limited to one brigade and on the economic level except for the production of gold in the mines on the Witwatersrand South Africa did not get involved in the economic war as were Australia, Canada or India. Black African leaders and large sections of the black population remained loyal, as they hoped to profit from the fact that the war was fought for the Empire, which they saw as a protecting power against the ambitions of whites and especially of Boer nationalists. As the South African government declined to mobilise blacks as soldiers, some therefore accepted the possibility to contribute to the war effort as members of the South African Native Labour Continent.47 This did, however, not pay off, not least due to an important The African Front, New York 2008, 280–290, 357f.; Michael Pesek, Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/ Main 2010, 154–187, 255f.; Segesser, Erster Weltkrieg, 119f. 45 Osterhammel, Century, 14. 46 Timothy R. H. Davenport, The South African Rebellion 1914, in: English Historical Review 78/1963, 73–94; Hew Strachan, The First World War in Africa, Oxford 2004, 61–92. 47 Albert Grundlingh, Black Men in a White Man’s War. The Impact of the First World War on the South African Blacks, in: War & Society 3/1985, 55–81.
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political development in the Union, the dissolution of the pro-British Unionist Party. This made the radical Boer nationalists the official opposition to government and handed them the argument that moderate Boer politicians such as Botha or Smuts were now the real unionists loyal to the British Empire, which had subdued Boer independence in 1902.48 It was not until 1924 that those nationalists were able to come to power, but nevertheless in combination with the autonomy promised by the Imperial War Conference of 1917 the war and its end marked a caesura although not apparent at first sight in the history of South Africa.49 In large parts of western Africa the First World War also brought about significant change, especially in regard to the relationships between the mainly French colonisers and the colonised, but also amongst the black populations. The reason for this change is to be found in the quite large number of black soldiers that the French colonial authorities recruited at the beginning of the war.50 While some joined the forces voluntarily, others did so by force, native authorities filling the contingents they were asked to contribute with men from the lower strata of society. Although in later periods of the war the native authorities had agreed to the recruitment of young men from higher social strata, the majority of those, who returned – some of them decorated by the French military for killing whites (i.e. Germans) – were from the lower strata and as returned heroes now demanded their share of power and social status. Although they were able to secure some material gains, their hope of acquiring political rights by gaining official French citizenship or of being adopted in the local elites almost never materialised.51 Although less apparent at first sight, it would not be wrong to say that the end of the First World War marked the beginning of a „new“ era for the „ancien combattants“ that had returned to western Africa as much as for the British and French colonial powers, which in the interwar period – especially after the great depression – were forced to adopt measures of colonial development, which of course never included the thought that colonial rule was at its end.52
48 Timothy R. H. Davenport, South Africa. A Modern History, 4th Edition, Toronto 1991, 245–252; Jörg Fisch, Geschichte Südafrikas, 2. Aufl., München 1991, 234–237. 49 Davenport, South Africa, 259–297; Fisch, Geschichte, 255–285. 50 Jacques Frémaux, Les Colonies dans la Grande Guerre. Combats et Épreuves des Peuples d’OutreMer, Paris 2006, 54–72. 51 See Frémaux, Colonies, 321–324; Gregory Mann, Native Sons. West African Veterans and France in the Twentieth Century, Durham 2006, 63–107; Marc Michel, Les Africains et la Grande Guerre. L’Appel à l’Afrique 1914–1918, Paris 2003, 49–78, 189–248. 52 See e.g. Frederick Lugard, The Dual Mandate in British Tropical Africa, London 1922; and for an overview of the limited measures taken Christoph Marx, Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004, 162–167.
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Conclusions
Jürgen Osterhammel has claimed that „war and revolution are still the most frequently used criteria of historical periodization [and] even social and cultural historians often adopt […] the temporal structure of „l’histoire événementielle“ regardless of the fact that it does not derive from their own concept of history.“53 It is therefore not a surprise that the First World War is seen as a caesura, and there are good reasons also in a global perspective to understand the war as an important turning point as well as a great catalyst in history.54 The changes in Eastern and South Eastern Europe as well as the Middle East in terms of the emergence of new political units formed as much an important caesura as was the end of many empires, such as Germany, Austria-Hungary and Russia. Looking at the failed attempt of Yuan Shikai to make himself the real imperial successor of the Qing Empire China may also be added to this list. Looking at the British Empire the Imperial War Conferences of 1917 and 1918 as well as the separate participation of the dominions and India at the Paris Conference and later in the League of Nations mark an important caesura in the constitutional development of the non-European world. Colonial control over India did, however, not end in 1918, but only in 1947, and even the dominions were formally under the control of the British government until 1931. In Africa, Japan and China there was less of a caesura at the end of the First World War. Japan and China continued their dispute over influence in East Asia and partially in the Pacific. It was a time of opportunities that Japan was able to take advantage of to a greater extent than China, not least due to greater internal political stability. For Africa the colonial context remained important. Nevertheless the end of the First World War can be seen as some sort of caesura, as it became clear that there was not just a dichotomy between whites and blacks, but also amongst whites, a fact that could have disastrous consequences as in the case of Tanzania. In South Africa the First World War in the long term favoured radical Boer nationalists, which were able to claim that the loyalty of their moderate opponents in the war was a betrayal of Boer identity to the British „perfidious albion“. In western Africa significant changes resulted from the return of those men that had survived their time as soldiers on the European battlefields. Although immediate changes remained small, the legacy of the „anciens combattants“ remained important in regard to colonial development policy as well as anticolonial nationalism in sub-Saharan Africa. From a global perspective the First World War, be 53 Osterhammel, Century, 13. 54 On general aspects of the question cf. Aribert Reimann, Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29–30/2004, 30–38.
1918, a global caesura?
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the focus on 1914 or 1918, was at the same time a caesura as it was not. As Jürgen Osterhammel has said, there is no complete congruence between global, continental, national or even regional chronologies.55 Therefore the idea of co-existing „layers of time“ or „Zeitschichten“, to use Reinhart Kosseleck’s term56 could work as a good explanation when looking at fissures of eras which are the topic of this volume. 1918 was no full cut global caesura, but nevertheless an important turning point in regard to many layers of historical development.
55 Osterhammel, Century, 19. 56 Reinhardt Kosseleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2003.
Hannes Leidinger
Der Erste Weltkrieg als eine mediengeschichtliche Zäsur? Gedanken zu einer kontroversiellen Forschungsdebatte 1
„Für viele, die vor 1914 aufgewachsen waren“, schreibt Eric Hobsbawm in seinem monumentalen Werk „Das Zeitalter der Extreme“, „war der Kontrast derart dramatisch, dass sie sich weigerten, überhaupt irgendeine Kontinuität zur Vergangenheit zu sehen. ‚Im Frieden‘, das bedeutete: ‚vor 1914‘. Danach aber brach „das großartige Bauwerk der Zivilisation des 19. Jahrhunderts in den Flammen des Weltkriegs zusammen, als seine Säulen einstürzten“.2
Umbruch und Propaganda
Ob die „Welt von gestern“ tatsächlich so „großartig“ und „zivilisiert“ war, sei dahingestellt. Das Gefühl eines gewaltigen „Umbruches“ beherrschte jedenfalls allein schon mit Blick auf die Revolutionen der Jahre 1917 und 1918 die Zeitzeugen ebenso wie die Nachgeborenen. Mit der Erweiterung des Forschungsfeldes über den Bereich der Diplomatie und der Politik, der Feldzüge, Strategien und Waffensysteme hinaus, verlor diese Vorstellung einer „schicksalhaften Wende“ keineswegs an Bedeutung. Sozial-, Wirtschafts-, Alltags-, Mentalitäten- und Kulturgeschichte lieferten ihre Beiträge, die „atemberaubenden Umwälzungen“ vor dem Hintergrund eines „vierjährigen Massenschlachtens“ zu belegen. Auch im Hinblick auf die Rolle der Medien und der Massenbeeinflussung fehlt es solcherart nicht an vergleichbaren Interpretationen. „Der Aufstieg der Propaganda zur weltbeherrschenden Kommunikationsform scheint untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden“, schreibt etwa der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm, um fortzusetzen: „Wie ein Gebirge 1
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Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen von Forschungen im Projekt „Beyond the Trenches“ (P23070-G15), finanziert vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Das Projekt wurde am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, unter Leitung von Dr. Wolfram Dornik zwischen September 2011 und Juni 2014 durchgeführt. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, 38.
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Hannes Leidinger
unterteilt die ,Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ alle ihre Äußerungsarten in ein davor und ein danach.“3 Die aktuelle Erinnerungswelle anlässlich des hundertjährigen Gedenkens an die Schüsse von Sarajewo und den Kriegsausbruch im Sommer 1914 trägt alles in allem gleichfalls dazu bei, Zäsuren zu betonen. Neben Bremms Arbeit aus dem Jahr 2013 bestätigt diesen Eindruck unter anderem das fast gleichzeitig erschienene Buch von Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich über „Deutschland im Ersten Weltkrieg“, in dem es etwa heißt: „‚In einem Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer‘ […]. Dieses inzwischen sehr bekannte Zitat stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Dahinter steht die Erfahrung einer Kriegspropaganda, wie sie die Welt bis dahin weder gehört noch gesehen hatte.“4 Als „Kronzeuge“ war hierfür lange niemand geringerer in Erscheinung getreten als der „deutsche Volksheld“, Chef der Dritten Obersten Heeresleitung (OHL) und spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg, der am 2. September 1918 verkündet hatte: „Der Feind überschüttet unsere Front nicht nur mit einem Trommelfeuer der Artillerie, sondern auch mit einem Trommelfeuer von bedrucktem Papier. Er will vor allen Dingen auch den Geist in der Heimat vergiften.“5 Daran anschließend meinte Erich Ludendorff als Hindenburgs engster Mitstreiter und eigentlicher dominanter Faktor der OHL in seiner Funktion als Generalquartiermeister unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen: „Man habe auf die feindliche Propaganda wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt. Sie sei ausnehmend großzügig und geschickt gewesen und habe skrupellos alle Mittel gebraucht, um die geistige Kriegsfähigkeit und den deutschen Glauben an den Endsieg zu erschüttern.“6 Ludendorffs Bestreben, die Dolchstoßlegende zu untermauern und den Zusammenbruch der Heimat-, nicht aber der Kampffront unter anderem auch auf die innerliche Zerrüttung durch die Beeinflussungen beziehungsweise Manipulationen des Feindes zurückzuführen, weist die Geschichtsforschung bekanntlich zurück. „Das klassische Modell mit Meinungslenkern und einer manipulierten Zielgruppe“ greife ohnehin „deutlich zu kurz“, ergänzt zudem Klaus-Jürgen Bremm, der in dieser Hin3 4
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Klaus-Jürgen Bremm, Propaganda im Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2013, 165. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2013, 99; siehe dazu auch: Gerhard Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg als mediales und museales Ereignis 1914–1933, in: Rainer Rother/Karin Herbst-Meßlinger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Film, München 2009, 13–27, hier 13. Zit. nach Hirschfeld, Erster Weltkrieg, 13. Zit. nach Bremm, Propaganda, 55; zu ähnlichen Einschätzungen österreichisch-ungarischer Offiziere beachte auch: Werner Michael Schwarz, Der Krieg ist wirklich. Kino im Ersten Weltkrieg, in: Alfred Pfoser/Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 514–521, hier 519.
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sicht daran erinnert, dass es oft keiner staatlichen Initiative bedurfte, um Zuspruch für martialische und patriotische Programme zu erhalten.7 Vielmehr habe sich „der private Sektor von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft“ in den Dienst des Vaterlandes gestellt. Dort, wo es nicht zu Jubelszenen während des „Augusterlebnisses“ 1914 reichte, überwogen mindestens Gehorsam, Pflicht- und Ehrgefühl sowie kameradschaftlicher Zusammenhang, wie der US-Historiker Jay Winter hervorhebt. Ein Blick auf die Tätigkeit der Militärjustiz gibt Winter im Großen und Ganzen Recht. Die Zahl der wegen militärischer Vergehen Abgeurteilten und Hingerichteten blieb relativ gering.8 Weitreichende Kritik, Empörung und Revolte waren eher Konsequenz zunehmender Versorgungsprobleme und wachsender Kriegsmüdigkeit. Wenn überhaupt eine gewisse propagandistische Wirkung zuungunsten der „Kriegsverlierer“ zu verzeichnen war, handelte es sich eher um Konzeptionsprobleme auf Seiten der Mittelmächte. Michael Jeismann dazu: „Wie man schon Schwierigkeiten hatte, das ‚Deutsche‘ in diesem Krieg als Politikum zu bestimmen, so misslang auch die Stilisierung der vielfältigen Feinde. Der traditionelle nationale Feind, Frankreich nämlich, konnte nicht für die feindliche Koalition stehen, der so unterschiedliche Staaten wie Russland, Großbritannien und Italien angehörten. Dieses Defizit war nicht, wie die nationalistische Rechte mit Ludendorff und Hindenburg „nach dem Krieg meinte“, der „Unfähigkeit“ oder Fähigkeit eigener beziehungsweise feindlicher Propaganda „zuzuschreiben, sondern hatte seinen tieferen Grund darin, daß der Krieg in letzter Konsequenz vornehmlich als nationaler Selbstbeweis erlebt und aufgefasst wurde, hinter dessen Anforderungen die Konturen der verschiedenen Feinde an Wichtigkeit zurücktraten und sich gerade nicht zu einem bündelnden Oberbegriff verwischten. Hitler“, so Jeismann weiter, „sollte aus diesem Erlebnis später die Konsequenz ziehen und mit der Stilisierung der Juden zum universalen Feind den Deutschen eben jene Universalisierung des Feindschaftsbegriffs vornehmen, die den Deutschen im Weltkrieg misslungen war – von den Alliierten aber meisterhaft in Formeln wie ‘Barbaren‘ und ‚Hunnen‘ praktiziert wurde.“9
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Bremm, Propaganda, 165. „Die höchsten Ziffern erreichte Italien, wo man 4028 Todesurteile verhängte, von denen 750 ausgeführt wurden. Die Engländer folgten mit 3080 bei 346 Exekutionen und die Franzosen mit 2000 und 700 Hinrichtungen. Die geringsten Ziffern wiesen die Deutschen auf: 150 Todesurteile, von denen 48 vollstreckt wurden.“ Siehe dazu Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, München 2003, 70f. Michael Jeismann, Propaganda, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, Paderborn u. a. 2009, 198– 209, hier 205.
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Hannes Leidinger
Zerstreuung, Ausblendung, Inszenierung
Aus dieser Perspektive stellt sich der Erste Weltkrieg unter anderem in mediengeschichtlichen Belangen als Lernzone kommender Katastrophen dar, ein Aspekt, der auch auf Erfahrungen mit unmittelbaren politisch-weltanschaulichen Botschaften und letztlich mit der „Kriegswirklichkeit“ generell zutraf. Speziell das neue Massenmedium der Kinematographie eignete sich in diesem Sinne eher als Zerstreuungs- und Unterhaltungsangebot, als vorübergehende „Fluchthilfe“ aus dem tristen Alltag. Grausamkeiten an der Front und Bedrückungen im Hinterland wurden bereits in Aktualitätenund Wochenschaubeiträgen marginalisiert. „Fiktive Produktionen“ und abendfüllende Spielfilme setzten derartige Trends letztlich über den Zeithorizont von 1918 hinaus fort, wie später gerade das nationalsozialistische Kino unter Beweis stellte.10 Gegenüber dem „zivilen“ Repertoire erwies sich der „Krieg an sich“ jedenfalls speziell vor dem Hintergrund tatsächlicher bewaffneter Auseinandersetzungen überall als wenig konkurrenzfähig: Die Entwicklungen in den einzelnen Ländern glichen sich während des Ersten Weltkrieges. Von den 114 zeitgenössischen „Movies“ Großbritanniens, die bis 1918 hergestellt wurden, befasste sich lediglich eine geringe Zahl mit nationalen und militärischen Aspekten.11 Frankreich oder Deutschland boten sogar noch weniger „Laufbilder“ an, die sich auf die aktuellen Kampfhandlungen bezogen.12 Zwischen August und Dezember 1914 beschäftigten sich wiederum 50 von 106 russischen Produktionen mit den bewaffneten Konflikten und ihren Folgewirkungen mehr oder minder zentral, während es im ganzen Jahr 1916 nur 13 von 500 Streifen waren.13 Der westliche, österreichische Reichsteil der „Doppelmonarchie“ wartete mit vergleichbaren Trends auf: 1914 nahmen hier – die Friedensmonate inkludiert – elf Prozent von insgesamt 61 Spielfilmen auf die Kriegsanstrengungen Bezug. 1915 und 1916 machten solche Arbeiten 26 beziehungsweise 17 Prozent von allerdings nur 30 beziehungsweise 24 abendfüllenden Kinoproduktionen aus. 1917/18 thematisierte man dann lediglich in zehn Prozent von 142 österreichischen Spielfilmen die Vorgänge in den Kampfzonen und im Hinterland.14 10 Bezüglich der Situation in Deutschland und Frankreich bis 1918: Wolfgang Kruse, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009, 90f. 11 Gerhard Paul, Krieg und Film im 20. Jahrhundert. Historische Skizzen und methodologische Überlegungen, in: Bernhard Chiari/Matthias Rogg/Wolfgang Schmidt (Hg.), Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München 2003, 3–78, hier 8. 12 Ebd. 13 S. Ginzburg, Kinematografija do revoljucionnoj Rossii [Kinematografie im vorrevolutionären Russland], Moskau 1963, 191f. 14 Quantitative Analyse basierend auf den Angaben in: Anton Thaller (Hg.), Österreichische Spielfilme. Bd. 1: Spielfilme 1906–1918, Wien 2010, 514–517.
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Folglich war das Kino nur bedingt als ideologisches, politisches oder militärisches Propagandainstrument im Einsatz, wenngleich versteckte Botschaften und Werthaltungen in vermeintlich ganz „harmlosen Streifen“ nicht selten sogar eine wesentlich bessere Wirkung erzielen konnten. Die Abbildung der Kriegshandlungen selbst eignete sich hierfür jedenfalls ebenso wenig wie für die Befriedigung einer oft voyeuristischen Lust an „realen Kampfszenen“. „Die Zuschauer sind unzufrieden mit der Unfähigkeit der Lichtspieltheater, die augenblicklichen Geschehnisse an den Fronten einzufangen“, beklagte sich demgemäß das Fachmagazin „Der Kinematograph“ im August 1914, um fortzusetzen: „Das moderne Schlachtfeld zeigt Kampfgemeinschaften, über die es kaum etwas Bemerkenswertes zu berichten gibt. Die Entfernungen sind riesig, die einzelnen Schützen kaum sichtbar.“15 Die „Deutsche Kinorundschau im Weltkrieg“ vermittelte 1915 ähnliche Eindrücke. „Man liest“, hieß es hier, „den Titel: ‚Ein modernes Schlachtfeld‘ und sieht: ein Ackerfeld mit … nichts!“16 Konfrontiert mit einer derartigen „Krise der Repräsentation“, dem Dilemma der visuellen Medien, das „Völkerringen“ mit neuen Waffentechnologien in teilweise riesigen „Schlachtfeldregionen“ zu vermitteln, versuchten Filmteams den antizipierten Erwartungen des Publikums durch nachgestellte Szenen zu entsprechen, die abseits der Schützengräben und mitunter auch in „komfortablen Studios“ gedreht wurden.17 „Unserer Erfahrung nach rufen die im Kampfgeschehen gedrehten Aufnahmen nicht so einen starken Eindruck hervor wie eine gute Inszenierung“, offenbarte dementsprechend ein russischer Kameramann, der für die offizielle Filmpropaganda des Zarenreiches tätig war.18 Die entstandenen „Reenactments“ hinterließen jedoch meist keinen besonderen Eindruck. Harry Graf Kessler von der deutschen Botschaft in der Schweiz etwa brachte seine „unbeschreibliche Enttäuschung“ zum Ausdruck, als er den 1918 hergestellten Streifen „An der Westfront“ sah. „Dieser Film“, schrieb der Diplomat, könnte „aus älteren Wochenschauen zusammengeflickt“ worden sein und „vermittelt nicht die geringste Vorstellung von der Größenordnung der gegenwärtigen Ereignisse“. In dem „Machwerk“, so sein Urteil, fänden sich ganz wenige und 15 Zit. nach: Thomas Ballhausen, Between Virgo and Virago. Spatial Perceptions and Gender Politics in Austrian Film Production, 1914–1918, in: Vera Apfelthaler/Julia B. Köhne (Hg.), Gendered Memories. Transgressions in German and Israeli Film and Theater, Wien 2007, 147–159, hier 150. 16 Zit. nach Philipp Stiasny, Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914–1929, München 2009, 29; vgl. auch Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vom Augusterlebnis zur Ufa-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg, Berlin 2004, 43. 17 Anton Kaes, Shell Shock Cinema: Weimar Culture and the Wounds of War, Princeton/Oxford 2009, 28f. 18 Zit. nach Alexandre Sumpf, In Szene gesetzt. Der Erste Weltkrieg im russischen und sowjetischen Kino, in: Osteuropa, 64. Jg./Heft 2–4/Februar-April 2014: Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, 339–349, hier 345.
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obendrein „langweilige Aufnahmen“ von Schießereien, die überdies „in den meisten Fällen hinter der Front gemacht“ und ohne jedes „Geschick“ oder einen „verbindenden Gedanken“, eine übergeordnete Idee, miteinander verknüpft wurden.19 Kesslers Wahrnehmungen passten zu zahlreichen Produktionen der kriegführenden Staaten. Im Romanowimperium wurden beispielsweise einzelne Filmsequenzen immer wieder neu geschnitten und bei verschiedenen Gelegenheiten verwendet, wobei man die entsprechenden Aufnahmen wiederum bedenkenlos mit „Laufbildern“ der Balkankriege in den Jahren 1912 und 1913 vermischte und als aktuelle Weltkriegsneuigkeiten verkaufte.20
Veränderungen, Differenzierungen, Relativierungen
Dennoch dienen gerade filmgeschichtliche Beispiele auch als Beweise für nachhaltige Transformationen und „Erfolgsgeschichten“ neuer Medien. Allein schon zahlenmäßig ließ sich der Bedeutungszuwachs der „Laufbilder“ wahrnehmen. Vor allem zwischen 1913 und 1916 waren unter anderem im ganzen Romanowimperium bemerkenswerte Aufwärtstrends zu verzeichnen, hatte sich die Anzahl der „Filmtheater“ auf etwa 4000 verdoppelt.21 Aus dieser Perspektive und konträr zu den üblichen Darstellungen der „Moskowitischen Rückständigkeit“, stellte Russland selbst das „moderne“, industrialisierte Deutsche Reich in den Schatten, wo es in 29 Städten 1910 456 und 1917 3130 Kinos gab.22 Freilich bedarf es einer Relativierung. Viele Spielstätten dienten gleichzeitig als Bühnen diverser Schauspieltruppen, prägten als Wander- oder Sommerkinos immer nur kurzfristig das kulturelle Gepräge diverser Orte.23 Die Not bei Kriegsende und die revolutionären Unruhen trugen das ihre zu einer Krise der „Lichtspieltheater“ und der Produktionsfirmen bei. Die Branche erlebte in Sowjetrussland nach 1917 ihren fast vollständigen Zusammenbruch, während in Mitteleuropa zumindest Engpässe bei der Energieversorgung, ein allgemeiner Mangel an Ressourcen, Währungs19 Zit. nach Rainer Rother, The Experience of the First World War and the German Film, in: Michael Paris (Hg.), The First World War and Popular Cinema. 1914 to the present, New Brunswick/New Jersey 2000, 217–246, hier 222. 20 George Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990, 148. 21 Ginzburg, Kinematografija, 158; siehe auch Denise J. Youngblood, A War Forgotten: the Great War in Russian and Soviet Cinema, in: Paris (Hg.), Cinema, 172–191, hier 173. 22 Ulrike Oppelt, Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2002, 14 und 307. 23 Sumpf, Szene, 341f.
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probleme, politische Unruhe und Neuorientierung sowie behördliche Regelungen der Öffnungszeiten zu Schwierigkeiten führten.24 Zumindest das Ende des vierjährigen Völkerringens erwies sich auf solche Weise als Hindernis bei der Erschließung neuer Märkte und Zielgruppen. Die neuerliche Konjunktur in den 1920er Jahren basierte im Gegensatz dazu wiederum auf Erfahrungen und organisatorischen Grundlagen des Ersten Weltkrieges, wie unter anderem die Geschichte diverser Produktions- und Verleihfirmen vor Augen führt.25 Als richtungweisend entpuppte sich auch die staatliche Intervention in Bereich der neuen Medien. Im Dienste des Vaterlandes – so der Befund zahlreicher Experten – stieg das Ansehen der zuvor oft als billige Unterhaltung eingestuften „Kinematographie“, obwohl sich dagegen einwenden lässt, dass gerade die „Laufbilder“ auf Dauer die Gemüter erregten und zu lebhaften Kontroversen über Qualitätsfragen Anlass gaben.26 In gewisser Weise existierten ähnliche Pro- und Contra-Argumente auch bei der Beurteilung der Entwicklung nationaler Absatzmärkte. Berechtigterweise wiesen Untersuchungen auf die Schwierigkeiten wichtiger Filmländer hin, die – wie im Falle Frankreichs oder auch der vor dem Ersten Weltkrieg äußerst aktiven dänischen Produktion – ab dem Sommer 1914 durch Import- und Exportverbote sowie durch neue Steuern beträchtlich an Einfluss verloren.27 Die Zerstörung bisheriger, mitunter globaler Vertriebsnetze darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass hauptsächlich in der Stummfilmzeit der transnationale Charakter der Kinoindustrie erhalten blieb – einerseits durch medienspezifische Genres und künstlerische Stile, andererseits speziell nach 1918 durch die Rückeroberung internationaler Absatzbereiche und den wachsenden Einfluss Hollywoods trotz der sprachlichen Barrieren im Gefolge der Einführung des Tonfilmes Ende der 1920er Jahre.28 Mindestens ebenso problematisch erscheint es aber auch aus anderen Gründen, das „große Völkerringen“ ab 1914 als markanten Einschnitt zu betrachten. Zwar wird von da an die Produktion im eigenen Land angesichts der kriegsbedingten Abschottung gegenüber feindlichen und teilweise neutralen Staaten hervorgehoben. Wie aber etwa das Beispiel Russland zeigt, dachte man hier zumindest aus künstlerischem Blickwinkel seit Längerem in den Kategorien autonomer kultureller Ent24 Verena Moritz/Karin Moser/Hannes Leidinger, Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1938, Wien 2008, 19f., 22 und 34; zu Russland: Nicholas Reeves, The Power of Film Propaganda, London/New York 1999, 48f. und 52f. 25 Diesbezüglich vor allem das Beispiel der Universum-Film-AG (Ufa). Siehe dazu Stiasny, Kino, 34. 26 Moritz/Moser/Leidinger, Kampfzone, 55–75, 108–126, 139f., 143, 195f., 207–210; Stiasny, Kino, 27f. 27 Stiasny, Kino, 27; siehe auch Schwarz, Krieg, 515. 28 Moritz/Moser/Leidinger, Kampfzone, 41f. und 108–127.
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wicklungen, „traditionell“ abweichender Wahrnehmungen von Erzählung und Licht, Wortlastigkeit und Visualität, Dynamik und Statik der Bilder.29 Dass es sich hierbei nicht bloß um die „Erfindung“ nationaler Konstruktionen handelte, belegten zudem divergierende und im Wandel befindliche Beurteilungen der Fotografie. In den einzelnen kriegführenden Ländern entwickelte sich die Beziehungen zwischen Militärs und Bildjournalismus recht unterschiedlich, wenngleich eine allgemeine Tendenz erkennbar war: Das „Lichtbild“ stärkte seine Position30, obwohl es ihm nicht – wie den Zeichnern und Malern – gelang, das „gewaltige Völkerringen“ sozusagen auf den Punkt zu bringen. In der „Unmasse“ der zwischen 1914 und 1918 publizierten Fotos findet sich kaum eines, „das dank schlagkräftiger Verdichtung wichtiger Kriegsaspekte die Zeiten überdauert hat und noch heute als Ikone im kollektiven Bildgedächtnis präsent ist“.31 Während es neue und alte Medien gleichermaßen mit jeweils unterschiedlich gut vorbereiteten und entsprechend sensibilisierten Regierungsorganen beziehungsweise Heeresbehörden zu tun hatten, Großbritannien zum Beispiel anfangs nicht zuletzt im Vergleich zu Deutschland verhältnismäßig zögerlich agierte und aus propagandistischer Sicht erst nach und nach „auf Touren“ kam, hatte man in allen Ländern ureigenste militärische Interessen in Bezug auf die „Licht- und Laufbilder“ zu beachten. Die Armeestäbe wahrten in diesem Sinne gewohnheitsmäßig ein mehr als distanziertes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Insbesondere Zivilisten galt es ihrer Ansicht nach speziell von den Frontgebieten fernzuhalten, fürchtete man doch die Anwesenheit von Unbefugten oder sogar von Spionen.32 Vor allem Kameraleute und Fotografen erhielten nur in limitierter Zahl Zugang zum „realen Kriegsgeschehen“, und zwar primär zur Sammlung von Aufnahmen, mit deren Hilfe bestimmte militärische Operationen später, in Friedenszeiten, vornehmlich durch Stabsoffiziere ausgewertet werden sollten. Noch wichtiger waren „Lichtbilder“ der „Feindseligkeiten“ allerdings für die Nachrichtendienste der Streitkräfte. Nicht wenige Abbildungen zeigen demgemäß Flugzeuge und Ballons, deren „Luftaufklärung“ jedoch oft weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Foto- und Filmexperten konnte das nicht wirklich überraschen. 29 Natascha Drubek, Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino, Wien/Köln/Weimar 2012, 21 und 27; Yuri Tsivian, Early Russian cinema: some observations, in: Richard Taylor/ Ian Christie (Hg.), Inside the Film Factory. New approaches to Russian and Soviet cinema, London/ New York 1991, 7–30, hier 13, 17 und 19. 30 Anton Holzer, Krieg in Bildern. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, in: Schallaburg KulturbetriebsgesmbH (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914-1918. Ausstellung und Katalog, Schallaburg 2014, 254–259, hier 259. 31 Ulrich Keller, Der Weltkrieg der Bilder. Organisation, Zensur und Ästhetik der Bildreportage 1914– 1918, in: Fotogeschichte, Jg. 33/Heft 130/2013, 5–50, hier 17. 32 Dazu neben vielen anderen: Stiasny, Kino, 28.
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Sie hatten bald erkannt, dass die Bilder eine Vielzahl von Informationen mit meist verwirrend vielen Interpretationen anboten. Im Unterscheid dazu suchten die Militärs jedoch nach eindeutigen Aussagen, so dass die Majorität der Sujets für sie gewöhnlich keinen Nutzen brachten. Eine österreichische Untersuchung von bisherigen Leistungen der Kriegsfotografie gelangte daher im Herbst 1915 zu der Ansicht: „Die meisten Aufnahmen genügen den Zielsetzungen der Kriegspropaganda, hinsichtlich ihrer militärischen Verwendung erbrachten sie aber keine zweckmäßigen Resultate.“33
Begriffe und Themenfelder
Obwohl dieses Urteil angesichts der fortgesetzten Frontaufklärung mittels „(Lauf ) Bildern“ und technisch aufwendiger Projekte der fotografischen Lufterkundung insbesondere im Stellungskrieg allzu pessimistisch ausfiel34, trifft es zu, dass die Propagandatätigkeiten bald zu den wichtigsten Aufgaben der Fotografen und Filmteams zählten. Visuelle Quellen erhielten vor diesem Hintergrund erst im engeren Sinn ihren „medialen Charakter“, ein Faktor, der es wiederum ratsam erscheinen lässt, den Untersuchungsbereich terminologisch und inhaltlich etwas genauer zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist zunächst eine in vielen Bereichen erkennbare Erweiterung und gleichzeitig Verwässerung von Schlüsselbegriffen der historischen Forschung zu gewärtigen. Hinsichtlich bewaffneter Auseinandersetzungen waren in letzter Zeit etwa recht breit gehaltene Definitionen von Gewaltformen im Gespräch35, eine Tendenz, der zum Beispiel Benjamin Ziemann entgegentritt, in dem er sich gegen die Gefahr einer Gleichsetzung von Demütigungen und Beschimpfungen mit physischen Attacken ausspricht und vor allem den Krieg als besonderes Konfliktfeld präsentiert, in dem „jene Grundbedingung moderner Gesellschaften systematisch außer Kraft gesetzt“ wird, „nach der drastische Sanktionen riskiert, wer andere Menschen gezielt verletzt oder tötet“.36 Bei der Erfassung des „Völkerringens“ hatte aus epistemologischer Sicht wiederum die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen „Realität und Fiktion“ zu einer übermäßigen Verwendung des Ausdruckes „Diskurs“ geführt. Der modische 33 ÖStA/KA, Akten des Kriegspressequartiers, Karton 1, Gutachten über die bisherigen Leistungen der Kriegsphotographen, Oktober 1915, 2. 34 Holzer, Krieg, 254 und 257; vgl. Julia Encke, Augenblick der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, München 2006, 56. 35 Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War: Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011, 3, 39, 52 und 56. 36 Benjamin Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013, 13.
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Terminus deutete bestenfalls noch einen zentralen Streitpunkt der Methoden- und Theoriedebatten an, seine unübersehbare Konjunktur bewirkte jedoch eine „nahezu gänzliche Beliebigkeit seiner inhaltlichen Ausfüllung“. Im Bestreben, das „nebulöse Allerweltswort“ vom „Makel des Ungefähren und Unbestimmten“ zu befreien, reichen Begriffpräzisierungen mittlerweile von unterschiedlichen „mikroskopischen“, linguistischen Annäherungen an semantische Strukturen bis zur abstrahierenden Erfassung von Wert- und Weltordnungen.37 Kultur- und Mediengeschichte sind davon direkt betroffen, nicht zuletzt im Umfeld von Diskussionen über die „Authentizität“, Intentionalität und Wirklichkeitsbezüge von Bildquellen. Abgesehen vom Unbehagen und von der Herausforderung, unter anderem das Kino auf solche Kriterien festzulegen, verwandelte sich aber auch die „Frage nach dem Medialen“ in den letzten Dekaden „immer mehr zu einer grundlegenden Frage von sinnlicher Wahrnehmung“. Das Mediale, schreibt Natascha Drubek in ihrer Habilitationsschrift, „wurde zur Basis aller Diskurse, ja, von Geschichte selbst, apriorisch gesehen für einen Großteil menschlicher Wahrnehmungen und Tätigkeiten“.38 Schon rein forschungspragmatisch und erst recht in Hinblick auf erkenntnistheoretische Erwägungen zum „Realen“ beziehungsweise zur Frage von „Konstruktion“ und „Inszenierung“39 muss jedoch hier das Wort „Medium“ keineswegs bloß im Sinne eines Speichers beziehungsweise einer Speicherung von Informationen als zu 37 Reiner Keller, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen 2004, 60; vgl. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, 7 und 65f.; siehe dazu auch Die Ausgabe der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften zum Thema: „Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte“, Heft 4. Innsbruck/Wien/Bozen 2005. 38 Drubek, Licht, 95. 39 Unter anderem sollte neben entsprechenden Debatten über die Wirkung postmodernen Denkens die 2012 von der Tübinger Geschichtsphilosophin Doris Gerber präsentierte Arbeit „Analytische Metaphysik der Geschichte“ Erwähnung finden. Das Unbehagen an Denkweisen, die von „Wirklichkeit“ nur mehr – wie hier – unter Anführungszeichen schreiben, um nicht „unter den Verdacht zu geraten, sie seien so naiv zu glauben“, es gäbe eine „Wirklichkeit wirklich“, brachte auch Helmut Lethen in seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“ dazu, sich „gegen allzu viel Konstruktion“ auszusprechen. In ihrer Rezension über Lethens Studie hat Annette Vowinckel auf eine Reihe ähnlicher Wortmeldungen hingewiesen. Allerdings lässt sich das intellektuelle Potenzial tief greifender erkenntnistheoretischer Skepsis – auch wenn die „Wiederkehr der Dinge“ und „harten Fakten“ die „Zunft seit einiger Zeit umtreibt“ – nicht allein durch eine postulierte Hinwendung zur vermeintlichen oder tatsächlichen Realität und entsprechende Bekenntnisse ersetzen.- Annette Vowinckel, Rez. GA: H. Lethen: Der Schatten des Fotografen, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2014-2-073, 29.4.2014, 13:28 Uhr, Microsoft Internet Explorer.
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weit gefasst betrachtet werden.40 Auch der Kommunikationscharakter des Wortes, die Nachrichtenübermittlung, soll angesichts des vorgegebenen Umfangs und thematischen Rahmens dieses Beitrages eingeschränkt werden auf Formen der „Massenbeeinflussung“ bei vorrangiger Betrachtung neuer Technologien. Ungeachtet der „Geburt des Radios“, das teilweise von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs profitierte41, und abgesehen von dem speziell im 19. Jahrhundert verstärkt institutionalisierten Archiv-, Bibliotheks- und Museumswesen, wobei letzteres zwischen 1914 und 1918 in didaktischer Hinsicht neue Wege beschritt42, wird es in der Folge vor allem um (periodische) Printmedien sowie – entsprechend der bisherigen Schwerpunktsetzung – um die auf Publizität achtende Foto- und Kinobranche gehen.
Mediengeschichtliche Entwicklungen
Gerade aus einer solchen Perspektive und im Wissen um die Bedeutung dieser Medien erscheint allerdings der Zäsurcharakter des „vierjährigen Blutvergießens“ besonders fragwürdig. Betrachtet man etwa die Geschichte des Zeitungsmarktes, so stellen sich mit der Durchsetzung von Meinungsfreiheit und der Reduzierung von Zensurmaßnahmen einerseits sowie der satztechnischen Innovation der Rotationspresse andererseits die Dekaden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als besonders dynamisch dar. Auch abseits vieler europäischer Länder und der Vereinigten Staaten, denen in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle zukam, holte man diese Entwicklungsschübe mit immer kürzerem Zeitabstand nach. Die Massenpresse mit feinen Zwischenabstufungen brachte noch vor 1900 den sozialen Typus der modernen Journalisten und ein globales Nachrichtensystem hervor, mit dem „die Grundmuster eines historisch beispiellosen world wide web“ geschaffen waren.43 Die Medienfachleute fanden dieses weit entwickelte Kommunikationssystem 1914 vor, ohne es noch entscheidend beleben oder verändern zu müssen. Die Zeitungslandschaft stand während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in ihrer Hochblüte, ohne vorläufig Anzeichen eines Verfalls zu zeigen. Technologien wie die Fotografie intensivierten vielmehr das Geschäft mit diversen Drucksorten und Peri40 Vgl. Drubek, Licht, 95. 41 Frederic Nebeker, Dawn of the Electronic Age. Electrical Technologies in the Shaping of the Modern World, 1914 to 1945, New Jersey 2009, 79f.; Roman Sandgruber, Strom der Zeit. Das Jahrhundert der Elektrizität, Linz 1992, 85. 42 Hirschfeld, Weltkrieg, 22. 43 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 64–74.
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odika. Voraussetzungen hierfür waren mit der Daguerreotypie und später, Ende der 1880er Jahre, mit der Erfindung der billigen, leicht transportablen und aus der Hand bedienbaren Kodak-Rollfilmkamera geschaffen. Konkret bedeutete das auch ein Vordringen des „Lichtbildes“ in das Alltagsleben beziehungsweise die Etablierung aller damit verbundenen Betätigungsfelder, wie etwa der Werbung, der Propaganda oder der Herstellung und des Verkaufs von Bildpostkarten.44 Die zur Mitte der 1890er Jahre entstehende „Kinematographie“ war ihrer Kinderstube gleichfalls rasch entwachsen und hatte sich von der anfänglichen Attraktion und Jahrmarktsensation zum ansehnlichen Industriezweig mit Studios, Stars, Vertrieben, großen Lichtspieltheatern, Fachmagazinen und Interessensvertretungen gewandelt. Wie sehr dieser Trend auch vermeintlich rückständige Länder erfasste, verdeutlicht der Beginn einer eigenen Kinobranche beziehungsweise nationalen Filmproduktion in Russland und Österreich vor 1910.45 Parallel dazu verbesserte sich rasch das Verständnis von den zu vermittelnden Inhalten sowie den künstlerischen Möglichkeiten und Grenzen filmischer Narrative. Hand in Hand damit ging der Zuspruch des Publikums, der schon am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine regelrechte „Kinomanie“ auslöste, das neue Medium weiter kommerzialisierte und als „Massenvergnügen“ zu einer kulturellen Institution machte. Unterhaltung und Breitenwirksamkeit standen jedoch einem bald einsetzenden Bestreben nach anspruchsvollen Angeboten keinesfalls im Wege.46 Speziell von Literaturverfilmungen erwartete man sich diesbezüglich Einiges, wobei Repräsentanten der „Hochkultur“ bei dieser Gelegenheit überdies die „Beflissenheit der Betreiber“ von Lichtspieltheatern vermerkten, „dem Kinematographen das Verruchte und Muffige der Vorstadt zu nehmen“.47 Die Filmunternehmen drängten in die Mitte der Gesellschaft und wandten sich daher auch den hohen Staatsakten und historischen Begebenheiten zu. Sie standen bereits mit den Behörden in Verbindung, als es nach der Akzeptanz von „embedded journalists“ in den Kampfgebieten der 1870er Jahre48 nun um die visuelle Präsentation von Kriegszügen und hohen Würdenträgern ging. Die Hervorhebung monar44 Ebd., 77–79. 45 Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser, Film in Österreich 1896–2009. Ein Überblick, in: Historische Sozialkunde. Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung, 4/2009, 4–9, hier 4; Drubek, Licht, 117. Werner Michael Schwarz betont in diesem Zusammenhang anhand des österreichischen Beispiels die Zäsur von 1907/1909: Schwarz, Krieg, 516. 46 Drubek, Licht, 125. 47 Elisabeth Büttner/Christian Dewald, Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945, Salzburg/Wien 2002, 107. 48 Vgl. Bremm, Propaganda, 93 und 123.
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chischer Selbstinszenierung rückte dabei von Anfang an in das Zentrum des Interesses. Die Brüder Lumière stellten ihren „Cinématographe“ nicht zuletzt anhand des „besonders beliebten Sujets“ der Krönung von Zar Nikolaus II. vor.49 Das Bedürfnis nach authentischen Kampfszenen veranlasste wiederum „verwegene Kameraleute“, die Krisenregionen der Welt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufzusuchen, um Aufnahmen vom Griechisch-Türkischen Krieg, von der Schlacht bei Omdurman sowie von der Kuba-Kampagne im Spanisch-Amerikanischen Krieg zu machen. Ein halbes Dutzend Filmpioniere berichtete dann auch vom Burenkrieg, in den Balkankriegen der Jahre 1912 und 1913 waren es schließlich schon mehr als 20.50 Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges leuchtete den erfahrenen Filmleuten außerdem bereits ein, dass die „Realität“ der Feindseligkeiten sich kaum auf „Wirklichkeitsbildern“ festhalten ließ. George Méliès behalf sich daher bei seinem „kinematographischen Bericht“ über die Kämpfe zwischen den Griechen und dem Osmanischen Reich ebenso mit „Fakes“ wie unter anderem Edward Amet bei den Gefechten zwischen den USA und Spanien oder eine Reihe von Filmproduzenten aus Frankreich, den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Holland anlässlich des Burenkrieges.51 Ähnliches galt für den Boxeraufstand in Nordchina, wo allerdings keine Kameraleute zugegen waren. In Ermangelung betreffender Bilder stellte man „spektakuläre Schreckensszenen auf englischen Wiesen und in französischen Parks“ nach.52
Konstanten und langsame Veränderungen
Das Jahr 1914 verweist auch vor diesem Hintergrund wenigstens in qualitativer Hinsicht auf keinen markanten Einschnitt, ein Befund, der noch aus einem anderen Blickpunkt Bestätigung finden kann. Immerhin scheint es angebracht, verschiedene Phänomene auf ihre jeweilige „temporale Erstreckung“ hin zu untersuchen und in diesem Zusammenhang auch auf Aspekte aufmerksam zu machen, die gewissermaßen „überzeitlichen Charakter“ tragen. Hinsichtlich dessen hat beispielsweise Anne Morelli von der Universität Brüssel wiederkehrende Argumentationen der Kriegspropaganda thematisiert. Die Streitparteien, schreibt sie unter anderem, würden sich stets bemühen hervorzuheben, dass sie keinen bewaffneten Konflikt wollten, dass 49 Osterhammel, Verwandlung, 80. 50 Stephen Bottomore, The Biograph in Battle, in: Karel Dibbets/Bert Hogenkamp (Hg.), Film and the First World War, Amsterdam 1995, 28–35, hier 28. 51 Ebd., 31f. 52 Osterhammel, Verwandlung, 81.
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dafür das gegnerische Lager die Verantwortung trage, dass man selbst für „eine gute“, ja „heilige Sache“ das „Schwert ziehe“, dass Zweifler in den eigenen Reihen „Verräter“ und dass die eigenen Verluste im bewaffneten Kräftemessen gering, die des Feindes jedoch hoch seien. Jede Gruppe beziehungsweise jedes Land betone, so ihre weiteren Ausführungen, dass man in seinem Kampf von feinsinnigen, besser unterrichteten „Künstlern und Intellektuellen“ unterstützt werde. Im Gegensatz dazu stehe der Feind sozusagen „im Dienste des Teufels“ und müsse daher auf verschiedene Weise dämonisiert werden.53 Fanden derlei Erkenntnisse Morellis vor allem auf der Basis der betreffenden Analysen des Pazifisten Arthur Ponsonby auf den Ersten Weltkrieg beziehungsweise die „heißen“, „kalten“ und „lauwarmen“ Kriege des 20. Jahrhunderts Anwendung,54 so darf mit gutem Grund davon ausgegangen werden, dass vergleichbare Vorgehensweisen und Begründungen schon in früheren Epochen gewählt wurden. Klaus-Jürgen Bremm dazu: „Neu war die Verklärung der eigenen Partei bei gleichzeitiger Herabsetzung des Gegners allerdings nicht. Schon der Athener Perikles soll, wenn man dem Historiker Thukydides glauben kann, in seinem Epitaph auf die ersten Gefallenen des Peloponnesischen Krieges zielsicher das Mittel der Selbstaffirmation benutzt haben, um den Durchhaltewillen seiner wankelmütigen Athener zu stärken. Kaum ein Kriegsherr von Titus Quinctius Flamininus bis Papst Urban II. konnte seither darauf verzichten, die eigenen Ambitionen unter ein ideelles Ziel, sei es die Freiheit der Hellenen oder gar das christliche Seelenheil, zu stellen, und notfalls den Feind buchstäblich zu verteufeln.“55
Was sich allerdings änderte waren die technischen Möglichkeiten und Kommunikationsformen, die etwa den Reichspostmeister Johann Wetzel während des Dreißigjährigen Krieges zur Einschätzung verleiteten, eine „bedeutende Zeitung habe die Kampfkraft von 20.000 Mann“. Das „war eine Gleichung, die seit der Medienrevolution des 17. Jahrhunderts immer wieder neu aufgemacht wurde“, konstatiert demgemäß Michael Jeismann56, dem es allerdings in der Folge um epochenspezifische Rahmenbedingungen geht. Im Ersten Weltkrieg sieht er eine gefährliche Verbindung nationaler Autosuggestion mit staatlicher Manipulation, die zur Ethnisierung des „Völkerringens“ und mit Blick auf kommende totalitäre Massenverbrechen zur Ver53 54 55 56
Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004, 5. Ebd., 8. Bremm, Propaganda, 166. Jeismann, Propaganda, 198.
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stärkung rassistischer Feindbilder beitrug. Gerade derartige Analysen basieren demnach allerdings gleichfalls auf der Untersuchung längerfristiger Transformationen, wie auch Jeismann weiß, wenn er festhält: „So wurde das europäische Mächtekonzert seit 1789 nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen, sondern auch auf offener Bühne gespielt – vor und schließlich auch mit einer Öffentlichkeit, deren Chancen, betrogen und in die Irre geführt zu werden, in dem Maß stiegen, in dem sie ihren Anspruch auf Informations-Teilhaberschaft durchsetzte: keine Identifikation ohne Information“.57
„Totalisierung“ und „Fin de Siècle“
Vor diesem Hintergrund gewinnen bestimmte Epochenkonstruktionen besondere Aussagekraft, allen voran die Konzeption des „totalen Krieges“, gesellschaftlicher oder nationaler Formierungsprozesse, die eng mit effektiveren Beeinflussungs- und Kontrollmechanismen beziehungsweise technologisch-organisatorischen Entwicklungsschüben verknüpft waren. Dabei wurde die „eigene Bevölkerung“ stärker in die Pflicht genommen und umgekehrt „Fremdes“ abgestoßen. Die Aufdeckung von Verrat und Spionage beschäftigte deshalb nicht zufällig die Ära vor 1914 bereits intensiv, eine Zeitspanne, die im Zuge einer etappenweisen Demokratisierung überdies vom Prinzip der „levée en masse“, der Bewaffnung aller Bürger, geprägt war. Geschehnisse seit der Französischen Revolution standen auf solche Weise im Zeichen der „Entgrenzung“ gewaltsamer Konfrontationen. Dass man in den „Volkskriegen“ angesichts des industriellen Fortschrittes enorme Verluste zu erwarten hatte, ließ sich überdies etwa am Verlauf des Krimkrieges und des amerikanischen Sezessionskrieges erkennen. Auch die Verschmelzung von Wirtschaftspolitik und Kriegsplänen, von zivilen und militärischen Bereichen war seit Längerem absehbar.58 Vergleichbares galt wiederum für die wirksamere Nutzung verbesserter Kommunikationsmöglichkeiten und Nachrichtenübermittlungen. Propaganda- und mediengeschichtlich bezeichnet, mit Blick auf die Ziele der Massenmobilisierung, der Zensur- und Überwachungsmaßnahmen, der Erste Weltkrieg ebenfalls weniger einen Wendepunkt oder „Zeitbruch“ als vielmehr eine „Durchgangsstation“ auf dem Weg vom beginnenden „modernen“ Maschinenkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts in die Sackgasse der atomaren Bedrohung. Damit erst wird ein wesentlicher Einschnitt wahrnehmbar, jener Moment nämlich, der durch den „grellen Lichtblitz von Hiros57 Ebd., 207. 58 Hannes Leidinger/Verena Moritz, Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011, 86.
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hima“ in zwei Minuten das eherne Prinzip auslöschte, dass Krieg das letzte Instrument der Politik sei.59 Das vierjährige Massenschlachten von 1914 bis 1918 präsentierte sich solcherart als besonders blutige Etappe eines Zeitalters, die eher in quantitativen als in qualitativen Belangen hervorstach. Mit Klaus-Jürgen Bremm lässt sich dabei durchaus der Standpunkt vertreten, dass etwa die Propaganda nach den „Schüssen von Sarajewo“ ein „gigantisches Publikum“ hatte und „alle Lebensbereiche der Menschen von der Schule über die Werkbank bis in die Schützengräben“ erfasste.60 Einschränkend sollte jedoch, abgesehen von der Frage der unmittelbaren Wirkung diverser Beeinflussungsstrategien, nicht übersehen werden, dass hierfür notwendige „Revolutionen“ im Zeitungswesen und im Bereich der visuellen Medien auf den weiteren Zeithorizont der Epoche „totaler Kriege“ von den 1850er Jahren bis 1945 verweisen. Gerhard Hirschfeld dazu 2009: „Dass selbst singuläre Vorkommnisse auf fernen Schlachtfeldern nicht unbeobachtet und unkommentiert blieben (und zwar binnen kürzester Zeit), hatten bereits die Engländer im Krimkrieg erfahren müssen, als der „Times“-Korrespondent William Howard Russel die heimische Öffentlichkeit mit seinen Berichten von den skandalösen Bedingungen verstörte, die im britischen Expeditionsheer herrschten. Das Ausmaß und vor allem die erhebliche Wirkung staatlicher Propaganda und ihrer Mechanismen im amerikanischen Bürgerkrieg – auf beiden Seiten – und besonders auch im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ist inzwischen durch zahlreiche Studien belegt und erhärtet worden. Entscheidenden Anteil an einer neuen Wahrnehmung des Krieges und insbesondere dessen Folgen besaß dabei zweifellos die Fotografie: Gerhard Paul spricht mit Blick auf den amerikanischen Bürgerkrieg von der Wirkungsmächtigkeit einer ‚fotografischen Destruktionsästhetik‘; und wie Fotografien gezielt als Mittel der Denunziation und der Kriminalisierung (mithilfe von Bildinszenierungen und -fälschungen!) eingesetzt werden konnten, zeigte nachdrücklich der Kampf um die Pariser Kommune von 1871 – etwa die elfteilige Bilderserie ‚Crimes de la Commune‘ von Eugène Appert.“61
Gerade angesichts der neuen Medien-Realität drängt sich obendrein noch eine andere Epochenbestimmung auf, die zur Relativierung des Zäsurcharakters von 1914/18 beiträgt und vom Globalhistoriker Jürgen Osterhammel wie folgt beschrieben wird:
59 Ebd., 87. 60 Bremm, Propaganda, 167. 61 Hirschfeld, Weltkrieg, 14.
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„In den 1880er und 1890er Jahren“ ging ein „solcher ‚Ruck‘ durch die Welt, dass es geboten ist, von einer Unterperiode zu sprechen. Man kann sie nach einem Begriff aus der damaligen Zeit das ‚Fin de Siècle‘ nennen: nicht ‚eine‘, sondern ‚die‘ Jahrhundertwende. Diese Epoche endet nach herkömmlichem Verständnis mit dem Ersten Weltkrieg, aber eher […] 1918/19 als 1914, da der Krieg selbst Potenziale der Vorkriegszeit zur Entfaltung brachte. Manches spricht aber auch für ein zeitlich weiter gefasstes Konzept, wie es 1989 eine Gruppe deutscher Historiker entwickelte. Sie propagierten, durchaus in universalhistorischer Absicht, nicht bloß eine ‚lange‘ Jahrhundertwende von 1880 bis 1930, sondern füllten dieses Programm sogleich mit reichem Anschauungsmaterial. Auch den Wissenschaften und den Künsten wurde dabei viel Raum gegeben.“62
Aus medien- und speziell filmhistorischem Blickwinkel sollten in dieser Hinsicht unter anderem Aussagen von Philipp Stiasny in seinem Buch „Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914-1929“ Beachtung finden. Hier heißt es etwa: „In der deutschen Filmgeschichte markiert der Erste Weltkrieg“ für gewöhnlich „den tiefsten Einschnitt vor der Einführung des Tonfilms im Jahr 1929.“ Dabei „unterscheidet“ die Fachwelt „zwischen dem Kino vor und nach 1918 und spricht vom Kino der Kaiserzeit und vom Weimarer Kino.“63 Mit dem „erwachten Interesse an der Populärkultur geht eine Relativierung“ dieser „Periodisierung“ einher, „wodurch die Kontinuitäten zwischen dem Kino der Kaiserzeit und dem Weimarer Kino leichter erkennbar werden. Ungeachtet der Ablehnung der Populärkultur durch die Vertreter der Hochkultur“, so Stiasny, „verbindet das Bedürfnis nach Unterhaltung“ breite Bevölkerungskreise, wobei die „Laufbilder“ ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, Genres und Wirkungen hervorbringen beziehungsweise zur Bildung eines „Massengeschmacks“ im „Freizeit- und Konsumverhalten“ moderner Industriegesellschaften beitragen.64
Der konservative Krieg
Abgesehen davon wirkt der Erste Weltkrieg selbst noch aus anderen Gründen kaum als „Triebfeder“ oder „Durchlauferhitzer“ medialer Veränderungen und propagandistischer Bemühungen: Eine Art Doppelzäsur schaffte nämlich kriegsbedingt rasch Organisationsformen, um sie ebenso schnell nach dem Ende der Kampfhandlungen wieder zu beseitigen. Neben einer entwicklungshemmenden Ressourcenknappheit 62 Osterhammel, Verwandlung, 103. 63 Stiasny, Kino, 7. 64 Ebd., 10f.
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lähmten konservative Ansichten der Kriegsgesellschaften den „schöpferischen Geist“. „Modernistische Schulen“ wandten sich vor diesem Hintergrund eher „inneren“ oder „universalen Werten“ beziehungsweise Idealen zu; vaterländische Erziehung und militärische Feldzüge gehörten kaum zum Repertoire.65 Dazu passte auch das Verhalten von Egon Schiele, der auf einem verhältnismäßig ruhigen Posten bei der Heeresverwaltung vornehmlich russische Gefangene malte. Als er jedoch eingeladen wurde, Beiträge für eine Kriegsausstellung zu liefern, entschied er sich für „Friedenswerke“ vor 1914 und verweigerte sich solcherart vollständig martialischen Sujets.66 Ungeachtet dessen waren die Armeehauptquartiere jedoch keineswegs gewillt, auf die „kulturelle Schlacht“ mit „Pinsel und Staffelei“ zu verzichten. Konkret bedeutete das eine Hinwendung zu klassischen Formen der bildenden und darstellenden Kunst. Ein wenig experimentierfreudiger Naturalismus dominierte Zeichnungen und Gemälde, die als wichtige Instrumente propagandistischer Bemühungen unter anderem den Vorteil besaßen, allegorische Inhalte, Werte und Ideale, zu vermitteln, „fiktive Gefechtsszenen“ abzubilden sowie reale Begebenheiten und Personen zu karikieren oder zu idealisieren.67 In diesem Zusammenhang vertraute das Zarenreich etwa auf eine Eigenheit der Dorfkultur, auf die so genannten „Lubki“ als Ausdruck der „Volkskunst“.68 Tradition und Folklore standen demnach für eine gemeinsame nationale Identität, errichtet auf anerkannten Symbolen und Vorstellungen.69 Dazu gehörte insbesondere auch die Bewahrung der patriarchalischen Ordnung. Augenblickliche kriegswirtschaftliche Notwendigkeiten, die zu einer stärkeren Integration der Frauen in das Berufs- beziehungsweise öffentliche Leben führten, wollte man als zeitlich limitierte Phänomene betrachten. Manche misogyne Darlegung 65 Richard Stites, Days and nights in wartime Russia: cultural life, 1914–1917, in: Aviel Roshwald/ Richard Stites (Hg.), European culture in the Great War. The arts, entertainments, and propaganda, 1914–1918, Cambridge 1999, 8–31, hier 12. 66 Steven Beller, The tragic carnival: Austrian culture in the First World War, in: Roshwald/Stites (Hg.), Culture, 127–161, hier 140f. 67 Claudia Friedrich, Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Postkarte als Propagandamedium in Österreich-Ungarn, Dipl. Arb. Graz 2002, 141. 68 Vgl. Wolfgang Till (Hg.), Lubok – Der russische Volksbilderbogen, München 1985; Vladimir S. Bachtin/Dmitrij M. Moldavskij, Russkij lubok XVII-XIX vv [Der russische Lubok 17.–19. Jahrhundert], Moskau 1962; Vladimir V. Denisov, Vojna i lubok [Krieg und Lubok], Petrograd 1916, 2–4 und 28; Jeffrey Brooks, When Russia Learned to Read: Literacy and Popular Literature, 1861– 1917, Princeton 1985, 314; Anna F. Nekrylova, Russkie narodnye gorodskie prazdniki, uveselenija i zrelišča: Konets XYIII – načalo XX veka [Die russischen Volks-Stadtfeste, Freudenfeste und Schauspiele: Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts], 2. Aufl., Leningrad 1988, 95–125. 69 Jewgeni F. Kowtun, Die Wiedergeburt der künstlerischen Druckgraphik. Aus der Geschichte der russischen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Dresden 1984, 77; Gerald Janecek, The Look of Russian Literature: Avant-Garde Visual Experiments, 1900–1930, Princeton 1984, 10.
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stufte „das Feminine“ – wie schon früher – ohnehin unverändert als gefährlich und unverlässlich ein.70 „Laufbilder“ korrespondierten mit derartigen Ansichten, wenn sie etwa „ehrliche Jungen“ in das Zentrum der Handlung rückten, die von bösen Freundinnen irregeleitet werden. Nicht selten in Spionagegeschichten gehüllt, waren solche Spielfilme bei den Kinobesuchern aller Länder beliebt, obwohl das Genre mit vollkommen unterschiedlichen Botschaften verbunden sein konnte.71 Ansonsten fiel dem „Femininen“, das es auch als Garant des Weiterlebens der Nation im Hinblick auf die „Aufzucht“ der Kinder und zukünftigen Generationen zu schützen galt, vor allem die Rolle zu, „gehorsam und loyal, gefügig und sorgsam“ sowohl gegenüber dem Ehemann als auch dem „Vaterland“ zu sein. Folglich präsentierte man Frauen als liebevolle Mütter nicht nur ihres eigenen Nachwuchses, sondern ganz allgemein als Verkörperung der Hilfsbereitschaft.72 Wiederholt rückte demzufolge auf Plakaten, Postkarten, Fotos und Filmen die Gestalt der Krankenschwester ins Zentrum der Szenerie. Unzählige „Lichtbilder“ präsentieren weibliche Rot-Kreuz-Mitarbeiter in den militärischen Operationsgebieten oder in verschiedenen Spitälern73, wobei die Betrachter nicht selten an die christliche Passion erinnert wurden: Sterbende Soldaten in den Händen trauernder Frauen ähnelten bewusst der „Pietá“, dem „gekreuzigten Jesus und der Gottesmutter Maria“.74 Die Bedeutung religiöser Themen manifestierte sich ausdrücklich im Bereich der Bildpropaganda. Obwohl etwa die Orthodoxie unter der Herrschaft der letzten Zaren an Einfluss verlor, empfahlen Geistliche wie der Erzbischof von Voronež noch kurz vor der Revolution des Jahres 1917 die Verwendung „kirchlicher Symbole“ zur „Entfachung patriotischer Gefühle“, wobei er im Zuge von Messfeiern, Predigten und Gebeten insbesondere für Rekruten an die Verteilung von Flugblättern, Kreuzen und Ikonen dachte.75 Ein wichtiges Thema auf beiden Seiten der Schützengräben war zudem die Zerstörung von Kirchen und Klöstern, wenngleich hiermit überwiegend die Verhaltensweise der Mittelmächte angeprangert werden sollte. Seltener kamen Bilder von Verwüstungen durch die Entente in Umlauf, ein Umstand, der auf den Verlauf der 70 Anton Holzer, Österreichische Kriegsfotografie im Ersten Weltkrieg (1914–1918), Diss. Wien 2005, 214f. 71 Dazu etwa: Paolo Cherchi Usai et al. (Hg.): Silent Witnesses. Russian Films, 1908–1919, London 1989, 236; Leslie Midkiff DeBauche, The United States’ Film Industry and World War One, in: Paris (Hg.), Cinema, 138–161, hier 156. 72 Ballhausen, Virgo, 156f. 73 Holzer, Kriegsfotografie, 208. 74 Youngblood, War, 174; Stites, Days, 19. 75 Stites, Days, 28.
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Feldzüge zurückzuführen war. Schließlich operierten in erster Linie die Hohenzollernarmeen und ihre Verbündeten in feindlichem Territorium, wo sie für entsprechende „Barbarentaten“ verantwortlich gemacht werden konnten.76 Dementsprechend antworteten Deutsche und Österreicher: Sie verbreiteten Bilder, in denen sie als sensible Okkupationsmächte präsentiert wurden, deren Streitkräfte sich nach Kräften um den Schutz der regionalen Bevölkerung und ihrer „Kulturschätze“ zu bemühen schienen.77 Abgesehen davon dienten „Gottesfurcht“ und Tradition zudem noch der Idee nationaler Solidarität. Hauptsächlich das Weihnachtsfest bot sich in Bezug darauf als geeignetes Genre an, wie unter anderem russische und deutsche Filmproduktionen aus dem Jahr 1914 beweisen.78 Ungeachtet derartiger propagandistischer Bemühungen mit ihren Herrschaft stabilisierenden Intentionen, die folgerichtig auch eine entsprechende Präsentation der Monarchen, Regierungs- und Armeechefs mit sich brachten, wollte allerdings die viel gerühmte Aufwertung der „Laufbilder“ im „Dienste des Vaterlandes“ nicht so ganz gelingen. Enttäuscht und empört konstatierte demzufolge eine parlamentarische Anfrage im deutschen Reichstag 1916: Die Lichtspielhäuser „überbieten sich in der verwerflichsten Darstellung von Ehebruchs-‚Komödien‘ (sogenannten Sittenschlagern), Ehebrecher- und Detektivstücken übelster Art, unter Verwendung schreiender bildlicher Anpreisung und mit Unterstreichung des sittlich Brüchigen und Anfechtbaren. Mit ihren Vorstellungen ‚nur für Erwachsene‘ übertreffen sie noch das, was sie leider schon vor dem Kriege dem Volke vorsetzen durften, und tragen damit fort und fort zur Verwilderung der Begriffe von Ehre und Sitte bei.“79 Fortgesetzte Moraldebatten sowie anhaltende Diskussionen über „Schund und Schmutz“ oder den Wert und die „erzieherische Qualität“ der „Laufbilder“ verweisen demnach gleichfalls – ebenso wie das Beharren beziehungsweise die Hinwendung zu konservativen Werthaltungen und traditionellen Darstellungsformen – auf Kontinuitäten und die Fragwürdigkeit mindestens einer generellen Gültigkeit der These vom Ersten Weltkrieg als mediengeschichtliche Zäsur.80
76 Holzer, Kriegsfotografie, 345–351; Hubertus F. Jahn, Patriotic culture in Russia during World War I, Ithaca/London 1995, 165. 77 Holzer, Kriegsfotografie, 355f. 78 Die entsprechenden Produktionen heißen „Weihnachten im Schützengraben“ und „Weihnachtsglocken“. Vgl. Kaes, Shell Shock, 24; Youngblood, War, 188. 79 Zit. nach Kruse, Weltkrieg, 90f. Über vergleichbare Sichtweisen in Österreich insbesondere seit 1916 siehe: Schwarz, Krieg, 518. 80 Werner Michael Schwarz konstatiert demgemäß, dass „in der jüngeren Film- und Kinogeschichte der Erste Weltkrieg nur in Teilfragen als Zäsur“ diskutiert wird. Schwarz, Krieg, 515.
Walter M. Iber
„… eines der Länder, welche den allermittelmäßigsten finanziellen Ruf auf der Welt haben.“ Währung und Staatsfinanzen in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg
Das Ende des Ersten Weltkrieges im Oktober 1918 und der Zerfall der Habsburgermonarchie bedeuteten nicht nur einen gewaltigen politischen, sondern auch einen ökonomisch-strukturellen Bruch. Besonders im Hinblick auf Währung und Staatsfinanzen erwiesen sich die Umwälzungen als dramatisch – das Jahr 1918 markierte hier freilich nur einen kleinen Teil jenes Prozesses, der im Wesentlichen bereits im Sommer 1914 eingesetzt hatte und – vorläufig – mit einem einschneidenden Sanierungspaket in den Jahren 1922–25 beendet wurde. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gestaltete sich der angesprochene Transformationsprozess ambivalent: Er leitete einerseits einen Bruch ein, war aber andererseits von mancher Kontinuität (personeller wie auch struktureller Natur) gekennzeichnet, die aus der Monarchie in die Erste Republik hinüberreichte.1
Die Kriegsfinanzierung und ihre Folgen
Ihre Staatsfinanzen hatten die Habsburgermonarchie schon im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder vor große Probleme gestellt, vor allem wegen der zahlreichen Kriege, die in dieser Zeit geführt wurden. Die Kriegskosten hatten die kaiserlichen Regierungen auch durch expansive Nutzung der Notenpresse zu kompensieren versucht, was mehrere Schuldenkrisen (1811, 1816, 1859) zur Folge hatte.2 Nach dem Ausgleich mit Ungarn (1867) gesundeten die Finanzen allerdings überraschend schnell, begünstigt durch eine längere Phase des Friedens und des ökonomischen Aufschwungs, die im Wesentlichen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges andauerte. 1
2
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des an der Universität Graz laufenden Forschungsprojektes „Fiskalpolitik und Staatsverschuldung in der sehr langen Frist am Beispiel Österreichs, 1811–2012“ (Projektförderung: Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank, Projektnummer.: 15786). Vgl. Carmen M. Reinhart/Kenneth S. Rogoff, This Time is different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009, 91.
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Walter M. Iber
Budgetdefizite gab es in diesem Zeitraum nur vereinzelt; etwa als Folge der Krisen von 1873 (Börsenkrach) und 1878 (Besetzung Bosniens und der Herzegowina). Hauptverantwortlich für die weitere Verschuldung waren aber vor allem Infrastrukturinvestitionen, insbesondere in den Eisenbahnbau. Bereits 1889 verschwand das Defizit im Staatshaushalt erstmals konstant über einen längeren Zeitraum, nämlich für die folgenden 18 Jahre.3 Maßgeblich getragen wurde diese Entwicklung nicht zuletzt von umsichtigen Finanzministern wie dem Ökonomen Eugen Böhm-Bawerk oder dem aus dem Bankwesen kommenden Mansuet Johann Kosel.4 Banknotenumlauf der Österreichisch-Ungarischen Bank bzw. der Oesterreichischen Nationalbank, in Millionen Kronen
Jahr
Banknotenumlauf (in Millionen Kronen)
1913
2.494
1914
5.137
1915
7.162
1916
10.889
1917
18.440
1924
8.387.767
Quelle: Butschek, Statistische Reihen zur Österreichischen Wirtschaftsgeschichte.
Dann der abermalige Bruch 1914: Die gewaltigen Kosten des Ersten Weltkrieges – Schätzungen bewegen sich zwischen 81 und 90 Milliarden Kronen – vermochte Österreich-Ungarn nicht einmal annähernd durch Staatseinnahmen abzudecken.5 In den Budgetjahren 1915/16 und 1917/18 deckten die Einnahmen die Rüstungs- und indirekten Kriegsausgaben nur zu jeweils 56 Prozent.6 Umfangreiche Kreditoperationen waren notwendig; im Wesentlichen Anleihen bei der eigenen 3
4 5
6
Siehe ausführlich: Michael Pammer, Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913, in: José Luis Cardoso/Pedro Lains (Hg.), Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in NineteenthCentury Europe, Cambridge 2013, 132–161; Josef Wysocki, Die österreichische Finanzpolitik, in: Alois Brusatti (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1: Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, 68–104; Alois Gratz, Die österreichische Finanzpolitik von 1848 bis 1948, in: Hans Mayer (Hg.), Hundert Jahre österreichischer Wirtschaftsentwicklung 1848–1948, Wien 1949, 222–309. Wolfgang Fritz, Für Kaiser und Republik. Österreichs Finanzminister seit 1848, Wien 2003, 95–103. Anderen kriegsführenden Mächten wie beispielsweise Großbritannien war das zumindest teilweise gelungen. Michael North, Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute, München 2009, 181. Vgl. Helmut Rumpler/Anatol Schmied-Kowarzcik, Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teilbd. 2, Weltkriegsstatistik Österreich-Ungarn 1914–1918, Wien 2014, 338f.
„… eines der Länder, welche den allermittelmäßigsten finanziellen Ruf auf der Welt haben.“
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Bevölkerung und Kredite bei der Notenbank. Bereits im Zuge der Mobilmachung war die Österreichisch-Ungarische Bank am 4. August 1914 ihrer Verantwortung für die Währungsstabilität mittels kaiserlicher Verordnung enthoben worden.7 Einer exzessiven Nutzung der Notenpresse waren – beileibe nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Monarchie, siehe oben – keine Schranken mehr auferlegt, der Banknotenumlauf stieg in der Folge dramatisch an. Zumindest in dieser Hinsicht war Österreich-Ungarn seinen Kriegsgegnern überlegen, denn während sich in der Habsburgermonarchie die Geldmenge verzwölffachte,8 kam es in Großbritannien bis Kriegsende lediglich zu einer Verdoppelung, in Frankreich zu einer Verdreifachung.9 Die Kaufkraft der Krone sank während des Krieges auf ein Sechzehntel ihres Friedenswertes, ihre Golddeckung war im selben Zeitraum von 74,6 auf 0,9 Prozent gefallen.10 Zugleich hatte sich die Staatsschuld durch die Kriegskosten sprunghaft erhöht und belastete das Budget durch die anfallenden Zinsen und Tilgungen nun schwer. 1917/18 verschlang der Schuldendienst bereits 48 Prozent der Einnahmen (ohne Kreditoperationen), 1913 waren es noch rund 16 Prozent gewesen.11
Nachkriegsnot und Inflation
Nach Kriegsende verlangsamte sich das Tempo der Geldentwertung zunächst kurzfristig. Doch die Mär von der wirtschaftlichen Lebensunfähigkeit Österreichs hielt sich hartnäckig und drückte auf die Stimmung von Unternehmern und Investoren. Ab Februar 1919 gewann die Inflation wieder rasch an Fahrt, nicht zuletzt aufgrund der Währungstrennung zwischen den Nachfolgestaaten und, ab dem Sommer 1919, durch das Bekanntwerden der Friedensbedingungen von St. Germain-en-Laye. Das Vertrauen in die Währung sank auf den Nullpunkt: An den Börsen setzte eine wilde Spekulation gegen die Krone ein. Scharenweise plünderten die Menschen ihre Bankkonten, um das Geld in Sachwerten anzulegen und ihr Vermögen vor der Entwertung 7
Vgl. Herbert Matis, „Notleidende Funktionäre bevölkerten damals Österreich“. Die Währungs- und Geldpolitik in der jungen Republik, in: Helmut Konrad /Wolfgang Maderthaner (Hg), ...der Rest ist Österreich. Das Werden der Republik, Bd. 2, Wien 2008, 33–48, hier 34–37. 8 Vgl. Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zu Gegenwart, Wien 1995, 329. 9 Liaquad Ahamed, Die Herren des Geldes. Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott rieben, 2. Aufl., München 2012, 89 u. 97. 10 Karl Ausch, Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption, Wien/Frankfurt/ Zürich 1968, 6. 11 Compass, Finanzielles Jahrbuch 1919, Bd. 1, 3 u. 7.
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zu schützen. Verschiedene Städte und Gemeinden umgingen das Notenbankprivileg und gaben eigenes Notgeld aus.12 Die aus der Erbmasse der Monarchie hervorgegangene Republik Deutschösterreich sah sich angesichts der Entwicklung vor riesige Probleme gestellt: die soziale Not breiter Schichten, der desolate Staatshaushalt, die handelspolitische Abschottung aller Nachfolgestaaten, die auch die Wiener Regierung mitmachte, der zerrissene Wirtschaftsraum der Monarchie und ein Heer an Arbeitslosen. All diese Faktoren waren freilich kaum dazu angetan, das Vertrauen in die junge Republik zu stärken. Sie heizten die galoppierende Inflation weiter an und trieb den Staat in eine Abwärtsspirale, aus der er nicht mehr herauskommen sollte. Die horrenden Budgetdefizite, einmal mehr durch die Notenpresse finanziert, waren nicht zuletzt kostenintensiven Preisstützungsmaßnahmen geschuldet, zu beträchtlichen Teilen auch dem verzögerten Abbau des aufgeblähten Beamtenapparates, der noch den Dimensionen der Monarchie entsprach. Umgekehrt sorgte die Inflation dafür, dass das Budgetloch unaufhörlich wuchs: Während nämlich die (im Nachhinein einfließenden) Steuereinnahmen inflationsbedingt bereits wieder in minderwertiger Münze einliefen, waren die Ausgaben im zuvor noch höherwertigen Geld zu leisten gewesen.13 Prognosen ließen sich jedenfalls kaum noch treffen – und das nicht nur in der allgemeinen Unsicherheit der ersten Nachkriegszeit, als hinter den Bestimmungen des Friedensvertrages noch ein großes Fragezeichen stand und die Regierung gar nicht in der Lage war, zu sagen, wie viel sie brauchte und wie sie ihre Erfordernisse bedecken wollte. Die galoppierende Inflation machte sämtliche Kalkulationen zunichte. So sah der Staatsvoranschlag für 1919/20 zunächst ein Defizit von rund vier Milliarden Kronen vor, das sich nach drei Nachträgen schließlich aber auf elf Milliarden (rund 24 Prozent der Ausgaben) erhöhte.14 Die Bundesregierung steckte in einem Dilemma: Sanierungspläne scheiterten an den geopolitischen Rahmenbedingungen, an innenpolitischen Querelen, teils auch an personeller Inkompetenz. Die Funktion des Finanzministers galt als Schleudersitz. Selbst ein brillanter Ökonom wie Joseph Schumpeter, österreichischer Staatssekretär für Finanzen 1919, musste dies unter den gegebenen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen. Mit seinem Konzept einer Vermögensabgabe zur Sanierung der Staatsfinanzen scheiterte Schumpeter nicht zuletzt an der Sozialdemokratischen Partei, wohl aufgrund eines persönlichen Kon12 Sandgruber, Ökonomie, 355; vgl. auch Matis, Geldpolitik, 39–44; Gerald Schöpfer, Zum österreichischen Notgeld der Kriegs- und Nachkriegsjahre des Ersten Weltkrieges, in: Herwig Ebner u. a.(Hg.), Festschrift. Othmar Pickl zum 60. Geburtstag, Graz 1987, 559–569. 13 Ferdinand Tremel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1969, 375. 14 Gustav Stolper, Deutschösterreich als Sozial- und Wirtschaftsproblem, München 1921, 27.
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flikts mit Otto Bauer.15 Das Scheitern Schumpeters blieb kein Einzelfall, und nicht zufällig fällt manches Urteil über die österreichische Politik dieser Zeit vernichtend aus. Nicht selten wogen tatsächlich politische Seilschaften schwerer als wirtschaftliche Kompetenz16 – ganz abgesehen davon, dass das Jahr 1918 personell ohnehin kaum eine „Stunde Null“ bedeutet hatte und man weiterhin auf die alten Eliten zurückgriff: Finanzminister wie Richard Reisch (1919/20) oder Ferdinand Grimm (1920/21) hatten dem Beamtenstab des k.u.k Finanzministeriums angehört und die Finanzpolitik im Ersten Weltkrieg mitgetragen.17 Immerhin ermöglichten Auslandskredite die Finanzierung lebensnotwendiger Nahrungsmittel- und Rohstoffimporte. Sie halfen, das Land einigermaßen über Wasser zu halten und die ärgste soziale Not zu lindern – was aber wiederum, wie der spätere Finanzminister Viktor Kienböck treffend analysierte, einen Bumerangeffekt verursachte und Österreich in ein weiteres Dilemma stürzte: „Österreich allein fühlte sich zu schwach und war auch zu schwach, um sich allein zu helfen. Es zweifelte wohl niemand daran, dass ausländische Kredithilfen dem Land vonnöten seien. […] Die fürchterliche Not Österreichs war auf der ganzen Welt bekannt geworden. So segensreich auf der einen Seite die Hilfsaktionen gewesen waren, so erschwerte doch auf der anderen Seite die Kenntnis des österreichischen Elends die Herstellung der Überzeugung von der Kreditfähigkeit des Staates und seiner Volkswirtschaft.“18
Dabei wurde die Nachkriegsinflation kurzfristig sogar zu einem Motor für die Wirtschaft. Die Produktionskosten der heimischen Industrie lagen tief unter dem internationalen Niveau, und so wirkte die Diskrepanz zwischen Binnen- und Außenwert der Krone als Exportprämie. Mit der Belebung der Wirtschaft begann auch die Arbeitslosigkeit zu sinken. Rasch setzte ein fieberhafter Spekulationsboom ein, bereits Ausdruck jener „Bubble Economy“, die dem Phänomen der „goldenen 20er Jahre“ maßgeblich zugrunde lag. Im Hintergrund lief die Notenpresse indes weiter auf Hochtouren. Die erzielten Gewinne waren nur Scheingewinne, reichten sie 15 Fritz, Kaiser, 153f.; Dass sämtliche Sanierungspläne noch im Diskussionsstadium verebbten bzw. abgewürgt wurden lag auch an den – letztlich freilich illusorischen – Hoffnungen nicht weniger Politiker, nach einem Anschluss an das Deutsche Reich würden sich die österreichischen Finanzprobleme ohnehin von selbst lösen. Stefan Karner, Problemfelder des wirtschaftlichen Aufbaus in Österreich 1918/19, in: Stefan Karner/Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach. Zu den Folgen des Umbruchs in Österreich und Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg, Graz 1990, 67–78, hier 67. 16 Siehe insbesondere Ausch, der mit der österreichischen Finanzpolitik der Zwischenkriegszeit zu hart ins Gericht geht: Ausch, Banken, hier 6–74. 17 Vgl. Fritz, Kaiser, 157–166. 18 Viktor Kienböck, Das österreichische Sanierungswerk, Stuttgart 1925, 16.
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angesichts der voranschreitenden Inflation doch meist nicht einmal aus, die Nachbeschaffungskosten zu decken. Die noch 1921 einsetzende Hyperinflation, mit der die eigentliche Währungskatastrophe begann, holte viele Österreicher in die Realität zurück.19
Budgetkrise und Staatsbankrott
Aufgrund der gescheiterten (weil mitunter auch halbherzigen) Sanierungskonzepte klaffte bereits im Bundesbudget für die zweite Jahreshälfte 1921 ein riesiges Loch. Die Staatseinnahmen deckten die Ausgaben nur noch zu 36 Prozent,20 und die Bundesregierung hatte die Entwicklung längst nicht mehr unter Kontrolle: 1922 war das Defizit des Rechnungsabschlusses fast sechsmal höher als ursprünglich berechnet.21 In absoluten Zahlen ausgedrückt, sprengte das Ausmaß der österreichischen Staatsverschuldung bald jede Vorstellungskraft: Ende 1922 betrug die Bundesschuld 17 Billionen Kronen.22 Im Budgetvoranschlag für 1923 waren nicht weniger als 800 Milliarden Kronen allein für den Schuldendienst vorgesehen – was allerdings einem Anteil von nur rund 13,4 Prozent der Einnahmen entsprach.23 Tatsächlich sorgte nämlich die Hyperinflation im Hinblick auf die aus der Monarchie übernommenen Schulden (altösterreichische Staatsschuld) für Erleichterung. Da die meisten dieser Verbindlichkeiten in Papierkronen notiert waren, sank ihr Wert gegen Null. Jene Kredite in harten Währungen, die Österreich nach Kriegsende aufnehmen musste, wogen dafür bald umso schwerer.24 Zudem heizten außenpolitische Ereignisse wie der zweite Restaurationsversuch Kaiser (König) Karls in Ungarn die Spekulation gegen die Krone weiter an. Der Währungsverfall in Deutschland und der Anstieg der tschechischen Krone auf allen Geldmärkten taten dazu ihr Übriges, denn während das deutsche Kapital vor der Krone „flüchtete“, verteuerte sich der österreichische Bezug von Waren aus der Tschechoslowakei, insbesondere von Kohle und Lebensmitteln, 19 Matis, Geldpolitik, 42–44. 20 Sandgruber, Ökonomie, 354; Fibich spricht von einer Deckung von 37 Prozent: Alexander Fibich, Die Entwicklung der österreichischen Staatsausgaben in der Ersten Republik (1918–1938), Phil. Diss. Wien 1977, 29. 21 Im Voranschlag wurde ein Defizit von 601,8 Millionen Kronen kalkuliert, im Rechnungsabschluss betrug es schließlich 3,5 Milliarden Kronen. Fibich, Staatsausgaben, 30. 22 Compass, Finanzielles Jahrbuch 1924, Bd. 1, 128f. 23 Vgl. ebd., 110. 24 Michael Pammer, Krise, Krieg, Normalisierung: die österreichische Wirtschaft 1918–1983, in: Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 219–228, hier 227.
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Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) in Prozent der staatlichen Einnahmen, 1913–1925. Quelle: Finanz-Compass (Voranschläge).
schlagartig.25 Die Krone fiel ins Bodenlose. Waren die Lebenshaltungskosten nach Kriegsende 1918 innerhalb eines dreiviertel Jahres bereits um 90 Prozent gestiegen, so explodierten sie nun regelrecht. In der Zeit zwischen Mai und September 1922 stieg der Index der Lebenshaltungskosten von 1364 auf 14.153 Kronen. Für einen Laib Brot, der vor Kriegsausbruch 46 Heller und im Dezember 1921 160 Kronen gekosten hatte, mussten im September 1922 5.670 Kronen bezahlt werden.26 Ein Finanzplan, gleichsam ein letzter Strohhalm, sah die Gründung einer neuen Zentralbank und die Stilllegung der Notenpresse vor. Das Defizit im Staatshaushalt sollte vor allem durch einnahmenseitige Reformen – neue Steuern, Erhöhung der Zölle etc. – gedeckt werden.27 Der Plan scheiterte am Widerstand der mächtigen Wiener Kreditinstitute Anglo-Österreichische Bank und Österreichische Länderbank, deren Aktienkapital 1921 mehrheitlich in ausländischen Besitz übergegangen war.28 Österreich stand im Herbst 1922 am Rande des volkswirtschaftlichen Zusammenbruchs. Das Land steckte in einer Budgetkrise, die einem Staatsbankrott gleichkam.29 De facto lag die einzige Chance, die Pleite noch abzuwenden, in ausländischen 25 Karl Bachinger/Herbert Matis, Der Österreichische Schilling. Geschichte einer Währung, Graz/ Wien/Köln 1974, 38. 26 Ebd., 44. 27 Fritz, Kaiser, 171f. 28 Vgl. Ausch, Banken, 26–29 u. 60–66. 29 Ebd., 65 u. Sandgruber, Ökonomie, 354.
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Krediten. Aber die Vorzeichen standen denkbar schlecht, Bittgesuche Österreichs an die Ententemächte waren schon zuvor auf wenig Verständnis gestoßen.30 Das Finanzgebaren des noch jungen Staates hatte das Vertrauen potenzieller Geldgeber bereits stark beeinträchtigt, wie es von Seiten des Völkerbundes hieß: „Österreich ist gegenwärtig eines der Länder, welche den allermittelmäßigsten finanziellen Ruf auf der Welt haben“. 31
Finanzieller Wiederaufbau: die „Genfer Sanierung“
In dieser vermeintlich ausweglosen Lage suchte die Republik Österreich dennoch Hilfe beim Völkerbund in Genf. Im Zuge einer Europareise konnte der seit Mai 1922 amtierende christlichsoziale Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel den Völkerbund-Experten in durchaus dramatischer Art und Weise vor Augen führen, dass ein Zusammenbruch Österreichs zwangsläufig eine politische Destabilisierung Mitteleuropas zur Folge haben musste.32 Der Appell verfehlte seine Wirkung nicht. Wenn man so will, spannte Europa – namentlich die Völkerbundmächte Großbritannien, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei – daraufhin einen „Rettungsschirm“ über Österreich. Im Oktober 1922 wurden dazu in Genf jene Protokolle unterzeichnet, im Rahmen derer Österreich grünes Licht für eine Anleihe über 650 Millionen Goldkronen erhielt.33 Über die korrekte Verwendung der Anleihe hatte ein vom Völkerbund eingesetzter Generalkommissär zu wachen. Der ehemalige Rotterdamer Bürgermeister Alfred Zimmermann, mit diesem Amt betraut, traf bereits im Dezember 1922 in Wien ein.34 Seine Kontrollfunktion sollte Zimmermann bis zum Sommer 1926 ausüben.35 30 Siehe Kienböck, Sanierungswerk, 16–22. 31 ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/Frieden, Kt. 68, Fasz. 50/IV: Völkerbundaktion vom Jahre 1922, Aid Memoire der provisorischen Völkerbund-Delegation, 28.10.1922. 32 John Deak, Dismantling Empire. Ignaz Seipel and Austria’s Financial Crisis, 1922–1925, in: Günter Bischof/Fritz Plasser/Berger Peter (Hg.), From Empire to Republic: Post-World War I Austria. Contemporary Austrian Studies, Vol. 19, New Orleans 2010, 135. 33 Kopien der Protokolle in: ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/ Frieden, Kt. 68, Fasz. 50/IV: Völkerbundaktion vom Jahre 1922, Genfer Protokolle. 34 Der Umstand, dass Zimmermann auf Kosten Österreichs durchaus prunkvoll in der Wiener Innenstadt logierte, bot freilich einige Angriffsflächen. Immerhin kosteten Zimmermann und sein Stab dem Staat jährlich fast 4,5 Milliarden Kronen. Der tschechische Minderheitenzeitung „Vidensky Denik“ griff den Generalkommissär deshalb scharf an. ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/Frieden, Kt. 90, Fasz. 75: Angelegenheiten des Generalkommissärs des Völkerbundes, Bundespolizeidirektion Wien an das BMF, 2.4.1923. 35 Ursprünglich sollte die Völkerbundkontrolle nur bis 1924 dauern, wurde aber nach einer Börsenkrise um zwei Jahre bis zum 30. Juni 1926 verlängert. Bachinger/Matis, Schilling, 103.
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Das Geld kam aber nicht direkt vom Völkerbund. Dieser übernahm lediglich Garantien für Kredite, die Österreich selbst im Ausland auftreiben musste. Bei den Verhandlungen über diese einzelnen Anleihen, die sich bis ins Frühjahr 1923 hinzogen, war der österreichische Gesandte in London, Georg Franckenstein, besonders gefordert.36 Er sah sich den mächtigen „Herren des Geldes“ gegenüber, vor allem Sir Montagu Norman, dem Gouverneur der Bank of England, und den Vertretern des US-Bankhauses J.P. Morgan & Co.37 Trotz mancher Schwierigkeiten – vor allem aufgrund der heftigen Angriffe der Sozialdemokraten gegen Generalkommissär Zimmermann, aber auch bedingt durch Zimmermann selbst, der fand, „dass das Tempo der Reformen ein zu langsames“ war38 – gelang ein positiver Abschluss. Die Anleihe war somit in mehrere (nationale) Tranchen zerlegt. Der tatsächliche Ertrag belief sich letztlich auf 631 Millionen Goldkronen, von denen Österreich – nach Abzug einer sechsmonatigen Garantie für den Anleihedienst und des Rückersatzes der von den Völkerbundstaaten vor der Genfer Anleihe gewährten Kredite – ein Nettobetrag von knapp 450 Millionen für den Wiederaufbau blieb.39 Als Sicherstellung hatte Österreich dem Völkerbund die Bruttoeinnahmen aus den Zöllen und aus dem Tabakmonopol zu verpfänden.40 Außerdem musste die junge Republik weitere Verpflichtungen eingehen; vor allem die Wahrung ihrer Selbständigkeit, de facto also die Abkehr von der weit verbreiteten Idee eines Anschlusses an Deutschland. Oberstes Ziel war die Sanierung der Staatsfinanzen. Binnen eines Monates musste Österreich ein Reformund Sanierungsprogramm erstellen – mit dem Ziel, innerhalb von zwei Jahren ein Gleichgewicht des Staatshaushaltes zu erreichen. Schon mit Bekanntwerden der bevorstehenden Unterzeichnung der Genfer Protokolle kam der Währungsverfall zum Stillstand.41 Doch die Auflagen waren hart; im Wesentlichen musste sich Österreich ein striktes Sparprogramm auferlegen, eine neue Zentralbank (die Oesterreichische Nationalbank, die an die Stelle der in Liquidation befindlichen Österreichisch-Ungarischen Bank trat) gründen und die Währung nachhaltig stabilisieren (was 1924/25 zur Einführung des Schillings führte).42 36 Siehe die Berichte Frankensteins an Finanzminister Kienböck in ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/Frieden, Kt. 68, Fasz. 50/IV. 37 Über sie ausführlich: Ahamed, Herren. 38 ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/ Frieden, Kt. 68, Fasz. 50/IV: Völkerbundanleihe 1923: Ges. Franckenstein an BM Kienböck, 14.5.1923. 39 Walter T. Layton/Charles Rist, Die Wirtschaftslage Österreichs. Bericht der vom Völkerbund bestellten Wirtschaftsexperten, Wien 1925, 102. 40 Ausch, Banken, 76. 41 Bachinger/Matis, Schilling, 53. 42 Walter M. Iber, Währungsreform im Schatten der Sanierung. Zur Einführung des Schillings 1924/25, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2015, 569–593, hier 575.
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Innenpolitisch sorgte die Genfer Anleihe für heftige Kontroversen zwischen der bürgerlichen Regierungskoalition und den oppositionellen Sozialdemokraten. Letztere prangerten zwar öffentlich die „Versklavung Österreichs durch den Genfer Knechtschaftsvertrag“43 an, erteilten im Nationalrat aber ihre Zustimmung und ermächtigten die Regierung zur Durchführung des Reformprogrammes. Auch bei der dafür notwendigen Verfassungsänderung zogen die Sozialdemokraten mit – und durften im Gegenzug Vertreter in den „Außerordentlichen Kabinettsrat“ entsenden, einer Art Parlamentsausschuss, in dem über die Regierungsanträge zum Sanierungsprogramm beraten und diskutiert wurde. Das Gremium war mit einem (auf drei Tage befristeten) Vetorecht ausgestattet, und angesichts der personellen Konstellation verwundert es kaum, dass die Wogen bald hochgingen. Die Opposition machte weiter gegen die Genfer Anleihe Stimmung und nutzte dafür auch den Kabinettsrat, dessen Protokolle jeweils im Amtsblatt der „Wiener Zeitung“ veröffentlicht wurden, als Plattform.44 In den Diskussionen kamen die tiefen ideologischen Gräben zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten deutlich zum Ausdruck, etwa, als Letztere hinter einzelnen Reformmaßnahmen katholische Klientelpolitik zugunsten von Geistlichen und Landwirten orteten.45 Die bevorstehenden Rationalisierungsmaßnahmen bei den defizitären Bundesbahnen stießen der Arbeiterpartei besonders sauer auf.46 Aus ihrer Sicht wog zudem das durch die Genfer Anleihe einzementierte Anschlussverbot an den „großen Bruder“ Deutschland schwer – der Anschluss war im sozialdemokratischen Parteiprogramm fest verankert.47 Nicht zu Unrecht wiesen 43 Arbeiter Zeitung, 22.10.1922, 1. 44 Siehe die gesammelten Protokolle im Bestand ÖStA/AdR, BKA, AO KRP, Sitzungen 1–22, 1922– 1924, Kt. 18; Diese aus der Sicht des bürgerlichen Lagers doppelzüngige Vorgehensweise verstärkte bei der Regierung das Gefühl, dass mit den Sozialdemokraten kein Staat zu machen sei. Besonders Seipel zeigte sich darüber verärgert und frustriert. Vgl. dazu Walter M. Iber, Zu den ideologischen Grundlagen des Antimarxismus/Antisozialismus der Christlichsozialen Partei, in: Römische Historische Mitteilungen 49 (2007), 511–540, hier 536f.; Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001, 184–186; Nicht umsonst räumte der langjährige sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Ellenbogen in seinen – bemerkenswert sachlichen – Erinnerungen ein: „Wir selbst haben das Ansehen des Parlaments und den Sinn der parlamentarischen Demokratie im Volke untergraben. […] Die Gewissheit, dass wir in der Mieterschutzfrage die Volksmehrheit auf unserer Seite hatten, hat uns zur Anwendung der zerstörerischen Maschine Obstruktion auf vielen anderen Gebieten verleitet.“ Wilhelm Ellenbogen, Menschen und Prinzipien. Erinnerungen, Urteile und Reflexionen eines kritischen Sozialdemokraten, hrsg. und eingeleitet von Friedrich Weissensteiner, Wien 1981, 71. 45 ÖStA/AdR, BKA, AO KRP, 16. u. 17 Sitzung, 10. u. 15.3.1923. 46 Ebd., 35. Sitzung, 17.1.1924. Zu den Sparmaßnahmen siehe Kienböck, Sanierungswerk, 56–63. 47 Noch im „Linzer Programm“ von 1926 hieß es: „Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluss der nationalen Revolution
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die Sozialdemokraten auch auf die dramatischen sozialen Einschnitte hin, die sich Österreich mit dem Sanierungsprogramm auferlegt hatte. Immerhin sah der Sparkurs u.a. den Abbau von 100.000 Beamten vor.48 Das „Sanierungswerk“ mit all seinen Vor- und Nachteilen trug schließlich maßgeblich zur Polarisierung in der österreichischen Innenpolitik bei. Nicht der Koalitionsbruch von 1920, sondern erst die Diskussionen um die Zukunft Österreichs als (eigenständigem) Staat, gipfelnd in die Genfer Anleihe, wurden zum innenpolitischen Rubikon der Ersten Republik.49 Die Wege von rot und schwarz trennten sich endgültig, ein Miteinander gab es von da an kaum noch. Zunehmend verlagerten sich politische Kontroversen auf die Straße und wurden durch Wehrverbände ausgetragen. Die Hemmschwelle zur Gewalt sank rapide. Vor allem in der Person Ignaz Seipels wurden die heftigen Gegensätze manifest: Während ihn die einen zum „Retter Österreichs“ stilisierten, wurde er für die anderen zum „Prälaten ohne Milde“.50 Mit der Genfer Anleihe und einem rigorosen Sanierungsprogramm schaffte es Österreich innerhalb sehr kurzer Zeit, seinen Staatshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Gelungen war die Sanierung vor allem einnahmenseitig, durch Einführung neuer Steuern. Als besonders ergiebig stellte sich hier die Warenumsatzsteuer heraus, die, unter verschiedenen Bezeichnungen, nach dem Kriege auch in anderen europäischen Staaten zur Sanierung des Staatshaushaltes eingeführt wurde.51 Der Erfolg stellte sich rasch ein: In den Jahren 1923 und 1924 betrug der Anteil der Warenumsatzsteuer an den österreichischen Staatseinnahmen jeweils rund 40 Prozent.52 Auf der Ausgabenseite hingegen entpuppte sich vor allem der Beamtenabbau als Fehlschlag. Insgesamt baute Österreich 85.000 Beamte ab, einen Großteil aber durch Pensionierungen, was dem Staat neue Kosten verursachte. Hatte die Republik 1923
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von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluss an das Deutsche Reich“. „Linzer Programm“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreich, 1926, abgedruckt in: Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, München 1967, 247–264, hier 264, Punkt 5. Dazu u.a.: Ausch, Banken, 101–104; Sandgruber, Ökonomie, 361; Deak, Empire, 136f. Iber, Grundlagen, 536. Große Sympathien genoss Seipel v.a. auch im Vatikan. Siehe Walter M. Iber, Im Bann des Priesterpolitikers. Die Christlichsoziale Partei in der Ersten Republik Österreich, in: Hubert Wolf (Hg.), Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland, Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem internationalen Vergleich, Paderborn u. a. 2012; zu den tiefen ideologischen Gräben in der Ersten Republik siehe ausführlich die Standardwerke Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 285–294; Kriechbaumer, Erzählungen, 182–239. Zu Seipel vgl. Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel: Cristian Statesman in a Time of Crisis, Princeton 1972. Kienböck, Sanierungswerk, 68–71. Vgl. Layton/Rist, Wirtschaftslage, 101.
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Budgetdefizite in Prozent der Ausgaben 1918/19–1925. Quelle: Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte.
noch 580 Millionen Schilling für Personalkosten aufgewendet, so waren es 1926 knapp 970 Millionen. Dennoch waren die Budgetziele Ende 1923 im Wesentlichen erreicht, als der Einnahmenanteil 81 Prozent der Ausgaben erreichte.53 In den Folgejahren wurden sogar Überschüsse erwirtschaftet: 1924 rund 91 Millionen, 1925 gar 167 Millionen Schilling.54 Dieser Trend fand auch in der Staatschuldenquote seinen Niederschlag: Hatten sich die Staatsschulden der österreichischen Reichshälfte gemessen am BIP 1913 noch auf über 60 Prozent belaufen, so lagen die Bundesschulden der Republik Österreich 1924 bei 25, später, 1929, gar nur noch bei 16 Prozent.55 Zwar war der dramatische Schuldenschnitt im Vergleich zu 1913 zunächst hauptsächlich der Inflation zu „verdanken“, die ab 1924 kontinuierlich sinkende Schuldenkurve stand jedoch bereits deutlich im Zeichen der Sanierung. Was die Staatsfinanzen anbelangt, muss also von einem klaren Erfolg der Genfer Anleihe, gesprochen werden. Nicht umsonst attestierten die Ökonomen Walter T. Layton und Charles Rist 1925 in einem vom Völkerbund in Auftrag gegebenen Gutachten über die österreichische Wirtschaftslage, dass der „finanzielle Wieder53 ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/Frieden, Kt. 91, Fasz. 77/1925: Anlage zum 34. Bericht des VölkerbundGeneralkommissärs, Zeitraum 15.9. bis 15.10.1925, 31.10.1925. 54 ÖStA/AdR, BMF, Dep. 17/Frieden, Kt. 91, Fasz. 7722: 22. Bericht des Völkerbund-Generalkommissärs für Österreich, Zeitraum 15. Mai–15. Juni 1926, 30.6.1946. Schuldenstand im Juni 1926: 2.319.318.887,17 Schilling. 55 Die Zahlen basieren auf den im Laufe des Forschungsprojektes (Anm. 1) durchgeführten Datenerhebungen.
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aufbau [.] mit einem Erfolg durchgeführt worden [ist], der an und für sich die Lebensfähigkeit der Republik Österreich erweist“.56 Und die „Neue Freie Presse“ berichtete zu Jahresbeginn 1926 über das deutlich verbesserte „Rating“ Österreichs im Finanzzentrum London: „Österreich ist es gelungen, im Jahre 1925 seine Stellung in England um ein Bedeutendes zu verbessern. Dies ist in einem Satze die einstimmige Ansicht von Schatzamt, City und Presse. Die Sorge um die nächste Zukunft des österreichischen Staatshaushaltes ist geschwunden. Mit einem Wort, wir sind in England aus dem Konkurszustand hinaus. Unser Kredit in London könnte besser sein aber man hat aufgehört, mit uns auf der Basis zu verhandeln, als ob schon die nächsten vierundzwanzig Stunden unser Ende bringen könnten.“57
Die Krise seines Staatshaushaltes hatte Österreich somit behoben, nicht aber die Krise seiner Wirtschaft. Die Genfer Anleihe sollte ausschließlich der Sanierung der Staatsfinanzen dienen, an Investitionen in Wirtschaft und Infrastruktur war jedoch nicht gedacht – so und nicht anders sahen es die Protokolle vor. Dass die damit eingeschlagene Austeritätspolitik konjunkturdämpfend wirkte, nimmt kaum Wunder: Die Wachstumszahlen wiesen zwar lediglich für das Jahr 1923 auf eine Stabilisierungskrise hin, blieben aber in den folgenden Jahren sehr bescheiden. Sie reichten nicht annähernd aus, die personellen Kapazitäten der Volkswirtschaft auszulasten.58 Das spiegelte sich in den Arbeitslosenzahlen wider: 1926 lag die Zahl der Arbeitslosen bei 244.000, was zugleich die höchste Rate (11 Prozent) seit 1919 bedeutete. Die Gründe dafür waren nur marginal in der Börsenkrise des Jahres 1924 zu suchen, die fraglos zahlreiche Bankbeamte ihre Stellen gekostet hatte. Vielmehr waren es die im Zuge der Sanierung getätigten Rationalisierungsmaßnahmen, die auf Produktion und Arbeitsplätze nachteilig wirkten. Nicht zufällig waren das Baugewerbe und die Metall- und Maschinenindustrie am stärksten betroffen.59 Dazu kam die Hartwährungspolitik, die den Export zusätzlich lähmte und die Arbeitslosenrate weiter in die Höhe schraubte. Dass der Schilling im Inland übermäßig knapp gehalten wurde, führte zu chronischem Kapitalmangel. Dieser wiederum ließ die österreichischen Unternehmen international auch hinter jenen Mitbewerbern zurückbleiben, die ihren Abnehmern großzügige Zahlungserleichterungen anbieten konnten.60 Die Krise 56 57 58 59 60
Layton/Rist, Wirtschaftslage, 98. Neue Freie Presse, 7.1.1926. Butschek, Wirtschaft, 46–48. Layton/Rist, Wirtschaftslage, 6–9. OeNB/BHA, Bericht über die III. Regelmäßige Jahressitzung der Generalversammlung der Oesterreichischen Nationalbank am 16. März 1926, 14.
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war offensichtlich; Insolvenzen, Stilllegungen und Betriebseinschränkungen wurden zum Alltag.61 Und schließlich gesellte sich zu all diesen Faktoren ein weiteres Krisensymptom, namentlich eine Reihe von spektakulären Bankenzusammenbrüchen im Jahr 1926. Der Bund übernahm Haftungen und Garantien, was einmal mehr auf Kosten notwendiger Investitionen ging.62 Gegen Ende 1926 ließ die Krise zwar nach, die Wirtschaft stagnierte aber weiterhin. Ihre Entwicklung war alles andere als „golden“. Überhaupt schaffte es Österreich in der gesamten Zwischenkriegszeit nicht, das Niveau seiner Industrieproduktion von 1913 zu erreichen.63
Schlussbemerkung/Gedankensprung: „Epochenbruch“ 1945 und finanzpolitische Lehren aus der Zwischenkriegszeit
Im historischen Rückblick wird die Sanierungspolitik Österreichs in den 1920er Jahren mitunter als zu restriktiv gesehen. Das straffe Sparprogramm und die Vernachlässigung öffentlicher Investitionen hätten Österreichs eine alles andere als günstige Ausgangslage für die bevorstehende Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verschafft, so die Meinung einiger Historiker.64 Realiter blieb der Regierung angesichts der Völkerbundkontrolle aber kaum Spielraum; im Wesentlichen war der Kurs von außen vorgegeben.65 Hatten es die Politiker unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verabsäumt, das Land quasi am eigenen Schopf aus dem Krisensumpf zu ziehen, so gab es zur Völkerbundhilfe im Herbst 1922 keine Alternative mehr. Der Völkerbund wiederum ließ Österreich deutlich spüren, dass er es nicht als ökonomisches, sondern als bürokratisches Problem betrachtete: War das Budget auegeglichen, konnte es keine Wirtschaftskrise geben, so der trockene Tenor. 61 62 63 64
Bachinger/Matis, Schilling, 100. Siehe Ausch, Banken, 205–306. Sandgruber, Ökonomie, 365 u. 382; Butschek, Wirtschaftsgeschichte, 218. Vor allem Ausch, Banken; Dazu auch Karner, der betont, dass der Austeritätskurs „in dem Moment politisch an die Grundfeste des Staates ging, als Anfang der 30er Jahre ein Heer von Arbeitslosen […] ein verstärktes staatliches Engagement bei den Auftragsvergaben erfordert hätte“. Karner, Problemfelder, 77. 65 Fritz Weber, Staatliche Wirtschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit, in: Enmmerich Tálos u.a. (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 531– 551, hier 538; Bachinger/Matis, Schilling, 104f. Allerdings wird hier auch relativiert: „Die Tendenz zu einer rigorosen Einschränkung auch um den Preis einer stagnierenden Wirtschaft entsprang nicht nur dem Geist oder Ungeist von Genf, die Deflationsgesinnung selbst wurzelte auch in der österreichischen Wirtschaftspolitik.“; Nach Butschek hingegen wäre zwar konjunkturpolitisch die eine oder andere Akzentverschiebung möglich gewesen, blieb der Austertitätskurs im Wesentlichen aber alternativlos. Butschek, Wirtschaft, 58.
„… eines der Länder, welche den allermittelmäßigsten finanziellen Ruf auf der Welt haben.“
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Als das Land in der Weltwirtschaftskrise schließlich abermals in eine schwere Budgetkrise schlitterte, wurde es durch die Lausanner Anleihe 1932 erneut unter ausländische Finanzkontrolle gestellt. Das Spardiktat blieb dadurch im Wesentlichen aufrecht, wenngleich bis 1938 – hauptsächlich aus politisch-taktischen Gründen, aufgrund der Konkurrenzsituation zwischen dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime und der Wirtschaftspolitik im Deutschen Reich – auch punktuell (prä-)keynesianische Ansätze im Sinne staatlicher Wirtschaftsprogramme verfolgt wurden.66 Abschließend sei ein Gedankensprung erlaubt, nämlich hin zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Österreich eigentlich unter deutlich ungünstigeren finanziellen Bedingungen (dezentralisierte Finanzverwaltung aus der NS-Zeit, Besatzungszonen etc.) startete als 1918: Beide Seiten, sowohl die österreichische Politik als auch die Siegermächte, hatten aber aus der Zwischenkriegszeit die entsprechenden Lehren gezogen. Obwohl die bei Kriegsende 1945 im Umlauf befindliche Geldmenge das Vier- bis Sechsfache der Vorkriegszeit betrug und zur Bedeckung der Besatzungskosten kurzfristig die Notenpresse beansprucht wurde, gelang es, die Verhältnisse relativ rasch zu ordnen und inflatorische Auswüchse wie nach dem Ersten Weltkrieg zu vermeiden.67 Entscheidend dafür waren nicht nur das Handeln der verantwortlichen Bundespolitiker und (im Weiteren) die internationale Konjunkturentwicklung, sondern auch das Verantwortungsbewusstsein der Siegermächte: Die Österreich gewährten Kredite wurden nun, anders als nach 1918 und freilich mit Augenmerk auf den sich ausbreitenden Kommunismus, mit einer starken ökonomischen Komponente versehen. Zwar genossen ein sanierter Staatshaushalt und eine stabile Währung auch diesmal hohe Priorität, gleichzeitig aber wurde der (Wieder-)Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft nicht vernachlässigt. Ohne finanzielle Gegenleistung erhielt Österreich großzügige Zuwendungen aus dem Marshallplan (European Recovery Program, kurz ERP). Die ERP-Mittel kurbelten die Volkswirtschaft an, sie übernahmen die Rolle des (vorerst nicht funktionsfähigen) Kapitalmarktes und ermöglichten öffentliche Investitionen – eine wesentliche Grundlage für den Aufschwung der (im Vergleich zu den 1920er Jahren tatsächlich „goldenen“) 1950er Jahre.
66 Gratz, Finanzpolitik, 287f.; Weber, Wirtschaftspolitik, 548. 67 Hier und zum Folgenden siehe u.a. Butschek, Wirtschaftsgeschichte, 265–298; zum ERP in Österreich jüngst Günter Bischof, Der Marshallplan in Österreich: War Österreich ein „Special Case“ im Europäischen Wiederaufbauprogramm?, in: Stefan Karner (Hg.), Festschrift in memoriam Karl W. Hardach. Graz 2016, 165–176.
Bernhard Bachinger
Bulgarien – Der Balkanstaat im Umbruch 1918/1919
Für nahezu alle europäischen Staaten bedeutete das Ende des Ersten Weltkrieges eine tiefgreifende Zäsur hinsichtlich ihres Staatsgebiets, ihrer Staatsform, ihrer ethnischen und gesellschaftlichen Zusammensetzung sowie oft auch ihrer wirtschaftlichen und handelspolitischen Ausrichtung. Dies trifft auch auf den noch sehr jungen bulgarischen Staat zu. Dieser hatte dreißig Jahre nach seiner Gründung, am 5. Oktober 1908, im Windschatten der Annexionskrise um Bosnien und der Herzegowina die vollständige Unabhängigkeit erreicht, als Ferdinand I. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Koháry sich zum Zaren ausrufen ließ und das Land von der osmanische Suzeränität löste.1 Beinahe auf den Tag genau zehn Jahre später, am 3. Oktober 1918, verzichtete er infolge einer tiefgreifenden Staatskrise zugunsten seines Sohnes Boris III. auf den Thron.2 Der Verbündete der Zentralmächte musste wenige Tage zuvor aufgrund des Zusammenbruchs seiner Streitkräfte und innerer Unruhen am 29. September 1918 die Kapitulation unterzeichnen, womit Bulgarien als erste Mittelmacht aus dem Ersten Weltkrieg ausschied. Der damit ausgelöste Umbruch vollzog sich in Bulgarien anders, nämlich schneller, und hatte weiter zurückreichende Gründe und Ursachen. Denn für den Balkanstaat stellte dies nach dem verlorenen Zweiten Balkankrieg 1913 die bereits zweite „nationale Katastrophe“ seiner noch jungen, erst vierzigjährigen Bestandtradition dar. Gleichzeitig endete damit die expansive Phase in der Geschichte des Balkanstaates in abrupter Weise, hatte sich doch zuvor „aus den Erinnerungen an das ,San-Stefano-Ideal‘ der kategorische Imperativ politischen Handelns“3 beinahe sämtlicher bulgarischen Eliten generiert. Da das deklarierte außenpolitische Ziel, nämlich die Einverleibung der als Irredenta deklarierten Territorien Makedoniens, Thrakiens sowie der Dobrudscha, angesichts der ungünstigen Kriegslage bzw. des verlorenen Kriege als gescheitert betrachtet werden musste, war eine Neukonsolidierung der bulgarischen Politik in dieser indifferenten Phase vonnöten. Eine solche musste sich allerdings zugleich an den außen- als auch den innenpolitischen Gege1 2 3
Vgl. Björn Opfer, Ferdinand v. Sachsen-Coburg-Koháry (1861–1948). Zar von Bulgarien, in: Fränkische Lebensbilder 20 (2004), 271–287, hier: 280. Vgl. Stephen Constant, Foxy Ferdinand 1861–1948. Tsar of Bulgaria, London 1979, 313. Claudia Weber, Auf der Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878–1944, Berlin 2006, 166.
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benheiten und Zwängen sowie Strömungen der bulgarischen Bevölkerung orientieren, was den Handlungsspielraum erheblich einschränkte. Die folgenden Ausführungen verstehen diese Zäsur in der bulgarischen Geschichte als einen längerfristigen Prozess, dessen Kulminationspunkt zwar die Kriegsniederlage darstellte, der jedoch bereits früher seinen Ausgang genommen hatte. Bei näherer Betrachtung kristallisieren sich insgesamt vier abgrenzbare Phasen heraus, an deren Ende die vormalige politische Staatselite ihren früheren Einfluss verlieren und der bulgarische Staat unter dem kurz zuvor noch als Staatsfeind inhaftierten Ministerpräsidenten Aleksandăr Stambulijski eine gänzlich neue Richtung einschlagen sollte. Der Beitrag macht die Abläufe hinter den Kulissen der doch einschneidenden Kehrtwende und des Umbruchs deutlich.
Phase 1: Die Abgrenzung vom deutschen Bündnisgenossen
Als Bulgarien am 6. September 1915 den Bündnisvertrag mit den Mittelmächten schloss, fanden sich mit dem Deutschen Reich und dem Balkanstaat zwei Staaten in einer zweckorientierten Allianz wieder, die mehr aus kalkulatorischen und strategischen, denn auf besonders ausgeprägten bilateralen Beziehungen fußte. Der bulgarische Ministerpräsident Vasil Radoslavov strich die Charakteristik der Waffenbruderschaft als Zweckbündnis auch eindringlich hervor, als er sein Volk mit einer Denkschrift auf den Kriegseintritt auf Seiten Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches einschwor.4 Im Zuge der Militärkonvention gab Bulgarien für die Dauer des Krieges allerdings zugleich einschneidende militärische Entscheidungs- und Führungskompetenzen an den neuen deutschen Verbündeten ab, wodurch die hierarchische Konstellation im Bündnis manifest wurde.5 Das von (militär-)kulturellen Gegensätzen geprägte Ver4
5
Die Denkschrift ist in deutscher Sprache abgedruckt bei Casimir Hermann Baer (Hg.), Der Völkerkrieg. Eine Chronik der Ereignisse seit dem 1. Juli 1914. Große Ausgabe. Mit zahlreichen Kunstbeilagen und farbigen Karten, Achter Band, Stuttgart/Wien 1917, 53–55; Besagte Denkschrift fand auch im Deutschen Reich Beachtung, kurioserweise rief sie aber aufgrund des geradlinigen, offenen wie auch nüchternen Charakters des neuen Verbündeten zumeist positive Resonanz hervor. Siehe dazu Oliver Stein, Die deutsch-bulgarischen Beziehungen seit 1878, in: Zeitschrift für Balkanologie 47/2 (2011), 218–238, hier: 226, FN 50. Zwar sollte diese nur für den avisierten Feldzug gegen Serbien Gültigkeit haben, die Regelungen wurden aber am makedonischen Kriegsschauplatz beibehalten und in ähnlicher Form auch am 1916 neu eröffneten rumänischen Kriegsschauplatz angewandt. Zum Wortlaut der Militärkonvention siehe: PA AA, Gesandtschaft Sofia 30, Bulgarische Anleihe von 1914 bis 1918. Abschrift zu A S 4729, Militärkonvention.
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hältnis zueinander blieb, solange sich die militärischen Erfolge noch einstellten, zwar wenig herzlich, aber dennoch auf einer nüchternen, kooperativen Basis, intakt.6 Dies änderte sich mit Jahreswechsel 1917/18 tiefgreifend, womit bereits vor dem Kriegsende unüberbrückbare Gegensätze auftraten. Als sich im Mai 1918 auf dem makedonischen Kriegsschauplatz lokale Misserfolge einstellten, überraschten die Vehemenz der antideutschen Strömungen innerhalb der bulgarischen Streitkräfte sowie deren schlechte moralische Verfassung den deutschen Bundesgenossen. Mit einer gewissen Betriebsblindheit hatte man sämtliche warnenden Hinweise beiseitegeschoben,7 und schlussendlich die bedrohliche Situation schwarz auf weiß präsentiert bekommen. Ein deutscher Situationsbericht von Anfang Juni 1918 über die Stimmung innerhalb der bulgarischen Armee bestätigte unmissverständlich die weit verbreitete Existenz antideutscher Tendenzen: In ganz überwiegendem Masse [sic!] richten sich jedoch […] die ganze Wut und Missstimmung des bulg. Heeres gegen die Deutschen. […] Die Stimmung wird übereinstimmend so schlecht geschildert, dass es zur Zeit überhaupt nichts mehr gibt, was man zu Gunsten der deutschen Waffenbrüder gelten lassen will.8
Ein darin zitierter Gewährsmann der bulgarischen Streitkräfte schilderte die angespannte interalliierte Beziehung noch drastischer. So sei „[d]er Name ,Deutscher‘ […] zum Schimpfwort geworden, zugleich auch als Begriff des Lügners und Verräters“9 gebräuchlich. Offensichtlich ist aber auch, dass die antideutschen Stimmungen und Strömungen nicht von einem auf den anderen Tag virulent wurden, sondern schon seit geraumer Zeit vorhanden waren und die Gemüter erhitzten. In einem Zusammenspiel zeitgleich aufeinandertreffender, außenpolitischer Konjunkturen sowie auf die Kampf- und Etappengebiete beschränkter, koalitionsinterner Problemfelder, hatte sich der zuvor gewiss vielerorts vorhandene Respekt, ja die Gunst bulgarischer Soldaten gegenüber den Deutschen flächendeckend ins Gegenteil verkehrt. Parallel dazu erodierte die moralische Konstitution innerhalb der bulgarischen Streitkräfte,10 6
Zu den mannigfaltigen Problemlagen siehe: Oliver Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, glaubt es nicht.“ Erfahrungen deutscher Offiziere mit den bulgarischen Verbündeten 1915–1918, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven und Forschung, Berlin-Brandenburg 2011, 271–287. 7 Vgl. Carl Mühlmann, Oberste Heeresleitung und Balkan im Weltkrieg 1914–1918, Berlin 1942, 211–215. 8 PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt. Die Stimmung der bulgarischen Armee, Sofia, 4.6.1918. 9 Ebd. 10 Hall geht in einem eigenen Kapitel (The Erosion of the Bulgarian Army) dem Zerfall der Moral
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was den Schluss nahelegt, dass das Schwinden der Moral und das interalliierte Auseinanderdriften miteinander korrelierten bzw. sich zumindest zum Teil gegenseitig beeinflussten. Die Divergenzen bestanden im Bereich des gemeinsamen Heeresaufgebots an der Hauptfront der bulgarischen Streitkräfte, der Saloniki-Front, aus folgenden Hauptpunkten: Den Ausgangspunkt bildete das Herauslösen der deutschen, als Unterstützungseinheiten fungierenden Frontformationen. Dies wurde, wie Paul von Hindenburg Ende November 1917 bereits angekündigt hatte, ab Januar 1918 sukzessive umgesetzt. So berechtigt die Vorgehensweise der Obersten Heeresleitung aus ihrer Perspektive hinsichtlich der Gesamtkriegführung auch war, musste die Reduktion der deutschen Hilfstruppen dennoch bei den an der Saloniki-Front kämpfenden bulgarischen Offizieren wie auch Mannschaftssoldaten den Eindruck hinterlassen, dass sie der Verbündete im Stich gelassen habe. Gleichzeitig versiegte im Frühjahr 1918 die materielle Unterstützung wegen eines Bezahlungsdisputs zwischen dem preußischen Kriegsministerium und der bulgarischen Regierung beinahe gänzlich, was die Lesart der unzureichenden Beistandshilfe nur untermauerte. In diesem Kontext gemahnte im Juni 1918 der bulgarische Oberbefehlshaber Nikola Žekov seinem repräsentativen Vorgesetzten Zar Ferdinand I. eindringlich, dass seit April, also seit zwei Monaten, keine dringend benötigten Heereslieferungen aus dem Deutschen Reich mehr einträfen.11 Ohne die exakten Hintergründe für das Ausbleiben von deutschen Kampfmitteln und Waffen zu kennen, konnte das Gros der bulgarischen Soldaten dies nicht anders interpretieren, als dass der Bündnispartner außer Stande bzw. unwillig war, den für die weitere Unterhaltung bulgarischen Kriegsanstrengungen erforderlichen materiellen Bedarf beizusteuern. Zugleich geriet durch das Abziehen der deutschen Fronttruppen das Kommandogefüge zunehmend in Schieflage, weil die deutschen Kommandostäbe den Zugriff auf ihre untergeordneten bulgarischen Einheiten verloren hatten. Von der zerrütteten Funktionsfähigkeit und Einsatzkraft der Befehlsgewalt zeugte etwa die geplante Teiloperation „Simeon“ im März/April 1918, die aufgrund der an Meuterei grenzenden bulgarischen Gehorsamsverweigerung schließlich far nicht mehr ausgeführt werden konnte.12 Diese Symptome bildeten allerdings nur die Spitze des Eisberges. Negativ wirkte vor allem, dass, wie Žekov in der Nachkriegsinnerhalb der bulgarischen Streitkräfte nach. Seiner schlüssigen Argumentation nach sieht er den Beginn im ausgehenden Jahr 1917 sowie eine Zuspitzung mit der Frühlingsoffensive der Deutschen an der Westfront, ehe im Sommer 1918 der Tiefpunkt erreicht war. Siehe Richard C. Hall, Balkan Breakthrough. The Battle of Dobro Pole 1918, Bloomington 2010, 101–119. 11 Hall, Breakthrough, S 107. 12 Vgl. Ivan Petrov, Vojnata v Makedonija (1915–1918), Sofia 2008, 175f.
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zeit hervorstrich, die deutschen Kommandos, ohne die geringste Bedachtnahme auf die Traditionen, den Geist und die Fähigkeiten der bulgarischen Truppen nach ihren eigenen, deutschen Konzepten und Standards befehligt hätten.13 Indirekt, aber äußerst abträglich wirkten sich im Frühjahr 1918 die nichtmilitärischen Konjunkturen auf das deutsch-bulgarische Verhältnis aus. Analog zu den bestehenden Diskrepanzen innerhalb des Heeres setzten sie zentrifugale Kräfte frei. Im ökonomischen Faktor erkannten, gemäß einem deutschen Bericht, bulgarische Soldaten ein vitales Interesse ihres Staates, nämlich „die wirtschaftliche Unabhängigkeit […] durch Deutschland bedroht, da dieses die Hand auf alle Bodenschätze etc. auf dem Balkan legen wolle. […] Darüber herrsche bereits große Verstimmung in Bulgarien.“14 Die Auswirkung ihrer Wirtschaftspolitik auf die öffentliche Meinung des Balkanstaates war demnach den deutschen Behörden bereits Ende März 1918 genau bekannt. Wegen der aufgekommenen deutschen Forderung nach langfristigen, über den Krieg hinaus laufenden Konzessionen auf Schürfrechte und Infrastruktur war nämlich von bulgarischer Seite die Befürchtung aufgekommen, „Deutschland wolle sich auf diese Weise Bulgarien ebenso wie Rumänien dienstbar machen und die ganze Macht auf dem Balkan in die Hand bekommen.“15 Dazu verfestigte sich selbst bei „deutschfreundlichen Bulgaren“ allmählich die Überzeugung, dass den wirtschaftlichen, wie auch ferner den militärischen und politischen Verträgen bzw. Abmachungen von deutscher Seite nicht Folge geleistet würde. Außerdem seien diese ohnehin „zum ausschliesslichen Schaden von Bulgarien geschlossen“16 worden. Als Ausdruck höchster Ungerechtigkeit stand zweifellos der am 7. Mai 1918 unterzeichnete Friedensvertrag von Bukarest im Kreuzfeuer der Kritik. In Bulgarien selbst hatte zuvor der Erwerb der Norddobrudscha die innenpolitischen Debatten angeheizt und geprägt. Die Angliederung war zur „nationalen“ Angelegenheit erhoben worden, weil sie zum einen das Kabinett Radoslavov als politische Primäragenda verfolgte, sie zum anderen aber auch in regierungsunabhängiger Eigendynamik propagiert wurde, wobei unisono die Legitimität der bulgarischen Ansprüche auf die 13 Vgl. Nikola Žekov, Bălgarskoto vojnstvo 1878–1928g, Sofia 1928, 450. 14 PA AA, Gesandtschaft Sofia 28, Geheim 1. bis 31 März 1918. Abschrift A 14381. Romberg an Reichskanzler, Bern, 30.3.1918. 15 Ebd. 16 PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt. Nr. 327. Augenblickliche Stimmung in Bulgariens Volk und Heer, Sofia, 23.7.1918, 2; Des Weiteren räumt der Bericht diesbezüglich Handlungsbedarf ein. „Es wird hier, und nicht mit Unrecht, die Meinung geäussert, dass das ganze System von Verträgen und Abmachungen, das zwischen Bulgarien und seinen Verbündeten besteht, einer gründlichen Durcharbeitung unterzogen werden müsse, um alle Unklarheiten auszuscheiden und festzustellen, was jeder vertragsschliessende Teil zu erfüllen hat.“
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Dobrudscha propagandistische Bekräftigung fand. Wer diese „Anschauung nicht ohne weiteres teilt[e],“ so der Leiter des deutsche Presse-Büros in Bulgarien, werde „verfolgt und verdächtigt.“17 In die Schusslinie der gesamten Kritik in dieser Causa geriet das Deutsche Reich, das sich diesen Bestrebungen widersetzte und Bulgarien nur jene im Bündnisvertrag zugesicherten Territorien der Süddobrudscha zuzugestehen gedachte. So kulminierte die Empörung nach Publikwerden der Vertragsdetails, welche ausdrücklich unter deutscher Ägide zustande gekommen waren. Das nicht unberechtigte Gefühl machte sich breit, Bulgarien werde in Mitteleuropa eher als inferiorer Bündnispartner denn als gleichberechtigter, verdienstvoller Bündnispartner gesehen; Radoslavov ging mit der Randbemerkung, sein Land sei in Bukarest wie ein geschlagener Gegner und nicht wie eine verbündete Macht behandelt worden, noch einen Schritt weiter, traf damit aber die bulgarische Volksseele wohl ziemlich genau.18 Der Ausgang der Friedensverhandlungen schürte nicht nur die Vorbehalte gegenüber den Deutschen, sondern wirkte sich schließlich auch einschneidend auf die Kampfmoral der bulgarischen Truppe aus: [D]ie Soldaten weigerten sich, irgendwie vorzugehen mit der Begründung, es hätte doch keinen Zweck, noch mehr Gebiet zu erobern, da Bulgarien das gewonnene Land im Frieden ebenso wenig bekommen würde wie jetzt die Norddobrudscha.19
Ohne Zweifel trug zu dieser flächendeckenden Demoralisierung auch eine generelle Friedenssehnsucht sowohl in der Bevölkerung als auch im Heer bei, befand sich das erschöpfte Bulgarien doch seit Juli 1912 beinahe ununterbrochen im Kriegszustand; in dieser Hinsicht ist es kein Wunder, dass der Zustand der bulgarischen Armee letzten Endes schon zu Beginn des Sommers 1918 als weitgehend „kriegsmüde, mangelhaft versorgt und enttäuscht, […] durch die russische Krankheit bedroht“20 beschrieben wurde. 17 PA AA, Gesandtschaft Sofia 28, Geheim 4. bis 28. Februar 1918. Bericht Nr. 13, Rosenbaum, 9.2.1918. 18 Vgl. Richard J. Crampton, A Concise History of Bulgaria, New York 2005, 143. 19 PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt. Nr. 327. Augenblickliche Stimmung in Bulgariens Volk und Heer, Sofia, 23.7.1918, 5f. 20 ÖStA, HHStA PA, XV 82, Berichte aus Sofia 1918, I–II und IV–VI, Otto Czernin an Burián. Allgemeine Betrachtungen über die Lage in Bulgarien, 30.6.1918, 285; Das von Otto Czernin als „russische Krankheit“ bezeichnete Übel sind natürlich bolschewistische bzw. revolutionäre Strömungen, die auch in Bulgarien auf fruchtbaren Boden fielen. Dies umso mehr, als da weite Teile der Bulgaren sich damals emotional eng mit dem russischen Volk verbunden fühlten. Siehe dazu Richard C. Hall, Bulgaria in the First World War, in: The Historian. A Journal for History 73/2 (2011), 300–316, hier: 308f.
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In stumpfer Untätigkeit, feindlicher gegen die verbündeten Deutschen als gegen den Gegner […] sassen Offiziere und ausgehungerte, zerlumpte Mannschaften in ihren malaria-verseuchten Unterständen […]. Die Zersetzung griff um sich.21
Als Projektionsfläche sämtlichen Übels, das in dieser Krisensituation an die Oberfläche kam, fungierte in besonderem Maße der eigene Verbündete. Dessen Reputation war bis Juli 1918 bereits dermaßen gesunken, „dass ein kräftiges Auftreten für den deutschen Bundesgenossen […] einen Bulgaren kompromittieren“22 musste.
Phase 2: Der Regierungswechsel; Von Radoslavov zu Malinov
Analog zu der sich verschlechternden inneren Verfasstheit der bulgarischen Streitkräfte hatte auch das Kabinett Radoslavov zunehmend an Halt und Autorität eingebüßt. Spätestens seit Beginn des Jahres 1918 befand sich die Regierung gegenüber einer erstarkten Opposition in Bedrängnis sowie unablässig harscher Kritik ausgesetzt, zumal die mannigfaltigen ökonomischen Probleme als auch die prekäre Lage innerhalb der bulgarischen Armee offenkundig waren. Als Kulminationspunkt der bulgarischen Innenpolitik fungierte jedoch das bereits erwähnte Feld, das für Radoslavov höchste Priorität genießen sollte: die Dobrudscha-Frage.23 Noch 1917 hatte er vor der Săbranje bekennen müssen, dass mit den Mittelmächten keine verbriefte Garantie für die Norddobrudscha existierte, sondern lediglich die Annexion der durch den Bukarester Frieden von 1913 abgetretenen Gebiete versichert sowie eine Berichtigung der durch den Berliner Kongress gezogenen Grenze in Aussicht gestellt war.24 Dennoch blieb es während der Friedensverhandlungen mit Rumänien klare bulgarische Agenda, eine Lösung im Sinne der „nationalbulgarischen“ Interessen, nämlich den Erwerb der gesamten Dobrudscha, herbeizuführen. Unfähig, bei den Bündnispartnern diesbezüglich die Maximalforderungen durchzusetzen, verfehlte Radoslavov den für seinen Machterhalt dringend benötigten au21 ÖStA, HHStA PA, XV 82, Berichte aus Sofia 1918, IV–VII, Unsere Prophezeiungen. Otto Czernin an Burián, Sofia, 10.10.1918, 435f. 22 PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt, Nr. 327, Augenblickliche Stimmung in Bulgariens Volk und Heer, Sofia, 23.7.1918, 3. 23 Vgl. Björn Opfer-Klinger, Eine kleine Region spaltet den Vierbund – Die Dobrudscha als Konfliktregion im Ersten Weltkrieg, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 26/1–2 (2014), 38–63, hier: 56. 24 Vgl. Elke Bornemann, Der Frieden von Bukarest 1918, Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas 1978, 91.
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ßenpolitischen Erfolg. Mehr oder weniger offen opponierten nun auch weite Kreise des bulgarischen Offizierskorps gegen den Ministerpräsidenten, während Aleksandăr Malinov, der Parteiführer der Demokraten, sich zunehmender Popularität innerhalb militärischer Kreise erfreute.25 Am 20. Juni 1918 musste schließlich Radoslavov das Feld zugunsten des Oppositionspolitikers räumen, nachdem auch Zar Ferdinand I. wegen des wachsenden Unmuts – ausschlaggebender Faktor war letzten Endes wohl die regierungskritische Stimmung innerhalb der bulgarischen Armee – das Kabinett unter dem liberalen Politiker nicht mehr halten konnte.26 Der neue Ministerpräsident Malinov weise, so die saloppe Formulierung des Sofioter k.u.k. Gesandten Otto Czernin „übrigens den Vorteil ,bloss‘ Russe und nicht allgemeiner Ententist zu sein“ 27, auf. Im Zusammenwirken Malinovs mit dem offensichtlichen innenpolitischen Einfluss der bulgarischen Armee sah der österreichisch-ungarische Diplomat allerdings schon frühzeitig eine potentielle Gefahr für das Bündnis erwachsen: Gefährlich auch deshalb, weil eine künftige Regierung, welche nie den Mut finden würde, gegen Krone und überwiegende Majorität des Landes den Treubruch zu begehen, denselben – auf eine politische Armee gestützt – spielend leicht vollführen kann. Und die Armee ist im vierten Kriegsjahr ein grosser Bauernhaufen, der nach Hause will und in der Dobrudscha-Frage eine grosse Enttäuschung erlitten hat.28
Zunächst allerdings, so die Prophezeiung des österreichisch-ungarischen Diplo ma ten, „dürfte unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch Herr Malinoff ge25 Vgl. ÖStA, HHStA PA, XV 82, Berichte aus Sofia 1918, I–II und IV–VI, Otto Czernin an Burián, 8.6.1918, 257. 26 Otto Czernin hierzu: „General Zekoff [Nikola Žekov] hat den – unbegreiflicher Weise vom König geduldeten – Fehler begangen, dass er eine innerpolitische Ueberzeugung in der Armee aufkommen liess. Die bulgarische Armee sympathisiert heute mit der demokratischen Partei Malinoff’s und wenn Herr Radoslawoff […] fällt, so fällt er in erster Linie, weil er der Armee unsympathisch ist […].“ ÖStA, HHStA PA, XV 82, Berichte aus Sofia 1918, I–II und IV–VI, Otto Czernin an Burián, Die Armee und die innere Politik, 15.6.1918, 285. 27 Ebd., Otto Czernin an Burián, 8.6.1918, 261; Malinov war in seiner früheren politischen Karriere wiederholt gegen das Bündnis mit den Mittelmächten eingetreten und hatte gute Kontakte nicht nur zum Russischen Reich, sondern vor allem zu Frankreich. In der Lesart der Verbündeten bedeutete dies selbstredend, dass er Sympathien zur Entente, also zum Kriegsgegner, hegte. Letztendlich pflegte Malinov eine nicht so enge Bindung an deutsche Interessen, wie der Historiker Hall seine Politik im Gegensatz zum zeitgenössischen Diplomaten Czernin etwas dezenter charakterisiert. Vgl. Hall, Breakthrough, 112. 28 ÖStA, HHStA PA, XV 82, Berichte aus Sofia 1918, I–II und IV–VI, Otto Czernin an Burián, Allgemeine Betrachtungen über die Lage in Bulgarien, 30.6.1918, 286f.
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zwungen sein, die äussere Politik seines Vorgängers vollinhaltlich zu übernehmen.“29 Tatsächlich zeigte der neue Ministerpräsident keine Anstalten, das Bündnis mit den Zentralmächten in Frage zu stellen,30 sondern bemühte sich um die Ausräumung schwelender Fragen und Schaffung klarer Verhältnisse bezüglich des Bündnisverhältnisses. Insbesondere für die Heereslieferungen sollte dabei ein sämtlichen beteiligten Mächten zuträglicher Modus gefunden werden.31 Dagegen vermochte Malinov die umfangreichen Versprechungen bezüglich der bulgarischen Armee nicht zu erfüllen. Vor allem diese hatte große Hoffnungen auf Verbesserung ihrer materiellen Lage und Versorgung gehegt, in Wirklichkeit aber auch zwei Monate nach dem Kabinettswechsel „vorläufig noch keinen Grund, ihm zuzujubeln.“32 Nach einer kurzfristigen Besserung der Truppenmoral, die sich unter anderem in einem marginalen, aber spürbaren Rückgang der Desertionen äußerte, mehrten sich ab August 1918 wiederum die Nachrichten von Insubordinationsfällen innerhalb der bulgarischen Streitkräfte, da „die Regierung ihren Worten keine Taten folgen ließ.“33 Daneben blieb ebenso die Lage an der Heimatfront äußerst prekär; während eine umfassende Umbesetzung der Ämter zugunsten der Parteigänger der Demokraten im Gange war, verbesserten sich weder die korrumpierenden Verhältnisse noch die Versorgungslage der Bevölkerung.34 Den Nährboden für jene revolutionäre Grundstimmung, deren unmissverständliche Anzeichen sich in den Zerfallstendenzen sowohl 29 Ebd., Otto Czernin an Burián, 8.6.1918, 261. 30 Hindenburg hierzu: „Die neuen Männer versicherten uns ihres treuen Festhaltens an dem Bündnis. Das war für uns das Entscheidende.“ Paul von Hindenburg, Aus meinem Leben, Hamburg 2013 [1920], 277. 31 Für die Note und die Reaktion auf die Note vom 12.8.1918 des deutschen und österreichischungarischen Bündnispartner siehe PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt, Nr. 142. Auswärtiges Amt an Oberndorff, Berlin, 22.8.1918, 1–6; ÖStA, HHStA PA, XV 83-1 Berichte aus Sofia 1918, IV–VII, Otto Czernin an Burián, Note des bulgarischen Minister-Präsidenten, 14.8.1918, 57–73. 32 ÖStA, HHStA PA, XV 83-1 Berichte aus Sofia 1918, IV–VII. Czernin an Burián, Frontbesuch bulgarischer Abgeordneter, Stimmung in Volk und Armee, 18.8.1918, 136; Siehe auch PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt, Nr. 424, Abschrift eines Briefes, geschrieben von einem bulgarischen Kompagniechef, der 3 Jahre an der Front steht, an einen bulgarischen Minister am 27.7.18, Sofia, 6.8.1918, 2. 33 Paul Kirch, Krieg und Verwaltung in Serbien und Mazedonien 1916–1918, Stuttgart 1928, 100; Vgl. ferner Hall, Breakthrough, 113. 34 So ersetzte die Regierung Malinov etwa 4.000 Polizisten mit Sympathisanten der demokratischen Partei. Die Parteigänger der liberalen Partei wurden an die Front versetzt. Vgl. Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918 und 1941–1944, Münster 2005, 60 bzw. 62.
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in der bulgarischen Gesellschaft als auch in der Armee widerspiegelten, vermochte letzten Endes das neue Kabinett unter Malinov ebenso wenig zu entziehen wie dessen Vorgängerregierung.
Phase 3: Die militärische Niederlage Bulgariens
Während das neue Kabinett Malinov also keine Konsolidierung zustande brachte, wurde im Saloniker/Thessaloniker Hauptquartier der Expeditionstruppen der Entente die entscheidende Großoffensive gegen die bulgarischen Streitkräfte vorbereitet. Der Kommandant der Orientarmee, Louis Franchet d’Esperey, legte den Beginn der Operation just auf ein Datum, das als Stichtag kursierte, an denen Teile der kriegsmüden Soldaten, falls vorher kein Friede geschlossen werde, ihre Waffen eigenhändig niederzulegen gedachten. Die Fama, wonach die Militärkonvention mit dem Deutschen Reich nur auf drei Jahre abgeschlossen wäre, hielt sich seit geraumer Zeit hartnäckig in den Reihen der bulgarischen Truppe und schlug sich vielfältig in den Akten nieder.35 So ist es kein Zufall, dass Franchet d’Esperey den finalen Schlag der Orientarmee am 15. September 1918 an der schwächsten Stelle der bulgarischen Verteidigung, an den Höhenstellungen bei Dobro Pole, ausführen ließ. Nach anfänglichen erbitterten Widerstand klaffte nach dreitägigen Kämpfen schließlich eine nicht mehr zu schließende Lücke in den Linien, anhand derer die Orientarmee die gesamte Saloniki-Front aufrollen konnte. Innerhalb von nur zehn Tagen determinierte sich die vollständige bulgarische Niederlage sowohl militärisch als auch politisch.36 Das bulgarische Oberkommando war zehn Tage nach Beginn der Offensive nur noch Befehlshaber eines im Zusammenbruch befindlichen Militärapparats. Schon zwei Tage zuvor hatten rebellierende Truppen als höchsten Ausdruck der um sich greifenden Insubordination das bulgarische Hauptquartier in Kjustendil geplündert und dabei einige Offiziere ermordet bzw. als Geiseln genommen. Die Saloniki-Front existierte nicht mehr, gänzlich in Auflösung begriffene Truppenverbände strömten, ihre Aus35 Vgl. den Tagebucheintrag von Scholtz am 9.8.1918, abgedruckt bei; Ferdinand von Notz: General v. Scholtz. Ein deutsches Soldatenleben in großer Zeit, Berlin 1937, 148; PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt, Nr. 424, Abschrift eines Briefes, geschrieben von einem bulgarischen Kompagniechef, der 3 Jahre an der Front steht, an einen bulgarischen Minister am 27.7.18, Sofia, 6.8.1918, 3; ÖStA, HHStA PA, XV 83-1, Berichte aus Sofia 1918, IV–VII, Stimmung in der bulgarischen Armee, Hptm. Hoflehner, 1.9.1918, 281; ebd., Otto Czernin an Burián, 5.9.1918, 240. 36 Vgl. Reichsarchiv (Hg.), Weltkriegsende an der mazedonischen Front. Schlachten des Weltkrieges, Bd. 11, Oldenburg – Berlin 1925.; Hall, Breakthrough; Alan Palmer, Victory 1918, New York 1998, 214–231; sowie das Kapitel „Balkan Victory“ bei Martin Marix Evans, Forgotten Battlefronts of the First World War, Brimscombe Port 2003, 217–250.
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rüstung zurücklassend, ungeordnet vom makedonischen Frontgebiet in Richtung Altbulgarien.37 Überhaupt sei „der Geist des Großteiles der bulgarischen Armee in demselben Zustande […] wie in Russland vor dem Zusammenbruche,“38 so die einmütige Feststellung sowohl des k.u.k. Militärbevollmächtigten als auch Gesandten: Auf die bulgarische Armee kann nicht mehr gerechnet werden. Wenn wir mit Deutschland genügend Truppen herunterzusenden im Stande sind, um ohne die bulgarische Hilfe, ja vielleicht ,malgré les bulgares‘ eine Front zu retablieren und erfolgreich zu halten, dann wäre villeicht [sic!] der Versuch die Mühe wert.39
Vom politischen Aspekt her vermochten die Berichte ebenso keinerlei Optimismus mehr zu versprühen, war doch am 24. September 1918 nur durch das Veto des Zaren die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit der Entente verhütet worden. Am Tage darauf jedoch, als die Nachricht von Richtung bulgarischer Hauptstadt anrückenden, rebellierenden Truppen in Sofia die Runde machte, entsandte Ministerpräsident Malinov auf eigene Verantwortung eine Friedensdelegation unter Führung des Finanzministers Andrej Ljapčev und in Begleitung des Kommandanten der bulgarischen 2. Armee Generalmajor Ivan Lukov sowie des Geschäftsträgers des US-amerikanischen Generalkonsuls Dominic Murphy nach Saloniki/Thessaloniki.40 Erst jetzt, nachdem die Nachricht, „dass Bulgarien um sofortigen Waffenstillstand bitten müsse“41, durchgedrungen war, reagierte auch die Oberste Heeresleitung auf die katastrophalen Meldungen über die Lageentwicklung auf dem Balkan, indem sie sich den dringlichen Hilfeappellen der bulgarischen Heeres- und Staatsleitung nicht mehr verschloss. Neben den drei geschlossenen deutschen Divisionen, die Richtung Südosten in Marsch gesetzt wurden, sollte eine weitere militärische Maßnahme die Situation entschärfen: Hindenburg regte am 26. September 1918 bei Ferdinand I. 37 Siehe ÖStA, KA, FA, AOK, Bevollmächtigte Bulgarische Heeresleitung Akten 4051, Nr. 33 (693/25a), Siller an Rubido-Zichy und Nr. 40a (693/27b), Siller an AOK, 27.9.1918. Vgl. die ausführliche Darstellung bei: Brigitte Stiefler, Die politischen Beziehungen zwischen ÖsterreichUngarn und Bulgarien von 1915–1918, Diss. Wien 1970, 200–206; ferner auch Opfer, Schatten, 78f.; sowie Reichsarchiv (Hg.), Weltkriegsende, 140. 38 ÖStA, HHStA PA, I 994-4, Allgemeines über die Kriegsereignisse an der albanisch/albanisch-bulgarischen Südfront 1916–1918, Telegramm Rubido-Zichy an Burián, 26.9.1918. 39 Ebd. 40 Vgl. Petrov, Vojnata, 208; Mühlmann, Heeresleitung, 237 sowie ÖStA, HHStA PA, I 994-4 Allgemeines über die Kriegsereignisse an der albanisch/albanisch-bulgarischen Südfront 1916–1918, Telegramm Rubido-Zichy an Burián, 26.9.1918. 41 PA AA, Gesandtschaft Sofia 27, Berichte an das Auswärtige Amt, Telegramm Auswärtiges Amt an Deutsche Gesandtschaft, Nr. 589, 25.9.1918.
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sogar an, den deutschen Kommandanten der gemischten Heeresgruppe in Makedonien, General Friedrich von Scholtz, den bulgarischen Oberbefehl zu übertragen.42 Auch auf politischem Wege wollten die Verbündeten noch einmal der bulgarischen Verbitterung bezüglich der Dobrudscha beikommen, wobei sie im Abkommen vom 24. September 1918 verbrieften, die Verwaltung über die gesamte Norddobrudscha Bulgarien zu übertragen.43 Die Übergabe des umstrittenen Territoriums kam allerdings nicht mehr zur Ausführung, sondern blieb ebenso wie die bulgarischerseits unannehmbare Forderung der Abgabe des Oberkommandos ein letzter erfolgloser Versuch, das Ruder herumzureißen. In Sofia herrschten während dieser turbulenten Tage chaotische Zustände; eine Episode, die in Radomir ihren Ausgang nahm, beinhaltete die Ausrufung der bulgarischen Republik am 27. September 1918 durch radikale, unter anderem kommunistisch beeinflusste Săbranje-Abgeordnete, für deren Vorsitz der eben begnadigte und aus der Haft entlassene Führer des Bauernbundes (BZNS – Bălgarskijat Zemedelski Naroden Sojuz) Aleksandăr Stambulijski auserkoren war. Obwohl dieser die ihm zufallende Ehre ablehnte, schloss sich der Oppositionspolitiker doch der aufständischen Bewegung in Radomir an. Die Intention, mit der Freilassung des Oppositionspolitikers dem Unmut die Segel aus dem Wind zu nehmen, misslang.44 Eilig nahm die Vorhut der von der Krim kommenden und in Varna ausgeschifften deutschen 217. Infanteriedivision nicht nur zum Schutz der geordneten Verhältnisse und des Monarchen um den Sofioter Königspalast Aufstellung, sondern auch, um noch ein letztes Mal deutsche Präsenz zu zeigen.45 Eine republikanische Streitmacht in der Stärke von 6.000 bis 8.000 Mann konnte schließlich wenige Kilometer westlich von Sofia durch einige verbliebene königstreue Verbände mit der Unterstützung bulgarischer 42 Vgl. PA AA, Gesandtschaft Sofia 28,. Geheim, Politische Akten betreffend Verschiedenes, Telegramm Boettich an deutsche Gesandtschaft Sofia, 2.10.1918; sowie Mühlmann, Heeresleitung, 235; Laut Dieterich sollte Scholtz gemäß Vorstellungen der OHL gar militärdiktatorische Kompetenzen für ganz Bulgarien erhalten. Siehe: Reichsarchiv (Hg.), Weltkriegsende, 140f. 43 Bulgariens Übernahme über die gesamte Verwaltung in der Norddobrudscha sollte demnach 15 Tage nach der Unterzeichnung erfolgen. Die erhoffte Wirkung des Kontraktes in der bulgarischen Öffentlichkeit und Armee blieb aus, da damit Grenzkorrekturen in Thrakien verbunden waren. Siehe Stefan Minkov, Der Status der Nord-Dobrudscha im Kontext des deutsch-bulgarischen Verhältnisses, in: Angelow (Hg.), Weltkrieg, 241–255, hier: 254; ÖStA, HHStA PA, I 994-4 Allgemeines über die Kriegsereignisse an der albanisch/albanisch-bulgarischen Südfront 1916–1918, Telegramm Burián an Rubido-Zichy, Wien, 24.9.1918, 3. 44 Vgl. John D. Bell, Peasants in Power, Alexander Stamboliski and the Bulgarian Agrarian National Union, 1899-1923, Princeton 1977, 137. 45 Vgl. PA AA, Gesandtschaft Sofia 28, Geheim, Politische Akten betreffend Verschiedenes, Boettich an deutsche Gesandtschaft Sofia, 27.9.1918; Sie sollten ferner die bulgarische Regierung und Krone vor revolutionären Kräften zu schützen. Siehe dazu: Hall, Breakthrough, 159f. und 162.
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Kadetten und deutscher Truppen aufgehalten werden; die Gefahr eines Umsturzes bzw. einer Revolution war damit gebannt.46 Am Abend des 29. September 1918 zeitigte aber der unaufhaltsame Vormarsch der Orientarmee – am selben Tag fiel Skopje in serbische Hände, schon vier Tage zuvor hatte britische Kavallerie altbulgarisches Gebiet erreicht – schlussendlich seine Konsequenz: Die bulgarischen Unterhändler akzeptierten die Waffenstillstandsbedingungen Franchet d’Espèreys und unterzeichneten den entsprechenden Kontrakt.47 Am Morgen des 30. Septembers 1918 schied Bulgarien als erste der Mittelmächte aus dem Ersten Weltkrieg aus, das Bündnis mit den Zentralmächten war somit nach dreijährigem Bestand gelöst.
Phase 4: Konsolidierung und Neuorientierung der bulgarischen Politik
In die indifferente Phase zwischen Waffenstillstand und dem Friedensschluss von Neuilly-sur-Seine am 27. November 1919 fiel die Neukonsolidierung der bulgarischen Politik. Die Bilanz des Weltkrieges war für den kleinen südosteuropäischen Staat verheerend, hatten doch die Kriegsanstrengungen nicht nur eine vergleichsweise hohe Mobilisierung an Menschen und Material gezeitigt, sondern auch immense soziale Folgen nach sich gezogen. Neben den Kriegsopfern, eine Erhebung des bulgarischen Generalstabes aus dem frühen Jahr 1919 führt für den Zeitraum von 1915 bis 1918 insgesamt 101.224 gefallene und 155.026 verwundete Armeeangehörige an,48 lag die Wirtschaft vollkommen darnieder. Zusätzlich strömten mehrere Wellen von Flüchtlingen aus „verloren“ gegangenen Gebieten ins bulgarische Mutterland. Die Anzahl der mit Ende des Weltkrieges außerhalb der Landesgrenzen beheimateten ethnischen Bulgaren kann mit etwa einer Million, das heißt etwa 16 Prozent der Gesamtbevölkerung, beziffert werden.49 Diese verkamen zum Spielball und Faustpfand der kurz zuvor noch verfeindeten Nachbarstaaten, wobei die siegreichen Regionalmächte des Balkans letztlich dem geschlagenen Bulgarien umfassende Bevölkerungstransfers aufzwangen. Auf dem Feld der internationalen Diplomatie wurde so die Voraussetzung dafür geschaffen, dass nach 1918 etwa 250.000 ethnische Bulgaren ins Mutterland transferiert
46 Vgl. Opfer, Schatten, 79; Reichsarchiv (Hg.), Weltkriegsende, 142f. 47 Vgl. Petrov, Vojnata, 209f. 48 Vgl. DVIA, F 22, Op. 3, a.e. 239, Svădenie za zagubită poneseni otă bălgarskata armija, 20.1.1919, 429gr.; Bei einer Mobilisierung von insgesamt etwa 875.000 Mann wurden im Laufe des Weltkrieges etwa ein Drittel der bulgarischen Soldaten entweder getötet oder verwundet. 49 Vgl. Crampton, History, 145.
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wurden.50 Auf dem Parkett der internationalen Politik sah sich der Verlierer des Ersten Weltkrieges in derselben Situation wie nach dem Zweiten Balkankrieg, nämlich gänzlich isoliert. Selbst die Beziehungen zu dem wichtigsten Weltkriegsverbündeten, dem Deutschen Reich, waren aufgrund der Zerwürfnisse im letzten Kriegsjahr gänzlich abgekühlt und gestalteten sich seit Bulgariens Kriegsaustritt in den ersten Nachkriegsjahren dementsprechend äußerst „frostig“.51 Als Teodor Teodorov noch im November 1918 den zurückgetretenen Ministerpräsidenten Malinov beerbte, bestand das Kalkül unter anderem darin, dessen gute Kontakte zu US-Präsidenten Woodrow Wilson zu nützen, um auf milde Friedensbedingungen hinzuwirken. Zwar erwies sich dies als Trugschluss,52 doch seit Jänner 1919 wurde bereits jener Mann mit ins Regierungskabinett geholt, der mit seinem Bauernbund die ersten Nachkriegswahlen dominieren sollte. Stambulijski fuhr mit seiner Partei, die vor der kommunistischen Partei unter den rund 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung zur populärsten Kraft Bulgariens aufgestiegen war, im August 1919 28 Prozent der Stimmen ein, womit für ihn ab Oktober desselben Jahres der Weg für die Übernahme des Ministerpräsidentenpostens mit Unterstützung der Sozialdemokraten frei war. Gleichzeitig änderte sich neben einem moderaten Reformkurs im Inneren die bulgarische Außenpolitik, da nun auf gute Beziehungen mit dem neu gegründeten SHS-Königreich bedacht genommen wurde, wofür Makedonien die revisionistische Komponente und die zentrale Rolle im außenpolitischen Handeln Bulgariens verlor. Nicht zu Unrecht betont der Historiker Richard J. Crampton diesen Paradigmenwechsel in der bulgarischen Politik, indem er ihn als Wendepunkt in der Geschichte des Landes sieht. Allerdings sei auch sein Zusatz angeführt, dass nach dem erfolgreichen Attentat auf Stambulijski ab 1923 diese Neuorientierung in weiten Teilen wieder umgekehrt wurde.53 Der neue Kurs hatte Widerstand in den Kreisen der Armee sowie im Dunstkreis der Makedonischen Befreiungsfront geschürt, die insofern noch Brisanz bekamen, als da Stambulisjski unter anderem die Verantwortlichen für die Kriegspolitik der 1910er Jahre und der daraus resultierenden „nationalen Katastrophen“ vor Gericht zu bringen gedachte. Die unmissverständliche Zustimmung für diesen Vorstoß gaben im Jahr 1922 in einem diesbezüglich abgehaltenen Referendum – es war überhaupt das erste seit Gründung des 50 Vgl. Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, 316–318. 51 Vgl. Stein, Beziehungen, 228. 52 Vgl. Andrea Despot, Amerikas Weg auf den Balkan. Zur Genese der Beziehungen zwischen den USA und Südosteuropa 1820–1920, Wiesbaden 2010, 310. 53 Vgl. Richard J. Crampton, Was the First World War the Turning Point at Which Bulgarian History Failed to Turn?, in: Othon Anastasakis/David Madden/Elizabeth Roberts, Balkan Legacies of the Great War. The Past is Never Dead, Basingstoke/New York, 50–59, hier 54f.
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modernen Bulgariens – 74 Prozent der bulgarischen Bevölkerung..54 Mit dem Putsch revisionistischer Kräfte und der Ermordung Stambulijskis ging letztendlich auch diese Phase zu Ende.
Resümee
Die irredentistischen, bisweilen eindeutig imperialistischen Ziele, für die Bulgarien 1915 auf Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg gezogen war, wurden nicht erreicht. Nach zwei Jahren ressourcenintensiven Kriegszustandes war das Land zu Jahresbeginn 1918 ausgezehrt, die Konstitution der Bevölkerung verschlechterte sich dramatisch. Noch während des Krieges entfremdete sich ein Gutteil der bulgarischen Truppe wie auch der Bevölkerung vom deutschen Zweckverbündeten, vor allem weil dieser nicht imstande bzw. willens war, eine ausreichende Unterstützung zu gewähren sowie die territorialen Forderungen Bulgariens zu erfüllen. Diese innere Abkehr ging Hand in Hand mit der Verschärfung der Moral- und Versorgungskrise. Doch auch ein Regierungswechsel erwies sich als zahnlos, wurden doch jene Hoffnungen, welche das neue Kabinett unter Malinov hervorgerufen, bitter enttäuscht. Der entscheidende Stoß kam jedoch von außen: Als nämlich die bulgarische Hauptfront nach einer Offensive der Kriegsgegner innerhalb von nur zwei Wochen vollends aufgerollt wurde. In Verbindung mit inneren Aufständen und dem Zusammenbrechen der bulgarischen Streitkräfte musste Ende September 1918 die militärische Niederlage eingestanden und um Waffenstillstand angesucht werden. Wiederum international gänzlich isoliert und im Inneren zerrüttet, zeigten sich die Positionen des Bauernbundführers Stambolijski als mehrheitsfähig. Dieser vertrat bezüglich der künftigen Außenpolitik des Balkanstaates moderate Ansichten, was entschieden als Kehrtwende zur früheren Position der Politklasse zu verstehen ist und zumindest im Ansatz die Überwindung der ausgeprägten Feindschaft zwischen Bulgarien und seinen Nachbarstaaten gefördert hätte. Bemerkenswert jedenfalls ist, dass sich in Bulgarien im Gegensatz zu seinen mitteleuropäischen Weltkriegsverbündeten die monarchistische bzw. dynastische Tradition des Hauses Sachsen-Coburg-Koháry durch den frühzeitigen Thronwechsel halten hatte können. Wenn die neuen republikanischen Kräfte in der Weimarer Republik und in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie für den offensichtlich radikalen Umschwung stehen mögen, so erfolgte ein analoger Wandel im bulgarischen Exempel vergleichsweise subtil, jedoch dennoch mit denselben Tendenzen. 54 Vgl. Tatiana Kostadinova, Bulgaria 1879–1946. The Challenge of Choice, New York 1995, 51f.
Gerhard Botz
1945: Viele Brüche und Kontinuitäten – ein „Epochenbruch“?
Anknüpfend an die Nicht-Übertragbarkeit von nationalgeschichtlichen Periodisierungen auf andere Nationen und Kulturen hat Anselm Doering-Manteuffel sein nicht unbestrittenes Konzept von politische Brüche überspannenden „Zeitbögen“ vorgeschlagen.1 Diese alternative Periodisierung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert lasse sich, beginnend um 1890 über 1930/45 und 1970/75 hinweg bis in die Gegenwart, nach drei „Zeitbögen“ gliedern, die durch verflochtene ideologie-, wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtliche Strukturen (fast im Stil von Braudels „Grammatik von Zivilisationen“)2 charakterisiert sind. Noch allgemeiner gedacht bestreitet Yehuda Bauer (jedenfalls für die jüdische Geschichte) „die übliche Einteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit“, was auch für die Zeitgeschichte gelten kann. Sie sei „rein eurozentrisch, man könnte auch sagen amerikanisch-eurozentrisch. Hierin spiegeln sich der Kolonialismus und der Imperialismus wider. Indische, chinesische, afrikanische oder präkolumbianische Geschichte haben eine andere Einteilung.“3 Eine Geschichte, die in einem Atem das Kriegsende in Europa und Ostasien nennt, oder den Genozid an den Juden nur räumlich auf das Großdeutsche Reich beziehen will, stößt daher auf Friktionen, so auch die mir vorgegebene thematische Zusammensetzung dieses Kapitels, das in den einzelnen Beiträgen narrative Stränge mit ganz unterschiedlichen Rhythmen vereint. Hier, auch in dieser Einleitung, wird ein zentrales Problem jeder Geschichte von Epochenbrüchen klar, nämlich, „dass die globale Sicht auf die Geschichte nicht die einzige ist, dass aber im Rahmen einer Globalgeschichte versucht werden muss, die beiden Stränge zusammenzuwinden. Die deutsche Geschichte ist eine eigene Erzählung [...]“, die globale eine andere, wie Hans-Heinrich Nolte in seiner „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ sagt.4 Schon die Frage, wann der Bruch von 1945 genau zu verorten wäre, zeigt, dass eine eng temporale Ereignisgeschichte wenig zielführend ist. Wann begann denn die 1
2 3 4
Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 62. Jg., H. 3 (Juli 2014), 321–348 und: Peter Hoeres, Eine Kritik am Konzept der „Zeitbögen“, in: ebd., 63. Jg., H. 3 (Juli 2015), 427–436. Fernand Braudel, Grammaire des civilisations, Paris 1887, vor allem 28–30 und 40–55. Yehuda Bauer, Wir Juden. Ein widerspenstiges Volk, Berlin 2015, 5f. Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bonn 2009, 73.
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neue Epoche datumsmäßig? Am 8./9. Mai 1945, mit dem Potsdamer Abkommen (2. August 1945), dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima (6. August 1945), der Kapitulation Japans (2. September 1945), mit dem Erlöschen jahrelanger Partisanenkämpfe im Baltikum und in der Ukraine (um 1948/49) oder der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (23. Mai bzw. 7. Oktober 1949) oder der westdeutschen Währungsreform (20. Juni 1948), et cetera et cetera? Oder erst mit der offiziellen deutschen Vereinigung (3. Oktober 1990)? Zahlreiche solche „Epochenbrüche“, die zu Gründungsmythen geworden sind und/oder von geschichtswissenschaftlichen Studien oder Tagungen legitimiert werden, lassen sich für jede nationale, internationale oder sonstige Gemeinschaft finden. Aber auch den dem Mai 1945 vorausgehenden Ereignissen kann eine solche epochenbildende Eigenschaft zugeschrieben werden, etwa „Stalingrad“ (das heutige Volgograd) 1942/43, der Landung der Westalliierten in der Normandie im Juni 1944 oder der Konferenz von Jalta etc. Die damit hier nur angedeutete Vielschichtigkeit der markanten Einschnitte, die im engeren und weiteren Umfeld der deutschen und japanischen Kapitulationen auszumachen sind, lässt sich nicht auf ein einziges Datum oder einen einzigen Wandlungsprozess herunterbrechen. Vielmehr haben wir es hier – in der Sprache der Geologie – mit einem Staffelbruch an Diskontinuitäten, Verwerfungen und Schockwellen zu tun, die nicht mehr allein in eine nationale – etwa die deutsche oder russische – Geschichte passen, sondern nur in weltgeschichtlichem Maßstab erfassbar sind. Die Radikalität der hier kollidierenden oder kooperierenden Herrschaftsformen und Weltanschauungen (Faschismus, Kommunismus, Militarismus und Autoritarismus sowie westliche Demokratien), die Hekatomben von Kriegstoten, in Genoziden Ermordeten und Männer, Frauen und Kinder, die unter den Begleit- und Folgeumständen der 1945 zu Ende gehenden Epoche umgekommenen sind, hat Ulrich Herbert in dem Resümee zugespitzt: „Nie zuvor in der deutschen Geschichte der Neuzeit hatte es einen nachhaltigeren, tiefer greifenden Einschnitt gegeben, als in diesem Moment. Und bei allen Elementen von Kontinuität und Restauration, die sich später oder früher bemerkbar machten: Ein schärferer Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht war kaum denkbar.“5 Daher könnte es auch plausibel sein, das meist weitgehend einheitlich gedachte 20. Jahrhundert mit dem Epochenbruch 1945, wenn dieser so grundlegend ist, ab5
Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, 550; ähnlich, aber weniger eindeutig: Jürgen Kocka, 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern/Heinrich August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848–1990, 7. Aufl., Frankfurt am Main 1998, 159–192; ähnlich auch: Claus Leggewie, 1945 in globalhistorischer Perspektive. Zur Biografie eines Wendejahres von Ian Buruma, in: Neue Politische Literatur, 60. Jg., H. 1, (2015), 53–61, hierin: Ian Buruma, ‘45. Die Welt am Wendepunkt, München 2013.
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zuspalten von einem schon in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 1945 endenden „Zeitalter der europäischen Vorherrschaft und ihr[en] Niedergang“6 und erst danach einen historischen Zeitraum beginnen zu lassen,7 der sich über 1989/90 hinaus vielleicht bis 2001 fortsetzt und erst danach von neuen kulturellen und weltpolitischen Konstellationen abgelöst wird.8 Ulrich Herbert meint auch, insofern habe für 1945 „der schon zeitgenössisch früh gebrauchte Begriff der ‚Stunde Null‘ seine Berechtigung.“9 Dagegen moniert Mark Mazower: „In Wahrheit gab es keine Stunde Null, keine saubere Trennlinie zwischen heißem und Kaltem Krieg. Und die Gesellschaftsformen, wie sie sich während des Kalten Krieges herausbildeten, hatten ihre Wurzeln in den zwischen 1939 und 1945 gemachten sozialen Erfahrungen. Man könnte sagen, daß der Übergang zur Nachkriegsära vielleicht schon 1943 einsetzte, als die Alliierten in Süditalien landeten und sich damit die Probleme von Besatzung und Wiederaufbau stellten.“10 Dieses Thema greift etwa auch der Beitrag von Tim Kirk in diesem Kapitel über die neue europäische Ordnung auf.11 Er zeigt, wie sich grundlegende Konzepte zu einer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Neuordnung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas für die Nachkriegszeit fast zeitgleich in Reaktion auf das monströse „Neue Europa“ des Nationalsozialismus und der Waffen-SS herausbildeten. Neben vielen anderen Traditionssträngen und Politiken ergab sich, überwiegend durchgesetzt von den siegreichen Alliierten und Besatzungsmächten, im einen Fall 6
Gottfried Neidhart, Das Zeitalter der europäischen Vorherrschaft und ihr Niedergang, in: Gerold Niemetz/Uwe Uffelmann, Epochen der modernen Geschichte, 93–142; ohne teleologischen Drive sozial-politikgeschichtlich anregend: Christophe Charle, La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne (1900–1940). Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001; ähnlich: Frédéric Delouche, Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2011, 342–457. 7 Für Deutschland siehe: Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004; Uta Gerhardt/Ekkehard Mochmann (Hg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945– 1990. Re-Demokratisierung und Lebensverhältnisse, München 1992. 8 Wilfried Röhrich, Rückkehr der Kulturen. Die neuen Mächte in der Weltpolitik, Baden-Baden 2010; allg. siehe: Claudia Dewrichs, Alterrnative Perspektiven auf Weltordnung und Konzepte der Entwicklung, in: Neue Politische Politik, 59. Jg, H. 2 (2014), 255–272. 9 Herbert, Geschichte Deutschlands, 550; siehe auch Kapitel „1945“ in: Dietrich Papenfuß/Wolfgang Schieder (Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000, 347–495. 10 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, 308f.; auch: Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014; vgl. auch: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4. Bd.: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, 941–983. 11 Siehe auch: Carola Sachse (Hg.), „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen 2010; Keith Tribe, Strategies of economic order. German economic discourse, 1750–1950, Cambridge 1995.
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eine liberal-kapitalistische Demokratie westlichen Zuschnitts, im anderen Fall eine Imitation des sowjetkommunistischen Gesellschafts- und Diktaturmodells. Aus der realen und die Erinnerungen langfristig prägenden Erfahrung der „totalitären“ NS-Diktatur und des von ihr verlorenen „totalen“ Kriegs erwuchs hier für die geteilten Nachkriegsordnungen ein Legitimitätspotential, das im Osten (wie auch in anderen ost-(mittel-)europäischen Ländern) nicht lange anhielt, im Westen (von einigen Krisenschwankungen abgesehen) jedoch dauerhaft wirksam wurde.12 Doch auch in der Bundesrepublik Deutschland, wo viele alte gesellschaftliche und kulturelle Strukturen und vielerlei Kontinuitäten weiter bestanden, lief die Entnazifizierung nicht ohne Widerstände und gegenläufige Tendenzen ab. In Österreich gab es, trotz aller staats- und besatzungspolitischer Unterschiede (etwa wegen der „Moskauer Deklaration“)13, eine äquivalente, jedoch länger andauernde Konstellation von Beharrung in der Veränderung,14 wie etwa Kurt Bauer in seinem erfahrungs- und mikrohistorischen Beitrag anhand exemplarischer Lebensgeschichten von Nationalsozialisten darlegt, die ihre (Mit-)Täterschaft verharmlosten und sich als „Opfer“ präsentierten. Das Geflecht von wirtschaftlichen, demokratie- und kulturpolitischen Maßnahmen und Einflüssen ließ im geteilten Europa die katastrophalen Zustände (relativ) kurzer Dauer im Kontrast zu den mittel- und langfristigen Veränderungen, die von den Zeitgenossen nicht immer positiv empfunden wurden, verblassen. All das machte den „Bruch von 1945“ erst zu einem veritablen Epochenbruch; ein solcher ergab sich nicht zuletzt auch aus den Langzeitwirkungen von 1945, einerseits aus den sich wirtschaftlich bald günstig entwickelnden und demokratischen Nationalstaaten im Westen (ausgenommen bis in die 1970er Jahre Spanien, Portugal und Griechenland) und andererseits auch aus den zwar von periodischen Krisen heimgesuchten, aber dennoch vorerst dauerhaft erscheinenden „staatssozialistischen“ Systemen im Osten. All diese gesellschaftlich-politischen (Neu-)Bildungen unterschieden sich beträchtlich voneinander, so dass eine knappe Zusammenschau höchst schematisch bleiben muss.15 Wiederum anders lagen die Verhältnisse in der nach Westen ausgedehnten 12 Umfassend: Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2005, 27–272. 13 Siehe Stefan Karner/Alexander Tschubarjan, Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“, Wien/Köln/Weimar 2015. 14 Siehe Gerhard Botz/Albert Müller, „1945“. „Stunde Null“, historischer Bruch oder Kontinuität mit der NS-Zeit und der Ersten Republik?, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Jahrbuch 1995, Wien 1994, 6–27. 15 Siehe jedoch umfassend: Stein Ugelvik Larsen (Hg.), Modern Europa after fascism 1943–1980s, 2 Bde., Boulder/New York 1998; und Jerzy W. Borejsza/Klaus Ziemer (Hg.), Totalitarian and authoritarian regimes in Europe. Legacies and lessons from the Twentieth Century, New York 2006.
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Sowjetunion, in der sich der Stalinismus16 fast ein weiteres Jahrzehnt lang noch fortsetzte, und dessen außen- und innenpolitische Ausprägungen und Wandlungen Boris Chavkin in seinem Beitrag herausarbeitet.
16 Vgl.: Jörg Baberowski (Hg.), Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012; allg.: Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hg.), Beyond totalitarianism. Stalinism and Nazism compared, Cambridge 2009.
Tim Kirk
New Economic Orders Nazi Plans for Post-War Europe and British Responses
In the summer of 1940, following the fall of France within a matter of weeks, a German victory seemed both imminent and inevitable, and thoughts turned to the new European order that would follow the war. On 10th July the front page in Hitler’s home town of Braunau in Upper Austria was typical of many others across the Reich. Under the headline „On the threshold of a New Europe“ it set out in detail the string of recent military successes that had so rapidly swept away the international order established by the Paris peace conferences and created a new constellation of political forces across the continent. „The old European order is collapsing“, it concluded: „We stand on the threshold of a construction site.“ The new Europe, it went on, would be shaped by Germany and Italy, while Britain, „the eternal opponent of Europe“ would finally be excluded from the political development of the continent.1 This was the nub of the issue. The victories of 1940 were specifically a triumph over the West: over the Versailles settlement, which was symbolically repudiated in the railway carriage where the armistice of 1918 had been signed; over the international order designed in Paris and preserved through alliances such as the Little Entente; and not least over western values. The proposals for a new Europe, which would be articulated in the upcoming months, were nothing if not a fundamental rejection of western political culture since the Enlightenment. They built not only on the ideological alternatives rehearsed by the German right during the First World War and the Weimar Republic, but also on economic objections to ‘Manchester’ liberalism reaching back to the time of Friedrich List.2 In short there was more to Nazi European ideology than a cynical propaganda exercise to be used as a cover for conquest and plunder; and it would be misleading to suggest that there was a single or consistent idea of a new European order within the dysfunctional power cartel at the head of the Nazi dictatorship.3 With France defeated a beleaguered Britain was 1 2 3
An der Schwelle eines neuen Europa, in: Neue Warte am Inn, 60. Jg., Nr. 28, 10. Juli 1940, 1. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; Keith Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse 1750–1950, Cambridge 1995. Peter Stirk, Authoritarian and national socialist conceptions of nation, state and Europe, in: Peter Stirk (ed.), European Unity in Context. The Interwar Period, London 1989, 12–148.
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characterised as a ‘regionally alien’ (in German „raumfremd“) power, whose interference in continental affairs served to perpetuate a global economic system which, while it purported to reflect the universal truths of classical economics, in fact only benefited the interests of an Anglo-American „plutocracy“. This essay sets out to explore the proposals for a post-war order which were discussed in Germany (and elsewhere on the continent) after the fall of France, and to examine British responses. It will be argued that while the reconstruction and integration of Europe after 1945 was founded on an explicit rejection of fascist values, the attempt to impose the Nazi new order after 1940 had compelled Europeans to consider alternative solutions to the problems the Nazis promised to solve.4
Ideological roots until the end of the 1930s
The discussion of the post-war order that preoccupied the continent in the summer of 1940 was for the most part necessarily speculative. There were few clear statements from the top. Hitler himself rarely referred to a new European order and refused to make any plans for the future of the continent in the event of the anticipated Nazi victory, referring only to the broad terms of the Tripartite Pact.5 The positions of other Nazi leaders were inconsistent. Hermann Göring most closely reflected thinking among the various elements of the Nazi leadership when he outlined plans for the annexation of Alsace-Lorraine, Luxembourg and Norway, leaving the future of Belgium and much of the rest of France open for the time being. Joachim von Ribbentrop spoke in more general terms of a world of three power blocs divided between Germany, Japan and the United States, while Heinrich Himmler remained preoccupied with the idea of establishing a „greater Germanic“ empire from the Atlantic to the Black Sea, reflecting the very specific interpretation of the „new order“ in the SS.6 Hitler himself remained non-committal, and for the most part the arrangements for administration of the occupied territories were provisional rather than explicitly long-term. 4
5 6
See Michael L. Smith, Introduction: European Unity and the Second World War, in: Michael L. Smith/Peter Stirk (eds.) Making the New Europe: European Unity and the Second World War, London 1990, 1–17, here 8f. Clifton J. Child, The Concept of the New Order, in: Arnold Toynbee/Veronica M. Toynbee, Hitler’s Europe. Survey of International Affairs 1939–1946, Oxford 1954, 47–61. Hans Umbreit, Towards Contiental Domination, in: Bernhard R. Kroener et al. (eds), Germany and the Second World War.Vol. V/1. Organization and Mobilization of the German Sphere of Power. Wartime Administration, economy, and manpower resources 1939–1941, Oxford, 2000, 9–404, here 153f; Hans Dietrich Loock, Zur „großgermanischen Politik“ des Dritten Reiches, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Vol 8, No. 1 (1960), 58–63, Child, New Order, 73–86.
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Press and propaganda on the other hand very quickly took up the theme of a new European order, initially in triumphalist tones that celebrated the making of history. On 12th July, for example, a confidential briefing to journalists by the Propaganda Ministry discussed the future of France in bold historical terms: the Peace of Westphalia would certainly be reversed, and perhaps also the Treaty of Verdun, which had divided the Carolingian Empire in 843.7 In the months that followed politicians, academics and journalists wrote prolifically about European markets, integrated transport systems and postal services. Pamphlets and journals proliferated whose main purpose was to rethink the international order in all its aspects, political and economic, social and cultural. The discussion gathered pace after the invasion of the Soviet Union in 1941, when it became possible to speak of the true dimensions of Nazi ambitions, and was increasingly dominated, particularly after the tide of the war turned in 1943, by an insistence on the defence of Europe’s culture and heritage from classicism to Christianity against the depredations of atheistic Bolshevism on one front and the shallow commercialism of the „plutocracies“ on the other. At the heart of the discussion, however, was a political and economic agenda which built on questions that had been discussed with increasing urgency since the turn of the century, when the idea of a central European bloc („Mitteleuropa“) had gained currency as a German counterweight to the overseas empires of other powers. A central European trading bloc had been advocated by conservatives since the 1890s and had been pursued before the First World War through organisations such as the “German Association of Industrialists“ („Bund der Industriellen“) and Julius Wolf ’s „Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein“.8 The importance of the concept of „Mitteleuropa“ as a strategy during the First World War is well documented, and during the Weimar Republic it persisted as a concept in certain quarters as a potential vehicle for Germany to regain international standing. For much of the 1920s it remained in the background, but it revived again with the economic difficulties of the Depression.9 It is important to note the continuity of ideology, organisational networks and person7 8
9
Jeremy Noakes/Geoffrey Pridham (eds), Nazism. A Documentary Reader. Vol. 3, Foreign Policy, War and Racial Extermination, Exeter 1988, 882. Volker Berghahn, Introduction, in: Volker Berghahn (ed.), Quest for Economic Empire. European Strategies of Big Business in the Twentieth Century, Providence/Oxford 1996, 1–33, here, 8; see also Reinhard Opitz (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, Bonn, 1994, documents XVI-XIX on the origins of the „Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein“, 137–156 and XX: „Aus dem Aufruf des Bundes der Industriellen ‚Kampf um den Industriestaat‘“, 157f. Henry Cord Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815–1945, Den Haag 1955; Fritz Fischer, Germany’s Aims in the First World War, New York 1967; Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999.
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nel. Werner Daitz, for example, one of the leading Nazi proponents of a Germanled „Großraumwirtschaft“ during the 1930s and 1940s, had published on the same theme in 1917; and a number of new „Mitteleuropa“ associations flourished in both Germany and Austria.10
Concepts and agendas in the 1940s
Now, in 1940, with the prospect of victory, the discussion moved from the hypothetical to the concrete. In May 1940 the Reichsbank, in consultation with the economics ministry, commissioned confidential snap studies of the economic assets of Belgium and the Netherlands, including Luxembourg and the capacity of Dutch overseas territories to deliver valuable raw materials.11 A meeting of the foreign ministry on 24th May, chaired by Karl Ritter and attended by representatives of the armed forces, the economics ministry, the Four-Year-Plan office and the Reichsbank. Carl Clodius summarised post-war plans for the European economy a few days later, referring to a greater German economic sphere, the creation of a German colonial empire in Africa, and – at this stage necessarily – closer trade relations with Russia. Two days later Karl Ritter produced a provisional schema for the establishment of a greater economic area („Großraum“) with a strong central European core comprising Greater Germany, the Protectorate and Poland, with Denmark, Norway and the Low Countries economically integrated. Beyond this the Danube basin was already economically dependent on Germany, and possibilities were sketched for drawing in countries further afield in Scandinavia and the Baltic. This would create an economic bloc with some 200 million inhabitants, with the further possibility of a colonial empire in Africa assembled from former Belgian, French and British colonies. It was rapidly to become clear that for many foodstuffs and raw materials even the inclusion of European Russia in a notional „Großraum“ would not cover European shortages without imports from north Africa.12 The conference was followed by a stream of 10 Horst Kahrs, Von der „Großraumwirtschaft“ zur „Neuen Ordnung“. Zur strategischen Orientierung der deutschen Eliten 1932–1943, in: Horst Kahrs/Götz Aly (Hg.), Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum, Berlin, 1992; Werner Daitz, Zum Umbau der Volks- und Weltwirtschaft, in: Das freie Wort 16 Jg., Nr 15/16, November 1917. Reprinted in: Das neue Europa. Schriftenreihe der Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft e. V. Berlin, Dresden 1941; Carl Freytag, Deutschlands “Drang nach Südosten”. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der “Ergänzungsraum Südosteuropa” 1931–1945, Wien 2012. 11 Opitz, Europastrategien, 656–662. 12 Alan Milward, The New Order and French Economy, Oxford 1984, 23–28.
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plans and proposals from ministries and other agencies, including one from Daitz, proposing a Reich Commission for „Großraumwirtschaft“.13 Finally, on 25th July, Walther Funk addressed journalists on the subject of the new economic order, proposing an economic community of European nations based on collaboration in all areas of economic policy, including production, trade, currency and credit. This „economic solidarity“ among European nations would enable the continent as a whole to deal more effectively in negotiations with other trading blocs. Such a united Europe would be able to prevent extra-European powers, including Britain, from dictating political or economic terms. With the economic weight of the whole continent Europeans would deal as equals with their trading partners. A stabilised German Reichsmark would provide the basis for a clearing system and eventually an effective currency union, founded on an internal „division of labour“ within Europe and a „levelling of living standards“. The speech was reported in the press the next day under excitable headlines like „The future of our continent: Europe to become a single economic area. Independence from overseas powers“ 14. Two weeks later Funk wrote to Göring setting out the economic priorities for the new Europe, including the maximisation of European production to meet German needs according to the principles of self-sufficiency embodied in the Four-Year-Plan. Göring responded, agreeing with Funk’s analysis, and underlining the need to affect as full an integration as possible of the German economy with those of Norway, Denmark and the Low Countries.15 Such plans necessarily implied a comprehensive rethinking of international relations. Even before the war works by Hans Keller and Carl Schmitt called into question the notion of the integrity of the sovereign state as „ungermanic“.16 In this perspective the „mechanistic“ state is a thing of the past, and international law can only be based on relationships between peoples („Völker“), enabling the development of racial communities that transcend the boundaries of nation states, and within which a natural hierarchy exists that permits a „division of labour“ (such as existed in the Nazis’ economic plans for the continent) euphemistically referred to as „organic 13 Documents on German Foreign Policy, Doc 354, memorandum by the Deputy Director of the Economic Policy Department, 476-482; Doc. 367, Memorandum by Ambassador Ritter, 496-501. 14 Walther Funk, Die wirtschaftliche Neuordnung Europas, Berlin 1940; see also Volks-Zeitung (Wien), 26.7.1940. 15 Funk to Göring, 6. August 1940; Göring to Funk, 17. August 1940, as cited by: Opitz, Europastrategien, 755–758. 16 Hans K.E.L. Keller, Der Kampf um die Völkerordnung, Berlin, 1939; Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, Berlin 1939; Georg Hahn, Grundfragen Europäischer Ordnung, Berlin 1939; see also Elvert, Mitteleuropa, 295–307.
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division“ or „natural diversity“.17 Thus, on 3rd April 1941, days before the German invasion of Yugoslavia, Wilhelm Stuckart, state secretary in the interior ministry addressed the founding conference in Berlin of the International Chamber of Law with his thoughts on „administrative co-operation and the re-ordering of continents“. The British Empire, he said, was a „mechanistic“ bundle of territories without a natural organic centre, and would be superseded by a new order created by all those peoples bound together in a European community of fate.18 The „Großraum“ was intended to be a geopolitical space in which the leading nation („Führungsvolk“) had responsibilities as an organising power („Ordnungsmacht“) among a family of nations („Völkerfamilie“).19 Thus united the continent faced a „battle of destiny“ with a „power massed against Europe [which] […] could have become a second Mongol invasion by a new Genghiz Khan“, as Hitler put it after the invasion of the Soviet Union.20 As the rethinking of Europe developed the war was cast as a war of liberation from the powers alien to the region (Jewish plutocracy and Jewish Bolshevism), and a preparation for Europe’s eventual self-determination.21 Frequently the construction of the new order was presented as a return to the continent’s natural path, and a long historical introduction was provided as a preface to reflections on the present struggle; and – with variations – this historical context came to constitute a part of the ideological training of the SS, in which the Waffen-SS and its recruits from Scandinavia, the Low Countries and the Baltic, was presented as the advance guard of the new Europe.22
17 Stirk, Conceptions, 131–136. 18 Wilhelm Stuckart, Die Neuordnung der Kontinente und die Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Verwaltung, in: Reich Volksordnung Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung, Bd. I/1 1941, 1–28. 19 Toynbee/Toynbee, Hitler’s Europe, 52f. 20 Max Domarus (ed.), Hitler. Speeches and Proclamations 1932–1945. Vol. 4. Wauconda Il. 2486– 2496, here 2491. 21 Theodor Seibert, Vereint im Untergang, in: Das Neue Europa. Kampfschrift gegen das englischamerikanische Welt- und Geschichtsbild, Nr. I/1, 2f; see also Adolf Ratnieks, Was bringt die Neuordnung Europas den europäischen Völkern?, Dresden 1942. 22 For example Werner Daitz, Wiedergeburt Europas durch europäischen Sozialismus. Europa-Charta, Amsterdam 1944; Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei, accessible under http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/SSHALpl.pdf, 13.2.2013, 14:31, Mozilla Firefox.
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Reception outside of Germany
Apart from providing conscripts, however, the rights of small nations to engage in relationships were to be restricted in accordance with the internal hierarchy of the „Großraum“. Tensions were bound to arise as even fascist leaders in small nations within the orbit of the „Reich“ aspired to a measure of independent nationhood, and even to the acquisition of new territory or the attainment of a privileged place within the new order. Italy, of course, pursued its own new order, and Italian intellectuals discussed the country’s right to „living space“ (in Italian „spazio vitale“) no less than their counterparts in the Reich; and like them they interpreted the war as a war to liberate Europe from the plutocracies and institute a post-liberal economic order.23 The Netherlands occupied an ambiguous position in Nazi thinking about the New Europe: it was clear from the summer of 1940 that a close economic relationship was planned, but whether the Dutch could be seen as so „racially“ close to the Germans as to constitute a population of errant „Volksdeutsche“ and integrated into a greater Germanic Reich, as Himmler imagined, was a different matter. The leader of the Dutch „Nationaal-Socialistische Beweging“ (NSB), Anton Mussert, foresaw a role for the Netherlands as the western outpost of a fascist Europe, working within a „panGermanic“ community, but not as part of the Reich. Mussert envisaged a Europe of racially homogeneous communities, and was in favour of ‘resettlement actions’ to achieve this end. Thus the living space of the „Greater Netherlands“ (which included Flanders),would be „cleansed“ of Jews and Walloons. He never managed to persuade Hitler to appoint him Prime Minister, but did gain assurances that Himmler’s annexationist impulses would be held in check.24 Belgium posed a more problematic challenge, both to Nazi racial theorists of a greater Germanic Reich and to ambitious local fascists. The country was placed under military administration, Eupen and Malmédy were „reintegrated“ into the Reich. Luxembourg was placed under a German civil administration (analogous to that of similar irredenta along the borders of the Reich, such as Lower Styria, Carniola and Alsace-Lorraine). While racial ideologues saw the Flemings as a racial outpost of Germandom, rather like the Dutch, the military administration thought more pragmatically of Belgium as a whole as part of a greater „lower German“ living space and was opposed to partition. Despite an early proposal, which foresaw a gradual Germanisation of Wallonia (over the course of a 23 Davide Rodogno, Fascism’s European Empire. Italian Occupation during the Second World War, Cambridge 2006, 44–57. 24 Robert Grunert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945, Paderborn 2012, 97–162, here 96f.; Werner Warmbrunn, The Dutch under German Occupation 1940–1945, Stanford 1963, 94–96.
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century) and autonomy for Flanders, there were no real plans to break up Belgium or annex Flanders to the Netherlands. More radical plans were also developed for a Germanic bulwark across northern France, Belgium and Holland; and the SS promoted the idea of a model Gau based on the medieval Burgundy.25 If parts of France were assumed to be ‘racially’ germanic, however, the country as a whole was clearly not intended for Germanisation or absorption into a Greater German Reich. Werner Best worked out a comprehensive plan for a new territorial order in Western Europe during his time in the military administration of Paris in 1941. His plans had little resonance outside a small circle, however, and increasingly attention turned to the new order in the east, where far more radical plans were being formulated. Moreover, Hitler had indicated in the autumn of 1940 that he expected France to take up her proper position in the new Europe, not least because he hoped to bring France into the war against Britain – and that in turn meant resisting pressure from Spain or Italy for territorial concessions from France in Africa: France was to keep her colonies and defend them against the British. French collaborators saw the opportunity of working with the Germans in the hope of retaining the overseas empire and making France the second power in a fascist Europe.26 Whatever hopes the local fascist leaders of Germany’s defeated neighbours might have had of a new order in which their own ambitions might be realised were very quickly dashed. Germany’s economic policy in occupied Western Europe amounted wherever possible to little more than plunder, and by 1942 the objective was the fullest possible exploitation of the economic resources of the occupied territories for military purposes. In April 1943, Vidkun Quisling, leader of Norway’s „Nasjonal Samling“, and the archetypal collaborator, denounced Germany’s European policy to members of the German occupation administration in Oslo, calling it an „organised betrayal of the future of the Norwegian people“ with little interest in preserving the independence of Europe’s small nations.27
British positions towards Germany
In London the prospect of a Nazi new order in Europe was greeted with competing voices. The British government had excluded the possibility of a compromise 25 Viscount Chilston, Belgium, in: Toynbee/Tonybee (eds.), Hitler’s Europe, 476–494, here 483–485; Grunert, Europagedanke, 73f. and 161f. 26 Alfred Cobban, Vichy France, in: Toynbee/Toynbee (eds), Hitler’s Europe, 338–434, here 365f.; Domarus, Hitler, 2104f; Grunert, Europagedanke, 79f. and 225–286. 27 Elvert, Mitteleuropa!, 309f.
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peace, despite pressure from politicians as disparate as David Lloyd George and the backbenchers in the „Parliamentary Peace Aims Group“. If Britain was to continue the war alone, however, there would need to be some discussion of what alternative vision of a post-war Europe was on offer; and it was very clear from the outset that a restoration of the status quo ante would not do. There was immediate recognition from a number of quarters that there would be a need for some economic co-operation in Europe, although this was generally envisaged as a very loose and pragmatic set of institutions addressing concrete economic or security issues rather than a constitutional framework.28 It was termed „planned freedom“, a theme taken up by the historian Edward H. Carr, then a civil servant and head of the military’s foreign division. His draft briefing on a post-war settlement concluded with thoughts on what „liberty, equality and fraternity“ might mean in a post-war context, but like most contributors to this debate, he suggested that relief was the top priority, followed by reconstruction and planning; and in a handwritten addendum he added „I am sure ‚bread‘ is more important than ‚freedom‘: people are tired of ideas“.29 Similarly, the trades union leader Ernest Bevin expressed his concern to Lord Halifax about „the kind of economic prospect we might be able to hold out to the masses of Europe, and indeed to our own people here“. Bevin was exercised by the social promises that Hitler was making to the peoples of Europe, and convinced that talk of „nationalism, liberty and independence“ was not sufficient, and sounded „almost Gladstonian“ in relation to the modern pace of events.30 Bevin’s views reflected those of many other ministers, according to Halifax, and the same point was taken up by the Committee on war aims, which argued that Hitler was appealing to the „masses in Europe“ and arguing that ‘security and a measure of equality have been realised in Germany already, and that he will be able to extend these benefits throughout Europe.’31 There was a gradual acceptance that liberalism, and above all economic liberalism was perceived by many Europeans to have failed. As the Australian high commissioner in London put it: „We state that we fight for freedom, but Europe has had freedom, and this has not prevented all the disaster of the last 25 years“32. German propaganda was depicting the „plutocrats“ of the western democracies as the architects of that failure while the Nazis were talking in terms of egalitarianism and economic stability, a message that was finding a resonance in public opinion in many continental capitals. Whitehall’s „anti-lie bureau“, in collaboration with the Min28 29 30 31 32
TNA, INF 1/862, Post-War Reconstruction Group, 12.7.1940. TNA, FO 800/274. TNA, INF 1/862, Halifax to Duff Cooper, 29.7.1940. TNA, INF, 1/863, Committee on war Aims, Proposed Terms of Reference, August/September 1940. TNA, CAB 87/90.
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istry of Economic Warfare set about compiling a dossier of German contradictory propaganda statements as ammunition with which British public figures could refute Nazi claims; and a particular point was made of juxtaposing claims of peaceful and constructive intentions made in broadcasts to neutral countries with the promises of glory and conquest made to audiences in Germany. Thus in a broadcast to Yugoslavia on 27th October it was claimed that „the Axis only wishes to build a new European order in which all nations can work in peace and in justice“33, while a broadcast in Hamburg a week later affirmed that „German people have not started war for the benefit of Europe. They had no intention of sacrificing themselves on the altar of a theoretical reconstruction of their continent.“34 There was increasing evidence that German propaganda was having an effect. By the autumn of 1940 the British embassy in Switzerland was reporting that neutral countries were increasingly apprehensive about Britain’s silence on war aims. The emphatic message of German propaganda to businessmen on the continent, the embassy reported, was that unless Germany won the war the European economy would be wrecked. There were reports of lavish entertainment for Swiss industrialists at the German mission in Zurich, in an attempt to get them to sign up to the new order and move their operations to Berlin. While there was little sympathy for the Nazis among European policy makers and businessmen, and the plans for a new order were perceived sceptically as little more than a means of Germany avoiding payments to occupied countries, there was nevertheless little confidence in Britain’s willingness to take a lead in Europe. The fear was that if Germany would be defeated there would be economic chaos, aggravated in Eastern Europe by the likely interference of the Soviet Union. Europeans acknowledged Britain’s commitment to the restoration of national sovereignty, but the Germans seemed to many to be offering greater social security for individuals and their businesses, and that mattered more. Thomas McKittrick, the American president of the Bank for International Settlement, commented that all the most sane and responsible elements in Switzerland, as elsewhere, were „apprehensive that in the event of a German defeat London will become the economic capital of Europe but will fail to assume responsibility.“35 Above all the neutrals feared – as Halifax put it – that the „specious promises of an economic and financial paradise under the aegis of Germany put about by Nazi propagandist“ were attracting an ever wider following, and that this would continue until the British government came up with an alternative. It was necessary to publish „an authoritative statement “and 33 Ebd. 34 TNA, INF 1/871, Germany’s “New Order”. 35 TNA, INF, 1/871, Telegrams from British Embassy in Berne, 26.9.–6.11.1940.
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he suggested that John Maynard Keynes was the man for the job. After all, as Oliver Lyttleton remarked a couple of days later, Keynes had written about the economic consequences of one peace, why should he recoil from writing another such treatise?36 Keynes was initially cautious about quite how German propaganda should be rebutted, and sceptical of any response in which Britain was proposing a response to the status quo „by offering good old 1920-21 or 1930-1933, i.e. gold standard or international exchange laissez faire aggravated by heavy tariffs, unemployment etc.“37. When the first draft of his statement was circulated, it was prefaced with a number of assumptions about British policy, not least the expectation of a commitment to the provision of the resources for post-war reconstruction. His immediate concern was that the same mistakes should not be made as after the First World War, and that there would not be an attempt to force a political settlement by starving Germany. The continent would emerge from the war starving and depleted of food and natural resources. There was no real attempt to engage with the Nazi propaganda claim that Europe would become a self-sufficient „Großraum“ under German leadership. Quite the reverse: they were convinced that German occupation would ruin the European economy, and that the continent would face a situation similar to the famine that followed the Russian revolution. Without raw materials or the gold to buy them with there would be no work for millions of demobilised soldiers after the war. Moreover, the depletion of fertilisers, farming implements and livestock would leave European agriculture in an equally ruinous state. Without command of any resources outside Europe the German currency scheme for the continent – dismissively termed the Funk-mark – would be unable to provide a stable currency for the post-war world. On the other hand there could be no return to pre-war arrangements either, when economies had been wrecked for want of gold rather than lack of goods to sell. It had to be acknowledged that the laissez-faire approach to foreign exchange before the war had created chaos, and the Bank of England did need to take heed of German measures and develop a controlled system of exchange. Beyond this it seemed to Keynes that the new order had little to offer. The only concrete idea seemed to be a plan to concentrate industrial production in Germany and reduce the rest of the continent to the status of colonies supplying food and such other products as suited the German economy. „It would be a surprising triumph for propaganda“, Keynes concluded, „to make an up-to-date version of imperialist exploitation verging on slavery seem attractive 36 TNA, FO 371/28899/W 587. Halifax to Kingsley Wood, 19.11.1940; Ebd., INF 1/871, Oliver Lyttleton to Halifax, 21.11.1940. 37 TNA INF 1/871 Keynes to Harold Nicolson, 20.11.1940.
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to the victims.“38 Production of food, clothing and other essentials would take years to recover from war-time levels, rationing would continue, and the needs of other countries would be subordinated to those of the Reich. How could „social security“ survive in such an environment? The British alternative must offer an economic system based on sovereignty and equality, and that also meant Germany itself must be included in plans for reconstruction, a conclusion prompted as much by common sense as by altruism. Without German economic leadership in central Europe, the reconstruction of the continent as a whole could not be achieved – „unless it is our intention to hand over the job to Russia.“39 The Cambridge economist Charles Guillebaud was in broad agreement with this perspective. In a lecture to the Royal Institute of International Affairs he had located Funk’s proposed clearing system in the broader context of earlier schemes for European economic integration (notably that of the early nineteenth century economic nationalist Friedrich List). While he agreed that Funk’s new order should be rejected, this was not because he thought it was inherently flawed, but because it was based on German domination, which ‘would be unendurable.’40 Like Keynes, however, Guillebaud thought that Germany would nevertheless be the natural leader in the post-war economic reconstruction of Europe, arguing that Britain would not organise the post-war economy in Europe because it had commitments elsewhere (the Empire) and for lack of experience in specifically European problems: Britain had no peasants.41 Others dissented vociferously from this point of view. Guillebaud’s position was explicitly attacked the following year by the Hungarian born financial journalist Paul Einzig, who had already published a short book in 1938 warning of German economic penetration in the Balkans.42 While he conceded that what the Nazis were offering seemed superficially attractive to countries whose economies had been wrecked in the previous decade, Einzig objected above all to the way in which „apologists“ for the new order as he saw them, ignored or dismissed the known facts about the brutality of the Nazi occupation of Europe. He also thought they had misunderstood 38 TNA, FO 371/28899/W 426. 39 Ebd. 40 Claude W. Guillebaud, Hitler’s New Economic Order for Europe, in: Economic Journal, Vol. 50, No. 200 (December 1940), 440–460, here 458. The lecture was delivered in September. See also Tribe, Strategies, 241f. 41 The BBC overseas service tried to engage with this problem and put on talks to peasants in enemy occupied countries. See TNA, INF 1/160. 42 Paul Einzig, Bloodless Invasion. German Economic Penetration into the Danubian States and the Balkans, London 1938.
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the way „managed“ economies worked if they assumed that Germany could rely on exports to Europe (and therefore allow tolerable living standards among trading partners) in order to maintain full employment and prosperity and stimulate economic growth at home and abroad. For Einzig there was little to distinguish between the present exploitation of occupied Europe and the proposed post-war order. Funk’s clearing system, he argued, was designed to stifle natural economic development in Germany’s satellite states. The essential point of difference, however, was the tension between the liberal and national perspectives on the economy: „The projected division of labour“, he argued, „[...] has nothing in common with [...] the ideal of the liberal school of economists. The countries controlled by Germany would not be given a chance to produce the goods which they can produce at the lowest cost and in the best quality, unless this happened to be in accordance with German interests“43. Einzig expanded on these points in a series of publications aimed at a wider public (and his books did sell); and he continued to take part in the debate on the post-war order being planned by the Allies.44 His clashes with appeasers got him involved in a libel case, and he did admit, particularly after the end of the war, that he had been prone to exaggerate his arguments. From 1942 in particular his argument with the „new order apologists“ receded to the extent that direct British (and Allied) responses to German plans were superseded by planning for the post-war institutions of the Bretton-Woods era. The arguments had a post-war after-life, however, in the debate about British membership in the European Economic Community (EEC) or „Common Market“. Einzig was a convinced anti-Marketeer during the negotiations for British entry in the early 1970s. He dismissed lofty comparisons of the EEC with the Carolingian empire, Hanseatic League, or aspirations of Napoleon, and argued quite explicitly that owed its origins, consciously or otherwise. „to the short-lived practical experience in such integration between 1940 and 1944.“45 The thrust of Einzig’s argument was that, leaving aside the differences between wartime coercion and peace-time co-operation, there was an essential continuity in plans for the European economy that belied the apparent rupture of year zero, and that the aim was to move from a liberal to a „managed“ economic system. On one level, that of the practicalities of occupation and arms production for the war effort, German exploitation of the continent’s resources had been unplanned, unsystematic and brutal. The impression of an emergent „new European disorder“ 43 Paul Einzig, Hitler’s “New Order” in Theory and Practice, in: Economic Journal, Vol. 51, No. 201 (April 1941), 1–18. 44 For example, Paul Einzig, Hitler’s New Order in Europe, London 1941; idem, Can we win the Peace?, London 1942; idem, Freedom from Want, London 1944. 45 Paul Einzig, The Case against joining the Common Market, London 1971, 1.
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Tim Kirk
was reinforced by the impatient rhetoric of Nazi leaders and talk about racially pure utopias in a feudal system re-invented for an authoritarian modernity. On another level German policy makers and businessmen elaborated plans for what they hoped would be the stable long-term economic future of the continent, and these plans were based on a long-standing argument with the prevailing economic orthodoxy.46 Many of Germany’s collaborators in the occupied territories recognised that there was such an argument to be had, and that at least in part German plans were a response to the real economic problems they had themselves experienced during the inter-war period. This change of perspective was also recognised in some of the British responses to German plans; and it was acknowledged in the very different approach to post-war reconstruction and international co-operation during and after World War II, not only by the Allies, but also by Europeans planning economic integration in the first decades after the war and by German planners and politicians constructing the Federal Republic’s „social market economy“.47
46 Richard J. Overy, The Economy of the German New Order, in: Richard J. Overy et al (eds.), Die Neuordnung Europas. NS-Wirtschaftspolitik in den besetzten Gebieten, Berlin, 1997; Hein Lemann/Sergei Kudryashov, Occupied Economies. An economic History of Nazi-occupied Europe 1939–1945, London, 2012. 47 Tribe, Strategies, 203–240.
Kurt Bauer
1945: Kontinuität trotz Bruch in lebensgeschichtlichen Erzählungen von zwölf Nationalsozialisten
Vorbemerkungen
Tag für Tag, Nacht für Nacht Bombenalarm, Hektik, Angst, Panik, Zusammenbruch der Versorgung und Infrastruktur, Hunger, Mangel an allem und jedem, Unsicherheit, überwältigende Zukunftssorgen, Verlust von nahen Verwandten (Ehemännern, Vätern, Söhnen, Brüdern) im Krieg, Bedrohung durch das um seine Existenz ringende NS-Regime, peinigende Angst vor der Rache der Sieger, heranrückende Fronten, Ungewissheit über das eigene und das Schicksal des Landes, Feuergefechte, Kampfhandlungen, Übergriffe, Vergewaltigungen, Verschleppungen, Flucht und Vertreibung, Plünderungen, Kriminalität – solche und ähnliche Erfahrungen mussten Millionen Menschen im Jahr 1945 machen. Niemand, der das Erlebte und Erlittene je vergessen hätte. Kein Wunder, dass bei vielen irgendwann in ihrem Leben – oft etwa nach dem Eintritt in den Ruhestand – das Bedürfnis wach wurde, das Erlebte „aufzuarbeiten“, Bilanz zu ziehen, die persönlichen Erinnerungen schriftlich festzuhalten: für die „Nachwelt“, die Angehörigen und nicht zuletzt zur Selbstvergewisserung. Tatsächlich nimmt die Zeit des Nationalsozialismus (1938 bis 1945) in lebensgeschichtlichen, autobiografischen Aufzeichnungen, Tagebüchern und sonstigen Ego-Dokumenten von Österreicherinnen und Österreichern, die in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts geboren sind, breiten Raum ein. Und innerhalb dieses Zeitraums dominiert wieder das Ende des Zweiten Weltkrieges, das Jahr 1945. Derartige Materialien können – ähnlich wie durch Oral History entstandene Texte – eine bedeutende mentalitätsgeschichtliche Quelle darstellen. Der vorliegende Beitrag basiert auf der Analyse von zwölf lebensgeschichtlichen Erzählungen ehemaliger Nationalsozialisten der Geburtsjahrgänge 1912 bis 1920.1 1
Ursprünglich wurden die lebensgeschichtlichen Erzählungen für meine Dissertation über sozialgeschichtliche Aspekte des Juliputsches 1934 ausgewählt und analysiert. Für die Zwecke des vorliegenden Beitrages wurde die Analyse auf das Jahr 1945 ausgedehnt und um drei Erzählungen erweitert: Kurt Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches 1934, Phil. Diss. Wien 2001. Stark überarbeitet im Druck erschienen: Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003.
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Kurt Bauer
Das verwendete Material stammt – mit zwei Ausnahmen – aus der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, einem von Michael Mitterauer 1983 gegründeten Verein, beheimatet am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.2 Die ausgewählte Gruppe ist keineswegs repräsentativ im Sinne von quantifizierenden Untersuchungen, aber sie steht exemplarisch für jene Generation von jungen Österreichern,3 die in den 1930er und 1940er Jahren in den Sog der Nazi-Ideologie gerieten.4 Bei der Analyse von Werken der popularen Autobiografik ist auf das Spannungsverhältnis von erlebter und erzählter Geschichte hinzuweisen.5 Erinnerungen von Menschen an Ereignisse, die Jahrzehnte zuvor geschehen sind, weisen in der Regel beträchtliche Mängel, Lücken und Irrtümer auf. Dazu kommt, dass sich die persönliche und gesellschaftliche Sicht auf bestimmte Ereignisse im Laufe von Jahrzehnten stark verändern kann. Das Erlebte hat zum Zeitpunkt des Geschehens keine Repräsentation. Es geschieht. Geformt, in eine bestimmte Form gegossen, wird es erst im Akt des Erzählens. Und es formt sich mit jedem Wieder-Erzählen um. Gegenwärtige Erfahrungen, gesellschaftliche Diskurse, medial vermittelte Inhalte fließen darin ein. Die ausgewählten Texte wurden mithilfe der von Reinhard Sieder entwickelten „Sequentiellen Textanalyse“ bearbeitet.6 Sieders Konzept knüpft im Wesentlichen an dem von Wolfram Fischer-Rosenthal und Gabriele Rosenthal beschriebenen methodischen Vorgehen bei der „biographischen Fallrekonstruktion“ an.7 2
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Vgl. Günter Müller, „Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir …“. Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Wien, in: Historische Anthropologie, 5. Jg./Heft 2/1997, 302–318. Günter Müller, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Peter Eigner u. a. (Hg.), Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Quellen und Materialien für den Unterricht, Wien 2006, 140–146. Auf eine geschlechtsneutrale Formulierung wird in diesem Beitrag bewusst verzichtet, weil im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung ausschließlich von Männern verfasste Texte analysiert wurden. Vgl. Christian Lüders/Michael Meuser, Deutungsmusteranalyse, in: Ronald Hitzler u. a. (Hg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997, 57–79, hier 72. Vgl. Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt am Main/New York 1995. Reinhard Sieder, Geschichten erzählen und Wissenschaft treiben. Interviewtexte zum Arbeiteralltag. Erkenntnistheoretische Grundlagen, Quellenkritik, Interpretationsverfahren und Darstellungsprobleme, in: Gerhard Botz/Josef Weidenholzer (Hg.): Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen, Wien/Köln 1984, 203–231. Wolfram Fischer-Rosenthal/Gabriele Rosenthal, Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation, in: Hitzler, Hermeneutik, 133–164, insbesondere 147–156.
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Das Hauptaugenmerk der Analyse lag auf der Identifizierung von „sozialen Deutungsmustern“, die sich auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beziehen. Nach Christian Lüders und Michael Meuser handelt es sich dabei nicht um subjektive Deutungen, sondern um kollektive Sinngehalte von normativer Geltungskraft. Diese Geltungskraft bezieht sich entweder auf einzelne soziale Gruppen oder die Gesellschaft im Gesamten. Deutungsmuster sind nur bedingt reflexiv verfügbar. Das heißt, obwohl wir im Alltagsdiskurs beständig darauf zurückgreifen, ist uns nicht bewusst, dass es sich um kollektiv reproduzierte Muster handelt.8
1945: Kontinuität trotz Bruch
Das Kriegsende stellte für alle analysierten lebensgeschichtlichen Autoren einen markanten Bruch dar: der Zusammenbruch der Fronten, dramatische Flucht, Gefangenschaft etc. Dazu kam, nach der Heimkehr, der Verlust der nach dem „Anschluss“ erworbenen beruflichen und gesellschaftlichen Position – der „völlige Absturz“, wie einer der Autoren schreibt. Man fühlte sich als Aussätziger, als zu Unrecht Ausgestoßener, als Rechtloser, als Verfemter, als Verfolgter. Kurzum, als unschuldiges Opfer. – Sehen wir uns nachfolgend einige Beispiele aus dem Sample näher an. Ernst Regerl9 stammte aus der Oststeiermark und war das ledige Kind einer Bauernmagd. Er schaffte schon in den 1930er Jahren einen erstaunlichen Aufstieg zum gut verdienenden Versicherungsagenten. Nach dem „Anschluss“ trat er der NSDAP bei. Man muss ihn wohl als klassischen „Märzgefallenen“ bezeichnen.10 Im selben Jahr 1938 nahm er am Nürnberger Reichsparteitag teil, ein Erlebnis, das er ausführlich im Nazijargon beschreibt. Schließlich erhielt er einen lukrativen Posten als Finanzbeamter, was er als „gesellschaftlichen Aufstieg, aber finanziellen Abstieg“ kommentiert. Zugleich engagierte er sich in der NS-Ortsgruppe. Aber bald wurde er eingezogen und nahm am Weltkrieg teil. Ende 1945 kehrte Ernst Regerl aus der US-Kriegsgefangenschaft zurück. Die österreichische Finanzverwaltung lehnte eine Übernahme wegen seiner NSDAP-Mit8 9
Lüders/Meuser, Deutungsmusteranalyse, 57–79. Der Name ist ein Pseudonym. Geboren 1913, St. Johann bei Herberstein, Steiermark. Entstehung des Textes: 1990. 10 In Anspielung auf die Märzgefallenen von 1848 gewählte Spottbezeichnung für Opportunisten, die sich bis 1938 nicht nationalsozialistisch betätigt hatten, aber sofort nach dem „Anschluss“ um Aufnahme in die NSDAP ansuchten. Sie versprachen sich dadurch berufliche und sonstige Vorteile. Im Deutschen Reich wurde die Bezeichnung bereits 1933 verwendet. Wolfgang Benz u. a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 5. Aufl., München 2007, 635.
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gliedschaft ab. Nun durchlebte er einige schwierige Monate. Zeitweise musste er untertauchen, weil er befürchtete, verhaftet zu werden. Trotzdem gelang ihm bald der Berufseinstieg als Gebietsinspektor in seiner alten Branche, dem Versicherungswesen. Und er verdiente für damalige Begriffe überdurchschnittlich gut – trotz der auferlegten Sühneleistung. Resümierend fragt er sich, ob es ein Fehler war, der NSDAP beizutreten. Und er erinnert sich, dass er seiner Mutter einst ein leider nicht erfülltes Versprechen gegeben hatte – nämlich, sich aus der Politik herauszuhalten. Regerls Schluss: „Die für mich daraus gezogene Lehre, keiner politischen Partei [mehr] beizutreten, diesem Grundsatz bin ich bis heute treu geblieben.“ Hans Hofer11 wurde 1905 im niederösterreichischen Triestingtal geboren. Er stammte aus ärmlichen sozialen Verhältnissen und erlernte den Beruf eines Elektrikers. Seine Berufslaufbahn in den 1920er und vor allem den 1930er Jahren muss man als gebrochen bezeichnen. Immer wieder gab es lange Phasen der Arbeitslosigkeit, unterbrochen von kurzzeitigen, schlecht entlohnten Beschäftigungen. Hofer schloss sich der illegalen SA an und fungierte als Kurier. Nach dem „Anschluss“ gelang ihm ein beachtenswerter sozialer Aufstieg. Er wurde Ortsverwalter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und politischer Leiter der NSDAP. Beruflich sicherte er sich das begehrte Amt eines Standesbeamten in seiner Gemeinde. Den Krieg überstand er vorerst als Zollbeamter gut. Seine Stationierung in Frankreich bezeichnet er sogar als seine „schönste Zeit“. Ab Mitte 1944 war er als Elektriker in einer unterirdischen V2-Fabrik im Harz tätig. Ein „reines KZ“, wie er schreibt, ohne näher darauf einzugehen und weiter darüber zu reflektieren. Bei Kriegsende erlebte Hofer eine dramatische Flucht durch Deutschland und schließlich die Gefangennahme durch die Amerikaner. Ab Mitte September 1945 war er im Lager Glasenbach bei Salzburg12 interniert und wurde Anfang Jänner 1947 entlassen. 15 Monate verbrachte er hier im Kreis von anderen, mehr oder weniger bekannten Nationalsozialisten. Als ehemaliger Nazi gab es bei der Rückkehr in die Heimat neuerlich Probleme. Aber Hofer konnte der drohenden „Sühnearbeit“ entgehen, indem er in einem alpinen Schutzhaus untertauchte. 1948/49 schaffte er den Übergang ins normale Berufsleben. Ausführlich beschreibt Hofer seine Kriegszeit, seine Flucht sowie den Aufenthalt in Glasenbach. Er räsoniert so gut wie gar nicht über seine Nazi-Verwicklungen, 11 Der Name ist ein Pseudonym. Geboren 1905, Altenmarkt an der Triesting, Niederösterreich. Entstehung des Textes: 1974. 12 Von der US Army eingerichtetes Internierungslager für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Vgl. Oskar Dohle/Peter Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. „Glasenbach“ als Internierungslager nach 1945, Linz 2009.
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beschreibt sie nur in einigen dürren Sätzen und stellt sich selbst ansonsten als Opfer der Zeitläufte dar. Vorzuwerfen hatte er sich jedenfalls nichts. – Durchaus typisch für Texte, wie sie in den frühen 1970er Jahren entstanden. Anton Hadwiger13 war der Sohn eines deutschnational eingestellten Lehrer-Ehepaares aus dem Weinviertel. Später zog die Familie nach Wien. Er absolvierte erfolgreich ein Studium der Rechtswissenschaft, arbeitet aber nie in diesem Beruf. Hadwiger war einige Jahre lang Stabsleiter der illegalen Hitlerjugend (HJ) für Österreich.14 Mehr als ein Jahr war er deshalb in Haft. Nach dem „Anschluss“ arbeitet er in führender Funktion in seinem „Wunschbereich“ Kunst und Kultur, zuerst beim Radio, später beim „Deutschen Verlag für Jugend und Volk“. Hadwiger beschreibt ausführlich seine Kindheit und Jugend sowie die Betätigung als Illegaler. Seinen Einsatz im Krieg handelt er in einigen Nebensätzen ab. Erst die Zeit nach Kriegsende wird wieder thematisiert. Es war ihm gelungen, frühzeitig aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zu entwischen. Als Blutordensträger15 drohte ihm aber nach der Heimkehr automatisch eine lange Kerkerstrafe. (Aber keineswegs lebenslänglich, wie er schreibt.) Deshalb lebte er ab 1945 drei Jahre lang in seinem Elternhaus im Weinviertel als „U-Boot“. Sein Geld verdiente er heimlich als Vertreter eines Wiener Eisenhändlers. Im April 1948 wurde er aufgrund einer anonymen Anzeige verhaftet und ins Wiener Landesgericht eingeliefert. Es folgte ein Prozess mit Kurz-Haft und längerem Verlust des akademischen Titels. Schließlich gelang ihm wieder der Einstieg in ein seinem Bildungsgrad entsprechendes Berufsleben. Hadwiger will sich selbst, wie er sagt, in Bezug auf die Untaten des Nationalsozialismus „gequält“ haben. Konkret Erlebtes in diese Richtung – zum Beispiel die antijüdischen Ausschreitungen und Gewaltexzesse vom März 1938 – lässt er in seiner Erzählung allerdings unerwähnt. Auch über den Novemberpogrom 1938, den er in Wien miterlebt haben muss, verliert er kein Wort. Die Herausstreichung seiner eigenen Opferrolle ist ihm wichtiger. Von „Untaten“ (er meint die Konzentrationslager und die Judenvernichtung) habe er nicht das Geringste geahnt, schreibt er. Hadwiger sieht sich als Vertreter der Hitlerjugend, und er kann an dieser Organisation nichts Verwerfliches entdecken:
13 Geboren 1912, Auersthal, Niederösterreich. Bei der verwendeten Textvorlage handelt sich um eine Buchveröffentlichung: Anton Hadwiger, Was von der Liebe bleibt, Wien 1993. 14 Vgl. zur Tätigkeit Hadwigers in der illegalen HJ: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. HitlerJugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 431–437. 15 Höchstes Ehrenzeichen der NSDAP. Es wurde u. a. an Nationalsozialisten verliehen, die im Kampf für die Partei Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr verbüßt hatten. Benz, Enzyklopädie, 441f.
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„In der Hitlerjugend aller Ebenen waren wir mit der Jugend und ihrer Erziehung und Entwicklung befasst und nicht, oder fast nicht, mit den Umtrieben der Tagespolitik. Wir wollten verändern, ideologisch festigen, charakterlich aufbauen, für Leistung und Gemeinschaft bereit machen und uns nicht im Clinch des Parteigezänks, wofür wir die Politik hielten – ‚die Hände schmutzig machen‘.“ Die HJ war in seinen Augen die bessere NSDAP – eine idealistische Jugendorganisation fern jeder Politik. Und er resümiert: „Ich war mir aber keinerlei Schuld bewusst (…), weder einer moralischen noch einer strafrechtlich relevanten.“
Reinhard Spitzy,16 geboren in Graz, aufgewachsen in Wien, war großbürgerliche Herkunft, sein Vater ein berühmter Arzt und Universitätsprofessor. Über den pränazistischen Steirischen Heimatschutz geriet er zu den Nationalsozialisten, Ende 1931 trat er der NSDAP bei, Anfang 1932 der SS. Er konnte sich also mit Fug und Recht als „Alter Kämpfer“ bezeichnen. 1933 setzt er sich ins Deutsche Reich ab, ging im Auftrag der SS nach Rom und wurde hier in die Vorbereitung des Juliputsches 1934 verstrickt. Später studierte er in Paris. 1936 wurde er Sekretär des deutschen Botschafters in London und späteren Außenministers Joachim von Ribbentrop. Damit gewann er Kontakt zu den höchsten NS-Kreisen. Aber Spitzys Zweifel wuchsen, gerade in der nahen Betrachtung des nationalsozialistischen Machtgefüges. Er schloss sich dem konservativen Widerstand an (wenngleich er seine diesbezüglichen Aktivitäten wahrscheinlich übertreibt). Zu Kriegsbeginn war er im Kreis um Hans Oster und Hans von Dohnanyi tätig. Militärdienst und Fronteinsatz entging er. 1945, als der Krieg aus war, hielt er sich in Spanien auf. Weil er auf der alliierten Fahndungsliste stand, versteckte er sich nun jahrelang in Klöstern. 1948 ging er für ein Jahrzehnt nach Argentinien. In seinem viel verkauften Erinnerungsbuch „So haben wir das Reich verspielt“ betont er immer wieder mit Nachdruck sein Idealistentum. Und damit ist einer der Schlüsselbegriffe identifiziert, der das Selbstbildnis dieser Generation von Nationalsozialisten beschreibt: In erster Linie wollen sie ihr Engagement für den Nazismus als Idealismus verstanden wissen. So etwa schreibt Spitzy in einem Einleitungskapitel: „Das Schicksal meiner Heimat hat mich mein Leben lang stark bewegt. Ich habe mich für sie von früher Jugend an mit Idealismus eingesetzt. Dabei mag es Irrtümer und Irrungen gegeben haben.“ Aus Egoismus habe er jedenfalls nur selten in seinem Leben gehandelt. 16 Geboren 1912 in Graz. Spitzy veröffentlichte zwei Erinnerungsbücher, die große Verbreitung fanden, und zwar: Reinhard Spitzy, So haben wir das Reich verspielt. Bekenntnis eines Illegalen, München/Wien 1986; Reinhard Spitzy, So entkamen wir den Alliierten. Bekenntnisse eines „Ehemaligen“, München/Berlin 1989.
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Bruno Roberts17 stammte aus Wien. Sein Vater war im Druckereiwesen tätig. Auch der Sohn stieg in diese Branche ein. Das Familienmilieu könnte man als sozialdemokratisch und antikirchlich bezeichnen. Verglichen mit anderen ging der Familie Roberts gut. Wirkliche Not, wie Hunderttausende andere, lernte Bruno Roberts nie kennen. Trotzdem ist auch seine Berufslaufbahn als Jugendlicher und junger Erwachsener von starker Brüchigkeit gekennzeichnet. Immer wieder verlor er seine Arbeit, konnte nur kurzfristige Anstellungen und Aushilfetätigkeiten finden, bemüht sich erfolglos um eine dauerhafte, sichere Anstellung. Wie er, der als Kind sozialdemokratischer Eltern im „Roten Wien“ sozialisiert worden war, in den Dunstkreis des Nazismus geriet, geht nicht klar aus dem Text hervor. Ein Motorradklub und ein Turnverein scheinen eine wichtige Rolle gespielt zu haben. 1938, nach dem „Anschluss“, erlebte er seine beste Zeit. Er bekam einen lukrativen Posten beim Reichsarbeitsdienst (RAD), und zwar die Leitung der Bildstelle im Stab der Gauleitung. Das heißt, Roberts fotografierte und filmte die Auftritte von RAD-Führern, allen voran Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl und Arbeitsgauführer Victor Band. Als Mitglied des RAD-Gaustabes kam er unbeschadet durch den Krieg. Bei Kriegsende setzte sich die RAD-Führung rechtzeitig aus Wien ab und brachte sich in Sicherheit. Wie viele andere machte auch Roberts nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes eine schwierige und deprimierende Phase durch. Er hatte Schwierigkeiten, blieb aber vor Inhaftierungen und Strafen verschont und konnte sich schneller als viele andere wieder im Berufsleben etablieren. Sein Manuskript (in dem er über sich in der dritten Person schreibt) ist mit „Siebenmal am Start“ betitelt – geradezu exemplarisch für das Selbstverständnis seiner Generation. Es spiegelt sich darin die enorme Brüchigkeit der Lebensgeschichten von Menschen, die unmittelbar vor, während oder nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich geboren sind. In seinem Manuskript formuliert Roberts Sätze, die geradezu musterhaft für den Blick einer ganzen Generation junger Nazis auf den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und das Jahr 1945 stehen können. So etwa, wenn es um seine Entlassung aus dem RAD im April 1945 geht: „Jetzt erst, nachdem sie ihre Uniform endgültig abgelegt hatten, begriffen sie alle erst so richtig, dass sie auch ihren Beruf verloren hatten, dass es auch ein totaler persönlicher Zusammenbruch war. Nur noch ihr eigener Lebenswille und das reine Gewissen hielt sie jetzt aufrecht und verlieh ihnen die Kraft, dieses Ende zu überstehen und dem Kommenden zu trotzen.“ Schon 1944, noch fest in den RAD-Gaustab integriert, machte er sich Gedanken darüber, wie es nach dem zu erwartenden Zusammenbruch des NS-Regimes 17 Der Name ist ein selbstgewähltes Pseudonym. Geboren 1913 in Wien. Der Text dürfte zwischen 1988 und 1993 entstanden sein.
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weitergehen könnte. Er schreibt: „Beim Arbeitsdienst wurde für die Allgemeinheit gearbeitet, aber nie politische Propaganda betrieben. (…) Und Arbeit wird es nach dem Krieg mehr denn je geben. Warum also sollte er nicht bestehen bleiben?“ – Der Reichsarbeitsdienst als gemeinnützige, vor allem aber völlig unpolitische Organisation – ähnlich, wie es die Hitlerjugend im Bewusstsein von Anton Hadwiger war. Dieses angebliche Unpolitisch-Sein der NS-Institution, in die er integriert war, überträgt Roberts auf sich selbst. Folgendes will er über sich selbst und seinen Werdegang als Nationalsozialist mitteilen: Ich war immer und bleibe unpolitisch, letztlich unbefleckt von den Niederungen der Politik, mit denen ich nie etwas zu tun haben wollte.
Schlussfolgerungen
Folgende Sätze umreißen idealtypisch das Spektrum der auf das Jahr 1945 bezogenen Werturteile von ehemaligen Nationalsozialisten: −− Ich war immer ein Idealist („Idealismus“ als gebräuchlichster Code für weitgehendes NS-Engagement). −− Ich bin mir trotz allem immer treu geblieben (Kontinuitätsmotiv). −− Unrecht gab es auf beiden Seiten, aber die Sieger haben immer Recht. −− Ich hätte mir viel erspart, wenn ich dabei nicht mitgemacht hätte. Aber ich habe mir moralisch nichts vorzuwerfen. Ich bin ohne Schuld. −− Der Nationalsozialismus war eine gute Idee. In der praktischen Umsetzung gab es Probleme. Wir, die junge Generation, hätten das nach dem Krieg repariert. −− Ich selbst war an keinerlei „Untaten“ und „Gräuel“ beteiligt, und ich habe davon auch nicht das Geringste geahnt. −− Der Antisemitismus hatte nichts mit „Rasse“ zu tun, sondern war ausschließlich sozial bedingt. (Unausgesprochen: Die Juden waren an ihrer Verfolgung selbst schuld.) Zentral in allen ausgewerteten Erzählungen ist ein Deutungsmuster, das man als „soziale Argumentation“ bezeichnen könnte. Konkret bezieht es sich auf die Gründe, wieso man sich in den 1930er Jahren dem Nationalsozialismus anschloss. Aber es stecken darin in erster Linie die 1945 und in der Folgezeit gewonnenen Erfahrungen und darauf basierenden Wertungen. In seinen Grundzügen lässt sich dieses Deutungsmuster folgendermaßen formulieren: Die politische Zerstrittenheit der 1930er Jahre war Folge der wirtschaftlichen Not und der sozialen Ungerechtigkeit. Gegen die Zerrissenheit im eigenen Land
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wurde die Gemeinsamkeit aller Deutschen in einem sozial gerechten, mächtigen Reich gestellt („Volksgemeinschaft“). Die Validität dieser Werte wird im Nachhinein nicht hinterfragt. Als Ideal, wie er in der Zeit vor dem Krieg erlebt wurde, verwirft keiner der Autoren explizit den Nationalsozialismus. Verworfen wird nur der Kriegsund Vernichtungs-Nationalsozialismus, retrospektiv wird er vom positiv erlebten Volksgemeinschafts-Nationalsozialismus scharf getrennt. Besonders markant ist freilich die Attitüde des Unpolitischen. Dieses Motiv findet sich in mehr oder weniger starker Ausprägung in jeder der analysierten lebensgeschichtlichen Erzählungen. Es ist zweigeteilt: Erstens ist es die Lehre, die man aus dem missglückten Nazi-Experiment zieht. Nach 1945 hält man sich bewusst von jedem (partei-)politischen Engagement fern. Man ist ernüchtert. Zweitens behauptet man, ohnehin immer schon unpolitisch gewesen zu sein. Die Autoren sehen und definieren sich durchwegs als Opfer der Politik. Auch daher bestehen sie auf ihrem Unpolitisch-Sein. Letztlich war der Nationalsozialismus, so sehen es – explizit oder implizit – alle analysierten Autoren, ein Aufstand der Unpolitischen gegen die Politik selbst. Die Ablehnung der Politik im Allgemeinen, ja grundsätzliches Misstrauen gegen jede Politik ist eine so häufig vorkommende Argumentationsfigur, dass man durchaus von einem fest verankerten Deutungsmuster sprechen kann. Es ist diejenige „Lehre“, die am häufigsten aus dem missglückten Engagement für den Nationalsozialismus gezogen wird. Das Jahr 1945 ist durchwegs Dreh- und Angelpunkt in den selbsterzählten Leben ehemaliger Nationalsozialisten. Keiner, der sich in der retrospektiven Betrachtung nicht daran „abgearbeitet“ hätte. In diesem „Annus horribilis“ wurde alles, wozu sie es bereits gebracht hatten und wofür sie eingetreten waren, in Frage gestellt. Der Schluss, zu dem sie durchwegs kommen, ist eindeutig: Nicht der Nationalsozialismus als Idee wäre schlecht gewesen – im Gegenteil –, sondern in der Umsetzung habe es Unzulänglichkeiten, Irrtümer und Fehler gegeben, vielleicht sogar schuldhaftes Verhalten (Letzteres eine durchwegs offen gehaltene Frage, sofern sie überhaupt gestellt wird). Aber sie selbst als idealistische Nationalsozialisten hätten ohnehin nicht den geringsten Anteil an dieser Schuld, denn sie hätten immer nur das Beste gewollt und getan. Bei all den Auf-, Um- und Zusammenbrüchen seien sie sich selbst und ihren Idealen stets treu geblieben.
Dieter Bacher
Das Kriegsende 1945 als „Zäsur“ in der Biografie ziviler Zwangsarbeiter in Österreich
Als der Zweite Weltkrieg 1945 zu Ende ging, befanden sich etwas mehr als eine Million Personen auf dem Gebiet des heutigen Österreich, die vor Kriegsbeginn noch nicht in der Ostmark“ gewesen waren – sie waren im Laufe des Krieges als Zwangsarbeitskräfte aus allen von der Deutschen Wehrmacht besetzten Teilen Europas hierher verschleppt und zur Arbeit gezwungen worden. Mehr als die Hälfte von ihnen waren zur Arbeit hierher verbrachte Zivilisten, sogenannte zivile Zwangsarbeiter, die neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen für verschiedene Arbeiten eingesetzt wurden. Als der Krieg und mit ihm das NS-Regime sein Ende fand, bedeutete dies für die zivilen Zwangsarbeiter zuallererst einmal große Ungewissheit – viele von ihnen waren bereits seit Jahren in der „Ostmark“ gewesen, waren teilweise im Alter von 14, 15 Jahren von ihren Familien getrennt und hierher verbracht worden. Die wenigsten von ihnen hatten seitdem Kontakt mit ihren Familien gehabt, weshalb sie nicht wussten, wo diese nun lebten und wer ihrer Angehörigen noch am Leben war. Für sie stellte sich nun die große Frage, wie es mit ihnen weitergehen solle, die Bedingungen hatten sich für sie schlagartig geändert. Man kann also in ihrem Falle offenbar zweifellos von einer deutlichen Zäsur in ihren Biografien sprechen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Frage nicht so einfach zu beantworten ist – das Kriegsende selbst wird von nicht wenigen dennoch nicht als „klarer Bruch“ mit der Zeit vorher wahrgenommen, sondern erst die großen Veränderungen Monate, teilweise Jahre später memorieren viele von ihnen als „Zäsur“ zur Zeit davor. Um diesen Umstand etwas genauer zu betrachten, widmet sich dieser Beitrag auf Basis der Forschungen zum Aktenbestand des „Österreichischen Versöhnungsfonds“ (ÖVF) der Frage, inwiefern das Ende des Zweiten Weltkrieges im April/Mai 1945 von im heutigen Österreich eingesetztem zivilen Zwangsarbeitern als „Zäsur“ wahrgenommen wurde, und welche Faktoren hier ausschlaggebend waren.1 1
Die in diesem Beitrag dargestellten Ergebnisse basieren auf den Forschungen im Rahmen des vom Österreichischen Zukunftsfonds geförderten Forschungsprojektes „Zwangsarbeiter in Österreich 1939 bis 1945“, dessen Resultate in folgendem Sammelband publiziert wurden; Dieter Bacher/Stefan Karner (Hg.), Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Ein Zwischenbericht, Innsbruck/Wien/Bozen 2013.
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Dieter Bacher
Zivile Zwangsarbeiter in Österreich 1939 –1945
Insgesamt wurden nach heutigem Wissensstand zwischen 1939 und 1945 rund 580.000 zivile Zwangsarbeiter auf das Gebiet des heutigen Österreich verbracht, um hier zur Arbeit herangezogen zu werden. Der Einsatz dieser „Fremdarbeiter“, wie man sie im NS-Jargon bezeichnete, folgte wirtschaftlichen Erfordernissen – die Erweiterung der Produktionskapazitäten für die Rüstungs- und Kriegswirtschaft sowie die Einberufungen der Einheimischen zum Dienst in der „Deutschen Wehrmacht“ hatten diesen schon bald nach Kriegsbeginn im September 1939 erforderlich gemacht.2 Vorgesehen war er nicht gewesen – in der ersten Kriegsphase war man noch davon ausgegangen, dass die Einberufenen nach ihrem nur als „kurz“ eingeplanten Militäreinsatz nach Hause zurückkehren könnten, um wieder in der Kriegswirtschaft (an der „Heimatfront“) eingesetzt zu werden. Doch bald wurde klar, dass man hier einer groben Fehleinschätzung unterlag. Die Einberufungen zogen die einheimischen Arbeitskräfte zu lange ab, und zudem fielen die Verluste unter den Soldaten bei weitem höher aus als erwartet. Um das Wachstum der Wirtschaft dennoch wie geplant voranzutreiben, musste man sich um Ersatzkonzepte bemühen. Ein verstärkter Einsatz von Frauen als Arbeitskräfte in der Industrie kam für das NS-Regime einerseits aus ideologischen Gründen und andererseits aufgrund dessen, dass man befürchtete, ein solcher Einsatz würde großen Unmut in der Bevölkerung hervorrufen, nicht in Frage.3 Daher blieb die „Rekrutierung“ von Arbeitskräften in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten die einzige Option. In der Folge wurden daher etwas mehr als eine Million ausländische Arbeitskräfte in die „Ostmark“ verbracht, etwas mehr als die Hälfte Zivilisten. Sie kamen aus nahezu allen Teilen Europas. Auf dem Gebiet des heutigen Österreich waren zivile Zwangsarbeiter aus der heutigen Ukraine die größte Gruppe (rund 130.000), gefolgt von Zivilisten aus Italien (92.000), Polen (88.000) und dem ehemaligen Jugoslawien (83.000).4 2
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Florian Freund/Bertrand Perz, Zwangsarbeit von zivilen Ausländerinnen, Kriegsgefangenen, KZHäftlingen und ungarischen Juden in Österreich, in: Emmerich Talos u.a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, 644–688, hier 650–653; Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985, 49–51; Florian Freund/Bertrand Perz/Mark Spoerer, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 26, 1. Teilb., Wien/München 2004, 30–52. Herbert, Fremdarbeiter, 54. Freund/Perz/Spoerer, Zwangsarbeiter, 346; siehe auch Dieter Bacher, Zwangsarbeit in Österreich und die Arbeit des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Zur Einleitung, in: Bacher/Karner (Hg.),
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Für Österreich charakteristisch ist der im Vergleich zu Deutschland sehr hohe Anteil an Zwangsarbeitern aus den Nachbarländern, so machten speziell italienische und jugoslawische zivile Zwangsarbeiter hier einen im Vergleich zum „Altreich“ höheren Anteil aus.5 Im weiteren Verlauf des Krieges musste zusätzlich auf weitere „Arbeitskraft-Reservoire“ zurückgegriffen werden, deren Einsatz man zuerst ebenfalls nicht in Betracht gezogen hatte – Kriegsgefangene (ca. 300.000 von ihnen wurden zum Arbeitseinsatz herangezogen)6 und KZ-Häftlinge (ihr Einsatz erfolgte systematisch ab 1942, v. a. in der Rüstungsindustrie)7. Zwangsarbeiter wurden in nahezu allen Bereichen der Kriegswirtschaft eingesetzt. Land und Forstwirtschaft, Industrie und das Baugewerbe waren von Anfang an die Sektoren, in denen am meisten ausländische Zwangsarbeiter tätig waren, aber bald kamen auch Bereiche wie das Gewerbe, der öffentliche Dienst oder auch die Reichsbahn als wichtige Einsatzgebiete hinzu. Damit wuchs nicht nur ihre Anzahl, sondern auch ihr Anteil an den zivilen Beschäftigten in der „Ostmark“ insgesamt über den Zweiten Weltkrieg hinweg konstant an – während dieser im November 1943 bereits rund 23,1 Prozent betrug, stieg dieser bis September 1944 auf rund 25,3 Prozent, also bereits mehr als ein Viertel, an.8 Dies zeigt auch die Bedeutung, die diese Arbeitskräfte für die Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft hatten. Mit der „Befreiung“ der Zwangsarbeiter durch das Ende des NS-Regimes in Österreich 1945 begann für sie alle eine ungewisse Zukunft. Der Zwang zum Arbeitseinsatz, für den sie teilweise vor Jahren in die „Ostmark“ verbracht worden waren, hatte geendet. Unabhängig davon, ob sie in der Frühphase der Aushebungen den Versprechungen der Arbeitsämter und Anwerbungsstellen in den besetzen Gebieten gefolgt und nach Österreich gekommen oder Opfer von Zwangsaushebungen und Verschleppungen geworden waren, sahen sie sich nun mit der Frage konfrontiert, wie es für sie als „versetzte Personen“, „displaced persons“ (DPs), weitergehen solle. Prinzipiell standen ihnen drei Möglichkeiten offen: Repatriierung in die Heimat,
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Zwangsarbeiter, 15–58, hier 28f.; Herbert, Fremdarbeiter, 111–121 und 182–186; Alexander von Plato/Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2008. Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939–1945. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 26/2, Wien/München 2004, 30–34. Freund/Perz/Spoerer, Zwangsarbeiter, 168–173, Bacher, Zwangsarbeit, 31–33. Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, 431–453 und 1017–1020; Bacher, Zwangsarbeit, 34–36. Freund/Perz/Spoerer, Zwangsarbeiter, 216–220.
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Dieter Bacher
Emigration in ein Drittland oder Verbleib in Österreich. Es erscheint sinnvoll, diese drei Gruppen bei der Frage nach der „Zäsur-Erfahrung“ separat zu betrachten, da die Rahmenbedingungen, Voraussetzungen, Ursachen und Motive, die die Betroffenen zur Entscheidung für eine dieser drei Lösungen veranlassten, sich offensichtlich auch wesentlich darauf auswirkten, ob das Kriegsende 1945 als „Zäsur“ oder „Bruch“ erlebt und memoriert wurde.
Zurück zum „alten Leben“ – „Heimkehr“ als Kontinuität oder Zäsur?
Der Teil, der sich für eine Heimkehr entschied, trat diese in den meisten Fällen sehr bald nach Kriegsende, meist noch im Jahr 1945, an. Ein großer Teil der zivilen Zwangsarbeiter entschied sich für diese Option – was auch mit der Politik der Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, der internationalen Hilfsorganisationen sowie den zuständigen österreichischen Stellen zusammenhing. Von alliierter Seite hatte sich bereits während des Krieges die „Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces“ (SHAEF) mit der Frage beschäftigt, wie mit den zu erwartenden Millionen DPs im „Deutschen Reich“ am besten zu verfahren sei. Man war sich bewusst, dass die Hauptlast in puncto Administration, Versorgung und Unterbringung dieser Menschen in der ersten Zeit die Armeeeinheiten und dann die Besatzungsmächte bzw. die Hilfsorganisationen zu tragen haben würden. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde die möglichst rasche Heimkehr der Betroffenen als Hauptziel definiert – auf diese Weise wollte man unkontrollierte Migrationsbewegungen verhindern und den notwendigen Aufwand für ihre Versorgung auf ein notwendiges Mindestmaß beschränken.9 Diese Linie wurde auch in den ersten Monaten nach Kriegsende in Österreich konsequent und übereinstimmend zwischen allen beteiligten Akteuren verfolgt – alle hier befindlichen DPs sollten so rasch als möglich wieder zurück in ihre Heimatländer verbracht werden.10 Dementsprechend kehrte eine große Zahl an ehemaligen Zwangsarbeitern in den ersten Monaten nach Kriegsende bereits nach Hause zurück. Für 1945 betrachtet trifft dies auf „Fremdarbeiter“ aus sowohl West-, Süd- und auch Osteuropa zu. Dass sie sich für eine Heimkehr entschieden, hing offensichtlich eng mit ihrem Aufenthalt 9
Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 65, Göttingen 1985, S. 23f.; Gabriela Stieber, Nachkriegsflüchtlinge in der Kärnten und der Steiermark, Graz 1997, 84–100. 10 Stieber, Nachkriegsflüchtlinge, 49f.
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in einem der zahlreichen in Österreich eingerichteten DP-Lager zusammen. Sie hatten die Schauplätze ihres Zwangsarbeitseinsatzes unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes verlassen und sich in eines der von den Alliierten eingerichteten Lager begeben oder hatten die Heimkehr von sich aus begonnen und waren auf ihrem Weg von alliierten Truppen aufgegriffen und in ein Lager verbracht worden. Die Entscheidung dazu, sich in ein Lager zu begeben, ging, wie anhand von Fallbeispielen aus den ausgewerteten Akten des ÖVF deutlich wird, wiederum auf mehrere Faktoren zurück. Eine wesentliche Rolle spielte die Art des Arbeitseinsatzes bzw. der Wirtschaftssektor, in dem sie als Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Anhand der Aktenanalyse wurde deutlich, dass sich etwa in der Industrie oder im Baugewerbe eingesetzte Zwangsarbeiter eher für eine Heimkehr entschieden als die, die in der Landwirtschaft eingesetzt waren – die Gründe hierfür sind primär in den zumeist härteren Lebens- und Arbeitsbedingungen, der schlechteren Unterbringung, der härteren Behandlung und auch dem eher unpersönlichen Verhältnis zum „Arbeitgeber“ zu suchen.11 Als der Zwang endete, sahen sie keine Veranlassung, noch länger an ihrem „Arbeitsplatz“ zu bleiben, und machten sich auf den Weg in ein Lager, wo ihre Versorgung und eine verhältnismäßig gute Unterbringung gewährleistet war. Und da die Repatriierung zu diesem Zeitpunkt in den Lagern als die einzige Alternative dargestellt wurde, entschieden sich dementsprechend viele für eine Heimkehr. Genau dies führte etwa im Falle der aus dem Dorf Aleksandrijskij im Gebiet Kirovograd in Russland stammenden Zwangsarbeiterin Galina F. dazu, dass sie sich für eine Heimkehr entschied. Sie war im August 1943, im Alter von noch nicht ganz 17 Jahren, ins Lager Winkl nahe Kapfenberg in der Obersteiermark verschleppt worden und musste dort in der Landwirtschaft arbeiten. Zu Kriegsende blieb sie im Lager, wo sie bald von der Möglichkeit erfuhr, nach Hause zurückzukehren. Sie schloss sich einer Gruppe anderer ehemaliger „Ostarbeiter“ an, die daraufhin von der sowjetischen Repatriierungskommission in Bruck an der Mur bereits im Juni 1945 per Bahn auf den Heimweg geschickt wurde, die obligatorische „Filtration“ durchlaufen musste und dann in die Sowjetunion zurückgebracht wurde.12 Ein weiterer wichtiger Faktor war die Frage, wie weit das Heimatland von Österreich entfernt war. Die ehemaligen Zwangsarbeiter, die aus den Nachbarländern stammten, tendierten auch eher dazu, nach Hause zurückzukehren, da sie auf ihrer Heimreise weniger mit Komplikationen rechneten als Personen, die größere Distanzen zu überbrü11 Dieter Bacher, Eine neue Heimat. Eine Motivanalyse in Österreich verbliebender Zwangsarbeiter anhand des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds, in: Bacher/Karner (Hg.), Zwangsarbeiter, 271–323; siehe auch Oliver Rathkolb (Hg.), NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, 2 Bde., Wien/Köln/Weimar 2001. 12 ÖStA, ÖVF, Bestand „Russland RSVA“, Akt Nr. 43319.
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cken hatte. Dementsprechend, so zeigt sich an den aus Österreich gestellten Anträgen an den ÖVF, blieben nur wenige ehemalige Zwangsarbeiter aus Italien, Tschechien, der Slowakei, dem ehemaligen Jugoslawien oder auch Ungarn13 nach 1945 in Österreich.14 Drittens war auch die Frage entscheidend, ob der Betroffene während seines Zwangsarbeitereinsatzes Kontakt zu Familienmitgliedern in seiner Heimat hatte. Während viele den Kontakt zu ihrer Familie verloren, gelang es manchen, zumindest mittels Briefkontakt mit ihren Familien in Kontakt zu treten. Wenn dies gelang, erhöhte dies verständlicherweise die Chance auf eine Rückkehr nach 1945 erheblich. So etwa im Falle der „Ostarbeiterin“ Nina S., die aus Semino im Gebiet Vitebsk stammte und im März 1944 nach Judenburg verbracht wurde. Bereits während der Zwangsarbeit in der Landwirtschaft gelang es ihr, zumindest sporadisch per Post mit ihrer Familie zu Hause in Kontakt zu treten. Dies sei, so berichtete sie an den ÖVF, nach Kriegsende auch einer der Hauptgründe gewesen, weshalb sie sich nach Kriegsende trotz aller Gerüchte für eine Heimkehr nach Semino entschied.15 Natürlich müssen hier auch die Zwangsrepatriierungen im Zuge der sowjetischen Repatriierungspolitik in Betracht gezogen werden. Sowjetische Repatriierungsorgane investierten groß Bemühungen darin, aus der Sowjetunion stammende DPs in oder auch außerhalb von DP-Lagern ausfindig zu machen und diese dann unter Zwang in die „Heimat“ zu bringen. Für sie stellte das Kriegende bzw. der Zeitpunkt ihrer Repatriierung aus eigener Sicht eindeutig einen Bruch mit ihrem gesamten vorherigen Leben dar, selbst wenn es ihnen erlaubt war, nach Hause zurückzukehren, da sie ab diesem Zeitpunkt sowohl während der Filtrierung als auch danach wiederholt Opfer von Repressionen und als „Verräter“ gebrandmarkt wurden.16 Zudem wirkte sich für sie die abgebrochene Schul-/Berufsausbildung negativ aus – ein beruflicher und damit auch sozialer Aufstieg blieb ihnen daher zumeist auch in der „Heimat“ versagt. Zusammenfassend zu dieser Gruppe kann gesagt werden, dass in den Biografien 13 Zum Schicksal ehemaliger ungarischer Zwangsarbeiter in Österreich vgl. Dieter Bacher, Das Nachbarland als neue Heimat. Rahmenbedingungen und Motive für nach 1945 in Österreich gebliebene ungarische Zwangsarbeiter, in: Csaba Szabó (Hg.), Österreich und Ungarn im 20. Jahrhundert. Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien, Bd. 9, Wien 2014, 193–204. 14 Vgl. dazu die statistischen Analysen des ÖVF-Aktenmaterials in Hermann Rafetseder, Zahlen und Schicksale. Eine Strukturanalyse des Zwangsarbeitereinsatzes in Österreich anhand des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“, in: Bacher/Karner (Hg.), Zwangsarbeiter, 61– 115; und Bacher, Heimat. 15 ÖStA, ÖVF, Bestand „Russland RSVA“, Akt Nr. 41427. 16 Walter Iber/Peter Ruggenthaler, Sowjetische Repatriierungspolitik in Österreich, in: Peter Ruggenthaler/Walter Iber (Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz, Innsbruck 2010, 247–280.
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von „Heimkehrern“ der Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit zweifellos einen „Bruch“ mit der Biografie der vorangegangenen Jahre d. h. ihres Zwangsarbeitseinsatzes bedeutete – der Zwang zur Arbeit hatte geendet, und sie sahen keinen Grund, noch länger an diesem Ort zu bleiben. Oftmals erlittene schlechte Behandlung und Versorgung sowie Unterdrückung taten das Ihre dazu, dass sie sich dazu entschieden, die Mühen der Heimreise, oftmals auch ins Ungewisse, auf sich zu nehmen.
Die Hoffnung auf ein besseres Leben – die „Emigranten“
Zahlreiche ehemalige zivile Zwangsarbeiter entschieden sich aber auch bewusst gegen eine Rückkehr in die Heimat, und parallel dazu endete auch die konsequente Umsetzung des „Heimtransportierens“ seitens der westlichen Besatzungsmächte. Die rigide Repatriierungspolitik sowjetischer Kommissionen in Österreich führte hier bald zu einem Überdenken dieses zuerst gefassten Standpunktes. Waren die Zwangsmaßnahmen gegen DPs aus der Sowjetunion anfangs noch von den westlichen Besatzungsmächten unterstützt worden, führten Aktionen wie die Übergabe von rund 40.000 Kosaken, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, durch die britische Besatzungsmacht an die sowjetischen Stellen im steirischen Judenburg zu Pfingsten 1945 und die Verzweiflungstaten der Betroffenen von Fluchtversuchen bis hin zum Selbstmord17 zu immer größerer Skepsis. So hatten diese Geschehnisse etwa die direkte Folge, dass die britische Besatzungsmacht am 31. August 1945 die Zwangsrepatriierungen aus der britischen Zone fürs erste zur Gänze verbot und sie im Juli 1946 endgültig dauerhaft unterband.18 Das Vorgehen der Sowjetunion gegen die „Repatrianten“, die man von offizieller Seite pauschal als „Vaterlandverräter“ betrachtete und die im Zuge der „Filtration“ auf dem Heimweg und in der Heimat selbst massiven politischen Repressionen ausgesetzt waren, zeigte, dass die kompromiss- und alternativlose, erzwungene Heimkehr aller DPs keine Lösung sein konnte.19 Auch wenn die 17 Vgl. dazu Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, (Zwangs-)Repatriierungen sowjetischer Staatsbürger aus Österreich in die UdSSR, in: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Veröffentlichungen des Ludwig BoltzmannInstituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderbd. 4, Graz/Wien/München 2005, 243–273; Stefan Karner, Zur zwangsweisen Übergabe der Kosaken an die Sowjets 1945 in Judenburg, in: Harald Stadler/Rolf Steininger/Karl C. Berger, Die Kosaken im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Innsbruck/ Wien/Bozen 2008, 141–149. 18 Stieber, Nachkriegsflüchtlinge, 133f. 19 Nikita Petrov u. a., Sowjetische Repatriierungspolitik, in: Ruggenthaler/Iber (Hg.), Sklaven, 63– 108; Pavel Poljan, Žertvy dvuch diktatur. Žizn‘, trud, uniženie i smert‘ sovetskich voennoplennych i
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zuständigen österreichischen Stellen, allen voran die bereits 1945 gegründete Abteilung 12U des Innenministeriums, bis 1948 die Ansicht vertrat, insbesondere fremdsprachige DPs sollten komplett und so rasch als möglich repatriiert werden20, begann man von Seiten der Besatzungsmächte und der Hilfsorganisationen über Alternativen nachzudenken. Eine solche boten Auswanderungsprogramme, mit denen Staaten wie Großbritannien, die USA oder auch Kanada DPs nach Überprüfung Auswanderung und Lebensgrundlage für ein „neues Leben“ boten. Zahlreiche solcher Programme wurden v. a. in den DP-Lagern in Österreich propagiert, als Beispiele seien hier das britische „European Volunteer Worker Programme“ oder das „Polish Resettlement Corps“ für ehemalige polnische Armeeangehörige genannt.21 Wie auch bei der Gruppe der „Heimkehrer“ schlossen sich diesen Auswanderungsprogrammen, soweit dies anhand der Unterlagen des ÖVF beurteilt werden kann, primär ehemalige Zwangsarbeiter an, die in der Industrie, im Baugewerbe oder auch im Gewerbe beschäftigt waren d. h. Gruppen, die das Kriegsende stärker als „Zäsur“ erlebten. Auch aus ihren Berichten geht hervor, dass sie das Kriegsende und das Ende des Arbeitszwanges einerseits als Befreiung, andererseits aber auch als „neue Ungewissheit“ sahen. Diese Ungewissheit wurde bei den meisten noch durch den Umstand verstärkt, dass die meisten von ihnen entweder den Kontakt zu ihrer Familie zuhause verloren hatten. Damit war eine Heimkehr für sie keine Option.22 So entschied sich etwa der aus Mychajlo in Polen stammende Zwangsarbeiter Michael L., der im Mai 1942 zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft nach Matschach in Kärnten verbracht worden war, 1945 gegen eine Heimkehr, weil er durch die Deportation nach Österreich den Kontakt zu seiner Familie verloren hatte. Wie er dem ÖVF gegenüber darlegte, sah er aufgrund dieser Ungewissheit in einer Heimkehr keine Perspektive für sich, und emigrierte nach Großbritannien.23 DPs aus der Sowjetunion zogen die Emigration oftmals noch aus einem weiteren Grund der Heimkehr vor – viele gaben dem ÖVF gegenüber an, ihnen seien in DP-Lagern Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Heimkehrer in die Sowjetunion schlecht behandelt und repressiert würden. Um dem Zugriff der sowjetischen Repa-
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ostarbjterov na čužbine i na rodine [Opfer zweier Diktaturen. Leben, Arbeit, Demütigung und Tod sowjetischer Kriegsgefangener und Ostarbeiter in der Fremde und in der Heimat], 2. Aufl., Moskau 2002. Bacher, Heimat, 283. Barry McLoughlin, Eine zweite Chance, eine zweite Heimat? Die Übersiedlung ehemaliger Zwangsarbeiter von Österreich nach Großbritannien 1945–1950, in: Bacher/Karner (Hg.), Zwangsarbeiter, Innsbruck/Wien/Bozen 2013, 229–270. McLoughlin, Chance; Bacher, Heimat. ÖStA, ÖVF, Bestand „Großbritannien – Ad acta“, Akt Nr. 145.092.
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triierungsorgane zu entgehen, bewarben sich viele für die Auswanderungsprogramme.24 Die sowjetische Seite war sich dieses Umstandes bewusst, was zu wiederholten Beschwerden und Interventionen bei der britischen und der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich, der Alliierten Kommission in Wien selbst oder auch beim britischen Botschafter in Moskau führte. Auf westlicher Seite ging man auf diese nicht oder nur sehr zurückhaltend ein, Unterstützung bei der Repatriierungen wurde ab 1946 konsequent abgelehnt.25 Da die Betroffenen dadurch auch von administrativer Seite Unterstützung für eine Alternative erfuhren, entschieden sie sich für einen klaren „Bruch“ in ihrer Biografie, für einen Neuanfang. Ein weiterer Faktor, der für die Meldung für ein Auswanderungsprogramm sprach, war die Vorstellung eines „neuen“, besseren Lebens im „Westen“. Sie hofften auf einen Arbeitsplatz, der ihnen ein selbstständiges Auskommen ermöglichen würde, auf eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, um das bislang Erfahrene hinter sich lassen zu können. Es verwundert daher auch nicht, dass die Antragsteller in ihren Schreiben an den ÖVF, vor allem die aus Großbritannien, ihren Zwangsarbeitseinsatz als Episode ihres Lebensweges betrachten, der für sie aber zur Gänze abgeschlossen ist. So verweisen sie etwa im Durchschnitt spürbar weniger auf immer noch existierende Nachwirkungen ihres Arbeitseinsatzes als andere Gruppen.26 Auch daran wird der „Bruch“, den sie vollzogen, erkennbar – sie hatten dieses Kapitel für sich selbst beendet. Insgesamt kann zur Gruppe der „Emigranten“ gesagt werden, dass in ihren Berichten das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit am deutlichsten als „Bruch“ mit der Biografie während des Krieges zutage tritt. Für sie war das Ende des Arbeitszwanges und die folgende Auswanderung ein klarer Bruch mit ihrem Leben in der „Ostmark“, auch manifestiert dadurch, dass sie sich einen „Neubeginn in der Fremde“ erhofften.
24 Jacobmeyer, Zwangsarbeiter; McLoughlin, Chance. 25 Stieber, Nachkriegsflüchtlinge, 134–138; Ruggenthaler/Iber, Repatriierungspolitik, 247–280. 26 Vgl. McLoughlin, Chance.
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Verschleppt, um zu bleiben – die „Hiergebliebenen“
Nicht wenige zivile Zwangsarbeiter entschieden sich auch für die dritte Option – dort zu bleiben, wohin man sie Jahre zuvor unter Zwang verschleppt hatte. Sie entschieden sich aufgrund der Situation offenbar dazu, zu bleiben, wo sie waren, dies erschien ihnen als die sinnvollste Alternative. Die DP-Politik in Österreich in den ersten Nachkriegsjahren war jedenfalls kein Faktor, der diese Gruppe in ihrer Entscheidung begünstigte – von Seiten der Besatzungsmächte und auch der Abteilung 12U kam es erst ab 1948 zu einer gezielten Intensivierung der Einbürgerungsbemühungen. Die Überlegungen dahinter waren nicht zuletzt wirtschaftlicher Natur: Zuerst hatte man die Einschätzung vertreten, das schwer kriegsgeschädigte Land könne keine DPs aufnehmen und versorgen, und auch die Besatzungsmächte und Hilfsorganisationen würden dies auf Dauer nicht leisten können. Erst ein paar Jahre später kam man zur Erkenntnis, dass die im Aufbau befindliche Nachkriegswirtschaft Arbeitskräfte benötigte, und diese waren durch Kriegsverluste, Geflüchtete und noch nicht nach Hause zurückgekehrte Kriegsgefangene stark dezimiert.27 Fokussierte sich die österreichische Seite zu Beginn vor allem auf die Unterstützung von noch in Österreich befindlichen Volksdeutschen, weiteten sich diese Bemühungen in Kooperation mit der „International Refugee Organisation“ (IRO) Anfang der 1950er Jahre auch auf fremdsprachige DPs aus. Es wurden gezielt Maßnahmen getroffen, um die noch in Lagern untergebrachten DPs bei der Integration in Österreich d. h. v. a. bei der Suche einer Unterkunft und eines Arbeitsplatzes zu unterstützen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Integrationsprogramme ins Leben gerufen. Eines der ersten war die „Norwegeraktion“ 1951/52 in der Steiermark, die mit Hilfe von finanziellen Mitteln aus der norwegischen Europahilfe in Kooperation mit kirchlichen Institutionen und Hilfsorganisationen vor Ort zum Ziel hatte, DPs eine Lebensgrundlage im ländlichen Bereich zu schaffen. Den Teilnehmern an diesem Programm wurden Baugründe und Baumaterialien zu Verfügung gestellt, im Tausch für ihre Verpflichtung, die nächsten zehn Jahre vor Ort in der Landwirtschaft tätig zu sein. Auch wenn die Skepsis gegenüber diesen Einbürgerungen von österreichischer Seite noch bis in diese Zeit anhielt, begann man dennoch, parallel schrittweise die Bedingungen für eine Erlangung einer unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigung 27 Vgl. Hans Seidel, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 2005; Roman Sandgruber, Die Wirtschaft der Nachkriegszeit, in: Stefan Karner/Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei!“. Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005, Horn/Wien 2005, 173–181.
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und schließlich auch einer Staatsbürgerschaft zu erleichtern, um den Aufenthalt dieser Personen in Österreich auch zu legalisieren.28 Inwiefern erlebten nun diese Personen das Kriegsende als Zäsur? Um dies zu beantworten, ist hier eine weitere Differenzierung vonnöten: Zwischen jenen, die sich nach Ende ihres Zwangsarbeitseinsatzes in ein DP-Lager begaben, und jene, die noch über längere Zeit an dem Ort blieben, in dem sie schon während dies Krieges gelebt hatten. Gerade die zweite Gruppe spielt hier eine besonders wichtige Rolle – denn tendenziell entschieden sich die, die sich zur Versorgung in ein Lager begaben, eher für eine Heimkehr oder eine Emigration und weniger für einen Verbleib in Österreich. Trotzdem entschieden sich dennoch einige, die Lager zu verlassen zw. sich später der Repatriierung zu widersetzen und in Österreich zu bleiben. Der Fall der aus Simferopol‘ auf der Krim stammenden Zwangsarbeiterin Kornelia B. ist hier ein besonders außergewöhnlicher. Sie meldete sich im Alter von 14 Jahren im Rahmen einer Anwerbungskampagne, wurde ins Lager Winkl bei Kapfenberg verbracht und zum Arbeitseinsatz in den Böhlerwerken herangezogen. Als die Rote Armee gegen Kriegsende 1945 Kapfenberg besetzte, wurden auch die dort befindlichen sowjetischen DPs zur Repatriierung gesammelt. Da Kornelia B. sehr gut Deutsch gelernt hatte, setzten die Repatriierungsorgane sie als Dolmetscherin ein, zuerst in den Lagern in Kapfenberg selbst, und später im Sammellager Constanţa in Rumänien. Sie versah dort bis Mitte 1947 ihren Dienst, als ihr wiederholt von den Wachsoldaten Gerüchte zu Ohren kamen, die besagten, dass sie nach Ende ihrer Tätigkeit zur „Umerziehung“ nach „Sibirien“ verbracht werden sollte. Sie entschied sich zur Flucht aus dem Lager, die auch gelang. Sie schlug sich auf eigene Faust zurück nach Österreich durch und arbeitete ab Ende 1947 zuerst in Wien und dann in Salzburg als Haushaltshilfe.29 Sie brachte in ihrem Antrag an den ÖVF klar zum Ausdruck, dass sie sich, als sie die Gerüchte rund um ihre „Verbringung“ hörte, gegen eine Heimkehr entschied und den Entschluss fasste, nach Österreich zurückzukehren, was in ihrem Falle besondere Bemühungen bedeutete, da sie zuerst noch nach Österreich zurückgelangen musste. Die meisten, die sich für ein Leben in Österreich entschieden, begaben sich aber nie in ein DP-Lager. Betrachtet man die ÖVF-Anträge von in Österreich verbliebenen Zwangsarbeitern, fällt auf, dass sich die meisten von ihnen 1945 zuerst einmal entschieden, wirklich genau dort zu bleiben, wo sie waren – in demselben Bundes28 Gabriele Stieber, Volksdeutsche und Displaced Persons, in: Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft, Bd. 25, Wien 1995, 140–156, hier 150; Bacher, Heimat, 284f. 29 ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich –Ad acta“, Akt Nr. 27.
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land, in derselben Ortschaft. Ein großer Teil von ihnen stellte selbst zwischen 2001 und 2005 seinen Antrag aus dem Ort, in dem sie bis 1945 Zwangsarbeit geleistet hatten – nur wenige von ihnen hatten in diesem Zeitraum ihren Wohnsitz gewechselt.30 Dies hängt auch mit dem Faktum zusammen, dass der überwiegende Teil derer, die sich für ein „Dableiben“ entschieden, in der Land- und Forstwirtschaft eingesetzt worden war. Der Grund hierfür ist vor allem in den oft anderen Lebens- und Arbeitsbedingungen während der Zwangsarbeit in diesem Bereich zu suchen. Zwar gab es für die Beschäftigung, Unterbringung und Versorgung von zivilen Zwangsarbeitern, insbesondere polnischen und „Ostarbeitern“, genaue Vorgaben seitens des NS-Regimes, nur wurden diese rigiden Vorgaben gerade im landwirtschaftlichen Bereich nicht so rigide umgesetzt. Dies war vor allem dadurch bedingt, dass eine gesammelte Unterbringung der Zwangsarbeiter, etwa in einer Lagerbaracke, nicht möglich war und sie direkt am Hof des „Arbeitgebers“ unterzubringen waren. Auch wenn etwa eine scharfe Trennung des Privatlebens vorgeschrieben und Kontakt nur im Zuge von Arbeiten erlaubt war, wurde dies in der Praxis oftmals nicht so gehandhabt – dadurch entstanden erheblich persönlichere Beziehungen zwischen Zwangsarbeiter und „Arbeitgeber“ als dies etwa in der Industrie oder dem Gewerbe der Fall war. Daher entschieden sich hier 1945 viele zivile Zwangsarbeiter dafür, weiterhin als Arbeiter am Hof zu bleiben – sie sahen darin die beste Chance, über die Runden zu kommen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Während manche noch für einige Monate blieben, wohnten andere noch weitere Jahre an demselben Hof, in einigen Fällen noch bis in die 1950er Jahre. So auch im Falle der aus dem damaligen „Generalgouvernement“ stammenden polnischen Zwangsarbeiterin Eva H., die im Jänner 1942, im Alter von gerade einmal 17 Jahren, nach Gössendorf in der Steiermark verbracht und einem landwirtschaftlichen Gut als Arbeiterin zugeteilt wurde. Sie beschrieb, dass sie von einer „lieben Familie“ aufgenommen wurde, die sie gut unterbrachte, gut versorgte und eigentlich wie ein Familienmitglied behandelte. Dies habe ihr, trotz der täglichen schweren Arbeit und der Trennung von ihrer Familie, das Leben in der „Ostmark“ schon erheblich erleichtert. So entschied sie 1945, noch weiter auf dem Hof zu bleiben und dort weiterzuarbeiten – bis 1949. Dann zog sie in eine eigene Wohnung in der Nähe und arbeitete in einem kleinen Gewerbebetrieb in Leoben.31 Sie schildert, dass sie eigentlich von Anfang an in die Familie integriert wurde, und dies später wesentlich für ihre Entscheidung war, am Hof zu bleiben. In einigen ähnlich gelagerten Fällen blieben sie sogar bis zur Antragstellung an 30 Analysen auf Basis des Aktenbestandes ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich – Ad acta“; Bacher, Heimat, 300–322. 31 ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich – Ad acta“, Akt Nr. 20.750.
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den ÖVF an demselben Hof tätig, heirateten etwa in die Familie des Arbeitgebers ein und übernahmen teilweise später sogar die Landwirtschaft,32 wie im Falle der ukrainischen Zwangsarbeiterin Alexandra L., die 1942 verschleppt und zur Zwangsarbeit auf einem landwirtschaftlichen Hof in Hinterhornbach in Tirol eingesetzt wurde. Auch sie beschrieb die Arbeit als hart, aber durch die gute Versorgung durch die Bauersfamilie sei es ihr relativ gut ergangen. Weil sie sich dort gut aufgenommen fühlte, entschied auch sie sich 1945 dafür, zu bleiben, wo sie war. Da der Besitzer der Hofes vom Kriegseinsatz nicht mehr zurückkehrte, wurde ihre Arbeitskraft auch dringend benötigt. Als der Sohn der Familie 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, kam es zu einer Beziehung und der Heirat. Gemeinsam mit ihm übernahm sie später den Hof und führte die Landwirtschaft weiter.33 Es verwundert nicht, dass diese Gruppe in ihrer Biografie dem Kriegsende keine sonderlich große Bedeutung zuwies – einige von ihnen gaben an, dass sich die Unterkunftsbedingungen etwas gebessert hätten und sie mehr Geld für ihre Arbeit bekamen. Aber ansonsten hätte sich nicht viel verändert – sie wären ohnehin schon vorher gut behandelt worden. Dieser Verweis auf eine gute Behandlung schon während des Krieges ist hier ein sehr wichtiger Faktor. Verständlicherweise tendierten ehemalige zivile Zwangsarbeiter, denen bereits während des Krieges eine verhältnismäßig gute Behandlung zuteil geworden war, eher zu diesem Schritt. Oder wie es die aus Galizien stammende und bei Korneuburg eingesetzte Zwangsarbeiterin Maria C. auf den Punkt brachte: 1945 wäre an einem Tag ihre Bäuerin am Feld zu ihr gekommen und hätte gesagt: „Annerl, jetzt musst nicht mehr arbeiten.“ Aber da es ihr auf dem Hof immer gut ergangen sei, wäre sie trotzdem auf dem Hof geblieben und weiter tätig gewesen.34 Neben diesen Faktoren wird auch die Angst vor Repressionen in der Heimat oftmals als Grund dafür angeführt, in Österreich geblieben zu sein. Aus Osteuropa stammende Zwangsarbeiter gaben oft an, auf ihre Bitte von ihrem Arbeitgeber am Hof versteckt worden zu sein, um von sowjetischen Repatriierungsorganen nicht gefunden zu werden und sich ihrem Zugriff zu entziehen. So auch die bereits genannte, aus Galizien stammende ukrainische Zwangsarbeiterin Maria C., die als 14-jähriges Mädchen im April 1942 im Zuge einer Durchsuchung ihres Heimatortes Sorosko durch die Deutsche Wehrmacht verhaftet und ins heutige Österreich verschleppt wurde. Nach ihrer Ankunft in Salzburg verbrachte sie drei Wochen in einem Lager, bevor sie über das Arbeitsamt in Bischofshofen einem Bauernhof in Hüttau zugeteilt 32 Bacher Heimat, S. 311f. 33 ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich – Ad acta“, Akt Nr. 497. 34 Ebd., Akt Nr. 1711; vgl. auch Bacher, Heimat, 306–308.
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wurde. Die Behandlung durch die Familie beschrieb sie in ihrem Antrag an den ÖVF als gut, was ihr allerdings zu schaffen machte, war, dass sie den „harten und für mich abwärtenden [sic!] Verordnungen der Deutschen“35 unterworfen war. Zu Kriegsende 1945, als die Vorschriften über ihre Behandlung ihre Gültigkeit verloren, entschloss sie sich nicht, wie viele andere ehemalige Zwangsarbeiter aus ihrer Gegend, für die Reise in ein DP-Lager, sondern blieb am Hof, wo sie sich versteckte. Als Grund dafür führte sie an, dass sie durch einem Brief ihrer Eltern erfahren hatte, dass viele Repatrianten angeblich nicht nach Hause entlassen, sondern in Lager gebracht werden würden. Sie entschied sich dazu, noch 3 Jahre zu warten, bevor sie eine Heimkehr versuchen würde. In dieser Zeit bekam sie ein Kind, was dann mit ein Grund war, dass sie noch bis 1953 am Hof in Hüttau blieb und sich schließlich endgültig für einen Verbleib in Österreich entschied.36 Auch dieses Umstandes war sich die sowjetische Seite durchaus bewusst und versuchte, auch dieser DPs habhaft zu werden. So wurde seitens der sowjetischen Besatzungsmacht versucht, über Interventionen auf österreichischer Seite bei der Abteilung 12U an Listen sowjetischer DPs und Informationen zu kommen.37 Auch wurden, wie von einigen ehemaligen Zwangsarbeitern beschrieben wurde, etwa Einheimische von sowjetischen Soldaten befragt, an welchen Höfen Ostarbeiter tätig gewesen seien, und diese Höfe anschließend durchsucht. Dieses Vorgehen ist nicht nur für die sowjetische Besatzungszone, sondern für die ersten Nachkriegsmonate auch etwa für die Obersteiermark d. h. die ab Juli 1945 britische Zone belegt.38 Daneben konnte der Mangel an Alternativen, eine gewisse Perspektivlosigkeit Grund dafür sein, dass ein Verbleib in Österreich präferiert wurde. Anstatt einen klaren „Bruch“ zu ihrem Leben vor dem Kriegsende zu vollziehen, zogen es manche vor, dieses Leben fortzusetzen – wobei klarerweise der Arbeitszwang und die Kontrollen fortan wegfielen. Dies erschien ihnen noch immer vernünftiger als ins Ungewisse heimzukehren oder auszuwandern. Dieses Motiv konnte ein durchaus bedeutendes sein – wie im Falle des aus Kopanie stammenden polnischen Zwangsarbeiters Wasyl K. Er war im November 1942 zur Zwangsarbeit verpflichtet und nach Mörschwang in Oberösterreich verbracht worden, wo er in der Landwirtschaft eingesetzt wurde. Durch seine Verschleppung verlor er jeglichen Kontakt zu seiner Familie, Versuche, Kontakt per Brief aufzunehmen, erbrachten keine Antworten. Auch nach Kriegsende, als er versuchte, mit seinen Eltern in Kontakt zu treten, hatte er keinen Erfolg. 35 ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich – Ad acta“, Akt Nr. 37. 36 Ebd. 37 Stieber, Nachkriegsflüchtlinge, 134–138. 38 Ruggenthaler/Iber, Repatriierungspolitik; Bacher, Heimat, 318–320.
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Für sich, so schrieb er dem ÖVF, zog er dann den Schluss, dass offenbar keiner seiner Angehörigen mehr am Leben war. Deshalb war die Heimkehr für ihn keine Alternative, denn er fragte sich, wohin er denn hätte zurückkehren sollen. Eine Heimkehr oder auch eine Emigration erschienen ihn von diesem Zeitpunkt an als sinnlos, weshalb er sich dazu entschloss, noch bis Februar 1947 auf demselben Hof zu bleiben. Er verließ den Hof zwar später, blieb aber in der Umgebung von Mörschwang und arbeitete auf mehreren Höfen als Landarbeiter.39 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei dieser Gruppe das Kriegsende von den wenigsten als „Bruch“ oder Zäsur wahrgenommen wurde. Sie sahen in der Regel ihr Leben in den Nachkriegsjahren als direkte Fortsetzung ihres Zwangsarbeitseinsatzes – natürlich ohne den Zwang. Diese Betroffenen beschrieben in ihren Berichten an den ÖVF primär die Verschleppung aus ihrer Heimat als tiefen Einschnitt in ihrem Leben, das Kriegsende 1945 hingegen spielte für sie nur eine Nebenrolle. Hier kann also eher von einer Kontinuität als von einem „Bruch“ gesprochen werden.
Resümee
Anhand der beschriebenen Analysen zeigt sich, dass die Frage nach dem „Bruch“, den das Kriegsende für ehemalige zivile Zwangsarbeiter bedeutete, nicht so einfach zu beantworten ist, wie man zuerst erwarten würde. Natürlich bedeutete das Ende des NS-Regimes in Österreich für sie zahlreiche Veränderungen – der Zwang zur Arbeit und die Repression seitens des Systems endeten, auch andere Faktoren wie etwa die Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit fielen weg. Diese genügten aber offenbar nicht, um das Kriegsende wirklich als „Zäsur“ wahrzunehmen, aus den Berichten ehemaliger ziviler Zwangsarbeiter an den ÖVF wird deutlich, dass hierfür andere Faktoren wesentlich ausschlaggebender waren. Art des Arbeitseinsatzes, Behandlung während der Zwangsarbeit, Kontakt zur Familie zuhause oder auch die eigenen Zukunftsvorstellungen bestimmten, ob die Entscheidung auf Heimkehr, Emigration oder Verbleib in Österreich fielen. Und je nachdem, welche Entscheidung getroffen wurde, wurde das Kriegsende 1945 als „Bruch“ in der eigenen Biografie erlebt und memoriert. Für DPs, die sich für eine Heimkehr oder eine Emigration entschieden, ist die Interpretation des Kriegsendes als „Bruch“ aus ihrer Sicht korrekt, für die Personen aber, die in Österreich bleiben wollten, ist dies hingegen zu hinterfragen. Für letztere kam der „Bruch“, so wie sie es sahen, teilweise erst erheblich später, wenn sie 39 ÖStA, ÖVF, Bestand „Österreich – Ad acta“, Akt Nr. 454.
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etwa den Ort ihrer Zwangsarbeit verließen oder eine eigene Familie an diesem Ort gründeten – ein schönes Beispiel dafür, dass die oftmals als „Zäsuren“ markierten politischen Ereignisse aus der persönlichen Wahrnehmung heraus nicht immer solche sind, die persönlichen „Zäsuren“ in den Biografien mit diesen nicht kongruent sein müssen.
Boris Chavkin
1945 als Epochenbruch Die innere und äussere Seite des Spätstalinismus 1945–1953
Die Treffen der „Großen Drei“ (UdSSR, USA und Großbritannien) in Teheran (November–Dezember 1943), Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli–August 1945) zeigten auf höchster Ebene, dass der Sieg der Alliierten gegen Hitler-Deutschland und auch die Neustrukturierung der Welt nach dem Krieg ohne die aktive Teilnahme der UdSSR undenkbar waren. Dabei würde 1945 die UdSSR, neben den USA und Großbritannien, jene Siegermächte, die die Nachkriegsordnung der Welt festlegten. Schon im Juni 1945 wurde sie ein Gründungsmitglied der UNO und ständiges Mitglied ihres Sicherheitsrates mit Vetorecht – in direkter Folge der internationalen Anerkennung der Rolle der UdSSR beim Sieg über NS-Deutschland.
Der Epochenbruch 1945
Die Sowjetunion ging aus dem Zweiten Weltkrieg als Großmacht hervor: sie besaß eine riesige Armee mit 11,5 Millionen Soldaten,1 zahlenmäßig nur unbedeutend hinter den Streitkräften der USA mit fast 12 Millionen Soldaten2. Zur Ausrüstung der sowjetischen Streitkräfte gehörten mehr als zwölftausend Panzer und Selbstfahrlafetten, 147.000 Kampfflugzeuge, [sowie] mehr als 107.000 Geschütze und Granatwerfer sowie Mehrfachraketenwerfer vom Typ „Katjuša“3. Was die Anzahl der Panzer und der selbstfahrenden Geschütze betrifft, übertraf die sowjetische Armee die amerikanische um mehr als das Doppelte, und die britische Armee um fast das Vierfache. 1
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G. F. Krivošeev, Grif sekretnosti snjat. Poteri Vooružennych sil SSSR v vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach [= Der Stempel der Geheimhaltung wurde aufgehoben. Die militärischen Verluste der UdSSR in Kriegen, Militäraktionen und kriegerischen Konflikten], Moskau 1993, 138. Sostojanie vooružennych sil protivoborstvovavšich gosudarst [= Die Situation des Militärs der kämpfenden Staaten], einsehbar unter http://victory.mil.ru/war/1945/world/01_02.html, 21.11.2012, 13:43 Uhr, Microsoft Internet Explorer. P. N. Pospelov u. a., Istorija Velikoj Otečestvennoj vojny Sovetskogo Sojuza 1941–1945 gg [= Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion 1941–1945], Bd. 2, Moskau 1961, 370.
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Freilich muss dabei die Auf- und Ausrüstung der sowjetischen Armee durch die USA während des Zweiten Weltkrieges hingewiesen werden. Im Zuge der Festlegung der Nachkriegsgrenzen gingen viele Gebiete Mittel-Osteuropas an die UdSSR: die Westukraine, Transkarpatien, Moldawien, das westliche Weißrussland, das Baltikum (Litauen, Lettland, Estland) [und] Westkarelien. In Asien gingen Tuva und, als Ergebnis des Sieges über Japan, auch das südliche Sachalin sowie die kurilischen Inseln in den Bestand der UdSSR über. In Übereinstimmung mit der Entscheidung der drei Großmächte (USA, Großbritannien und UdSSR) wurde Preußen als „Hochburg des deutschen Militarismus“ ausgelöscht und das ehemalige Ostpreußen zwischen der UdSSR und Polen aufgeteilt. Der nördliche Teil des ehemaligen Ostpreußens kam als Gebiet Kaliningrad an die RSFSR. Auf diese Weise erreichte die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg die größte territoriale Ausdehnung ihrer Geschichte. Der siegreiche Abschluss des Zweiten Weltkriegs veränderte das politische System in der UdSSR nicht. Die stalinistische Diktatur blieb unerschütterlich bestehen und wurde noch gestärkt. Die Innen- und Außenpolitik der UdSSR nach 1945 zielte auf die Konsolidierung und, soweit möglich, weitere Ausdehnung der sowjetischen Einflusssphäre (und damit auch der Verbreitung des Stalinismus) in Europa und der Welt ab. Die Allianz der westlichen Demokratien mit Josef Stalin war durch den Krieg bedingt. Die Widersprüche zwischen den West-Alliierten und der UdSSR zeichneten sich bereits während des Zweiten Weltkriegs ab. Allerdings wurden diese durch die Existenz eines gemeinsamen Feindes – Adolf Hitler – geglättet. Es war bezeichnend, dass die gegen das „Dritte Reich“ und seine Satellitenstaaten gerichtete Koalition der UdSSR, Großbritanniens, der USA und anderer Staaten nicht „antideutsch“ und nicht einmal „antifaschistisch“, sondern „Anti-Hitler-Koalition“ genannt wurde.4 Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland zerfiel diese Koalition. Die letzte Einheitsbekundung der Bündnispartner waren 1946 die gemeinsamen Gerichtsverfahren gegen die Haupt-Kriegsverbrecher in Nürnberg. Der Tod von US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 12. April 1945 beschleunigte den Wandel in den Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR von einem Bündnis hin zur Konfrontation. Am Vorabend des ersten Treffens des neuen Präsidenten der USA, Harry S. Truman, mit dem Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Vjačeslav M. Molotov, am 26. April 1945 fand eine Sitzung 4
Boris Chavkin, Graf Šulenburg: „Soobščite gospodinu Molotovu, čto ja umer… za sovetsko-germanskoe sotrudničestvo“ [= Graf Šulenburg: „Sag Genossen Molotov, wofür ich gestorben bin ... für die sowjetisch-deutsche Zusammenarbeit], in: Rodina, Nr, 1/2011, 121.
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der Administration des neuen Präsidenten der USA statt. Dort wurde der offizielle Beschluss zum Kurswechsel in den Beziehungen zur UdSSR gefasst. Im Gespräch mit Molotov verhielt sich Truman äußerst brüsk, ja geradezu grob. Trumans Memoiren zufolge sagte Molotov in diesem Gespräch, dass sein ganzes Leben lang niemand so unverfroren mit ihm geredet hätte. Darauf antwortete der Präsident der USA: „Erfüllen Sie unsere Forderungen in Bezug auf Polen und wir werden in weniger grober Art und Weise mit Ihnen sprechen.“ Als er diese Worte gehört hat, erbleichte Molotov vor Zorn (der Übersetzer schrieb, dass er „aschbleich“ wurde). Der Botschafter der USA in der UdSSR, William A. Harriman, erinnerte sich: „Ehrlich gesagt, war ich etwas schockiert, dass der Präsident Molotov so stark attackierte. Ich denke, dass noch niemals jemand in einem solchen Ton mit Molotov geredet hat, zumindest kein Ausländer… Ich habe bedauert, dass Truman so rigoros zur Sache ging. Sein Verhalten gab Molotov einen Grund, Stalin mitzuteilen, dass man von der Politik Roosevelts abwich. Es ist schade, dass Truman ihm eine derartige Möglichkeit gab. Ich denke, dass dies ein Fehler war, auch wenn es kein besonders entscheidender war.“5 Ein Mitarbeiter des Außenministers der USA, G. Grew, schrieb im Mai 1945, dass als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges „Diktatur und Herrschaft von Deutschland und Japan an die Sowjetunion übergingen, die in der Zukunft für uns (Amerikaner) eine ebenso große Gefahr darstellen wird, wie es auch die Achsenmächte waren“6. Harriman hat ungefähr zur selben Zeit von der „Invasion der Barbaren in Europa“7 gesprochen. Die Westmächte kritisierten besonders die Verletzung von demokratischen Rechten in den von der Sowjetunion kontrollierten Teilen Osteuropas heftig. Die sowjetische Regierung verletzte immer häufiger die auf der Jalta-Konferenz angenommene Deklaration über die Befreiung Europas, die jedem von der NS-Herrschaft befreiten Land eine unabhängige und demokratische Regierung garantierte. Molotov erinnerte sich, dass er seine Skepsis ausgedrückt hatte, ob die UdSSR diese Deklaration unterschreiben sollte. Stalin aber zögerte keine Minute: „Wir selbst werden diese Deklaration in die Tat umsetzen. Alles hängt von der Wechselbeziehung der Mächte ab.“8 5 6
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Zitiert nach Valentin M. Berežkov, Stranicy diplomatičeskoj istorii [= Seiten der Diplomatiegeschichte], Moskau 1987, 554f. Zitiert nach: Valentin M. Falin, Potsdam – proščal’nyj saljut sotrudničestvu [= Potsdam – Abschiedsgruß an die Zusammenarbeit], in: RIA „Novosti“, 27.06.2005, abrufbar unter http://ria.ru/analytics/20050627/40769409.html, 22.11.2012, 15:23 Uhr, Microsoft Internet Explorer. Dennis Dani, Meždu Stalinym i Ruzvel’tom. Amerikanskie posly v Moskve [= Zwischen Stalin und Roosevelt. Amerikanische Botschafter in Moskau], Moskau 2004. P. M. Andrianov, Sovetski Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945 gg. [= Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945], Bd. IV, Krymskaja konferencija rukovoditelej trëch
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Die sowjetische Deutung dieses Dokuments bestand darin, dass die UdSSR nur jenen politischen Kräften in Osteuropa erlaubte am Entscheidungsprozess teilzunehmen, die, von ihrem Standpunkt aus, „demokratisch“ und „nicht volksfeindlich“ waren. In die Kategorie der „volksfeindlichen Kräfte“ fiel mit der Zeit eine immer größere Anzahl von politischen Gruppierungen, bis letztendlich nur mehr die Kommunisten und ihre Marionetten auf der (politischen) Szene verblieben. Die Westmächte protestierten systematisch gegen diese Politik, was wiederum Proteste der UdSSR zur Folge hatte. Die sowjetische Führung behauptete, dass die Westmächte die antisowjetischen Emotionen in Osteuropa anheizten und die so genannte „politische Reaktion“ unterstützen. Um ihren Protesten zusätzliches Gewicht zu verleihen, unterstich die amerikanische Regierung ständig ihr Atommonopol. Die Tatsache, dass die letzte Konferenz der „Großen Drei“ in Potsdam am 16. Juli 1945, also zwei Monate nach der Kapitulation Deutschlands, stattfand, erklärt sich vor allem dadurch, dass Präsident Truman dieses Ereignis terminlich auf den Test der ersten amerikanischen Atombombe abstimmen wollte. Dieser Test fand während der Potsdamer Konferenz statt. Am 21. Juli 1945 teilte Truman Stalin nicht ohne Stolz mit, die USA hätten nun eine „neue Waffe von ungeheuerlicher zerstörerischer Macht“. Einige Autoren meinen, dass Truman mit dieser Mitteilung versuchte, Stalin einzuschüchtern, ihn im sich abzeichnenden Konflikt zwischen Ost und West zu größerer Nachgiebigkeit zu bewegen. Doch die Nachricht über die Atombombe versetzte Stalin nicht in Erstaunen. Unter den amerikanischen Wissenschaftlern, die an der Konstruktion der Atombombe arbeiteten, gab es Leute, die mit dem sowjetischen Nachrichtendienst in Verbindung standen – Klaus Fuchs, Bruno Pontecorvo und andere. Der Leiter der nachrichtendienstlichen Kommandoabteilung des NKVD-NKGB der UdSSR, Generalleutnant Pavel A. Sudoplatov, berichtete, dass sich eine Beschreibung der Konstruktionsskizze der ersten Atombombe schon im Jänner 1945 in Moskau befand. Am 20. August 1945 wurde unter Lavrentij P. Berjas Leitung in Moskau ein Sonderkomitee der Regierung mit außerordentlichen Vollmachten gebildet, das die Aufgabe hatte, eine sowjetische Atombombe zu bauen. Nach nur vier Jahren, am 29. August 1949, wurde die erste sowjetische Atombombe getestet.9 Die Westmächte hatten keine effektiven Mittel zur Verfügung, um die Sowjetunion zu wesentlichen Zugeständnissen zwingen. In Zusammenhang damit sprach
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cojuznych deržav – SSSR, SŠA i Velikobritanii (4–11 fevralja 1945) [= Die Konferenz auf der Krim zwischen den drei alliierten Mächten – UdSSR, USA und Großbritannien (4.–11. Februar 1945)], Moskau 1979. Pavel A. Sudoplatov, Specoperacii. Lubjanka i Kreml‘ 1930–1950 gody [= Spezialoperationen. Lubjanka und Kreml 1930–1950], Moskau 1997, 319 und 338.
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der amerikanische Historiker John Levis Gaddis von der „Machtlosigkeit der Allmacht“10. Allerdings war auch die UdSSR nicht in der Lage, den Westen zu besiegen. Die einzig wirkungsvolle Waffe in dem beginnenden Konflikt waren verbale Attacken. Im Dezember 1945 erklärte Molotov, dass der Sieg über Deutschland und Japan nicht zur Zerschlagung des Imperialismus geführt hätte. Anfang 1946 formulierte der einflussreiche amerikanische Diplomat und Sowjetunionspezialist George F. Kennan die Prinzipien des aktiven Widerstands gegen die sowjetische Expansion, die sogenannte „Containment-Politik“. Kennan schrieb: „Letztendlich haben wir es mit einer politischen Kraft zu tun, die fanatisch glaubt, dass eine langfristige Koexistenz mit Amerika unmöglich ist, und die es zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit für wünschenswert und unumgänglich hält, die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unsere traditionellen, existenziellen Werte und die Autorität unseres Staates in den Augen der Weltöffentlichkeit zu zerstören“ .11 Am 5. März 1946 hielt der ehemalige britische Premier Winston Churchill in Fulton seine berühmte Rede über den „Eisernen Vorhang“, der sich von Stettin bis Triest herabgesenkt hätte12. Churchill erklärte, dass die Gefahr des Kommunismus überall anwächst, „mit Ausnahme des Britischen Commonwealth und der Vereinigten Staaten, wo der Kommunismus noch in den Kinderschuhen steckte.“13 Allerdings war die in den ersten Nachkriegsjahren zu beobachtende Zuspitzung der Gegensätze zwischen Ost und West nicht durch die Furcht vor dem unweigerlichen Heraufziehen eines dritten Weltkrieges bedingt, sondern durch die Bestrebung, die ideologischen und politischen Verbündeten zu konsolidieren. Zur selben Zeit, als die sowjetische Propaganda über die immer aggressivere „kapitalistische Einkesselung“ sprach, kürzte die Regierung der UdSSR die sowjetischen Streitkräfte von 11,5 Millionen im Jahr 1945 auf 2,9 Millionen Soldaten im Jahr 194814 – und das während der ersten Berlinkrise, als sich der „Kalte Krieg“ zuspitzte. Erst im Juni 1950, als der Krieg in Korea begann, wurde der Personalstand der Sowjetischen Armee wieder vergrößert. 10 John Lewis Gaddis, The Cold War. A New History, New York 2005. 11 Foreign Relations of the United States (FRUS), 1946, Bd. VI: Eastern Europe, the Soviet Union, 696–709. 12 Nikolaj V. Zlobin, Neizvestnye amerikanskie archivnye materialy o vystuplenii V. Čerčillja 5.III.1946 g. [= Unbekannte archivmaterialien über die Rede W. Churchills am 5.III.1946], in: Novaja i novejšaja istorija, 2000, Nr. 2. 13 http://britannia.com/history/docs/sinews1.html, 21.11.2012, 12:11 Uhr, Microsoft Internet Explorer. 14 Nikolaj Ja. Komarov, Gosudarstvennyj Komitet Oborony postanovljaet. Dokumenty. Vospominanija. Kommentarii [= Das Staatliche Verteidigungskomitee beschließt. Dokumente. Erinnerungen. Kommentare], Moskau 1990, 422.
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Im September 1946 sagte Stalin in einem Interview mit einem britischen Korrespondenten: „Ich glaube nicht an die reelle Gefahr eines ‚neuen Krieges‘… Man muss streng zwischen dem derzeitigen Rummel um einen ‚neuen Krieg‘ und der reellen Gefahr eines ‚neuen Krieges‘ unterscheiden, die zurzeit nicht existiert.“15 Diese Worte Stalins stellten nicht nur eine an den Westen gerichtete Propaganda dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die UdSSR, ungeachtet ihrer militärischen Macht, als Folge von inneren und äußeren Gründen nicht die Kraft für einen neuen großen Krieg.
Die Ausbildung des „äusseren“ sowjetischen Imperiums
Jene Länder Zentral- und Osteuropas, die in den Jahren 1944–1945 von der Roten Armee von der NS-Okkupation befreit worden waren, wurden von der Sowjetunion zu einem Vorposten ihres Einflusses, zu ihrem Schutzgürtel gemacht. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien wurden in den Jahren 1945–1949 zu Satellitenstaaten der UdSSR. Die Rote Armee hielt zudem über ein Viertel des österreichischen Territoriums und ein Drittel von Deutschland besetzt. Die sowjetische Besatzungszone Deutschlands wurde zu einer Bastion der stalinistischen Herrschaft im Herzen von Europa. Kennan war der Meinung, dass die UdSSR kaum ihre Einflusssphäre bis zur Elbe erhalten könnte, und sagte den baldigen Zusammenbruch voraus.16 In Wirklichkeit jedoch fasste die UdSSR in Ost- und Zentraleuropa Fuß, und zwang die „befreiten“ Staaten in ihren Herrschaftsblock. Mit sowjetischer Hilfe und Unterstützung kontrollierten die kommunistischen Parteien der Länder dieser Region trotz ihrer (mit Ausnahme Jugoslawiens und der Tschechoslowakei) geringen Größe die Situation. Die kommunistischen Parteien bildeten zusammen mit anderen „antifaschistischen Kräften“ Koalitionsregierungen und besetzten darin Schlüsselpositionen. Um das Wohlwollen von breiten Bevölkerungsschichten zu erkämpfen, begannen die Kommunisten einen brutalen Kampf gegen die alte, halb-feudale Aristokratie, die für Jahrhunderte die Mehrheit der Länder dieser Region beherrscht hatte. Aber Moskau forderte von den örtlichen Kommunisten noch brutalere Maßnahmen. Ende 15 Otvety I. V. Stalina na voprosy, zadannye moskovskim korrespondentom „Sandi Tajms“ g-nom A. Vertom, polučennye 17 sentjabrja 1946 g. [= Antworten I. V. Stalins auf Fragen, gestellt vom Moskauer Korrespondenten der „Sunday Times“ A. Vert, am 17. September 1946], in: Bol’ševik, 1946, Nr. 17–18. 16 FRUS, 1946, Bd. VI: Eastern Europe, the Soviet Union, 696–709.
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September 1944 ermahnte Stalin den Leiter der Polnischen Arbeiter Partei (Polska Partia Robotnicza, PPR), der sich in Moskau aufhielt: „Es geht um die Beseitigung einer ganzen Klasse […] Solche Revolutionen gehen nicht unter Einhaltung der gesetzlichen Normen vonstatten, […] sie werden mit Hilfe von brutalen revolutionären Methoden durchgeführt“. Als Stalin erfuhr, dass die polnische Regierung noch keinen einzigen Gutsbesitzer verhaftet hatte, war er entrüstet. „Was seid ihr für Kommunisten?“ schrie er. „Eine solche Weichheit in Bezug auf die Klassenfeinde gehört sich nicht für richtige Revolutionäre“.17 Allerdings forderte die Kremlleitung von ihren osteuropäischen Satrapen nicht nur Unduldsamkeit und revolutionäre Härte. Um Kritik seitens der ehemaligen westlichen Verbündeten der UdSSR in der Koalition gegen Hitler zu vermeiden, mussten sich die osteuropäischen Vasallen Moskaus in demokratische Gewänder hüllen und dabei ständig unterstreichen, dass sie nicht vorhätten, das sowjetische Modell zu kopieren, und dass im politischen System ihrer Länder für alle „demokratischen“ und „antifaschistischen“ Kräfte Platz bleibe. Die Politik Moskaus in Bezug auf das besiegte Deutschland war von Anfang an sehr flexibel. Die sowjetische Regierung, die während des Zweiten Weltkriegs entschlossen für die Teilung Deutschlands eintrat, änderte in den letzten Kriegsmonaten ihre Strategie und versuchte in der Weltöffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass die Teilung Deutschlands kein der UdSSR war. Am 9. Mai 1945, am Tag des Sieges, sagte Stalin, dass die „Sowjetunion über den Sieg jubiliert, obwohl sie weder vorhabe, Deutschland aufzuteilen noch es zu zerstören“.18 Die sowjetische Besatzungszone Deutschlands war die erste Besatzungszone Deutschlands, in der die Gründung von politischen Parteien erlaubt wurde, was auch schon ab 10. Juni 1945 geschah. Dies beunruhigte die Westmächte. Im britischen Foreign Office wurde im Juli 1945 vermerkt, dass die Existenz von deutschen Parteien im östlichen Teil Deutschlands sowie deren Abwesenheit im westlichen Teil die Position Moskaus stärkte. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die in der sowjetischen Besatzungszone am 11. Juli 1945 neu gegründet wurde, unterstrich, dass ihr Ziel nicht die „Diktatur des Proletariats“, sondern der Abschluss der „bürgerlich-demokratischen Revolution“ sei. Im Gründungsaufruf der KPD hieß es, „dass es falsch wäre, Deutschland das sowjetische Modell aufzudrängen“ und dass dies nicht den „gegen17 Zitiert nach: Leonid Luks, Istorija Rossii i Sovetskogo Sojuza ot Lenina do El’cina [= Die Geschichte Russlands und der Sowjetunion von Lenin bis Jelzin], Moskau 2000, 344. 18 Iosif V. Stalin, O Velikoj Otečestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza [= Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion], Moskau 1947, 193.
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wärtigen Entwicklungsbedingungen Deutschlands“ entsprach. Anfang 1946 wurde die These „über den deutschen Sonderweg zum Sozialismus“ formuliert, was den deutschen Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone die Konsolidierung mit der KPD erleichtern sollte. Die Sowjetmacht forcierte diesen Zusammenschluss, da sie die Isolation der KPD überwinden wollte, die sich im Moment ihrer Neugründung an der Peripherie des politischen Lebens Deutschlands befand.19 In der ersten Zeit ihrer Existenz litt die KPD an einem Führungskräftemangel. Stalin vertraute all jenen Kommunisten nicht, die während der NS-Herrschaft im Exil im Westen oder in Deutschland gewesen waren. Als absolut zuverlässig wurden nur die „Moskauer Kader“ angesehen, also deutsche Kommunisten, die jahrelang in der UdSSR im Exil gelebt hatten. Ungefähr 200 Mitglieder der KPD kamen 1945 aus der UdSSR nach Deutschland zurück und nahmen in der wiedergegründeten KPD die leitenden Posten ein, danach, ab April 1946, in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Politik der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone unterschied sich praktisch nicht von den eingeübten Praktiken in anderen von Moskau abhängigen Ländern Osteuropas. In Osteuropa griff Stalin von Anfang an auf eine zweigleisige Politik zurück, die Historiker bis zum heutigen Tag mit Befremden erfüllt. In Zusammenhang damit werden oft die Worte Stalins angeführt, die er im Frühling 1945 in einem Gespräch mit der jugoslawischen Führung äußerte und die der jugoslawische Kommunist Milovan Djilas wie folgt niederschrieb: „In diesem Krieg ist es nicht so, wie im letzten, sondern wer ein Territorium besetzt, der pflanzt dort, wo seine Armee hinkommt, sein Sozialsystem ein. Anders kann es auch nicht sein.“20 Die osteuropäischen Kommunisten, die ab 1944/45 alle Schalthebel der Macht in ihren Ländern kontrollierten, waren zu einer unverzüglichen Durchführung dieses stalinistischen Programms bereit. Die sowjetischen Truppen stellten in dieser Region den wichtigsten Machtfaktor dar und waren in der Lage, jeden Widerstand gegen eine kommunistische Revolte im Keim zu ersticken. Und trotz allem beschloss Stalin, die während des Krieges entstandene Politik der Zusammenarbeit mit allen „antifaschistischen Kräften“ fortzusetzen. Warum? Nur aus dem Wunsch heraus, die westlichen Alliierten nicht zu reizen? Oder hatte er das zukünftige Bild eines Europas unter seiner Kontrolle noch nicht zu Ende gedacht?
19 Jan Fojtik (Hg.), Sovetskaja politika v otnošenii Germanii 1944–1954. Dokumenty [= Die sowjetische Politik in ihren Beziehungen zu Deutschland 1944–1954], Moskau 2011. 20 Milovan Džilas, Lico totalitarizma [= Das Gesicht des Totalitarismus], Moskau 1992, 84.
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Auf diese Fragen kann man nicht eindeutig antworten. Aber eines ist offensichtlich: die sowjetische Politik Moskaus in Osteuropa war von Anfang an ambivalent, sie zeichnete sich durch Doppelgleisigkeit und Widersprüchlichkeit aus. Moskau kritisierte all jene osteuropäischen Kommunisten, die sich eindeutig für oder gegen die Durchführung einer Sowjetisierungspolitik in ihren Ländern aussprachen. So wurden beispielsweise jugoslawische Kommunisten wegen des allzu radikalen Verhaltens und der Rücksichtslosigkeit gegenüber demokratischen Formen der Kritik unterzogen und die polnischen [Kommunisten] wegen des allzu sanften und vorsichtigen Kurses. Im Grunde hatte die sowjetische Leitung große Schwierigkeiten mit der theoretischen Identifikation jener Regime, die in den Jahren 1944/45 an der westlichen Grenze der UdSSR entstanden waren. Stalin versuchte eine Bewertung der in Osteuropa entstandenen, so genannten „volksdemokratischen“ Regime abzugeben. Im Gespräch mit einer polnischen Regierungsdelegation im Mai 1946 erklärte er: „Das in Polen geschaffene System stellt eine absolut neue Form der Demokratie dar. Es hat keine Vorbilder. Es ähnelt weder der belgischen, noch der englischen, noch der französischen Demokratie […] Ihr habt die Industrie in 100 Tagen verstaatlicht, die Engländer hingegen versuchen schon hunderte Jahre lang das zu machen. Deshalb sollt ihr die westlichen Demokratien nicht kopieren. Im Gegenteil, der Westen soll sich eure Demokratie als Vorbild nehmen. Die Demokratie, die in Polen, in Jugoslawien und teilweise in der Tschechoslowakei geschaffen wurde, eröffnet euch die Möglichkeit, sich in Richtung Sozialismus zu bewegen und dabei die Diktatur des Proletariats und die Sowjetmacht zu umgehen.“21
Doch wie war es möglich, ein demokratisches und parlamentarisches Regime mit allen Machthebeln in den Händen einer politischen Kraft zu vereinen, die, mit Ausnahme Jugoslawiens und der Tschechoslowakei, lediglich unbedeutende Schichten der Gesellschaft repräsentierte? Die niederschmetternde Niederlage der ungarischen Kommunisten bei den Parlamentswahlen im November 1945, als die tatsächlich regierende Partei nur 17 Prozent aller Stimmen erlangte, illustriert die entstandene Situation. Nur die völlige Beseitigung der demokratischen Mechanismen konnte die Macht der Kommunisten langfristig sichern. Ähnlich war die Situation auch in anderen Ländern Zentral- und Osteuropas. Auch die außenpolitische Tätigkeit der Volksdemokratien war auf ein Minimum reduziert. Besonders deutlich zum Vorschein trat dies Mitte 1947, als US-Außenminis21 Zitiert nach: Luks, Istorija, 348f.
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ter, George Marshall, den europäischen (inklusive den osteuropäischen) Ländern Hilfe für den Wideraufbau der während des Krieges zerstörten wirtschaftlichen Strukturen anbot. Die Regierungen in Warschau und Prag, in denen die Kommunisten dominierten, waren bereit, am Marshallplan teilzunehmen. Für die Sowjetunion war dies aber inakzeptabel. So meldete das Moskauer Radio am 8. Juli 1947, dass die polnische Regierung abgesagt hatte, an der entsprechenden Pariser Konferenz teilzunehmen. Für den Pressesekretär der polnischen Regierung, Feliks Gross, kam diese Neuigkeit völlig unerwartet, weil Warschau noch keinen endgültigen Beschluss zu den Vorschlägen der Amerikaner gefasst hatte. Erst am folgenden Tag erklärte auch die polnische Regierung offiziell, dass sie nicht an der Pariser Konferenz teilnehmen würde. Dieses Beispiel zeigt deutlich den Grad der Abhängigkeit der osteuropäischen Länder von Moskau. Im Gespräch mit einer tschechoslowakischen Delegation am 9. Juli 1947 charakterisierte Stalin die Bereitschaft Prags, am Marshallplan teilzunehmen, als einen in der Beziehung zur UdSSR nicht gerade freundschaftlichen Akt: „Objektiv gesehen helft ihr damit, die Sowjetunion zu isolieren, ob ihr das wollt oder nicht […] Alle Länder, die mit uns in freundschaftlicher Beziehung stehen, nehmen an dieser Versammlung nicht teil, aber die Tschechoslowakei, die auch eine freundschaftlicher Beziehung mit uns pflegt, nimmt teil […] Es ist unumgänglich, dass ihr eure Entscheidung widerruft, ihr müsst von der Teilnahme an dieser Versammlung Abstand nehmen und je eher ihr das macht, desto besser wird es sein“.22
Wie auch Warschau, beugte sich Prag dem sowjetischen Ultimatum. Der Minister für äußere Angelegenheiten kommentierte das wie folgt: „Ich kehre als Lakai Stalins [aus Moskau nach Prag] zurück.“ Die letzten Verbindungen zwischen Ost und West wurden im Jahr 1947 abgebrochen. Die Koalitionsregierungen [vom Typ der] „Volksdemokratien“ arteten immer mehr zu einer Farce aus. Die Behörden waren nur einverstanden, jene Parteien anzuerkennen, die sich zur Gänze den Kommunisten unterordneten. Die Infrastruktur der Oppositionsparteien war zerstört, ihre Führungskräfte wurden verhaftet oder des Landes verwiesen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass sich zur selben Zeit auch der westliche Block immer stärker konsolidierte. Anfang Mai 1947 scheiterte die Koalition zwischen den Kommunisten und Konservativen in Frankreich. Einige Tage später verließen auch die italienischen Kommunisten die Regierung. 22 Tatjana V. Volokitina (red.), Sovetskij faktor v vostočnoj Evrope 1944–1953 [= Der sowjetische Faktor in Osteuropa 1944–1953], Bd. 1: 1944–1948. Moskau 1999, 463.
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Die Zuspitzung der Widersprüche zwischen Ost und West beschleunigte auch den Spaltungsprozess Deutschlands. Es war der UdSSR gleich nach der Verkündigung des Marshallplans bewusst, dass die Sanierung der westdeutschen Wirtschaft von entsprechenden politischen Aktionen begleitet sein würde, und zwar: von der Bildung eines westdeutschen Staates und der Integration des gesamten wirtschaftlichen Potenzials der westlichen Besatzungszone Deutschlands in die Strukturen des antisowjetischen Blocks. Moskau versuchte diesem Prozess mit verschiedenen Manövern Einhalt zu gebieten. Am 15. März 1948 fand ein Treffen Stalins mit dem Oberkommandierenden der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Marschall Vasilij D. Sokolovskij, und dessen politischem Berater, Vladimir S. Semenov, statt. Stalin war der Meinung, dass es nicht mehr ausreiche, mit Worten gegen die westliche Politik zu protestieren. Um Druck auf die Westmächte auszuüben, musste man die Kommunikation zwischen dem östlichen und den westlichen Sektoren Berlins einschränken. Am 20. März 1948 verließ der Leiter der SMAD den Alliierten Kontrollrat. Als direkte Folge hörte dieses Organ praktisch zu existieren auf.23 Die am 20. Juni 1948 in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands begonnene Währungsreform wurde von Moskau als ein einseitiger Akt des Westens und als Provokation bezeichnet und diente als unmittelbarer Vorwand für die Blockade Westberlins. Am 24. Juni 1948 wurde jede Kommunikation auf dem Land- und Wasserweg zwischen Westberlin und den westlichen Zonen gesperrt. Die Hauptforderung Stalins an die Westmächte, die er am 2. August 1948 formulierte, lautete: die Westmächte müssen von der Ausweitung der Währungsreform auf Westberlin absehen. Die auf Initiative des US-Militärgouverneurs, General Lucius D. Clay, organisierte Luftbrücke für die Versorgung Westberlins war für Moskau, ja und auch für die westliche Öffentlichkeit, völlig unerwartet. Kaum jemand hatte es für möglich gehalten, eine Zwei-Millionen-Stadt regelmäßig über die Luft zu versorgen. Aber als dies trotzdem geschah, büßte Moskau sein allerwichtigstes Instrument, die Verbindungslinien, ein. Im Mai 1949 beendete die UdSSR die Blockade. Man muss allerdings festhalten, dass während dieser außergewöhnlich gefährlichen Zuspitzung des Konflikts zwischen Ost und West beide Seiten versuchten, einer direkten militärischen Konfrontation auszuweichen. So unternahm beispielsweise die sowjetische Luftwaffe keinerlei Versuche, die Luftbrücke zu stören. Beide spielten 23 M. M. Narinskij, Narastanie konfrontacii: plan Maršalla, Berlinskij krizis [= Das Heraufziehen der Konfrontation: der Marschallplan und die Berlinkrise], in: Jurij N. Afanas’ev (Hg.), Sovetskoe obščestvo: vozniknovenie, razvitie, istoričesij final [= Die sowjetische Gesellschaft: Entstehung, Entwicklung, historisches Finale], Bd. 2. Apogej i krach stalinizma [= Höhepunkt und Untergang des Stalinismus], Moskau 1997, 54–89.
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nicht Vabanque. In Konfliktsituationen hielten sie sich an bestimmte Regeln, was verhinderte, dass der „Kalte Krieg“ zu einem „heißen“ wurde. Die Berlin-Krise verstärkte die Spaltung Deutschlands und beschleunigte den Prozess der Bildung von zwei deutschen Staaten – der BRD und der DDR. Die erste Etappe der Heranführung der „Volksdemokratien“ an die in der UdSSR herrschende Ideologie wurde durch dramatische Ereignisse vollendet: den Versuch eines Staatsstreichs in Prag im Februar 1948, der zum endgültigen Ausschluss der bürgerlichen Partner aus der Koalitionsregierung führte. Nach diesem Ereignis begann die zweite Phase der Stärkung des Ostblocks. Ihren Anfang bildete der sowjetisch-jugoslawische Konflikt. Die jugoslawischen Kommunisten galten als die radikalsten im ganzen Ostblock. Tito sabotierte Stalins Forderungen, einen Kompromiss mit links-bürgerlichen Kräften einzugehen. Bereits Ende 1945 kämpfte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) alle Oppositionsparteien nieder und begann, radikale wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen. Man kann sagen, dass die jugoslawischen Kommunisten in dieser Beziehung den übrigen Länder des Ostblocks um ungefähr zwei Jahre voraus waren. Aber weil sie eigenständig handelten und nur schwer die Einmischung der Sowjetunion in ihre inneren Angelegenheiten ertrugen, war Stalin ihnen gegenüber von Anfang an sehr skeptisch. Stalin schätzte an Kommunisten nicht den politischen Eifer, sondern die Bereitschaft zu bedingungslosem Gehorsam. In einem nicht-öffentlichen Vortrag über die Situation der Kommunistischen Partei Jugoslawiens im September 1947 beschuldigte Moskau die KPJ, hegemonistische Bestrebungen in Südosteuropa zu haben. Angeblich mischte sich die KPJ in die inneren Angelegenheiten der „brüderlichen“ Nachbarländer Bulgarien und Albanien ein. Immer öfter hielten sowjetische Politiker, Diplomaten und Militärangehörige der KPJ-Führung vor, die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Jugoslawiens herunterzuspielen, die militärische Strategie Titos zu hoch zu preisen und das „militärische Genie“ Stalins zu schmälern. Am 20. Juni 1948 legte die jugoslawische Führung einen offiziellen Protest gegen die Unterstützung von feindlichen Elementen in der KPJ durch die Sowjetunion ein. Das Kominform urteilte die KPJ am 28. Juni 1948 ab und forderte die „gesunden Kräfte“ in der Partei auf, entweder die Leitung zu zwingen, „offen und ehrlich“ ihre Fehler zuzugeben, oder Tito abzusetzen. Dieser sowjetisch-jugoslawische Konflikt wurde gewissermaßen ein Signal für den gesamten Ostblock. Der Terror, der sich zuvor lediglich gegen Nicht-Kommunisten richtete, erfasste nun auch Kommunisten. Ende 1948 begann Moskau einen heftigen Angriff auf die national-kommunistischen Kräfte in den Ländern Zentral- und Osteuropas. Sie wurden beschuldigt, eine Neigung für Tito zu haben und in Schauprozessen
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als „Abtrünnige“, „Agenten des Imperialismus“ und „Titoisten“ gebrandmarkt. Viele von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, wie der ehemalige Innenminister Ungarns, László Rajk, und einer der Führer der bulgarischen Kommunisten, Trajčo Kostov. All diese Prozesse waren als Ermahnung für Tito organisiert, der jedoch, zum großen Bedauern Stalins, außerhalb der Reichweite des Kreml blieb. Wenn in den 1930er Jahren der Kampf gegen den Trotzkismus, der für viele Kommunisten mit dem Tod endete, die bolschewistische Partei und die Komintern in großem Maße zusammenschweißte, so spielte nach zehn Jahren der Kampf gegen den „Titoismus“ eine ähnliche Rolle im Verhältnis zu den „Volksdemokratien“. Diese Staaten sollten in kurzer Zeit jenen Entwicklungsweg meistern, für den die Sowjetunion jahrzehntelang gebraucht hatte. Die herrschenden Parteien wurden, wie auch in der UdSSR, zur Triebkraft der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Revolution, die von oben und mit bürokratischen Methoden durchgeführt wurde. Ab dieser Zeit – den Jahren 1948/49 – kann man von der Errichtung totalitärer Regime in den von der UdSSR abhängigen osteuropäischen Staaten sprechen. Nun wurde jeder dieser Staaten gleichsam eine Sowjetunion in Miniaturformat, mit einem eigenen „Mini-Stalin“ an der Spitze und mit Strafbehörden, die alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens kontrollierten. Die Zeit, als die „Volksdemokratien“ Anspruch auf die Rolle eines Symbols der neuen Demokratie erhoben und sich qualitativ vom sowjetischen Regime unterschieden, war zu Ende. Das theoretische Organ des ZK der VKP(b), das Journal „Bol’ševik“ schrieb: „Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die von Karl Marx und Friedrich Engels entdeckt sowie von Lenin und Stalin getestet und entwickelt worden sind, […] sind für alle Länder verpflichtend“24.
Die UdSSR in der Periode des „späten Stalinismus“
Der Sieg über das „Dritte Reich“, der einen so hohen Preis gekostet hatte, wurde von der sowjetischen Bevölkerung als der Beginn eines neuen Lebens wahrgenommen. Das Volk erwartete ein glückliches Leben, das, wie es schien, der Sieg mit sich bringen würde. Kaum jemand nahm an, dass nach dem Krieg in der UdSSR das absurde System, wie es in den 1930er Jahren existiert hatte, wiederaufgebaut werden könnte. Aller24 Siehe dazu Konstantin I. Muchanov, Obščie zakonomernosti i osobennosti perechoda k socializmu v različnych stranach [= Allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten des Übergangs zum Sozialismus in verschiedenen Staaten], Moskau 1962.
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dings sah die stalinistische Clique nach dem Krieg die Neu-Disziplinierung des durch seinen Sieg stolzen Volkes als ihre wichtigste Aufgabe an, genauso wie dessen erneute Verwandlung in Zahnräder des totalitären Mechanismus. Einer der ersten Schläge war gegen die Rote Armee gerichtet, die nach der Niederlage Deutschlands im Volk ein besonderes Ansehen genoss. Die führenden militärischen Befehlshaber wurden von ihren Posten abgesetzt. Anfang 1946 begann eine Kampagne gegen Marschall Georgij K. Žukov. Žukov wurde der ungesetzlichen Aneignung von Trophäen und der Aufbauschung seiner Verdienste bei der Niederringung Hitler-Deutschlands beschuldigt. Stalin beschuldigte Žukov „sich die Durchführung von Operationen angeeignet [zu haben], zu denen er keinerlei Beziehungen hatte“. Die obersten Befehlshaber, mit Ausnahme des Leiters der Hauptverwaltung der Kader, Fedor I. Golikov, sagten zur Unterstützung Žukovs aus. Allerdings beschuldigten die Mitglieder des Politbüros Žukov des „Bonapartismus“25. Am 9. Juni 1946 wurde Žukov von seinem Posten als Oberkommandant der Landstreitkräfte abgezogen und zum Oberkommandierenden des Militärkreis Odessa degradiert. Am 20. Jänner 1948 fasste das Politbüro den Beschluss ‚‘Über Genossen Žukov G. K., Marschall der Sowjetunion‘‘. In diesem Beschluss hieß es: „Genosse Žukov hat in seiner Funktion als Oberkommandierender der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Handlungen zugelassen, die für den hohen Rang eines Mitglieds der VKP(b) und für die Ehre eines Kommandanten der Sowjetischen Armee schändlich sind [...] Žukov hat seinen Dienstposten missbraucht und begab sich auf Plünderungen, nachdem er zuvor die Aneignung und den Ausfuhr einer großen Anzahl von verschiedenen Wertgegenständen aus Deutschland für seine persönlichen Bedürfnisse betrieben hatte [...] Als er vor eine Kommission gerufen wurde, um Erklärungen zu geben, benahm sich Genosse Žukov in einer Art und Weise, wie es sich für ein Parteimitglied und einen Kommandanten der Sowjetischen Arme nicht gehört er war in seinen Erklärungen nicht aufrichtig und versuchte allerlei zu verbergen und die Fakten seines antiparteilichen Verhaltens zu verschleiern. Die oben angeführten Taten und Žukovs Verhalten bei der Kommission charakterisieren ihn als einen Menschen, der in politischer und moralischer Beziehung verkommen ist.“26
25 Ivan S. Konev, Zapiski komandujuščego frontom [= Memoiren des Kommandierenden an der Front], Moskau 1991, 594–599. 26 Jurij N. Žukov, Stalin: tajny vlasti [Stalin: Geheimnisse der Macht], Moskau 2005, 424f.
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Allerdings rang sich Stalin auch nach diesem Beschluss nicht dazu durch, Žukov zu verhaften. Im Jahr 1948 wurde Žukov auf den Posten des Kommandanten des Uraler Militärbezirks versetzt. Im Jahr 1947 wurde eine gründliche Säuberung des sowjetischen Offizierskorps durchgeführt. Die Generäle Gordov und Kulik wurden hingerichtet, weil sie angeblich einen Umsturz der Sowjetmacht vorbereitet und außerdem die Kommunistische Partei und deren Leitung diffamiert hatten. Nicht nur die Streitkräfte, sondern auch die Intelligenz, die während des Krieges aufgrund der Lockerung der Kontrollmechanismen zusätzliche Privilegien erhalten hatte, wurde zur Ordnung gerufen. Im August 1946 begann eine Kampagne zur Stärkung der Parteikontrolle über das intellektuelle Leben des Landes, die als „Ždanovščina“ in die Geschichte einging, obwohl Stalin ihr Hauptinitiator war. Der Parteiideologe Andrej A. Ždanov machte sich zum Verteidiger des „sozialistischen Realismus“ und erklärte dem „Entstehen neuer Ideen und ausländischer Einflüsse, die den Geist des Kommunismus untergraben“, den Krieg. Am 14. August 1946 ließ das ZK der VKP (b) an den Journalen „Leningrad“ und „Zvezda“27 ihren Unwillen aus, weil diese Werke der Dichterin Anna A. Achmatova und des Satirikers Michail M. Zoščenko veröffentlicht hatten. Nach einigen Tagen wurden diese Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ždanov erklärte, dass in Zoščenkos „Priključenija obez‘jany“[Die Abenteuer eines Affen] eine „demonstrativ häßliche, karikaturistische und abgeschmackte“ Darstellung des Lebens der sowjetischen Menschen enthalten sei. Dies war für Zoščenko notwendig, „um dem Affen die schändliche, antisowjetisch vergiftete Sentenz in den Mund zu legen, dass es sich im Zoo besser lebte, als in Freiheit, und dass man im Käfig leichter atmen könne, als unter sowjetischen Menschen.“ Dem zum ersten Sekretär der Leitung des Schriftstellerverbands der UdSSR ernannten Aleksandr A. Fadeev wurde aufgetragen, in der Schriftstellerorganisation Ordnung zu schaffen. Am 4. September 1946 wurden durch einen weiteren ZK-Beschluss die „ideenlose“ Filme „Bol‘šuju žizn‘“, „Admiral Nachimov“ und der zweite Teil von „Ivan Groznyj“ kritisiert. Der bedeutende Regisseur Sergej M. Ėjzenštejn wurde dafür kritisiert, dass
27 Beschlussentwurf des Orgbjuro des ZK der VKP(b) „Zu den Zeitschriften ‚Zvezda‘ und ‚Leningrad‘ vom 14.8.1946 mit den Korrekturen von Stalin. Fond Aleksandr N. Jakovlev, Dok. Nr. 19, abrufbar unter http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69295, 23.11.2012, 15:43 Uhr, Microsoft Internet Explorer.
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„er im zweiten Teil des Filmes ‚Ivan Groznyj‘ [seine] Unwissenheit in der Darstellung historischer Fakten zum Vorschein brachte, indem er die progressive Truppe der Opritschniki von Ivan Groznyj als eine Horde Degenerierter, ähnlich dem amerikanischen Ku-KluxClan, darstellte, und Ivan Groznyj, einen Menschen mit starken Willen und Charakter, als charakterlich schwach und willenlos skizzierte, so in der Art wie Hamlet“.28
Ždanov betrachtete die Kultur als Antriebsriemen der Partei in Sachen Erziehung und Propaganda; er durchsetzte das Land mit nationalistischen Strömungen und brachte den Ausdruck von der „Kriecherei vor dem Westen“ in Umlauf. Der Westen wurde immer stärker dämonisiert, die Autoritäten warnten unablässig vor dessen „zersetzendem Einfluss“. Im Februar 1947 wurden schließlich Eheschließungen zwischen sowjetischen Bürgern und Ausländern verboten.29 Stalin verurteilte die noch zur Zeit Peters I. aufgekommene Tradition der Nachahmung des Westens aufs Schärfste: „Peter I. war auch ein großer Staatsmann, aber er verhielt sich Ausländern gegenüber viel zu liberal, er hat die Tore zu weit geöffnet und den ausländischen Einfluss ins Land gelassen, er ließ die „Verdeutschung“ Russlands zu,“ erklärte Stalin im Februar 1947 dem Kinoregisseur Ėjzenštejn.30 Der neue ideologische Kurs war direkt mit der Intensivierung der Repressionen verbunden. Die Anzahl der Gefangenen stieg abrupt an, besonders nach dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 4. Juni 1947, der für den „Diebstahl von Staats- oder Gemeinschaftseigentum“ eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren vorsah („Erlass über die Ährchen“)31. Im Laufe der nächsten Jahre (bis zu Stalins Tod) wurden auf Grundlage dieses Erlasses mehr als eine Million Menschen verurteilt. Im Jahr 1950 gab es in den Lagern des Gulag 2,6 Millionen Häftlinge, mehr als in den 1930er Jahren, den Jahren des „Großen Terrors“. Außerdem füllten 200.000 Inhaftierte die Gefängnisse und die Anzahl der Menschen, die in Sondersiedlungen verbannt worden waren, 28 Beschluss des Orgbjuro des ZK der VKP(b) Zum Kinofilm „Bol’šaja žizn‘“ vom 4.9.1946. Siehe dazu Aleksandr N. Jakovlev (Hg.), Vlast‘ i chudožestvennaja intelligencija. Dokumenty ZK RKP(b) —VKP(b), VČK — OGPU — NKVD o kul’turnoj politike. 1917–1953 [= Macht und die kunstschaffende Intelligenz. Dokumente des ZK der RKP(b) – VKP(b) – VČK –OGPU – NKVD über die Kulturpolitik 1917–1953], Moskau 1999, 598–602. 29 Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b) „Über das Verbot von Ehen zwischen Bürgern der UdSSR und Ausländern“ vom 15.02.1947. Fond Aleksandr N. Jakovlev, Dok. Nr. 36, abrufbar unter http://www.alexanderyakovlev.org/fond/issues-doc/69332, 23.11.2012, 10:13 Uhr, Microsoft Internet Explorer. 30 Grigorij B. Mar’jamov, Kremlevskij cenzor. Stalin smotrit kino [= Der Zensor im Kreml. Stalin geht ins Kino], Moskau 1992, 84–92. 31 Siehe dazu: Vedomosti Verchnogo Soveta SSSR [= Anzeiger des Obersten Sowjet der UdSSR], 1947, Nr. 19.
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wuchs auf 2,75 Millionen an. Im Februar 1948 wurden „Speziallager mit verschärften Bedingungen“ geschaffen, in erster Linie für politische Gefangene. Zu Beginn der 1950er Jahre befanden sich in diesen Lagern 357.000 Menschen.32 Bei der Suche nach Bedrohungen, die die Erneuerung des früheren Regime-Kurses rechtfertigen sollten, versuchte die stalinistische Leitung die nationalistische Karte auszuspielen. Der neue Gegenspieler sollte nicht nur die Grundfeste des Sozialismus bedrohen, sondern auch die „russische Seele“. Dieser Gegenspieler sollte alles verkörpern, was dem russischen Menschen wesensfremd war: das Fehlen von Nationalstolz, die Verehrung bürgerlicher Werte, Doppelzüngigkeit, Feigheit und Machtgier. In die Vorstellung dieser Gegenspieler wurden schrittweise die Juden hineingedrängt. Ungefähr drei Jahre nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ begann in der UdSSR eine antisemitische Kampagne, die ihrem Charakter nach auf verblüffende Weise an die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten erinnerte. Allerdings verhalfen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten Osteuropas zur selben Zeit dem alten jüdischen Traum von der Schaffung eines eigenen Staates zur Erfüllung. Die massive diplomatische und politische Unterstützung von Seiten der Sowjetunion sowie die militärische Hilfe der von der UdSSR abhängigen Tschechoslowakei leisteten einen großen Beitrag zu der im Mai 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel. Bei den sowjetischen Juden löste die Gründung dieses Staates einen nie dagewesenen Jubel aus. Sogar loyale Parteifunktionäre jüdischer Abstammung wurden von dieser Begeisterung angesteckt. Vier Monate zuvor, im Jänner 1948, hatte Stalin den Mord an dem Schauspieler und Vorsitzenden des 1942 gegründeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK/JAFK), Solomon Michoėl‘s, befohlen, der als Symbol des sowjetischen Judentums galt. Dadurch erhielt der Antisemitismus, der im Land immer mehr an Kraft gewann, beinahe einen offiziellen Charakter. Im Jänner 1949 begannen die sowjetischen Massenmedien eine propagandistische Kampagne gegen die sogenannten „Kosmopoliten“, die klar gegen die Juden der UdSSR gerichtet war. Der jüdische Dichter Perec Markiš schrieb: „Hitler wollte uns physisch zerstören, Stalin möchte das auf geistiger Ebene machen.“33 Am 28. Jänner 1949 wurde in der „Pravda“ ein reaktionärer Artikel „Über eine antipatriotische Gruppe von Theaterkritikern“ mit jüdischen Familiennamen veröf32 Viktor N. Zemskov, GULAG (istoriko-sociologičeskij aspekt) [= GULAG (der historisch-soziologische Aspekt], in: Sociologičeskie issledovanija, 1991, Nr. 6, 10–27; ebd., 1991, Nr. 7, 3–16, abrufbar unter: http://www.hrono.ru/statii/2001/zemskov.html, 23.11.2012, 15:43 Uhr, Microsoft Internet Explorer.; Ljuks, Istorija, 358. 33 Arkadij I. Vaksberg, Iz ada v raj i obratno [= Aus der Hölle ins Paradies und zurück], Moskau 2003, 66.
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fentlicht, in dem dieser ein „heimatloser Kosmopolitismus“ unterstellt wurde. Die wichtigste Parteizeitung schrieb: „Dieser rasende Kosmopolitismus ist nicht nur volksfeindlich, sondern auch fruchtlos. Er ist schädlich, wie jene Parasiten in der Pflanzenwelt, die die Keime von nützlichem Getreide anknabbern. Er dient als Wegbereiter für die uns feindlich gesinnten bourgeoisen, reaktionären Einflüsse [...] In der Theaterkritik hat sich eine antipatriotische Gruppe von Nachzüglern einer bourgeoisen Schöngeisterei herausgebildet, die unsere Presse durchdringt und auf den Seiten des Journals ‚Teatr‘ und der Zeitung ‚Sovetskoe iskusstvo‘ äußerst ungeniert ihr Wesen treibt. Diese Kritiker haben ihre Verantwortung dem Volk gegenüber abgestreift, sie sind Vertreter des heimatlosen Kosmopolitismus, der dem sowjetischen Menschen zutiefst zuwider und sein Feind ist; sie stören die Entwicklung der sowjetischen Literatur, sie bremsen ihre Vorwärtskomme. Ihnen ist das Gefühl von sowjetischem Nationalstolz fremd.“34
„Antipatriotisches Verhalten“ wurde für Stalin ein Synonym für den Ausdruck „Vaterlandsverrat“ und der Begriff „Antipatriot“ ein Synonym für den Ausdruck „Volksfeind“. Die Theaterkritiker stellten nach Ansicht der stalinistischen Propaganda mit ihrem Verhalten den Gipfel der Abartigkeit dar. Die Tatsache, dass sie nicht einzeln, sondern als „Gruppe“ auftraten, machte ihr Verhalten besonders verwerflich. Nur wenige sowjetische Bürger fanden den Mut, gegen diese von oben geschürten Hetzstimmungen zu protestieren. Zu ihnen zählte der bekannte Mikrobiologe und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Nikolaj F. Gamaleja, der im Februar 1949 an Stalin schrieb: „Hochverehrter Iosif Vissarionovič! Als einer der ältesten Wissenschaftler unseres Landes wende ich mich an Sie mit diesem Brief, der absolut keine persönlichen Motive verfolgt, sondern eine äußerst wichtige Frage berührt, die große gesellschaftspolitische Bedeutung hat. [...] Für mich und auch für viele meiner Freunde und Bekannte stellt das Wiederaufleben einer solch schändlichen Erscheinung wie des Antisemitismus, der vor einigen Jahren in unserem Land wieder aufgetaucht ist und der, so seltsam es ist, erneut beginnt, üppige Blüten zu treiben und dabei vielfältige Arten und Formen einnimmt, eine völlig unverständliche und verwunderliche Tatsache dar. Der Antisemitismus beginnt, die gesunde Atmosphäre unserer sowjetischen Gesellschaft zu vergiften, er beginnt, die große Freundschaft der Völker zu zerstören. Völlig unbestreitbaren und offensichtlichen Anzeichen nach zu urteilen, 34 Siehe dazu Pravda, 28.1.1949; siehe auch: Aleksandr N. Jakovlev (Hg.), Stalin i kosmopolitizm. 1945–1953. Dokumenty Agitpropa CK [= Stalin und der Kosmopolitismus. 1945–1953. Dokumente der Agitprop des ZK], Moskau 2005, 232–241.
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kommt der wieder aufgetauchte Antisemitismus nicht von unten, von den Volksmassen, unter denen es keinerlei Feindschaft gegenüber dem jüdischen Volk gibt, sondern er wird von irgendjemandes unsichtbarer Hand von oben gelenkt. Der Antisemitismus geht jetzt von irgendwelchen hohen Persönlichkeiten aus, die sich in den leitenden Parteiorganen festgesetzt haben und die für die Auswahl und die Besetzung der [politischen] Kader zuständig sind. [...] Dass der Antisemitismus von oben kommt und von irgendjemandes ‚hoher Hand‘ gelenkt wird, ist zumindest daraus ersichtlich, dass in den letzten Jahren fast kein einziger Jude in den Posten eines Ministers bzw. -stellvertreters, eines Leiters von ‚Glavki‘, eines Direktors von [universitären] Instituten und wissenschaftlichen Organisationen ernannt worden ist. Personen, die diese Posten einnehmen, werden schrittweise abgebaut und durch Russen ersetzt. Für die verschiedenen wählbaren Ämter werden Juden nicht nominiert. Wenn irgendwo untergeordnete Organisationen oder Einzelpersonen Juden [für einen gewissen Posten] nominieren, dann wenden höherstehende Organe (für gewöhnlich die entsprechenden Abteilungen des ZK) die Kandidatur der Juden ab. Dies konnte man sowohl während der Wahlen zum Obersten Sowjet sehen, als auch zur Akademie der Wissenschaften der UdSSR, sowie zur Akademie der Wissenschaften der Unionsrepubliken, zur Akademie der medizinischen Wissenschaften, zur Akademie der pädagogischen Wissenschaften usw. Nur wegen des offenkundigen Antisemitismus blieben herausragende Gelehrte außerhalb der Ränge der verschiedenen Akademien, während zur selben Zeit verschiedene Nichtskönner, die bisweilen nicht einmal Spezialisten bekannt sind, sich zu ordentlichen Mitgliedern der Akademien der Wissenschaften ‚erwählt‘ fanden. Besonders bedauerlich ist die Tatsache, dass man der talentierten jüdischen Jugend die Wege verbaut. Eine ganze Reihe von Professoren, mit denen mich eine langjährige Freundschaft verbindet, besuchen mich und erzählen mir Vorkommnisse, von denen mir meine [beinahe] gänzlich gelichteten Haare zu Berge stehen. Man legt mir Fakten vor, dass in den letzten 2–3 Jahren beinahe kein einziger Jude zur Doktorarbeit an den zahlreichen medizinischen Hochschulen unseres Landes zugelassen wurde, ungeachtet der beharrlichen Empfehlungen von bedeutenden Wissenschaftlern. [...] Ich bin gebürtiger Ukrainer, ich bin unter Juden aufgewachsen und kenne dieses hochbegabte Volk gut, das ebenso wie andere Völker unseres Landes Russland liebt, dessen Angehörige es als ihre Heimat ansehen und immer, sogar in der Emigration, davon träumen, welchen Nutzen sie ihrem Vaterland Russland bringen könnten. Meine Pflicht und mein Gewissen fordern von mir, dass ich Ihnen aus vollem Hals kundtue, was mir auf der Seele lastete. Ich denke, dass in Bezug auf die Juden zurzeit in unserem Land etwas Ungutes geschieht.“ 35
Mit Herbst 1948 begann sich die anfänglich positive Einstellung der UdSSR zum Staat Israel zu verändern. Nun wurden die proisraelischen Sympathien der sowjetischen Juden von der stalinistischen Clique als „antipatriotisches Verhalten“ ange35 AP RF, F. 3, op. 32, d. 11, 167f.; ebd., F. 3, op. 32, d. 12, 83f.; zitiert nach: Vaksberg, ada.
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sehen. Der Schriftsteller und Jude Ilja G. Ehrenburg veröffentlichte im Auftrag der Behörden am 21. September 1948 in der „Pravda“ einen Artikel, in dem er den sowjetischen Juden zu verstehen gab, dass Israel als Zufluchtsort vor dem Antisemitismus für die Juden aus kapitalistischen Ländern geschaffen wurde und nicht für diejenigen aus der UdSSR, wo kein Antisemitismus existierte. Die jüdische Frage kann nur der Sozialismus lösen, und nicht ein jüdischer Staat: „Jeder sowjetische Bürger versteht, dass es nicht nur um den nationalen Charakter eines Staates geht, sondern um seinen sozialen Aufbau. Der Bürger einer sozialistischen Gesellschaft sieht in den Menschen eines beliebigen bourgeoisen Landes, darunter auch in den Bewohnern von Israel, Wanderer, die sich noch nicht aus dem dunklen Wald herausgearbeitet haben. Den Bürger einer sozialistischen Gesellschaft kann niemals das Schicksal von Menschen verführen, die unter dem Joch der kapitalistischen Ausbeutung darben.“36
Allerdings ertönte anlässlich der Feierlichkeiten des jüdischen Neuen Jahrs vor der Moskauer Synagoge ein feierlicher Willkommensgruß für die israelische Botschafterin in der UdSSR, Golda Meir. Tausende Juden nahmen an dieser spontanen Demonstration teil und verletzten dadurch ein Grundprinzip des Stalinismus, der nur eine Art von „Spontanität“ zuließ – nämlich die kontrollierte und von oben regulierte. „Die Straße vor der Synagoge [...] war vollgestopft mit Menschen. Dort gab es Menschen aller Generationen: sowohl Offiziere der Roten Armee, als auch Soldaten und Jugendliche und auch Kleinkinder auf den Händen ihrer Eltern. Für gewöhnlich kamen an den Feiertagen ungefähr 100–200 Menschen in die Synagoge – dort erwartete uns damals eine 50.000-köpfige Menschenmenge [...] Gute, beherzte Juden sind gekommen, um bei uns zu sein, sind gekommen um ihr Zugehörigkeitsgefühl zu demonstrieren und die Gründung des Staates Israel zu feiern. Nach einigen Sekunden hatten sie mich umringt, beinahe erdrückt, beinahe auf die Hände gehoben, und haben dabei immer und immer wieder meinen Namen gerufen. Endlich machten sie Platz, damit ich in die Synagoge gehen konnte, aber dort dauerte die Demonstration an [...] Ohne Paraden, ohne Reden, faktisch ohne Worte drückten die Juden Moskaus ihr tiefes Bestreben, ihr Bedürfnis aus, am Wunder der Gründung des jüdischen Staates teilzunehmen, und ich war für sie ein Symbol dieses Staates,“
erinnerte sich Golda Meir.37 36 Il’ja G. Ėrenburg, Po povodu odnogo pis’ma [= Anlässlich eines Briefes], in: Pravda, 21.9.1948. 37 Golda Meir, Moja žizn‘ [= Mein Leben], Čimkent 1997.
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Die Reaktion der Behörden ließ nicht lange auf sich warten: Am 20. November 1948 wurde durch einen Beschluss des Büros des Ministerrats der UdSSR das Jüdische Antifaschistische Komitee aufgelöst und geschlossen „als ein Zentrum der antisowjetischen Propaganda“. Im Dezember wurden der Vorsitzende des JAK, I. Fefer, und der Direktor des Jüdischen Theaters in Moskau, V. Zuskin, verhaftet. Anfang des Jahres 1949 wurden einige Dutzend Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet. Davor noch hatte der Minister für Staatssicherheit der UdSSR, Viktor S. Abakumov, in einem Bericht an Stalin, Molotov, Ždanov und Aleksej A. Kuznecov vom 26. März 1948 geschrieben, dass „die Führer des Jüdischen Antifaschistischen Komitees als aktive Nationalisten, die sich an den Amerikanern orientieren, im Grunde antisowjetische nationalistische Arbeit betreiben“.38 Allerdings wurde die Ende 1948/Anfang 1949 begonnene antisemitische Kampagne nach einigen Monaten aus bisher unbekannten Gründen eingestellt. Aleksandr A. Fadeev berichtete von einem Ausspruch Stalins, der an einen Befehl erinnerte: „Genossen, die Aufdeckung von Pseudonymen ist unzumutbar, das riecht nach Antisemitismus.“39 Der für Anfang 1949 erwartete Prozess gegen die Mitglieder der JAK kam erst Mitte 1952 zustande.40 Die Organe der Staatssicherheit waren mit anderen Dingen beschäftigt: „Berater“ aus dem Ministerium für Staatssicherheit (MGB) nahmen aktiv an der Vorbereitung und Durchführung von Schauprozessen gegen so genannte „Titoisten“ in Ungarn (Rajk-Prozess im Oktober 1949) und Bulgarien (Prozess gegen Kostov im Dezember 1949) teil. Aber besonders intensiv fabrizierten sie seit Anfang 1949 die so genannte „Leningrader Affäre“, mit der die Kremlführung eine zweite innenpolitische Front eröffnete. Nun wurde im Kreml nicht nur gegen den so genannten „Kosmopolitismus“, d. h. gegen die Juden gekämpft, sondern auch gegen den so genannten „russischen Chauvinismus“, der angeblich von der „Leningrader Fraktion“ in der Partei propagiert wurde. Im Gegensatz zu der schrillen und lauten antisemitischen Kampagne war die „Leningrader Affäre“ ein „stiller Krieg“. Ein offener Kampf gegen den „russischen Chau38 Il’ja Al’man, Evrejskij antifašistskij komitet v SSSR 1941–1948. Dokumental’naja istorija [= Das jüdische antifaschistische Komitee in der UdSSR 1941–1948. Eine Geschichte in Dokumenten], Moskau 1996, 359f. 39 Il’ja G. Ėrenburg, Ljudi, gody, žisn‘ [= Leute, Jahre, Leben], Bd. VI, Moskau 1990, 32. 40 Vladimir P. Naumov (red.), Nepravednyj sud. Poslednij stalinskij rasstrel. Stenogramma sudebnogo processa nad členami Evrejskogo antifašistkogo komiteta [= Sündiges Leben. Die letzte stalinistische Erschießung. Stenogramm des Gerichtsprozesses gegen Mitglieder des jüdischen antifaschistischen Komitees], Moskau 1994.
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vinismus“ passte schlecht zu der von der Partei durchgeführten Verherrlichung der russischen Nation. Der Kampf gegen die Leningrader (großrussische) Fraktion zeugt erneut von der Dualität des Bolschewismus. Ungeachtet dessen, dass die Neigung des Bolschewismus zur russischen Nationalidee Ende der 1940er Jahre begann, krankhafte Formen anzunehmen, bewahrte er in der Beziehung zu dieser Idee dennoch eine gewisse Distanz, er ging nicht zur Gänze in ihr auf. Der wahre Grund des Konflikts mit der Leningrader Fraktion war allerdings nicht nur die Ideologie, sondern in erster Linie eine Frage der Macht. Der Konkurrenzkampf in Stalins engstem Umfeld, den er geflissentlich anheizte, kulminierte bei der Erörterung der Frage seiner Nachfolger. In einem vertraulichen Gespräch, das vermutlich 1946 stattfand, nannte Stalin zwei Kandidaten, die seiner Meinung nach am besten für diese Rolle geeignet waren. Der Leiter von Gosplan der UdSSR, Nikolaj A. Voznesenskij, sollte den Posten des Regierungschefs übernehmen und ZK-Sekretär Kuznecov jenen des Generalsekretärs der Partei. Mit diesen möglichen Anwärtern auf die höchsten Posten in Partei und Staat war der Chefideologe der Partei, Ždanov, eng verbunden, der beide von der gemeinsamen Arbeit in Leningrad gut kannte. Nach Ždanovs Tod im August 1948 begannen seine Gegenspieler, in erster Linie Georgij M. Malenkov und Berija, den Kampf gegen die so genannte Leningrader Fraktion. Die bekanntesten Opfer dieses Kampfes wurden die von Stalin nominierten Nachfolger. Am 15. Februar 1949 musste Kuznecov seine Pflichten als Sekretär des ZK wegen seiner „antiparteilichen Aktivität“ zurücklegen und am 5. März 1949 verlor Voznesenskij seinen Posten als Gosplan-Chef. Nach einigen Monaten wurden beide verhaftet, der gesamte Leningrader Parteiapparat einer grundlegenden Säuberung unterzogen. Es begann die Vorbereitung für einen neuen Prozess, die etwa ein Jahr dauerte. In diesem Zeitraum wurde die Todesstrafe, die im Mai 1947 in der UdSSR abgeschafft worden war, wieder eingeführt. Am 1. Oktober 1950 wurden die Angeklagten der „Leningrader Affäre“ zum Tode verurteilt. Unter anderem wurden sie separatistischer Tendenzen beschuldigt – angeblich hätten sie Vorrechte für die RSFSR gegenüber anderen Republiken gefordert, sich für das Zubilligen einer größeren Selbstständigkeit des Leningrader Parteikomitees und für die Bildung einer eigenständigen kommunistischen Partei Russlands eingesetzt. Diese Anschuldigungen trugen im Grund demagogischen Charakter, allerdings enthielten sie möglicherweise auch ein Körnchen Wahrheit: Zweifelsfrei gab es auch russische Kommunisten, die Stalins „Liebeserklärung“ an das russische Volk wörtlich verstanden und sich inspiriert fühlten, die Interessen Russlands im Rahmen der Sowjetunion zu verfechten. Aber der Wunsch nach größerer Selbstständigkeit für Russland war objektiv gegen die absolute Macht der stalinistischen Leitung gerichtet, die jede unabhängige Aufwallung im Keim erstickte, sowohl in der Partei als auch im
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Volk. Dadurch können zumindest teilweise die brutalen Maßnahmen erklärt werden, die vom Regime gegen die Leningrader ergriffen wurden.41 Nach Abschluss der „Leningrader Affäre“ konnte sich Stalin wieder mit der jüdischen Frage beschäftigen. Die Kampfkampagne gegen die Kosmopoliten der Jahre 1948/49, die den Antisemitismus enttabuisiert hatte, war nur ein verbaler Prolog für den zweiten, dieses Mal viel grausameren stalinistischen Feldzug gegen die Juden in den Jahren 1951/52. Dieser Feldzug begann nach dem Austausch der Leitung der Staatssicherheitsorgane, dessen wahre Gründe bis heute noch nicht völlig klar sind. Im Juli 1951 wurde MGB-Chef Abakumov, der Stalin auf diesem Posten seit dem Jahr 1946 ergeben gedient hatte, der Bagatellisierung der „jüdischen Gefahr“ beschuldigt, seines Postens enthoben und verhaftet. Im Mai 1952 begann das Militärtribunal in Moskau einen Geheimprozess gegen die in den Jahren 1948/49 verhafteten Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Noch vor Beginn des JAK-Prozesses wurden vom Politbüro die Anklageschrift und das Urteil bestätigt. Am 30. April 1952 schrieb der Minister für Staatssicherheit, Semen D. Ignaťev, an Stalin: „Ich überstelle Ihnen hiermit eine Kopie der Anklageschrift im Fall der jüdischen Nationalisten, der amerikanischen Spione Lozovskij, Fefer und anderer. Ich berichte, dass die Untersuchungsakte zur Ansicht an das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR gesendet wurde mit dem Vorschlag, Lozovskij, Fefer und alle ihre Komplizen, mit Ausnahme von Štern, zum Tod durch Erschießen zu verurteilen. Štern ist für zehn Jahre in einen abgelegenen Bezirk in die Verbannung zu schicken.“42
Im August 1952 wurden die vom Politbüro genannten 13 Menschen hingerichtet. Im Gegensatz zu 1949 beschränkte Stalin die Kampagne gegen die Juden in den Jahren 1951/52 nicht auf das Territorium der Sowjetunion. Er dehnte sie auf seine ganze Einflusssphäre aus. Ende 1952 kam es in den Ländern des Ostblocks zum ersten antisemitischen Schauprozess. Er war gegen den ehemaligen Generalsekretär des ZKs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Rudolf Slánský, und andere Vertreter der Prager Führung gerichtet. Die jüdische Herkunft der meisten Beschuldigten wurde während der Gerichtsverhandlung mehrmals unterstrichen. Slánský 41 Oleg Chlevnjuk/Joram Gorlickij, Cholodnyj mir. Stalin i zaveršenie stalinskoj diktatury [= Kalte Welt. Stalin und das Ende der stalinistischen Diktatur], Moskau 2011. 42 Ėlektronnaja evrejskaja ėnciklopedija [= Elektronische jüdische Enzyklopädie], Bd. 8, 236–256, abrufbar unter http://www.eleven.co.il/article/15418, 23.11.2012, 12:14 Uhr, Microsoft Internet Explorer.
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wurde die „Unterstützung der destruktiven Tätigkeit der Zionisten“ zur Last gelegt, elf Beschuldigte wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.43 Die Jagd auf die „Agenten des Zionismus“ und auf „Kosmopoliten“ überrollte die DDR, Ungarn, Rumänien und Polen. Einer der Führer der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Vaclav Kopecký, erklärte Ende 1951, dass vom Zionismus eine enorme Gefahr für die volksdemokratischen Regime ausgehe, dass er sich in eine eigene Art „Titoismus“ verwandle. Die sowjetische Propaganda verwandelte das jüdische Volk schrittweise in eine kollektive „persona non grata“. Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass den Juden, wie einer der Parteiideologen Česnokov Anfang 1953 unterstrich, „die sozialistischen Ideen gleichgültig sind“.44 Am Vorabend des „Falls Slánský“ hörte Löbl in Prag ähnliche Worte aus dem Mund seines Ermittlungsbeamten Drozda: „Die Partei ist nicht gegen die Juden, es sind die Juden, die gegen die Partei sind. Deshalb muss die Partei gegen die Juden kämpfen, um den Sozialismus zu schützen“.45 Während der Vorbereitung des „Falls Slánský“ begannen die Verhaftungen von bedeutenden Kreml-Ärzten, die Mehrheit davon jüdisch. Auf diese Weise war das ganze „sozialistische Lager“ ein einheitlicher Mechanismus, dessen Einzelteile gemäß dem Steuermann im Kreml ihre Funktionen erfüllten. Stalin interessierte sich für alle Einzelheiten sowohl im „Fall Slánský“ als auch in der sogenannten „Ärzteverschwörung“ und gab auch Regieanweisungen. Aus Moskau kam die Anordnung, dem zukünftigen Prozess einen fast ausschließlich „antizionistischen“ Charakter zu geben. Nicht der amerikanische Imperialismus, nicht der Trotzkismus, nicht der Titoismus, sondern der Zionismus wurden nun zur größten Gefahr erklärt. Das Drehbuch des Schauprozesses gegen die Kreml-Ärzte wurde im Wesentlichen auch von Stalin vorbereitet. Er las jeden Tag die Vernehmungsprotokolle, forderte mehr Härte, um die inhaftierten Ärzte zum Geständnis zu zwingen. Darüber sprach Nikita S. Chruščev 1954 in seiner Geheimrede am XX. Parteitag der KPdSU: „Stalin selbst ließ den Untersuchungsführer kommen, er instruierte ihn, nannte ihn die Untersuchungsmethoden und diese Methoden waren einzig: schlagen, schlagen und schlagen.“46 43 Gennadij V. Kostyrčenko G. V. V plenu u krasnogo faraona [= In Gefangenschaft beim roten Pharao], Moskau 1994, 326f. 44 Jakob Ja. Ėtinger, Delo vračej 40 let spustja [= Der Ärzteakt 40 Jahre danach], in: Novoe vremja, 1993, Nr. 2–3. 45 Zitiert nach: Leonid Ljuks, Tretij Rim? Tretij rejch? Tretij put‘? [Drittes Rom? Drittes Reich? Dritter Weg?], Moskau 2002, 171. 46 Siehe dazu Wiedergabe und Analyse der Rede Nikita S. Chruščevs am 20 Parteitag der KPdSU in: Markom Š. Barbakadze (Hg.), Antologija samizdata. Nepodcenzurnaja literatura v SSSR 1950-e–
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Hatte die Kreml-Führung in Zusammenhang mit der „Ärzteverschwörung“ die Massendeportation sowjetischer Juden geplant? Selbst heute ist es schwer, eindeutig auf diese Frage zu antworten.47 Aber eines ist klar: Im letzten Jahr von Stalins Regierung zeichnete sich in der Kreml-Führung eine Tendenz ab, die darauf abzielte, den antisemitischen Kurs wesentlich zu verschärfen. So notierte beispielsweise Vjačeslav A. Malyšev, ein Mitglied des ZK-Präsidiums, am 1. Dezember 1952 folgende Aussage Stalins: „Jeder nationalistische Jude ist ein Agent des amerikanischen Nachrichtendienstes. Die nationalistischen Juden denken, dass die USA ihre Nation gerettet haben (dort kann man ein Reicher werden, ein Bürgerlicher usw.). Sie fühlen sich den Amerikanern verpflichtet. Unter den Ärzten sind viele nationalistische Juden.“48 Bei der Verschärfung der Hasskampagne in Bezug auf die „Ärzte-Schädlinge“ wurde auch zu verstehen gegeben, dass diese Verschwörer in den höchsten Parteisphären Komplizen hatten. Die „Pravda“ vom 13. Jänner 1953 schrieb: „Die Tatsache, dass eine Gruppe von verachtenswerten Abschaum, die aus ‚gelehrten Männern‘ bestand, eine bestimmte Zeit lang ungestraft handeln konnte, zeugt davon, dass einige unserer sowjetischen Behörden und ihre Leiter ihre Wachsamkeit verloren haben.“49 Für die alten Kampfgefährten Stalins in der Partei, die die Säuberungen der 1930er und 1940er Jahre überlebt hatten, war der Sinn dieser Beschuldigungen sofort klar. Sie sollten eine neue, gigantische Säuberung starten. Bereits Ende der 1940er Jahre hat Stalin mit einer „Demontage“ seiner nächsten Mitarbeiter begonnen, die ihm jahrzehntelang treu gedient hatten. Chruščëv berichtet am XX. Parteitag der KPdSU von den Plänen Stalins in Bezug auf seine alten Mitkämpfer: „Stalin hatte offenbar vor, mit allen alten Mitgliedern des Politbüros abzuschließen. Er sprach oft davon, dass die Mitglieder des Politbüros durch neue Leute ersetzt werden sollten. Sein Vorschlag zielte darauf ab, alle alten Mitglieder aus dem Politbüro zu entfernen und Leute mit weniger Erfahrung einzusetzen, die Stalin auf jede Weise preisen würden.“50
47
48 49 50
1980e gg [= Anthologie des Samisdat. Unzensierte Literatur in der UdSSR von den 1950er bis zu den 1980er Jahren], Bd. 1, Moskau 2005, 373. David Gol’dštejn, Snova o podgotovke deportacii sovetskich evreev v seredine XX veka. Zametki po evrejskoj istorii [= Neues über die Vorbereitung der Deportation sowjetischer Juden Mitte des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen zur jüdischen Geschichte], abrufbar unter http://berkovich-zametki. com/2007/Zametki/Nomer5/DGoldshtejn1.htm, 28.11.2012, 16:15 Uhr, Microsoft Internet Explorer. Istočnik, 1997, Nr. 5, S. 140f.; Jakob Ja. Etinger, Ėto nevozmožno zabyt‘. Vospominanija, [Es ist unmöglich, das zu vergessen. Erinnerungen] Moskau 2001, 104. Pravda, 13.1.1953. Barbakadze, Antologija, 373.
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Stalin hatte auch keine hohe Meinung über seine potentiellen Nachfolger. Nach der Verhaftung der Kreml-Ärzte wandte er sich an die Mitglieder des Politbüros mit folgenden Worten: „Ihr seid blinde Kätzchen, was wird nur ohne mich werden – das Land wird sterben, weil ihr seine Feinde nicht erkennen könnt.“51 Der Tod Stalins am 5. März 1953 bezeichnete das Ende der Epoche des „späten Stalinismus“, der die Kulmination in der Entwicklung des sowjetischen kommunistischen Systems geworden war. Es begannen die Zeiten von Chruščevs „Tauwetter“, Brežnevs „Stillstand“ und Gorbatschows „Perestrojka“, die, wie wir heute wissen, letztendlich zum Epochenwechsel 1989/90 führten.
51 Ebd.
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Unternehmensführung in Zeiten politischer Systembrüche Der Compass-Verlag 1938 bis 1947
Die Compass-Verlag GmbH ist ein österreichisches Familienunternehmen und gilt heute als Marktführer auf dem Sektor der Firmendatenbereitstellung. Die Gesellschaft in Wien hat seit ihrer Gründung zu Beginn der österreichischen Hochgründerzeit, 1867, eine durchgehende Geschichte als Familienunternehmen. Es waren in dieser langen Zeitspanne von rund 150 Jahren im Wesentlichen zwei Familien, die die Entwicklung des Verlages wesentlich prägten – von 1902 bis 1977 die Unternehmerfamilie Hanel und seit 1977 die Familie Futter. Rudolf Hanel1 baute das Unternehmen bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 zu einem florierenden Medienunternehmen aus. Sein Produkt war einzigartig in Europa. Der „Compass“ war ein umfangreiches, seit 1867 jährlich erscheinendes Nachschlagewerk für Aktiengesellschaften („Finanz-Compass“), für Industriebetriebe („Industrie-Compass“), für Handelsgesellschaften („Handels-Compass“) und für Gewerbebetriebe („Gewerbe-Compass“) der österreichischen Reichshälfte der k.u.k. Doppelmonarchie. Jährlich umfassten die Bände zusammen weit über 5000 Seiten. Ein Unikum in der Verlagswelt. Der Sohn Rudolf Hanels, Rudolf Otto Hanel, führte das Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus sowie von 1947 bis zu seinem Tod 1965. Er erweiterte das Verlagsprodukt vor allem um den „Personen-Compass“ und den „Dienstleistungs-Compass“. Die Ehe Hanels mit seiner zweiten Frau Frederike Hanel blieb kinderlos, weshalb 1977 im Zuge eines Management Buyouts Werner Futter das Unternehmen übernahm und fast 30 Jahre lang führte. 2005 verstarb Werner Futter und seine Söhne Nikolaus und Hermann Futter traten in die Geschäftsführung ein. Sie trugen dem Zeitalter der Digitalisierung Rechnung und starteten den Umbau des Unternehmens von einem Verlagsunternehmen zu einer modernen Wirtschaftsinformationsplattform. Heute bietet der Firmen-Compass des Verlages Komplettlösungen für Firmeninformationen an, wobei sämtliche in Österreich protokollierten Unternehmen 1
Rudolf Hanel wird aufgrund der Namensgleichheit mit seinem Sohn Rudolf Otto Hanel in diesem Beitrag Hanel sen. genannt, sein Sohn Rudolf Otto Hanel als Hanel jun. bezeichnet.
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tagesaktuell abrufbar sind. Durch den Zugang zu den offiziellen Datenbanken der Republik Österreich und aufgrund gezielter Datenverknüpfungen entstanden neue Produkte wie der Grundbuch-Compass, der Melde-Compass, der Vereins-Compass oder der Edikte- bzw. Insolvenz-Compass. Zum Kundenkreis der Compass-Verlag GmbH zählen das Bundesministerium für Justiz, das Handelsgericht Wien, die Stadt Wien, verschiedene Banken, Versicherungen, Universitäten, Interessenvertretungen und weitere Unternehmen aus dem In- und Ausland. Mit 60 Mitarbeitern erwirtschaftet die Compass-Verlags GmbH einen Jahresumsatz von 15,5 Millionen Euro.2 Zur Entwicklung des Compass-Verlages sind bereits mehrere Arbeiten erschienen: Tano Bojankin legte im Rahmen eines Forschungsprojektes und im Auftrag des Verlages eine Unternehmensgeschichte vor. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf die komplexen Eigentums- und Beteiligungsverhältnisse.3 Ergänzend dazu erschien 2011 von Katharina Bergmann-Pfleger und Tano Bojankin eine Zusammenfassung aller Publikationen des Compass-Verlages von 1867 bis 2011.4 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Arbeiten der Autorin für ihre Dissertation „Zur Entwicklung des Compass-Verlages 1938–1947“.5 Ein Zeitraum, der durch zwei politische Systembrüche gekennzeichnet ist, durch die sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen im Allgemeinen und speziell in der Verlagsbranche wesentlich veränderten. Für den Compass-Verlag stellte diese Periode wohl die schwierigste Phase seiner Geschichte dar. Es ging um nicht weniger, als den Verlag im Familienbesitz als selbstständiges Unternehmen fortführen zu können. In Firmenbroschüren der 1970er Jahre wurde der Compass-Verlag meist als Opfer der politischen Entwicklung dargestellt. Fragen nach eigener Beteiligung am NS-System, von Mitschuld oder der Erlangung von Profit aus dem Systemwechsel 1938 wurden nicht thematisiert. Dass sich das Unternehmen dem NS-Einfluss weitgehend entziehen konnte, wurde einfach dem Einsatz der Mitarbeiter6 zugeschrieben. Eine Teilwahrheit, wie noch zu zeigen sein wird. Denn die politisch inhomogene Mitarbeiterstruktur war zwar hilfreich, aber der Betriebsführer Hanel jun. hatte v. a. wegen seiner klaren nationalsozialistischen Gesinnung einen maßgeblichen An2 3
4 5 6
Vgl. eigene Angaben der Compass-Verlag GmbH, März 2016. Vgl. Tano Bojankin, Die Geschichte des Compass Verlags. Ein Zwischenstand, in: Sylvia MattlWurm/Alfred Pfoser (Hg), Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859–1942, Wien 2011, 339–347. Katarina Bergmann-Pfleger/Tano Bojankin, Vom Print- zum Onlinemedium. Der Compass-Verlag und seine Publikationen (1867–2011), Wien 2011. Die Dissertation wird am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner betreut. Im Compass-Verlag waren während des Krieges ehemalige KZ-Häftlinge, Sozialdemokraten, Mitglieder des Ständestaates und freiberuflich auch Juden tätig.
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teil am erfolgreichen Fortbestand des Compass-Verlages in der NS-Zeit.7 Genau genommen wurde das Unternehmen zwischen 1938 und 1947 hintereinander von vier Persönlichkeiten geführt: von Hanel sen., der das Unternehmen aus der Vernay A.G. herauslöste und bis zum Anschluss führte; von seinem Sohn Rudolf Otto Hanel, der die Geschäftsführung nach dem „Anschluss“ am 4. Oktober 1938 übernahm und die Firma in der Zeit des Nationalsozialismus führte,8 sowie nach seiner Verhaftung und Anklage vor dem österreichischen Volksgericht9 zwischen 1945 und 1947 von Josef Carl Wirth und Ernst Kirchweger als öffentliche Verwalter.10 Am 6. Oktober 1947 wurde Hanel durch das Volksgericht von den Anklagepunkten „‚illegale‘ Mitgliedschaft in der NSDAP“, „falsche oder unvollständige Angaben im Zuge der Registrierung als NSDAP-Mitglied“ und „‚missbräuchliche Bereicherung‘ unter Ausnützung der „nationalsozialistischen Machtergreifung“ freigesprochen11 und übernahm am 22. November 1947 wieder die Geschäftsführung.12 Im Folgenden sollen Persönlichkeitsbilder der drei maßgeblichen Akteure Rudolf Otto Hanel, Ernst Kirchweger und Josef Carl Wirth ihre unterschiedlichen politischen Orientierungen und Karrieren erklären, warum gerade ihre fundamentalen politischen Unterschiede, die auch opportunistisch eingesetzt wurden, dem Compass-Verlag eine große Kontinuität in der operativen Geschäftstätigkeit sicherten und auf diese Weise die großen politischen Systembrüche 1938/1945 bewältigt werden konnten.
7
Otto Hanel sen. hatte das Unternehmen 1936 aus dem finanziell maroden Vernay-Verlag herausgelöst und bis zum „Anschluss“ 1938 geführt. Im März 1938 übergab er es seinem Sohn. Die Vernay A.G. war bereits 1913 gegründet worden, wobei die Hauptaktionäre fünf Wiener Familien waren. Ein Hauptaktienpaket wurde von der Familie Hanel gehalten. 1926 erwarb das tschechische Außenministerium ein Aktienpaket von 25 Prozent, um Einfluss auf die Zeitungen „Die Stunde“ und „Der Tag“ und deren Druckauflagen zu gewinnen. Das Unternehmen geriet in finanzielle Probleme, und es folgte ein Ausgleichsverfahren. Hanel sen. erhielt für seine Aktienanteile an der Vernay A.G. den Compass-Verlag als Entschädigung und schied 1936 endgültig aus der Vernay A.G. aus. 8 Vgl. Compass-Archiv, Handelsregisterauszug aus Reg. C des Handelsgerichtes in Wien, Band XI., 227–231. 9 Vgl. WStLA, GZ 15 St 24848/46, Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien Dr. Rudolf Hanel, 28.11.1946. 10 Vgl. ÖStA, AdR/Zl.1224-I-1/45, Bescheid gemäß Erlass des Staatsamtes, Öffentliche Verwaltung Compass Verlagsgesellschaft, Wipplingerstrasse 32, Wien I, 26.7.1945. 11 Vgl. WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Urteil Dr. Rudolf Hanel, 6.10.1947. 12 Vgl ÖStA, AdR/108.177-6/47, Akt Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Aufhebungsbescheid Compass-Verlag, 22.11.1947.
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Rudolf Otto Hanel
Im Grunde ging es für die Eigentümer des Compass-Verlages nach dem „Anschluss“ nicht um einzelne betriebswirtschaftliche Entscheidungen, die den Erfolg des Unternehmens gewährleisten sollten, sondern vor allem um den Fortbestand des Verlages. Dabei war es von zentraler Bedeutung, in welcher Rechtsform und zu welchen Bedingungen die nationalsozialistischen Wirtschaftsstellen die Fortführung des Unternehmens tolerieren würden. Der bisherige Geschäftsführer Hanel sen. hatte sich im Ständestaat exponiert, galt als „Vaterländischer“, und in der Vaterländischen Front als Aktivist. Besonders Druckereien und Verlage waren wesentliche politische Kommunikationsmittel der NSDAP. Der Zugriff der Nationalsozialisten galt in der Nacht des „Anschlusses“ eben diesen wichtigen Kommunikationseinrichtungen, um sie für die NS-Propaganda zu nutzen. Allerdings sollte dieser Zugriff möglichst leise erfolgen. Daher ordnete der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Gauleiter Joseph Bürckel, vorerst an, bis zur Volksabstimmung über den bereits vollzogenen Anschluss am 11. April 1938 das äußere Bild der meisten Medien weitgehend unverändert zu lassen. Nur jene Medien, v. a. Tageszeitungen, sollten sofort “umgefärbt“ oder eingestellt werden, die zuvor gezielt und scharf gegen den Nationalsozialismus aufgetreten waren und nun auch keine NS-Unternehmen (wie etwa „Gauverlage“) wurden. Die evolutionären Besitzerwechsel, meist vorbereitet über kommissarische Verwaltungen, erfolgten im Hintergrund und wurden dort, wo sie publik gemacht wurden, von den Beschäftigten weitgehend hingenommen. Die NSDAP kaufte und beschlagnahmte nicht nur Verlage und Druckereien, sondern gründete auch eigene Medien, meist „Gauverlage“.13 Der deutsche Eher-Verlagskonzern mit seinen Tochterfirmen beherrschte mit 82,5 Prozent der Gesamtauflage aller Zeitungen den (reichs-)deutschen Medienmarkt. Der Nettogewinn des Konzerns belief sich 1942 auf 170 Millionen RM, der direkt an die NSDAP floss. Die rasche Expansion des Verlages, der Anfang der vierziger Jahre auch einer der größten Pressekonzerne weltweit war, war untrennbar mit dem Namen Max Amann verbunden. Er verfolgte eine wirtschaftspolitische Strategie zur konsequenten Presselenkung, indem er die Konkurrenzunternehmen durch „Arisierung“ oder einfach durch erzwungenen Verkauf in den Besitz des Eher-Verlages brachte.14 Gerade durch 13 Vgl. Sonja Wenger, Der Verband „Österreichischer Zeitungsherausgeber“ 1945–1955, Phil. Diss., Wien 1993, 86. 14 Vgl. Emmerich Tálos u.a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, 638.
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diese brutale Vorgehensweise der NS-Organisationen befürchtete man auch im Compass-Verlag eine erzwungene Übernahme durch den Eher-Verlag. Es gab für eine Übernahme des Compass-Verlages aber auch noch andere Optionen, die sowohl von der Reichspressekammer als auch vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda schon im Vorfeld des „Anschlusses“ geheim vorbereitet wurden. Denn bereits seit 1936 war Rudolf Otto Hanel jun. in direktem Kontakt mit Josef Pöchlinger aus dem Ministerium für Propaganda und Volksaufklärung15 und mit SS-Sturmbannführer Paul Schmidt, dem Vorsitzenden des Reichsverbandes des Adress- und Anzeigenbuchverlagsgewerbes gestanden.16 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ war daher SS-Sturmbannführer Schmidt persönlich in der Redaktion des Compass-Verlages erschienen und hatte klar gestellt: „[…] dass es nicht möglich sein wird, den Compass Verlag als selbständiges Unternehmen weiter zu führen, da im Deutschen Reich keine Adressbücher erscheinen dürfen, die sich nur auf Teilbereiche des Reiches beschränken.“
Hanel jun. erinnerte sich weiter: „Er bot uns, scheinbar um die wirtschaftliche Existenz nicht zu gefährden, die Arisierung irgendeiner anderen Firma an, die er bei der [Wiener] Vermögensverkehrsstelle veranlassen wollte. Mein Vater u. ich lehnten nicht direkt ab, sondern wir versuchten durch immer wieder auftauchende Schwierigkeiten, keinen der uns angetragenen Betriebe zu übernehmen.“17
Auch bestand die Option, den Compass-Verlag entweder mit einem Verlag aus dem „Altreich“ zu fusionieren oder diesen aufzulösen und nur die Kernbereiche des Unternehmens dem Eher-Verlag zuzuführen. Der Hoppenstedt Verlag in Heppenheim war ein Konkurrenzunternehmen des Compass-Verlages im „Altreich“. Eine Übernahme durch den Hoppenstedt Verlag hätte für das NS-Regime den Vorteil gehabt, ohne großen Aufwand in den österreichischen Markt der Adressbuchverleger einzusteigen und das weitreichende Know-how des Compass-Verlages zu übernehmen. Doch auch eine Kooperation der beiden Verlage stellte eine reale Option dar. Bei 15 Vgl. Compass-Archiv, Brief Dipl. Ing. Pöchlinger an Reichspropagandaamtsleiter Maul vom 30.5.1938. 16 Vgl. WStLA, Aktenzahl 14793/45, Niederschriftliche Einvernahme von Hanel, Polizeidirektion Wien, Abt. I Referat II/B, 23.5.1946. 17 WStLA, Aktenzahl 14793/45, Niederschrift Einvernahme Rudolf Hanel bei der Staatspolizei, 14.5.1946.
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beiden Varianten wäre der Compass-Verlag in den Einflussbereich des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda in Berlin gelangt, und Schmidt hätte einen direkten Zugriff auf die Geschäftstätigkeit des Unternehmens gehabt. Wie weit diese Option bereits in Ansätzen umgesetzt worden war, lässt sich nicht mehr genau klären. Der Eintrag im Industrie-Compass der Ausgabe von 1938/39 deutet stärkere Kontakte an:„Gemeinschaftsverlag Compass-Verlag, Wien I., Wipplingerstraße 32. Verlag Hoppenstedt&Co, Berlin W 8, Charlottenstr. 58.“18 Demzufolge muss eine, wie auch immer ausformulierte und gelebte Verbindung zwischen dem Hoppenstedt-Verlag und dem Compass-Verlag bestanden haben. Eine Fusion der beiden Unternehmen kann ausgeschlossen werden, weil in der folgenden Ausgabe des „Industrie-Compasses“ von 1940 nur noch der Compass-Verlag als alleiniger Herausgeber der Publikation angeführt wird.19 Außerdem finden sich in den Registerauszügen des Handelsgerichts keine entsprechenden Einträge, die auf eine weitergehende Verbindung der beiden Verlage hinweisen würden.20 So ist es durchaus denkbar, dass Hanel jun. diesen Eintrag als „Vorsichtsmaßnahme“ vornehmen ließ, um nach außen eine Kooperation zu kommunizieren und vorzutäuschen, die sich zwar in einer Vorbereitungsphase befand und dann doch nicht umgesetzt wurde. Wirth bestätigte bei seiner polizeilichen Einvernahme am 18. Mai 1946 die Bestrebungen von Schmidt, den Compass-Verlag dem Berliner Hoppenstedt-Verlag einzuverleiben, stieß jedoch auf den Widerstand Hanels, der – neben seiner eigenen NSDAP-Parteimitgliedschaft – auch ein wesentliches, sachliches Argument ins Treffen führen konnte, wonach: „[…]der Compass-Verlag Aufgaben auf dem Balkan (Herausgabe von Adressbüchern der Balkanstaaten) zu erfüllen hatte, die dem Hoppenstedt-Verlag verschlossen waren.“21
Die dritte Option für den Compass-Verlag stellte eine komplette Schließung dar, was vor allem dann zum Tragen gekommen wäre, wenn der „Stehsatz“22 für den Compass-Verlag verloren gegangen wäre. Dazu muss erklärt werden, dass sich der 18 Herausgeberinformationen Industrie-Compass, Ausgabe 1938/39. 19 Vgl. Herausgeberinformationen Industrie-Compass, Ausgabe 1940. 20 Vgl. Compass-Archiv, Handelsregisterauszug aus Reg. C des Handelsgerichtes in Wien, Band XI., 227–230, vom 11.7.1946. 21 Vgl. WStLA, Aktenzahl 14793/45, Niederschrift Einvernahme Wirth, Polizeidirektion Wien, Abt. I Referat II/B, 18.5.1946. 22 Unter „Stehsatz“ verstand man im Buchdruck die einzelnen Bleisatz-Seiten einer Publikation, die nach dem Druck auf Holzbretter oder feste Pappe geschoben und für einen späteren Nachdruck aufbewahrt wurden.
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Stehsatz zu diesem Zeitpunkt noch im Eigentum der Vernay A.G.23 befand und in der Zeit vor der Digitalisierung die Substanz jedes Verlags-Unternehmens darstellte. Eine vertrauliche Besprechung zwischen Hanel sen., Hanel jun. und dem kommissarischen Verwalter der Vernay A.G. (vermutlich Erich Meixner), offenbarte die Linie der NSDAP: die Schließung aller Unternehmen in der Wiener Canisiusgasse. Meixner meinte dazu wörtlich:24 „[…] es gibt die Weisung aus Berlin, das Wespennest in der Canisiusgasse auszurotten und zu tilgen.“25 In dieser Situation griff Hanel zum Mittel der Bestechung, um sich das Wohlwollen von Schmidt zu sichern, der auch Inhaber der Zeitschrift „Neue Wirtschaft“ war. Nach eigenen Angaben erteilte Hanel einen Schein-Inseratenauftrag über 10.000 RM. Die Inserate erschienen nie. Ein klarer Fall von Bestechung. Hanel begründete die Vorgangsweise: „[…] Wir durften Schmidt deswegen nicht verärgern, da gerade in dieser Zeit eine Untersuchung gegen mich und meinen Vater bei der Gestapo gelaufen war und Schmidt außerdem mit der Prüfung der weiteren Eignung unserer Person zur Führung eines Verlages im Deutschen Reich beauftragt war […].“26
Erst der Erwerb des Stehsatzes durch Hanel aus der Arisierung der Vernay A.G. heraus bannte die Gefahr einer Schließung des Compass-Verlages.27 Durch seine frühen Kontakte zu Reichsstellen in Berlin konnte sich Hanel dem Einfluss von Wiener NSDAP-Kreisen etwas entziehen, indem er den direkten Kontakt mit der Reichspressekammer intensivierte. Er verabsäumte es aber nicht, Bürckel gezielt auf den Compass-Verlag aufmerksam zu machen und laufend über seine Publikationen zu informieren.28 So profitierte er auch von einem gewissen Konkur23 Die Vernay A.G. und der Compass-Verlag können auf einen gemeinsamen Abschnitt der Firmengeschichte zwischen 1913 bis 1936 zurückblicken. Hanel sen. war Mitbegründer der Vernay A.G. Obwohl im Jahre 1936 eine firmenrechtliche Trennung der beiden Unternehmen erfolgte, bestand ein gewisses betriebswirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis über den gesamten Kriegszeitraum hindurch, da bei der Trennung der Stehsatz im Eigentum der Vernay A.G. verblieb. 24 Vgl. Compass-Archiv, Anonyme Gedächtnisnotiz zur gemeinsamen Geschichte Compass-Verlag und Vernay A.G., 1–5. 25 Compass-Archiv, Anonyme Gedächtnisnotiz zur gemeinsamen Geschichte Compass-Verlag und Vernay A.G., 3. 26 WStLA, Aktenzahl 14793/45, Niederschrift Einvernahme Rudolf Hanel bei der Staatspolizei, 14.5.1946. 27 Vgl. ÖStA, AdR/VVST/7192, Schreiben Glaser an Meixner, Bewilligung Verkauf Stehsatz an den Compass-Verlag, 13.8.1938. 28 Vgl. ÖStA, AdR/Reichskommissar Bürckel, Karton 21, Korrespondenz Compass-Verlag.
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renzverhältnis zwischen der Reichsgauorganisation Wien und den Berliner Zentralstellen, vor allem dem Goebbels-Ministerium sowie von der Branchen-Gegnerschaft zwischen Amann und Goebbels. Denn sowohl Amann als auch Goebbels kämpften nach dem „Anschluss“ um möglichst viel Einfluss im österreichischen Verlags- und Zeitungswesen und waren so dem Fortbestand des Compass-Verlages indirekt hilfreich, weil die Lösung, den Compass-Verlag als eigenständiges Unternehmen in Wien bestehen zu lassen, einen neutralen Mittelweg darstellte und keine der beiden Seiten bevorteilte. Diese Situation war geradezu typisch für das polykratische Herrschaftsmodell des NS-Regimes. Da es in derartigen Situationen keine klaren Entscheidungen gab und sich die einzelnen Herrschaftsträger ihre Macht selbst absicherten, kam es im Einzelfall anlassbezogen zu Arrangements, die keinem Herrschaftsträger weh taten. Die situationsbezogene Vorgangsweise Hanels, die aus einer Mischung von Bestechung, Halbinformationen und bewusster Irreführung der Behörden bestand, führte dazu, dass sich die SS, Schmidt, und die NSDAP schließlich mit der Eigenständigkeit des Compass-Verlages abfanden. Hanel profitierte von dieser Lösung doppelt, da er – wie mit Schmidt vereinbart – bald auch Anteilseigentümer der Trikotfabrik Danubia wurde.29 Er selbst hatte an der Arisierung der Danubia mitgewirkt. Diese wurde am 8. März 1939 von der Vermögensverkehrsstelle schlussendlich arisiert und von Hanel übernommen.30 Arisierungen und Vermögensaneignungen im Bereich Presse und Medien waren für das NS-Regime einerseits ein Teil seiner „Entjudungs“-Politik, die sich auf die gesamte Wirtschaft erstreckte und etwa in Wien zur bis dahin größten Besitzumschichtung in Österreich führte,31 andererseits sollte damit das gesamte Medienwesen 29 Die Trikotfabrik Danubia war ursprünglich von Schmidt als Entschädigung für Hanel gedacht, falls der Compass-Verlag nicht im Eigentum Hanels bleiben könnte. Hanel wirkte an der Arisierung der Firma mit und übernahm 45 Prozent der Anteile. Weitere 45 Prozent erhielt Hanns Horst Mayer von der Vermögensverkehrsstelle, ein enger Freund von Schmidt. 30 Vgl. ÖStA, AdR/VVST/5415, Schreiben Vermögensverkehrsstelle im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit an Dr. Rudolf Hanel, Firmenübernahme Danubia, 17.3.1939. 31 Vgl. dazu Gerhard Botz, Arisierungen in Österreich (1938–1940), in: Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und „Wiedergutmachung“, Wien/München 2001, 29–56; ders., Wien vom „Anschluß zum Krieg“. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien 1978; ders., „Arisierungen“ und nationalsozialistische Mittelstandspolitik in Wien 19381940. In: Wiener Geschichtsblätter, 29, 1 (1974), 122–136; Georg Weis, „Arisierung“ in Wien, in: Wien 1938. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte. Sonderreihe der Wiener Geschichtsblätter, Bd. 2, Wien 1978, 183–189; vgl. auch Ulrike Felber u. a., Ökonomie der Arisierung. Teil 1: Grundzüge, Akteure und Institutionen. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, Wien/München 2004.
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direkt dem Regime unterstellt werden und den Zielen von Partei und Staat dienen.32 In der gesamten Presse- und Verlagsbranche sicherte das Schriftleitergesetz, dass nur noch politisch geeignete Personen die Zulassung zum Schriftleiter (Chefredakteur) erhielten und den Journalistenberuf ausüben konnten.33 Im Ergebnis unterlagen nicht nur Juden, sondern alle politisch nicht geeigneten und vertrauensunwürdigen Personen de facto einem Berufsverbot. Eine Möglichkeit, dieses Verbot zu umgehen, stellte für Journalisten eine Anstellung in branchenähnlichen Betrieben, welche die Punkte, wie im § 7 der Verordnung zur Durchführung des Schriftleitergesetzes angeführt, erfüllten.34 Denn die gesetzlichen Auflagen zur Berufsausübung im Verlagswesen waren, verglichen mit einer journalistischen Tätigkeit für Tageszeitungen, nicht so streng, weil die Tagesberichterstattung unmittelbar der gesellschaftlichen Gleichschaltung und NS-Propaganda dienen und genauen NS-Richtlinien folgen mussten. Da der Compass-Verlag einerseits dem Druckereigewerbe angehörte und andererseits keine vordergründig politischen Inhalte vermittelte, konnte er diesen Personen die Möglichkeit zur Beschäftigung bieten. Zu den Personen, die als NS-Gegner politisch als Schriftleiter untragbar waren, aber im Compass-Verlag Unterschlupf fanden, gehört etwa der prominente Angehörige der „Vaterländischen Front“ und bürgerlich-liberale Josef Carl Wirth und der Kommunist Vinzenz Ludwig Ostry. Nachdem die Zeitung „Der Tag“ am 12. März 1938 von den NS-Machthabern eingestellt worden war, kam deren Chefredakteur Ostry in Gestapo-Haft und danach in das Konzentrationslager Buchenwald.35 Nach seiner Entlassung aus dem KZ im April 1939 wurde Ostry im Compass-Verlag als redaktioneller Mitarbeiter eingestellt.36 Wirth, Chefredakteur der Tageszeitung „Die Stunde“ und des Theatermagazins „Die Bühne“, wurde 1938 von den Nationalsozialisten verhaftet und mit einem Schreibverbot belegt. Dennoch konnte er nach seiner Freilassung 1938 als redaktioneller Leiter des Compass-Verlages bis Kriegsende tätig sein.37 Damit legte er auch den Grundstein für seine spätere Tätigkeit – als der Compass-Verlag 1945 unter öffentliche Verwaltung gestellt wurde. Bis 1947 fungierte Wirth gemeinsam mit Ernst Kirchweger als öffentlicher Verwalter.38 32 Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf. Ungekürzte Ausgabe, 190/194, München 1936, 262f. 33 Vgl. Reichsgesetzblatt (RGBl.) I, Nr. 111/1933 vom 4.10.1933. 34 Vgl. RGBl. I, Nr. 91/1938, Verordnung über die Einführung des Schriftleitergesetzes im Lande Österreich, 14.6.1938. 35 Vgl. ÖStA, AdR/BKA/PA, Personalakt Dr. Vinzenz Ludwig Ostry. 36 Vgl. Compass-Archiv, Arbeitsbuch Vinzenz Ludwig Ostry. 37 Vgl. ÖStA, AdR/1308-PrK/46, Anrechnung der Privatdienstzeiten, Personalstandesblatt Dr. Josef Carl Wirth, 04.06.1945. 38 Vgl. ÖStA, AdR/108.177-6/47, Aufhebungsbescheid der öffentlichen Verwaltung vom 21.11.1947.
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Hinsichtlich der tatsächlichen politischen Einstellung von Hanel jun. gibt es in den Publikationen durchaus kontroverse Ansichten. Einerseits war Hanel Parteimitglied der NSDAP und wurde als Sturmführer der Reiterstandarte 90 der SA (Sturmabteilung)39 geführt, andererseits fanden regimekritische Personen während des NS-Regimes Anstellungen im Compass-Verlag. Die dramatischen Umschichtungen und Besitz-Veränderungen in der Verlagsbranche durch das NS-Regime waren für Hanel jun. ein mehr als deutlicher Fingerzeig, der Erhaltung des Compass-Verlages, der schließlich die wirtschaftliche Existenzgrundlage Hanels und seiner ganzen Familie darstellte, oberste Priorität einzuräumen. Hanel zeigte sich dabei als nüchterner Pragmatiker, der frei von ideologischer Befangenheit danach trachtete, unter den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen für sich und damit auch für den Compass-Verlag ein optimales Umfeld zu schaffen. Ab 1938 war er bestrebt, ein enges Naheverhältnis zur NSDAP, vor allem zu den Zentralstellen in Berlin, herzustellen. Zudem galt er durch seine Vorgeschichte als „Alter Kämpfer“. In der politischen Beurteilung vom 5. März 1943 schrieb der damalige Ortsgruppenleiter von Döbling: „Die Familie ist politisch und charakterlich einwandfrei, der Sohn Rudolf Hanel geb. 17.05.1902 ist Parteigenosse (vom 1.5.1938 Mitgl. Nr. 6,106.445) und „Alter Kämpfer“ der Bewegung.“40
Kurze Zeit später, 1944, pumpte die Familie Hanel, besonders Rudolf Otto Hanels Mutter Marie, beträchtliche Finanzmittel in das Unternehmen und half so, den Betrieb und seine Mitarbeiter zu erhalten.41 Hanel gelang es dadurch, im Compass-Verlag eine kleine Gruppe von Führungskräften zu installieren, die ihm gegenüber noch während des Krieges schon aus Eigeninteresse zur Loyalität verpflichtet waren, während er danach trachtete, unter dem jeweils herrschenden Regime ein optimales Geschäftsumfeld für das Unternehmen zu schaffen. Und er schaffte es nahezu perfekt, die durch die vielschichtige Verwaltungsstruktur des NS-Regimes gegebenen Spielräume durch gegenseitiges Ausspielen bzw. Bestechen von NS-Funktionären auszunützen. Es war aus seiner Perspektive daher nur folgerichtig, auch mit österreichischen Widerstandsgruppen soweit in Kontakt zu treten, als man daraus Vorteile für die 39 Vgl. ÖStA, AdR/BMI/GA 109598, Personalfragebogen Dr. Rudolf Hanel, 25.6.1938. 40 Vgl. ÖStA, AdR/BMI/GA 109598, Politische Beurteilung Familie Hanel Ortsgruppenleiter Auer, 5.3.1943. 41 Noch in der Bilanz zum 31. Dezember 1950 weisen die Privatkonten noch einen aushaftenden Betrag von 21.417,22 Schilling für Hanel und 108.728,36 Schilling für Marie Hanel aus, vgl. Compass-Archiv, Bilanz Beiblatt sonstige Forderungen und sonstige Verbindlichkeiten, 31.12.1950.
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Zeit nach dem Krieg ziehen konnte. Mit dem ihm eigenen Gespür für Veränderungen, aber durchaus auch im Sinne der Erhaltung der Firma nach einem Ende der NS-Herrschaft, hatte Hanel jun. bereits 1943 damit begonnen, erste Kontakte zum Widerstand in Wien aufzubauen. Um die Jahreswende 1944/45 gelang es ihm, in St. Anton am Arlberg unter Ausnützung persönlicher Beziehungen ein Naheverhältnis zur dortigen Widerstandsbewegung herzustellen.42 Der strategische Wert der Widerstandsaktivitäten der Gruppe St. Anton war von untergeordneter, höchstens lokaler Bedeutung, da am 27. April 1945, als ihre gezielten Aktivitäten einsetzten, der Krieg militärisch schon lange entschieden war, die Rote Armee halb Österreich besetzt hatte und in Wien die Zweite Republik von Karl Renner proklamiert wurde. Darüber hinaus kapitulierte bereits am 29. April 1945 die Heeresgruppe in Italien.43 Als wesentlicher Erfolg der Widerstandsgruppe kann jedoch die unterbliebene Zerstörung wichtiger Verkehrsbauwerke verbucht werden.44 Für Hanel persönlich waren die Freunde aus St. Anton, die der Widerstandsgruppe angehörten, durchaus nützlich. Sowohl Albert Funder als auch Robert Falch haben nach Kriegsende bei polizeilichen Einvernahmen Hanels aktive Beteiligung an ihren Widerstandsaktivitäten bestätigt.45 Was nun folgte, ist typisch für den Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten und für die Umsetzung der NS-Gesetzgebung in Österreich. Demnach war Hanel als „Widerstandskämpfer mit der Waffe in der Hand“ einzustufen. Die entsprechende Bestätigung, ein „Persilschein“ als Gefälligkeits-Beweis, dafür erfolgte am 24. April 1946 durch die österreichisch-demokratische Freiheitsbewegung: „Herr Dr. Rudolf Hanel, derzeit in St. Anton a. Arlberg, ist aktives Mitglied der oesterreichischen Widerstandsbewegung seit 1943. Er hat an exponierter Stelle mit der Waffe in der Hand unter vollem Einsatz seines Lebens an der Befreiung Oesterreichs mitgekämpft.“46 42 Vgl. WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Tätigkeitsbericht der Österreichischen Widerstandsbewegung St. Anton, 7.5.1945. 43 Vgl. Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1984, 531. 44 Vgl. WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Tätigkeitsbericht der Österreichischen Widerstandsbewegung St. Anton, 7.5.1945. 45 Vgl. WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Niederschrift Einvernahme Falch, Gendarmerieposten St. Anton am Arlberg, 6.9.1946. Zum Widerstand in Tirol vgl. u. a. Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2015; DÖW (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934–1945. Eine Dokumentation, 2 Bde., Wien/München 1984; Radomir Luža, Der Widerstand in Österreich 1938–1945, Wien 1983, 277–292. 46 TLA, Akt Dr. Rudolf Hanel, Bestätigung Österreichische demokratische Freiheitsbewegung, 24.4.1946, S. 64.
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Es überrascht jedoch, dass Hanel schon bald nach Kriegsende trotz seiner angeblichen Tätigkeit in der Tiroler Widerstandsgruppe verhaftet und vor das Volksgericht gestellt wurde. Die Anklage erfolgte nach dem Verbots- und nach dem Kriegsverbrechergesetz.47 Zu den Angaben in seiner „Wehrstammkarte“, aus der hervorging, dass er seit 1936 illegal der SA angehörte, erklärte Hanel, dass er bei der Ausstellung des Wehrpasses niemals derartige Angaben gemacht habe. Er selbst gab im Meldeblatt zur Erfassung der Nationalsozialisten sein NSDAP-Beitrittsdatum mit 1938 an, was durchaus für den Massenbeitritt am 1. Mai 1938 üblich war.48 Obwohl er in einem Beurteilungsschreiben der Ortsgruppe Döbling als Sturmführer der SA-Reiterstandarte 90 bezeichnet worden war, stellte er dies entschieden in Abrede. Er habe niemals der SA angehört.49 Auch führte er die politische Einstufung in der NSDAP sowie sein Beitrittsdatum auf einen Irrtum der Administration zurück. Zur Arisierung der Textilfabrik Danubia stellte das Volksgericht fest, dass durch deren Erwerb keine übermäßige persönliche Bereicherung erfolgte und schenkte der Verteidigungslinie Hanels Glauben, er habe für den jüdischen Firmeninhaber Paul Tritsch lediglich als Treuhänder fungiert. Am 6. Oktober 1947 sprach ihn das Volksgericht von allen Anklagepunkten frei.50 Es ist wohl naheliegend, Hanel angesichts seiner kühnen politischen Verrenkungen als politischen Opportunisten zu bezeichnen. Er war ein hervorragender Netzwerker, der es immer verstand, für seine bzw. die Ziele des Compass-Verlages hilfreiche Persönlichkeiten für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Dabei schreckte er auch vor Halbwahrheiten, bewussten Irreführungen und Bestechungen – wie seine Beziehungen zur NS-Hierarchie zeigen – nicht zurück. Allerdings hielt er sich, wenn es ging, eine Hintertür offen, auch wenn dies für ihn persönlich eine sehr reelle Gefahr darstellte. 47 Die Anklage erfolgte nach folgenden Paragrafen: § 10 des Verbotsgesetzes stellte die „illegale“ Mitgliedschaft in der NSDAP zwischen 1. Juli 1933 und 13. März 1938 unter Strafe; § 11 des Verbotsgesetztes stellte ebenfalls „Illegalität“ unter Strafe, mit dem Zusatz, dass der Angeklagte eine Funktion vom Ortsgruppenleiter bzw. Sturmbannführer aufwärts bekleidete bzw. Blutordensträger ist. Hanel wurde nach diesem Paragraf vorgeworfen, Sturmführer in der SA-Reiterstandarte 90 gewesen zu sein; § 8 des Verbotsgesetzes stellte bewusst falsche oder unvollständige Angaben im Zuge der Registrierung unter Strafe. Hanel wurde konkret vorgeworfen, unvollständige Angaben gemacht zu haben; und § 6 des Kriegsverbrechergesetztes (KVG) stellte die „missbräuchliche Bereicherung“ unter Ausnützung der „nationalsozialistischen Machtergreifung oder überhaupt durch Ausnützung nationalsozialistischer Einrichtungen“ unter Strafe. Hanel jun. wurde vorgeworfen, sich im Zuge der Übernahme von 90 Prozent der Anteile der Textilfabrik Danubia missbräuchlich bereichert zu haben. 48 Vgl. WStLA, Zl. 14793/45, Niederschrift der Polizeidirektion Wien, Abt. I, Referat II/B, 18.5.1946. 49 Vgl. WStLA, Zl. 14793/45, Niederschrift der Polizeidirektion Wien, Abt. I, Ref. II/B, 14.5.1946. 50 WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Urteil Dr. Rudolf Hanel, 06.10.1947.
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Die Firma und ihr Fortbestand in den Systembrüchen 1933/34, 1938 und 1945 gingen ihm über alles. Ein deutliches Beispiel dafür ist v. a. die Beschäftigung seines Schwagers Ernst Kirchweger im Ständestaat und in der NS-Zeit, obwohl dessen sozialistische Einstellung und KP-Mitgliedschaft in beiden Regimen für Hanel kompromittierend war. Zu Wirth und Ostry gab es zwar keine familiären Beziehungen, jedoch bestand eine langjährige persönliche Bekanntschaft aus der gemeinsamen Zeit bei der Vernay AG. Sowohl Wirth, der beste Beziehungen zur Elite des Dollfuß-Schuschnigg-Staates hatte, als auch der den Sozialdemokraten und Kommunisten nahestehende Ostry stellten wegen ihrer weithin bekannten Gegnerschaft zum NS-Regime eine Belastung für Hanel dar. Zum Zeitpunkt ihrer Einstellung 1938/39 war die Entwicklung der kommenden Jahre natürlich nicht absehbar. Dass Hanel die kompromittierende Wirkung der Beschäftigung von Wirth und Ostry in Kauf nahm, obwohl – im Gegensatz zu Kirchweger – keine familiären Beziehungen bestanden, kann wohl nur durch Loyalität und Kameradschaft erklärt werden. Das erscheint umso bemerkenswerter, als es zu dieser gar Zeit nicht gesichert war, dass der Compass-Verlag im Eigentum Hanels bleiben würde. Sofort nach Kriegsende, am 10. Mai 1945, beschloss die Provisorische Regierung unter Karl Renner, öffentliche Verwalter für herren- und führungslose Betriebe einzusetzen.51 Dazu zählten auch jene Betriebe, deren Besitzer in der Nachkriegsgesellschaft aus politischen Gründen nicht mehr haltbar waren, weil sie als Nationalsozialisten bekannt und tätig gewesen waren.52 Beides traf für Hanel, der sich eben zu diesem Zeitpunkt in St. Anton am Arlberg aufhielt, zu. Als Problem stellte sich in den ersten Nachkriegsmonaten heraus, dass die vier Besatzungsmächte eigene Richtlinien verfolgten, die sich in den Besatzungszonen unterschiedlich auswirkten.53 Die sowjetische Besatzungsmacht unterstützte die Provisorische Regierung und überließ die öffentliche Verwaltung der herrenlosen Betriebe des vorwiegend Deutschen Eigentums zunächst noch den zuständigen österreichi51 Vgl. StGBl. Nr. 9/1945, Verwaltergesetz, 10. 05.1945. 52 Vgl. Peter Böhmer, Wer konnte, griff zu. „Arisierte“ Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium (1945-1949), Wien 1999, 1. 53 Zu den Entwicklungen in Österreich während der Nachkriegs- und Besatzungszeit vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Wien 1995, 216; Ferdinand Tremel, Die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft in der Ersten und Zweiten Republik, Wien 1961; Hans Seidel, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 2005; Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995; Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck/Wien/Bozen 2008; Rolf Steininger/GünterBischof/Michael Gehler, Austria in the Twentieth Century, New Brunswick/London 2002.
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schen Behörden.54 Ab Dezember 1945 war das Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung unter Peter Krauland die oberste Behörde und hatte die Kontrolle über diese Unternehmen inne;55 von der Bestellung bis zur Abberufung der öffentlichen Verwaltung. In der Verlags- und Druckereibranche, die als Kommunikationsinstrument für die politischen Parteien von eminenter Bedeutung war, versuchte Bundesminister Krauland sowohl ÖVP als auch SPÖ zufriedenzustellen und eine proporzmäßige Aufteilung der Unternehmen zu erzielen.56 Damit geriet der Compass-Verlag abermals in Gefahr, weil Hanel noch inhaftiert war und ein Schuldspruch erwartet werden konnte. Diese Gefahr wurde nicht schlagend: In diesem Fall lag ein Vermögensverfall im Bereich des Möglichen, sodass der Compass-Verlag dadurch in das Eigentum des Staates gebracht worden wäre.57 Sicherlich mit Hanels Billigung beantragten daher am 26. Juli 1945 Wirth und Kirchweger die öffentliche Verwaltung für den Compass-Verlag.58 Beide Angestellten und Vertrauten Hanels führten das Unternehmen als offizielle Verwalter durch die ersten zwei Jahre der alliierten Besatzung. Sie dosierten den Kontakt mit dem Krauland-Ministerium so geschickt, dass sie für das Unternehmen zwar Kraulands Unterstützung erhielten, den unmittelbaren Einfluss von politischen Parteien jedoch minimierten. Dass dies gelingen konnte, lag zum Großteil an den beiden Persönlichkeiten, deren politische Einstellung unterschiedlicher nicht sein hätte können und die in ihrem jeweiligen politischen Lager stark verankert waren.
54 Vgl. Kabinettratsprotokoll Nr. 4 vom 8.5.1945. 55 Vgl. Peter Böhmer, Wer konnte griff zu. „Arisierte“ Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium (1945-1949), Wien/Köln/Weimar 1999; zur Person Peter Krauland vgl. in einigen Passagen: Stefan Karner, Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948– 1955, 2. Aufl., Innsbruck/Wien/Bozen 2016, 20–34. 56 Zur endgültigen Proporz-Aufteilung der Verlage und Druckerein zwischen ÖVP und SPÖ vgl. Stefan Karner, Zur Entfernung deutschen Kapitals aus der österreichischen Industrie nach 1945. Das Fallbeispiel Leykam, in: Sebastian Meissl/Klaus-Dieter Mulley/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986, 129–136. 57 Vgl. Heinrich Gallhuber/Eva Holpfer, Kriegsverbrechergesetz (KVG). In: Justiz und Erinnerung Nr. 3, Wien 2000, 10; eine Verurteilung nach § 6 KVG musste aber nicht zwingend zu einem Vermögensverfall führen, wie ein ähnlich gelagerter Fall beweist: vgl. Dieter Bacher, Modehaus Knilli – Ein Grazer Traditionsunternehmen stellt sich seiner Geschichte, in: Wirtschaftspolitische Blätter, Sonderausgabe 11/2014, 101–106. 58 Vgl. ÖStA, AdR, Bescheid gemäß Erlass des Staatsamtes Zl.1224-I-1/45, Öffentliche Verwaltung Compass Verlagsgesellschaft, Wipplingerstrasse 32, Wien I, 26.7.1945.
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Ernst Kirchweger
Ernst Kirchweger stammte aus einer Arbeiterfamilie. Sein Vater war Gewerkschaftsfunktionär. Kirchweger wuchs in einem sozialdemokratischen Milieu auf. Nach dem Verbot der österreichischen Sozialdemokratie im Februar 1934 trat Kirchweger der ebenfalls schon illegalen KPÖ bei. Ein Verbleib in der Sozialdemokratie, die sich in die Exil-Sozialdemokraten, wie etwa Otto Bauer, und in die revolutionären Marxisten, wie etwa Josef Buttinger, spaltete, war für ihn keine Option. Seine Enttäuschung über den politischen Weg der österreichischen Sozialdemokraten konnte Kirchweger nicht verheimlichen. In der KPÖ blieb Kirchweger Mitglied und Funktionär bis zu seinem gewaltsamen Tod: Kirchweger wurde am 1. März 1965 das erste politische Gewaltopfer im Österreich der Zweiten Republik. Während des Ständestaates engagierte sich Kirchweger in der illegalen KP-Gewerkschaftsbewegung und organisierte als deren Obmann die Fachgruppe der Straßenbahner.59 In dieser Zeit redigierte er auch illegale Gewerkschaftszeitungen wie jene der Gemeindebediensteten oder das Zentralorgan der freigewerkschaftlichen Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter. Ende November 1936 war Kirchweger Teilnehmer am Einigungskongress der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in Prag, wo Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Leitung der damals illegalen Freien Gewerkschaften bildeten.60 Trotz seiner linksgerichteten politischen Gesinnung avancierte Kirchweger – vermutlich weil seine Schwester Wilhelmine seit 1932 mit Hanel verheiratet war – zum Verwaltungschef im Compass-Verlag und erhielt die Gesamtprokura des Verlages.61 Politisch blieb Kirchweger während der NS-Zeit zunächst völlig unauffällig. Erst ab 1943 geriet er in den Fokus der Gestapo, weil zu diesem Zeitpunkt die Publikationen des Compass-Verlages als „Geheimmaterial“ deklariert wurden. Damit war verbunden, dass das gesamte Personal, das Wissen über den Inhalt des Jahrbuches erlangen konnte, besonderen politischen Überprüfungen unterzogen wurde. Also wurde auch Kirchweger von der Gestapo überprüft und als „politisch nicht einwandfrei“ eingestuft. Dadurch durfte er im Compass-Verlag weiter arbeiten, jedoch mit der Einschränkung, unter Beobachtung des Abwehrbeauftragten im Unternehmen zu stehen. Abwehrbeauftragter war zu diesem Zeitpunkt offiziell Wirth, mit der Kontrolle 59 Vgl. Wien Geschichte, Personendaten Ernst Kirchweger, abrufbar unter https://www.wien.gv.at/ wiki/ index.php/Ernst_Kirchweger, 31.1.2016, 14:35 Uhr, Microsoft Internet Explorer. 60 Vgl. Manfred Mugrauer, Ernst Kirchweger 1898-1965. Eine biographische Skizze, Wien 2015. 61 Vgl. Compass-Archiv, Arbeitsbuch Ernst Kirchweger Nr. 386/576782, 10.11.1939; BergmannPfleger/Bojankin, Onlinemedium, 20.
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gemeint war wohl eher Hanel, da dieser sich auch für Wirth verbürgen musste.62 Fest steht, dass Hanel Kirchweger während der Zeit des Ständestaates und des NS-Regimes einen sicheren Arbeitsplatz gab und sich Kirchweger 1945 revanchierte, als er die Substanz des Unternehmens rettete und bis 1947 als öffentlicher Verwalter gemeinsam mit Wirth den Compass-Verlag ganz im Sinne seines Schwagers Hanel führte. Hatte sich Kirchweger bis 1934 in der Sozialdemokratischen Partei und deren Vorfeldorganisationen engagiert, so tat er dies nach Kriegsende im Bereich der KPÖ und den ihr zugeordneten Organisationen.63 Inwieweit Kirchweger während der NSZeit im Widerstand aktiv war, bleibt unklar. Da er als politisch unzuverlässig galt, musste Hanel für ihn persönlich bürgen. Der Compass-Verlag wurde für Kirchweger jedoch zum sicheren Unterschlupf, um bis 1945 überleben zu können. Er blieb persönlich von Verfolgungen des NS-Regimes unbehelligt, war auch zu keinem Zeitpunkt in Haft oder im KZ, was in mehreren Publikationen fälschlicherweise noch immer behauptet wird.64 Er dürfte jedoch geheime Kontakte zum kommunistischen Untergrund gepflogen haben, da er sofort nach Kriegsende als Referent für Kommunalpolitik und -verwaltung des von der sowjetischen Besatzungsmacht ernannten KP-Bezirksvorstehers von Favoriten tätig wurde. Dies deutet auf vorhandene Organisationsstrukturen hin, die die illegale KPÖ noch in der NS-Zeit aufgestellt hatte. Eben diese Netzwerke waren es auch, die sich für den Compass-Verlag nach 1945 als sehr nützlich erwiesen, weil Kirchweger für die Publikationen 1946 und 1947 die un62 Vgl. ÖStA, AdR/Reichskommissar Bürckel, Karton 21, Korrespondenz Compass-Verlag. 63 Vgl. Mugrauer, Kirchweger, 4. 64 Vgl. ÖStA, AdR/BMI 26233-2A/65, Wiener Polizeidirektion, Erhebungsprotokoll Ernst Kirchweger, 2.4.1965. Wilma Vojtjech (geschiedene Wilhelmine Hanel und Schwester von Kirchweger) gab dazu am 1. April 1965 bei der Wiener Polizeidirektion folgendes zu Protokoll: „Ernst Kirchweger war nie in einem KZ gewesen und hat sich politisch auch nie betätigt.“, vgl. ÖStA, AdR/ BMI 26233-2A/65, Wiener Polizeidirektion, Aussage Schwester Wilma Vojtjech, geb. Kirchweger und gesch. Hanel, 01.04.1965. Im gesamten Prozessakt gegen Hanel und speziell im EinvernahmeProtokoll von Ernst Kirchweger bei der Hauptverhandlung findet eine KZ-Haft von Kirchweger keine Erwähnung. Ferner gibt es keinen Eintrag in den Mitgliedsakten des KZ-Verbandes im DÖW und auch keine Opferfürsorgeakten zur Entschädigung von KZ-Opfer, die mit Ernst Kirchweger in Verbindung gebracht werden könnten. Ebenso findet Kirchweger keine Erwähnung im Bericht des Kommissars der NSDAP Erich Meixner, der nach dem „Anschluss“ die politische Einstellung und die Vergangenheit der Mitarbeiter im Compass-Verlag zu überprüfen hatte, vgl. ÖStA, AdR/VVST 7192, Reservatbericht Johann N. Vernay I, Bericht des Kommissars der NSDAP Erich Meixner über Canisiusgasse 8-10, 05.08.1938; vgl. dazu auch Mugrauer, der die Publikationen zusammenfasst, die Ernst Kirchweger zum KZ-Häftling werden ließen: Mugrauer, Kirchweger, 2. Regelmäßige Kranzniederlegungen des KZ-Verbandes der Widerstandskämpfer haben Kirchweger „irrtümlich“ als KZ-Häftling erscheinen lassen; vgl. ÖStA, AdR/BMI, Mitteilung Dr. Peterlunger an Bundespolizeidirektion Wien, Kranzniederlegung Todesstelle Ernst Kirchweger, 28.10.1965.
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bedingt benötigten Papierkontingente, trotz des eklatanten Papiermangels, über die sowjetische Besatzungsmacht sicherstellen konnte. Ein kaum zu beziffernder Vorteil gegenüber allen Mitbewerbern. Kirchweger führte über die Systembrüche hinweg im Compass-Verlag stets das operative Geschäft, während Hanel im Krieg sowie ab 1947, und Wirth zwischen Kriegsende und 1947 die strategischen Entscheidungen des Unternehmens trafen. Kirchweger gewährleistete so zwischen 1945 und 1947 und darüber hinaus bis zu seiner Pensionierung eine starke personelle Kontinuität. Er war die Kontinuität im Verlag. Ohne seinen Beitrag – besonders in den letzten Tagen des Krieges und in den ersten Monaten der Besatzung – hätte der Compass-Verlag als selbstständiges Familienunternehmen nicht publizieren bzw. wirtschaftlich überleben können. Während der öffentlichen Verwaltung wirkte Kirchweger in persönlicher und familiärer Loyalität zu Hanel. Seine Funktion in dieser Zeit war durchaus mit der Tätigkeit eines Treuhänders vergleichbar. Als Hanel nach seinem Freispruch durch das Volksgericht und der Aufhebung der öffentlichen Verwaltung im November 1947 wieder den Verlag übernahm, blieb Kirchweger bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1963 in seinen angestammten Funktionen als Verwaltungsdirektor und Prokurist im Compass-Verlag tätig. Mit Hanel muss ihn ein Gefühl tiefer wechselseitiger Loyalität verbunden haben, das weit über die familiären Bindungen hinausgegangen war. Dies wird auch dadurch sichtbar, dass Kirchweger selbst nach der Ehe-Scheidung seiner Schwester Wilhelmine von Hanel seine Funktion im Compass-Verlag beibehielt. Bereits zwei Jahre in Pension, engagierte sich Kirchweger weiterhin politisch für die KPÖ. Am 31. März 1965 kam er im Zuge einer von Studenten, u. a. Ferdinand Lacina, initiierten Demonstration gegen Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz ums Leben. Borodajkewycz hatte in seinen Vorlesungen aus seiner nationalsozialistischen Gesinnung keinen Hehl gemacht und etwa Rosa Luxemburg als „jüdische Massenaufpeitscherin“ bezeichnet. Obwohl Kirchweger an der Organisation und der Durchführung der Proteste gegen Borodajkewycz nicht beteiligt war, wurde er durch seinen Tod zur Symbolfigur der Linken, die ihn in mythischer Überhöhung als KZ-Häftling und Widerstandskämpfer heroisierten.65 Kirchweger ging, obwohl seine Familie diese Instrumentalisierung nicht guthieß, als erstes politisches Todesopfer der Zweiten Republik in die Geschichte ein. 66
65 Vgl. Heinz Fischer, Einer im Vordergrund. Taras Borodajkewycz, Wien 1966. 66 Vgl. ÖStA, AdR/BMI 26233-2A/65, Bundesministerium für Inneres, Gruppe Staatspolizei, Information von Ernstbrunner an BM, 3.4.1965.
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Josef Carl Wirth
Im Gegensatz zu Hanel versuchte Wirth, geb. 1884, zu keinem Zeitpunkt, mit dem NS-Regime zu kooperieren, was einerseits an seiner familiären Herkunft lag und andererseits durch seine Verankerung im ständestaatlichen Establishment von vorneherein aussichtslos gewesen sein dürfte. Nach einem seiner großbürgerlich liberalen Herkunft entsprechenden Studium der Geschichte und Musikwissenschaft hatte Wirth 1914 eben beim Breslauer Generalanzeiger eine journalistische Laufbahn begonnen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Wirth verbrachte den Krieg im Kriegspressequartier als Kriegsberichterstatter der „New York World“, „Frankfurter Zeitung“, des „Berliner Lokalanzeigers“ und der „Reichspost“ – zweifellos eine besonders privilegierte Form des Kriegsdienstes.67 Unmittelbar nach Kriegsende trat er 1918/19 in den österreichischen Staatsdienst ein und wurde Mitglied der österreichischen Delegation für die Staatsvertragsverhandlungen von 1919 in St. Germain-en-Laye. Dabei gelang es ihm, ein Naheverhältnis zum damaligen Delegationsleiter Karl Renner aufzubauen. Dies brachte ihm Zugang in die höhere Ministerialbürokratie, sodass er bald Führungspositionen, wie jene des Direktors des Telegraphen-Korrespondenzbureaus, errang. Auch sein Ausscheiden aus dem Staatsdienst und die Übernahme der Chefredaktion der Tageszeitung „Die Stunde“ erfolgten im Einvernehmen mit dem damaligen Bundeskanzler Ignaz Seipel.68 Bezeichnenderweise behielt er sich das Recht vor, weiterhin den Amtstitel „Hofrat“ zu führen. Er wurde auch in den privaten Aufzeichnungen Hanels immer als „Herr Hofrat“ bezeichnet.69 Wirth war Mitglied der „Vaterländischen Front“, der Einheits-Bewegung des Ständestaates, und kann als Teil des christlich-sozialen bzw. ständestaatlichen Establishments gesehen werden. In dieses Bild passt auch die Übernahme der Leitung der von der Regierung Kurt Schuschnigg ins Leben gerufenen „Österreichischen Zeitung am Abend“. Bezeichnend ist auch, dass Wirth – nach der wegen des Juli-Abkommens von 1936 erfolgten Einstellung dieser Zeitung – nahtlos als Pressereferent zum Österreichischen Beamtenbund wechseln konnte.70 67 Vgl. ÖStA, AdR/4063-PrK/47, Alliierten Fragebogen Dr. Josef Carl Wirth, Aktennummer 2790, 19.1.1946; ÖStA, AdR/1308-PrK/46, Anrechnung der Privatdienstzeiten, Personalstandesblatt Dr. Josef Carl Wirth, 04.06.1945; ÖStA, AdR/8996-1/45, Staatskanzlei, Anrechnung von Vordienstzeiten Dr. Josef Carl Wirth, 06.12.1945. 68 Vgl. ÖStA, AdR/1308-PrK/46, Anrechnung der Privatdienstzeiten, Personalstandesblatt Dr. Josef Carl Wirth, 4.6.1945. 69 Vgl. WStLA, Zl. 14793/45, Polizeidirektion Wien, Abteilung I, Referat II/B, Brief Hanel an Wilhelmine Hanel, 15.10.1945. 70 Vgl. ÖStA, AdR/1308-PrK/46, Anrechnung der Privatdienstzeiten, Personalstandesblatt Dr. Josef Carl Wirth, 4.6.1945.
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Diese für Wirth überaus nützlichen und komfortablen Netzwerke wurden allerdings nach dem „Anschluss“ unter den Bedingungen des NS-Regimes zu einer schweren Hypothek. Das Schriftleitergesetz bot dem Regime die Handhabe, ihn von jeglicher journalistischen Tätigkeit auszuschließen. Als Wirth vor dem Nichts stand, bot Hanel auch ihm im Compass-Verlag einen sicheren Hafen, wo er – wenn auch eingeschränkt – wieder in seinem Beruf tätig sein konnte. Nach der Einnahme Wiens durch die Rote Armee und der Bildung der Provisorischen Staatsregierung Renner griff Wirth wieder gezielt auf seine alten Netzwerke zurück und trat schon am 1. Mai 1945 wieder in den österreichischen Staatsdienst ein. Bereits am 20. Juli 1945 erfolgte seine Bestellung zum Leiter des Pressedienstes der Staatskanzlei Renners.71 Mit Dekret vom 29. August 1945 wurde Wirth zum Sektionschef ernannt72 und wechselte am 20. Februar 1946 nach der Wahl Renners zum Bundespräsidenten mit diesem in die Präsidentschaftskanzlei in der Wiener Hofburg.73 Er blieb auch noch nach seiner Versetzung in den Ruhestand zum 31. Dezember 1949 als Beamter „in besonderer Verwendung der Präsidentschaftskanzlei“ tätig.74 Der steile Karriereverlauf Wirths wurde für den Compass-Verlag v. a. während der öffentlichen Verwaltung zu einem bedeutenden Asset. Obwohl Wirth am 1. September 1945 als Mitarbeiter aus dem Compass-Verlag ausgeschieden war, teilte er der Staatskanzlei mit, dass er die Tätigkeit eines öffentlichen Verwalters im CompassVerlag weiterhin fortführen wolle, weil: „[…]die Fortsetzung der Tätigkeit dieses Verlages auch im Interesse Oesterreichs“ liege. 75Er werde, so Wirth in seiner Begründung weiter, „diese Funktion, für die eine Honorierung nicht erfolgt, gemeinsam mit einem zweiten öffentlichen Verwalter [Kirchweger] ausüben.“76 Mit Bescheid des Staatsamtes für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten (unter Ernst Fischer, KPÖ) vom 26. Juli 1945 wurde Wirth – gemeinsam mit Ernst Kirchweger – zum öffentlichen Verwalter des Compass-Verlages 71 Vgl. ÖStA, AdR/4500-PrK/45, Personalakt Dr. Josef Carl Wirth, Vorstand des Pressedienstes, 20.7.1945. 72 Vgl. ÖStA, AdR/8109-PrK/45, Personalakt Dr. Josef Carl Wirth, Dekret Ernennung zum Sektionschef, 29.8.1945. 73 Vgl. ÖStA, AdR/517/46, Personalakt Dr. Josef Carl Wirth, Dekret Ernennung zur Übernahme in den Personalstand der Präsidentschaftskanzlei, 20.1.1946. 74 Vgl. ÖStA, AdR/18.062/49, Personalakt Dr. Josef Carl Wirth, Dekret zur Ruhestandsversetzung, 22.12.1949; und ebd., AdR/17956/51, Personalakt Dr. Josef Carl Wirth, Dekret zur Weiterverwendung im Ruhestand, 13.12.1951. 75 ÖStA, AdR/8281-1/45, Personalakt Carl Wirth, Republik Österreich Staatskanzlei Presse an Präsidium der Staatskanzlei, Personalabteilung, 4.9.1945. 76 Ebd.
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bestellt.77 Diese Funktion übte er bis zum Freispruch Hanels durch das Volksgericht und der daraus resultierenden Enthebung mit Bescheid des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung vom 21. November 1947 aus.78 Wirth und Kirchweger waren am Fortbestand des Unternehmens gleichermaßen interessiert und setzten sich entsprechend für das Unternehmen ein. Dafür spricht nicht nur die gemeinsame Rettung des Stehsatzes vor der Vernichtung durch das NS-Regime in den letzten Tagen des Krieges,79 sondern ebenso das Bemühen um die Fortsetzung der Publikationen trotz widrigster Umstände in den Jahren 1945 bis 1947.80 Wirth machte dazu im Fragebogen der Alliierten Kommission unter Punkt 14, wo er nach seiner anti-nationalsozialistischen Haltung und Tätigkeit gefragt wurde, folgenden handschriftlichen Vermerk: „1945 Nichtbefolgung des Befehls zur Vernichtung des wertvollen Compass-Materials und seiner für den Wiederaufbau der Wirtschaft wichtigen Archive.“81 Durch die hervorragenden Beziehungen Wirths zu leitenden Mitarbeitern von Staatsämtern und Ministerien – teilweise waren viele seiner Parteifreunde aus dem Ständestaat wieder in führende Positionen der Staatsverwaltung gerückt – erhielt der Compass-Verlag weitreichende Unterstützungen, um seine Publikationstätigkeit fortführen zu können. Obwohl der Verlag 1946 besonders unter Materialknappheit zu leiden hatte, war es gelungen, mehrere Jahrbücher fertigzustellen. Noch Ende 1946 konnte der 78. Jahrgang des Industrie-Compass auf den Markt gebracht werden. Allein dieses Nachschlagewerk, das besonders für die österreichischen Unternehmen von großer Wichtigkeit war, umfasste 2248 Seiten! Es war das erste firmenkundliche Nachschlagewerk, das Auskunft über die wirtschaftliche Kapazität Österreichs nach dem Krieg auf dem Industriesektor geben konnte. Die Bedeutung dieser Publikation wird auch durch den Umstand unterstrichen, dass die erste Ausgabe des Industrie-Compass bereits im Sommer 1947 vergriffen war.82 Ebenfalls Ende 1946 konnte der Büro-Compass 77 Vgl. ÖStA, AdR/Zl.1224-I-1/45, Bescheid gemäß Erlass des Staatsamtes, Öffentliche Verwaltung Compass Verlagsgesellschaft, Wipplingerstrasse 32, Wien I, 26.7.1945. 78 Vgl. ÖStA, AdR/VVST 201.535, Antrag um Aufhebung der öffentlichen Verwaltung, Geschäftszahl 105.801-6/47, 12.11.1947.Ar 79 Vgl. ÖStA, AdR/4063-PrK/47, Alliierten Fragebogen Dr. Josef Carl Wirth, Aktennummer 2790, 19.1.1946. 80 Vgl. ÖStA, AdR/ 8281-1/45, Personalakt Carl Wirth, Republik Österreich Staatskanzlei Presse an Präsidium der Staatskanzlei, 4.9.1945. 81 ÖStA, AdR/4063-PrK/47, Alliierten Fragebogen Dr. Josef Carl Wirth, Aktennummer 2790, 19.1.1946. 82 Vgl. ÖStA, AdR/86.924-7/47, Schreiben Compass-Verlag an das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, 21.3.1947.
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fertiggestellt werden, den man Anfang 1947 auf den Markt brachte. Diese Ausgabe stellte die wesentliche Informationsquelle für die ersten Wirtschaftsgesetze der Zweiten Republik dar. Aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich und der damit verbundenen Gesetzesflut hatte der 42. Jahrgang den dreifachen Umfang des Vorgängerexemplares.83 Am 6. März 1947 schrieb Bundeskanzler Leopold Figl an den Compass-Verlag, namentlich an Wirth, ein herzlich gehaltenes Dankesschreiben84 Darüber hinaus erhielt der Compass-Verlag öffentliche Aufträge direkt vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau. So im Februar 1947, als man den Verlag mit der Zusammenfassung aller Eintragungen zwischen 1943 und 1945 bei Registergerichten beauftragte, die einen firmenrechtlichen Hintergrund hatten. Im Fokus standen besonders jene Eintragungen, die während des NS-Regimes unter strenger Geheimhaltung vorgenommen worden waren. Durch die Publikation erhoffte man sich einen makroökonomischen Überblick über die vollzogenen Besitzveränderungen in österreichischen Unternehmen während der NS-Zeit. Ferner sollte die nachträgliche Publikation dokumentieren, dass die Rechtskontinuität wieder hergestellt war. Resümierend kann festgehalten werden, dass die öffentlichen Aufträge an den Compass-Verlag den hervorragenden Beziehungen Wirths in den entsprechenden Ministerien zuzuschreiben waren, wie mehrere Interventionsschreiben zeigen.85 Ohne seine Netzwerke hätte der Verlag keinesfalls die gute Auftragslage vorweisen können und wohl auch nicht die positive wirtschaftliche Entwicklung genommen.86 Dies natürlich gemeinsam mit den Kontakten Kirchwegers zur KPÖ und zur sowjetischen Besatzungsmacht, womit die entsprechende Versorgung mit Papier für den Druck der Publikationen 1947 sichergestellt werden konnte.87 Als Ergebnis konnten beide öffentliche Verwalter Hanel am 6. Oktober 1947 ein wirtschaftlich florierendes Unternehmen übergeben.88 Bereits am 12. November 1947 legten die öffentlichen Verwalter Wirth und Kirchweger dem Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung einen formellen Antrag Hanels um Aufhebung der öffentlichen Verwaltung des
83 Vgl. Compass-Archiv, Büro-Compass 1947. 84 Compass-Archiv, Dankschreiben Bundeskanzler Figl an Compass-Verlag, 6.3.1947. 85 Vgl. ÖStA, AdR/86.924-7/47, Schreiben Compass-Verlag an das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, 21.3.1947. 86 Vgl. Compass-Archiv, Bilanz vom 30.4.1947. 87 Vgl. Compass-Archiv, Anonyme Aktennotiz ohne Datum. 88 Vgl. WStLA, Vg 1a Vr 4278/46, Hv 2754/46, Bestätigung Freispruch Dr. Rudolf Hanel, 6.10.1947.
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Compass-Verlages vor.89 Ungewöhnlich rasch, binnen 10 Tagen, wurde dem Antrag stattgegeben und die öffentliche Verwaltung aufgehoben. Auch hier zeigte sich der Einfluss des inzwischen zum Sektionschef avancierten Wirth, der die Causa Compass-Verlag ordentlich und rasch abgeschlossen haben wollte. Auch Hanel wollte den Compass-Verlag wieder in der alleinigen Verfügung seiner Familie wissen. Beiden konnte es nicht schnell genug gehen. Laut handschriftlichem Ausfolgevermerk vom 22. November 1947 holte Hanel den Aufhebungsbescheid sogar umgehend und persönlich im Ministerium ab.90
Schlussbemerkung
Die drei Führungspersönlichkeiten des Compass-Verlages zwischen 1938 und 1947, Hanel jun., Kirchweger und Wirth, unterschieden sich sehr stark nach Herkunft und Karriere, in ihren politischen Einstellungen und in ihrem persönlichen Umfeld. Der Compass-Verlag konnte gerade von ihren Unterschiedlichkeiten profitieren und setzte sie situationsbedingt ein, bzw. sie selbst erklärten den Fortbestand des Unternehmens, fernab aller ideologischen Auffassungsunterschiede, zu ihrer primären Aufgabe, der sie andere Befindlichkeiten unterordneten. Mit Erfolg. Vordergründig verband die drei handelnden Akteure natürlich auch das gemeinsame Ziel, einen Arbeitsplatz im Compass-Verlag als Existenzsicherung zu haben, wofür der Fortbestand des Compass-Verlages gesichert sein musste. Dieses Ziel konnte nur durch das Zusammenwirken der drei Führungspersönlichkeiten über alle politischen Systembrüche hinweg erreicht werden. Gerade die unterschiedlichen politischen Einstellungen mit den entsprechenden Netzwerken waren letztendlich dafür ausschlaggebend, dass der Compass-Verlag als Familienunternehmen gerettet werden konnte. Der Compass-Verlag hatte für jedes politische System eine Führungspersönlichkeit aus den eigenen Reihen zur Verfügung. Selbst für die öffentliche Verwaltung von 1945 bis 1947 war das Führungsteam Wirth und Kirchweger ein Glücksfall für das Unternehmen. Wirth mit seinen weitreichenden politischen Netzwerken und Verbindungen zur Bundesregierung Figl, Kirchweger mit seinen Kontakten zur sowjetischen Besatzungsmacht. Die Ministerien erteilten öffentliche Aufträge, die sowje89 Vgl. ÖStA, AdR/VVST 201.535, Antrag um Aufhebung der öffentlichen Verwaltung, Geschäftszahl 105.801-6/47, 12.11.1947. 90 Vgl. ÖStA, AdR/108.177-6/47, Akt Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Aufhebungsbescheid Compass-Verlag, 22.11.1947.
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tischen Besatzer stellten die Zuteilung der Papierkontingente sicher und Kirchweger sorgte im Unternehmen für die operative Umsetzung der Aufträge. Rudolf Otto Hanel selbst hatte die Fähigkeit, durch gezieltes situatives Führen das Unternehmen über die politischen „Umbrüche“, den Krieg und die alliierte Besatzung hinweg zu leiten und dadurch letztendlich im Familienbesitz zu erhalten.
Helmut Altrichter
1989/91 – Der Zusammenbruch der Sowjetunion Zur Einleitung
Das Ende der Sowjetunion ist in seinen Grundzügen rasch umschrieben: Am 25. Dezember 1991 trat Michail S. Gorbatschow als Staatspräsident der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) zurück. Zweieinhalb Wochen zuvor, am 8. Dezember, hatten die Präsidenten der drei slawischen Kernrepubliken, Russlands, Weißrusslands und der Ukraine, die UdSSR für aufgelöst erklärt und ein neues Staatsgebilde gegründet, die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS). Am 21. Dezember schlossen sich der GUS auch Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisien, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan an. Bereits im Februar und März hatten sich Litauen, Estland, Lettland und Georgien in Volksabstimmungen mit großer Mehrheit für die „Unabhängigkeit“ entschieden. Gorbatschow trat somit als Präsident eines Staates zurück, der de facto nicht mehr existierte. Im Inneren hatte die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), die 1917 die Macht in Russland errungen, eine Sozialistische Räterepublik proklamiert, ihre Alleinherrschaft durchgesetzt, dem westlichen Kapitalismus den Kampf angesagt und zur Weltrevolution aufgerufen hatte, schon im Vorjahr ihr durch die Verfassung garantiertes Machtmonopol verloren. Und nach dem Putschversuch im August 1991 verbot Boris Jelzin, im Juni 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt, der Partei schließlich jegliche Aktivitäten auf russischem Gebiet und zwang Gorbatschow als Generalsekretär der Partei zum Rücktritt. Auch die Welt jenseits der sowjetischen Grenzen war inzwischen eine andere geworden: Der Machtverlust der KPdSU war der Anfang vom Ende der Sowjetunion, jenem Gebilde, das sich im „Großen Vaterländischen Krieg“ behauptet hatte, neben den USA zur zweiten Supermacht aufgestiegen war, mit ihnen den Kalten Krieg ausgefochten und über Jahrzehnte das Weltgeschehen dominiert hatte. Die Konsequenz daraus war schließlich der Zerfall und die förmliche Auflösung des Warschauer Paktes, der – als Widerpart zur westlichen NATO 1955 gegründet – die europäischen „Bruderländer“ unter sowjetischer Führung vereint und sie bei der Stange gehalten hatte. Der Ring sozialistischer Satellitenstaaten, den sich die Sowjetunion nach 1945 geschaffen hatte, existierte nicht mehr, ihre Organisationen, der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und die Warschauer Vertragsorganisation (WVO, im Wes-
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ten „Warschauer Pakt“ genannt), waren bereits am 28. Juni bzw. 1. Juli 1991 offiziell aufgelöst worden. Selbst wenn man Francis Fukuyama, der Anfang der 1990er Jahre in der liberalen westlichen Demokratie den „Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit“ und in ihrem Sieg über den Kommunismus das „Ende der Geschichte“ sah, nicht folgen mag, wird man nicht bestreiten können, dass die Ereignisse eine Zäsur bedeuteten und nicht nur für Europa, eine politische Epochenwende markierten.1 Diese Ereignisse hatten eine längere und eine kürzere Vorgeschichte. Die längere führt bis zur Revolution von 1917 zurück, als die Bolschewiki, die sich als marxistische Arbeiterpartei verstanden, eine „sozialistische Räterepublik“ in Russland ausriefen, einem Agrarland, in dem die Industriearbeiterschaft noch eine kleine Minderheit war, dem „Sozialismus“ die soziale Basis fehlte, seine Durchsetzung auf Gewalt beruhte, Gewalt und Terror Zeichen der Politik und die großen Versprechungen uneingelöst blieben. Im folgenden Kapitel wird die kürzere Vorgeschichte dargestellt, die Mitte der 1980er Jahre begann, als der eben zum neuen Generalsekretär der Partei gewählte Gorbatschow etwas von den großen Versprechungen – einmal mehr – einzulösen versuchte. Er begann 1985/86 mit einer Wirtschaftspolitik, die den Sozialismus reformieren und leistungsfähiger machen, ihn aber eigentlich nicht abschaffen wollte. Mobilisierung des „Faktors Mensch“, Stärkung von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft, weniger Gängelung von oben, mehr Verlagerung von Kompetenzen und Verantwortung nach unten, auf den Betrieb und seine Mitarbeiter, hieß die Strategie, die zu einer „Beschleunigung“ (russ. „uskorenie“) des Wirtschaftswachstums führen sollte. Ein rascher Erfolg war damit nicht zu erzielen. So wurde die neue Wirtschaftspolitik seit 1986/87 flankiert von einer Kommunikations- und Partizipationsoffensive, die mehr Transparenz und Offenheit (russ. „glasnost’“) versprach und eine breite, kritische Diskussion in den Medien zuließ. Sie galt zunächst den bestehenden Problemen in Wirtschaft und Gesellschaft, bezog rasch aber auch die finsteren Seiten der Vergangenheit mit ein und wurde mehr und mehr zu einer Gesamtabrechnung mit der sowjetischen Geschichte seit der Revolution.2 1
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Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest, Summer 1989, 3–35; ders., The End of History and the Last Man, New York 1992; siehe auch die deutsche Ausgabe: ders., Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. Um die kurze Einführung nicht unnötig aufzublähen, wird auf Einzelnachweise verzichtet und auf meine ausführlichen Darlegungen verwiesen in: Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009; sowie ders., Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1985–1991, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. V., Stuttgart 2002, 529–593.
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Mit ihr reifte bei der Staatsführung die Überzeugung, dass das angestrebte Ziel ohne einen Umbau (russ. „perestrojka“), eine Reform des politischen Systems, nicht zu erreichen war. Wichtige Weichen dazu stellte die 19. Parteikonferenz im Juni 1988: Sie verfügte den Rückzug der Partei aus dem operativen politischen Geschäft, ihre künftige Beschränkung auf die „geistige Führung“, und die Wiederaufwertung der Räte, der Sowjets (russ. „sovety“), die dem System noch immer den Namen gaben, aber seit Jahrzehnten zu nachgeordneten, weisungsgebundenen Verwaltungsstellen verkommen waren. Wenn Räte wieder zu Organen politischer Selbstverwaltung werden sollten, hatte die Bestellung der Deputierten durch offene, tatsächliche Wahlen zu erfolgen. Wahlen, bei denen mehrere Kandidaten um ein Mandat konkurrierten, bei denen Wahlbürger die Möglichkeit hatten, sich an der Aufstellung der Kandidaten zu beteiligen und sie im „Wahlkampf“ zu unterstützen, bei denen die Kandidaten für „ihr“ Programm auf Plakaten und in Versammlungen werben konnten, und bei denen die Medien, Presse, Funk und Fernsehen, ausführlich über den Gesamtvorgang berichteten. Ein neues Wahlgesetz und eine Flut von Verfassungsänderungen sorgte dafür, dass auf diese Weise im Frühjahr 1989 ein „Kongress der Volksdeputierten“ gewählt werden konnte, der künftig einmal im Jahr zusammentreten sollte, um über die „Grundsatzfragen“ von Verfassung, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu befinden, und aus dem ein kleinerer, permanent tagender neuer „Oberster Sowjet“ hervorgehen sollte (der in Stellung und Funktionsweise einem westlichen Parlament vergleichbar war). Die Wahl veränderte das Land. Seit Januar 1989 befand sich die Sowjetunion in einem „Wahlkampf“, wie ihn der Staat seit seinem Bestehen nicht erlebt hatte. Landauf, landab wurden Versammlungen abgehalten, zur Aufstellung und Bewerbung von Kandidaten, und die Medien berichteten ausführlich darüber. Auch wo nur ein Kandidat schließlich zugelassen wurde, war er damit noch keineswegs gewählt – verfehlte er das Quorum, musste das Auswahlverfahren von neuem beginnen. Selbst bei den „gesellschaftlichen Organisationen“ (der Partei, Gewerkschafts- und Genossenschaftsverbänden, der Vereinigung sowjetischer Frauen, dem Komsomol, den Organisationen der Kriegs- und Arbeitsveteranen, Wissenschaftsvereinigungen etc.), die das Recht hatten, eine gewisse Anzahl von Abgeordneten in den „Kongress der Volksdeputierten“ zu entsenden, berichteten die Medien eingehend über das mehrstufige Verfahren der Nominierung. Und es geriet zum Tribunal, wenn die zuständigen Gremien (wie bei der Akademie der Wissenschaften) den von der Verbandsführung Vorgeschlagenen mehrfach die Zustimmung verweigerten. Die heftige Bewegung, in die die Wahl das Land versetzt hatte, nahm noch zu, als die frisch gewählten Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses Ende Mai 1989 zu ihrer ersten Sitzungsperiode zusammentraten. Selbst wenn über 87 Prozent der
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Abgeordneten noch immer Mitglieder der KPdSU waren, war ihnen bewusst, was die Wähler von ihnen erwarteten: Dass sie deren Sorgen und Nöte offen zur Sprache brachten. In Hunderten von Wortbeiträgen lieferte der Volksdeputiertenkongress in den zwölf Tagen seiner ersten Session – von Funk und Fernsehen direkt übertragen – eine schonungslose Bestandsaufnahme zur tatsächlichen Lage im Lande, seinen immensen politischen, wirtschaftlichen, nationalen und ökologischen Problemen. Er entwarf, wie es der Physiker, Menschenrechtler und Kongressdeputierte Andrej D. Sacharov ausgedrückt hat, „ein klares und unbarmherziges Bild vom realen Leben in unserer Gesellschaft“ und zerstörte „bei allen Menschen in unserem Land sämtliche Illusionen, mit denen man uns und die ganze Welt eingelullt hatte“. Die Debatten zeigten zugleich, dass die Partei keine handlungsfähige Einheit mehr war und ihre Führung kein Konzept zur Lösung der anstehenden Probleme erkennen ließ. Bereits Anfang Juni hatte Sacharov im Volksdeputiertenkongress den Antrag gestellt, die Garantie des Machtmonopols der Kommunistischen Partei aus der Verfassung zu streichen. Obwohl der Antrag auf Ablehnung stieß, war nur ein dreiviertel Jahr später, Anfang März 1990, der Führungsanspruch der Partei aus der Verfassung getilgt. Obwohl der Prozess eine längere Vorgeschichte hatte – mit den Wahlen war eine neue, kritische „Öffentlichkeit“ entstanden, die mit der offiziell konzedierten „glasnost’“ nicht mehr zu vereinbaren war. Die Chancen, die die ersten leidlich freien Wahlen seit Jahrzehnten boten, und der Druck, den die ungelösten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme erzeugten, mobilisierten das Land, vor allem in den Metropolen, aber auch bis weit hinein in die Provinz. Gleichgesinnte unterstützten „ihren Kandidaten“, organisierten Versammlungen der „Arbeitskollektive“ in den Betrieben und Einrichtungen, Bürgerversammlungen in den Stimmund Wahlkreisen. Neue Diskussions- und Wählerklubs formierten sich, auch in den Mittel- und Kleinstädten. „Informelle Gruppen“, ihre Zahl schätzte die „Pravda“, im Februar 1989 auf mehr als 60.000, schlossen sich mit anderen zu lokalen Wahlbündnissen zusammen, um die Registrierung ihrer Vertreter zu erreichen. Informelle Gruppen waren auch die „Volksfronten“, die sich 1988, zunächst in den baltischen Republiken, gebildet hatten. Je weniger die Führung in der Lage schien, die Probleme in den Griff zu bekommen, je länger die wirtschaftliche Talfahrt anhielt, die Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten sich verschärften, bürgerkriegsähnliche Zustände annahmen und die Staatsautorität verfiel, desto stärker entwickelten sie zentrifugale Tendenzen: Sie forderten nicht nur mehr Autonomie, sondern „Souveränität“, ja „Unabhängigkeit“. Im Laufe der Jahre 1989/90 erklärten sich alle (15) Unionsrepubliken für „souverän“, was sie nach der geltenden Sowjetverfassung bereits waren, aber nun offensichtlich wirklich sein wollten.
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Die offenkundigen Probleme der sowjetischen Führungsmacht veränderten auch das Verhältnis zu den Bündnispartnern, den „sozialistischen Bruderländern“. Zwar hatte Gorbatschow immer wieder beteuert, man weiche keinen Schritt vom marxistisch-leninistischen Weg ab und das große, sozialistische Ziel stehe nicht zur Disposition. Je weiter aber die Reformen fortschritten und Stück um Stück das in Frage gestellt wurde, was bisher als unantastbar galt, desto mehr versank auch das Ziel im dichten Nebel, desto unsicherer wurde, wohin der eingeschlagene Weg wirklich führte. Das mochte die Reformkräfte in den sozialistischen Bruderländern (etwa in Warschau oder Budapest) ermuntern, doch für die Hardliner (in Ost-Berlin oder Bukarest) stand fest, dass die Sowjetunion nicht länger Vorbild für andere sein konnte, zumal die ökonomischen Erfolge ausblieben und die sozialen und nationalen Spannungen im Innern sichtbar wuchsen. Der Formelkompromiss, wie ihn die Parteiund Staatschefs der Warschauer-Vertrags-Staaten bei ihrem letzten Treffen Anfang Juli 1989 in Bukarest formulierten, lautete, dass es ein „universelles Sozialismusmodell“ nicht gebe, niemand ein „Monopol auf die Wahrheit“ besitze, „jedes Volk selbst das Schicksal seines Landes“ bestimme und das Recht habe, „selbst das gesellschaftspolitische und ökonomische System, die staatliche Ordnung, die es für sich als geeignet betrachtet, zu wählen“. Direkte oder indirekte Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sei unzulässig, kein Land dürfe „den Verlauf der Ereignisse innerhalb eines anderen Landes diktieren, keiner darf sich die Rolle eines Richters oder Schiedsrichters anmaßen“. Und einmal mehr bekannte man sich zu den in der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) vereinbarten Prinzipien für das Verhältnis der Staaten zu einander, zu denen die „Achtung der nationalen Unabhängigkeit, Souveränität und Gleichberechtigung aller Staaten“ ebenso gehörte wie das „Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung“, die „freie Wahl seines sozialpolitischen Entwicklungsweges“, die „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ und die „vorbehaltlose Enthaltung von jeglicher Anwendung oder Androhung von Gewalt“. Im Sommer und Herbst 1989 machten die bisherigen Satellitenstaaten von diesen Rechten Gebrauch; in rascher Folge stürzten die kommunistischen Regime in Polen, Ungarn und in der DDR, in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien wie Kartenhäuser in sich zusammen. Diese knappen einleitenden Bemerkungen sollen vor allem eines deutlich machen: Der Zusammenbruch der Sowjetunion lässt sich nicht als monokausaler Prozess erklären; wirtschaftliche, gesellschaftliche, ideologische und außenpolitische Faktoren wirkten dabei zusammen und verstärkten sich gegenseitig. Vergleicht man die kürzere (auf die sich das folgende Kapitel konzentriert) mit der längeren Vorgeschichte, wird deutlich, dass beide irgendwie zusammenhingen, manche Ursachen weit in die Vergangenheit, bis zu den Anfängen des Staatsgebildes zurückreichten. Das ändert aber
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Helmut Altrichter
nichts an der Tatsache, dass das Ende für die Zeitgenossen überraschend kam und – zu Recht – als tiefe Zäsur empfunden wurde.
Manfred Wilke
Gorbatschow und die deutsche Frage 1985–1989
Als Michail S. Gorbatschow 1985 seine Politik der Umgestaltung in der Sowjetunion begann, war nicht intendiert, dass diese Politik zum Zerfall des sowjetischen Imperiums und der Auflösung der Sowjetunion führen würde. Der Fall der Berliner Mauer stellte in diesem Kontext eine Zäsur in den Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion dar und wirkte noch als zusätzlicher Katalysator für diese Ereignisse. Bei seinem Amtsantritt 1985 fand der neue Generalsekretär der KPdSU ein in zwei Blöcke gespaltenes Europa vor. Die Systemgrenze verlief durch das geteilte Deutschland, und die Berliner Mauer war ihr Symbol. Die DDR war somit der Frontstaat der Staaten des Warschauer Paktes, in dem die Sowjetunion daher starke Kampfverbände ihrer Armee stationiert hatte. Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) war dagegen Mitglied der NATO und später der Europäischen Union; auf ihrem Territorium waren amerikanische Truppen und Kernwaffen stationiert. Durch die Ostverträge der Bundesrepublik war Anfang der 1970er Jahre der Status quo der Teilung geregelt, und die Bundesrepublik hatte die DDR als zweiten deutschen Teilstaat anerkannt. Die Wiedervereinigung Deutschlands als Staatsziel der Bundesrepublik hatte Verfassungsrang, war aber in ihrer pragmatischen Ostpolitik kein Thema. Weltpolitisch schien die deutsche Frage durch den Status quo der Teilung gelöst. Die deutsche Einheit war 1985 auch kein Thema der sowjetischen Außenpolitik. Dieser Beitrag befasst sich mit der sowjetischen Deutschlandpolitik und ihren Ergebnissen vor dem Epochenbruch Mauerfall.
Das Dilemma der Reformpolitik Gorbatschows
Gorbatschows Aufstieg an die Spitze der Sowjetunion und erst recht sein Reformprogramm waren für die politische Elite des Westens eine Überraschung. 1980 hieß es in einem Kommentar im „Spiegel“, dass der Staatssozialismus den Wettlauf der Systeme bereits verloren habe. „Panzer können Russland nicht retten: Es kommt der Tag des Kassensturzes, zu wünschen ist aber vor allem, dass der Moskauer Frühling nicht zu spät kommt […]. Irgendwo muss es doch in der Sowjetunion wenigstens einen Stolypin geben – wenn schon keinen Peter I. – oder doch einen Provinzsekretär, wie
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damals Alexander Dubček in Bratislava.“3 Diese Rolle übernahm 1985 der Mann aus Russlands Süden, sein Vorhaben der Umgestaltung (Perestrojka) war ambitioniert. Allein die Aufzählung der geplanten Reformen vermittelt eine Ahnung der Komplexität dieses Projektes im sowjetischen Zentralstaat. Es ging um die Veränderung der zentral gesteuerten Planwirtschaft, die Demokratisierung des politischen Systems und damit die Relativierung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei, die Offenheit der Themenwahl und der Berichterstattung in Kultur und Medien und das Neue Denken in der Außenpolitik. Es war eine Revolution von oben, und die konnte Gorbatschow in der Sowjetunion nur als Generalsekretär an der Spitze der KPdSU beginnen. 1964 nach dem Sturz von Nikita S. Chruschtschow wurde Gorbatschow ZK-Sekretär für Landwirtschaft und jüngstes Mitglied im Politbüro der KPdSU; im Gefolge des Aufstiegs von Jurij V. Andropov vom Chef des KGB zum Generalsekretär der KPdSU 1982 rückte er als ZK-Sekretär für Ideologie in das Zentrum der Macht vor. Die Diskussion um die Notwendigkeit einer Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung des Landes begann bereits unter Andropov. Es bestand die Gefahr, den Wettlauf mit dem Westen technologisch und ökonomisch zu verlieren. Eine 1983 verfasste Studie der Wirtschaftssoziologin Tamara Zaslavskaja von der Akademie der Wissenschaften kam zu dem Ergebnis, dass sich die Produktivkräfte in der Sowjetunion aufgrund der wissenschaftlich-technischen Revolution beschleunigt entwickelt hätten, während das vor ungefähr 50 Jahren geschaffene System der zentralen Planwirtschaft und damit die Produktionsverhältnisse unverändert geblieben seien. Die Autorin beklagte, dass dieses System „nie eine qualitative Veränderung erfahren habe, die den grundsätzlichen Wandel beim Zustand der Produktivkräfte wiederspiegele.“4 Damit forderte die Soziologin die Partei auf, die beiden entscheidenden ökonomischen Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung in Übereinstimmung zu bringen. „Andropow [sic!] war sich als Marxist durchaus im klaren, daß eine weitere Vergrößerung der Kluft zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen die Gefahr erhöhter gesellschaftlicher Spannungen und schließlich einer revolutionären Entwicklung bedeutete.“5 Die daraus resultierenden Reformansätze zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung unter Andropov interpretierte Boris Meissner als Vorstufe der Perestro3
DER SPIEGEL Nr.36/1980, zitiert nach: Fritjof Meyer, Nachrichten aus der UdSSR. Neuigkeiten für den Kreml, Unveröffentliches Manuskript, 9. 4 Die „Nowosibirsker Studie“ von 1983, zitiert nach: Boris Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch, Stuttgart 1988, 95. 5 Ebd.
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jka. Gorbatschow nahm später diesen Faden der Reform der sowjetischen Wirtschaft auf und fügte lediglich einen weiteren hinzu, die Wiederaufnahme der abgebrochenen Entstalinisierung Chruschtschows. Die Politikbereiche Wirtschaft, Ideologie und Parteigeschichte wurden von ihm also ergänzt durch die Demokratisierung des politischen Systems. 1985 schrieb der damalige Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Aleksandr N. Jakovlev, Gorbatschow, nachdem letzterer zum Generalsekretär gewählt worden war, folgende unveröffentlichte Zeilen über Sinn und Zweck der Perestrojka: „das Ziel aller bevorstehenden Umgestaltungen ist der Mensch in all seinen Wechselbeziehungen; […] Heute stellt sich die Frage nicht nur in der Wirtschaft, der materiellen Grundlage des Prozesses. Ihr Kern liegt im politischen System, genauer gesagt: in dessen Funktionsweise und Bewegung, in der Zielrichtung auf den Menschen und inwieweit es ihm dient. Von daher ergibt sich notwendigerweise: 1. Die Kluft zwischen Wort und Tat muss beseitigt, und die Interessen der Persönlichkeit, der Gruppen und der Gesellschaft als Ganzes müssen enger verschmolzen werden. 2. Die konsequente und volle Demokratisierung (in Übereinstimmung mit den konkreten, historischen Möglichkeiten bei jeder Entwicklungsetappe). 3. Die Entwicklung der selbstständigen und schöpferischen Persönlichkeit.“6
Das Grundprinzip der Umgestaltung war Demokratie. Jakovlev definierte sie als „Freiheit der Wahl“, und diese Entscheidungsfindung widersprach diametral dem Verfahrensprinzip der kommunistischen Diktatur, also dem „demokratischen Zentralismus“ den Gorbatschow aber nutzen musste, um die Perestrojka durchzusetzen. Scharfsinnig stellte Jakovlev fest: „Wir haben den Zentralismus, uns fehlt die Alternative.“7 Die Freiheit der Wahl wurde von oben, aus der Machtzentrale der KPdSU, angeordnet, wie es die sowjetische Gesellschaft seit Jahrzehnten gewohnt war. In der ersten Phase musste es Gorbatschow innenpolitisch darum gehen, die programmatische Neuausrichtung der KPdSU durchzusetzen, die zwar in der Konsequenz der Demokratisierung ihr Machtmonopol zurücknahm, aber gleichwohl den Prozess in den zentralistischen Strukturen der sowjetischen Macht organisieren sollte. Da die Umgestaltung sowohl das politische System als auch die Planwirtschaft betraf, gab es für die angestrebte neue Ordnung in all diesen Bereichen keine ausge6 Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, Leipzig 2003, 458f. 7 Ebd..
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arbeiteten politischen Konzeptionen für die Umsetzung. Jakovlev bemerkte zu Recht, der Zentralismus der sowjetischen Machtstruktur habe keine Alternativen gekannt und es seien die in der alten Struktur sozialisierten Kader gewesen, von denen verlangt worden sei, die Transformation in eine neue, auf Demokratie gegründete politische Ordnung und eine neue dezentrale Wirtschaftsordnung durchzuführen. Die fehlende Bereitschaft der Menschen, sich mit den Reformen zu identifizieren und sie dann auch gegen Widerstände durchzusetzen, war ein grundlegendes Dilemma der Politik der Umgestaltung. Daran sollte sie schlussendlich auch scheitern. Widerstände gab es nicht nur in der Sowjetunion, sondern sie wurden auch bei ihren Satellitenstaaten sichtbar. Das Imperium spaltete sich in Befürworter und Gegner der Perestrojka. In Ungarn und Polen führte die Unterstützung der sowjetischen Reformen zum Ende der Herrschaft der kommunistischen Parteien, was von der KPdSU geduldet wurde. Die kommunistischen Parteien der DDR, der ČSSR und Rumäniens weigerten sich, dem Reformkurs zu folgen; verdeckt bekämpften sie ihn sogar. In diesem Prozess der Veränderungen bildete die SED-Führung einen Sonderfall gegenüber den anderen regierenden Parteien im sozialistischen Lager. Sie regierte nur einen deutschen Teilstaat, der nach 1945 entstanden war. Im geteilten Deutschland konnte sie deshalb nicht mit dem Recht auf Selbstbestimmung der Nation operieren; ein solches Unterfangen hätte die Frage der Wiedervereinigung heraufbeschworen. Bei allen Diskussionen um die endgültige Anerkennung deutscher Zweistaatlichkeit in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren: die Bundesregierung von Helmut Kohl hielt an diesem Staatsziel der Bundesrepublik fest. Die Angst der SED vor dem Thema Selbstbestimmung war somit begründet, wie sich nach dem Mauerfall 1989 auch zeigen sollte. Als sich die Gesellschaften der abhängigen Staaten im Imperium die Freiheit der Wahl nahmen, um mit der Überwindung der kommunistischen Diktaturen Demokratie und Souveränität für ihre Länder durchzusetzen, zerbrach das Imperium. Ein vergleichbarer Prozess vollzog sich in der Sowjetunion; eine Reihe von Nationalitäten in der Union beharrte auf ihrer staatlichen Unabhängigkeit. 8 Als sie sie durchgesetzt hatten, war das das Ende der Sowjetunion. Das Reformprojekt des letzten Generalsekretärs der KPdSU scheiterte nicht zuletzt an dem ökonomischen Chaos, in dem die Wirtschaftsreform endete, und dem demokratischen Prinzip der Freiheit der Wahl für die Völker inner- und außerhalb der Sowjetunion. Rückblickend treffen besonders für Gorbatschow die Sätze von Karl Marx zu: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stü8
Vgl. Erhard Stölting, Eine Weltmacht zerbricht, Frankfurt/Main 1990. Der Autor liefert eine Übersicht der religiösen und nationalen Differenzen, die in der Krise der Sowjetunion aufbrechen.
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cken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“9
Abbau der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten von Amerika
1985/86 standen die atomare Abrüstung und damit die Beziehungen zu den USA im Mittelpunkt der sowjetischen Außenpolitik. Wollte der neue KPSU-Generalsekretär die Politik der Umgestaltung in der Sowjetunion selbst und damit den Primat der Innenpolitik durchsetzen, brauchte er eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten, vor allem in der Frage der atomaren Abrüstung. Da die deutsche Teilung nach 1945 und die Blockkonfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA untrennbar zusammengehören, müssen an dieser Stelle zunächst die Ergebnisse dieser Verhandlungen und die damit verbundenen Veränderungen in der Weltpolitik festgehalten werden. Die Sowjetunion hatte gegenüber den USA den Anspruch, als gleichberechtigte Weltmacht behandelt zu werden. Statussymbol beider Mächte war die Verfügung über strategische und taktische Atomwaffen. Der letzte Akt im Wettrüsten war die Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20 in den 1970er Jahren, die in ihrer Reichweite vor allem auf die westeuropäischen Verbündeten der USA zielten. Erklärte Absicht dieser (Vor-) Rüstung war, eine militärstrategische Überlegenheit in Europa über die NATO zu erreichen. Nach dem Scheitern von Abrüstungsverhandlungen mit den USA über den Abbau dieser Raketen durch die Sowjetunion, antwortete die NATO 1983 mit der Stationierung amerikanischer Pershing II-Raketen. Die Sowjetunion hatte damit den militärstrategischen Machtpoker verloren und war im Ergebnis selber verwundbarer geworden als zuvor. Gorbatschow erklärte Helmut Schmidt seinen Sinneswandel, als dieser ihn fragte: „Sagen Sie einmal, wie sie eigentlich darauf gekommen sind, dass die Mittelstreckenraketen weg müssen. […] Ja sagt er, das ist ganz einfach. Als ich Generalsekretär geworden war, ich, Gorbatschow, da musste ich ja vieles lernen, was ich vorher nicht kannte z.B. musste ich das ganze Militärische lernen, und da bin ich dann in den Raketenstellungen rund um Moskau gewesen. Da haben mir die Kommandeure erklärt, daß Moskau völlig schutzlos sei gegenüber der Pershing II und ein Schutz auch nicht denkbar sei.“ 9
Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Berlin 1960, 226.
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An dieser Stelle warf Schmidt ein: „Das war genau das, was wir bezweckt hatten, Ihr solltet euch genauso schutzlos fühlen, wie wir uns schon seit 1977 wegen eurer SS 20. Ja, sagte er, ich weiß. Ich bin dann mit [Ronald] Reagan zusammengetroffen und [George P.] Shultz, ich, Gorbatschow, und habe das vorgeschlagen.“10 Die Kreml-Führung wusste, die Sowjetunion konnte technologisch und wirtschaftlich im Wettrüsten mit den USA nicht mehr mithalten. Zudem wurden die Ressourcen für die Umgestaltung der Planwirtschaft benötigt. Gorbatschow traf sich zum Gipfeltreffen mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Infolge des Gipfeltreffens 1986 in Reykjavik einigten sich beide Staatsmänner auf Verhandlungen über den Abbau der Mittelstreckenraketen in Europa und die Halbierung ihrer strategischen Atomwaffen. Ein Jahr später, bei Gorbatschows Staatsbesuch in Washington im Dezember 1987, sprachen er und Reagan nicht nur über Abrüstungsfragen, sondern einigten sich auch prinzipiell auf eine gemeinsame Politik zur Beseitigung regionaler Konflikte. Von besonderer Bedeutung waren dabei Mittelamerika und Afghanistan. Auf dem Rückflug informierte Gorbatschow die Generalsekretäre der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes über diese Absprache bei einem Zwischenstopp in Ost-Berlin.11 Die Beziehungen der Sowjetunion zur Bundesrepublik waren im Konflikt um die Stationierung der Mittelstreckenraketen konfrontativ. Der Beschluss der NATO, die SS 20-Vorrüstung mit der Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu beantworten, führte in der Bundesrepublik zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen. Die Regierung Kohl war willens und fähig, die Stationierung der Raketen gegen den Widerspruch von SPD, Grünen und der außerparlamentarischen Protestbewegung durchzusetzen. Damit handelte sie als verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten und verhinderte damit die Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses in Europa zu Gunsten der Sowjetunion. Für Kohl war die Zustimmung des Bundestages zur NATO-Nachrüstung „die Schicksalsstunde Deutschlands. Wäre die Nachrüstung gekippt, hätte die Entwicklung einen ganz anderen Verlauf genommen.“12 Nach seiner Überzeugung wäre es dann weder zur Gründung der Europäischen Union noch zum Zerfall des Warschauer Paktes und damit zur deutschen Einheit gekommen. 10 Die Deutschlandpolitik und ihre Rahmenbedingungen in den siebziger Jahren, Anhörung von Helmut Schmidt, in: Materialien der Enquete-Kommission. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, in: Deutschen Bundestag (Hg.), Deutschland. 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Bd. V/1., Baden-Baden 1995, 1026f. 11 Siehe SAPMO-BA DY 30/11847, Stenografische Niederschrift des Treffens der Repräsentanten der Staaten des Warschauer Vertrages, 11.12.1987. 12 Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, 201.
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Im Sommer 1987 traten die INF-Verhandlungen in Genf in ihre entscheidende Phase. „Die Bundesregierung wollte alles tun, was zu einem Durchbruch in den Verhandlungen beigetragen konnte.“ Sie war bereit, auf die Modernisierung ihrer eigenen Raketen mit einer Reichweite unterhalb von 500 Kilometern zu verzichten, wenn der Vertrag ratifiziert wurde und der Zeitpunkt für den Abzug der sowjetischen Systeme, die in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR stationiert waren und die Bundesrepublik unmittelbar bedrohten, ebenso feststand wie der Abzug der amerikanischen Mittelstreckenraketen aus der Bundesrepublik. Dieser Schritt hatte eine positive Wirkung, „die sich nicht vorhersehen ließ, und die betraf das Verhältnis zu Michail Gorbatschow.“13 Kohl glaubte, dass der Verzicht auf eine Modernisierung der Raketen der Bundeswehr Gorbatschows Einschätzung seiner Person positiv verändert hat. Die beiden Weltmächte einigten sich auf den Abbau ihrer Mittelstreckenraketen in Europa, und damit näherte sich der Ost-West-Konflikt seinem Ende. Mit dem Abzug der amerikanischen Pershing aus der Bundesrepublik veränderte sich die Sicherheitslage Moskaus und der Sowjetunion. Von der Bundesrepublik ging nun auch keine mittelbare Bedrohung mehr aus.
Neue Beziehungen zu den „Bruderparteien“
Das „Neue Denken“ in der Außenpolitik sollte auch für die Beziehungen zu den regierenden kommunistischen Parteien im sowjetischen Imperium gelten. Im Frühjahr 1986 gab Gorbatschow seinem Zentralkomitee den Auftrag, die Beziehungen der Sowjetunion zu den sozialistischen Ländern kritisch zu überprüfen. Das Ergebnis war „die Feststellung, dass die gesamte frühere Praxis der Sowjetunion gegenüber den sozialistischen Ländern sehr treffend als Paternalismus bezeichnet wurde.“14 Charakteristisch war Moskaus Umgangsform des „Kommandierens“ gegenüber den so genannten Bruderparteien. „Die Folge seien Formalismus, Unaufrichtigkeit und Heuchelei. Für die künftige Gestaltung der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern wurde ein ganzer Katalog von Prinzipien vorgeschlagen.“15 Auf der Moskauer RGW-Tagung im November 1986 wurden sie hinter verschlossenen Türen den Generalsekretären der betroffenen Parteien vorgetragen. Gorbatschow erklärte, „dass sich die KPdSU nicht mehr anmaßen werde, über den politischen Weg einer Bruderpartei 13 Kohl, Erinnerungen, 551. 14 Gerd König, Fiasko eines Bruderbundes, Berlin 2012, 66. 15 Ebd., 67.
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ein Urteil zu fällen. Jede Partei habe das Recht auf souveräne Entscheidung über die Entwicklungsprobleme ihres Landes, sie sei nur vor dem eigenen Volk verantwortlich und nur die Praxis könne der Prüfstein sein, ob eine Partei dieser Verantwortung nachkomme oder nicht. Niemand könne eine besondere Rolle in der sozialistischen Gemeinschaft beanspruchen. Allerdings unterstrich er in diesem Zusammenhang auch die Verantwortung aller Bruderparteien für den Sozialismus und die Bedeutung des Erfahrungsaustausches zwischen ihnen.“16 Nach Rückkehr von dieser RGW-Tagung berichtete Erich Honecker seinem Zentralkomitee über diese neue Moskauer Linie und stellte fest: Der Meinungsaustausch auf dieser Tagung sei „von geradezu historischer, fundamentaler Bedeutung für die weitere Entwicklung unserer Zusammenarbeit, für die Festigung der Einheit und Geschlossenheit unserer Reihen. Mit ihnen wurde eine neue Phase in den Beziehungen zwischen unseren Parteien und sozialistischen Staaten eingeleitet. Die Zusammenarbeit unserer Parteien und Staaten auf eine neue Grundlage der Prinzipien der Gleichheit, Unabhängigkeit, der Selbstständigkeit, der Verantwortung unserer Parteien gegenüber den eigenen Völkern erhielt neue Impulse sowohl auf dem Gebiet der Lösung genereller Probleme des sozialistischen Aufbaus und der Durchführung der sozialistischen ökonomischen Integration, wie im Kampf für Frieden und Abrüstung in der internationalen Arena.“17 Für Honecker war das Prinzip der Selbstständigkeit der Parteien von besonderer Bedeutung. Die SED berief sich in den nächsten drei Jahren in den Beziehungen zur KPdSU darauf. Die Intentionen von Gorbatschow waren klar, die Fehler der Vergangenheit gegenüber den „Bruderparteien“ sollten überwunden werden, um dem Imperium eine neue Grundlage zu geben. „Es stellte sich bald heraus, dass der gewünschte Prozess einer verstärkten politischen und wirtschaftlichen Integration auf vielfältige Probleme und Schwierigkeiten stieß, die sich vor allem aus den inneren Entwicklungen der Sowjetunion ergaben.“18 Gerd König, letzter Botschafter der DDR in Moskau, misst im Rückblick Gorbatschows Rede auf dieser RGW-Tagung eine weichenstellende Bedeutung bei, die Ende 1986 in den sozialistischen Staaten „jedoch nicht wahrgenommen“ wurde: die Rede „war auch eine Absage an die Brežnev-Doktrin.“19 Verbittert blickt König auf das Ergebnis dieser Kurskorrektur: „Wie man es auch dreht und wendet, mit ihrer neuen Politik gegenüber den sozialistischen Ländern 16 Ebd., 67. 17 SAPMO-BA, DY 30/IV/2/1,660, Schlusswort von Erich Honecker auf der 3. ZK-Tagung der SED am 20./21. November 1986, 238. 18 König, Fiasko, 69. 19 Ebd., 68f.
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stahl sich die UdSSR faktisch aus ihrer Verantwortung als Führungsmacht im östlichen Bündnissystem.“20
Moskaus Konflikte mit der SED
Die Deutschlandpolitik Gorbatschows war bis 1990 eine zweigeteilte und ging von den Realitäten der europäischen Nachkriegsordnung mit den zwei deutschen Staaten aus. Somit waren die Ziele von Gorbatschows Deutschlandpolitik bis 1989 unterschiedlich, je nach der Bündniszugehörigkeit der beiden Staaten. Die DDR war der mitteleuropäische Schlussstein im Imperium. Noch im Frühjahr 1986 versicherte Gorbatschow Honecker, „die Sowjetunion und die DDR stellen den zementierenden Teil der Warschauer Vertragsstaaten der sozialistischen Gemeinschaft dar.“21 Die Führung der KPdSU sei sehr an aktiven und vertrauensvollen Beziehungen zur SED interessiert, denn die DDR sei doch „ein Kind der SED und der KPdSU.“22 Die Verflechtungen zwischen beiden Staaten waren vielfältig. Die UdSSR war für die DDR der wichtigste Handelspartner, die Sowjetunion wiederum war für den deutschen Teilstaat der wichtigste Abnehmer für die Erzeugnisse seiner Industrie und Garant der Energie- und Rohstoffversorgung der Volkswirtschaft. Ende der 1970er Jahre hatte die Führung der Sowjetunion beschlossen, angesichts eigener wirtschaftlicher Probleme „ihre Lieferungen von Roh- und Brennstoffen in die RGW-Länder zu reduzieren. Das konnte nicht ohne folgenschwere Auswirkungen auf die DDR und die anderen sozialistischen Länder bleiben. Im Jahr 1981 teilte die UdSSR der DDR mit, dass sie künftig pro Jahr auf zwei Millionen Tonnen Erdöl aus der Sowjetunion verzichten müsse. […] Alle Versuche der SED-Führung, Generalsekretär Leonid [I.] Brežnev umzustimmen, schlugen fehl.“23
Verschärft wurden die Auswirkungen durch die Preisreform für Erdöl im RGW von 1973. Damals hatte die sowjetische Führung darauf bestanden, „dass das bis dahin geltende Prinzip vereinbarter Festpreise im RGW für Erdöl aufgehoben und eine Angleichung an die Weltmarktpreise vorgenommen werden müsse. Diese Anpassung 20 Ebd., 70. 21 Information über das Treffen des Genossen Erich Honecker mit Genossen M. S. Gorbatschow am 20.4.1985 in Berlin, in: Daniel Küchenmeister(Hg.), Honecker – Gorbatschow, Berlin 1993, 79. 22 Ebd., 85. 23 König, Fiasko, 72f.
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der Erdölpreise im RGW an die Weltmarktpreise erfolgte jährlich.“24 Die Wirtschaft der DDR war nicht fähig, die gestiegenen Kosten für Erdöl durch erhöhte Exporte in die Sowjetunion auszugleichen. Für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern war das Jahr 1981 somit eine folgenschwere Zäsur, deren Folgen die sowjetischen Wirtschaftsplaner nicht bedacht hatten. „Es trat genau das ein, was die Sowjetunion eigentlich immer verhindern wollte, nämlich eine weitere Öffnung der Wirtschaft der DDR und anderer RGW-Staaten zum Westen. Ohne Zweifel bestand zwischen den sowjetischen Rohstoffkürzungen und der wirtschaftlichen Annäherung an die BRD und auch an andere westliche Länder, vor allem bei der Suche nach weiteren Krediten, ein kausaler Zusammenhang.“25
Die DDR wurde damit immer abhängiger vom innerdeutschen Handel und den Transferzahlungen der Bundesrepublik u.a. für den Transitverkehr nach West-Berlin. Diese deutsch-deutsche Annäherung auf wirtschaftlichem Gebiet hat immer wieder zu Konflikten der SED mit der sowjetischen Führung geführt. Ab 1985 kam ein weiterer grundlegender ideologischer Konflikt hinzu: Die Revision von Programmatik und Parteidoktrin der KPdSU. Dieser Gegensatz änderte aber nichts an der wechselseitigen Verflechtung und den gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen beider Staaten gegenüber dem westlichen Bündnis. Die Parteibeziehungen verloren ihre gemeinsame ideologische Grundlage, die Wege trennten sich, gleichwohl waren sie das Fundament für die Existenz der DDR. Der ideologischen Revision des Marxismus-Leninismus durch die KPdSU widersetzte sich die SED ebenso wie einer kritischen Aufarbeitung der Frage des stalinistischen Terrors in der kommunistischen Parteigeschichte. Der von Gorbatschow schon nach seinem Amtsantritt 1985 betriebene Personalwechsel innerhalb des Apparates der KPdSU wurde von Honecker schon deshalb abgelehnt, weil er mit einer Verjüngung der Kader verbunden wurde. „Das Politbüro lehnte letztere ab. Das SED-Zentralorgan berichtete über Gorbatschows Vorstellung zur Personalverjüngung nur unzureichend, [...] seine Forderung, die Funktionäre in leitenden Parteiorganen zu verjüngen, verschwieg es dagegen bewusst.“26 Honecker befand sich als ein aktiver Gegner der sowjetischen Reformpolitik in einem doppelten Dilemma. Das Bündnis mit der Sowjetunion war für den SED-Staat von 24 Ebd., 73. 25 König, Fiasko, 76. 26 Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows, Baden-Baden 2004, 83.
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existenzieller Bedeutung, aber die SED konnte die Perestrojka in der Sowjetunion nicht ändern. Die internen Papiere der SED wurden in der Beurteilung der Politik der KPdSU ambivalent; neben den Gemeinsamkeiten wurden nun auch die Unterschiede zu den Positionen der SED vermerkt. Die ZK-Tagung der KPdSU im Januar 1987 verhandelte die weitere Demokratisierung in der Partei und die Kaderpolitik in Staat und Wirtschaft. Zwei Aussagen Gorbatschows, über die Notwendigkeit der Demokratie, die wir brauchen „wie die Luft zum Atmen“27und über die Kaderpolitik, alarmierten die SED-Spitze: „Das entscheidende Kriterium in der Kaderpolitik, eine Art Stimmgabel, ist gegenwärtig die Haltung der Kader zur Umgestaltung, zu den Aufgaben der Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung des Landes, die Haltung der Kader nicht in Worten, sondern in der Tat.“28 Ein nicht verabschiedeter Beschluss über den Umbau der innerparteilichen Willensbildung, der geheime Wahlen der Parteisekretäre in den einzelnen Parteiorganisationen, „einschließlich der ersten Sekretäre“, mit mehreren Kandidaten vorsah, richtete sich für die SED-Spitze direkt gegen die marxistisch-leninistische Parteikonzeption. „Das ist in der Geschichte der KPdSU ein prinzipiell neuer Vorschlag, den Parteiaufbau betreffend.“29 Aus der Sicht des SED-Parteiapparates verstieß bereits ein solcher Vorschlag gegen das Prinzip des demokratischen Zentralismus und führte in der Konsequenz zur Aufgabe der bolschewistischen „Partei neuen Typs“, an der die SED bis zum Dezember 1989 festhielt. Honecker nahm diese Tagung zum Anlass, eine Studie in Auftrag zu geben, in der die Unterschiede zwischen der Politik der KPdSU und der Programmatik der SED verglichen wurden. Nachdem die Unterschiede aufgelistet waren, stellte sich für die Funktionäre der SED heraus, dass die beiden Parteien dabei waren, ihre gemeinsame Sprache zu verlieren. Daraus zogen sie folgenden Schluss: „Für unsere Partei bedeutet das jedoch nicht, die Entwicklung in der UdSSR einfach zu kopieren.“30 Öffentlich wurde diese Abgrenzung von der sowjetischen Reformpolitik durch Kurt Hager, ZK-Sekretär für Kultur in einem Interview mit dem Hamburger Magazin „Stern“. Er verglich die Perestrojka mit dem Tapezieren einer Wohnung und fragte rhetorisch: „ob man seine Wohnung ebenfalls neu tapezieren müsse, wenn der Nachbar
27 Michail S. Gorbatschow, Schlusswort auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 28. Januar 1987, Berlin 1987, 76. 28 Gorbatschow, Rede vor dem ZK der KPdSU, 53. 29 SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2 und 039/282, einige Anmerkungen zu den Aussagen des Januar-Plenums des ZK der KPdSU und ihr Vergleich mit Positionen im Programm unserer Partei, sowie in den Beschlüssen des IX. Parteitages der SED, Jänner 1987, 122. 30 Ebd., 148.
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dies tut.“31 In seinen Erinnerungen schildert Hager die Umstände dieses Interviews. Es entstand zeitgleich zu den „Anmerkungen“ im März 1987 und wurde im April gedruckt, es trug ihm den Spitznamen „Tapezierer“ ein. Der Vergleich, beteuert er im Nachhinein, wurde, „entgegen meiner Absicht und im Widerspruch zu meiner Überzeugung als Ablehnung jeglicher Reform in der DDR interpretiert.“32 Während der Jahre 1986 bis 1989 verhinderte Honecker in der DDR jede Diskussion über die Demokratisierung der Machtstrukturen des SED-Staates. Honecker war schon Mitglied der SED-Führung, als die Sowjetunion die DDR 1949 konstituierte und zweimal vor dem Untergang bewahrte: am 17. Juni 1953, als sie mit militärischen Mitteln die SED-Machthaber vor ihrem Volk schützte,33 und 1961, als Chruschtschow Walter Ulbricht erlaubte, Berlin durch eine Mauer zu teilen.34 Die Politik der SED bewegte sich somit in unauflösbaren Widersprüchen: Honecker erhob den Anspruch auf eine von Moskau unabhängige Innen- und Außenpolitik, besonders gegenüber der Bundesrepublik, lehnte die Demokratisierung in der DDR ab und konnte trotzdem nicht auf die Notwendigkeit des sicherheitspolitischen Bündnisses mit der Sowjetunion verzichten. Angesichts der weltpolitischen Veränderungen beharrte die SED außen- und innenpolitisch auf dem Status quo. Ihre Agonie im Sommer 1989 war ein Faktor, der die Grundlage für die Existenz der DDR zerstören half. Spätestens ab 1987 wartete man in Moskau auf einen Führungswechsel an der Spitze der SED, den die KPdSU nicht mehr auf alte Weise anordnen wollte. Wie wichtig dieses sowjetische Nicht-Handeln für den Ablauf der Ereignisse in der DDR war, zeigt der Bericht des DDR-Botschafters König über ein Gespräch Gregor Gysis, 1989 bis 1993 Vorsitzender der SED-PDS bzw. PDS, mit Gorbatschow. Gysi berichtete ihm, im Präsidium der SED-PDS sei 1990 manchmal der Gedanke aufgetaucht, „dass vieles anders verlaufen wäre, wenn Michail Gorbatschow 1985 noch einmal 31 zitiert nach: Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1999, 337. Vgl. auch Kurt Hager, Erinnerungen, Leipzig 1996, 385. 32 Hager, Erinnerungen, 385. 33 Vgl. Mark Kramer, Der Aufstand in Ostdeutschland im Juni 1953, in: Bernd Greiner/Christian Müller/Walter Dierk (Hg.), Krisen im Kalten Krieg, Studien zum Kalten Krieg, Bd. 2, Hamburg 2008, 80–126. 34 Zu diesem Aspekt der Vorgeschichte des Mauerbaus 1961 vgl. insbesondere Gerhard Wettig (Hg.), Dokumentation Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen, Bd. 3: Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962), München 2011, 295–313; Stefan Karner u. a. (Hg.), Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow, Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderbd. 12, Innsbruck/ Wien/Bozen 2011.
Gorbatschow und die deutsche Frage 1985–1989
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Stalinist gewesen wäre und die damalige Führung der DDR auf den richtigen Weg gebracht hätte. Aber Gorbatschow sei „bereits damals ein Demokrat gewesen“ und sei „konsequent für die Unabhängigkeit der Parteien eingetreten.“ König kommentiert diese Aussage: „Ganz so einfach war es leider nicht, aber der Kern stimmt. Bei einer anderen Politik der KPdSU gegenüber den sozialistischen Ländern hätte vieles anders verlaufen können und müssen.“35 Die Bürgerbewegung in der DDR erzwang im Oktober 1989 den Führungswechsel von Erich Honecker zu Egon Krenz. Er kam zu spät, um noch steuernden Einfluss auf die friedliche Revolution in der DDR ausüben zu können. Die von Krenz vorgenommene Kurskorrektur gegenüber der Politik der Perestrojka war für die sowjetische Deutschlandpolitik nicht mehr von entscheidender Bedeutung.
Das Ende des Kalten Krieges mit der Bundesrepublik
Ende Januar 1987 gewann Bundeskanzler Helmut Kohl die Bundestagswahlen. Wenige Tage später formulierte Gorbatschow eine Direktive zur Deutschlandpolitik: „An Kwizinskij36 – Besuch Weizsäckers in Moskau sicherstellen. Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Keine Eile, mit den Deutschen auf Regierungsebene überzugehen. 2. An Außenministerium und Dobrynin – analytischen Bericht und Vorschläge zur BRD vorbereiten. ‚BRD nicht Honecker überlassen!‘ [Eduard] Schewardnadse – in die BRD reisen. Material für mein Interview mit dem ‚Spiegel‘ aktualisieren. […] Es ist Zeit, die BRD aktiver anzugehen, damit Margo [Margaret Thatcher, Anm. d. Verf.] nicht vor Vergnügen platzt.“37
Die sowjetische Deutschlandpolitik konzentrierte sich ab 1987 immer stärker auf eine Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen zur Bundesrepublik nach der Konfrontation während der Raketenkrise. Der Bundeskanzler griff in seiner Regierungserklärung im März 1987 Gorbatschows Wort „vom ‚Neuen Denken‘ in den internationalen Beziehungen auf“, und 35 König, Fiasko, 424. 36 Julij Aleksandrovič Kvicinskij, 1978 bis 1981 und 1986 bis 1991 Botschafter der Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland. 37 Direktive Gorbatschows vom 2. Februar 1987 zur sowjetischen Deutschland- und Europapolitik, zitiert nach: Aleksandr Galkin/Anatolij Tschernjajew (Hg.), Michael Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente, Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 83. München 2011, 26f.
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Kohl erklärte seine Bereitschaft „zur verstärkten Zusammenarbeit ‚auf allen Ebenen‘ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen“, denen er „eine ‚zentrale Bedeutung‘ für die künftige Außenpolitik“ 38 zumaß. Beide Staaten bewegten sich aufeinander zu. Gorbatschow ging von den europäischen Realitäten aus; nach seiner Einschätzung war die Bundesrepublik der wichtigste Staat in Westeuropa. 1988 traf der Bundeskanzler zum Staatsbesuch in Moskau ein. Mit ihm reiste eine hochrangige Delegation von Managern der deutschen Wirtschaft.39 Noch während des Besuchs wurde der Vertrag über einen Kredit von einer Milliarde Rubel durch ein deutsches Bankenkonsortium unterzeichnet. Gorbatschow selbst brachte gegenüber dem Kanzler „das große Interesse der Sowjetunion an der wirtschaftlichen Kooperation mit der Bundesrepublik zum Ausdruck.“40 Während des Besuchs wurde ein gemeinsames Dokument konzipiert, „das, aufbauend auf den Erfahrungen des Moskauer Vertrages, diesen konzeptionell weiterentwickeln und Perspektiven des deutsch-sowjetischen Verhältnisses im Rahmen eines immer enger zusammenwachsenden Europas aufzeigen sollte.“41 In seinen Erinnerungen setzt Kohl diesen Besuch in seiner Bedeutung gleich mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1955 durch Konrad Adenauer und der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages 1970. Das von beiden Seiten angestrebte Ziel der Normalisierung der Beziehungen wurde im Sommer 1989 erreicht. Gorbatschow kam zum Staatsbesuch in die Bundesrepublik und wurde von der Bevölkerung als Hoffnungsträger gefeiert. Der Bundeskanzler und der KPdSU-Generalsekretär waren sich einig, „dass wir die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine neue Basis stellen mussten, wenn sich die Lage in Europa zum Besseren wenden sollte. Daraus entwickelte sich der Gedanke, dass man einen Vertrag schließen müsse, in dem die Deutschen und die Sowjetunion zwar keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit zogen, aber eine neue Perspektive für die Zukunft entwickelten.“42 Beide Staaten unterzeichneten eine gemeinsame Erklärung, deren Artikel 1 lautete: „Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden.“43 38 Kohl, Erinnerungen, 508. 39 Die Mitglieder der Delegation waren: Berthold Beitz (Aufsichtsratsvorsitzender des Krupp-Konzerns), Otto Wolff von Amerongen (Ostausschuss der deutschen Wirtschaft), Franz Severding (Mannesmann), Carl Horst Hahn (VW), Alfred Herrhausen (Deutsche Bank) und Wolfgang Röller (Dresdner Bank). Siehe Kohl, Erinnerungen, 756. 40 Ebd., 757f. 41 Ebd., 771. 42 Ebd., 889. 43 zitiert nach: Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der Deutschen Einheit rang, Paderborn 1997, 140.
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Mit dem Vertrag erkannte die Sowjetunion erstmals das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker muss auch für die Deutschen gelten. Am Ende seines Besuchs erklärte Gorbatschow „den Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik für beendet und sprach von einer neuen Qualität der bilateralen Beziehungen.“44 Die beiden deutschen Staaten hatten auf sehr unterschiedliche Weise auf Gorbatschows Politik von Perestrojka und „Neuem Denken“ reagiert. Die SED verweigerte sich dem Reformkurs und strich schon 1987 die Losung „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ aus ihrem Propagandarepertoire. Bis 1989 wuchs die Kluft zwischen der SED und der Politik der KPdSU, sie wurde angesichts divergierender Interessenlagen unüberbrückbar, und die SED-Führung konnte sich nicht mehr auf die Rückendeckung Moskaus im Konfliktfall mit ihrem Volk verlassen. In der Deutschlandpolitik Gorbatschows entwickelten sich die Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten bis 1989 gegenläufig: Die internen Konflikte zwischen SED und KPdSU verschärften sich, die ideologischen Gemeinsamkeiten erodierten. Gleichwohl blieb der institutionelle Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen unverändert. Beide Länder blieben Mitglieder des RGW, des Warschauer Vertrages, und die Parteibeziehungen zwischen KPdSU und SED wurden nicht abgebrochen. Der DDR-Botschafter in Moskau vertrat sowohl den Staat als auch die Partei gegenüber der KPdSU. Und trotz der Umbenennung der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ in „Westgruppe“ im Jahre 1989 blieben die sowjetischen Truppen in der DDR stationiert.
Friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Mauer
Drei Wochen nach Gorbatschows Besuch in Bonn stimmte die Sowjetunion auf der Tagung des Politischen Ausschusses der Mitgliederstaaten des Warschauer Paktes am 7./8. Juli 1989 in Bukarest einem Beschluss der Vertragsstaaten zu, die Brežnev-Doktrin der begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten aufzuheben. Dieser Schritt wurde namentlich von Polen und Ungarn gefordert, die sich bereits im Übergang zu einer neuen politischen Ordnung jenseits des Sozialismus befanden. „Die sowjetische Bestandsgarantie war damit auch für die DDR in Frage gestellt; die SED stand vor der Aufgabe, ihre Herrschaft fortan mit eigenen Mitteln vor ihrem Volk zu legitimieren.“45 44 Kohl, Erinnerungen, 891. 45 Hans-Hermann Hertle/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zen-
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Bis 1989 hatte sich die Mehrheit der Bevölkerung der DDR in die gegebene Herrschaft der SED gefügt. Neben der ökonomischen Krise, dem Verfall der Städte und der Umweltbelastung in der DDR selbst, zählten auch die Fernwirkungen von Gorbatschows Innenpolitik zu den Faktoren, die entscheidend dazu beitrugen, dass sich dieser Zustand der Ruhe in der DDR im Sommer und Herbst 1989 grundlegend änderte. Es war ein Menetekel, als Honecker die Tagung des Politischen Ausschusses in Bukarest vorzeitig verlassen musste, um sich einer Operation in Berlin zu unterziehen. Sein krankheitsbedingter Ausfall hinterließ das SED-Politbüro bis Ende September führungslos. Die zentralistisch strukturierte Partei verfiel in Agonie gegenüber dem Flüchtlingsstrom nach Ungarn und in die Tschechoslowakei, und sie reagierte hilflos gegenüber dem offenen Protest gegen die SED-Herrschaft im Land. Die Deutschen in der DDR ergriffen nun selbst die Initiative zur Veränderung der eingefrorenen Situation im geteilten Land. Eine wichtige Frage zur Lösung des Systemkonflikts in der DDR blieb aber trotz der Bukarester Vereinbarung bis zum Mauerfall für die Bürgerbewegung in der DDR aber auch für die Politiker in der Bundesrepublik offen: Wird die Sowjetunion die Selbstbestimmung der Deutschen in der DDR tatsächlich zulassen? Sie tat es! Erst nach dem Fall der Berliner Mauer und der gleichzeitigen Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9./10. November musste sich Gorbatschow mit der deutschen Wiedervereinigung als politische Herausforderung auseinandersetzen. Nun verkehrte sich für Moskau die Konstellation in Deutschland. Nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze und dem Ende der SED-Herrschaft in der DDR begann nicht nur in Berlin der Vereinigungsprozess „auf der Straße“. Die sowjetische Politik hatte in ihrer Deutschlandpolitik die Initiative verloren und musste nun ihrerseits reagieren; sie entschied sich, die deutsche Einheit nicht zu blockieren.46 Nach dem Ende der Periode der deutschen Teilung begann 1990 ein neues Kapitel in der langen Geschichte der bilateralen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland.
tralkomitees, 5. Aufl., Berlin 1997, 47. 46 Siehe dazu zuletzt Stefan Karner u. a. (Hg.), Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen. Kriegsfolgen-Forschung. Veröffentlichungen des Ludwig BoltzmannInstituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz/Wien/Raabs, Sonderbd. 16, Berlin 2015.
Mark Kramer
Russland, der Niedergang des sowjetischen Banken- und Finanz systems und der Zusammenbruch der UdSSR
Die Bemühungen der russischen Regierung, 1990 das sowjetische Banken- und Finanzsystem zu unterminieren, spielten eine Schlüsselrolle in der darauf folgenden Auflösung der Sowjetunion und waren einer der die Form der postsowjetischen Wirtschaft konstituierenden Faktoren. Trotz seiner großen Bedeutung wurde dieses Thema in keiner der üblichen Darstellungen des Zusammenbruches der UdSSR berücksichtigt, und bis vor kurzem sogar in der Literatur zu Banken und öffentlichen Finanzen in der ehemaligen Sowjetunion fast zur Gänze ignoriert.1 Die mangelnde Aufmerksamkeit, die dem finanziellen Aspekt des Zusammenbruches zuteil wird, ist im Grunde nicht verwunderlich. Ökonomen glaubten lange Zeit mit gutem Grund, dass das Bank- und Finanzwesen in der Sowjetunion nicht wirklich von Bedeutung war. Gregory Grossman fasste diesen Standpunkt vor vielen Jahren zusammen, indem er argumentierte, dass das Finanzsystem nur „dem Plan folgte“ und für das Funktionieren (bzw. Nicht-Funktionieren) der sowjetischen Wirtschaft von geringer Bedeutung war.2 Es ist also durchaus verständlich, dass niemand erwartete, dass das Banken- und Finanzsystem für den Zusammenbruch der UdSSR eine herausragende Rolle spielen würde. Wie sich herausstellte, sollte die erstaunlich rasche Übernahme des sowjetischen Banken- und Finanzsystems durch die russische Regierung im Jahr 1990 dem sowjetischen Regime 1991 große Schwierigkeiten bereiten und zu jenen Umbrüchen 1
2
Die Dissertation von Joel Hellman war die erste Arbeit, die sich mit diesem Thema auseinandersetzte, vgl. Joel Hellman, Breaking the Bank. Bureaucrats and the Creation of Markets in a Transitional Economy, Ph.D. Diss., Columbia 1993. Diese und die 2000 erschienen Studie von Juliet Ellen Johnson sind die bisher einzigen Arbeiten zu diesem Thema: Juliet Ellen Johnson, A Fistful of Rubles. The Rise and Fall of the Russian Banking System, Ithaca 2000. Andere aktuelle Arbeiten nehmen zumindest am Rande Bezug auf einige Aspekte dieser Fragen: David Woodruff, Money Unmade. Barter and the Fate of Russian Capitalism, Ithaca 1999; William Tompson, Old Habits Die Hard. Fiscal Imperatives, State Regulation, and the Role of Russia’s Banks, in: Europe-Asia Studies, Vol. 49/No. 7/November 1997, 1159–1185; und Koen Schoors, The Fate of Russia’s Former State Banks. Chronicle of a Restructuring Postponed and a Crisis Foretold, Working Paper No. 122/ November 2001, Ghent 2001. Vgl. Gregory Grossman (Hg.), Money and Plan. Financial Aspects of East European Economic Reforms, Berkeley 1968.
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beitragen, die schließlich zur Desintegration des sowjetischen Staates führten. Der ehemalige sowjetische Premierminister Valentin S. Pavlov, der an dem missglückten Putschversuch im August 1991 mitwirkte, sagt in seinen Memoiren, dass durch die Vereinbarungen von Belavežskaja pušča, die die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 besiegelten, nur de jure das anerkannt worden sei, was de facto bereits im Juli 1990 mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Banken- und Finanzsystems stattgefunden hatte.3 Die folgende Abhandlung untermauerte Pavlovs Aussagen. Im vorliegenden Artikel soll dargestellt werden, wie die russische Regierung eine Kampagne gegen die Sowjetische Staatsbank (Gosbank der UdSSR) startete und so den Kollaps des sowjetischen Banken- und Finanzsystems herbeiführte. Außerdem soll die wichtige Rolle des Niedergangs dieses Systems für die Auflösung der Sowjetunion insgesamt beleuchtet werden. Die Darstellungen basieren teilweise auf Primärquellen und aktuellen Memoiren, einschließlich jener von Pavlov, Ruslan I. Chasbulatov, Georgij G. Matjuchin, Boris N. Jelzin, Boris G. Fedorov, Egor T. Gaidar und anderer, die in den Jahren 1990/1991 hohe Positionen in Moskau innehatten. Des Weiteren wird darin Bezug auf zwei Dutzend Interviews genommen, die ich zwischen 1996 und 2000 in Russland führte; weitere Quellen sind zahlreiche andere Interviews, die mein ehemaliger Kollege Joel Hellman Anfang und Mitte der 1990er Jahre mit allen wichtigen Personen der russischen und sowjetischen Regierung führte. Ziel des Artikels ist es, eine Reihe von Fragen zu beantworten. Erstens, wie setzte die russische Regierung ihre Attacke um, und was waren die Umstände, die dies überhaupt ermöglichten? Zweitens, wer innerhalb der russischen Regierung kam auf die Idee, das sowjetische Finanzsystem herauszufordern? Wie wurde die Strategie umgesetzt und wer war in erster Linie für ihre Einführung verantwortlich? Drittens, wie reagierten die sowjetischen Behörden auf die Aktionen der russischen Regierung, und warum wehrten sie die Attacke nicht auf aggressive Weise ab? Viertens, wie war das Verhältnis zwischen gut überlegter Strategie und zufälligen Ereignissen? Fünftens, inwiefern trug der Niedergang des sowjetischen Finanzsystems zur Unterminierung des gesamten sowjetischen Staates bei? Die Antworten auf diese Fragen folgen weiter unten, jedoch sollten drei wichtige Punkte bereits im Vorfeld angesprochen werden: Zum ersten erfolgte der Angriff auf das sowjetische Finanzsystem in Form einer massiven de facto Privatisierung von Geldflüssen, die zuvor von der sowjetischen Regierung kontrolliert worden waren. Diese abrupte Verschiebung der Eigentumsrechte schränkte die Fähigkeit der Sowjetunion, die Finanzflüsse innerhalb der Wirtschaft 3
Valentin Pavlov, Upuščen li šans? Finansovyj ključ k rynku [Verpassen wir die Chance? Der finanzielle Schlüssel zum Markt], Moskau 1995.
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zu kontrollieren, massiv ein und nahm der sowjetischen Regierung die Instrumente, die sie benötigte, um die makroökonomische Stabilität zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Ohne die Kontrolle über die (Staats-)Einnahmen wurde das sowjetische Budget ins Chaos gestürzt.4 Gewaltige Defizite, Ausfälle bei internationalen Krediten, die rapide steigende Inflation und Zahlungsrückstände waren die unmittelbaren Folgen. Zweitens hatte die schwerwiegende Erschütterung des sowjetischen Banken- und Finanzsystems großen Einfluss auf den starken Produktionsrückgang und den Zusammenbruch des Handels zwischen den Republiken in den Jahren 1990 und 1991. So wurde eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die die anderen Republiken dazu zwang, noch schneller die Kontrolle über ihre eigenen Finanzsysteme zu erlangen und Regelungen für ihre eigenen Währungen zu finden.5 Diese Umstände destabilisierten wiederum das sowjetische Regime und trugen zu der Unruhe bei, die letztendlich im Kollaps des sowjetischen Staates kulminierte. Drittens hilft uns die Darstellung der Bedeutung der finanziellen Dimension des sowjetischen Zusammenbruches dabei, einige der Eigenheiten des wirtschaftlichen Überganges im postsowjetischen Russland besser zu verstehen. Insbesondere ist es hilfreich, wenn es darum geht, die Stärke von Insidern und Bürokraten bei der groß angelegten Privatisierung in Russland zu erklären – einen Umstand, der zwar nicht nur in Russland vorhanden war, dort jedoch ganz besonders im Vordergrund stand.6 Außerdem kann es nützlich sein, die wichtige Rolle neuer kommerzieller Banken für den postkommunistischen Übergang zu beleuchten – eine Entwicklung, die außerhalb von Russland nirgends in vergleichbarem Ausmaß bemerkbar war.
Das sowjetische Finanzsystem zur Zeit der Perestrojka
Das sowjetische Bankensystem war unmittelbar vor seinem Niedergang immer noch ein Einzelbanksystem, auch wenn es einige einzelne Bankhierarchien gab. Bis Ende der 1980er Jahre waren die sowjetischen Banken passive Institutionen, die dem Staat 4
5 6
Gur Ofer, Budget Deficit, Market Disequilibrium and Soviet Economic Reforms, in: Ed A. Hewett/ Victor H. Winston (Hg.), Milestones in Glasnost and Perestroika, Bd. 1, Washington D.C. 1991, 268–307. Constantine Michalopoulos/David G. Tarr, Trade and Payments Arrangements for States of the Former USSR, Washington D.C. 1992. Zu den umfangreichen Privatisierungen erschienen zahlreiche Publikationen. Vgl. beispielsweise Joseph R. Blasi/Maya Kroumova/Douglas Kruse, Kremlin Capitalism. The Privatization of the Russian Economy, Ithaca 1997.
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strikt untergeordnet waren. Anders als im Westen, wo Banken die Finanzmittelzuweisung nach freien Marktprinzipien festlegen, waren die sowjetischen Banken nur Kanäle für den Fluss von staatlichen Geldern, der von den zentralen Planern strikt festgelegt war. Geld war in der sowjetischen Wirtschaft nicht viel mehr als eine Rechnungseinheit. Alle Bankaktivitäten – die Abwicklung von Zahlungsaufträgen und Krediten, die Zuweisung von inländischem Sparkapital zur Finanzierung der internen staatlichen Schulden, und die Umsetzung der Finanzkontrolle („kontrol‘ rublem“) über sowjetische Staatsbetriebe – wurden von der Gosbank der UdSSR abgewickelt, die über untergeordnete Zweigstellen in jeder Unionsrepublik verfügte.7 Diese Umstände blieben bis 1987/1988 aufrecht, als eine Reihe von durch Michail S. Gorbatschow geförderten Maßnahmen zu weit reichenden Veränderungen im Bankensektor führte. Mit Einführung des so genannten Gesetzes über Staatsunternehmen aus dem Jahr 1987, das den Staatsunternehmen mehr operative Autonomie gewährte, versuchten viele große Unternehmen, ihre eigenen Unternehmensbanken zu gründen.8 Gemäß eines im Juli 1987 vom Ministerrat der UdSSR herausgegebenen und vom Politbüro der sowjetischen Kommunistischen Partei (KPdSU) genehmigten Erlasses, wurde Anfang 1988 ein System von „spezialisierten Banken“ („specbanky“) aufgebaut.9 Die ersten drei großen Spezbanken – die Promstroibank (PSB), die Agroprombank (APB) und die Žilsotsbank (ŽSB) – sollten sich auf unterschiedliche Sektoren der sowjetischen Wirtschaft konzentrieren, auch wenn ihr genauer Kompetenzbereich nie klar beschrieben wurde. Die Gründung dieser Banken ging einher mit der Umstrukturierung der riesigen Staatlichen Sparbank (Sberbank) und der Bank für Außenwirtschaft (Vnešekonombank), durch welche diesen Banken größere Autonomie bei ihren Operationen gewährt wurde.10 Wie die Gosbank waren auch die Spezbanken hierarchisch organisiert und stark zentralisiert. Sie unterhielten Zweigstellen in den Unionsrepubliken sowie in jeder größeren autonomen Republik und Oblast der RSFSR. In jedem der von den Spezbanken abgedeckten Sektoren wurde jedes einzelne Staatsunternehmen einer Spezbank-Zweigstelle zugeordnet, die dann all seine Bankgeschäfte erledigte – einschließlich Zahlungen an Lieferanten und Kunden und Budgettransfers an den Staat. Dies führte dazu, dass die Spezbanken gegen Ende der 1980er Jahre die Schlüsselstelle für Transfers zwischen Unternehmen und dem Staatsbudget waren. Der Erlass, durch den die Spezbanken gegründet wurden, war 7 8
Siehe Hellman, Bank; Johnson, Fistful. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die sowjetischen Staatsbetriebe einer Sparte der Gosbank zugewiesen, die dafür zuständig war, dass die Unternehmen die ihnen von der staatlichen Planungsbehörde (Gosplan) vorgegebenen Ziele erfüllten. 9 Postanovlenie Soveta Ministrov SSSR No. 821, 17.7.1987, in: Sobranie zakonodatel’stva SSSR. 10 Hellman, Bank.
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auch dazu gedacht, die Gosbank vom Mittelpunkt eines Einzelbankensystems zu einer zentralen Staatsbank innerhalb eines dualistischen Systems zu machen. Die neue Regelung sah vor, dass die Gosbank die Hauptverantwortung für die Geldausgabe hatte, während die Spezbanken die „kommerziellen“ Angelegenheiten regeln sollten. Diese Umstrukturierung führte größtenteils jedoch nicht wirklich dazu, dass die zwei Ebenen des Systems getrennt wurden. Vielmehr erwiesen sich die Änderungen im Zahlungssystem in den Jahren 1990/1991 als ausschlaggebend. Eine weitere wichtige Veränderung im sowjetischen Bankensektor, die 1989 ihren Anfang nahm, war das Entstehen neuer kommerzieller Banken gemäß Artikel 23 des Genossenschaftsgesetzes aus dem Jahr 1987.11 Mitte der 1990er Jahre waren bereits fast 300 neue Banken registriert, auch wenn nur 200 davon Zweigstellen in der gesamten Sowjetunion hatten. Trotz der starken Vermehrung der kommerziellen Banken stellten diese nur einen unbedeutenden Teil des Finanzsystems dar, verfügten sie doch über weniger als ein Prozent des Gesamtvermögens und über nur fünf Prozent der Gesamtkredite ab Ende 1990. Sie waren bei der Gosbank der UdSSR registriert und wurden von dieser kontrolliert. Viele von ihnen wurden, wie oben bereits angemerkt, von Ministerien und großen Staatsunternehmen gegründet, die darauf hofften, dass sie „ihre“ Banken als Mittel zur Aufrechterhaltung sanfter Budgetbeschränkungen und zur Vermeidung der finanziellen Disziplin nutzen konnten, die angeblich einer der Eckpfeiler der Perestrojka sein sollte.12 Die Abwicklung der Zahlungsaufträge erfolgte in der sowjetischen Wirtschaft über ein System des Umsatzes im Verrechnungsverkehr bei der korrespondierenden Bank („mežfilial’nye oboroty“, kurz „MFO“), das die Zweigstellen der unterschiedlichen Banken in der gesamten UdSSR miteinander verband. Jedes Unternehmen erhielt einen offiziellen Finanzplan, der verhindern sollte, dass es mehr ausgab als es sollte. Alle Zahlungen und Ausgaben mussten von der lokalen Bankzweigstelle in Entsprechung mit dem Finanzplan des Unternehmens genehmigt werden, und Mitarbeiter in der Zentrale der Spezbank sollten die Finanzflüsse überwachen und so die Erfüllung der Pläne, sowohl individuell als auch zusammengenommen, gewährleisten. Sogar als diese Änderungen Fuß fassten, wurden immer noch alle Transfers in so genannten Verrechnungsrubeln durchgeführt, die nicht direkt in Bargeld konvertiert werden konnten. Barzahlungen an Unternehmen waren auf Gehaltszahlungen und andere Sozialausgaben beschränkt und unterlagen einer strengen Regulierung. 11 B. A. Žebrak, Kommerčeskie banki Rossijskoj Federacii v uslovijach rynočnoj ekonomiki. Voprosy formirovanij i funkcionirovanija [Die kommerziellen Banken der Russischen Föderation unter den Bedingungen der Marktwirtschaft. Fragen der Schaffung und Funktionalität], Moskau 1993, 2f. 12 Ebd.
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Ab dem Jahr 1990 war der Staat dann in der Lage, sein de facto Eigentum von Bankvermögen mit Hilfe seiner Kontrolle über die Geldflüsse aufrecht zu erhalten. Das Bankensystem und das Zahlungsnetzwerk ermöglichten es dem Staat, die Geldflüsse zu überwachen und sicherzustellen, dass seinen Interessen Folge geleistet wurde. Dies war einer der wenigen Zweige der sowjetischen Wirtschaft, die effizient waren.
Die ersten Risse
Bis Mitte der 1990er Jahre hatte das starke Souveränitätsstreben der Unionsrepubliken keine besonderen Auswirkungen auf das sowjetische Finanzsystem. Jede der baltischen Republiken hatte bereits eine unabhängige Zentralbank gegründet, jedoch machten sie das von Grund auf neu, und ihre neuen Banken existierten nur auf dem Papier, parallel zu den Republikszweigstellen der Gosbank der UdSSR auf ihren Gebieten. Keine der Republiken war der zentralen Kontrolle über das Finanzsystem bis zu diesem Zeitpunkt gefährlich geworden. Im Frühling 1990 wurden jedoch Ideen für umfassende Veränderungen im Bankensystem laut. Insbesondere wurden zwei von Grigorij Javlinskij und anderen, an den frühen Entwürfen des späteren „500-Tages-Wirtschaftsplans“ (ein Plan, dessen Umsetzung Gorbatschow im Sommer 1990 erwog, später jedoch wieder verwarf ) beteiligten Ökonomen vorgeschlagene Schritte aktiv diskutiert. Eine Idee war die Errichtung eines zentralen Bankensystems nach Vorbild des US-amerikanischen „Federal Reserve System“. Dieses sollte aus 15 Zentralbanken der Republiken bestehen und sollte das von der Gosbank der UdSSR verwaltete dualistische System ablösen. Die andere Idee war, die Spezbanken in eigenständige kommerzielle Banken in Form von Aktiengesellschaften umzuwandeln. Diese Vorschläge wurden zu diesem Zeitpunkt nicht nur von Javlinskij und den anderen 500-Tages-Plan-Ökonomen, sondern auch von hochrangigen Mitarbeitern der Gosbank ernsthaft in Erwägung gezogen. Hätte die sowjetische Regierung die Änderungsvorschläge angenommen, dann hätte das sowjetische Finanzsystem vielleicht gerettet werden können. Aber im Mai 1990 brachte Jelzin einen neuen Aspekt in die Diskussionen ein. In einer Rede vor dem Russischen Kongress der Volksdeputierten rief er dazu auf, die Spezbanken auf dem Gebiet der RSFSR von ihren Unionshierarchien loszulösen und sie direkt der russischen Regierung unterzuordnen. Die Absicht dahinter war, die russischen Darlehensmittel innerhalb der Republik zu halten und zu vermeiden, dass diese als Kredite an andere Republiken vergeben wurden. Sein Vorschlag erfolgte in Zusammenhang mit der „Selbstfinanzierung“, einem relativ formlosen Konzept, das von Gorbatschow
Russland, der Niedergang des sowjetischen Banken- und Finanzsystems und der Zusammenbruch der UdSSR
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in Zusammenhang mit dem Gesetz über Staatsbetriebe gefördert worden war, und anderen, kurz davor umgesetzten Maßnahmen. Jelzins Möglichkeiten zur Destabilisierung des sowjetischen Finanzsystems wurden mit seiner Wahl zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR Ende Mai 1990 noch gesteigert. Dieser Posten machte ihn de facto zum Präsidenten Russlands. Am 12. Juni 1990, weniger als drei Wochen nach seiner Wahl, verabschiedete das russische Parlament eine Deklaration über die wirtschaftliche Souveränität Russlands – eine Maßnahme, die sich für das sowjetische Regime als schicksalhaft erweisen sollte. Hochrangige Mitarbeiter der Gosbank der UdSSR sahen den von Seiten Russlands nahenden Herausforderungen mit großer Sorge entgegen. Einem dieser ehemaligen Mitarbeiter zufolge lösten die Bestrebungen der russischen Regierung, die Souveränität der RSFSR durchzusetzen, innerhalb der Gosbank „fieberhafte“ Bemühungen zur Erhaltung der zentralen Kontrolle über das Bankensystem aus. Die Gosbank-Manager machten sich Sorgen, die russische Regierung könnte versuchen, das Eigentum der Spezbanken innerhalb der RSFSR zu verstaatlichen, und sie drängten die sowjetischen politischen Führer dazu, den zentralen Verantwortungsbereich über die Vermögenswerte der Spezbanken so schnell wie möglich zu konsolidieren. Obwohl die Frage der Kommerzialisierung der Spezbanken bereits monatelang diskutiert worden war, veröffentlichten der Ministerrat und die Gosbank am 1. Juli 1990 in aller Eile einen Sondererlass, durch welchen die APB und ŽSB in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden. Gemäß diesem Erlass sollten Aktien im Wert von 1.000 Rubel an tausende von Aktionären in der ganzen Sowjetunion ausgegeben werden, wobei das sowjetische Finanzministerium mindestens 174 Aktien von jeder Bank halten sollte. Allem Anschein nach wurde dieser Plan in allergrößter Eile entworfen: Darin war weder ein Mechanismus für die Verteilung der Aktien enthalten, noch wurden potentielle Aktionäre genannt. Außerdem gab er keinen Aufschluss darüber, wie die neuen Aktiengesellschaften funktionieren sollten. Sogar einige Gosbank-Mitarbeiter, wie zum Beispiel Sergej S. Rodionov, waren bestürzt über die schlampige Ausarbeitung des Erlasses. Rodionov bezeichnete das Papier gar als einen Akt „einzigartiger Dummheit“.13 Trotz Rodionovs scharfzüngiger Bewertung erschien der Erlass, vom Blickwinkel der Ziele der Gosbank der UdSSR und ihrem Wunsch nach schnellen Handeln betrachtet, durchaus sinnvoll. Die Gosbank-Führung ging davon aus, dass im Falle einer raschen Verteilung großer Blöcke von Aktien an viele tausende von Eigentümern in den nicht-russischen Republiken, die russische Regierung viel größere Schwierigkeiten dabei hätte, die Spezbanken zu übernehmen. Dieses Prinzip wurde vom 13 Ebd.
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Vorsitzenden der Gosbank, Viktor V. Geraščenko, der, trotz all seiner Schwächen, den Bankensektor sehr gut kannte, explizit verfolgt.14 Ironischerweise wurde dieselbe Denkweise später von Jelzins Wirtschaftsberatern, allen voran Anatolij B. Čubajs, unterstützt, als sie ihr Programm der massenhaften Privatisierung ausarbeiteten.15 Geraščenko hoffte, dass er den Transfer des sowjetischen Staatseigentums durch eine Privatisierung, deren Wiederaufhebung für die russische Regierung inakzeptable Kosten bedeutet hätte, irreversibel machen konnte. Das Problem war, dass der Plan bis zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Papier existierte, und nicht im Detail ausgearbeitet worden war. Die Zeit, die erforderlich war, diese Defizite aufzuholen, ermöglichte es den russischen Behörden, zu reagieren.
Die verschärfte Offensive der russischen Regierung
Am 13. Juli 1990 verabschiedete der russische Oberste Sowjet das folgenschwere Gesetz „Über die Staatliche Bank der RSFSR und das Bankensystem auf dem Gebiet der Republik“. Die Gesetzgebung legte fest, dass alle Banken auf dem Gebiet der RSFSR und deren Aktiva und Passiva Eigentum der RSFSR waren – ausgenommen die für die gesamte Sowjetunion zuständigen Führungsgremien der Gosbank der UdSSR und der Spezbanken. Die Gremien in den einzelnen Unionsrepubliken der PSB, der APB und der ŽSB sollten abgeschafft werden, und die Banken selbst sollten in unabhängige kommerzielle Banken auf Grundlage von Aktiengesellschaften umgewandelt werden. In der Zwischenzeit sollte die Gosbank der RSFSR die Kontrolle über alle Aktiva und Passiva der Spezbanken übernehmen. Zumindest auf dem Papier schien es so, als ob die russische Regierung einseitig alle Staatsbanken auf ihrem Gebiet verstaatlicht hätte. Keine andere Republik, nicht einmal die baltischen Staaten, hatte bis zu diesem Zeitpunkt einen solch radikalen Schritt gesetzt. Trotz der offensichtlich enormen Wichtigkeit des Gesetzes, gab es vor seiner Verabschiedung keinerlei Debatte. Es wurde spätabends am letzten Tag der Sitzung des Obersten Sowjets vorgestellt und innerhalb von zweieinhalb Minuten angenommen.16 Eine der interessanten Fragen, die man sich stellen sollte, ist, wer bei der Durchsetzung des Gesetzes mitwirkte. Es gibt keine Beweise dafür, dass Jelzin selbst das Gesetz 14 Interview mit Viktor Geraščenko, Moskau, Juni 1996; Interview mit Tat’jana Paramonova, Moskau, Juni 1996. 15 Vgl. Maxim Boycko/Andrei Shlaifer/Robert W. Vishny, Privatizing Russia, Cambridge 1995; siehe auch dies., A Theory of Privatization, Discussion Paper No. 1689/1994, Cambridge 1994. 16 Boycko/Shlaifer/Vishny, Privatizing.
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plante oder auch nur direkt unterstützte. Obwohl all seine wichtigsten Wirtschaftsberater zu dieser Zeit – Javlinskij, Fedorov, Burbulis und Michail N. Zadornov – die Errichtung eines neuen föderalen Bankensystems und die Kommerzialisierung der Spezbanken befürwortet hatten, waren sie der Meinung, dass diese Maßnahmen erst nach längeren Verhandlungen mit der Zentralregierung und mit den Regierungen der anderen Unionsrepubliken umgesetzt werden sollten, um jede Art von Schock für das bereits instabile Finanzsystem zu vermeiden. Geraščenko, der einen Tag vor Inkrafttreten des genannten Gesetzes davon hörte, kontaktierte den Premierminister der RSFSR, Ivan S. Silaev, und Grigorij A. Javlinskij, damit ihm diese ihre Pläne schilderten. Javlinskij sagte zu ihm, die Ziele des Gesetzes seien gut, aber die Vorgehensweise müsse noch sorgfältiger ausgearbeitet werden. Auch Silaev versicherte Geraščenko, dass die Regierung die Einführung des Gesetzes verhindern werde.17 Die treibende Kraft hinter diesem Gesetz musste also aus einer anderen Richtung kommen. Die Hauptinitiative kam, wie nun klar ist, von innerhalb des Obersten Sowjets der RSFSR, insbesondere vom Parlamentssprecher Chasbulatov, der in seinem ehemaligen Institut eine Gruppe von Ökonomen zusammenstellte, die die Frage erörtern sollten. Des Weiteren spielte Vladimir V. Rasskazov eine wichtige Rolle, der Leiter des Unterkomitees für Bankwesen im Obersten Sowjet der RSFSR, der über beträchtliches Expertenwissen in Bankenfragen verfügte. Die Tatsache, dass das Gesetz in letzter Minute auf die Tagesordnung gestellt wurde, dass es sehr rasch durch den Obersten Sowjet gedrückt wurde und dass es keine Debatte darüber gab – all das ist bezeichnend für Chasbulatovs Führungsrolle. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass, nachdem das Gesetz angenommen worden war, Jelzin in seiner Funktion als Vorsitzender des Obersten Sowjets Matjuchin, einen bis dahin unbekannten Spezialisten für das amerikanische Bankenwesen aus Chasbulatovs ehemaligem Institut, zum Leiter der Zentralbank Russlands (ZBR) ernannte. Diese Bestellung wurde klarerweise nicht von Javlinskij, Fedorov, Gennadi E. Burbulis oder sonst irgendjemanden aus Jelzins Wirtschaftsteam angeregt. Nachdem sichergestellt war, dass das Gesetz bewilligt wird, war Chasbulatov bestrebt, schnell vorwärts zu kommen. Sobald Matjuchins Bestellung bestätigt war, schickte ihn Jelzin zur Zweigstelle der Gosbank der UdSSR auf dem Oktjabrskaja-Platz, um diese zu übernehmen. Weil jedoch Matjuchin keinen Passierschein für das Gebäude hatte, wurde ihm der Zutritt verweigert. Er beschloss, die Bank am nächsten Tag in Begleitung einer Gruppe von russischen Juristen unter der Leitung 17 Vgl. Interviews mit Viktor Geraščenko, Moskau, Juni 1996; Grigorij A. Javlinskij, Juni 1996; und Ivan S. Silaev, Juni 1996.
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von Michail I. Bočarov und einer Gruppe von Journalisten zu „stürmen“.18 Diesmal wurde Matjuchin hineingelassen. Nachdem der neue Bankdirektor seinen Anspruch auf die Republikszweigstelle der Gosbank der UdSSR geltend gemacht hatte, legte der Leiter der Zweigstelle, Oleg V. Tarasov, ein Rücktrittsgesuch vor, das Geraščenko jedoch nicht akzeptieren wollte. In den folgenden zwei Wochen arbeiteten sowohl Tarasov als auch Matjuchin in dem Gebäude und führten in einem wahrlich dualen Machtsystem viele Funktionen doppelt aus. Die russische Regierung hatte den Fehdehandschuh hingeworfen, und die einzige Frage war, ob die sowjetischen Politiker, allen voran Geraščenko, in der Lage sein würden, die Herausforderung abzuwehren.
Die Reaktion der sowjetischen Regierung
Am 16. Juli 1990, drei Tage nachdem das neue Gesetz angenommen worden war, schickte Geraščenko ein Telegramm aus, das alle Banken, die der Gosbank der UdSSR untergeordnet waren, aufforderte, das Gesetz zu ignorieren, weil dieses, wie er behauptete, gegen Artikel 23 des sowjetischen Eigentumsrechts sowie gegen eine Reihe von Bestimmungen in anderen sowjetischen Gesetzen verstoße. Zwei Tage später verkündete Geraščenko im Fernsehen, dass die sowjetische Regierung die Aktion der russischen Regierung annullieren würde, und dass er, als Leiter der Gosbank der UdSSR, alle regionalen Zweigstellen der Gosbank und die Spezbanken dazu aufgefordert habe, das Gesetz zu ignorieren. Geraščenko setzte eine Anordnung für den Präsidenten auf, die das Gesetz annullieren sollte, und er zweifelte nicht daran, dass Gorbatschow diese unterzeichnen würde. Seine Erwartungen erwiesen sich jedoch als falsch, und man sollte berücksichtigen, warum. Als die Krise um das Bankengesetz einsetzte, war Gorbatschow mit vielen anderen Problemen beschäftigt, und er war sich der Tatsache nicht ganz bewusst, dass schnell gehandelt werden musste, wenn man nicht vor vollendete Tatsache gestellt werden wollte. Erst einige Tage nach Verabschiedung des Gesetzes berief Gorbatschow endlich ein Treffen von sowjetischen und RSFSR-Politikern ein, um den Disput beizulegen. Die sowjetische Seite war durch Geraščenko, Aleksandr N. Jakovlev, Pavlov und Jurij D. Masljukov vertreten. Von russischer Seite kamen Chasbulatov, Silaev und Fedorov, der damals Finanzminister der RSFSR war. Pavlov und Geraščenko begannen das 18 Vgl. Georgii Matjuchin, Ja byl glavnym bankirom Rossii [Ich war der Hauptbankier Russlands], Moskau 1993; sowie Ruslan Chasbulatov, Rossija: pora peremen [Russland: Es ist Zeit für Veränderung], Moskau 1993.
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Treffen mit langen Verurteilungen der Position der russischen Regierung. Beide Männer betonten, dass das Gesetz durch Unterbrechung der Zahlungen und Zerstörung des Budgetnetzwerks zur Zerstörung des Finanzsystems des Landes führen würde. Als Reaktion darauf behaupteten die russischen Politiker, sie würden nur versuchen, einen über-monopolisierten Bankensektor zu dezentralisieren und ein westliches Bankenmodell einzuführen, das auf einem dem Federal Reserve System ähnlichen System und dezentralisierten kommerziellen Banken beruht. Zu Geraščenkos Bestürzung war sich Gorbatschow offenbar nicht im Klaren darüber, was auf dem Spiel stand, und schlug sich auf die Seite der Russen. Der sowjetische Präsident kritisierte Geraščenko für seine Opposition gegen die Dezentralisierung der Bank und gegen die Einführung von internationalen Bankenstandards. Gorbatschow begrüßte außerdem den Gedanken, die Spezbanken zu dezentralisieren, weil diese weithin als ineffizient betrachtet wurden. Der sowjetische Staatsführer drängte die beiden Seiten dazu, einen Kompromiss einzugehen. Er schlug vor, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die die wirtschaftlichen Reformen, einschließlich der Finanzfragen, auf Unions- und Republiksebene koordinieren sollte. Eine Woche später, am 27. Juli 1990, unterzeichneten Gorbatschow, Jelzin, der sowjetische Premierminister Nikolaj I. Ryžkov und Silaev ein Dokument, durch welches eine Arbeitsgruppe, bestehend aus wichtigen Beratern Gorbatschows (Stanislav S. Šatalin, Nikolaj Ja. Petrakov, Leonid I. Abalkin und andere) wie auch Jelzins (Javlinskij, Fedorov, Burbulis und andere), gegründet wurde. Die Arbeitsgruppe sollte den ersten Entwurf für ein gemeinsames Programm bis zum 1. September 1990 ausarbeiten. Gorbatschows Überzeugung, dass die Bildung einer Arbeitsgruppe das Problem lösen könnte, reflektierte seine Prioritäten zu diesem Zeitpunkt. Er wollte nicht, dass der Bankendisput die kürzlich erfolgte Verbesserung der Beziehungen zwischen ihm und Jelzin, der als politischer Herausforderer immer bedrohlicher wurde, gefährdete.19 Pavlov drückte später seine „Verwunderung“ darüber aus, dass der sowjetische Präsident es „abgelehnt hatte, seine konstitutionelle Autorität einzusetzen“, um die Zerstörung des geeinten Finanzsystems zu verhindern – ein „Akt der Unterlassung, der das Schicksal der Sowjetunion besiegelte“.20 Geraščenko meinte später, Gorbatschow hätte einfach nicht verstanden, wie schwerwiegend die Handlungen der russischen Regierung waren. Anstatt Geraščenkos Entwurf für die Anordnung der Annullierung des russischen Gesetzes zu unterzeichnen, erließ Gorbatschow am 29. Juli eine Anordnung, die die Regierungen der Republiken nur dazu aufrief, „davon 19 Zur Beziehungen von Gorbatschow zu Jelzin 1990 vgl. Marc Zlotnik, Yeltsin and Gorbachev. The Politics of Confrontation, in: Journal of Cold War Studies, Vol. 5, No. 1/Winter 2003, 128–164. 20 Interview with Valentin S. Pavlov, Moskau, Juli 1999.
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abzusehen, Gesetzesakte zu verabschieden und einzuführen, die das bestehende Finanz- und Bankensystem zerstören könnten“. Der Text der Verordnung, erinnerte sich Geraščenko, war eine „entmannte Version des Originalentwurfs“.21
Die Übernahme der Spezbanken und der kommerziellen Banken
Der Angriff der russischen Regierung auf das sowjetische Finanzsystem eskalierte am 9. August 1990, als Matjuchin eine „Liquidierungskommission“ einrichtete, die die Aufteilung der drei Spezbanken in neue Aktiengesellschaften beaufsichtigen sollte. Die Kommission wurde von Rodionov geleitet, der in einem Interview verkündete: „Es ist unsere Aufgabe, das alte Staatssystem von oben bis unten zu zerstören.“22 Die Kommission löste alle Büros der PSB, der ASB und der ŽSB in den Republiken auf und bot den Direktoren dieser Büros lukrativere Posten in den neu gegründeten kommerziellen Banken an. Die Aktiva und Passiva der Spezbanken wurden dann an die ZBR transferiert – ein Schritt, den die Gosbank der UdSSR nicht verhindern konnte. Nach diesen vorbereitenden Maßnahmen forderte die Liquidierungskommission alle einzelnen Zweigstellen der Spezbanken dazu auf, sich als kommerzielle Banken auf Grundlage der bereits bestehenden Bilanzen der Spezbanken neu zu gründen. Die Anforderungen an die neuen Banken waren minimal: Jede Bank sollte eine Gruppe von Aktionären anziehen, deren Anteile zusammen gezählt ein Startkapital im Umfang von zwanzig Prozent des Bankvermögens ausmachen sollte. Dabei mussten jedoch nur zehn Prozent im Voraus angezahlt werden – der Rest konnte innerhalb von zwanzig Jahren eingebracht werden. Jede Bank musste ihren Aktionsplan bei der ZBR registrieren. Innerhalb von zwei Monaten waren bei der Russischen Zentralbank 765 neue kommerzielle Banken registriert – davon waren 452 ehemalige APB, 125 ŽSB und 187 PSB. Im Dezember 1990 gab es in ganz Russland keine einzige Filiale der staatlichen Spezbanken mehr. Rodionov beschrieb dieses Ergebnis als „Revolution ohne Blutvergießen, die quasi über Nacht stattfand“. Die ehemaligen Manager und Mitarbeiter der Spezbanken fügten sich bereitwillig in das neue System ein, da es sie von der Abhängigkeit von den unionsweiten Spezbank-Büros befreite. Außerdem wurden den Mitarbeiterkollektiven bis zu zwanzig Prozent der Anteile an den Banken angeboten. 21 Interview mit Geraščenko, Moskau, Juni 1996. 22 Ebd.
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Die Reaktion der sowjetischen Regierung auf diese „Revolution“ war sehr schwach. Gorbatschow selbst ergriff im Herbst 1990 keinerlei Maßnahmen, bis auf die Herausgabe einer weitgehend bedeutungslosen Verordnung „Über Maßnahmen zum Schutz der Unantastbarkeit der Eigentumsrechte in der UdSSR“. Die russische Regierung schenkte jedoch der Verordnung keinerlei Beachtung und Gorbatschow bemühte sich auch nicht sonderlich, sie durchzusetzen. Obwohl der Präsident es verabsäumte zu handeln, versuchten die hochrangigen sowjetischen Bankmitarbeiter, welchen durch die Kampagne der russischen Regierung große Verluste drohten, die Bemühungen der Liquidierungskommission zu durchkreuzen. Jakov N. Dubeneckij, der Leiter der PSB, drohte allen Bankangestellten, die nach russischem Recht handelten, mit Entlassung und Gerichtsverfahren. Um diese Maßnahme wieder auszugleichen, verkündete die ZRB, dass sie allen betroffenen Bankangestellten den notwendigen Rechtsbeistand zur Verfügung stellen würde. Dubeneckij konnte also nicht verhindern, dass die Mitarbeiter der PSB, ebenso wie jene der APB und der ŽSB, massenweise „desertierten“. Die Spezbanken waren natürlich nicht die einzigen Banken auf dem Gebiet der RSFSR. Es gab außerdem noch fast 200 neue kommerzielle Banken, die alle bei der Gosbank der UdSSR registriert waren und ursprünglich der Sowjetbank untergeordnet waren. Die Leiter dieser Banken befürchteten, dass ihr Geschäft in den anderen Republiken bedroht werden könnte, und diese Befürchtungen verstärkten sich am 24. Oktober, als Matjuchin die Lizenzen aller in Russland operierenden Banken für ungültig erklärte und sie aufforderte, sich bei der ZRB neu zu registrieren. Als Anreiz versprach die ZRB den kommerziellen Banken niedrigere Reserveanforderungen als bei der Gosbank der UdSSR sowie das Anrecht auf niedrigere Zinssätze auf Diskontkredite. Durch die Neuregistrierung konnte die ZRB die Computerzugangscodes für jede einzelne Bank innerhalb des gemeinsamen Zahlungssystems ändern, und so unterbinden, dass die Gosbank der UdSSR ihre Aktivitäten überwachen konnte.
Der Angriff auf das System des MFO
Die unmittelbarste und schwerwiegendste Konsequenz des Zusammenbruches der Spezbanken war die Zerstörung des gemeinsamen Systems für Finanzabwicklungen und –transfers, des MFO. Das MFO wurde von den Allunionsfilialen der Spezbanken geleitet, insbesondere von der PSB der UdSSR. Die Hauptbüros der Spezbanken wickelten alle Zahlungs- und Transferanfragen ihrer Zweigstellen in der gesamten Sowjetunion ab. Zu diesem Zweck gab es ein gemeinsames, nach sowjetischen Standards gemessen, höchst ausgeklügeltes Computernetzwerk. Bankangestellte bearbei-
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teten die Anfragen auf dem Papier, und diese wurden dann in das Computersystem eingegeben. Weil die Spezbanken alle Zahlungen und Transfers bewilligen mussten, waren die Hierarchien der Spezbanken für die sowjetische Regierung ein wertvolles, wenn auch indirektes Mittel, um die Einhaltung der Finanzpläne der jeweiligen Unternehmen überwachen zu können. Die Spezbanken wickelten auch alle Zahlungen von Unternehmen an das Staatsbudget ab. Im Dezember 1990 führte Matjuchin ein neues System zur Zahlungsabwicklung ein, das auf einem völlig neuen Netzwerk von „Verrechnungs- und Kassenzentren“ („Rasčetno-kassovye centry“, kurz „RKC“) basierte, das in ganz Russland eingeführt werden sollte. Der Vorschlag ermöglichte es den lokalen Behörden, von Grund auf neue RKC zu gründen und so die Zahlungen in ihren eigenen Regionen zu koordinieren. Jede Bank sollte ein entsprechendes Konto bei ihrem eigenen lokalen RKC eröffnen. Anders als im vereinheitlichen sowjetischen Finanzsystem mit seinem hohen Grad an Zentralisierung sollten die RKZ ihre Transfers direkt untereinander abwickeln und nicht über ein zentrales Büro. Diese scheinbar rein technische Neuerung gehörte zu den radikalsten Maßnahmen der ZRB gegen die Sowjetunion. Sie nahm dem sowjetischen Staat nicht nur die Möglichkeit, die Finanzflüsse innerhalb der gesamten Volkswirtschaft zu kontrollieren und zu überwachen, sondern sie liquidierte auch das Netzwerk, durch welches das Zentrum seine Budgeteinnahmen gesammelt hatte. Der Niedergang des zentralen Zahlungssystems entzog der sowjetischen Regierung außerdem wichtige Einnahmen und machte es unmöglich, dass die sowjetische Regierung zu einer Zeit, in der die Wirtschaft bereits stark schwankte, eine weitere wirtschaftliche Destabilisierung verhindern konnte.
Fazit
Innerhalb nur weniger Monate schaffte es die russische Regierung, das Vermögen des sowjetischen Bankensystems an sich zu reißen und die zentralisierten Bankennetzwerke, durch welche die Gosbank der UdSSR das unionsweite Finanzsystem kontrollieren hatte können, zu zerstören. Der russischen Regierung gelang es außerdem, sich die neu gegründeten kommerziellen Banken unterzuordnen und das Zahlungsnetzwerk zu eliminieren, über welches das gesamte Finanzsystem in der Sowjetunion gelaufen war. Diese Aktion lief nicht auf eine Renationalisierung der finanziellen Ressourcen der Sowjetunion hinaus, wie viele behaupteten. Es handelte sich dabei vielmehr um eine massive de facto Privatisierung, die das Ausmaß der Kuponprivatisierung in der postsowjetischen Ära bei Weitem übertraf.
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Unter Privatisierung versteht man normalerweise die Zusammenfassung von zwei Arten von Gesetzen: der Kontrollgesetze und der Finanzgesetze.23 Die meisten werden zustimmen, dass die Kontrollrechte in der Sowjetunion aufgrund der Schwächung der zentralen Planung und diverser Gesetze, die in den 1980er Jahren verabschiedet worden waren (insbesondere das Genossenschaftsgesetz, das Gesetz über Aktiengesellschaften und das Gesetz über Staatsbetriebe), zu weiten Teilen bereits Mitte des Jahres 1990 an Manager und Bürokraten übergingen.24 Bis zum Angriff der russischen Regierung auf das sowjetische Bankensystem waren die Cash-Flow-Rechte jedoch noch weitgehend im Bereich des sowjetischen Staates, welcher seine Rechte über die Kontrolle des Banken- und Zahlungssystems durchgesetzt hatte. Das vereinheitlichte Zahlungssystem hatte es der sowjetischen Regierung ermöglicht, Geldflüsse zu überwachen und die gesamte UdSSR im finanziellen Bereich zu disziplinieren. Die russische Regierung griff in ihrem Streben nach Autonomie genau jene Institutionen an, durch welche der sowjetische Staat die Cash-Flow-Rechte umsetzte. Obwohl sich die Attacke als erfolgreich erweisen sollte, war die russische Regierung nicht darauf vorbereitet, irgendetwas an Stelle dieser Institutionen zu etablieren. Die ZRB war kaum in der Lage all die neuen Banken zu registrieren, geschweige denn, ihre Aktivitäten an Stelle der Unternehmen zu planen und zu überwachen. Dieser Faktor erklärt auch die Schwäche und Ineffizienz des russischen Bankensektors in der postsowjetischen Phase. Mit der Zerstörung des zentralisierten Bankennetzwerkes und der Eliminierung des MFO-Systems dezentralisierte die ZRB die Kontrolle über die Finanzflüsse. Zum größten Teil wurde die Kontrolle nun an Unternehmensdirektoren und ihre lokalen Bankiers übertragen. Lokale Banken mussten nun nicht mehr die Erlaubnis der Gosbank der UdSSR einholen oder sich an den zentralisierten Budgetplan halten, bevor sie Zahlungen und Transfers durchführten. Unternehmensmanager und lokale Bürokraten übernahmen nun die volle Verantwortung für die Geldflüsse von Unternehmen und lokalen Organisationen. Diese Tatsache ist eine der Erklärungen dafür, warum die breit angelegte postsowjetische Privatisierung von Insidern dominiert wurde. Nur wenige Beobachter innerhalb und außerhalb der Sowjetunion begriffen zu diesem Zeitpunkt das volle Bedeutungsausmaß dieser Veränderungen. Ein hochrangiger Mitarbeiter der Gosbank der UdSSR, Andrej Krišinskij, beschrieb diesen Prozess als „Revolution von oben – das finanzielle Äquivalent der Übergabe von al23 Siehe u. a. László Csaba (Hg.), Privatization, Liberalization, and Destruction. Recreating the Market in Central and Eastern Europe, Dartmouth 1994. 24 Siehe Simon Johnson/Heidi Kroll, Managerial Strategies for Spontaneous Privatization, in: Soviet Economy, Vol. 7, No. 4/October–December 1991, 281–316.
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lem sich unter ihrer Kontrolle befindlichen Eigentum an Betriebe und mit ihnen verbundene glavki (Hauptabteilungen). Dennoch äußert sich niemand dazu.“ Der beste Finanzjournalist des Landes, Ivan Žagel von der Zeitung Izvestija schrieb Ende des Jahres 1990: „Das repräsentiert nicht nur die Zerstückelung des Bankensektors allein, sondern des ganzen Landes.“ Die russischen Beamten und Politiker, die den Angriff durchführten, waren sich durchaus darüber im Klaren, was sie taten. Burbulis behauptete später, dass „wir uns nur durch Erlangung der direkten Kontrolle über die Einnahmen vom Diktat des Sowjetregimes befreien konnten“.25 Etwas Ähnliches sagte auch Rasskazov in einem Gespräch mit Matjuchin im Herbst 1990: „Diese Maßnahmen sind höchst politischer Natur. Heute versuchen jene, die um politischen Einfluss kämpfen, die Kontrolle über die Banken zu gewinnen. Die Macht kommt zu jenen, die das Geld haben.“26 Obwohl wenig andere Leute die Bedeutung der Handlungen der russischen Regierung erkannten, waren die Konsequenzen immens. Der Angriff auf das sowjetische Finanzsystem erschütterte die Kontenabrechnung stark. Zahlungen, die sonst sieben bis zehn Tage in Anspruch genommen hatten, dauerten nun mindestens zwei bis drei Monate. Die Erschütterung des Systems führte im Jahr 1991 auch zu einer massiven Hinwendung zum Tauschhandel, der zum Ende des Jahres bereits mehr als achtzig Prozent aller Transaktionen in Russland ausmachte.27 Schlimmer noch, der Zusammenbruch der zentralen Finanzkontrolle versetzte dem Handel innerhalb der Republiken sowie der Republiken untereinander einen schweren Schlag und verschlimmerte den bereits starken Rückgang in der wirtschaftlichen Produktion noch. Somit erwies sich diese Abfolge von Maßnahmen, die das sowjetische Finanzsystem ab Mitte des Jahres 1990 unterminierten, als eines der entscheidendsten Elemente für den Zusammenbruch der Sowjetunion insgesamt. Bis zum Ende der 1980er Jahre war die Kontrolle der sowjetischen Gosbank über das Finanzsystem unantastbar gewesen. Nun kam es jedoch im Zuge der Perestrojka zu einer Reihe von Veränderungen, die das System angreifbar machten – eine Möglichkeit, die von den wichtigen Funktionären in der russischen Regierung und im Parlament sogleich ergriffen wurde. Wahrscheinlich wäre ein rechtzeitiges und entschiedenes Handeln der sowjetischen Regierung ausreichend gewesen, um die Herausforderung zu meistern, aber Gorbatschows Entscheidung, sich in der kritischen Phase im Sommer 1990 auf die Seite der russischen Behörden zu schlagen, war ein großer Rückschlag für die Gosbank der UdSSR – ein Rückschlag, von dem sich die Bank nicht wieder erholen 25 Interview mit Gennadij E. Burbulis, Moskau, März 1999. 26 Matjuchin, bankirom. 27 Woodruff, Money.
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konnte. Der sowjetische Präsident war zu diesem Zeitpunkt mit einer Vielzahl von internen und externen Problemen konfrontiert, und es überrascht nicht wirklich, dass er es, abgelenkt durch so viele andere Dinge, verabsäumte, die Bedeutung der von Geraščenko geäußerten Bedenken zu begreifen. Natürlich muss man auch sagen, dass wirtschaftliche Themen nie Gorbatschows Stärke waren, und er hätte vielleicht, auch wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sich nachhaltig auf diese eine Sache zu konzentrieren, die Situation nicht richtig erfasst oder wäre nicht bereit gewesen, angemessene Rettungsmaßnahmen zu treffen. Wie dem auch sei, die Tatsache, dass das sowjetische Regime keine wirksame Reaktion zeigte, führte dazu, dass die russische Regierung ihre Übernahme des Finanzsystems in viel kürzerer Zeit zu Ende bringen konnte, als es irgendjemand (einschließlich Chasbulatov) erwartet hätte. Diese abrupte Reihe von Ereignissen führte zu immer größerem Chaos in der sowjetischen Wirtschaft, wobei alle Probleme, die durch Gorbačevs bruchstückhafte Reformen entstanden waren, miteinander vermischt wurden. Auch wenn der Zusammenbruch des sowjetischen Finanzsystems nicht bedeutete, dass der Kollaps des sowjetischen Staates unvermeidbar war, so hat er diesen schlussendlich doch erheblich gefördert. Übersetzung aus dem Englischen: Julija Schellander
Peter Teibenbacher
Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern. Hajnal, Demografische Krise und die Postmoderne (1985/90–2015)
Einleitung und Fragestellung
Es ist für die post-sozialistischen Länder in der EU1 – in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gelegen – evident, dass sie nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhanges starke Veränderungen in maßgeblichen demografischen Prozessen erleben mussten: Die Heiratshäufigkeit nahm ab, das Erst-Heiratsalter stieg an, die eheliche Fertilität ging zurück und die außereheliche Fertilität nahm zu.2 In all diesen Belangen war nach John Hajnal der „Osten“ Europas – er zog eine separierende Linie von St. Petersburg nach Triest – schon in vorindustriellen Zeiten anders gewesen als der Westen: Die Heirat war universeller, das Erst-Heiratsalter niedriger, die eheliche Fertilität höher und die außereheliche Fertilität geringer gewesen als im „Westen“.3 Grundsätzlich gilt dies auch für die sozialistischen Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas in der Zeit von 1945-1989/90. Nach 1989/90 erfolgten zwar die oben erwähnten Veränderungen zu höheren bzw. niedrigeren Werten, dennoch hatten sich bis 2003 deutliche Unterschiede zum „Westen“ erhalten, da diese Prozesse sich im Rahmen 1
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Aus datentechnischen Gründen wird die DDR hier nicht behandelt, da ihr Territorium statistisch ab 1991 im Rahmen der BRD erfasst wird. Aus umgekehrten Gründen werden auch die Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens von der Analyse ausgespart. Vgl. im Überblick Tomáš Kučera u. a. (eds.), New Demographic Faces of Europe, Heidelberg 2000. Vgl. John Hajnal, European marriage patterns in perspective, in: D.V. Glass/D. E. C. Eversley (eds.), Population in History: Essays in Historical Demography, London 1965, 101–143; und John Hajnal, Two kinds of pre-industrial household formation systems, in: R. R. Wall (ed.), Family forms in historic Europe, Cambridge1983, 65–104. Osteuropa betreffend hat Mikolaj Szoltysek bezüglich dieser Muster auf erhebliche Diversitäten hingewiesen und vor allem nachgewiesen, dass das heutige Polen aufgrund seiner demografischen Indikatoren als westwärts der Hajnal-Linie liegend eingestuft werden muss: Mikolaj Szoltysek, Rethinking Eastern Europe: household-formation patterns in the Polish-Lithuanian Commonwealth and European family systems, in: Continuity and Change, vol. 23(3)/2008, 389-427; ders., Spatial construction of European family and household systems: a promising path or a blind alley? An Eastern European perspective, in: Continuity and Change, vol. 27(1)/2012, 11–52. Das ist aber eigentlich nicht verwunderlich, denn dieser Bereich entstand ja erst durch die Verschiebung des polnischen Territoriums nach Westen durch die Beschlüsse der Alliierten im Jahre 1945. Das Polen der Zwischenkriegszeit hatte ja noch viel weiter nach Osten gereicht und war eben zum Gutteil ostwärts der Hajnal-Linie gelegen gewesen.
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Peter Teibenbacher
des 2. Demografischen Übergangs und der sogenannten Postmoderne seit den frühen 1970er Jahren auch in diesem Teil Europas ereigneten. Das mittlere Erst-Heiratsalter der Frauen hatte im Jahre 1990 im „Westen“ – von Portugal über Österreich bis Norwegen – zwischen 24 und 28 Jahren, in den damals bereits post-sozialistischen Ländern aber nur zwischen 21 und 23 Jahren variiert. Im Jahre 2003 betrugen die entsprechenden Werte für den „Westen“ 26 bis 31 Jahre, in den osteuropäischen Ländern – von der ČSR bis zu den Baltischen Republiken und Bulgarien – aber lag die Spanne wieder niedriger, nämlich zwischen 24 und 26 Jahren.4 In beiden Regionen – in schon länger westlich-demokratischen und in post-sozialistischen Ländern – nahm das eheliche Erst-Heiratsalter zu, das West-Ost-Gefälle aber blieb unverändert. Man könnte mit Fug und Recht behaupten: Das Hajnal-Muster hat bis 2003 in den ehemals sozialistischen Ländern überlebt, jedenfalls einmal das weibliche Erst-Heiratsalter betreffend.5 Dirk van de Kaa6 und Ron Lestaeghe7 führten Ende der 1980er Jahre den Begriff des 2. Demografischen Übergangs (Second Demographic Transition, SDT) ein und begründeten damit diese postmodernen demografischen Prozesse der letzten 40-50 Jahre in Westeuropa bzw. 20-30 Jahre in den ehemals sozialistischen Ländern. Hatten die „Goldene Zeit“ der Ehe und der eheliche Baby-Boom zwischen etwa 1955 und 1965 in ganz Westeuropa ein hohe Heiratshäufigkeit, ein niedriges Erst-Heiratsalter, eine hohe eheliche Fertilität, eine niedrige außereheliche Fertilität beschert, 4
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Ferenc Kamáras, Family Formation and Child-Bearing, in: Ildikó Nagy/Marietta Pongrácz/István G. Tóth (eds.), Changing Roles. Report on the Situation of Women and Men in Hungary 2005, Budapest 2006. 85–99, hier 89. Theo Engelen, The Hajnal hypothesis and transition theory, in: T. Engelen/A. P. Wolf (eds.), Marriage and the family in Eurasia. Perspectives on the Hajnal hypothesis. Life at the Extremes, Vol. I, Amsterdam 2005, 51-72; Engelen stellte fest, dass die rohe Heiratsrate – Heiraten pro 1000 Bevölkerung – zwischen 1945 und 1990 in den sozialistischen Ländern Mittel-,Ost- und Südosteuropas stets höher gewesen war als im „Westen“ und fasst zusammen: „After all is said and done, the line drawn in 1965 still stands, even though nowadays Leningrad is called St. Petersburg again“, Engelen, Hajnal, 71. Dirk van de Kaa, Europe’s second demographic transition, in: Population Bulletin 42, 1, 3–57; ders., Postmodern fertility preferences. From Changing Value Orientation to New Behaviour, in: Population and Development Review, 27, 2, 290–331. Ron Lestaeghe/Dirk J. van de Kaa, Twee Demografische Transities? [= Zwei demografische Übergänge?], in: Dirk J. van de Kaa/Ron Lesthaeghe (eds.), Bevolking. Groei en Krimp [= Bevölkerung. Wachstum und Rückgang], Deventer 1986, 9–24; ders./Lisa Neidert, The Second Demographic Transition in the United States, Exception or Textbook example?, in: Population and Development Review, vol. 32(4)/2006, 669–698; ders., Der „Zweite Demographische Übergang“. Ein konzeptioneller Wegweiser zum Verständnis spätmoderner demographischer Entwicklungen in den Bereichen Fertilität und Familienbildung, in: Karl Husa/Christof Parnreiter/Helmut Wohlschlägl (Hg.). Weltbevölkerung. Zu viele, zu wenige, schlecht verteilt?, Wien 2011. 109–147.
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so fand in den späteren 1960er Jahren ein Wandel statt, der in den frühen 1970er Jahren sich statistisch bereits deutlich in einer jeweils gegenteiligen Entwicklung niederschlug. Vor allem individuelle Autonomie, soziale und ökonomische Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und moderne/individuelle Kommunikationsmittel sind die kulturellen wie auch sozio-ökonomischen Grundlagen des SDT8. Er spielte und spielt sich deshalb auch vor allem dort ab, wo Demokratie und Individualismus bereits fortgeschritten sind bzw. waren. Als Ursachen werden sowohl sozio-ökonomische als auch sozio-kulturelle angeführt, einander ergänzend und jeweils für sich allein als nicht ausreichend taxiert, um die Bewegungen zu erklären. Hier soll nun der Frage nachgegangen werden, ob sich dsbzgl. zwischen 2004 und 2015 etwas verändert hat, oder ob die alten Muster noch immer intakt sind.9 Hier sollen nun einige, zentrale demografische Indikatoren, welche auch schon in der Hajnal-These und seiner berühmter line bzw. in der älteren und rezenteren Debatte10 um diese und um die Prozesse in den post-sozialistischen Ländern zwischen 1990 und 2003 eine zentrale Rolle spielten bzw. spielen in jeweils neun Ländern Ost- und Westeuropas untersucht werden.
8 9
Vgl. Lestaeghe, Übergang. Neben der Nachwirkung von Traditionen – dafür steht die Hajnal-Linie – und dem Wirken postmoderner Faktoren muss man für die 1990er Jahre natürlich auch ein unmittelbares Krisensymptom mitkalkulieren: Männer und Frauen verloren ihre Jobs, Kinderärzte, Kindergärten und Wohnungen kosteten plötzlich eine Menge Geld, alles wurde erheblich teurer, nur die Einkommen stiegen nicht. Zur Debatte, wie viel Postmoderne und wie viel Krise in den 1990er Jahren die demografischen „Erdbeben“ verursachten vgl. Ferenc Kamarás, Family Formation and Child-Bearing in Europe, in: I. Nagy/M. Pongrácz/I. G. Tóth (eds.), Changing Roles: Report on the Situation of Women and Men in Hungary 2005, Budapest 2006, 85–99; sowie Tomáš Sobotka, The diverse faces of the second demographic transition in Europe, Demographic Research, vol. 19/2008, 171–224; und zu europäischen Divergenzen und Konvergenzen in den living arrangements vgl. Tineke Fokkema/Aart C. Liefbroer, Trends in living arrangements in Europe: Convergence or Divergence?, in: Demographic Research, vol. 19 (Article 36)/2008, 1351–1418. 10 Vgl. Karl Kaser, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien/Graz/Weimar 1995; Michael Mitterauer, Peasant and non-peasant family forms in relation to the physical environment and the local economy, in: R. L. Rudolph (ed.), The European peasant family and society, Liverpool 1995, 26–48; Markus Cerman, Mitteleuropa und die europäischen Muster. Heiratsverhalten und Familienstruktur in Mitteleuropa, 16.-19.Jahrhundert, in: J. J. Ehmer/T. K. Hareven/R. Wall (eds.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt/ Main 1997, 327–346; und Dimiter Philipov, Low fertility in Central and Eastern Europe: Culture or economy?, in: International Perspectives on Low Fertility: Trends, Theories and Policies. IUSSP working group on low fertility Conference, Tokyo 2001.
230
Peter Teibenbacher
Untersuchte demographische Indikatoren: −− Heiratshäufigkeit versus Scheidungshäufigkeit −− Heiratsstatus versus Partnerschaft −− Erst-Heiratsalter −− Eheliche Fertilität versus außereheliche Fertilität
Die demografischen Prozesse Heiratshäufigkeit versus Scheidungshäufigkeit11
Die Heiratshäufigkeit ist – ebenso wie das Erst-Heiratsalter – eine zentrale Kategorie in der Theorie des John Hajnal bzw in der Theorie des EMP (European Marriage Pattern): Im Osten wurde in der ferneren Vergangenheit immer mehr geheiratet, nur wenige Frauen blieben ihr Leben lang ledig. Im Osten Europas findet man daher früher eher eine overall marriage,12 während man im Westen immer mit rd. 40% lebenslang ledigen Frauen rechnen muss. Als Hauptursache führte man das im Westen dominierende Ein-Erbensystem in der Bauernschaft und die hohen Anzahlen von Gesindepersonen an, welche zum Teil sogar durch Restriktionen an der Heirat gehindert wurden.13 Die Heiratshäufigkeit verläuft – nicht überraschend – sehr ähnlich zur ehelichen Fertilität. Sie bricht in den 1990er Jahren stark ein, das muss man mehrheitlich dem Krisenmoment zuordnen, erst nach 2000 gibt es eine Erholung – übrigens wie im Westen auch. Die Kosten für eine Heirat bzw. Haushaltsgründung stiegen in der post-sozialistischen Zeit enorm an, hier waren Grundbedarfe nicht mehr zu decken. Erst später kann man davon ausgehen, dass eine stets größere Anzahl von Frauen und Männern bewusst eine Alternative zur formalen Ehe suchen, was einem postmodernen Effekt entspräche. In den post-sozialistischen Ländern werden konsensuale und registrierte Lebensgemeinschaften/Partnerschaften erst nach der Jahrtausendwende relevant. Wie auch bei der ehelichen Fertilität müssen wir aber davon ausgehen, dass es auch in den ehemals sozialistischen Ländern seit den 1970er Jahren so etwas wie eine 11 Vgl. eurostat Statistics Explained, Statistiken zu Eheschließungen und Scheidungen http://ec.europa.eu/ eurostat/statistics-explained/index.php/Marriage_and_divorce_statistics/de, 30.5.2016, 17:30 Uhr, Mozilla Firefox. 12 Vgl. Hajnal, marriage; und Hajnal, household. 13 Vgl. Michael Mitterauer, Ledige Mütter, München 1983.
231
Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern
Postmoderne gegeben haben muss.14 Dort wird man sie aber wohl mehr als Entwicklung gegen den Willen der Ideologie und des Systems gerichtet interpretieren müssen denn als letztlich konsequente Fortsetzung der Liberalität, des individuellen Rechts und der ökonomischen Optionen einer Frau. Tabelle 1: Eheschließungen/Scheidungen pro 1000 Frauen, 15-64 Jahre alt
Postsozialistisches Europa
1985
2000
2015
Bulgarien
22,2 / 4,8
12,5 / 3,8
10,4 / 4,5
CSR
23,9 / 9,0
15,5 / 8,3
13,1 / 7,7
Estland
24,4 / 11,5
11,3 / 8,7
14,3 / 7,4
Lettland
26,4 / 12,8
11,0 / 7,6
33,8 / 16,9
Litauen
27,8 / 9,3
14,0 / 9,0
22,1 / 9,8
Polen
21,9 / 4,0
16,1 / 3,3
14,2 / 5,0
Rumänien
21,5 / 4,4
17,6 / 4,0
17,8 / 4,1
Slowakei
23,3 / 4,7
13,8 / 5,0
12,4 / 5,5
Ungarn
20,4 / 8,2
13,5 / 6,8
11,5 / 5,8
Median
23,3 / 8,2
13,8 / 6,8
14,2 / 5,8
Westeuropa
1985
2000
2015
Belgien
11,4 / 3,7
8,6 / 5,2
11,6 / 7,2
Dänemark
11,3 / 5,6
14,2 / 5,3
15,7 / 10,8
Irland
10,6 / 1,0
10,1 / 1,4
13,7 / 1,9
Griechenland
12,6 / 1,5
8,9 / 2,1
14,9 / 4,7
Italien
10,3 / 0,5
9,7 / 1,3
9,6 / 2,7
Niederlande
11,3 / 4,7
11,0 / 4,3
11,9 / 6,4
Österreich
11,3 / 3,9
8,5 / 4,7
12,6 / 5,9
Portugal
13,2 / 1,7
12,0 / 3,6
9,0 / 6,5
Finnland
10,2 / 3,6
9,9 / 5,3
14,2 / 8,0
Median
11,3 / 3,6
9,9 / 4,3
12,6 / 6,4
Überhaupt muss man davon ausgehen, dass in den sozialistischen Systemen die Frau einer noch stärkeren Mehrfachbelastung ausgesetzt war als im Westen. Sie sollte eine gute Ehefrau und Mutter sein, sie sollte eine gute, sozialistische Arbeiterin sein – und 14 Eine noch gar nicht erforschte These. Umgekehrt wird wohl ein postmoderner Sozialismus nach 1989 diskutiert, sozusagen als Überlebensvariante des Sozialismus.
232
Peter Teibenbacher
sie sollte auch noch Frau sein, also gut aussehen, regelmäßig zum Friseur gehen, sich adrett kleiden etc. Hier haben sowohl die soziale Tradition als auch der moderne Sozialismus (beide im Sinne eines zwanghaften Kollektivismus) die Frau verheiratet sehen wollen. Der starke Rückgang in der Heiratshäufigkeit in den post-sozialistischen 1990er Jahren muss wohl auch als Folge einer Art Befreiungsschlag der Frauen interpretiert werden. Relativ am geringsten ist der Rückgang der Heiratshäufigkeit zwischen 1985 und 2000 im explizit katholischen Polen und im explizit orthodoxen Rumänien, relativ am stärksten ist er in Lettland und Estland.15 Heiratsstatus versus Partnerschaft
Die Häufigkeit der Eheschließung mündet schlussendlich in einen Anteil verheirateter Personen. Dieser war regional in der europäischen Geschichte sehr variabel.16 Leider liegen auch keine vergleichbaren Daten für alle Länder und Jahre bzgl. dieser Anteile vor. Die Daten zu den consensual unions sind natürlich nicht sehr verlässlich, irgendwann müssen diese Leute ja angeben/sagen, dass sie in einer solchen leben, sonst gibt es keine Evidenz. Die für ca. 1990/95 verfügbaren Daten lassen den Schluss zu, dass in vielen osteuropäischen, damals schon post-sozialistischen Ländern die overall marriage nach Hajnal noch annähernd präsent war. Die Anteile der unter den 30-34-Jährigen verheirateten Frauen lagen in mehreren Ländern an die oder über 80%, in den meisten westeuropäischen Ländern aber waren sie deutlich niedriger. Nur in den mediterranen Ländern Portugal, Italien und Griechenland waren die Werte ähnlich hoch, auch dies war um 1990/95 noch der Tradition geschuldet.17 Während aber in Westeuropa die Anteile der formal Verheirateten und jener in konsensualen und registrierten Gemeinschaften Lebenden im Jahre 2011 zusammengerechnet (Mediananteile) nicht viel niedriger liegen als die Anteile der um 1990/95 als formal verheiratet Registrierten, ist in den post-sozialistischen Ländern dsbzgl. ein starker Einbruch zu verzeichnen. Diesen muss man wohl hauptsächlich einer mangelnden Erfassung der in Gemeinschaften, vor allem in den consensual unions Le15 Zu Estland vgl. eurostat Statistics Explained, Marriages and births in Estonia, http://ec.europa.eu/ eurostat/statistics-explained/index.php/Marriages_and_births_in_Estonia, 27.5.2016, 20:12 Uhr, Mozilla Firefox. 16 Vgl. Hajnal, marriage; und Hajnal, household. 17 Vgl. Peter Laslett, Family and household as work group and kin group: areas of traditional Europe compared, in: R. Wall/J. J. Robin/P. Lasslett (eds.), Family forms in Historic Europe, Cambridge 1983, 513–564; Statistisch hängt der Anteil der Verheirateten unter den 30-34-Jährigen um 1990/95 in Westeuropa natürlich von der Heiratsrate in der 1.Hälfte der 1960er Jahre ab, dem „Golden Age“ der Heirat während des Baby-Booms.
233
Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern
benden zuschreiben. Eine Annahme, dass im Jahre 2011 in den post-sozialistischen Ländern wirklich um so viel mehr Singles unter den 30-34-Jährigen Frauen lebten als um 1990/95, ist sicher nicht realistisch. Außerdem muss man davon ausgehen, dass konsensuale und registrierte Lebensgemeinschaften kein absoluter Gegenentwurf zur klassischen Heirat, sondern eine entsprechende Lebensform in der „young adulthood“ sind, oft gefolgt von einer späteren Heirat, insbesondere nach der Geburt eines Kindes.18 Tabelle 2: Anteile Frauen verheiratet / in Lebensgemeinschaften (unter 30-34-Jährigen)19
Postsozialistisches Europa
ca. 1990/95
2011
Bulgarien
84,8% / keine Daten
48,7% / 22,3%
CSR
81,7% / keine Daten
45,2% / 10,9%
Estland
62,6% / keine Daten
35,0% / 31,2%
Lettland
69,8% / keine Daten
38,6% / 14,5%
Litauen
78,6% / keine Daten
57,1% / 8,9%
Polen
87,7% / keine Daten
60,6% / 3,6%
Rumänien
86,1% / keine Daten
67,2% / 6,5%
Slowakei
keine Daten
35,9% / 5,4%
Ungarn
80,9% / keine Daten
44,6% / 19,4%
Median
81,3% / keine Daten
45,2% / 10,9%
Westeuropa
ca. 1990/95
2011
Belgien
74,9% / keine Daten
44,2% / 25,5%
Dänemark
52,8% / keine Daten
47,7% / 25,5%
Irland
75,5% / keine Daten
45,3% / 16,8%
18 Caroline Berghammer/Katrin.Fliegenschnee/Eva-Maria Schmidt, Cohabitation and marriage in Austria: Assessing the individualization thesis across the life course, in: Demographic Research, vol. 31 (article 37)/2014, 1137–1166. 19 Sowohl für consensual unions als auch für registered partnerships, vgl. eurostat/Population by family status and NUTS 3 region: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do, 30.05.2016, 16:35 Uhr, Mozilla Firefox; zu den Daten für ca.1990/95 vgl. T. Kucera u. a., New Demographic Faces of Europe, Heidelberg 2000, 10 und 57; vgl. auch eurostat http://ec.europa.eu/eurostat/web/ population-demography-migration-projections/population-data/database, 30.05.2015, 16:20 Uhr, Mozilla Firefox; Central Statistics Office of Ireland: http://www.cso.ie/px/pxeirestat/Statire/SelectVarVal/Define.asp?maintable=A0201&PLanguage=0, 30.05.2016, 16:40 Uhr, Mozilla Firefox; UNEFE/Fertility and Family Survey (FFS): http://www.unece.org/pau/ffs/ffstab.html, 31.5.2016, 10:25 Uhr, Mozilla Firefox.
234
Peter Teibenbacher
Griechenland
85,8% / keine Daten
59,0% / 3,7%
Italien
79,0% / keine Daten
46,8% / 10,8%
Niederlande
71,0% / keine Daten
43,8% / 29,9%
Österreich
70,7% / keine Daten
44,2% / 19,5%
Portugal
84,2% / keine Daten
52,2% / 18,3%
Finnland
69,5% / keine Daten
47,6% / 24,5%
Median
75,5% / keine Daten
46,8% / 19,5%
Erst-Heiratsalter
Auch das Erst-Heiratsalter der Frauen ist eine zentrale Kategorie in der Theorie John Hajnal’s und im EMP: Im Osten wurde früher und jünger geheiratet als im Westen, das Heiraten war dort sozial nicht an den Antritt eines Erbes – vor allem durch den Mann – geknüpft. Das Erst-Heiratsalter der Frauen – dieses ist und war stets und überall niedriger als das der Männer! – war in den post-sozialistischen Ländern zu Zeiten des Sozialismus noch deutlich niedriger als heute (2015). Tabelle 3: Mittleres Erst-Heiratsalter der Frauen
Postsozialistisches Europa
1990
2000
2014
Bulgarien
21,5
24,7
26,9
CSR
21,6
24,6
28,7
Estland
22,4
25,2
29,0
Lettland
22,2
25,4
28,2
Litauen
22,7
23,8
27,3
Polen
22,6
24,1
26,7
Rumänien
23,9
23,7
26,7
Slowakei
22,0
24,1
28,1
Ungarn
22,0
24,8
29,3
Median
22,2
24,6
28,1
Westeuropa
1990
2000
2014
Belgien
24,4
26,9
29,4
Dänemark
27,8
29,9
31,9
235
Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern
Irland
26,6
30,5
34,3
Griechenland
24,9
27,2
29,9
Italien
25,9
27,8
31,3
Niederlande
26,1
28,0
30,4
Österreich
25,2
27,4
30,6
Portugal
24,6
25,2
29,8
Finnland
26,3
28,3
30,6
Median
25,9
27,8
30,6
Hier haben sich einerseits postmoderne Effekte niedergeschlagen, das postponing betrifft vor allem Frauen, die sich eher für eine bessere Ausbildung als für eine frühe Heirat entscheiden und ökonomisch keine frühe Heirat brauchen, um „versorgt“ zu sein. Gesellschaftlich hat sich das Bild auch geändert, die Emanzipation der Frauen lässt den „Versorgungsgedanken“ gar nicht mehr zu. Der Abstand zwischen den östlichen und westlichen Werten aber ist trotzdem mit etwa drei Jahren gleich geblieben. Hier könnte man das Fortleben von Traditionen ins Spiel bringen, Hajnal und das EMP haben überlebt.
Eheliche Fertilität versus außereheliche Fertilität
Die eheliche Fertilität war in den post-sozialistischen Ländern noch in den 1980er Jahren deutlich höher als in Westeuropa. Die Postmoderne selbst gab es offensichtlich in abgeschwächter Form auch im sozialistischen Europa, die Werte der ehelichen Fertilität waren hier im Jahre 1965 – zu Zeiten des Baby-Booms und des Golden Age der Heirat in Westeuropa – leicht höher gewesen als in 1985, aber niedriger als in Westeuropa. Die ehemals sozialistischen Länder erlebten den Baby-Boom nicht einer vergleichbaren Weise. Der starke Rückgang zwischen 1985 und 2000 ist in den post-sozialistischen Ländern aber wohl mehrheitlich der demografischen Krise aufgrund der ökonomischen Transformation geschuldet: Schulen und Kindergärten kosteten mit einem Mal viel Geld, ebenso der Kinderarzt, Männer und Frauen verloren ihren Job, die Wohnungen wurden um Vieles teurer etc., mit einem Wort: Die Kosten stiegen enorm. Und es waren eben weniger gestiegene Bedürfnisse, welche diese Kostensteigerungen verursacht hätten20, das wäre der postmoderne Effekt, sondern es 20 Zum Zusammenhang von steigenden Bedürfnissen potentieller Eltern, dadurch steigenden Kosten (dem relative income) und dem Rückgang der Fertilität vgl. Richard Easterlin, An Economic Fra-
236
Peter Teibenbacher
waren die nicht oder nur mehr schwer bedienbare Grundbedürfnisse, das eben war der Kriseneffekt. Seit der Jahrtausendwende ist der Rückgang wesentlich geringer, diesen kann man wohl mehrheitlich einer postmodernen Entwicklung zuschreiben. Das Grundproblem beim Umgang mit der postmodernen außerehelichen Fertilität ist ein statistisch-kategoriales. Während sich die gesellschaftlichen Umstände gegenüber der etwas ferneren Vergangenheit grundlegend geändert haben – unehelich Geborene und unverheiratete Mütter werden sozial und im Gesetz nicht mehr diskriminiert, es gibt öffentliche Unterstützungszahlungen auch für letztere und es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, in anerkannten (consensual union) oder registrierten Lebensgemeinschaften (registered partnership) zu leben -, so ist die statistische Kategorie „unehelich“ leider immer noch – wie früher auch – rein an den formale Heiratsstatus (formally married) geknüpft. So stammen etwa in Portugal21 im Jahre 2011 rd. drei Viertel der außerehelichen Geburten aus Paargemeinschaften, in Irland sind es immerhin auch noch 55%,22 in beiden Fällen handelt es sich explizit um katholische Länder. Im EU-28 Raum machen diese Geburten inzwischen in vielen, allerdings vorwiegend westlichen Ländern die Mehrheit aus.23
Tabelle 4: Eheliche / außereheliche Geburten je 1000 Frauen, 15-64 Jahre alt
Postsozialistisches Europa
1985
2000
2015
Bulgarien
34,9 / 4,6
16,2 / 10,1
11,8 / 16,9
CSR
37,3 / 2,9
19,9 / 5,5
16,8 / 14,7
mework for Fertility Analysis, in: Studies in Family Planning, vol 6(3)/1975, 54–63. Zur Debatte um die Rolle einer Transformationskrise oder postmoderner Effekte in den demografischen Veränderungen in Osteuropa vgl. Miroslav Macura/Gijs Beets (eds.), Dynamics of Fertility and Partnership in Europe. Insights and Lessons From Comparative Research, Vol.1, New York 2002; Tomáš Sobotka, Postponement of Childbearing and Low Fertility in Europe, Amsterdam 2004; Tomáš Sobotka/Laurent Toulemon, Changing family and partnership behavior: common trends and persistent diversity across Europe, Demographic Research, vol. 19(article 6)/2008, 85–138. 21 Vgl. PORDATA, abrufbar unter http://www.pordata.pt, 28.5.2016, 19:35 Uhr, Mozilla Firefox. 22 Vgl. Central Statistical Office of Ireland, abrufbar unter http://www.statcentral.ie, 28.5.2016, 19:38 Uhr, Mozilla Firefox. 23 Vgl. EU-Statistik und Population Reference Bureau, Rising Trend of Births outside Marriage http:// www.prb.org/Publications/Articles/2013/nonmarital-births.aspx, 28.5.2016, 16:23 Uhr, Mozilla Firefox; sowie eurostat Statistic s explained, Marriage and birth statistics – new ways of living together in the EU http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/ Marriage_and_birth_ statistics_-_new_ways_of_living_together_in_the_EU 28.5.2016, 19:45 Uhr, Mozilla Firefox.
237
Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern
Estland
keine Daten
12,2 / 14,6
keine Daten
Lettland
37,4 / 6,3
14,5 / 9,8
32,9 / 25,8
Litauen
44,1 / 3,3
22,0 / 6,4
21,5 / 8,8
Polen
52,3 / 2,8
25,3 / 3,5
21,5 / 6,9
Rumänien
keine Daten
22,6 / 7,8
20,0 / 9,1
Slowakei
50,5 / 3,6
24,1 / 5,4
17,6 / 11,2
Ungarn
32,9 / 3,3
19,5 / 8,0
14,5 / 13,3
Median
37,4 / 3,3
19,9 / 7,8
18,8 / 12,3
Westeuropa
1985
2000
2015
Belgien
21,0 / 1,6
16,0 / 6,3
16,4 / 18,0
Dänemark
11,8 / 8,9
13,8 / 11,1
14,9 / 16,5
Irland
32,3 / 3,0
19,7 / 9,1
28,8 / 15,6
Griechenland
22,7 / 0,4
18,1 / 0,8
23,8 / 2,1
Italien
18,8 / 1,1
16,7 / 1,8
18,2 / 7,4
Niederlande
22,4 / 2,0
19,3 / 6,4
16,3 / 16,5
Österreich
17,1 / 4,9
13,0 / 5,9
16,6 / 11,9
Portugal
22,1 / 3,1
17,6 / 5,0
11,9 / 11,6
Finnland
20,6 / 4,3
13,0 / 8,4
19,0 / 14,3
Median
21,0 / 3,0
16,7 / 6,3
16,6 / 14,3
Der Anstieg der Unehelichkeit in den post-sozialistischen Ländern zwischen 2000 und 2015 ist aber sicherlich zum Gutteil den inzwischen auch dort weiter verbreiteten konsensualen –aber offensichtlich statistisch oft nicht evidenten – und den registrierten Lebensgemeinschaften geschuldet. Das zweite Problem mit der Unehelichkeit ist die Berechnung. Die meistens verwendete Unehelichkeitsrate/quote (= Anteil der unehelichen Geburten an allen Geburten) ist in den letzten Jahrzehnten tatsächlich stark angestiegen. Dabei wird aber übersehen, dass die Fertilität in den Ehen viel stärker abgenommen, als die uneheliche Fertilität zugenommen hat und die Unehelichkeitsquote rein rechnerisch aber auch von diesen Zahlen abhängt.24 24 Im österreichischen Bundesland Steiermark – stets ein Land hoher Unehelichkeitswerte – sind nach einer einfachen Regressionsrechnung rd 66% der Zunahme in der Unehelichkeitsrate/quote mit dem Rückgang der Anzahlen der in Ehen Geborenen zu erklären. Vgl. Sebastian Klüsener, Spatial variation in non-marital fertility across Europe in the twentieth and twenty-first centuries: recent trends, persistence of the past, and potential future pathways, in: The History of the Family, vol. 20(4)/2015, 593–628. Klüsener verwendet in seiner rezenten und auf das ganze 20.Jahrhundert
238
Peter Teibenbacher
Zusammenfassung
Berücksichtigt man die drei Faktoren, welche zu einer Veränderung bzw. zu einer Stabilität von Mustern zentraler demografischer Prozesse bzw. Indikatoren in den post-sozialistischen Ländern im Vergleich zu Westeuropa führten, nämlich die Tradition (Hajnal-Linie), die Postmoderne und die demografische Krise nach 1989, so kommt man zu relativ eindeutigen Schlussfolgerungen. Das Erst-Heiratsalter der Frauen erlebt auch in den post-sozialistischen Ländern seit 1990 den postmodernen Anstieg, im Durchschnitt sind die Frauen bei der Erstheirat aber auch im Jahre 2015 um drei Jahre jünger. Hier spiegelt sich also auch die Tradition alter Muster wieder. Die Heiratshäufigkeit spiegelt in ihrem starken Rückgang zwischen 1985 und 2000 einerseits die demografische Krise der 1990er Jahre wieder, der Rückgang um fast die Hälfte zwischen diesen beiden Jahren ist mit dem Einsetzen des Postmoderneeffektes alleine nicht erklärbar. Auch heute liegt der postsozialistische Wert noch um etwa ein Sechstel über dem westeuropäischen. Bis zu einem gewissen Grad ist also auch hier das Fortleben eines eher osteuropäischen Musters im Sinne der Hajnal-Theorie selbst über die demografische Krise und die Postmoderne hinweg beobachtbar. Das Pendant zur Heirat – die Scheidung – zeigt einen geradezu paradoxen Verlauf: Die Scheidungsraten waren in den ehemals sozialistischen Ländern deutlich höher als im postmodernen Westen, sind in ersteren kontinuierlich gesunken und heute niedriger als im Westen. Die Werte erfahren hier nur wenig Veränderung in den letzten 30 Jahren, während sie im Westen deutlich anstiegen. Hier hat also der Osten keine Postmoderne wie der Westen erlebt.Die eheliche Fertilität hingegen brach während der Krise der 1990er Jahre massiv ein und nahm um 40% gegenüber dem Wert von 1985 ab. Ab 2000 erfolgte zwar eine nur mehr leichte Abnahme, der westeuropäische Wert hingegen stieg wieder leicht an, sodass heute beide Regionen eine sehr ähnliche eheliche Fertilität aufweisen. Hier also war die Schockkrise nach 1989 der entscheidende Faktor, erst nach 2000 setzt der postmoderne Rückgang ein. Die außereheliche Fertilität hingegen verläuft im Trend und auch in der Höhe der Werte seit 1985 sehr ähnlich der westeuropäischen Entwicklung. Hier war Hajnal sozusagen schon in den ehemals sozialistischen Länder überholt. Während man für 1990/95 in den mittel/ost- und südosteuropäischen, post-sozialistischen Ländern noch von einem Fortleben der Tradition in den hohen Anteilen der formal Verheirateten (overall marriage nach Hajnal, Ausnahmen waren Estland und Lettland) sprechen kann, so ist dieser Anteil bis 2011/2015 dramatisch gesunken. Mittlerweile ist dieser Anteil im Westen sogar höher. Man kann dies aber nicht abzielenden Europa-Studie allerdings die Rate/Quote.
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Demografische Prozesse in postsozialistischen EU-Ländern
einer Masse an angeblichen Singles zuschreiben, sondern muss von einer viel zu geringen Erfassung der konsensualen Lebensgemeinschaften ausgehen. Während des Sozialismus lebten aber in diesen Ländern im Wesentlichen offensichtlich ältere, Hajnal’sche Muster fort (niedrigeres Erst-Heiratsalter, höhere Heiratshäufigkeit, höhere Anteile Verheirateter, geringere außereheliche Fertilität als in West- und Nordeuropa, aber wieder sehr ähnlich den mediterranen Ländern)25. Diese begannen sich zuerst als Folge der demografischen Krise im Rahmen der Transformationskrise in den 1990er Jahren deutlich zu ändern und zeigten dabei eine der westund nordeuropäischen Postmoderne ähnliche Entwicklungsrichtung. Anschließend, seit etwa der Jahrtausendwende, wurden dann die Reste dieser Muster schließlich durch eigentlich postmoderne Effekte ersetzt. Es kam dadurch aber zu keiner einfachen Angleichung der westeuropäischen Werte an die osteuropäischen Zahlen. Es war vielmehr eher die Richtung die gleiche, die Stärke der Bewegung war unterschiedlich. Dies führte teilweise zu einer teilweise starken (z.B. in der Heiratshäufigkeit und in der ehelichen Fertilität) , teilweise nur zu einer schwachen (z.B. in der unehelichen Fertilität ), teilweise zu gar keiner Verringerung (z.B. im Erst-Heiratsalter der Frauen) der alten Abstände oder es kam gar zu einer Umkehrung der Verhältnisse (z.B. bei der Scheidungshäufigkeit oder – allerdings gilt es dabei statistische Erhebungsprobleme einzukalkulieren – bei den Anteilen der Verheirateten). Tabelle 5: Generelle Konvergenzen und Divergenzen
1
1985/1990 1990/95
2000
2014/15
Tendenz
Erst-Heiratsalter1
0
-
0
0
Osten > Westen >
Anteil verheirateter Frauen unter Frauen 30-34 Jahre alt2
-
0
-
3
Osten < Westen
Heiratshäufigkeit5
9
5
3
Osten < Westen