Grenzen des Neoliberalismus: Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert 3515120858, 9783515120852

Der Liberalismus veränderte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts rasant: Neoliberale Positionen gewannen mit ihr

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German Pages 371 [374] Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
(Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler)
Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus
im späten 20. Jahrhundert
Großbritannien und der Liberalismus in der Bundesrepublik
(Frank Bösch)
Krisenkinder. Neoliberale, die Grünen und der Wandel
des Politischen in den 1970er und 1980er Jahren
(Wencke Meteling)
Statt Phoenix nur Asche. Thatchers wirtschaftspolitisches
Experiment 1979–1982 in der deutsch-britischen Pressekritik
(Sina Fabian)
Der Yuppie. Projektionen des neoliberalen Wandels
Konzepte wirtschaftspolitischen Handelns
(Dierk Hoffmann)
Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? Von der Kapitalismuskritik
der Gründungsphase bis zur Riester-Rente
(Thomas Handschuhmacher)
Eine „neoliberale“ Verheißung. Das politische Projekt der
„Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre
Liberalisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik?
(Marc Buggeln)
Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? Der Umgang von
FDP und CDU/CSU mit den öffentlichen Finanzen in den 1970er
und 1980er Jahren
(Ralf Ahrens)
Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? Industriepolitik im
Bundeswirtschaftsministerium von Friderichs bis Bangemann
(Philipp Ther)
Europäische Transformationen. Über Schocktherapien, Demokratie
und Populismus nach 1989
Linksliberale Ikonen
(Thomas Hertfelder)
Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Ralf Dahrendorfs
soziologische Zeitdiagnostik im späten 20. Jahrhundert
(Jacob S. Eder)
Eine linksliberale „Ikone“. Hildegard Hamm-Brücher und der Wandel
des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert
Sicherheit statt Freiheit? Herausforderungen des liberalen Rechtsstaats
(Gabriele Metzler)
„Im Zweifel für die Freiheit“? Innere Sicherheit und Rechtsstaat
bei liberalen Innenministern
(Larry Frohman)
Über die Schwierigkeit, im Informationszeitalter liberal zu sein.
Datenschutz, Datenzugang und die Grenzen der Sicherheit
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Personenregister
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Grenzen des Neoliberalismus: Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert
 3515120858, 9783515120852

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Grenzen des Neoliberalismus Geschichte Franz Steiner Verlag

Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert Herausgegeben von Frank Bösch, Thomas Hertfelder und Gabriele Metzler

Zeithistorische Impulse | 13

Bösch | Hertfelder | Metzler Grenzen des Neoliberalismus

Zeithistorische impulse | Band 13 Wissenschaftliche Reihe der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus

Grenzen des Neoliberalismus Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert Herausgegeben von Frank Bösch, Thomas Hertfelder und Gabriele Metzler

Franz Steiner Verlag

Die Stiftung wird vom Bund finanziert mit Mitteln aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Abbildungsnachweis: Frankfurter Altstadt mit Skyline 2012 Foto: Thomas Wolf, www.sehenswertes-frankfurt.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12085-2 (Print) ISBN 978-3-515-12092-0 (E-Book)

Vorwort

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ie Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert ist – anders als die des Jahrhunderts zuvor – in der historischen Forschung ein noch wenig bearbeitetes Feld. Aus naheliegenden Gründen hat das „Zeitalter der Extreme“ die Aufmerksamkeit zunächst vor allem auf die totalitäre Herausforderung des Jahrhunderts gelenkt; seine liberalen Traditionslinien blieben entsprechend unterbelichtet. Als sich der Liberalismus in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem in Gestalt des consensus liberalism zur ideologischen Grundausstattung der westlichen Welt entwickelte, verlor er zugleich an Trennschärfe und Kontroverspotenzial. Die liberalen Demokratien des Westens sahen sich jedenfalls primär von außen bedroht und feierten im Zusammenbruch der sozialistischen Welt 1989/90 vor allem einen Sieg des eigenen liberalen Selbstverständnisses. Dieser Blick auf den Liberalismus hat sich seitdem grundlegend geändert. Die von neoliberalen Ansätzen ausgelöste Dynamik der vergangenen Jahrzehnte hat mit dazu beigetragen, dass der Liberalismus insgesamt nicht erst im Zuge der Weltfinanzkrise unter Druck geriet, während in jüngster Zeit neue populistische Bewegungen die liberale Demokratie und Gesellschaftsordnung von Grund auf in Frage stellen. Vor diesem Hintergrund verfolgt die Stiftung Bundespräsident-TheodorHeuss-Haus seit rund fünf Jahren einen Forschungsschwerpunkt zur Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Nach einem internationalen Auftaktkolloquium1 und einer Folgetagung zum Liberalismus in der Zwi-

Anselm Doering-Manteuffel  / Jörn Leonhard (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015.

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Vorwort

schenkriegszeit2 veranstaltete die Stiftung am 3.–4. November 2016 am Zentrum für Zeithistorische Forschung ein Kolloquium zum Wandel des Liberalismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, die unterschiedlichen Dynamiken, die diesen Wandel kennzeichnen, erstmals im Zusammenhang und vorwiegend am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen und dabei die Grenzen der neoliberalen Transformation auszuloten. Der vorliegende Band präsentiert die vielfältigen Erträge der Diskussionen, die wir auf diesem Kolloquium geführt haben. Einer Reihe von Personen und Institutionen, die uns bei Planung und Organisation der Tagung sowie der Redaktion des vorliegenden Bandes kräftig unterstützt haben, sind wir zu besonderem Dank verpflichtet: Der Beirat der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus hat die konzeptionelle Vorbereitung des Kolloquiums mit seiner Expertise begleitet. Judith Koettnitz, M. A., hat auf vielen Ebenen für die perfekte Organisation des Kolloquiums am Zentrum für Zeithistorische Forschung gesorgt. Christian Kloos, Judith Koettnitz, Nina Kremer und Dario Scherffig haben uns bei der Redaktion der Texte wertvolle Hilfe geleistet. Der Franz Steiner Verlag in Stuttgart hat die Drucklegung und Publikation des Buches auf ebenso zügige wie professionelle Weise vorangetrieben. Vor allem aber hat sich der Austausch mit den Autorinnen und Autoren als überaus fruchtbar erwiesen: Sie haben am meisten zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Potsdam, Stuttgart und Berlin im März 2018 Frank Bösch, Thomas Hertfelder, Gabriele Metzler

Ernst Wolfgang Becker / Jens Hacke (Hg.): Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Krise, Reform, Neuansätze, www.theodor-heuss-haus.de/heuss-forum/theodor-heuss-kolloquium2015/.

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Inhalt Einleitung

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Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert

Großbritannien und der Liberalismus in der Bundesrepublik

39

Frank Bösch Krisenkinder. Neoliberale, die Grünen und der Wandel des Politischen in den 1970er und 1980er Jahren

61

Wencke Meteling Statt Phoenix nur Asche. Thatchers wirtschaftspolitisches Experiment 1979–1982 in der deutsch-britischen Pressekritik

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Sina Fabian Der Yuppie. Projektionen des neoliberalen Wandels

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Konzepte wirtschaftspolitischen Handelns

121 Dierk Hoffmann Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? Von der Kapitalismuskritik der Gründungsphase bis zur Riester-Rente 149 Thomas Handschuhmacher Eine „neoliberale“ Verheißung. Das politische Projekt der „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre

Liberalisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik?

179 Marc Buggeln Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? Der Umgang von FDP und CDU/CSU mit den öffentlichen Finanzen in den 1970er und 1980er Jahren 213 Ralf Ahrens Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? Industriepolitik im Bundeswirtschaftsministerium von Friderichs bis Bangemann 239 Philipp Ther Europäische Transformationen. Über Schocktherapien, Demokratie und Populismus nach 1989

Linksliberale Ikonen

261 Thomas Hertfelder Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Ralf Dahrendorfs soziologische Zeitdiagnostik im späten 20. Jahrhundert 295 Jacob S. Eder Eine linksliberale „Ikone“. Hildegard Hamm-Brücher und der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert

9

Sicherheit statt Freiheit? Herausforderungen des liberalen Rechtsstaats

319 Gabriele Metzler „Im Zweifel für die Freiheit“? Innere Sicherheit und Rechtsstaat bei liberalen Innenministern 341 Larry Frohman Über die Schwierigkeit, im Informationszeitalter liberal zu sein. Datenschutz, Datenzugang und die Grenzen der Sicherheit

365 Die Autorinnen und Autoren des Bandes 367 Personenregister

Einleitung

Frank Bösch / Thomas herTFelder / GaBriele meTzler

Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert

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er Liberalismus veränderte sich im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts rasant und wurde international durch neue Spannungslinien herausgefordert.1 Wenngleich er auch vorher vielfältige Strömungen vereinte, kam es nach 1970 in mehrfacher Hinsicht zu einer Ausdifferenzierung und Transformation. Dies gilt zunächst für die Profilierung des sozialen Liberalismus, der, wie die neuere Forschung betont, die Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre hinein besonders nachhaltig bestimmt hat.2 Diese Spielart des Liberalismus konnte sich in Deutschland auf so unterschiedliche Traditionen wie den sozialen Liberalismus Friedrich Naumanns,3 die sozial-

Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015; Dieter Langewiesche: Liberalismus heute – historisch gesehen, in: Ders.: Liberalismus und Sozialismus. Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen, hg. v. Friedrich Lenger, Bonn 2003, S. 206–231; aus ideengeschichtlicher Perspektive Edmund Fawcett: Liberalism. The Life of an Idea, Princeton/Oxford 2014, S. 368–407; Eckart Conze: Eine liberale Ära? Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik zwischen „Machtwechsel“ und „Wiedervereinigung“, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017), S. 9–22. 2 Vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur sowie Tony Judt / Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert, München 2013, S. 384 f; Tim B. Müller: Die liberale und soziale Demokratie als handlungsleitende Ordnungsvorstellung nach dem Ersten Weltkrieg, in: HeussForum, Theodor-Heuss-Kolloquium 2015, URL: www.stiftung-heuss-haus.de/heuss-forum_ thk2015_müller [28.2.2018]; zur Tradition des sozialen Liberalismus vgl. Karl Holl / Günter Trautmann / Hans Vorländer (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986. 3 Vgl. Thomas Hertfelder: Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013. 1

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Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler

staatliche Expertise der Weimarer Republik,4 den US-amerikanischen New Deal5 und allenfalls partiell auf den Ordoliberalismus6 beziehen. Mit den „Freiburger Thesen“ der FDP 1971 wurde sie unter Begriffen wie „Demokratisierung der Gesellschaft“ und „Reform des Kapitalismus“ programmatisch ratifiziert, geriet aber alsbald in die Defensive. Denn in scharfer Abgrenzung dazu gewannen seit den siebziger Jahren zweitens marktliberale Ansätze rasant an Bedeutung, die den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskonsensus kritisierten, mit Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA die Leitlinien einer neuen Politik bestimmten und vor allem von ihren Kritikern als „neoliberal“ bezeichnet wurden.7 Auch in der Bundesrepublik fanden derartige Ansätze rasch Gehör, wenngleich oft in kritischer Distanz zu den angelsächsischen Vorbildern. Doch nicht allein in politisch-ideeller, sondern auch in lebensweltlicher Perspektive lassen sich Transformationen des Liberalismus zu dieser Zeit beobachten. So profilierten sich drittens auch linksliberale Milieus neu. Liberale Grundideen diffundierten im Zuge der oft postulierten „Fundamentalliberalisierung“ in die Gesellschaft8 und veränderten Leitideen, Wertewelten und Lebensstile. Zugleich wiederum waren es in

Vgl. Tim B. Müller: Die Geburt des Sozial-Liberalismus aus dem Geist der Verwaltung, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 127–155; Ders.: Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der Weimarer Republik, in: Ders. / Adam Tooze (Hg.): Normativität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 259–293. 5 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert. Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: Dies. (Hg.), Liberalismus, S. 13–31. 6 So sehen Doering-Manteuffel und Leonhard im Ordoliberalismus „die deutsche Spielart des transnational wirksamen atlantischen consensus liberalism“, Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 26; vgl. dagegen die Kritik an den Traditionslinien des deutschen Ordoliberalismus bei Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004. Auch Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 587, verweist auf die Grenzen der Aneignung des Konsensliberalismus im (Links-)Liberalismus der Bundesrepublik. 7 Vgl. z. B. exemplarisch Anselm Doering-Manteuffel  / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 22010; Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt 2013; Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt 2014; Ders.: Der Neoliberalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 05.07.2016, http://docupedia.de/zg/Ther_neoliberalismus_v1_de_2016 [20.02.2018]. 8 Vgl. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1999; Ders. / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 179 ff. 4

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der Bundesrepublik gerade liberale Innenminister, die zum Schutz der „inneren Sicherheit“ im Zuge der Bekämpfung des Terrorismus Einschränkungen an rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien vornahmen. Datenschutz wie auch Datenerfassung wurden so bereits in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik zu Projekten liberaler Innenpolitik, die das Verhältnis von Staat und Individuum zum Thema eines spannungsreichen Aushandlungsprozesses werden ließen.9 Dies alles sorgte einerseits für eine neuartige Präsenz liberaler Vorstellungen in Politik und Gesellschaft, andererseits verloren die Liberalen und der Liberalismus durch diese Fragmentierung, Diffundierung und nicht zuletzt durch öffentliche Kritik an Profil. Der vorliegende Band hat sich zum Ziel gesetzt, diese Veränderungen und Ausdifferenzierungen des Liberalismus im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts zwar unter vorwiegend politikgeschichtlicher Perspektive zu analysieren, dabei jedoch den Fokus über den organisierten Parteiliberalismus hinaus10 auf den seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Wandel des Politischen überhaupt zu richten. Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik bieten prägnante Anschauung für diesen Wandel des Liberalismus, weshalb der Fokus dieses Bandes auf deutschen Entwicklungen liegt. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Veränderungen, weit über die Bundesrepublik hinaus, besteht darin, dass die vielfach beschriebenen Prozesse soziokultureller Pluralisierung und Liberalisierung vor dem Hintergrund divergierender Deutungen der Krise der Wachstumsgesellschaft in eine sukzessive Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie, Regierung und Subjekt, Gesellschaft und Individuum einmündeten.11 Diese fundamentalen Rahmenverschiebun-

Vgl. Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre: Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219–242; Achim Saupe: Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2010), H. 2, URL: http://www.zeithistorischeforschungen.de/2–2010/id=4674 [20.02.2018], Druckausgabe: S.  170–187; Stephan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre, Paderborn 2010. 10 Vgl. hierzu aktuell die Beiträge im Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017) mit dem Themenschwerpunkt „Die Ära Genscher-Lambsdorff 1969–1992“. 11 Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20.  Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2014, S. 321–348, hier S. 341–348; Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015; aus der Perspektive der Diskussion über Politik in der „Moderne“: Gabriele Metzler: Probleme politischen Handelns im Übergang zur Zweiten Moderne. Krisendiskurse und Neuausrichtung der Institutionen in den 1970er Jahren, in: Ulrich Beck / Martin Mulsow (Hg.): Geschichte und Zukunft der Moderne, Frankfurt a. M. 2014, S. 232–272. 9

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Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler

gen haben sich in buchstäblich alle Sozialverhältnisse eingeschrieben12 und wurden in ihrer zeitgenössischen Reflexion je nach Standort des Betrachters mit Begriffen wie „Postmoderne“, „Neue Unübersichtlichkeit“, „Steigerung von Komplexität“, „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ oder „Reflexive Moderne“ umrissen.13 Auf dem politischen Feld fand dieser Wandel in der Bundesrepublik in der Formierung neuer sozialer Bewegungen,14 in der Gründung der Grünen als Anti-Parteien-Partei15 sowie in der Karriere des Begriffs der Zivilgesellschaft16 seinen besonders sichtbaren Ausdruck. Unter einer solchen Perspektive des Wandels des Politischen geraten dominante Reaktionsweisen auf die Krise des wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskonsenses, das sich verändernde Verständnis von Staatlichkeit, die Rolle von Experten, die Ausformulierung neuer Leitsemantiken wie „Markt“ und „innere Sicherheit“ sowie schließlich auch zeittypische Sozialfiguren wie die des „Yuppie“ in den Blick. An ihnen lassen sich Wandel und Ausdifferenzierung des Liberalismus wie an einer Sonde ablesen. Damit ist die Frage angesprochen, was überhaupt unter „Liberalismus“ – zweifelsohne ein „umbrella term“17 – im späten 20. Jahrhundert gefasst werden kann. Die neuere Liberalismus-Forschung hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der Liberalismus nicht essentialistisch als ein fixes Set von Ideen begriffen werden kann, sondern vielmehr als eine in sich variable Konfiguration von Annahmen und Präferenzen zu begreifen ist: die der Rationalität, der Individualität, des Fortschritts, der Begrenzung und Zurechenbarkeit von Macht, der Toleranz und des Pluralismus, des Universalismus von Rech-

Vgl. die Bestandsaufnahme bei Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 13 Vgl. Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990/91, München 2006, S. 421–429; Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S.  94–141, 379–392, spricht in Anlehnung an Erving Goffman von „Rahmenverschiebungen“; Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. 2016. 14 Vgl. Roland Roth / Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt a. M./New York 2008. 15 Vgl. Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Die Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. 16 Vgl. Saskia Richter: Zivilgesellschaft – Überlegungen zu einem interdisziplinären Konzept, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 08.03.2016, http://docupedia.de/zg/richter_zivilgesellschaft_v1_de_2016 [19.12.2017]. 17 So Stephen Holmes: Passions and Constraint. On the Theory of Liberal Democracy, Chicago 1995, S. 237. 12

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ten, näherhin des Verfassungs- und Rechtsstaats, der individuellen Freiheit, des „government by discussion“, der Selbstorganisation der Gesellschaft, individueller Eigentumsrechte sowie marktförmiger Austauschbeziehungen. Diese in sich variable Konfiguration ist in historisch veränderlichen nationalkulturellen Kontexten und über „kritische Abgrenzungskämpfe“ gegenüber konkurrierenden Bewegungen zu bestimmen.18 Für das ausgehende 20. Jahrhundert gerät eine solche relationale Bestimmung des Liberalismus jedoch in Schwierigkeiten, weil klassische Gegenpositionen wie die des realen Sozialismus oder des traditionellen Konservativismus zumindest phasenweise das Feld geräumt haben und sich das gesamte relevante Spektrum (etwa in der Bundesrepublik der 2000er Jahre) als mehr oder weniger „liberal“ verstand. Bei näherem Hinsehen geraten freilich nicht nur die jüngst erstarkenden dezidiert antiliberalen Strömungen in der Bundesrepublik und anderen europäisch-transatlantischen Gesellschaften in den Blick. Vielmehr zeichnen sich genau hier neue Bruchlinien und Deutungskonflikte ab, die sich an den öffentlichen Debatten der letzten Jahre etwa zu folgenden zunächst normativ gefassten, dann aber zu historisierenden Fragen ablesen lassen: Entsprechen Regierungstechniken, die im Namen von Terrorabwehr und innerer Sicherheit elementare Persönlichkeitsrechte einschränken oder beseitigen, noch dem Selbstverständnis der „liberalen Demokratie“? In welchem Verhältnis steht die Auslagerung politischer Entscheidungen in außerparlamentarische Expertengremien zu liberalen Postulaten der Repräsentation und Öffentlichkeit? Stehen die autoritären Methoden neoliberaler Wirtschaftsreform vielleicht dem technokratischen Konservativismus näher als dem klassischen Liberalismus? Was bleibt vom liberalen Universalismus gleicher Rechte, wenn deren Gewährung reziprok zur Übernahme von Pflichten gedacht wird (so in kommunitaristisch inspirierten Konzeptionen eines „Dritten Weges“ um die Jahrtausendwende) oder die Chance ihrer Inanspruchnahme zu einer Frage individueller Soziallagen gerät? Solche Überlegungen, die auch in einzelnen Beiträgen dieses Bandes aufgegriffen werden, verweisen auf eine These dieses Bandes: Die neoliberale Herausforderung des späten 20. Jahrhunderts gilt nicht nur dem wohlfahrtsstaatlichen Konsensus, wie er sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Welt stabilisiert hatte, sondern damit auch jener ideenpolitischen Konfiguration, die (etwa über prominente Protagonisten wie John Maynard Keynes und Wil-

Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 17; Michael Freeden: Europäische Liberalismen, in: Merkur 65 (2011), S. 1028–1046, hier S. 1029 f; Ders.: Liberalism. A Very Short Introduction, Oxford 2015, S. 14–16, 37–54; Holmes, Passions, S. 13–41.

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Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler

liam Beveridge19) an diesem Konsensus mächtig mitgewirkt hat – dem Liberalismus selbst. Ist der Neoliberalismus noch als legitimer Abkömmling der „liberalen Familie“ zu betrachten?20 Analytisch gesehen umkreisen wir mit dem Begriff „Liberalismus“ Deutungsmuster, die dem Individuum eine möglichst große Freiheit gegenüber dem Staat einräumen wollen. „Die Lebenschancen des Einzelnen zu erweitern“, wurde im Anschluss an Ralf Dahrendorf auch als historisch tauglicher Grundsatz des Liberalismus gefasst.21 Danach berufen sich Liberale etwa  – wie oben ausgeführt – auf die Selbstbestimmungsfähigkeit des Individuums durch Vernunft, auf Rechtsförmigkeit von Verfahren, auf die Fähigkeit der offenen Gesellschaft zur Selbstorganisation, auf eine frei von Zensur und Gängelung diskutierende Öffentlichkeit und auf die Selbstregulierung der Ökonomie durch den Markt.22 Die Probleme, die derartige Definitionen mit sich bringen, liegen auf der Hand: etwa die Unschärfe von umschreibenden Begriffen wie „Freiheit“ oder „Selbstregulierung“, sowie die Vielzahl an konkurrierenden Definitionen. Obendrein wird der Begriff „liberal“ alltagssprachlich ubiquitär benutzt, um eine tolerante und freigeistige Haltung zu umschreiben. Wie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Semantiken der Worte „Liberalismus“ und „liberal“ veränderten, ist begriffsgeschichtlich bisher kaum untersucht. Denn die großen Studien zur Begriffsgeschichte des Liberalismus aus den 1970/80er Jahren bezogen sich vor allem auf die Zeit bis zum Nationalsozialismus und sind mittlerweile selbst als Teil der Zeitgeschichte zu historisieren.23 Eine kursorische Durchsicht von Lexika und politischen Programmen deutet jedoch zumindest verschiedene diskursive Konjunkturen an. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten wurde der Begriff „liberal“ kaum gebraucht – eine Reaktion auf die Krise des Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg, die anti-liberale Kritik vor 1945 und die Assoziation

Dass sich Keynes und Beveridge als Liberale sahen, wird oft übersehen, vgl. dazu z. B. Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt, München 1994, S. 258–267. 20 Diese Frage verneint z. B. Freeden, Liberalism, S. 108–111, zum Bild der Familie S. 3. In diese Richtung argumentieren auch Judt/Snyder, Nachdenken, im letzten, „Die Banalität des Guten“ überschriebenen Kapitel ihres Buches (S. 333–387). 21 So Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S.  7, anschließend an: Ralf Dahrendorf: Die Chancen der Krise, Stuttgart 1983, S. 37. 22 So die meisten Definition; vgl. etwa Theo Schiller, Art. Liberalismus, in: Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft, München 1998, S. 489–494. 23 Vgl. Rudolf Vierhaus, Liberalismus; in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 741–785. 19

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des Begriffs mit bürgerlichen Schichten. Insofern vermied selbst die FDP – wie schon ihre Weimarer Vorläufer – das Wort „liberal“ in ihrem Namen.24 Stattdessen dominierten in der politischen Sprache der 1950er Jahre Begriffe wie „Freiheit“, „Mitte“ oder „Nation“, ebenso das Wort „Marktwirtschaft“ statt „Ordo“- oder „Neoliberalismus“. Im ersten Grundsatzprogramm der FDP von 1957 findet sich bezeichnenderweise nur einmal das Wort „liberal“, und das nur ganz beiläufig („liberale Kulturgesinnung“).25 Ausgerechnet in der DDR verwendete dagegen eine Blockpartei, die LDPD, das Wort „liberal“ im Namen. In der offiziellen Sprache der DDR meinte der Begriff „Liberalismus“ freilich vor allem das Eintreten für Freiheiten zur Sicherung der ökonomischen und politischen Macht der Bourgeoisie. Und die umgangssprachliche Bedeutung von „liberal“ definierte Meyers Neues Lexikon aus Leipzig 1974 als „opportunistisches prinzipienloses Verhalten“, um positive Alltagskonnotationen auszulöschen.26 Seit den späten 1960er Jahren zeichnete sich hingegen in Westdeutschland eine Renaissance und Umdeutung des Begriffs ab, die sozial und politisch wirkungsmächtig wurde. Bereits der Erfolgsbegriff „sozial-liberale Koalition“ ist nicht als selbstverständlich anzusehen. Hier wurde bewusst das Wort „liberal“ aufgegriffen, um den angestrebten Reformgeist zu unterstreichen. Während große Lexika, wie der Brockhaus 1955, den Liberalismus noch eher als kompetitives Eintreten für die „freie Entfaltung der Anlagen und Kräfte des Einzelnen“ umschrieben hatten27, fassten die Einträge der 1980er Jahre „liberal“ übereinstimmend als reformorientierte weltanschauliche Haltung, die für neuere Denkweisen und Experimente aufgeschlossen sei. Diese würde überkommene Normen „vorurteilslos kritisch“ betrachten sowie für „die größtmögliche Freiheit des Individuums eintreten“, so Meyers Lexikon 1983

Vgl. hierzu markant Theodor Heuss: Rede auf dem Gründungstreffen der FDP vom 10./11. Dezember 1948, zit. in: Bundesvorstand der Freien Demokratischen Partei (Hg.): Zeugnisse liberaler Politik. 25 Jahre F. D. P., Bonn 1973, S. 13 ff, sowie die Redenotizen in: Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 27 (= Bundesarchiv); vgl. auch Ernst Wolfgang Becker: Ein Intellektueller für die Vitrine? – Theodor Heuss und die Neubegründung des Liberalismus in Deutschland 1945–1949, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 20 (2008), S. 29–45; Peter Juling: Programmatische Entwicklung der FDP 1946 bis 1969. Einführung und Dokumente, Meisenheim am Glan 1977. 25 Berliner Programm der Freien Demokratischen Partei 1957, in: http://www.thomas-dehlerstiftung.de/files/288/1957_Berliner_Programm.pdf [20.2.2018]. 26 Meyers Neues Lexikon, Leipzig 1974, Bd. 8, S. 525. 27 Der Große Brockhaus, Bd. 7, Wiesbaden 1955, S. 216. 24

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und der Brockhaus von 1990.28 Der handlungsbezogene Begriff der Reform ersetzte dabei den früheren prozessualen Terminus „Fortschritt.“ Die FDP hatte sich den Begriff zwischen 1967 und 1971 zunehmend zu eigen gemacht, ihn programmatisch ratifiziert und seinen Bedeutungswandel dynamisiert. In ihren Freiburger Thesen 1971 sah sie sich als Hüter und Wahrer der „Tradition des klassischen Liberalismus“ und positionierte sich zugleich in Richtung eines reformorientierten „Sozialen Liberalismus“.29 Ebenso wie ihre folgenden Programme bis Mitte der 1980er Jahre verwiesen sie nun einerseits historisch auf die Errungenschaften von 1789 und 1848. Andererseits verbanden sie den Liberalismus ausdifferenziert und zukunftsbezogen mit dem Eintreten „für Fortschritt durch Vernunft“, die „Demokratisierung der Gesellschaft“ und „die Reform des Kapitalismus“.30 Bei der Bundestagswahl 1976 definierte die FDP den Liberalismus als Eintreten für „Freiheit und Menschenwürde“. Auch die Jungen Liberalen, die neue Jugendorganisation der FDP seit 1982, nutzten nun den Begriff „liberal“, den ihre Vorgänger, die Jungdemokraten, noch im Namen gemieden hatten. Der Liberalismus wurde nun also zu einem offensiv eingesetzten Reformbegriff, der durch weitere Zusätze spezifiziert wurde. Nicht zuletzt wurde „liberal“ gegen den Vorwurf „sozialistischer“ Politik, die bürgerliche Kreise der SPD unterstellten, in Stellung gebracht: Mit den Liberalen, so das Argument, würde der vermeintliche Sozialismus der SPD in Zaum gehalten. Dies war wohl auch ein strategisches Manöver, um die Koalition und vor allem die hoch umstrittene, gemeinsam getragene Entspannungspolitik innenpolitisch abzusichern.31 „Liberal“ blieb bei alledem ein vages Buzzwort. Laut Umfragen bewerteten die meisten Menschen den Begriff „liberal“ in den 1970er Jahren sehr positiv und assoziierten ihn mit der FDP, konnten das Wort aber kaum konkret füllen.32 Öffentlich hatte der Begriff Konjunktur, um rechtsstaatliche Grund-

Meyers Großes Universallexikon, Bd. 8, Mannheim 1983, S. 487; Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 13, Mannheim 1990, S. 345. 29 Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik 1971, S.  6, www.freiheit.org/sites/default/ files/uploads/2017/03/03/1971freiburgerthesen.pdf [20.02.2018]. Zur programmatischen Vorgeschichte vgl. noch immer Heino Kaack: Die F. D. P. Grundriß und Materialien zu Geschichte, Struktur und Programmatik, Meisenheim 31979, S. 33–46. 30 Vgl. Hans Vorländer: Der soziale Liberalismus der F. D. P., in: Holl/Trautmann/Vorländer, Sozialer Liberalismus, S. 190–226; Hertfelder, Von Naumann, S. 58–69. 31 Besonders auffällig tritt dies im Wahlprogramm der F. D. P. von 1972 zu Tage, in dem die Partei die Bedürftigkeit der SPD an „liberaler Kontrolle“ betont: Wahlaufruf zur Bundestagswahl 1972 der Freien Demokratischen Partei, „Vorfahrt für Vernunft“, beschlossen vom Bundesvorstand in Frankfurt a. M. am 1. Oktober 1972, https://www.freiheit.org/sites/default/ files/uploads/2017/03/02/1972aufrufzurbundestagswahl.pdf [7.2.2018]. 32 Vgl. Langewiesche, Liberalismus, S. 299. 28

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sätze, Toleranz oder ökonomische Freiheiten zu beschreiben. Laut einer Umfrage von 1985 verbanden drei Viertel der Befragten mit dem Begriff „liberal/ tolerant“, dafür einzutreten, dass alle Staatsbürger gleiche Rechte haben und alle Religionen gleich geachtet werden.33 Immerhin über die Hälfte assoziierte „freien Wettbewerb und dass die Leistung des einzelnen zählt“. Die Konkurrenzparteien benutzten den Begriff hingegen kaum: Die Grundsatzprogramme der CDU (1978), der Grünen (1980) oder auch der SPD (1989) mieden ihn, wohl gerade weil er mit der FDP verbunden wurde. Dennoch diffundierte der Begriff in dem folgenden Jahrzehnt über die Parteigrenzen: So betonte die CDU seit den 1990er Jahren als eine ihrer Wurzeln die liberale Tradition in ihren Programmen und Selbstdarstellungen.34 Indes ist nicht zu übersehen, dass der Begriff „liberal“ seit den 1990er Jahren wieder an Bedeutung verlor. Digitale Volltextsuchen, wie Google NGram, unterstreichen diesen Eindruck. Ebenso fällt auf, dass die FDP-Führung sich weiterhin als „Liberale“ umschrieb, aber dies in ihren Programmen kaum noch genauer definierte. Zudem verschwanden seit den 1990er Jahren die historischen Verweise auf die Geschichte des Liberalismus. Als Ziel liberaler Politik nannte sie die „Sicherung und Erweiterung der Freiheit“ und die Zurückdrängung des Staats.35 Doch während das Begriffsfeld „liberal“ nun wieder an Bedeutung verlor, erlangten die Begriffe „neo“- oder „linksliberal“ neue Prominenz. „Linksliberal“ wurde zunehmend ein Begriff, der sozialdemokratische oder grüne Akteure mit umschloss, die für eine Erweiterung der klassischen Freiheitsrechte, sozialen Ausgleich und ein selbstbestimmtes Leben eintraten. Beide Begriffe, „neo“- und „linksliberal“, stehen auch in diesem Buch im Mittelpunkt.

1. Siegeszug des Neoliberalismus

Wenngleich er ältere Wurzeln hatte, gewann der Neoliberalismus seit den späten 1970er Jahren als spezifische Reaktion auf die Krise des wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskonsenses und die Pluralisierung des politischen Feldes

Vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demokratie 1984–1992, Bd. 9, S. 73. Vgl. etwa Grundsatzprogramm der CDU „Freiheit in Verantwortung“ 1994, S. 4, www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/1994_Grundsatzprogramm_ Hamburg.pdf [20.02.2018]. 35 Zit. FDP-Bundesgeschäftsstelle (Hg.): Liberal denken. Leistung wählen, Programm der FDP zur Bundestagswahl 1994, Bonn 1994, S. 64. 33 34

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unverkennbar an Gewicht und überlagerte sozialliberale Strömungen.36 Die Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie an Friedrich August von Hayek 1974 zertifizierte aus Sicht der Neoliberalen das Scheitern keynesianischer Ansätze und symbolisierte einen lange erhofften Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Auch der Begriff selbst trat jetzt erst schrittweise in den öffentlichen Diskurs ein. Zu den konstitutiven Merkmalen neoliberaler Politik gehörte, dass sie sich nicht allein auf die Ökonomie im engeren Sinne bezog, sondern eine gesellschaftliche Ausbreitung von Markt und Wettbewerb in andere gesellschaftliche Bereiche forderte. Der Rückzug des Staates sollte alle Lebensbereiche gleichermaßen erfassen und transformieren.37 Damit wurden neoliberale Ideen auch anschlussfähig an konservative Diskurse im Zeichen der „Tendenzwende“ gegen die Neue Linke.38 Der Entgrenzung der Marktlogik und der „Entbettung“ der Ökonomie entsprach die Tendenz zur Kommodifizierung aller erdenklichen materiellen und immateriellen Güter – von der Kommunikation über die Bildung bis hin zur Gesundheit. Wenn im Zeichen neoliberaler Reformen in Großbritannien und in den USA Bürger zunehmend als Konsumenten, Kunden, potenzielle Unternehmer und Humankapital adressiert wurden, veränderten sich nicht nur die Formen der Subjektivierung.39 Auch die liberale Demokratie wechselte ihren modus operandi:40 Häufiger als zuvor wurden seit den späten 1980er Jahren Entscheidungen, die im Parlament zu treffen wären, in Expertengremien und transnationale Institutionen ausgelagert. Trotz seiner Omnipräsenz ist der Terminus „Neoliberalismus“ alles andere als unumstritten.41 Begriffsgeschichtlich gesehen, war sein Gehalt wandelbar. Als der Begriff „Neoliberalismus“ 1938 auf dem Colloque Walter Lippmann in Paris geprägt wurde, wollten einige seiner Protagonisten damit durchaus die Rolle des Staates beim Setzen von Rahmenbedingungen akzentuieren. Doch schon hier traten Trennlinien zwischen streng marktliberalen Kräften und jenen, die eher nach einem „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozia-

Zur Diskussion unterschiedlicher Definitionsansätze von „Neoliberalismus“ vgl. den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band. 37 Vgl. David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford/New York 2005; Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012; Brown, Revolution, S. 29–37, die davon ihre eigene, an Foucault orientierte Definition abgrenzt. 38 Vgl. Iris Karabelas: Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich August von Hayeks in der Bundesrepublik, Frankfurt/New York 2010, S. 155–196. 39 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 2006; Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007. 40 Vgl. Brown, Revolution. 41 Vgl. zum Folgenden auch Biebricher, Neoliberalismus, S. 9–49. 36

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lismus suchten, offen zu Tage.42 In der Bundesrepublik diente der Begriff in den vierziger und fünfziger Jahren der Selbstverortung ordoliberaler Konzeptionen und umschrieb Ansätze der Sozialen Marktwirtschaft, die ebenfalls einen als diskreditiert geltenden „klassischen“ Liberalismus erneuern wollten. In der Mont Pèlerin Society differierten die Konzepte entsprechend, was mit Abspaltungen einherging. Es waren wohl spezifisch deutsche Erfahrungen, die dazu führten, dass „Neoliberalismus“ in der Bundesrepublik noch einmal anders rezipiert und verhandelt wurde als in anderen vergleichbaren westeuropäischen Gesellschaften oder in den USA. Gegen die These eines neoliberalen Siegeszugs spräche demnach, erstens, dass die Praxis der „sozialen Marktwirtschaft“ sich seit den fünfziger Jahren sukzessive von den Dogmen ihrer ordoliberalen Vordenker löste und sich zügig in Richtung einer korporativen Marktwirtschaft entwickelte,43 in der allerdings Wettbewerb und Produktivität weiterhin eine zentrale Stellung einnahmen. Diese ordoliberale Spur war es, die Michel Foucault am Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik zu einer Zeit fasziniert und ihm zufolge seine Landsleute „erschreckt“ hat,44 als die Verfolgung ordoliberaler Prinzipien in der Bundesrepublik gemessen an den Vorstellungen ihrer Urheber nur noch mit Mühe erkennbar war.45 Gegen Foucault, der den Ordoliberalismus viel zu sehr beim Wort nahm, könnte man argumentieren, dass sich gerade der ökonomische Pragmatismus der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik, der unter der elastischen Formel der „sozialen Marktwirtschaft“ in der Regel auf Verhandlung und Ausgleich bedacht war, aller ordoliberaler

Vgl. Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der Mont Pèlerin Society, Stuttgart 2008, S. 87–106. 43 Vgl. Werner Abelshauser: Umbruch und Persistenz. Das deutsche Produktionsregime in historischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S.  503–523; Ders.: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Bonn 2004; Matthias Bohlender: Die historische Wette des Liberalismus. Die Geburt der Sozialen Marktwirtschaft, in: Ästhetik & Kommunikation 36 (2005), S. 121–129. 44 Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität  II, Frankfurt 2004, S. 251. Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus ist, wie Brown, Revolution, S.  61, bemerkt, ambivalent; bezeichnenderweise dient Foucaults Analyse des Ordoliberalismus Jan-Otmar Hesse und Frieder Vogelmann dazu, diesen vom Stigma des Autoritären zu befreien, vgl. Jan-Otmar Hesse  / Frieder Vogelmann (Hg.): Zum Begriff des Staates im Ordoliberalismus und bei Michel Foucault, in: Hans-Helmuth Gander / Niels Goldschmidt / Uwe Dathe: Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft: Edmund Husserl – Rudolf Eucken – Walter Eucken – Michel Foucault, Würzburg 2009, S. 127–143. 45 Dies übersieht David Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman and the Birth of the Neoliberal Politics, Princeton 2012, S. 121–126, der die bundesdeutsche „soziale Marktwirtschaft“ in eine fugenlose Kontinuität mit dem neueren Neoliberalismus stellt. 42

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Rhetorik zum Trotz nur wenig anfällig zeigte für neoliberale Exzesse. Zum andern lassen sich neoliberale Praktiken im ausgehenden 20. Jahrhundert – etwa die Deregulierung der Finanzmärkte, die Kommodifizierung aller Güter und die Vermarktlichung aller Lebensbereiche46  – mit den Ideen der deutschen Ordoliberalen nur schwer in Einklang bringen: Für die meisten Ordoliberalen definierten gerade die Begrenzung des Marktes, seine institutionelle wie ethische Einrahmung sowie die Pflege gesellschaftlicher Bindekräfte das spezifisch Neue an ihrem so verstandenen „Neoliberalismus“.47 Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass die Übergänge zwischen ordoliberaler und neoliberaler Rhetorik fließend sind und sich ordoliberale Argumentationen als trojanische Pferde zur Durchsetzung einer neoliberalen Agenda geradezu anbieten.48 Man kann den Ordoliberalismus in seinem historischen Wandel als eine spezifisch deutsche Variante des Neoliberalismus verstehen, wenn man die Spezifika, die beide unterscheiden, unterbelichtet; die Begriffe gehen jedenfalls nicht ohne weiteres ineinander auf. Der zweite Einwand, „Neoliberalismus“ sei vor allem eine politische Kampfvokabel, die seine Gegner in Stellung gebracht haben, ist durchaus ernst zu nehmen. Es ist bezeichnend, dass etwa Margaret Thatcher dieses Wort nicht benutzte und in Deutschland der FAZ-Gründungsherausgeber Erich Welter die Verwendung des Terminus explizit untersagte.49 Selbst wichtige Vordenker wie Milton Friedman stellten nicht den Begriff in den Vordergrund, sondern setzten auf simple, marktpopulistisch ausgerichtete

Vgl. Ralf Ahrens / Marcus Böick / Marcel vom Lehn: Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld, in: Zeithistorische Forschungen, 12 (2015), H.  3, S. 393–402, sowie die einschlägigen Beiträge in diesem Themenheft. 47 Dies hat bereits Foucault, Geburt, S. 335 f, gesehen; vgl. auch Biebricher, Neoliberalismus, S.  43 f. Eine ordoliberale Kritik am neueren Neoliberalismus hat Wolfgang Kersting formuliert: Kritik des Wirtschaftsliberalismus. Markt und Moral, in: Mittelweg 36 2/2010, S. 3–34; ob der Ordoliberalismus mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes tatsächlich unvereinbar ist, wie Ralf Ptak: Das Staatsverständnis im Ordoliberalismus. Eine theoriegeschichtliche Analyse mit aktuellem Ausblick, in: Biebricher, Staat, S. 31–73, hier S. 62, meint, sei dahingestellt. 48 Fließend sind die Übergänge zwischen ordo- und neoliberaler Rhetorik z. B. in der Einführung, die Otto Graf Lambsdorff 1990 zur Neuauflage von Friedrich August von Hayeks Klassiker „Der Weg zur Knechtschaft“ verfasst hat, Otto Graf Lambsdorff: Einführung zur Neuauflage 1990, in: Friedrich August von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München 2009, S. 5–13. 49 Vgl. Peter Hoeres: Neoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft in der FAZ, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017), S. 265–281, S. 267. 46

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Botschaften.50 Bereits in den 1950er Jahren erschien er vereinzelt als Schmähbegriff51, aber erst seit den 1980er Jahren wurde er, wie der „Thatcherismus“ und die „Wende“, zu einem Kampfbegriff der Kritiker. Dennoch spricht dies nicht gegen seine Verwendung in wissenschaftlichen Analysen. Denn häufig genug operieren die Geschichts- und Sozialwissenschaften mit Begriffen, die im politischen Feld in denunziatorischer Absicht verwendet werden, ohne dass dabei ihr analytisches Potenzial deshalb über Bord gehen muss. Allerdings sollte der Begriff „neoliberal“ bei einer analytischen Verwendung ohne den normativen Überschuss von beiden Seiten nüchtern als ein wirtschaftspolitisches Modell verstanden werden, im Sinne einer marktliberalen Ordnung. Dabei ist offen zu prüfen, wie sich Zuschreibungen, Programmatiken und Praktiken zueinander verhalten. Wie bei anderen Gesellschaftsmodellen ist der Neoliberalismus als ein Ideal zu fassen, das auch seine Verfechter als nicht voll umgesetzt betrachten, womit sie fortbestehende ökonomische Probleme erklären.52 Insofern ist der Neoliberalismus zunächst ein Anspruch, eine Behauptung, deren Umsetzung stets einen graduellen Charakter hat, der genauer auszumachen ist. Schließlich lässt sich drittens dem Begriff Neoliberalismus entgegenhalten, dass er keine in sich konsistente Konzeption bezeichne und „unterschiedliche Idiome“ pflege,53 dass zudem Theorie und Praxis neoliberaler Politik oft erheblich auseinanderklafften und die proteushafte Vielgestaltigkeit neoliberaler Praxis somit begründete Zweifel an der Tauglichkeit des Begriffs erlaube. In der Tat liegen zwischen den Politiken eines Augusto Pinochet, einer Margaret Thatcher, eines Leszek Balcerowicz und eines Gerhard Schröder halbe Welten. Dies verweist aber nur auf den banalen Umstand, dass sich neoliberale Konzeptionen – entgegen ihrem technokratischen Ansatz – wie jede erfolgreiche politische Ideologie in nationalkulturelle Traditionen, sozialstrukturelle Pfade und situative Spezifika einzupassen verstehen. Ähnlich

Eigener Befund nach Auswertung der Datenbank mit allen Reden und Texten Thatchers: http://www.margaretthatcher.org. Zu Friedman: Sören Brandes: »Free to Choose«. Die Popularisierung des Neoliberalismus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 12 (2015), H. 3, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2015/id=5284 [28.2.2018], Druckausgabe: S. 526–533. 51 Vgl. Rudolf Walther: Wirtschaftlicher Liberalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 811. 52 Vgl. Vivien A. Schmidt / Mark Thatcher: Theorizing Ideational Continuity: The Resilience of Neo-Liberal Ideas in Europe, in: Dies. (Hg.): Resilient Liberalism in Europe’s Political Economy, Cambridge 2013, S. 1–50, hier S. 7, 23 f. 53 Brown, Revolution, S. 20. 50

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verhält es sich mit anderen Begriffen – wie dem Sozialismus, der zwischen Nachbarländern wie China und Nord-Korea denkbar unterschiedliche Spielarten erfährt. Man kann mit Jamie Peck und anderen Autoren zwei Phasen neoliberaler Transformation unterscheiden: In der Roll Back-Phase haben konservative Regierungen vor allem in den USA und Großbritannien in den 1980er Jahren den erfolgreichen Versuch unternommen, die Strukturen und Arrangements des bis dahin sukzessive erweiterten Wohlfahrtsstaates einschließlich seiner weit reichenden ökonomischen Steuerungsinstrumente zurückzubauen und sie durch eine angebotsorientierte (Reagan) oder monetaristische (Thatcher) Wirtschaftspolitik zu ersetzen; dabei spielte die Annahme eines „Trickle Down“ des dadurch erzeugten Wachstums eine bestimmende Rolle.54 In einer zweiten, Roll Out-Phase haben sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren tendenziell „linke“ Regierungen wie die von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder daran gemacht, nunmehr unter den Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung den Finanzmarkt weiter zu deregulieren, die globale Wettbewerbsfähigkeit des „Standorts“ generell zu stärken, neue marktkonforme Regierungstechniken jenseits klassischer Staatlichkeit zu implementieren sowie ehemals staatliche Aufgaben an die Gesellschaft und an die Individuen zurück zu delegieren. Als kennzeichnend für diese Roll-OutPhase gilt zudem die Umformatierung des paternalistischen zum aktivierenden Sozialstaat, die Auflegung von „welfare-to-work“-Programmen sowie eine neuartige, „Verantwortung“ und „Gemeinsinn“ betonende Rhetorik  – alles in allem „an innovative blend of market oriented thinking and moderate social policies“.55 Legt man dieses Phasenmodell zu Grunde, so liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes in der Roll-Back-Phase, also in der Zeit zwischen dem Antritt der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt 1974 und der 1998 erfolgten Abwahl der bürgerlich-liberalen Koalition in der Bundesrepublik; damit folgt der Band einer Arbeitshypothese der deutschen Zeitgeschichtsforschung, die von einer Zäsur Mitte der 1970er Jahre und ei-

Im Folgenden nach Jamie Peck: Constructions of Neoliberal Reason, Oxford 2010, S. 22–24; Thomas Biebricher: Einleitung: Neoliberalismus und Staat – ziemlich beste Feinde, in: Ders., Staat, S. 9–27; Manfred B. Steger / Ravi K. Roy: Neoliberalism. A Very Short Introduction, Oxford/New York 2010, S. 21–75, die von „First-wave neoliberalism in the 1980s“ und „Second-wave neoliberalism in the 1990s“ sprechen. Aus der Perspektive der Politischen Ökonomie schlägt Streeck, Gekaufte Zeit, mit der Abfolge Steuerstaat – Schuldenstaat – Konsolidierungsstaat ein anderes Phasenmodell vor, das jedoch angesichts der in diesem Band verfolgten Fragestellung nicht zu Grunde gelegt wird. 55 So Steger/Roy, Neoliberalism, S. 75. 54

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ner „Binnenzäsur“ Mitte der 1990er Jahre ausgeht.56 Die hier interessierende Frage also lautet, inwieweit die Politik der Kabinette Schmidt/Genscher und Kohl/Genscher einer neoliberalen Agenda im Sinne der Roll-Back-Phase folgten. Trägt das skizzierte Phasenschema auch für die Bundesrepublik? Einige Beiträge dieses Bandes argumentieren, dass der Begriff des „Neoliberalismus“ gerade mit Blick auf diesen Abschnitt der bundesrepublikanischen Geschichte nicht überdehnt werden sollte. Nicht jede moderate Steuersenkung, nicht jeder Versuch einer Haushaltskonsolidierung, nicht jeder Appell an die individuelle Verantwortung ist natürlich per se „neoliberal“. Von einer „neoliberalen“ Reform kann man wohl erst dann sprechen, wenn sie sich als Moment eines Projektes begreifen lässt, das die grundlegende marktliberale Transformation von Gesellschaft, Ökonomie und Politik gleichermaßen zum Ziel hat. Wer vom Neoliberalismus spricht, meint nicht punktuelle Maßnahmen, sondern eine zielgerichtete, systemische Transformationsdynamik. Die Beiträge von Thomas Handschuhmacher, Marc Buggeln und Ralf Ahrens untersuchen daher mit der „Entstaatlichung“, der Steuerpolitik und der Industriepolitik Felder politischen Handelns in der Bundesrepublik, bei denen eine solche neoliberale Transformationsdynamik am ehesten zu vermuten wäre. Gegenüber weit verbreiteten ideengeschichtlichen Herleitungen, die den Neoliberalismus „hegemonietheoretisch“ auf das Wirken prominenter Ökonomen und deren Denkschulen sowie einflussreicher Netzwerke wie der Mont Pèlerin Society zurückführen,57 nehmen die Beiträge dieses Bandes vorwiegend politische Akteure und deren wirtschaftspolitisches Handeln in den Blick, und zwar vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Wandels des Politischen. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei die in Kapitel 1 von Frank Bösch und Wencke Meteling verfolgte deutsch-britische Perspektive im Kontext des eigentümlich zeitversetzten Durchbruchs neoliberaler Konzeptionen in beiden Ländern. So arbeitet Frank Bösch in seinem Beitrag die überraschenden strukturellen Bezüge heraus, die sich im Rückblick zwischen dem Thatcherismus in Großbritannien und dem Erfolg der Grünen bzw. des ökologischen Ansatzes in der Bundesrepublik feststellen lassen. Indem beide Bewegungen von einer umfassenden Krisendiagnose und Pathologisierung von Staat und Gesellschaft ausgingen, entwickelten sie, flankiert von Experten und getragen von mitunter religiös anmutenden Glaubensgewissheiten, Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Boom S. 12; Lutz Raphael: Industriearbeit(er) nach dem Boom. Bundesrepublikanische Entwicklungen im westeuropäischen Vergleich, in: Sonja Levsen / Cornelius Torp (Hg.): Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westeuropäische Geschichte, Göttingen 2016, S. 207–231, hier S. 210. 57 Vgl. z. B. Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; Plickert, Wandlungen. 56

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radikale Alternativen zur Überwindung des sozialökonomischen Status Quo. Doch während das Projekt der Grünen und ökologische Positionen in Westdeutschland schrittweise in die politische Kultur integriert wurden, geriet der Monetarismus, wie ihn Margret Thatcher als Regierungschefin seit 1979 betrieb, schon nach wenigen Jahren kompromisslosen Agierens unter Druck. In ihrem Beitrag „Statt Phoenix nur Asche“ betont Wencke Meteling, mit welcher Entschiedenheit Thatcher den Versuch vorantrieb, die britische Volkswirtschaft im Sinne eines von ihr und ihren Beratern eigenwillig interpretierten Monetarismus gegen vielfache Widerstände radikal umzusteuern. Während Kritiker im In- und Ausland auf die katastrophale Bilanz der ersten ThatcherJahre verwiesen, erhielt sie dafür Beifall nicht nur von dogmatischen Monetaristen, die ihre Lehre in einer für den Neoliberalismus wohl insgesamt charakteristischen Weise gegen Kritik immunisierten, sondern auch von deutschen Kommentatoren, die dem Ordoliberalismus nahe standen. Man könnte im Anschluss an diese Beobachtungen vermuten, dass der Bundesrepublik eine neoliberale Rosskur nach britischem Muster auch deshalb erspart blieb, weil sie einerseits in der Tradition des Ordoliberalismus schon immer stärker auf Wettbewerb und Produktivität setzte, andererseits mit den Instrumenten des „deutschen Produktionsregimes“ (Werner Abelshauser) auf das Krisenszenario der siebziger Jahre zunächst elastischer zu reagieren vermochte als das jenseits des Ärmelkanals der Fall war.58 Aus denselben Gründen hat auch der Krisendiskurs der frühen 2000er Jahre zu vorschnellen Diagnosen über die Bundesrepublik als dem „kranken Mann Europas“ geführt.59 Das zweite Kapitel, das sich ganz auf die Bundesrepublik konzentriert, geht vor diesem Hintergrund über den strukturellen Wandel des Politischen hinaus und fragt nach konkreten Konzepten wirtschaftspolitischen Handelns. Dabei fallen die zunächst als Protest- und Antipartei gegründeten Grünen

Stefan Eich und Adam Tooze sprechen für die siebziger Jahre vom „German model of social market monetarism“, das im Unterschied zum angelsächsischen nicht darauf abzielte, den Gewerkschaften das Rückgrat zu brechen, vgl. Stefan Eich / Adam Tooze: The Great Inflation, in: Doering-Manteuffel/Raphael, Vorgeschichte, S. 173–196, hier S. 185 f; vgl. ferner Raphael, Industriearbeit(er), sowie mit Blick auf die bemerkenswerte Stabilität des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaates in der Krise: Winfried Süß: Umbau am „Modell Deutschland“. Sozialer Wandel, ökonomische Krise und wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik in der Bundesrepublik „nach dem Boom“, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 215–240. 59 So etwa in der Streitschrift von Dominik Geppert: Maggie Thatchers Rosskur – Ein Rezept für Deutschland?, Berlin 2003; aus der Perspektive des Krisendiskurses der Jahrtausendwende um den Niedergang des Modells Deutschland bemängelte Geppert den mangelnden Reformwillen der Ära Kohl, um der Bundesrepublik eine „Rosskur“ à la Thatcher nahezulegen. Zu den vorschnellen Krisendiagnosen vgl. Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2008. 58

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ins  Auge, die wie keine andere Gruppierung den Wandel des Politischen markieren und sich, wie Dierk Hoffmann zeigt, in den innerparteilich sehr kontrovers geführten Debatten zu einer grünen Wirtschaftspolitik durchaus neoliberalen Ansätzen annäherten. Die Zustimmung der Grünen als Regierungspartei zur Teilprivatisierung der Rentenversicherung markierte daher, so Hoffmanns These, keinen Bruch mit den sozialpolitischen Vorstellungen der Partei. Ohnehin deuten mittlerweile viele Indizien darauf hin, dass das neoliberale Subjekt bzw. das „unternehmerische Selbst“ auch und gerade im alternativen Milieu der Klein- und Kleinstunternehmer fruchtbaren Nährboden fand.60 Am Beispiel der von der schwarz-gelben Regierungskoalition unter Helmut Kohl programmatisch betriebenen Politik der „Entstaatlichung“ kann Thomas Handschuhmacher plausibel machen, wie die Debatte um Privatisierungen seit Mitte der siebziger Jahre an Dynamik gewonnen und schließlich in den achtziger Jahren Züge einer „neoliberalen Verheißung“ angenommen hat. Abgesichert wurde dieses Zukunftsprojekt zum einen durch die Denkfigur einer „Wiederherstellung“ ordoliberaler Vorstellungen von der Rolle des Staates in der älteren Tradition eines Walter Eucken, zum andern aber auch durch die Anknüpfung an Friedrich August von Hayeks Theorem vom Wettbewerb als ein „Entdeckungsverfahren“. Gleichwohl wurde die von Handschuhmacher analysierte Politik der „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik von vornherein weit weniger dogmatisch betrieben als in Großbritannien, sie blieb vielfach auf halbem Wege stecken und erschöpfte sich zuweilen auch nur in Rhetorik. Damit ist die Kernfrage nach den Grenzen aufgeworfen, die dem Neoliberalismus in der Bundesrepublik gesteckt waren. Trifft das Etikett „neoliberal“ für die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik im späten 20. Jahrhundert überhaupt zu?61 Als Kernelemente neoliberaler Wirtschaftspolitik gelten im Allgemeinen die Senkung der direkten Steuern und der Abbau von Subventionen, die im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen. Marc Buggeln argumentiert, dass der als „geistig-moralische Wende“ orchestrierte Regierungswechsel von 1982 finanzpolitisch keine deutliche Zäsur bedeute, habe die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung in den späten 1980er Jahren doch nur eine moderate

Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a. M. 2004, S.  319 ff. Zum Einsickern von Leitideen der linken „68er“ in Managementtheorien vgl. die klassische Studie von Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 (frz. Ausg. 1999). 61 Vgl. hierzu auch Martin Werding: Gab es eine neoliberale Wende? Wirtschaft und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland ab Mitte der 1970er Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008) H. 2, S. 303–321. 60

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und zudem geringere Absenkung der Steuer- und Abgabenquote erreicht als zuvor die sozialliberale Koalition seit 1977. Allerdings hat die Steuerpolitik der bürgerlich-liberalen Koalition seit 1982 zu einer – im Vergleich zu England und den USA moderaten  – Umverteilung von „unten“ nach „oben“ geführt. Zudem blieb die angekündigte Rückführung der Staatsausgaben aus, so dass die Staatsverschuldung per saldo weiter zunahm. Einen neoliberalen Impetus sieht Buggeln hier nicht am Werk, eher ein „Zurück zu den Werten des klassischen Liberalismus, der katholischen Soziallehre und des Ordoliberalismus“.62 Auch Ralf Ahrens findet in seinem Beitrag zur Industriepolitik liberaler Wirtschaftsminister nur wenige Indizien für eine neoliberale Praxis in den siebziger und achtziger Jahren. Galt eine Branche als besonders zukunftsträchtig, hatten auch FDP-Minister aller Wettbewerbsrhetorik zum Trotz keine Bedenken, üppige staatliche Subventionen bereitzustellen und dabei branchenspezifische Konzentrationsprozesse zu fördern. Zudem blieb auch ein überzeugter Marktliberaler wie Otto Graf Lambsdorff – entgegen seinem dezidierten Bekenntnis zu Friedrich August von Hayek63 – darauf angewiesen, den Kompromiss mit dem Koalitionspartner zu finden, die Aushandlungsprozesse innerhalb der (neo)korporatistischen Strukturen zu akzeptieren und damit die relative Pfadabhängigkeit wirtschaftspolitischen Handelns in der Bundesrepublik zu bestätigen. Obendrein deutet vieles darauf hin, dass bis 1989/90 der Fortbestand der innerdeutschen Systemkonkurrenz die Wirkmächtigkeit neoliberaler Konzeptionen in der Bundesrepublik zumindest dämpfte und sich ihre Dynamik erst nach dem Ende des Kalten Krieges stärker entfaltete. Dies wird bestätigt durch den Beitrag von Philipp Ther. Denn während die Beiträge von Handschuhmacher, Buggeln und Ahrens den Schluss nahelegen, dass eine neoliberale Roll-Back-Phase, wie sie diskursiv behauptet wurde, in der „alten“ Bundesrepublik weitgehend ausgeblieben ist,64 argumentiert Ther in seinem Essay über „Europäische Transformationen“ in eine andere Richtung. Die Reformpolitiken in Ostmitteleuropa, die in unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf ökonomische Schocktherapien im Sinne des Washington Consensus setzten, hätten zwar, so Ther, makroökonomische Erfolge zu verbuchen, allerdings um den Preis hoher Arbeitslosigkeit, die z. B. in Polen bereits kurz nach der Jahrtausendwende wesentlich zum Aufstieg populistischer Parteien beigetragen habe, während

Vgl. den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band, hier S. 210. Vgl. Lambsdorff, Einführung. 64 So auch Biebricher, Neoliberalismus, S. 149. 62 63

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die Bundesrepublik im Gefolge der Hartz-Reformen „veröstlicht“ worden sei. Seine eigentliche Schubkraft habe der Populismus jedoch erst durch die Weltfinanzkrise von 2008/09 und den mit ihr verbundenen Export sozialer Probleme auf dem Weg der Arbeitsmigration erfahren. Für Ther zeigt sich im Aufstieg des illiberalen Populismus die Kehrseite eines bis dahin in Ostmitteleuropa und Deutschland dominierenden Neoliberalismus, dessen technokratischer, antipolitischer Gestus die Möglichkeit politischer Alternativen leugnete. Zur Signatur westlicher Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts gehört das eigentümliche Spannungsfeld, das sich zwischen Individualisierung und Moralisierung des sozialen Feldes auftut. Der schon zum Topos geronnene Prozess der Individualisierung65 wird in der Regel als Indiz zunächst der Fundamentalliberalisierung, dann aber auch der Dominanz neoliberalen Denkens beschrieben, und er hat mitunter charakteristische Sozialprojektionen hervorgebracht. Einer für die 1980er Jahre besonders markanten Projektion wendet sich Sina Fabian in ihrer Studie zum „Yuppie-Phänomen“ zu, das sie weniger als reale Sozialfigur denn vielmehr als mediale Konstruktion fasst. Die großen Gewinner von Thatchers Reformen, die jungen Banker in London, wurden hier zu einem kulturellen Trend stilisiert, der sich freilich weder in Großbritannien noch in der Bundesrepublik in der sozialen Praxis vergleichbarer sozialer Gruppen empirisch greifbar niederschlug. Fabians Befund, dass die Konstruktion und Projektion des „Yuppie“ sich geradezu als früher Prototyp des neoliberalen Subjekts ausnimmt, verweist auf den Projektionscharakter des Neoliberalismus überhaupt: Selbst diskursanalytisch inspirierte Arbeiten, die dem Neoliberalismus „proteushafte“ Züge attestieren,66 räumen ein, dass es zwischen den verschiedenen Spielarten neoliberaler Theorie einerseits und der sozialen Praxis andererseits sorgfältig zu unterscheiden gilt. Neben der Individualisierung verweist vor allem die Moralisierung von Politik und Gesellschaft im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts erneut auf den eingangs erwähnten Wandel des Politischen, der die unterschiedlichen ideologischen Lager wohl in durchaus ähnlicher Weise erfasst hat. Denn es waren mitnichten nur die Grünen und das alternative Milieu, die ihre politische Agenda im Gestus einer überlegenen Moral vortrugen. Auch Margaret Thatcher und die Theoretiker des Dritten Weges in Großbritannien argumentierten gerne moralisch, wenn sie gegen die Ineffizienz der Institutionen und die vermeintli-

Vgl. exemplarisch Ulrich Beck  / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994. 66 So z. B. Biebricher, Neoliberalismus; Brown, Revolution. 65

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che Faulheit der Bürger zu Felde zogen oder auf der Reziprozität von Rechten und Pflichten bestanden.67

2. Linksliberale Leitbilder

Weitgehend unberührt, oder besser doch: indirekt beeinflusst von neoliberalen ökonomischen Ordnungsmodellen hat im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts der Linksliberalismus eine erstaunliche Konjunktur erfahren.68 Was als „linksliberal“ gelten konnte oder kann, ist eine gleichermaßen offene wie schwierige Frage. Auf die FDP als Partei angewandt, führt die Frage nach ihrem linksliberalen Spektrum zunächst auf den Befund einer historisch überaus bedeutsamen „Entnationalliberalisierung“ um 1969.69 Durchaus vergleichbar mit Neoliberalen betonten Linksliberale individuelle Handlungsmacht, akzentuierten jedoch die Rolle des Staates stärker, wenn es darum ging, die Bedingungen für eine Entfaltung des Subjekts zu garantieren. Zugleich nahmen egalitäre Denkfiguren im Linksliberalismus einen größeren Raum ein als im Neoliberalismus, von dem sie sich obendrein durch die Betonung politischer Bürgerrechte anstelle des Primats der Rechte des homo oeconomicus abgrenzten. Vom klassischen Sozialliberalismus unterschieden sich Linksliberale dadurch, dass sie eher auf die Handlungsfreiheit des Individuums und staatsbürgerliche Rechte zielten als auf staatliche Intervention oder korporative Organisation, und dass sie eher auf Anerkennung individueller Lebensstile aus waren als auf kollektive Chancengleichheit.70 Dies sei in der beschriebenen Pauschalität festgehalten – und zugleich konstatiert, dass eine

Vgl. z. B. Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002, S. 310–317; Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999, S.  80 f; Robert Carl Blank: From Thatcher to the Third Way. Think Tanks, Intellectuals and the Blair Project, Stuttgart 2003, S.  81–83; Ruth Levitas: The Inclusive Society? Social Exclusion and New Labour, Basingstoke 22005, S. 226–228 u. a. 68 Der Linksliberalismus der Bundesrepublik ist bislang kaum systematisch untersucht worden, vgl. einstweilen Klaus Weber: Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969. Konjunktur und Profile, Frankfurt a. M. 2012. 69 Franz Walter: Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 146; vgl. auch Julia Angster: Politischer Liberalismus und gesellschaftlicher Wandel zwischen 1960 und 1990, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017), S. 89–108, bes. S. 97 ff. 70 Vgl. zum Linksliberalismus der Zwischenkriegszeit: Jörn Retterath, „Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924, Berlin/ Boston 2016, S. 284 ff. 67

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empirisch gesättigte, linksliberale Ideen und Praktiken gleichermaßen in den Blick nehmende Untersuchung noch aussteht. Angesichts der Vagheit des Begriffs nimmt es vielleicht nicht wunder, dass „linksliberal“ in der Bundesrepublik zu einem Erfolgsbegriff werden konnte, der die Position kritischer Intellektueller umschrieb und unabhängigen Journalismus (wie des „Spiegel“ oder der „Süddeutschen Zeitung“) adelte – just in dem Moment, in dem sich der (Partei-)Liberalismus grundlegend wandelte. Das Eintreten für Bürgerrechte, Emanzipation und zivilgesellschaftliches Engagement formierte sich nun zum einen vor allem jenseits der FDP in neuen sozialen Gruppen und Milieus. Sie betonten die gesellschaftliche Aufgabe der Erneuerung anstelle bloßer Profitmaximierung. Neben neuen sozialen Bewegungen und Wählergemeinschaften waren es mittel- bis langfristig insbesondere die Grünen, die politisch wie lebensweltlich diesen Teil des Liberalismus aufnahmen.71 Gerade in Groß- und Universitätsstädten transformierte sich bei bildungsbürgerlichen Gruppen das liberale Erbe, und einstige Hochburgen der FDP wählten nun häufig Grün, da diese die linksliberale Tradition aufgriffen. Zum andern traten auch im Umfeld des organisierten Liberalismus vereinzelt linksliberale Politiker und Intellektuelle hervor, die unter ausdrücklicher Berufung auf den klassischen Liberalismus dessen Bürgerrechtstradition programmatisch aufriefen und somit für bestimmte Segmente einer linksliberal gestimmten Öffentlichkeit als Projektionsfiguren dienten. Diese linksliberalen Ikonen, mit denen sich das vierte Kapitel beschäftigt, nutzten ihre Außenseiterposition im organisierten Liberalismus dazu, in prominenter Weise an liberale Kernthemen jenseits marktökonomischer Erwägungen zu erinnern und diese weiter zu profilieren. In seinem Beitrag „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“ zeigt Thomas Hertfelder, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf unter dem Eindruck der Globalisierung, der krisenhaften Verwerfungen der Weltwirtschaft und des neoliberalen Paradigmas versuchte, den Liberalismus als gesellschaftliches Ordnungsmodell weiterzuentwickeln und vom Neoliberalismus abzugrenzen. Dabei weist Dahrendorfs Kritik an der keynesianischen Wachstumsökonomie samt ihrer korporatistischen Strukturen, so Hertfelder, zunächst verblüffende Analogien zur neoliberalen Kritik und zugleich Berührungspunkte mit manchen Positionen des alternativen Milieus auf. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit Thatchers Kurs und der von Tony Blair verfolgten Konzeption eines „Dritten Weges“ hat Dahrendorf jedoch Argumente und Kategorien entwickelt, die es erlauben, die unterschiedlichen Schattierungen des Neoliberalismus von Positionen klassisch liberaler Provenienz zu unterscheiden.

71

Vgl. Mende, Gründungsgrüne.

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Gegenüber diesem eher programmatisch argumentierenden Beitrag wählt Jacob S. Eder in seiner Analyse des Agierens von Hildegard Hamm-Brücher einen konstruktivistischen Zugriff, der die öffentliche Inszenierung der prominenten FDP-Politikerin zum Ausgangspunkt nimmt. Indem sie die Bedeutung des „Vorlebens“ demokratischer Tugenden und Praktiken betonte, indem sie sich in ihrer Partei allem Widerstand zum Trotz als Zugpferd für bestimmte Wählerschichten einsetzen ließ und dabei ihr Außenseitertum bewusst pflegte, und indem sie sich schließlich öffentlich als Zeitzeugin, Interpretin und Akteurin der Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ inszenierte, gelang der Politikerin die öffentliche Selbstkonstruktion als „liberale Lady“, die eigentümlich mit ihrer eher mageren politischen Erfolgsbilanz kontrastierte. Durchaus vergleichbar mit der idealtypisch konstruierten Sozialfigur des „Yuppie“ erscheinen diese linksliberalen Ikonen als Projektionsflächen für gesellschaftspolitische Leitvorstellungen – wie auch für Kritik. Anders als Yuppies setzten sich jedoch etwa Dahrendorf und Hamm-Brücher bewusst in Szene, um im Diskurs als Verkörperungen genuin liberaler Werte Anerkennung zu finden und Korrekturen am neoliberalen Paradigma zu initiieren und zu beglaubigen. Indem sie an die bürgerrechtliche Wurzel des modernen Liberalismus erinnerten, suchten sie die Hegemonie der Marktliberalen zumindest zu relativieren – wenn nicht, wie im Falle Hamm-Brüchers und im Kontext der „Wende“ von 1982 – sie zu konterkarieren. Dass sie in den 1980er Jahren im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt an politischem Einfluss verloren, folgt, wenn man so will, einem paradoxen Effekt: Weil die Liberalisierung der Gesellschaft weiter vorangeschritten war, verloren die Links- wie auch die Sozialliberalen ihr Alleinstellungsmerkmal, „ihre“ Themen wurden nun eben auch von anderen, namentlich den Grünen, vertreten; kurz: „im Grunde wurde der Sozialliberalismus durch seinen Erfolg besiegt.“72

3. Rechtsstaat und „Innere Sicherheit“

Der für die Bundesrepublik vielfach konstatierten „Fundamentalliberalisierung“ der 1970er Jahre stand die neue Bedeutung der „inneren Sicherheit“ gegenüber, die angesichts terroristischer Anschläge, ausländerfeindlicher Stimmungen und steigender Verbrechensbilanzen ausgerechnet liberale Innenminister auf ihre politische Agenda gesetzt und dabei einen schwierigen, von vielfachen Kompromissen gezeichneten Balanceakt vollzogen haben. Wie wurde Rechtsstaatlichkeit vor den neuen Risiken, die das späte 20. Jahr-

72

Angster, Liberalismus, S. 108.

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hundert so eindringlich vor Augen geführt hat, gedacht, und wie wurde sie politisch verhandelt? Die Beiträge des fünften Kapitels nehmen ihren Ausgangspunkt ausdrücklich in der klassischen, konzeptuell-normativ angelegten Gegenüberstellung von „Sicherheit“ und „Freiheit“ und nicht im konstruktivistischen Zugriff der „Versicherheitlichungs“-Forschung.73 Denn aus der hier gewählten, konzeptuell-normativen Perspektive lässt sich sondieren, inwieweit es Kernbestände liberalen Denkens gibt, die auch in Momenten besonderer Herausforderungen – oder auch: kognitiver Dissonanzen – unangetastet bleiben. Vor diesem Hintergrund diskutiert Gabriele Metzler das unterschiedliche Agieren dreier liberaler Innenminister, die durchaus unterschiedliche Akzente setzten. Hans-Dietrich Genscher, Werner Maihofer und Gerhart Baum stehen dabei für drei verschiedene Optionen, die wiederum auf drei traditionelle Spielarten des Liberalismus verweisen: So vertrat Genscher zum Schutz des Rechtsstaats die eher etatistische Linie einer Stärkung der staatlichen Behörden und ihrer Beamten, Werner Maihofer einen zunächst sozialen, dann aber auf dem Feld der inneren Sicherheit defensiv werdenden Liberalismus, der sein Heil in einer restriktiven Strafrechtsreform suchte, Baum hingegen einen Entspannungskurs und die Profilierung bürgerrechtlicher Positionen. Als gemeinsamer Kern liberalen Selbstverständnisses tritt bei allen dreien die Akzentuierung der Individualrechte, der rechtsstaatlichen Verfahren sowie der Freiheit hervor, die „im Zweifel“ Vorrang vor der Sicherheit genieße. Am Beispiel des Datenschutzes lassen sich solche Wandlungen des Liberalismus im späten 20. Jahrhunderts besonders konkret verfolgen. In seinem Beitrag über die „Schwierigkeiten, im Informationszeitalter liberal zu sein“ arbeitet Larry Frohman zunächst den Zielkonflikt zwischen den konkurrierenden liberalen Konzepten von „Datenschutz“ und „Informationsfreiheit“ heraus mit dem überraschenden Ergebnis, dass letztere in den frühen 1970er Jahren auch bei Liberalen wie Genscher noch Vorrang genoss. Er zeigt, wie in den Debatten um das Ende 1976 verabschiedete Datenschutzgesetz aus dem liberalen Kernbegriff der „Privatsphäre“ das neue Konzept der „informationellen Selbstbestimmung“ hervorging, das den Zielkonflikt jedoch kaum auflöste, zumal in den 1980er Jahren der Konflikt zwischen den Konzepten „Innere Sicherheit“ und „Datenschutz“ innerhalb der konservativ-liberalen Regierungskoalition kulminierte und vielfach zu neuen Kompromissen zwang, die eher die Handschrift der CDU/CSU trugen.

Diesem folgt Dominik Rigoll: Liberalisierung und Illiberalisierung. Innere Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 29 (2017), S. 41–64.

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Es ist bemerkenswert, wie rasch die linksliberale Schicht, die sich im Laufe der 1960er Jahre um den bürgerrechtlichen Kern des Liberalismus gelegt hatte, nun, im Angesicht der harten Debatten um die Innere Sicherheit, abschmolz. Hatte in der Hochzeit der Linksliberalen noch der Gedanke im Vordergrund gestanden, rechtspolitische Liberalisierung müsse mit sozialer Absicherung einhergehen und Bürgerrechte ließen sich nur praktisch „leben“, wenn die sozialen Voraussetzungen dafür gegeben waren, so trat diese Verbindung nun zügig in den Hintergrund. Einer stärker marktliberal orientierten Politik setzten die Linksliberalen kaum etwas entgegen, solange Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten gewahrt blieben. Insofern eröffnete erst der neue Kurs der konservativen Innenminister der 1980/90er Jahre wieder Spielraum für eine linksliberale Profilierung. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Liberalismus im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts vor vielfältigen Herausforderungen stand und sich dabei markant veränderte und ausdifferenzierte. Die als neoliberal beschriebene Herausforderung ist bereits in ihrer Rhetorik ernst zu nehmen. Marktliberale Ansätze prägten nun die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern der bundesdeutschen Liberalen, sie hielten in die Politik der Regierung Kohl/Genscher Einzug und sie wirkten in die Gesellschaft hinein. Gleichwohl stieß die nur halbherzig betriebene Umsetzung neoliberaler Konzeptionen in der auf Konsens bedachten Verhandlungsdemokratie der Bundesrepublik erkennbar an Grenzen. Flankiert wurde dieser Prozess vom Wandel des Linksliberalismus, der öffentliche Präsenz gewann, auch jenseits der FDP von zivilgesellschaftlichen Bewegungen sowie von Teilen der Grünen aufgegriffen wurde und in der politischen Kultur eine neue Bedeutung erhielt. Dabei sind beide Prozesse – die eigentümliche Dynamik neoliberaler Transformation und die Ausformung neuer gesellschaftlicher Bewegungen – als Momente eines Wandels des Politischen zu betrachten, der sich seit den 1970er Jahren vollzogen hat. Statisch war der Liberalismus zwar nie; er veränderte immer wieder seine Positionen und seine gesellschaftliche Stellung. Doch sind die in diesem Band beschriebenen Veränderungen seit den 1970er  Jahre zugleich als Vorgeschichte gegenwärtiger Herausforderungen von eminenter Bedeutung.

Großbritannien und der Liberalismus in der Bundesrepublik

Frank Bösch

Krisenkinder Neoliberale, die Grünen und der Wandel des Politischen in den 1970er und 1980er Jahren

1979 kam es zu zwei unverbundenen Ereignissen, die für einen grundsätzlichen Wandel des Politischen stehen. In Großbritannien übernahm Margaret Thatcher die Regierungsspitze, was als Auftakt für das weltweite Vordringen des Neoliberalismus gilt.1 In der Bundesrepublik gründeten sich dagegen fast zeitgleich die Grünen und zogen in die ersten Landesparlamente ein, was die neue Bedeutung ökologischer Ansätze und alternativer Politikstile markierte. Neoliberale und ökologische Politiken entstanden zwar unabhängig von- und sogar konträr zueinander, entfalteten aber beide langfristig eine starke Wirkungsmacht, die in vielen Gesellschaften prägend blieben. Bildlich gesprochen: Wir kaufen Bioprodukte in international agierenden Supermarktketten und trennen anschließend unseren Müll, den private Betreiber kommerziell verwerten. Ökologie und Neoliberalismus bilden zwar politische Gegenpole, gingen aber durchaus Verbindungen ein. Beide Strömungen forderten seit Ende der 1970er Jahre den Liberalismus heraus und bescherten ihm eine Zerreißprobe. Während neben den Liberalen auch viele konservative und christdemokratische Politiker nun verstärkt marktliberale Positionen vertraten,2 sprachen die Grünen als neue Konkurrenz linksliberale Themen und Wählermilieus an. Universitätsstädte etwa, einst Hochburgen der Liberalen, entwickelten sich zunehmend zu Bastionen der Grünen. Und während etwa das liberal geprägte Baden-Württemberg bei seiner Gründung noch einen Ministerpräsidenten der FDP hatte, regiert hier nunmehr der erste grüne Landesvater. Umgekehrt fühlte sich der klassische

1 2

Vgl. etwa David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, S. 1. Vgl. den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band.

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alte Mittelstand mit seinen Handwerkern und kleinen Ladenbesitzern immer weniger von einer FDP repräsentiert, die zunehmend marktliberale Positionen vertrat. Die 1980er Jahren stehen somit für eine erklärungsbedürftige Neusortierung weltanschaulicher Milieus und Parteien, die durchaus miteinander verbunden waren. Die Etablierung marktliberaler und ökologischer Politik hat auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Entsprechend wird beides meist getrennt voneinander thematisiert. Politiker wie Margaret Thatcher und Petra Kelly, Joschka Fischer und Guido Westerwelle vertraten inhaltlich diametral entgegengesetzte Positionen und bekämpften sich entsprechend.3 Deshalb verglich die deutsch-britische Forschung vor allem die Reformen von Thatcher und Kohl und betonte einhellig, dass es in der Bundesrepublik nur zu einer abgeschwächten und verzögerten Umsetzung marktliberaler Grundsätze gekommen sei.4 Erklärt wurde dies mit den Differenzen im politischen System, den vielen Veto-Spielern in der Bundesrepublik und der stärkeren Krise in Großbritannien.5 Darüber hinaus war die Bundesrepublik 1979 bereits viel marktwirtschaftlicher ausgerichtet als Großbritannien, sodass derartige Einschnitte gar nicht umgesetzt werden mussten. Eine neue ergänzende Perspektive erreicht man jedoch, wenn man übergreifend das zeitgleiche Aufkommen marktliberaler und ökologischer Politiken Ende der 1970er Jahre analysiert. Dabei argumentiert dieser Artikel, dass durchaus strukturelle Bezüge für ihre Etablierung ausmachbar sind. Beide repräsentieren dabei einen Wandel des Liberalismus und einen Wandel des Politischen. Bei diesem Blick auf den Wandel des Politischen geht es entsprechend weniger um das „was“ als um das „wie“; also weniger um konkrete politische Reformvorschläge als um die Bedingungen und Bezüge ihres Entstehens.6

Die Gegensätze akzentuiert in zwei getrennten Essays zu den Liberalen und Grünen: Franz Walter: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010. Generell verdanke ich Franz Walters Kolloquium großartige Diskussionen über die deutschen Parteien. 4 Vgl. Andreas Wirsching: Eine „Ära Kohl“? Die widersprüchliche Signatur deutscher Regierungspolitik 1982–1998, in: Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre, Bonn 2013, S. 667–686, hier S. 672; Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 970–978; vgl. auch die Beiträge von Ralf Ahrens und Marc Buggeln in diesem Band. 5 Vgl. Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002, S. 427–433. 6 Zu diesen Ansätzen vgl. Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606. 3

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Fraglich ist, inwieweit man überhaupt den Begriff „neoliberal“ verwenden sollte, da er oftmals mit karikaturhaft-pejorativen Zuschreibungen verbunden ist. Es ist bezeichnend, dass selbst Margaret Thatcher das Wort „neoliberal“ nie öffentlich benutzte und selbst wichtige Verfechter wie Milton Friedman den Begriff eher mieden.7 Deshalb spricht auch dieser Artikel eher von „marktliberalen Ansätzen“. „Neoliberal“ bzw. „marktliberal“ umschreiben dabei im Folgenden jene besonders mit Thatcher sowie Teilen der FDP und CDU/CSU verbundene Politik, die durch das Eintreten für wettbewerbliche Marktstrukturen, eine begrenzte Staatstätigkeit und eine monetaristische Geldmengenpolitik das individuelle und gesellschaftliche Wohlergehen fördern wollte.8 Die internationale Umsetzung der als neoliberal bezeichneten Reformen blieb freilich sehr different.9 Insofern kann der Begriff immer nur eine Tendenz und Zuschreibung andeuten, die durch De-Regulierung, Entstaatlichung und Liberalisierung gekennzeichnet ist und für eine Vermarktlichung der Gesellschaft steht. Leichter greifbar erscheinen hingegen die ökologischen Ansätze, für die die bundesdeutschen Grünen stehen. Freilich repräsentiert das Eintreten für eine saubere Umwelt nur einen Teil der Positionen der neugebildeten Partei, die sich 1980 ebenso als sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei definierte. Die Forschung betonte früh die Vielfalt der Strömungen, die die Grünen vereinten und sprach von einer „ideologischen Rahmenpartei“.10 Die von den frühen Grünen aufgebrachte Formel „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ verwies auf den Anspruch, jenseits der bisherigen Ordnungen zu stehen. Neben Gruppen der Neuen Sozialen Bewegungen (wie Anti-AKWGruppen, Friedensinitiativen oder Feministinnen) vereinten sie Menschen aus dogmatischen K-Gruppen, „Spontis“ und Alternative, Anthroposophen, enttäuschte Linksliberale und Sozialdemokraten und eben auch ökologische Konservative. Silke Mende, die diese vielfältigen Wurzeln untersuchte, sah Eigener Befund nach Auswertung der Datenbank mit allen Reden und Texten Thatchers: http://www.margaretthatcher.org [11.01.2018]. 8 Vgl. Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2014, S. 4; Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 25; Harvey, History, S. 2. 9 Vgl. Vivien A. Schmidt / Mark Thatcher: Theorizing Ideational Continuity: The Resilience of Neo-Liberal Ideas in Europe, in: dies. (Hg.): Resilient liberalism in Europe’s political economy, Cambridge 2013, S. 1–50, hier S. 7, 23 f. 10 Joachim Raschke: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 131; diese Vielfalt betonen auch die älteren Studien, z. B. Frank Schnieder: Von der sozialen Bewegung zur Institution? Die Entstehung der Partei Die Grünen in den Jahren 1978 bis 1980. Argumente, Entwicklungen und Strategien am Beispiel Bonn, Hannover, Osnabrück, Münster 1998, S. 168. 7

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die Gründung der Grünen entsprechend als Ausdruck einer Transformation der Linken, des Konservatismus und besonders der Liberalen.11 Dieser Artikel fragt trotz aller Unterschiede nach Bezügen zwischen dem Aufkommen des Marktliberalismus und der grünen Bewegung. Dabei geht es nicht um einen systematischen Vergleich der Grünen mit den britischen Tories und den marktliberalen Kräften der FDP und CDU/CSU, sondern um einzelne Elemente, die charakteristisch für beide Strömungen waren.

1. Ökologie und Neoliberalismus als radikale Krisenreaktionen

Marktliberale und ökologische Konzeptionen hatten und haben inhaltlich wenig gemeinsam. Das Eintreten für weitgehend deregulierte Märkte und der Umweltschutz standen sich eher diametral gegenüber. Die Programme der Grünen, die etwa 1980 gegen den Raubbau an der Natur, die „Verschwendungswirtschaft“ oder auch „ausbeuterische Wachstumszwänge“ wetterten, lagen konträr zu denen der Wirtschaftsliberalen, die den Rückzug des Staats und den Abbau sozialer Leistungen forderten.12 Ebenso hatten Thatchers autoritärer Führungsstil und ihr Patriotismus kaum etwas mit den basisdemokratischen und pazifistischen Grünen gemein, die Minderheiten und sozial Schwache vor dem Kapitalismus schützen wollten und sich dabei in endlosen Diskussionen verloren. Gerade in der Bundesrepublik gewannen Liberale und Grüne ihre Dynamik aus der Abgrenzung voneinander. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Grünen ausgerechnet in Hessen früh Stärke und Macht gewannen, da im einst liberalen Frankfurt ein alternatives Spontimilieu auf einen boomenden Bankenplatz mit Hightech-Umgebung traf, vom Flughafen bis zur Atomkraft.13 „Yuppies“ und Alternative standen sich hier gegenüber und mobilisierten so ihre Feindbilder.14 Auf einer abstrakteren Ebene weist das Aufkommen wirtschaftsliberaler und ökologischer Strömungen jedoch durchaus Bezüge auf. So entwickelten sich beide in den 1970er Jahren aus der Wahrnehmung fundamentaler Krisen, aus denen sie geradezu apodiktisch einen alternativlosen Zwang zur Umkehr forderten. Thatchers Bonmot „There is no alternative“ entsprach auch der

Vgl. Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 13. 12 Zitierte Begriffe aus: Die Grünen: Das Bundesprogramm, Bonn 1980, S. 4 f. 13 Vgl. Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht: Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 43. 14 Zu den „Yuppies“ s. den Beitrag von Sina Fabian in diesem Band. 11

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Rhetorik der Umweltbewegung.15 Beide lebten von geradezu apokalyptischen Krisendiagnosen, die mit einer Pathologisierung von Staat und Gesellschaft einhergingen. Es war ihre Überzeugung, an einem Abgrund zu stehen. Was für Thatchers Anhänger im „winter of discontent“ der streikbedingte Müll in den Städten war, war für die Grünen die vermüllte Natur. Aus dieser Endzeitstimmung Ende der 1970er Jahre entwickelten beide Seiten radikale Neuansätze, die nun entsprechend Gehör fanden. Im berühmten „winter of discontent“ 1978/79 kam es in Großbritannien zu Streiks in Krankenhäusern, der Müllversorgung, bei LKW-Fahrern, auf einzelnen Friedhöfen und selbst die „Times“ erschien nach Konflikten mit den Druckern ein ganzes Jahr nicht. In der Bundesrepublik mobilisierten dagegen vor allem die Wahrnehmung von Energiekrisen und der Nato-Doppel-Beschluss. Bei den Grünen schürten besonders das mögliche Atommüll-Endlager in Gorleben und die partielle Kernschmelze im AKW „Three Mile Island“ nahe Harrisburg 1979 Ängste.16 Die breite Öffentlichkeit wurde dagegen durch die sogenannte „zweite Ölkrise“ verunsichert, die deutlich größere wirtschaftliche Folgen hatte als sechs Jahre zuvor, was auch in der Bundesrepublik den Ruf nach marktliberalen Ansätzen aufkommen ließ, um gegen Inflation, öffentliche Verschuldung und geringes Wachstum vorzugehen. Eine Krise ist immer eine Zuschreibung. In anderen Ländern waren die Inflationsraten höher und der Müll in den Straßen nicht weniger sichtbar, ohne dass hier vergleichbar deutlich marktliberale oder ökologische Kehrtwenden eingefordert wurden. In Großbritannien gelang es jedoch Thatcher und den Konservativen im Verbund mit den auflagenstarken Zeitungen, die Krise öffentlich so zu interpretieren, dass eine monetaristisch ausgerichtete neoliberale Wende und ein Bruch der Gewerkschaftsmacht notwendig erschienen. Thatcher deutete die Zustände schon nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden dezidiert nicht als Krise des Kapitalismus, sondern als „crisis of socialism“ und stellte die Inflationsbekämpfung in den Vordergrund, die sich zugleich gegen die Gewerkschaftsforderungen richtete.17 Dramatisierend warnte sie bereits 1975, keine Demokratie überlebe mehr als 20 Prozent Inflation und verwies auf die Weimarer Republik, obgleich diese eher an der Arbeitslosigkeit gescheitert war.18 Das Politische begriff Thatcher vor allem ökonomisch.

Zu Thatchers Haltungen vgl. Ewen H. H. Green: Thatcher, London 2010. Vgl. Frank Bösch: Taming Nuclear Power: The Accident near Harrisburg and the Change in West German and International Nuclear Policy in the 1970 s and early 1980 s, in: German History 35.1 (2017), S. 71–95. 17 Rede auf dem Parteitag 1976, abgedruckt in: Times 9.10.1976. 18 Vgl. Robert Saunders: Crisis. What Crisis? Thatcherism and the seventies, in: Ben Jackson  / Robert Saunders (Hg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S.  25–42, hier 15 16

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Dabei ging es ihr nicht nur um wirtschaftliche Reformen und Ziele, sondern um die geistige Veränderung der Menschen. Die Zurückdrängung des Staates und die Stärkung des Marktes sollten das individuelle Verantwortungsgefühl stärken und den Sozialismus endgültig verdrängen. Freiheit und Demokratie fasste sie bereits bei ihrer Antrittsrede 1975 vor allem ökonomisch, als Freiheit des Konsumenten, auch vor dem Staat: „A man’s right to work as he will, to spend what he earns to own property, to have the State as servant and not as master, these are the British inheritance.“19 Dass sich ihr marktliberaler Ansatz als Antwort auf die Krise 1979 durchsetzte, war nicht unvermeidbar, sondern eine bewusst gewählte Entscheidung, die in einer spezifischen ökonomischen Konstellation umsetzbar wurde.20 Ähnlich gelang es in der Bundesrepublik den Grünen, ihre Krisendeutung in enger Interaktion mit den Medien zu etablieren. Die massenmediale Kritik an der Atomkraft, der Umweltverschmutzung oder später am Waldsterben kam hier zeitgleich und verflochten mit der Etablierung grüner Positionen auf.21 Im Unterschied zu Großbritannien, wo die großen Zeitungen mehrheitlich konservativ ausgerichtet waren, begünstigte die stärker linksliberale Ausrichtung vieler bundesdeutscher Medien und Journalisten diese Deutungen. Auch die Grünen verbanden dies mit der Wahrnehmung einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Krise. Schon die ersten Programme der Grünen bei der Europawahl durchzogen diese Endzeittöne: „Europa ist bedroht durch die ökologische und ökonomische Krise, durch eine militärische Katastrophe und durch einen ständigen Abbau der Demokratie und Grundrechte“. Die Grünen forderten daher eine „dynamische Gleichgewichtswirtschaft“, „Umweltsicherung, Geldwertstabilität und Sicherung menschenwürdiger Arbeitsplätze“22. Auch die neu entstehenden Grünen bezogen sich somit auf die Wirtschaftskrise Ende der 1970er Jahre. „Ökos“ und „Neoliberale“ riefen dabei zu mehr Sparsamkeit auf, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven; die einen, um die Umwelt zu schonen, die anderen, um den Haushalt zu sanieren.

S. 31; Jim Tomlinson: Thatcher, monetarism and the politics of inflation, in: ebd., S. 62–77, hier S. 62 sowie 65. 19 Margaret Thatcher, Rede auf der Conservative Party Conference am 10.10.1975, URL: www.margaretthatcher.org/document/102777 [10.01.2018]. 20 Vgl. Jones, Masters, S. 20. 21 Vgl. Frank Bösch: Kommunikative Netzwerke. Zur globalen Formierung sozialer Bewegungen am Beispiel der Anti-Atomkraftproteste, in: Jürgen Mittag / Helke Stadtland (Hg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014, S. 149–166. 22 Programm Grüne Europawahl 1979, in: Archiv Grünes Gedächtnis (AGG), B1.1.–1.

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Beide Strömungen bemühten sich dabei um die politische Umsetzung von neu etablierten wissenschaftlichen Expertisen. Neoliberale und Grüne beharrten auch deshalb so nachdrücklich auf ihren Reformforderungen, weil sie auf empirische Modelle und große statistische Berechnungen verweisen konnten. Diese entsprachen zunächst nicht akademischen Mehrheitsmeinungen. Vielmehr stammten die marktliberalen und ökologischen Befunde oft von öffentlichkeitswirksamen Wissenschaftlern, die populäre Bücher verfasst hatten. Die Schriften und Fernsehauftritte von Milton Friedman, Rachel Carson oder Ralph Nader gaben insbesondere von den USA aus weltweite mediale Impulse. In der säkularisierten Politik entwickelten sich diese Schriften für Teile der Öffentlichkeit zu neuen Glaubenssätzen, die dann wiederum mitunter transzendente Semantiken erhielten  – etwa beim Verweis auf die „Rettung der Schöpfung“ oder die „Heilkräfte des Marktes“. Damit korrespondierten beide Paradigmenwechsel zugleich mit der Verwissenschaftlichung des Politischen, die oft mit computergenerierten Hochrechnungen um Legitimität rangen. Bestseller wie „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) standen in dieser Hinsicht mit ihren statistischen Variablen den ökonomischen Büchern wenig nach und gaben nicht minder große Impulse für das ökologische Denken. Einst offene Zukunftshorizonte wurden durch sie in Graphiken verwandelt, die eine Entscheidung zur Umkehr abverlangten. Die Krisenperzeption führte dabei auch zu einer Pluralisierung der Experten. Es entstand eine neue Konkurrenz der Experten, die mit unterschiedlichen Positionen um konkurrierende ökonomische und ökologische Deutungen rangen. Das wertete sie öffentlich nicht nur auf, sondern entwertete zugleich die Autorität ihres Urteils.23 Seit Ende der 1970er Jahre wurde in vielen Ländern zudem eine Krise der Parteiendemokratie ausgemacht, die mit Skandalen einherging. Dazu gehörte ein wachsendes Misstrauen gegen die etablierte politische Klasse in den Hauptstädten, die als abgehoben oder korrupt erschien. Dies begünstigte Außenseiter und jene, die sich als solche inszenierten, wie den früheren Schauspieler Ronald Reagan. Ebenso konnten viele Grüne nun darauf verweisen, dass sie bisher keine politischen Funktionärsposten innehatten. Ihr Rotationsverfahren zielte darauf ab, eine neue grüne Politikerkaste zu verhindern. Ebenso inszenierte sich in Großbritannien Magret Thatcher seit Ende der 1970er Jahre quasi als Außenseiterin – als „Grocer’s daughter“, als Tochter eines Inhabers eines Lebensmittelgeschäftes, die selbst noch hinter der Theke

Vgl. zeitgenössisch bereits dazu: Peter Weingart: Das „Harrisburg-Syndrom“ oder die De-Professionalisierung der Experten, in: Helga Nowotny (Hg.): Kernenergie: Gefahr oder Notwenigkeit? Anatomie eines Konflikts, Frankfurt am Main 1979, S. 9–17.

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gestanden habe und nur durch eigenen Fleiß aufgestiegen sei.24 Diese Geschichte sollte für Sympathien an der Basis sorgen und den Anschein vermeiden, sie würde als Millionärin eine Politik für Millionäre betreiben. Thatchers Vater war freilich kein kleiner Krämer, sondern besaß zwei Geschäfte, war Bürgermeister seiner Heimatstadt Graham, Vorsitzender der lokalen Handelskammer und Sparkasse, also zumindest kommunal eine Größe. Thatcher selbst gehörte angesichts ihres Abschlusses in Oxford, ihres Millionärsgatten und ihrer 20-jährigen politischen Karriere in der Politik ebenso längst zum klassischen Establishment. Die Legende von der armen Aufsteigerin sollte jedoch den Neuanfang in der Krise unterstreichen. Ökologie und Neoliberalismus verfolgten schließlich Ziele, die über gesetzliche Reformen hinausreichten. Beide strebten an, aus der Krise heraus die Moral der Gesellschaft und das individuelle Denken und Handeln zu ändern. So sollte die Förderung des Eigentums bei den Wirtschaftsliberalen die Verantwortung stärken, was gerade Thatcher als eigentliches Ziel ihrer Privatisierungen ansah. Ebenso ging es den Grünen darum, eine individuelle neue Verantwortung im Alltag zu etablieren, ob beim Einkaufen oder Hausbau. Obwohl sie beide für die individuelle Selbstverwirklichung und Freiheit eintraten, ging es ihnen damit um die Implementierung bestimmter Moralvorstellungen und Normen, was am Ende auch auf eine Bevormundung hinauslief, die durch Sanktionen und Subventionen durchgesetzt werden sollte.

2. Die Grünen und das Erbe des Liberalismus der 1970er Jahre

Die Grünen knüpften bei ihrer Gründung durchaus an das Erbe des (Links-) Liberalismus an. So hatte die FDP Anfang der 1970er Jahre verschiedene Akzente gesetzt, die sie am Ende des Jahrzehnts durch ihre spezifische Krisenperzeption aus den Augen verlor und die dann die Grünen in radikaler Form aufgriffen. So war die FDP die erste Partei, die Anfang der 1970er Jahre den Umweltschutz als politisches Thema entdeckte und stark machte. Besonders Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher schob ab 1970 den Umweltschutz als politisches Ziel in den Vordergrund. Bereits 1971 legte er das erste Umweltprogramm einer Regierung vor. Gesetze zur Abfallbeseitigung, gegen Immissionen oder zum Naturschutz folgten.25 Programmatisch griffen

Vgl. John Campbell: Margaret Thatcher Volume Two: The Iron Lady, London 2003, S. 183. 25 Vgl. Frank Uekötter: Deutschland in Grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, Göttingen 2015, S. 119–125. 24

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die Liberalen den Umweltschutz ebenfalls frühzeitig auf. „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen“26, verkündeten die Freiburger Thesen der FDP 1971. Auch zur Zivilgesellschaft bestanden entsprechende Beziehungen. So war der erste Vorsitzende des 1972 gegründeten Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), Hans-Helmuth Wüstenhagen, noch aktives FDP-Mitglied. Dieses anfängliche ökologische Engagement der Liberalen verblasste jedoch seit Mitte der 1970er Jahre, als die ökonomische Krisenperzeption zunehmend in den Vordergrund rückte. Die neu gegründeten Grünen übernahmen ab Ende der 1970er Jahre dieses Erbe. Ähnliches galt für die liberale Verteidigung von Bürgerrechten, für die in den 1970er Jahren insbesondere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) stand.27 Angesichts der terroristischen Herausforderung entstand jedoch auch hier für die FDP ein Spagat, der es den Grünen erleichterte, diese liberale Tradition zu übernehmen. Besonders deutlich zeigt sich dies etwa beim Thema Datenschutz. 1977 trug die FDP noch maßgeblich dazu bei, dass mit dem Bundesdatenschutzgesetz eine weltweite deutsche Vorreiterrolle auf diesem Feld entstand. In den Jahren darauf kam jedoch insbesondere beim Protest gegen die Rasterfahndung und die Volkszählung eine breite gesellschaftliche Mobilisierung für einen umfassenden Schutz privater Daten gegenüber dem Staat auf, die aus dem Vorfeld der Grünen stammte.28 Ähnliches lässt sich für den Umgang mit politisch Verfolgten und Flüchtlingen ausmachen, bei dem die Liberalen ebenfalls die Gestaltungsmacht verloren, obgleich sie den Außen- und den Innenminister stellten. Während sich Ende der 1970er Jahre eher konservative Politiker für die Aufnahme der „Boat People“ stark machten, da diese vor dem Kommunismus flohen, profilierten sich die Grünen in den 1980er Jahren mit dem Eintritt gegen Menschenrechtsverletzungen, sei es in Südafrika oder Tibet. Die ebenso pragmatische wie exportorientierte Außenpolitik der FDP zeigte dagegen wenig Berührungsängste gegenüber Diktaturen.29

Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik 25./27. Oktober 1971, Vierter Teil, These 1, S.  64, URL: http://www.liberale-demokraten.de/Freiburger%20Thesen-LD-V201609.pdf [11.01.2018]. 27 Vgl. hierzu die Beiträge von Gabriele Metzler und Larry Frohman in diesem Band. 28 Vgl. Larry Frohmann: ‚Only Sheep Let Themselves Be Counted‘: Privacy, Political Culture, and the 1983–87 West German Census Boycotts, in: Archiv für Sozialgeschichte  52 (2012), S. 335–378. 29 Zum „Genscherismus“ vgl. Agnes Bresselau von Bressensdorff: Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg, 1979–1982/83, Berlin 2015. 26

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Zugleich knüpfte die Umweltbewegung mit ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement an das Erbe des Liberalismus an. Ihr ehrenamtliches Eintreten für das Gemeinwohl, ihre lokale Verankerung und ihr Aufbau von Vereinen erinnerten vielfältig an das liberale Milieu des 19. Jahrhunderts, ebenso ihre Diskussionsfreudigkeit und ihr Streben nach Öffentlichkeit. Dieses neuartige lokale Engagement des linksalternativen Milieus entstand auch aus der Desillusionierung über die Möglichkeiten, die nationale oder internationale Politik zu beeinflussen. Stattdessen sollte das eigene Umfeld verändert werden, von den eigenen Lebens-, Arbeits- und Wohnformen bis hin zum unmittelbaren Nahraum.30 Auch die grüne Flugblattkultur und die vielen alternativen Lokalzeitungen erinnerten an den Liberalismus der 1840er Jahre, der sich über zahllose lokale und diskussionsfreudige Zeitungsredaktionen ausgebreitet hatte. Auch sie bezogen Leser ein und ihre Redaktionen wurden zum Nukleus von politischen Diskussionen.31 Allerdings war die Lebenszeit der alternativen Zeitungen oft ähnlich kurz wie bei den liberalen Blättern um 1848. Bezeichnenderweise überlebten seit den 1980er Jahren vor allem alternative Stadtmagazine (wie „tip“ und „Zitty“ in Berlin, „Oxmox“ in Hamburg oder die „StadtRevue“ in Köln), die sich früher oder später an die kommerzielle Event-Kultur anpassten.32 Lokales linksalternatives Engagement verband sich dabei mit einem eher liberalen unternehmerischen Stadtmarketing, das auf selbstständigen Kleinunternehmern beruhte. Gewisse Bezüge und Ähnlichkeiten lassen sich zudem bei der distanzierten Sicht auf den Staat ausmachen. Grundsätzlich hatten „Neoliberale“ und „Ökos“ natürlich ein unterschiedliches Verhältnis zur Rolle des Staates. Grüne Parteien vertrauten auf den Staat beim Umbau der Gesellschaft, bei der Schaffung einer ökologischen Wirtschaft und bei der sozialen Absicherung.33 Allerdings zeichnete sich auch das alternative Milieu durch eine gewisse Distanz zum Staat und zu staatsnahen Institutionen aus. Der Staat galt als eine überwachende Instanz, zu der ein kritischer Abstand durch Betonung von

Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 31 Vgl. Nadja Büteführ: Zwischen Anspruch und Kommerz: Lokale Alternativpresse 1970–1993, Münster 1995, S.  471 f; Christina Holtz-Bacha: Alternative Presse, in: Jürgen Wilke (Hg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S.  330–349, hier S. 331; Hermann Rösch-Sondermann: Bibliographie der lokalen Alternativpresse: Vom Volksblatt zum Stadtmagazin, München 1998. 32 Vgl. Norbert Jonscher: Lokale Publizistik, Theorie und Praxis der örtlichen Berichterstattung. Ein Lehrbuch, Opladen 1995, S. 74. 33 Vgl. Die Grünen, Bundesprogramm 1980. 30

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Eigeninitiative und Schutz der Privatsphäre gesucht wurde. Viele Linksalternative gingen in den 1970er Jahren von einem Überwachungsstaat aus, der „Berufsverbote“ erteile und politisches Handeln einschränke; dies prägte ihr Denken und Handeln in gewisser Weise ähnlich wie die Liberalen einst im Vormärz. Heute stammt die grüne Klientel oft aus dem öffentlichen Dienst, so wie einst viele liberale Professoren und Vertreter aus Bildungseinrichtungen kamen. Zugleich entwickelte sich im grünen Milieu seit Ende der 1970er Jahre eine neue Selbstständigkeit. So entstanden seit den 1970er Jahren zahlreiche alternative Verlage, Architektur- und Anwaltspraxen, Schneidereien, Fahrradwerkstätten oder Bäckereien, die trotz geringen Einkommens selbstständig oder als Kollektiv mit flachen Hierarchien Dienstleitungen erbrachten. Ebenso förderten sie privat getragene Schulen und Kindergärten, die damit selbstständig wohlfahrtstaatliche Aufgaben übernahmen. In der Bundesrepublik waren nach Schätzungen 1986 rund 200.000 Menschen in diesen Bereichen beschäftigt, in ihrem Umfeld vermutlich mehr.34 In den grünen Hochburgen entstand somit eine selbstständige Sozialform, die zwar nicht gewinnorientiert war, aber mit dem Ethos der Eigeninitiative durchaus Bezüge zu liberalen Traditionen und liberalen Selbstverständnis aufwies. In der 1990er Jahren, nach Etablierung der Grünen, war der prozentuale Anteil von Selbstständigen bei den grünen Parteimitgliedern zwar geringer als bei der FDP, aber mit 14 Prozent noch doppelt so hoch wie bei den Sozialdemokraten.35 Arbeiter blieben hingegen bei beiden Parteien deutlich unterrepräsentiert. Bei diesen Kleinselbständigen im alternativen Milieu spielten die Eigeninitiative, Durchhaltekraft und Flexibilität eine entscheidende Rolle, weshalb auch diese Betriebe zur Ausbildung eines „unternehmerischen Selbst“ beitrugen, als Verhaltensschule von Aktivität und Vernetzung.36 Diese Präferenz der Eigeninitiative und Selbstausbeutung zeigte sich auch in der Organisation der Grünen. Ihr Apparat war denkbar klein und wurde von der Parteibasis dennoch argwöhnisch beobachtet. Stattdessen arbeiteten ihre Führungsspitze und viele in ihrem Milieu mit denkbar großer Selbstaufopferung. „Die

Vgl. Detlef Siegfried: Die Entpolitisierung des Privaten. Subjektkonstruktionen im alternativen Milieu, in: Norbert Frei / Dietmar Süß (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 124–139, hier S. 124; Reichardt, Authentizität, S. 323 f sowie 347 f. 35 Vgl. Oskar Niedermayer: Bürger und Politik: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen, Wiesbaden 2005, S. 200. 36 Zu diesem an Foucaults Gouvernementalität angelehnten Konzept: Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2016. 34

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Parteigehälter müssen sich orientieren an unseren Vorstellungen eines materiell bescheidenen und damit energie-, rohstoff- und umweltschonenden Lebensstils“37, betonte etwa ein Rundschreiben der Grünen 1979. Tatsächlich blieben die Gehälter in den 1980er Jahren sparsam und die Bundespartei stellte kaum Mitarbeiter ein.38 Marktliberale und Grüne einte die Abscheu vor „Funktionären“, die alimentiert dauerhaft Macht erhielten. In Parteien traten ihre Anhänger eher widerwillig ein, weshalb die Grünen anfangs auch als „Anti-Parteien-Partei“ firmierten. Auch dies war ursprünglich für den zivilgesellschaftlich orientierten Liberalismus typisch: Seine Mitglieder waren in Verbänden und Vereinen sowie als Einzelpersönlichkeit engagiert, aber Parteien gegenüber blieben sie eher distanziert. Entsprechend wenige Mitglieder hatte zunächst die FDP, ebenso dann die Grünen bis heute. Dem entsprach auch, dass sich die Grünen anfangs ähnlich wie die Liberalen weder als rechte noch als linke Parteien titulieren lassen wollten.39 Soziokulturell gab es ebenfalls Bezüge und Überschneidungen zwischen den Anhängern. FDP und Grüne waren und blieben die Parteien, deren Wähler die höchsten Bildungsabschlüsse aufwiesen.40 Beide hatten ihre Hochburgen in den bürgerlichen Vierteln in den Groß- und Universitätsstädten, also in den ehemals klassischen liberalen Milieus des 19.  Jahrhunderts. Blickt man genauer auf die Wahlergebnisse, wird deutlich, dass die Grünen zunehmend die Hochburgen der FDP übernahmen, letztere aber weiterhin dort stark blieb. In einst liberal dominierten Städten wie Tübingen und Freiburg, Marburg oder Göttingen erreichten die Grünen rasch zweistellige Ergebnisse, dann zum Teil über 20 Prozent, ebenso in den innerstädtischen Altbauvierteln in Stuttgart oder Düsseldorf, in denen die klassische liberale Klientel wohnte, seien es Selbständige oder Beamte. Selbst in einer liberalen Großstadt wie Frankfurt, wo die FDP 1949 noch 25 Prozent erreichte, kamen die Grünen bei der Stadtverordnetenwahl 2011 auf denselben Spitzenwert. Besonders die „Altbauviertel“ entwickelten sich dabei zu Quartieren, in denen die alte liberale und dann die neue grüne Bürgerlichkeit eine Heimstätte fand. Der Politologe Franz Walter bezeichnete Liberale und Grüne daher als „besser verdienende Mitte“, die sich durch unterschiedliche Lebensmodelle und Gesellschaftsentwürfe auszeichne.41

Rundbrief die Grünen 4/79, Nov./Dez. 1979, in: AGG, B 1.1.–162. Vgl. dazu die Vorstandsprotokolle der Grünen, etwa: Protokoll Vorstand Die Grünen 30.3.1979, in: AGG, B1.1.–543. 39 Vgl. Mende, Geschichte, S. 489. 40 Statistische Daten für alle Parteien unter: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteienin-deutschland/zahlen-und-fakten/140358/soziale-zusammensetzung. 41 So auch im Untertitel von: Walter, Gelb oder Grün?. 37 38

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3. Internationale Kooperationen, Wahrnehmungen und Transfers

Das Aufkommen des Neoliberalismus und der Öko-Bewegung war eng mit der Erfahrung der Globalisierung verbunden. In den 1970er Jahren wurde deutlich erfahrbar, dass weder Energie- und Umweltprobleme noch Finanzund Wirtschaftskrisen an Grenzen haltmachten. Liberale und Grüne versuchten daher grenzübergreifende Antworten hierauf zu finden, sei es mit marktliberalen oder mit ökologischen Kooperationen. Grenzübergreifend ausgerichtet waren bereits die Vordenker beider Bewegungen. So entstanden beide im Kontext transnationaler Think Tanks – wie der neoliberalen Mont Pèlerin Society oder des Club of Rome, die global ausgelegte Modelle entwickelten.42 Ebenso beruhte ihre Umsetzung auf transnationalen Netzwerken, die an unterschiedlichen Orten der Welt experimentierten. Auch der Erfolg ökologischer und marktradikaler Reformen hing von der Implementierung internationaler Abkommen ab, sei es beim Freihandel oder beim Klimaschutz, die wiederum von transnationalen Institutionen wie Greenpeace oder dem IWF öffentlich begleitet wurden; sei es in Chile oder Kalifornien. Zudem entstanden transnationale Netzwerke von unten: in der Umweltbewegung besonders mit Frankreich, aber auch in die USA hineinreichend, besonders durch Petra Kellys transatlantische Vermittlungsrolle.43 Vor allem die USA waren bei diesem Wandel Vor- und Schreckbild zugleich. Für Thatcher, aber auch für westdeutsche Marktliberale hatte die deregulierte und frühzeitig privatisierte Wirtschaft in den USA eine starke Ausstrahlungskraft. Allerdings hatten die USA nicht nur bei der marktliberalen Politik, sondern auch in ökologischen Fragen Anfang der 1970er Jahre durchaus eine Vorreiterrolle. Dies galt für die Umweltpolitik unter Richard Nixon, und ausgerechnet unter Gouverneur Reagan kam es in Kalifornien zum Ausbau alternativer Energien, freilich getrieben von Präsident Jimmy Carters Politik Ende der 1970er Jahre. Als Präsident baute Reagan dann wieder die Förderung von Windkraft und Solarenergie ab und diente den Grünen eher als Feindbild.44 Internationale Verbindungen intensivierten sich seit Mitte der 1970er Jahre auch zwischen den britischen Konservativen und den bundesdeutschen Christdemokraten. Die ersten Europawahlen 1979 förderten dies, ebenso wie Vgl. Jones, Masters; Nils Freytag: „Eine Bombe im Taschenbuchformat“? Die „Grenzen des Wachstums“ und die öffentliche Resonanz, in: Zeithistorische Forschungen 3.3 (2006), S. 465–469. 43 Vgl. Saskia Richter: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010. 44 Vgl. auch zum Transfer: Preben Maegaard (Hg.): Wind Power for the World: International Reviews and Developments, Singapur 2013. 42

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die Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn, die sich mit konservativen britischen Think Tanks austauschte.45 Zeitgleich trafen sich die Grünen aus verschiedenen Ländern grenzübergreifend im Vorfeld der Europawahl und warben damit: „Wir Grünen sind eine internationale Familie. Der Umweltschutz kennt keine Grenzen. So haben wir uns auch über die alten nationalstaatlichen Barrieren hinweg im Kampf gegen lebensbedrohende Industrieprojekte, Militarisierung und v. a. atomare Anlagen zusammengeschlossen.“46 Die Endzeitstimmung und die Wahl verbanden europaweit. Thatchers erste Reformen in Großbritannien waren für die deutschen Christdemokraten und Liberalen zunächst durchaus ein Vorbild, um mit Bezug darauf einen Kurswechsel in der Bundesrepublik einzufordern. „Change“ zählte zu den Leitbegriffen in Thatchers Wahlreden.47 Ihre Wahlkampfblätter verlangten einen „change in leadership, change in purpose, change in political directions.“48 Parallel dazu forderte die CDU/CSU in ihrem Wahlkampf 1980 eine „Wende“. Ähnlich wie Thatcher glaubten die Unionsparteien, einen ökonomischen Neuanfang mit einer Veränderung der Werte und des individuellen Handelns zu verbinden. Ebenso forderte die FDP 1981/82: „Eine Wende ist notwendig“, was auch auf die Trennung vom Koalitionspartner SPD verwies.49 Bei der Regierungsübernahme Kohls 1982 war es erneut Franz Josef Strauß, der in der „Stunde der Not“ eine „Tendenzwende“ verlangte, insbesondere bei der Sanierung der Wirtschaft und der Finanzen.50 Die Regierung Kohl inszenierte 1982 ebenfalls eine Rhetorik des Neuanfangs in der Krise, die an Thatcher erinnerte. Bis heute wird dies mit dem damals diskutierten Anspruch verbunden, eine „geistig-moralische Wende“ einzuleiten. Tatsächlich vermied Kohl in seinen Regierungserklärungen 1982 und 1983 den Begriff „Wende“, wie auch die CDU-Politiker insgesamt. Vielmehr war es die Opposition, die in der Aussprache über die Regierungserklärung fortlaufend pejorativ von der Wende sprach: von einer „Wende nach rechts“, „Wende nach rückwärts“, „Die Wende in die Ausbeutungs- und Um-

Ab 1977 nahm dies zu. Vgl. Vermerk vor dem Treffen der CDU mit den Torys 3./4.11.1977, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), 07-001-16032. 46 „Was wir wollen“ o. D. [April 1979] in: AGG, B1.1.–2. (selbes Problem, Leerzeichen) 47 Vgl. Reden wie: Margaret Thatcher, Rede zur Conservative Rally in Cardiff am 16.4.1979, URL: www.margaretthatcher.org/document/104011 [11.01.2018]. 48 Wahlkampfflyer Torys 1979. 49 Vgl. Peter Hoeres: Von der „Tendenzwende“ zur „geistig-moralischen Wende“. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 93–119, hier S. 105–110. 50 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 121. Sitzung vom 13.10.1982, S. 7259; 14.10.1982, S. 7323 und 7335, in: http://pdok.bundestag.de/ [11.01.2018]. 45

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verteilungsgesellschaft“ oder einer „neokonservativen Tendenzwende“.51 Die Union selbst grenzte sich dagegen nun dezidiert von Thatcher ab, deren Politik 1982 auch in der Bundesrepublik als gescheitert galt. So betonte der wirtschaftsnahe Christdemokrat Walter Leisler Kiep: „Keiner von uns, insbesondere auch nicht Franz Josef Strauß, hat zu irgendeinem Zeitpunkt jemals davon gesprochen, daß wir eine amerikanische oder britische Wirtschaftspolitik, auf diese beiden Länder zugeschnitten, gewissermaßen auf die Bundesrepublik Deutschland in allen Einzelheiten übertragen könnten.“52

Nicht nur die SPD rechtfertigte ihre Wirtschaftspolitik in Abgrenzung zu Thatcher, sondern auch die FDP betonte 1981, die Politik von Reagan und Thatcher „kann nicht unser Modell sein“53, da sie in England zu hoher Arbeitslosigkeit geführt habe. Stattdessen forderten die Liberalen einen „mittleren Weg“ des Sparens. Kohl vermied bewusst den Eindruck radikaler Veränderungen, gerade weil der angelsächsische Kurswechsel nach dem krisenhaften Start von Thatcher und Reagan in der Bundesrepublik wenig beliebt war. Der Leitbegriff von Kohls ersten Regierungserklärungen war entsprechend die „Koalition der Mitte“, was semantisch für einen Ausgleich stand. Zugleich sprach Kohl von einer „Politik der Erneuerung“ und einem „historischen Neuanfang“, der wie 1949 nötig sei.54 Von der ökonomischen Programmatik her lagen die frühen Konzepte der britischen Konservativen und der christlich-liberalen Regierung dennoch nicht weit auseinander. Ähnlichkeiten zu Thatchers Programmatik wies zudem der Koalitionspartner FDP seit 1982 auf, der mit dem „Scheidungsbrief “ des amtierenden Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) vom 9. September 1982 ein entsprechendes Fanal entwickelte. Ähnlich wie Thatcher diagnostizierte Lambsdorff, dass nicht die Weltwirtschaft, sondern die bisherige Politik und der „Resignations- und Zukunftspessimismus“ in der deutschen Wirtschaft Ursachen der Krise seien, die deshalb im ordoliberalen Sinne durch eine neue nationale Wirtschaftspolitik zu beheben sei.55

Ebd., S. 7229–7244; 14.10.1982, S. 7303–7307. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 79. Sitzung vom 20.1.1982, S. 4644. 53 Helmut Haussmann (FDP), Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 52. Sitzung vom 17.9.1981, S. 2972. 54 Regierungserklärung Helmut Kohl 13.10.1982, online mit Kommentar, URL: http:// www.1000dokumente.de/pdf/dok_0144_koh_de.pdf [11.01.2018] 55 Vgl. Otto Graf Lambsdorff: Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, 9.9.1982, URL: www.1000dokumente. de/pdf/dok_0079_lam_de.pdf [18.01.2018]. Vgl. dazu relativierend den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band, S. 200 f. 51 52

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Das im Wirtschaftsministerium entwickelte Papier, das einen Austritt aus der Regierung mit der SPD einleitete, forderte wie Thatchers Programmatik eine Stärkung des Marktes, einen Rückzug des Staats und sehr konkret den Abbau sozialer Leistungen, etwa durch Kürzungen für Arbeitslose, in der Sozialhilfe und im öffentlichen Dienst, beim Bafög und die Streichung des Mutterschaftsurlaubsgeldes. Zugleich sei die Wirtschaft durch investive Ausgaben, die Absenkung der Spitzen- und Vermögenssteuer und die Abschaffung der Gewerbesteuer zu fördern. Wie in Großbritannien sollte eine Erhöhung der Mehrwertsteuer dies finanziell auffangen, was arme Menschen überproportional belastete. Bei der Privatisierung blieb das Papier hingegen noch vager als Thatcher zu Beginn ihrer Regierungszeit. Kohls Regierungserklärung knüpfte vom grundsätzlichen Duktus und bei einzelnen Beispielen hieran an. Auch Kohl nannte als „Weichen zur Erneuerung: weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt, weg von kollektiven Lasten, hin zur persönlichen Leistung; weg von verkrusteten Strukturen, hin zu mehr Beweglichkeit, Eigeninitiative und verstärkter Wettbewerbsfähigkeit.“ Ähnlich wie Thatcher akzentuierte Kohl die individuelle Verantwortung und Vorsorge, um „Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten zu können“. Denn: Zu viele hätten „zu lange auf Kosten anderer gelebt.“ Sehr konkret waren auch seine Sparankündigungen, etwa die Kürzung bei Leistungen der Arbeitslosenversicherung, eine erhöhte Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten oder das Aussetzen der Rentenanpassung und Kriegsopferversorgung um ein halbes Jahr.56 Umgesetzt wurde diese marktliberale Rhetorik freilich nur im geringen Maße.57

4. Kompromisslose Reformansätze

„Ökos“ und „Marktliberale“ forderten radikale kompromisslose Schritte, die quer zu den etablierten Rezepten des Nachkriegskonsenses standen. In Zeiten verbreiteter Zukunftsangst entwarfen sie Visionen einer besseren Welt, die nur durch schmerzhafte Einschnitte, durch Verzicht und einen langen Atem erreichbar seien. Beide forderten, den Gürtel enger zu schnallen. Auch

Vgl. die Regierungserklärung Kohls, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 121. Sitzung vom 13.10.1982, S. 7213–7229, Zitate S. 7218D, 7215D. 57 Vgl. dazu auch die Beiträge von Ralf Ahrens und Marc Buggeln in diesem Buch sowie Andreas Wirschung: „Neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Werner Plumpe  / Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 139–150. 56

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die Grünen standen nicht einfach für einen technischen Rückschritt, sondern propagierten neue Technologien, die sich zum Teil langfristig durchsetzten. Von einem „Ende der Zukunft“ lässt sich somit trotz Abnahme der staatlichen Planungseuphorie nicht sprechen.58 Dafür nahmen Wirtschaftsliberale und Ökologen unpopuläre Maßnahmen in Kauf, auch Rückschläge bei Wahlen. Wenngleich die Segnungen des Neoliberalismus und der Ökologie der gesamten Gesellschaft zugutekommen sollten, trafen die Folgen der geplanten oder tatsächlich umgesetzten Reformen vor allem die Unterschichten – sei es bei den Mieten in Großstädten im Zuge der Privatisierungen, sei es bei Benzin- und Strompreisen im Falle ökologischer Reformen. Ihre politischen Entwürfe waren in beiden Fällen risikoreiche Schritte, die vor allem für den Arbeitsmarkt Ungewissheiten bescherten. Der Vorwurf, Jobs zu vernichten, traf sowohl die Grünen als auch Anhänger des Thatcherismus. Die Grünen suchten zwar programmatisch das Bündnis zu den Gewerkschaften, doch ihre Verbindung zur heimischen Arbeiterbewegung blieb auch bei ihnen entsprechend dünn. Denn in einer Gesellschaft, die in den 1970er Jahren im starken Maße Sicherheit suchte, verlangten „Ökos“ und „Neoliberale“ unsichere Reformen, um langfristig die Arbeitswelt umzubauen. Inhaltlich dominierten auch hier konträre Unterschiede: Während es den einen um „Nachhaltigkeit“ ging, stand bei den anderen „Leistung“ im Vordergrund. Die Verfechter wirtschaftsliberaler und ökologischer Reformen hatten klare Ziele. Ihr Weg und die konkrete Umsetzung waren hingegen 1979 offen und entstanden erst experimentell. Wie verschiedene neuere Studien betonen, tastete selbst Thatcher sich bei ihren Reformen eher schrittweise vor.59 Ihre weitreichende Privatisierungspolitik, für die sie später berühmt wurde, stand 1979 noch im Hintergrund. Selbst den Begriff „privatisation“ benutzte sie erst 1981 zum ersten Mal öffentlich und sprach auch später eher zurückhaltend von „denationalisation“ oder „demonopolisation“.60 Im Vordergrund ihrer ersten Regierungsphase stand vielmehr der Versuch, über die Geldmenge die Inflation einzudämmen und die Wirtschaft anzukurbeln. Ebenso entwickelten die Grünen trotz klarer Reformankündigungen erst langsam konkretere Schritte für politische Maßnahmen. Ihnen wurden deshalb eine

Dies ist jedoch ein Deutungstrend, der viele Publikationen zur Geschichte der Zukunft prägt. Vgl. die Beiträge in: Lucian Hölscher (Hg.): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts – Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt 2017. 59 Vgl. Eric J. Evans: Thatcher and Thatcherism, London 2013, S. 15; Geppert, Revolution, S. 417. 60 Eigene Recherche: Thatcher House of Commons 20.10.1981, http://www.margaret thatcher.org/document/104718 [11.01.2018]. 58

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Strategie- und Regierungsunfähigkeit vorgeworfen.61 Seit der ersten grünen Regierungsbeteiligung in Hessen wurde ihre wechselnde Führung zudem zwischen der radikalen Basis und den Ansätzen des sozialdemokratischen Koalitionspartners zerrissen. In vielen Fällen war jedoch erstaunlich, welche pragmatischen Kompromisse die bundesdeutschen Grünen und Liberalen trotz ihrer radikalen Rhetorik seit den 1980er Jahren eingingen. In beiden Fällen ging der Politikwechsel mit einem generationellen Wandel einher. Das alternative Milieu speiste sich vor allem aus den geburtenstarken Jahrgängen der beiden Nachkriegsjahrzehnte, die im Zuge der Bildungsexpansion neue Freiräume und Erwartungen entwickelten und schon als Schüler von den Studentenprotesten beeinflusst wurden. Aber auch bei den Liberalen trug der Generationswechsel mit zur weltanschaulichen Veränderung bei. Diese etwas jüngere Alterskohorte der 1960/70er, für die Guido Westerwelle (Jg. 1961) stand und die sich bei den „Jungen Liberalen“ sammelte, repräsentierte den aufstiegsorientierten Optimismus der 1980er Jahre und trug zu diesem marktliberalen Wandel bei. Diese Verschiebung markierte der Wechsel der Jugendorganisation der FDP: Die Jungdemokraten lösten sich mit dem Regierungswechsel von der Mutterpartei ab und die 1979 neu gegründeten Jungen Liberalen traten an ihre Stelle. Durch den Wegfall der Jungdemokraten verlor die FDP eine ganze Nachwuchskohorte, die durch den linksliberalen Geist der 1970er Jahre geprägt war. Für die neu gegründeten Jungen Liberalen, die sich von diesem Geist weltanschaulich und habituell abgrenzten, entstanden so große innerparteiliche Aufstiegschancen.62 Grüne und FDP wurden so zu Parteien der jüngeren Politiker und Wähler. Ältere Menschen ab 60 Jahren bevorzugten hingegen vor allem die CDU/CSU und die SPD, da diese ihnen mehr Sicherheit und Kontinuität versprachen. Da beide Strömungen provokant, kompromisslos und konfliktorientiert auftraten, polarisierten sie entsprechend. Die Umgangsformen mit politischen Gegnern erreichten eine neue Qualität im Konfrontationsgrad und Freund-Feind-Denken. Selbst innerhalb der britischen Tories, der FDP und der Grünen kam es zu harten, verletzenden Richtungskämpfen, wie sie bislang nicht üblich waren. Schon gleich nach der Wahl hieß es etwa über Margaret Thatcher, jedes Gespräch mit ihr sei „eine harte Partie Tennis“ und wie eine „Lagebesprechung bei einem Bomberkommando“.63 Mit rüdem Nachdruck agierte sie auch auf dem diplomatischen Parkett, wo sie mit den Regeln di-

So Joachim Raschke: Die Zukunft der Grünen, Frankfurt 2001, S. 30 f. Vgl. Peter Lösche / Franz Walther: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 110–113. 63 FAZ 19.5.1979, Bilder und Zeiten, S. 1. 61 62

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plomatischer Höflichkeit brach und gegenüber Staatsmännern wie Helmut Schmidt hart verhandelte.64 Ihr Außenminister erklärte dies Genscher gegenüber mit den Worten, sie sei eine „very direct lady“65. Führungsstärke zeigte sie auch gegenüber den Männern in ihrem Kabinett: Sie ließ diese kaum zu Wort kommen und entließ rasch jene als „wets“ titulierten Minister, die im Unterschied zur ihr einen kompromissorientierten Kurs wollten.66 Mit polarisierten Spannungen und Abspaltungen ging auch die Etablierung des Marktliberalismus in der FDP einher. Ihre Spaltung im Zuge ihres Koalitions- und Kurswechsels 1982 unterstrich dies: Rund 15.000 bis 20.000 Mitglieder, also knapp ein Viertel, verließen damals die FDP.67 Einige gründeten erfolglos eine neue Partei, die linksliberalen „Liberalen Demokraten“, andere prominente Köpfe, wie ihr Generalsekretär Günther Verheugen, wechselten zur SPD.68 Linksliberale Führungsfiguren, wie Innenminister Gerhart Baum und Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher, traten zwar nicht aus der FDP aus, wurden aber entmachtet. Neu hinzu kamen stattdessen Mitglieder aus dem alten Mittelstand. Auch innerhalb der CDU/CSU trafen die Flügel härter aufeinander, ohne dass sich hier klar eine Richtung durchsetzte. Die Grünen fielen ebenfalls rasch durch ihre polarisierende Kommunikation auf, auch innerhalb der eigenen Partei. Die als „Fundis“ und „Realos“ bezeichneten Flügel bekämpften sich in den 1980er Jahren so nachdrücklich, dass es aus heutiger Sicht verwundert, dass sich die Grünen nicht spalteten. Zumindest kam es, wie bei der FDP, rasch zu prominenten Austritten, sowohl von eher konservativen Grünen wie von Herbert Gruhl, oder der linksstehenden Jutta Ditfurth. Entsprechend kritisch und pessimistisch fielen auch Studien über die Zukunft der Grünen aus, die Anfang der 1990er Jahre aus ihrem Umfeld heraus entstanden.69 Für diesen Wandel des Politischen standen auch ihre Führungspersonen. Ihre Ikonen, Margaret Thatcher und Petra Kelly, waren von ihren weltanschau-

Vgl. etwa Gespräch Schmidt-Thatcher 31.10.1979, in: Andreas Wirsching u. a. (Hg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1979, Bd.  2, München 2010, S. 1594 f. 65 Gespräch Genscher-Carrington 26.2.1980, in: Andreas Wirsching u. a. (Hg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1980, Bd. 1, München 2011, S. 363. 66 Vgl. Meredith Veldman: Margaret Thatcher. Shaping the new conservatism, Oxford 2016, S. 91. 67 So Schätzungen; vgl. Udo Leuschner: Die Geschichte der FDP: Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, liberal und konservativ, Münster 2005, S. 154. 68 Vgl. Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven, Opladen 2005, S. 58. 69 Vgl. Raschke, Grünen. 64

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lichen Ansätzen denkbar unterschiedlich. In beiden Fällen rückten jedoch, was damals ungewöhnlich war, erstmals in Europa Frauen an die Spitze, die zudem auch noch streitbar Männer herausforderten. Bei Thatchers Wahl war ihr Geschlecht in der Weltpresse zunächst die eigentliche Sensation, anfangs weniger ihr politischer Kurs. In der Bundesrepublik sprach etwa der Spiegel von einem „Experiment mit der Frau an der Spitze“.70 Im Unterschied zu den Grünen förderte Thatcher freilich keine Frauen: Sie besetzte ihr Kabinett männlich und der Anteil von Tory-Frauen sank in ihren Fraktionen bis 1987 auf vier Prozent.71 Ebenso nahm Thatcher in ihr erstes Kabinett keine einzige Frau auf und selbst unter den 94 Mitgliedern des erweiterten Regierungskreises mit Staatsekretären waren nur vier. Auch dies wirkte wie eine Überkompensation, um ja nicht den Anschein zu erwecken, Frauen würden bevorzugt. Zudem betrieb Thatcher keine Politik, die Frauen förderte. Thatcher selbst nahm sich nicht als Frau in der Politik wahr, sondern betonte später, sie sei stolz, als „first scientist“ Premierminister geworden zu sein.72 Dennoch war selbst Thatcher ein wegweisendes Rollenmodell für Frauen in der Politik, da sie zeigte, dass sich Frauen in einer politischen Männerwelt durchsetzen konnten. Entsprechend wurde Angela Merkels Aufstieg am Anfang mit dem von Thatcher verglichen, die ebenfalls eher zufällig an die Parteispitze rückte und dann für eine Liberalisierung der CDU sorgte, ohne freilich eine stark marktliberale Politik durchzusetzen.73 Die Grünen setzten dagegen als erste Partei auf eine Frauenquote und paritätisch besetzte Führungsgremien. Die Mehrheit ihrer Mitglieder und ihrer Wähler war in den 1980er Jahren dennoch männlich. Dies erklärt sich mit daraus, dass Frauen politisch stärker zur Mitte neigen und Parteien, die für radikale Wechsel stehen, seltener wählen. Erst als sich bei den Grünen der Flügel der pragmatischen „Realos“ stärker durchsetzte, reüssierten sie auch mehr bei den Wählerinnen.

5. Fazit

Wie eingangs betont, ging es in diesem Artikel nicht darum, inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen der marktliberalen und ökologischen Politik zu konstruieren. Als ergebnisreich erwies sich jedoch der hier vertretene Ansatz, ihr Spiegel 7.5.1979, S.  119; ähnlich: FAZ 19.5.1979, Bilder und Zeiten, S.  1; Die Zeit, 30.3.1979. 71 Vgl. Evans, Thatcher, S. 24. 72 So im BBC-Interview 1993, zit. in: Campbell, Thatcher, S. 2. 73 Vgl. Dominik Geppert, Maggie Thatchers Rosskur – ein Rezept für Deutschland?, Berlin 2003, S. 39. 70

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zeitgleiches Aufkommen auf strukturelle Bezüge hin zu untersuchen, um so den Wandel des Politischen und des Liberalismus ergänzend aus einer anderen Perspektive zu beleuchten als sonst üblich. Dies ist zugleich ein Plädoyer dafür, die Veränderung des Liberalismus nicht isoliert zu betrachten.74 Deutlich wird so, dass der Wandel des Politischen nicht einfach nur von bestimmten Personen wie Thatcher oder Lambsdorff abhing, sondern von gesellschaftlichen Veränderungen – wie dem Aufkommen von Gegenexperten, spezifischen Krisendeutungen oder globalen Think Tanks. Beide Strömungen trugen im Verbund mit ihnen nahestehenden Medien dazu bei, Ende der 1970er Jahre Krisennarrative aufzubringen, die den Weg für ihre grundlegenden Reformforderungen ebneten. Empirisch unterlegte Modelle von Experten dienten ihnen als Belege, oft gestützt durch internationale Think Tanks und Netzwerke. Marktliberale und Grüne bedienten sich dabei einer Sprache der Alternativlosigkeit. In einer Phase des Zukunftspessimismus entwarfen sie Visionen einer Umkehr, die zu einer besseren Welt führen sollte. Entsprechend verunsicherten und polarisierten ihre Ansätze, die bisherige Sicherheiten hinterfragten. Auch strukturell knüpften die Grünen an das (links)liberale Erbe an: Ihre misstrauische Distanz zum Staat und zu Berufspolitikern, ihr zivilgesellschaftliches Engagement oder auch die neue Selbstständigkeit im alternativen Milieu wiesen durchaus Bezüge zum liberalen Erbe auf. Auch in der weiteren Entwicklung lassen sich Parallelen zwischen marktliberalen und ökologischen Ansätzen ausmachen. Gemessen an den weitreichenden Ansprüchen ihrer Vordenker scheiterten der Neoliberalismus und die Umweltbewegung. In beiden Fällen war die Umsetzung marktliberaler und ökologischer Politik aus ihrer Sicht nicht radikal genug, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. In beiden Fällen verbreiteten sich ihre Grundmaximen jedoch seit Ende der 1970er Jahre zunehmend im politischen und individuellen Handeln in Europa. Die britischen Tories und die deutschen Grünen waren in Europa besonders markante Exponenten dieser beiden unterschiedlichen Strömungen. Jedoch wurden sie grenzübergreifend zu Modellen, und ihre Ansätze sickerten auch in andere Parteien ein, besonders bei den Sozialdemokraten und bei Labour. Selbst die CDU/CSU griff ökologische Ansätze auf und zementierte schließlich sogar den Atomausstieg, während die deutschen Grünen mit der „Agenda 2010“ Reformen umsetzten, die marktliberale Positionen in den Sozialstaat implementierten. Ebenso passten sich Bioprodukte und alterna-

So Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard, Liberalismus im 20. Jahrhundert. Aufriss einer historischen Phänomelogie, in: dies. (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–34.

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tive Energie immer stärker in Marktstrukturen ein, etwa mit der Gründung gewinnorientierter Bio-Marken und -Ketten. Inwieweit sich der Kapitalismus in Deutschland heute bewährt hat, wird nunmehr am Einhalten ökonomischer und ökologischer Regeln gemessen. Wachstumsraten wie in China beeindrucken uns weniger, wenn dort Luft und Wasser wie im Ruhrgebiet der 1960er Jahre aussehen. Auch die sozialistische Wirtschaft in der DDR gilt nicht nur ökonomisch als gescheitert, sondern auch aufgrund der verheerenden Folgen für die Umwelt. Insofern sind ökologische und marktliberale Strukturen zu einer Art neuem Konsens geworden. Wie jede dominante Bewegung steht diese Melange aus Marktwirtschaft und Ökologie jetzt unter verstärktem Beschuss, sowohl von rechtspopulistischer Seite als auch von der Linken.

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Statt Phoenix nur Asche Thatchers wirtschaftspolitisches Experiment 1979–1982 in der deutsch-britischen Pressekritik

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m Sommer 1980, als sich in Großbritannien die schwerste Rezession seit der Großen Depression entfaltete, verdichtete sich in den internationalen und britischen Printmedien die Kritik am wirtschaftspolitischen Kurs der konservativen Regierung unter Margaret Thatcher. Eine typische Schlagzeile im Wochenmagazin „Die Zeit“ lautete: „Statt Phoenix nur Asche. Die Kritik an Margaret Thatchers Politik wächst.“1 Ganz ähnlich zitierte das amerikanische Nachrichtenmagazin „Newsweek“ unter der Überschrift „The Sickest Economy“ einen Chairman des britischen Unternehmerverbandes Confederation of British Industry (CBI): „We are being told to look for Phoenix rising from the ashes after the recession […]. But if we carry on much longer like this, we will be left with only the ashes.“2 Thatchers wirtschaftspolitisches „Experiment“3 galt nach mehrheitlicher Pressemeinung im In- und Ausland bereits nach einem Jahr als gescheitert.

Art. „Statt Phoenix nur Asche“, Die Zeit, 18.7.1980. – Für wertvolle Hinweise, Anregungen und Kritik danke ich Frank Bösch und Thomas Hertfelder sowie Marc Buggeln, Christine Krüger und Ariane Leendertz. 2 Art. „The Sickest Economy“, Newsweek, 28.7.1980. Siehe auch den kritischen Kommentar in der FAZ zur Haltung des strengsten Monetaristen, Staatssekretär im Finanzministerium John Biffen, der „drei Jahre beispielloser Austerität“ verkündete. Arbeitslosigkeit und Konkurse galten ihm als geradezu notwendige Verluste, auch wenn sie politisch unangenehm seien; solche „Nebenerscheinungen“ seien Teil des Ausleseprozesses. Art. „Zweifel am Thatcherismus“, FAZ, 5.7.1980. 3 Hierzu Ewen H. H. Green: Thatcher, London/New York 2010, S. 55–82; Jim Tomlinson: Thatcher, monetarism and the politics of inflation, in: Ben Jackson / Robert Saunders (Hg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 62–77; Ders.: Mrs Thatcher’s Macroeconomic Adventurism, 1979–1981, and its Political Consequences, in: British Politics 2 (2007), 1

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Im Fadenkreuz der Kritik stand der Monetarismus als Glaubensdoktrin der Thatcherites. Binnen kurzer Zeit war „Thatcherismus“, wie Umfragen belegten, zum „Krisen-Idiom“ und „Schimpfwort“ für „doktrinären“, „naiven“ „Primitiv-Monetarismus“ oder „Friedmannschen [sic] Lehrbuch-Monetarismus [geworden], versehen mit den Ausrufezeichen der Rigorosität und Inflexibilität“.4 Den Kritikern erschien es, als verschlimmere die Regierung die Wirtschaftskrise und nehme den „slump“ billigend in Kauf, um ihren monetaristischen Irrtum nicht eingestehen zu müssen; oder sie beabsichtige gar, durch die Massenarbeitslosigkeit die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen.5 Allerdings fanden sich in der Presse auch entschiedene Fürsprecher des Regierungskurses. Seit ihrem Aufstieg zur Oppositionsführerin genoss Thatcher in einem Teil der britischen Presse Unterstützung. Einflussreiche Journalisten wie Samuel Brittan, Wirtschaftskommentator bei der „Financial Times“, und Peter Jays von der „Times“ hatten als desillusionierte Keynesianer einer monetaristischen Politik den Weg geebnet und rechtfertigten nun Thatchers Kurs.6 In der Rezession bröckelte die Zustimmung allerdings sogar innerhalb der Thatcher besonders wohlgesonnenen Tabloid-Presse.7 Die Pre-

S. 3–19; William Keegan: Mrs. Thatcher’s Economic Experiment, Harmondsworth 1984; Andrew Gamble: The free economy and the strong state. The politics of Thatcherism, London 2 1994; Charles Moore: Margaret Thatcher. The Authorized Biography: Volume One: Not for Turning, London 2013, S. 438–441, 455–481, 503–540 u. 623–651; John Campbell: The Iron Lady. Margaret Thatcher: From Grocer’s Daughter to Iron Lady, London 2012, S. 135–138 u. 157–164; Jim Tomlinson: Economic policy, in: Roderick Floud / Paul Johnson (Hrsg.): The Cambridge Economic History of Modern Britain. Structural Change and Growth, 1939– 2000, Cambridge 2004, S. 189–212. 4 Siehe etwa die Art. „Frau Thatchers Primitiv-Monetarismus“, Wirtschaftswoche, 12.9.1980; „Die britische Atemnot und ihre Ärzte“, Die Welt, 17.11.1981. 5 Letztere Argumentation prägte marxistische Deutungen der Zeit, sie findet sich aber auch in der Forschung, prominent bei Eric. J. Evans: Thatcher and Thatcherism, London 21997. Dazu und zu den Inkohärenzen und krisenverschärfenden Wirkungen der makroökonomischen Politik zwischen 1979 und 1981 Tomlinson, Adventurism, S. 4 f u. ö. 6 Siehe Keegan, Thatcher’s Economic Experiment, S.  41–45 (Keegan war seit 1977 Wirtschaftsredakteur und seit 1981 Assistant Editor des „Observer“); Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton/Oxford 2012, S. 233–241. 7 Vgl. den Art. „Frau Thatcher sieht das Ende der Talsohle“, SZ, 28.11.1980 über die damalige Fehde innerhalb der regierungstreuen rechten Tabloid-Presse. Der „Daily Express“ warf der „Sun“ und der „Daily Mail“ vor, Thatchers Schönwetterfreunde zu sein. Sie sollten gefälligst auch in der Krise den wirtschaftspolitischen Kurs unterstützen. Die „Times“ und „Sunday Times“ distanzierten sich vorübergehend von Thatchers Kurs, ehe sie im Februar 1981 von Rupert Murdoch übernommen wurden. Hierzu und zu den Gründen für die Labour-Gegnerschaft innerhalb der britischen Presse Moore, Thatcher, vol. I, S. 548 f.

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mierministerin selbst gab sich äußerlich zwar unbeeindruckt von der Pressekritik, fürchtete aber den politischen Widerhall radikaler Budgetmaßnahmen und bangte um die Durchsetzungschancen ihrer Wirtschaftspolitik bis zu den nächsten Wahlen.8 In der öffentlichen Auseinandersetzung um den wirtschaftspolitischen Kurs der neugewählten konservativen Regierung ging es um weit mehr als volkswirtschaftliche Kennziffern. Vor den Augen der Welt vollzog sich in Großbritannien ein makroökonomischer Großversuch ersten Ranges, weil erstmals eine Regierung eines führenden Industrielandes einseitig auf die Karte des Monetarismus setzte, um marktwirtschaftliche Reformen einzuleiten – ein Experiment mit völlig offenem Ausgang. So erklärt sich die enorme Dramaturgie in der Presseberichterstattung und Kommentierung. Es wurde um ökonomische und politische Wahrheiten gerungen, das Verhältnis von Wirtschaft und Staat, die Ziele, Möglichkeiten und Grenzen makroökonomischer Politik, um gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache wie den britischen „post-war consensus“ bzw. das „post-war settlement“, die „crisis of the seventies“ und „British decline“. Obgleich die volkswirtschaftliche Evidenz auf sich warten ließ, verfestigten sich in einem Teil des veröffentlichten Meinungsspektrums marktwirtschaftliche Überzeugungen zu radikalen Wahrheitsansprüchen. Dies geschah im Kontext einer der grundlegendsten sozioökonomischen Transformationskrisen des 20.  Jahrhunderts.9 Hierzu zählten die Währungssystem-, Energie- und Stagflationskrisen sowie die Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung, die den Atlantischen Fordismus, die mixed economy und den Wohlfahrtsstaat in Bedrängnis brachten. Die Transformationskrise schwächte den liberal-demokratischen, keynesianischen Nachkriegskonsens und seine institutionelle Ordnung, den embedded liberalism, der einen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit dargestellt hatte. Umgekehrt begünstigte sie die (neo-)konservative prise de parole beiderseits des Atlantiks in der Phase „nach dem Boom“.10

Vgl. Moore, Thatcher, vol. I, S. 438–441, 522–551, 623–625 u. ö. Vgl. zu Neoliberalismus und Ökologie als Krisenreaktionen den Beitrag von Frank Bösch im vorliegenden Band. 10 Siehe David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich 2007; Anselm Doering-Manteuffel  / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 32012; in ideengeschichtlicher Perspektive: Mark Blyth: Great Transformations. Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century, Cambridge 82011. Zur (neo-)konservativen Sprachoffensive Martin Geyer: War over Words. The Search for a Public Language in West Germany, in: Willibald Steinmetz (Hg.): Political Languages in the Age of Extremes, Oxford 2001, S. 293–330; in längerer historischer Perspektive Martina Steber: Die 8 9

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Vor diesem Hintergrund arbeitet der Aufsatz grundlegende Deutungskonkurrenzen zur makroökonomischen Politik der Thatcher-Regierung in den Jahren 1979 bis 1981/82 heraus. Diese Phase kann als Formationsphase des Thatcherismus als Regierungspraxis und der Reaktionen darauf gelten, zugleich erlebte der Thatcherismus damals seine größte Legitimationskrise. Zum Kern des „Thatcherism“11 gehörte eine neoliberale Wirtschaftspolitik, verstanden als radikale marktorientierte Reformen12, mit denen die Thatcherites die Grenzen des Staates in der Wirtschaft sowie im sozialen Leben zurückdrängen wollten. Die Durchsetzung dieser neoliberalen Politik und damit das Schicksal des Thatcherismus in Großbritannien schienen während der Rezession buchstäblich auf der Kippe zu stehen. Obschon der Ausdruck „neoliberal“ seit Jahrzehnten existierte, war er zeitgenössisch zur Kennzeichnung der britischen Wirtschaftspolitik unter Thatcher noch nicht üblich,13 erst recht nicht als Selbstbezeichnung der That-

Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1980, München/Wien 2017. 11 Ausgehend vom Begriffsverständnis Thatchers und der Thatcherites: E. Green: Thatcher, S. 26–54, bes. S. 26 f. Florence Sutcliffe-Braithwaite: Neo-liberalism and morality in the making of Thatcherite social policy, in: The Historical Journal 55 (2012), H. 2, S. 497–520, begreift den Thatcherismus dagegen primär als eine soziale Philosophie. 12 Typischerweise sind dies erstens Politiken zur Liberalisierung der Wirtschaft (durch Aufhebung von Preiskontrollen, Deregulierung der Finanzmärkte und Senkung von Handelsschranken), zweitens Politiken zur Beschränkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft (besonders durch die Privatisierung von Unternehmen, die vormals im Staatsbesitz waren) und drittens Politiken, die zur fiskalen Austerität und makroökonomischen Stabilität beitragen sollen (wie eine strenge Geldmengenkontrolle sowie die Reduzierung von Haushaltsdefiziten und staatlichen Subventionen). Siehe Taylor C. Boas / Jordan Gans-Morse: Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan, in: Studies in Comparative International Economic Development 44 (2009), S. 137–161, hier S. 143–145. Bob Jessop: Neoliberalismen, kritische politische Ökonomie und neoliberale Staaten, in: Thomas Biebricher (Hg.): Der Staat des Neoliberalismus, Baden-Baden 2016, S. 123–151, hier S. 125, fügt der Trias von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung als weitere Punkte hinzu: „Pseudomärkte im noch bestehenden öffentlichen Sektor“, „Internationalisierung“ sowie die „Verschiebung der Steuerlast von direkten auf indirekte Steuern“. Vgl. zu letzterer den Beitrag von Marc Buggeln im vorliegenden Band. 13 Vgl. zum Ursprung des Begriffs Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 22015, S. 31–38; zur negativen Begriffsentwicklung seit den 1970ern und zum Anstieg seit 1992 Boas/Gans-Morse, Neoliberalism. (Sie fassen neoliberalism nach Walter Bryce Gallie als ein essentially contested concept, ebd., S. 152–156.) Vgl. zur Begriffskarriere auch die Ausführungen von Marc Buggeln, basierend auf der Statistik des Google Ngram Viewer, im vorliegenden Band.

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cherites.14 Auch „neuer Konservatismus“ tauchte in der Berichterstattung nur vereinzelt auf. Gängige Begriffe waren „conservative/konservativ“, „marktliberal“ und „marktwirtschaftlich“ bzw. „market economy“, „liberal market economy“ oder „free economy“, häufig in Verbindung mit „radical/radikal“. Diese Zuschreibungen entsprachen Thatchers eigenem Wortgebrauch. Obwohl sie es explizit ablehnte, eine „Liberal“ zu sein, und auf „Conservative“ bestand, lag ihrer politischen Philosophie ein wirtschaftsliberales Erbe zugrunde, nämlich eine Mischung aus klassischem Liberalismus des 19.  Jahrhunderts (vor allem die Idee des freien Marktes bei Adam Smith und der persönlichen Freiheit bei John Stuart Mill) und neoliberalen Ideen (Freiheit von staatlichem Expansionismus bei August Friedrich von Hayek und der Monetarismus Milton Friedmans).15 Den Thatcherismus wertet die Forschung zusammen mit dem Reaganismus als bekanntestes Phänomen der „neoliberalen Wende“ der 1970er und 1980er  Jahre.16 Zwar wurde der Wechsel zu einer Politik monetärer Zielgrößen in beiden Ländern von vorangegangenen Regierungen eingelei-

Aufgrund der negativen Bedeutungsentwicklung des Begriffs „neoliberal“ bezeichnete sich keine Gruppierung selbst mehr so oder bezog sich positiv auf den Begriff, wie dies die Ordoliberalen oder auch Milton Friedman nach dem Zweiten Weltkrieg noch getan hatten. Siehe Philipp Ther: Der Neoliberalismus, Version 1:0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 05.07.2016, http://docupedia.de/zg/Ther_neoliberalismus_vi_de_2016 [28.2.2018], S. 2 und 5 f; Jessop, Neoliberalismen, S. 124; Angus Burgin: The Great Persuasion: Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge MA/London 2012, S. 175 f (zu Friedman insgesamt S. 152–185). 15 Siehe Green, Thatcher, S. 32–34 sowie S. 46–51 zum liberal individualism und zu liberal market economics als Kernelementen des Thatcherismus und ihrem Spannungsverhältnis zum britischen Konservatismus. Vgl. zum abweichenden amerikanischen Begriffsverständnis von „liberal“ Ariane Leendertz: Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: VfZ 65 (2017), H. 2, S. 191–217, bes. S. 205 f. 16 Harvey, Geschichte, S. 18 („neoliberale Wende“) u. S. 70–82; Monica Prasad: The Politics of Free Markets. The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States, Chicago/London 2006, S. 98–161. Zum Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1930er Jahren Keith Dixon: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz 2000; Richard Cockett: Thinking the unthinkable: think-tanks and the economic counter-revolution, 1931–1983; London 1994; Stedman Jones, Masters; Burgin, Persuasion; Harvey, Geschichte; Philipp Mirowski  / Dieter Plehwe (Hg.): The Road from Mont Pèlerin: the Making of the Neo-liberal Thought Collective, Cambridge MA 2009; zur ideengeschichtlichen Frühphase Ben Jackson: At the origins of neo-liberalism: the free economy and the strong state, 1930–1947, in: The Historical Journal 53 (2019), H. 1, S. 129–151. 14

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tet,17 als nach dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods der Druck der internationalen Finanzmärkte stieg, eine Politik des stabilen Geldes zu verfolgen.18 Zu „neoliberalen Regimeverschiebungen“19 kam es indes erst unter den Administrationen von Thatcher und Reagan. Ein Teil der jüngeren historischen Forschung stuft Thatcher und Reagan in ihrem Regierungshandeln dabei mehr als Pragmatiker denn als radikale Ideologen ein, die zielstrebig einer vorgefertigten Doktrin gefolgt wären. Radikal sei vor allem ihre Rhetorik gewesen. Gleichwohl trugen sie erheblich zur Radikalisierung des britischen und US-amerikanischen Konservatismus bei, und dieser neue Konservatismus entwickelte sich schließlich zum neuen Konsens.20 Von Beginn an nährte Thatchers radikale Rhetorik den „Thatcher myth“21, der bis heute die veröffentlichte Meinung in Großbritannien und darüber hinaus prägt. Demzufolge vollzog Thatcher einen radikalen Bruch mit dem Nachkriegskonsens. Die neuere Forschung zeichnet ein nuanciertes Bild, relativiert die agency der Premierministerin und betont Ad-hoc-Entscheidungen, Pragmatismus, Inkohärenzen, Kontingenzen sowie strukturelle und transnationale Kontexte.22 Entgegen einer weitverbreiteten Annahme war der Monetarismus für Thatcher kein Dogma, sondern ein Instrument zur Umsetzung ihrer politischen Philosophie.23

Vgl. Duncan Needham / Anthony Hotson (Hg.): Expansionary Fiscal Contraction. The Thatcher Government’s 1981 Budget in Perspective, Cambridge 2014; Duncan Needham: UK Monetary Policy from Devaluation to Thatcher, 1967–1982, Basingstoke 2014; D. Jones: Masters, S. 230–254. Zur Entwicklung monetaristischer Politik in den USA siehe Greta R. Krippner: Capitalizing on Crisis. The Rise of Finance, Cambridge/MA 2011. 18 Siehe A. Gamble: Economy, S. 47 f. 19 B. Jessop: Neoliberalismen, S. 132; zur ambivalenten Rolle des Staates in Prozessen der Neoliberalisierung ebd., und T. Biebricher: Staat. 20 Siehe Dominik Geppert: Konservative Revolutionen? Thatcher, Reagan und das Feindbild des Consensus Liberalism, in: Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 271–289; Ders.: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories (1975–1979), München 2002. 21 Andrew Gamble: The Thatcher myth, in: 25 years on  … the legacy of Thatcher and Thatcherism, Special Issue, British Politics 10 (2015), H. 1, S. 3–15. 22 Siehe etwa Richard Vinen: Thatcher’s Britain. The politics and social upheaval of the Thatcher era, London 2009, und die Bilanz: 25 years on  …, darin v. a. die Beiträge von A. Gamble: Thatcher myth; Bob Jessop: Margaret Thatcher and Thatcherism: Dead but not buried, S. 16–30; zur Thatcher-Rezeption nach ihrem Tod 2013 David Marsh / Sadiya Akram: The Thatcher legacy in perspective, S.  52–63, und Tim Bale: In life as in death? Margaret Thatcher (mis)remembered, S. 99–112. 23 Siehe J. Campbell: Iron Lady, S. 164 u. ö.; Jim Bulpitt: The discipline of the new democracy. Mrs Thatcher’s domestic statecraft, in: Political Studies 34 (1986), S. 19–39. Von einer kohärenten monetaristischen Doktrin geht dagegen E. Evans: Thatcher, aus. 17

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Wie radikal Thatchers Wirtschaftspolitik war und inwieweit steigende Arbeitslosigkeit zum Kalkül gehörte, um Inflation und Gewerkschaften zu bekämpfen, bleibt ein vieldiskutiertes Thema in der Forschung. Auch werden die Folgen der Wirtschaftspolitik unterschiedlich bewertet, meistens in Abhängigkeit von politischen Standpunkten. Thatcher-freundliche Wissenschaftler argumentieren, die britische Industrie habe die Radikalkur nötig gehabt und der Wechsel zur Dienstleistungsökonomie sei unvermeidlich und notwendig gewesen. Die Rezession habe diesen Prozess lediglich beschleunigt, der Grundlage für die spätere Erholung gewesen sei.24 Dem Faktum eines im Schnitt über dreiprozentigen Wirtschaftswachstums während der 1980er Jahre halten Kritiker die Schattenseiten des neuen, stark finanzialisierten und auf den Dienstleistungssektor konzentrierten Wachstumsmodells entgegen. Durch ihren „macroeconomic adventurism“25 in den Jahren 1979 bis 1981 habe die Thatcher-Regierung die Rezession, die Krise der britischen Industrie, Massenarbeitslosigkeit und soziale sowie regionale Ungleichheit verschärft. Anstatt sich auf das monetaristische Erfahrungswissen und die Warnungen aus der Bank of England zu verlassen, habe eine kleine Gruppe von Monetaristen um Thatcher eine verfehlte makroökonomische Politik verfolgt.26 Als technisches Instrument zur Steuerung der Geldmenge habe der Monetarismus versagt, doch habe er sich als ein Schlüsselelement für die neoliberale Restrukturierung der britischen political economy erwiesen.27 Der vorliegende Aufsatz untersucht, mit welchen Semantiken Gegner und Fürsprecher den wirtschaftspolitischen Kurs und all das fassten, wofür oder wogegen er ihrer Meinung nach stand, und auf welche Krisenphänomene, politischen Lösungsansätze respektive Krisenverschärfer sich die Berichterstattung konzentrierte. Welche Regierungsentscheidungen fanden Zustimmung, welche erfuhren Kritik und Ablehnung? Was galt als politischer und ökonomischer common sense oder im Gegenteil als unvernünftiges, unverantwortliches Hazardspiel? Und welche Bewertungsmaßstäbe und Ordnungsvorstellungen lagen den Urteilen zugrunde? Empirisch fußt der Beitrag vor allem auf der Auswertung der umfassenden Pressedokumentation des Deut-

Vgl. das pointierte Resümee der Kontroverse bei Campbell, Iron Lady, S. 158. Tomlinson, Thatcher’s Macroeconomic Adventurism, S. 4 f. Weit entfernt von einer „carefully designed policy to sacrifice employment on the altar of ‚monetarism‘, the politics implemented in this period [1979–1981] were poorly thought out, incoherent and pursued with little serious estimate of their likely outcome. They were the product of what can reasonably be called ‚adventurism‘ – a determination to pursue a radical policy shift with little serious analysis of what might follow for the level of economic activity and unemployment.“ 26 Siehe Needham, UK Monetary Policy. 27 Siehe Gamble, Thatcher myth, S. 10; Jessop, Thatcher, S. 24. 24 25

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schen Bundestages zur britischen Wirtschaft mit Artikeln aus überregionalen Zeitungen und Magazinen sowie regionalen Tageszeitungen vor allem aus Großbritannien und der Bundesrepublik, ergänzend auch aus der Schweiz, Frankreich und den USA.28 Im ersten Kapitel wird das Presseecho auf das erste Budget der Regierung Thatcher untersucht, das als Prüfstein dafür galt, ob die Premierministerin und ihre Mitstreiter im Kabinett es ernst meinten mit dem angekündigten radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Das zweite Kapitel behandelt die printmediale Rezeption in den unmittelbaren Folgejahren, als die Regierung offiziell an ihrem monetaristischen Kurs festhielt, faktisch jedoch davon abwich. Inmitten der Rezession straffte sie die Zügel in der Fiskalpolitik, um die zu strenge Geldpolitik zu lockern. Erkennbar wird so, wie in der Berichterstattung und Kommentierung der Versuch der Thatcherites, mit monetaristischem Instrumentarium eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu implementieren, bewertet wurde und entlang welcher Achsen die Deutungskonkurrenzen verliefen.

1. „Margaret Thatchers großer Wurf“29 – das erste Budget

Dass Großbritannien sich 1979, als Thatcher das Amt der Premierministerin antrat, in einer tiefgreifenden sozioökonomischen Krise befand, war in der Presse trotz aller politischen Differenzen unstrittig. Seit dem ersten Ölpreisschock hatte in britischen und internationalen Nachrichtenblättern eine Krisenschlagzeile die nächste gejagt. Die Rekordinflation, der Absturz des Pfundes, die Rezession und die vergeblichen Bemühungen der britischen Regierungen, der Krise Herr zu werden, waren beherrschende Themen gewesen. Das medizinische Krisenvokabular speiste sich aus dem Deutungsmuster der „englischen Krankheit“ / „the English sickness“: „Doktor Staat soll die englische Krankheit vertreiben“30, „Das Pfund auf Intensivstation“31, „Kranker Mann an der Themse“32 lauteten typische Überschriften. Sie fügten sich in

Pressedokumentation des Deutschen Bundestages, Bestand GB 100  – Britische Wirtschaft. Ein Jahr Berichterstattung entspricht ungefähr zwei bis drei Boxen. Speziell zur Geschichte britischer Industrieunternehmen in Staatsbesitz und den Versuchen der Regierung zu ihrer Privatisierung (denationalisation) siehe den Bestand GB 102 – Britische Industrie. Ich danke den Mitarbeiterinnen der Pressedokumentation für ihre Unterstützung. 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 15.6.1979. 30 Frankfurter Rundschau (FR), 28.8.1974. 31 Die Welt, 3.7.1975. 32 Die Zeit, 26.9.1975. 28

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das Narrativ des „British decline“33, mit dem Thatcher erfolgreich Wahlkampf gegen dreißig Jahre „Socialism“ und die Macht der Gewerkschaften führte – eine Deutung, die marktliberale und konservative deutsche Zeitungen und Nachrichtenmagazine weitgehend teilten.34 Die wirtschaftspolitische Strategie der neuen Regierung, zu Oppositionszeiten im engsten Thatcher-Zirkel und im Schattenkabinett ausgearbeitet, setzte auf eine strenge Kontrolle der Geldmenge, eine strikte Fiskalpolitik und marktwirtschaftliche Anreize. Von Beginn an war sie zugleich eine politische Kommunikationsstrategie zur Diffamierung und Entmachtung der Gewerkschaften.35 Nach der Krise des Winter of Discontent von 1978/7936, in den deutschsprachigen Blättern „letzter Winter“ oder „Callaghan-Winter“ genannt, als im Zuge umfassender Streiks im öffentlichen Dienst die staatliche Einkommens- und Preispolitik der LabourRegierung unter James Callaghan scheiterte, schlug die Stunde der Radikalen innerhalb der Conservative Party und der Fürsprecher von „sound money“ und der „free economy“ in der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft. Die in- und ausländische Presse verfolgte den Wahlsieg der Tories im Mai 1979 intensiv und deutete ihn als Wegmarke, an der sich das wirtschaftliche Schicksal Großbritanniens entscheiden würde. Für die erste Legislaturperiode sollte das Wochenmagazin „Die Zeit“ Recht behalten mit der Einschätzung, dass nicht etwa „der Kampf um die Macht“ mit den Gewerkschaften „den meisten Zündstoff liefern“ werde, sondern „die Wirtschaftspolitik von Mar-

Siehe Peter Clarke / Clive Trebilcock (Hg.): Understanding Decline, Cambridge 1997, S.  9–29; Jim Tomlinson: The Politics of Decline. Understanding Post-War Britain, Harlow 2001; Ders.: Thrice denied. „Declinism“ as a Recurrent Theme in British History in the Long Twentieth Century, in: Twentieth Century British History 20 (2009), S. 227–251. Die Debatte um „British decline“ richtet sich im Kern auf Output und Produktivität der britischen Industrie, hierzu Stephen Broadberry: The performance of manufacturing, in: R. Floud / P. Johnson (Hrsg.): Cambridge Economic History, S. 57–83. 34 Siehe etwa den Art. „Großbritannien. Unheilbar gesund. Der wirtschaftliche Niedergang scheint unaufhaltsam: Wie unregierbar ist die Insel?“, Die Zeit, 4.5.1979. 35 Vgl. LSE Archives Division, Centre for Policy Studies (CPS), Cockett/1/10, Stepping Stones (1977). Online unter http://www.cps.org.uk/publications/reports/stepping-stones/ [20.10.2017]. Zu den „Stepping Stones“ und dem Strategiepapier „The Right Approach to the Economy“ (1977) Jones, Masters, S. 255 f; zum CPS Cockett: Thinking, Kap. 6 u. 7. 36 Vgl. Lawrence Black / Hugh Pemberton: The Winter of Discontent in British Politics, in: Political Quarterly 80 (2009), S. 553–561; Colin Hay: Chronicles of a Death Foretold. The Winter of Discontent and Construction of the Crisis of British Keynesianism, in: Parliamentary Affairs 63 (2010), S. 446–470; Ders.: Narrating Crisis. The Discursive Construction of the „Winter of Discontent“, in: Sociology 30 (1996), S. 253–277; Robert Saunders: „Crisis? What crisis?“ Thatcherism and the Seventies, in: Jackson/Saunders (Hrsg.), Making Thatcher’s Britain, S. 25–42. 33

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garet Thatcher“.37 Konservative und marktliberale Blätter wie die Londoner „Times“, die „Neue Zürcher Zeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Welt“ und der „Bayern-Kurier“ brachten der konservativen Regierung großes Wohlwollen und Vorschussvertrauen entgegen, versprachen der Wahlkampf und das konservative Wahlmanifest doch eine grundlegende marktwirtschaftliche Kurskorrektur, die sich „schlagwortartig mit mehr Privatinitiative und weniger Staatsinterventionismus umschreiben lässt“38, so die NZZ. Den marktwirtschaftlichen Aufgabenkatalog für die neue Regierung buchstabierte Jochen Rudolph, seit 1967 London-Korrespondent der FAZ, folgendermaßen aus: „Es geht darum, die öffentlichen Ausgaben einzuschränken, den aufgeblähten Verwaltungsapparat zu verkleinern, die Preise freizugeben, wo sie staatlich gebunden sind, die völlig überzogene Einkommenssteuer zu senken, mindestens einen großen Teil der zahlreichen Subventionen zurückzuziehen, das Streik- und Streikpostenrecht neu festzulegen.“39 Den Vorgängerregierungen stellte Rudolph ein vernichtendes Zeugnis aus, das auch ein moralisches Verdikt war: „Viel zu lange, jahrzehntelang, sind die Dinge falsch gelaufen, ist gewurstelt worden, haben Regierungen beider Couleur gegen elementare Gebote der Wirtschaftstheorie und -politik gesündigt.“40 Nicht zuletzt die versprochenen Steuersenkungen und die angekündigte Schwerpunktverlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern, „the declared strategy of pay-as-you-spend rather than pay-as-you-earn“41, erfuhren in marktliberalen und konservativen Blättern auf dem Kontinent und der Insel Zustimmung. Für die USA besaß Thatchers Steuerpolitik unmittelbar praktische Relevanz, plädierten amerikanische wirtschaftsnahe Kreise und Präsidentschaftskandidat Reagan42 doch für einen ähnlichen Wechsel in der Besteuerung. „The idea is to shift the nation’s tax burden off earnings and onto consumption“, analysierte die liberaldemokratische „Washington Post“ und problematisierte den sozialen Effekt, nämlich „[to] shift the tax burden downward on Britain’s income scale“. Das Fazit lautete: „As an economic

Art. „Begrenzter Krieg gegen die Gewerkschaften. Margaret Thatcher will die Fehler der Regierung Heath nicht wiederholen“, Die Zeit, 18.5.1979. 38 Art. „Die Wirtschaftsmannschaft der neuen britischen Regierung. Keine Ueberraschungen – heikle Probleme“, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 8.5.1979 (Hervorhebung im Original). 39 Art. „Keine Zeit verlieren“, FAZ, 7.5.1979. 40 Art. „Eine schwere Erbschaft für Margaret Thatcher. Englands Wirtschaft ist reparaturbedürftig“, FAZ, 5.6.1979. 41 Art. „Some uninspriring reading for Sir Geoffrey Howe“, Financial Times (FT), 5.5.1979. 42 Vgl. W. Elliot Brownlee: „Reaganomics“: The Fiscal and Monetary Policies, in: Andrew L. Johns (Hg.): A Companion to Ronald Reagan (Wiley Blackwell Companions to American History), Chichester 2015, S. 131–148, bes. S. 131–135. 37

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experiment, the Thatcher tax policy is extremely daring, but also extremely risky.“43 Die Lage der Thatcher-Regierung wurde sowohl in der britischen als auch der deutschsprachigen Presse immer wieder als „Dilemma“ beschrieben, schien sie doch eingekeilt zwischen widerstreitenden Handlungsimperativen und gefangen in ihrem Anspruch, Steuern und die staatliche Schuldenaufnahme zu senken, während die Wirtschaft stagnierte, derweil die Zeit drängte und sich die finanziellen Spielräume durch die sich eintrübende Weltkonjunktur weiter verengten: „[T]here is no magical escape route from a world recession“, warnte die „Financial Times“.44 Das Grunddilemma monetaristischer Politik umriss sie folgendermaßen: Sollte Schatzkanzler Sir Geoffrey Howe im Budget an der strikten Geldmengenkontrolle („front-line weapon against inflation“) festhalten und dadurch eine Erholung der Wirtschaft abwürgen, oder sollte er die Zügel nur sanft anziehen („only a gentle pull on the reins“)? Die Zeitung warnte den Schatzkanzler, die Einschätzung der volatilen Geldmenge in den letzten Monaten sei pures „guesswork“ gewesen.45 Damit nahm sie eine wesentliche Kritik am Thatcher-Monetarismus vorweg. Ganz überwiegend plädierten die Wirtschaftsredakteure für ein vorsichtiges, an Stabilität orientiertes Vorgehen der Regierung und echoten damit die Wünsche der Londoner Banken, der Börse und der britischen Industrie.46 Wie weit die wirtschaftspolitischen Positionen damals in Großbritannien auseinanderlagen  – wesentlich weiter als in der Bundesrepublik –, versinnbildlichte ein Schlagabtausch in der Unterhausdebatte zur Queen’s Speech, in der traditionell das Regierungsprogramm für die ersten anderthalb Jahre unterbreitet wurde. Peter Jenkins vom „Guardian“ kommentierte die Konfrontation zwischen Tony Benn, dem Anführer des radikalen linken Labour-Flügels, und Schatzkanzler Howe als Zusammenstoß zweier diametral entgegengesetzter Zukunfts- und Gesellschaftsentwürfe: Howe habe die futuristische Vision einer post-industriellen Gesellschaft, gegründet auf Unternehmergeist; Benn prophezeie den Zusammenbruch des Kapitalismus, falls die Gesetze des Marktes wiedereingeführt würden, und strebe einen neuen Volkssozialismus an. Jenkins hielt beides für weit hergeholt, weil er vom britischen Status

Art. „Mrs. Thatcher’s Experiment“, Washington Post (abgedruckt in: International Herald Tribune, 16.6.1979). Zur Entwicklung der nationalen Steuersysteme Marc Buggeln: Steuern nach dem Boom. Die Öffentlichen Finanzen in den westlichen Industrienationen und ihre gesellschaftliche Verteilungswirkung, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 51–93. 44 Art. „Some uninspiring reading for Sir Geoffrey Howe“, FT, 5.5.1979. 45 Art. „Warning for Sir Geoffrey Howe“, FT, 18.5.1979. 46 Art. „Grossbritannien. Mehr Millionäre und mehr Bankrotteure“, Wirtschaftswoche, 14.4.1979. 43

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Quo des „present mixed economy system of welfare capitalism“ ausging. Seine Präferenzen lagen indes eindeutig bei Thatcher und Howe: Die Regierung solle Mut beweisen und das anstehende Budget zum „compelling symbol of a change in national direction“ machen.47 Dabei genieße ein „enterprise budget“ mit Steuersenkungen Vorrang vor der Minderung der staatlichen Kreditaufnahme. Mit Spannung erwarteten die Redaktionen das erste Budget vom 12. Juni 1979. Würden Thatcher und Howe ihre radikalen Ankündigungen in die Tat umsetzen oder doch einen bedächtigeren Pfad wählen? Das Budget ließ keinen Zweifel, so die überwältigende Pressemeinung: Die Regierung hatte Wort gehalten und begonnen, ihre radikale Philosophie in ökonomische Praxis umzusetzen. Das an sich galt schon als politische Sensation, denn die U-turns in der britischen Wirtschaftspolitik waren sprichwörtlich, besonders jener der konservativen Regierung unter Edward Heath 1972, der tiefe Bitterkeit und Enttäuschung unter den späteren Thatcherites hervorgerufen hatte.48 Ein Arsenal medizinischer Begriffe wurde aufgeboten, um die Radikalität des von der Thatcher-Regierung verordneten marktwirtschaftlichen Kurses zur Heilung der „englischen Krankheit“ auszudrücken, wie „Roßkur“, „bittere“ oder „schmerzhafte Medizin“.49 Mochte man die wirtschaftspolitischen Maßnahmen gutheißen oder ablehnen, sie galten als rigoros und drastisch: Die Steuerlast wurde wie angekündigt von direkten Steuern (Einkommensteuern) auf indirekte Steuern (Mehrwertsteuer) verschoben. Der Höchstsatz wurde von 83 % auf 60 % gesenkt; der Minimalsatz dagegen lediglich von 33 % auf 30 %.50 Für Aufhebens sorgte die starke Erhöhung der Mehrwertsteuer von 8 % auf 15 %, eine höchst widersprüchliche Maßnahme, denn der Schatzkanzler selbst rechnete damit, dass allein dadurch die Inflation um 3,5 % steigen würde. Damit konterkarierte diese Maßnahme eklatant das oberste Ziel der Thatcher-Regierung, die Senkung der Inflation. Die staatliche Kreditaufnahme wurde gedeckelt, das Geldmengenwachstum ebenfalls auf einen Korridor von plus 7 bis 11 % begrenzt. Dafür sollte der Verkauf staatlicher Industriebeteiligungen 1 Milliarde Pfund einbringen. Umstritten war die Leitzinsanhe-

Art. „Sir Keith Joseph talks about capitalism in one country and Mr. Benn is talking about socialism in one country. I doubt whether either is feasible. Commentary by Peter Jenkins“, The Guardian, 23.5.1979. 48 Hierzu E. Green: Thatcher, S. 34–37. 49 Art. „Mrs. Thatcher verordnet den Briten eine Roßkur“, Münchener Merkur, 3.11.1979; Art. „Bittere Wirtschaftsmedizin in Grossbritannien. Budget mit politischen Implikationen“, NZZ, 20.6.1979. 50 Zu den deutlich anders gelagerten Steuersätzen und Steuersenkungen in der Bundesrepublik Deutschland siehe den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band. 47

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bung (Diskontsatzerhöhung) von 12 auf 14 %, verteuerten sich dadurch doch Investitionen für Unternehmen. Zusätzlich wurde die regionale Industrieförderung erheblich zurückgefahren. Für den freieren Kapitalfluss wurden die Dividendenbeschränkungen für Direktinvestitionen und Immobilienkäufe im Ausland aufgehoben (im Oktober folgte dann die Aufhebung sämtlicher Devisenkontrollen51). Die Auffassungen über die gewählten Maßnahmen, ihre Stoßrichtung und Angemessenheit gingen innerhalb der internationalen und der britischen Presse auseinander, so wie auch von gemischten Reaktionen in der britischen Bevölkerung, Wirtschaft und auf den Finanzmärkten die Rede war. Labour und die Gewerkschaften verteufelten das Budget, aus Industrie und Banken kamen grundsätzlich zustimmende Töne. Im Lager der Befürworter – Anhängern des Konservatismus, des Monetarismus, der Marktwirtschaft und der Angebotspolitik52  – variierten die Einschätzungen allerdings: War es eher ein konservatives, ein monetaristisches oder ein marktwirtschaftlichangebotsökonomisches Budget? Wirkte es deflatorisch oder im Gegenteil inflatorisch? Und setzte es wirklich Anreize für die von der Regierung immer wieder betonte Entfaltung von Marktkräften und Eigeninitiative? Oder bedeutete es gar zu viel Marktwirtschaft auf einmal? Offene Fragen und Sorgen rankten sich insbesondere um die Preisteuerung, steigende Arbeitslosigkeit, Stagnation oder gar Rezession und eine zu starke monetäre Drosselung und Verteuerung von Krediten, welche der Industrie zu schaffen machen würden. Der politische Kommentar in der „Financial Times“ hielt das Budget trotz aller anderslautenden Beteuerungen der Regierung nicht für besonders marktwirtschaftlich, sondern für „intellectually as well as politically a higly conservative one“.53 In dasselbe Horn blies Wirtschaftskommentator Samuel Brittan in seinem Artikel „The reasons why I do not like the Budget“. Darin kritisierte er, dass der Senkung der Einkommensteuern Priorität eingeräumt worden sei gegenüber den Zielen, die Inflation zu bekämpfen und einem drohenden staatlichen Lohnstopp vorzubeugen; „with so much inflation already in the pipeline the squeeze on the real money supply is extremely severe“. Die kurzfristige Begrenzung der Geldmenge drohe, einen wirtschaftlichen Abschwung herbeizuführen, anstatt wie erhofft die Inflation zu reduzieren. Um die Preiserwartungen wirklich zu senken, sei eine mittelfristige Strategie

Hierzu Moore, Thatcher, vol. I, S. 478 f; Campbell, Iron Lady, S. 136 f. Zur Binnendifferenzierung die ideen- und dogmengeschichtliche Skizze bei Gamble, Economy, S. 45–61. 53 Art. „A very conservative Budget“, FT, 13.6.1979. 51 52

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monetärer Ziele vonnöten. „In summary, the Budget is more appealing to the Conservative than to the social market economist.“54 Wesentlich unkritischer, geradezu euphorisch-triumphal begrüßte Jochen Rudolph von der FAZ das Budget als einen „Wendepunkt in der englischen Wirtschaftsgeschichte“. „Die Finanz- und Steuervorlage ist ohne Vorbild. Sie packt das Übel an der Wurzel an: beim Währungs- und beim Steuersystem, bei den Grundbedingungen des Wirtschaftens in diesem Lande, bei der verhängnisvollen Gepflogenheit des endlosen Intervenierens.“ Hier sprach ein bedingungsloser Fürsprecher der Marktwirtschaft und speziell der Angebotsökonomie, der die Rolle von Staat und Regierung darin sah, „ein vernünftiges Rahmenwerk“ zu schaffen, „in dem sich die Wirtschaft entfalten und ihre Leistung steigern kann“. Mit dem Budget folge die britische Regierung „den marktwirtschaftlichen Vorbildern auf dem Kontinent“, so die selbstbewusste Annahme. Dass die Budgetmaßnahmen zunächst keine positiven, sondern im Gegenteil negative Effekte zeitigen würden, vor allem Preisteuerung, deutlich höhere Arbeitslosenzahlen und kein Wachstum, gestand Rudolph zwar ein. Nach einer „Übergangsperiode“ jedoch werde die Regierung „die Früchte ihrer Reorganisierung der britischen Wirtschaft“ ernten.55 Diese Überzeugung prägte auch die Philosophie der Thatcher-Regierung: Sämtliche Probleme, die sich aus dem eingeschlagenen Kurs ergaben, tat sie öffentlich als Übergangsphänomene ab. Die „Financial Times“ sprach von einem „act of faith“, der sich durch das konservative Manifest ebenso hindurchziehe wie durch die Rede des Schatzkanzlers bei der Vorlage des Budgets.56 Das darin aufscheinende zentrale Legitimationsmuster kann als ein wesentliches Merkmal des neoliberalen Projekts gelten, nämlich die Verheißung einer hellen ökonomischen Zukunft, um derentwillen erst eine dunkle Talsohle durchschritten werden müsse.57 Linksgerichtete Zeitungen wie die „Frankfurter Rundschau“, aber auch die liberaldemokratische „Süddeutsche Zeitung“ kritisierten das Budget als einseitige Lastenverteilung auf Kosten der Rentner, Arbeitslosen und Arbeiter der untersten Lohngruppen. Dessen Titel „Etat der Chancen“ („opportunity budget“) erschien ihnen ein Euphemismus. „Aber wie das so mit Radikalkuren ist: Sie führen in aller Regel dazu, daß der Patient erst einmal noch kränker wird.“58 In einem sarkastischen Artikel hinterfragte die „Süddeutsche Zeitung“, um welche und wessen Zukunft Art. „The reasons why I do not like the Budget“, FT, 14.6.1979. Art. „Margaret Thatchers großer Wurf. Zum neuen englischen Budget“, FAZ, 15.6.1979. 56 Art. „The Chancellor’s act of faith“, FT, 13.6.1979. 57 Siehe B. Jessop: Neoliberalismen, S. 125 f und 132 f. 58 Art. „Die englische Radikal-Kur“, FR, 15.6.1979; Art. „Einseitige Lastenverteilung“, SZ, 15.6.1979. 54 55

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es gehe und wer den Preis dafür zu zahlen habe. Sie zweifelte, „ob die Jahrhundertaufgabe des britischen Wiederaufstiegs gelingen kann, wenn die weniger privilegierte Hälfte der Nation die gewählten Mittel als unfair und ungerecht und die Verteilung der Lasten als grotesk einseitig empfindet“.59 Eine andere Linie der Kritik wählte Ralf Dahrendorf, der in einem „Spiegel“-Essay der neuen britischen Premierministerin nach ihrer Wahl vorwarf, sie verteidige die Interessen der neuen Privilegierten und betreibe eine „eigentümliche Abkehr des Landes von sich selbst“.60 Die wirtschaftspolitische Philosophie Thatchers, des Industrieministers Sir Joseph Keith, des Schatzkanzlers Howe und des kleinen Zirkels engster Vertrauter wirkte in ihrer Fixierung auf den Monetarismus wie eine Glaubensdoktrin, an der sich damals (wie heute) die Geister schieden. Weil sie in Oppositionszeiten aber erstaunlich wenig Mühe auf die Ausarbeitung einer monetaristischen Strategie verwendet hatten, waren sie nach der Regierungsübernahme in dieser Hinsicht schlecht vorbereitet.61 Als größtes, auch soziales Übel galt Konservativen die Inflation, im Unterschied zur Arbeitslosigkeit.62 Wenn die Wirtschaftsteilnehmer begriffen, so Thatchers und Josephs Kalkül, dass sie von dieser Regierung und vom Staat keine Hilfe zu erwarten hatten, würden sie ihre inflationären Gehalts- und Subventionserwartungen schon drosseln. Es ging um ein monetaristisches und marktwirtschaftliches Umdenken in den Köpfen. Die monetaristische Doktrin war nach dem Ende des Nachkriegsbooms für Regierungen, zumal konservative, attraktiv, weil sie Staat und Regierung von der Verantwortung für (Voll-)Beschäftigung, Wachstum und die Modernisierung der Wirtschaft freisprach. Geldmengenkontrolle diente auch als Deckmantel für unpopuläre Deflationspolitik, die immer Arbeitslosigkeit hervorrief. Diese Strategie hatte Paul A. Volcker als Chairman der Federal Reserve 1978 in den Vereinigten Staaten angewendet. Im Thatcher-Monetarismus oblag der Regierung die Kontrolle und Begrenzung der Geldmenge, während die Arbeitslosigkeit auf das Konto der Gewerkschaften geschrieben wurde. Das dahinterstehende Argument lautete, überhöhte Lohnforderungen würden Arbeitsplätze vernichten. Obgleich es der monetaristischen Theorie zuwiderlief, welche besagte, Inflation sei eine bloße Funktion der Geldmenge und jene liege ganz in der Hand der Regierung (in der Bundesrepublik: der Zentralbank), machte die Thatcher-Regierung die

Vgl. den Art. „Einseitige Lastenverteilung“, Süddeutsche Zeitung (SZ), 15.6.1979. Ralf Dahrendorf: Englands Anarchie und Solidarität, Der Spiegel Nr. 20 vom 14.5.1979, S. 174 f, hier S. 175. Zu Dahrendorf s. den Beitrag von Thomas Hertfelder in diesem Band. 61 Vgl. Tomlinson, Thatcher’s Macroeconomic Adventurism. 62 Hierzu Green, Thatcher, S. 56–69. 59 60

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öffentlichen Ausgaben und Schulden sowie die Gewerkschaften für die Preisteuerung verantwortlich  – eine Inkonsistenz, auf die kritische Sachkenner in den Zeitungen hinwiesen. Diese Inkonsistenz erlaubte es dem ThatcherMonetarismus aber, die Inflation gegenüber der Arbeitslosigkeit als Hauptproblem zu priorisieren und ihre Bekämpfung mit dem anvisierten Roll Back des Staates und der Gewerkschaften zu verknüpfen.63 In den Folgemonaten spekulierten die Zeitungsredaktionen, ob Thatcher den „eisernen Kurs“ gegen den Widerstand der Gewerkschaften, der Opposition, gehörige Teile der Konservativen und der „wets“ (der „Waschlappen“ im Kabinett, wie Thatcher sie verächtlich nannte) würde durchhalten können, und dies trotz der Weltrezession. Würde das „Experiment“ funktionieren? Wenn ja, zu welchen Kosten? War der Preis nicht zu hoch und der Zeitpunkt für Deflationspolitik schlecht gewählt? Und würde nach der harten Übergangsphase, mit der alle rechneten, tatsächlich eine Besserung eintreten? Wenn ja, wann? „Gefährliches Spiel“64, „an immense gamble“, „a reckless gamble“ (James Callaghan)65 hieß es in der Berichterstattung und Kommentierung zum ersten Budget immer wieder. Tatsächlich pokerte die Regierung hoch.

2. „Phoenix in der Asche“66 – Deutungen wirtschaftspolitischen Scheiterns

Im März 1980 legte Schatzkanzler Sir Geoffrey Howe den neuen Haushalt mit der umstrittenen Medium Term Financial Strategy (MTFS) vor, der ersten regelrechten monetaristischen Strategie der Regierung. Zur Bekämpfung der Inflation setzte die Thatcher-Regierung auf eine strikte Kontrolle der Geldmenge bei gleichzeitiger Bremsung der öffentlichen Ausgaben und der staatlichen Neuverschuldung und legte Ziele für vier Jahre fest. Dabei unterliefen ihr gleich mehrere folgenreiche Fehler.67

Siehe Tomlinson, Thatcher, bes. S. 69–74 u. 77; Robert Neild: The 1981 statement by 364 economists, in: Needham/Hotson, Contraction, S. 1–9, hier S. 8 f; Duncan Needham: The 1981 Budget: ‚a Dunkirk, not an Alamein‘, in: Ebd., S. 148–180, hier S. 178. 64 Art. „Steuern. Gefährliches Spiel“, Der Spiegel, 18.6.1979. 65 Art. „Callaghan accuses Chancellor of living in ‚Wonderland‘“, FT, 13.6.1979. 66 Art. „Phoenix in der Asche. In Großbritannien läuft ein spannendes wirtschaftspolitisches Experiment ab. Heilt es die ‚englische Krankheit‘?“, Die Zeit, 5.9.1980. 67 Siehe hierzu und zum Folgenden, insbes. zur Entstehung des Budgets von 1981: Needham, Monetary policy, und die empirische Rekonstruktion der Entscheidungskette von Christopher Collins, dem Herausgeber des Online-Archivs Margaret Thatcher Foundation: 1981 Budget – background & documents, https://www.margaretthatcher.org/archive/1981_budget.asp 63

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Der von den Thatcherites behauptete direkte Zusammenhang zwischen öffentlicher Schuldenaufnahme und Preisteuerung existierte nicht, er ließ sich ökonometrisch schlicht nicht belegen. Um die sogenannten „inflationary expectations“ der Wirtschaftsakteure senken zu können, musste die Regierung unbedingt ihre selbst gesteckten Ziele erreichen. Dies war jedoch von vornherein unmöglich, weil sie das falsche Geldmengenaggregat gewählt hatte. Gegen Expertenwarnungen aus der Bank of England und dem Finanzministerium hatten Thatcher und Howe bei der technischen Bestimmung der Geldmenge auf das bisherige Aggregat sterling M3 gesetzt (ein weites Aggregat, das Bargeld und Bankdepositen umfasste  – im Unterschied zu engen Aggregaten wie der base money control M0 oder auch M1). Sie waren fälschlich davon ausgegangen, dass der prinzipielle Bestimmungsfaktor der Geldmenge M3 die öffentliche Schuldenaufnahme (public sector borrowing) sei. Realiter drosselten sie die Geldmenge über Gebühr und lösten einen monetary und fiscal squeeze aus, während das Aggregat M3 einen steilen Anstieg der Geldmenge anzeigte. Und schließlich hatte die Regierung die negativen Effekte eines teuren Pfundes auf die Kostenwettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie, besonders der Exportindustrie, sträflich unterschätzt und schob die Pfund-Hausse allein auf das Nordseeöl. Die außerordentliche Überbewertung des Pfundes war der Hauptgrund für Massenentlassungen und -konkurse privater Industrieunternehmen. So verschärften der monetary und der fiscal squeeze den profit squeeze der Industrie.68 Nur sechs Monate nach Vorlage der MTFS musste Howe in einem ‚kleinen‘ Budget nachsteuern, um den Kurs des Pfundes zu drücken. Inzwischen waren die Verantwortlichen im engen Thatcher-Zirkel zu der Einsicht gelangt, dass das angewandte monetaristische Instrumentarium versagte, sie die monetären Bedingungen zu restriktiv gehandhabt und der Industrie unnötigen Schaden zugefügt hatten. Für Thatcher stand es außer Frage, den monetaristischen Irrtum einzugestehen, welcher der MTFS zugrunde lag, hatte sie doch zu viel politisches Kapital investiert. Faktisch lenkte die Regierung in der Geld- und Währungspolitik allerdings um. Der Winkelzug bestand darin, die Fiskalpolitik durch Steuererhöhungen sowie eine Begrenzung der öffentlichen Ausgaben und Schuldenaufnahme weiter zu straffen, um Spiel-

[10.11.2017]; außerdem ders.: The origins of the Budget in 1980, in: Needham/Hotson, Contraction, S. 114–120; Needham, Budget, in: ebd., S. 148–180, S. 151: „[…] they subjected themselves, and the British economy, to a monetary policy roller-coaster ride“; William Keegan: 1981 and all that, in: ebd., S. 97–101; Tomlinson, Thatcher, S. 75–77. Hauptarchitekt der MTFS war Nigel Lawson, damals Financial Secretary to the Treasury, seit 1983 Schatzkanzler. 68 Besonders zur politischen Unterschätzung der Pfundaufwertung J. Tomlinson, Thatcher’s Macroeconomic Adventurism; Keegan, Thatcher’s Economic Experiment, zum fiscal squeeze durch die Budgets von 1980, 1981 und 1982 ebd., S. 162–175.

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raum für die dringend zu lockernde Geldpolitik zu schaffen und den Leitzins zu senken, ohne dies öffentlich auszuflaggen. Die Wende in der Geld- und Währungspolitik musste unbedingt verdeckt geschehen, weil Thatcher sich wiederholt prononciert gegen jeden U-turn ausgesprochen hatte.69 Noch im Oktober hatte sie in einer vielbeachteten Rede auf dem Parteitag der Konservativen proklamiert: „The lady’s not for turning.“70 Im darauffolgenden hochumstrittenen Budget vom März 1981 legte Howe wieder eine MTFS vor, die auf der beschriebenen Linie des ‚kleinen‘ Budgets lag, und erhöhte die Steuern. Die meisten Minister waren wieder nicht eingeweiht worden. Aus Misstrauen vor ihren Gegnern im Kabinett und leaks an die Presse hatte Thatcher es tunlichst vermieden, eine Kabinettssitzung zur Beratung der Wirtschaftspolitik oder des Budgets abzuhalten, aber sie konnte nicht verhindern, dass die Minister ihren Unmut in der Presse ventilierten.71 In mehreren Städten brachen im Sommer soziale Unruhen aus. Man muss die Chuzpe der Regierung gewärtigen: Inmitten der schwersten Rezession seit der Großen Depression betrieb sie Deflationspolitik. Dass sie im Gegenzug den Leitzins um zwei Prozentpunkte senkte und damit ihren geldpolitischen Kurs änderte, wurde damals eher beiläufig registriert. Wie bewertete die Presse das geldpolitische und fiskalische Manövrieren der Regierung? Wenige Wochen nach der Vorlage des Budgets vom März 1980, als sich die Evidenzen wirtschaftspolitischen Scheiterns häuften, kippte die Einschätzung in den Zeitungen. Staatsausgaben, Inflation, Arbeitslosigkeit und Unternehmenspleiten schossen in die Höhe und wurden ausführlich dokumentiert und kritisch kommentiert. „Inflationsrekord. Teure Tories“72, „Trotz deprimierender Prognosen hält Frau Thatcher am Kurs fest. Unerschütterlich auf falschem Weg“73, „Roßkur der eisernen Lady zieht nicht“74, lauteten typische Schlagzeilen. Im Sommer spitzte sich die Kritik weiter zu: „Britische Wirtschaftspolitik. Krisensitzung wegen der Hiobsbotschaften“75, „England. Freier Fall. Mehr Arbeitslose, mehr Inflation: Margaret Thatcher

Siehe den Art. „Mrs Thatcher vows no U-turns on road to recovery“, The Times, 12.6.1980. 70 Margaret Thatcher, Speech to Conservative Party Conference, 10 October 1980, https:// www.margaretthatcher.org/document/104431 [20.11.2017]; siehe etwa den Art. „Parteitag in Brighton. Frau Thatcher hält stur an Geldmengenpolitik fest“, Die Welt, 14.10.1980. 71 Vgl. Moore, Thatcher, vol. I, S. 46, 505 f u. 629 f. 72 Art. „Inflationsrekord“, Münchener Merkur, 20.5.1980. 73 Art. „Trotz deprimierender Prognosen hält Frau Thatcher am Kurs fest“, Stuttgarter Nachrichten, 28.5.1980. 74 Art. „Roßkur der eisernen Lady zieht nicht“, Welt der Arbeit, 29.5.1980. 75 Art. „Britische Wirtschaftspolitik“, Handelsblatt, 2.7.1980. 69

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ist mit ihrer Wirtschaftspolitik gescheitert“76, „Outlook for Britain,worst in OECD‘“77, „Grossbritanniens Sorgen mit der Wirtschaft. Unveränderter Kurs von Frau Thatcher“78, „Düstere Prognose zu Frau Thatchers Wirtschaftspolitik. Immer mehr Engländer verlieren ihren Job. Rekord der Arbeitslosigkeit“.79 Der letztgenannte Artikel war Teil einer Serie in der Essener „Neuen RuhrZeitung“ mit dem wenig schmeichelhaften Titel „Maggies Misere“. Der „Vorwärts“ verurteilte bundesrepublikanische Konservative wie Franz-Josef Strauß und Kurt Biedenkopf, die erst dem Thatcher-Experiment gehuldigt hätten, sich jetzt aber über dessen desaströse Ergebnisse ausschwiegen und stattdessen mit Reagan liebäugelten.80 In der in- und ausländischen Presse verdichtete sich die Deutung, das monetaristische Experiment habe den wirtschaftlichen „slump“ mitverursacht und die Regierung nehme den Anstieg der Arbeitslosigkeit bewusst in Kauf. „Die Thatcher-Mannschaft […] wünscht eine Radikalkur, damit sich das Land nach einem reinigenden Feuer wie ein Phoenix aus der Asche erheben kann“, schrieb „Die Zeit“ über Thatchers „neue[n] Konservatismus“. „Die Arbeitslosigkeit ist nach diesem Konzept die vorübergehende, aber unvermeidliche Folge einer Politik, die den größten Feind erledigen soll […]: die Inflation“. Allerdings habe die Regierung bislang sämtliche ihrer Ziele verfehlt und verschließe sich der Frage, „wie lange die Briten eine Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit als Reinigungskurs hinnehmen werden. Vorerst liegt der Phoenix noch in der Asche.“81 Die Tatsache, dass die Rezession Großbritannien härter traf als alle westlichen Konkurrenten, und dies trotz der Gewinne aus der britischen Nordseeölförderung, galt als starkes Indiz, dass in Großbritannien etwas grundsätzlich falsch lief. „The world gets a cold and Britain gets pneumonia“82, schrieb der „Guardian“ sinnbildlich. Er nannte Thatcher verächtlich die „Enid Blyton of economics“, weil ihre Vergleiche monetaristischer Politik mit weiblicher Haushaltsführung eine allzu simple Geschichte erzählten.83 Zahlreiche Artikel im In- und Ausland legten offen, dass das extrem teure Pfund zusammen mit der Hochzinspolitik immer mehr

Art. „England. Freier Fall“, Der Spiegel, 7.7.1980. Art. „Outlook for Britain ‚worst in OECD‘“, The Times, 14.7.1980. 78 Art. „Großbritanniens Sorgen mit der Wirtschaft“, NZZ, 22.7.1980. 79 Art. „Düstere Prognose zu Frau Thatchers Wirtschaftspolitik“, Neue Ruhr-Zeitung, 23.7.1980. 80 Art. „Operation geglückt – Patient tot. Die Irrtümer des Primitiv-Monetarismus in Großbritannien“, Vorwärts, 21.8.1980. 81 Art. „Phoenix in der Asche“, Die Zeit, 5.9.1980. 82 Art. „The world gets a cold and Britain gets pneumonia“, The Guardian, 29.8.1980. 83 Art. „Thatcher ‚Enid Blyton of economics‘“, The Guardian, 11.9.1980. 76 77

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Exportfirmen in den Konkurs zwang. Die Regierung erschien als Gefangene ihres monetaristischen Kurses, insbesondere des Fehlindikators sterling M3. Das Nordseeöl entpuppte sich als Fluch und Segen zugleich, spülte es doch einerseits Geld in die Staatskasse, trieb andererseits jedoch den Pfundkurs weiter in die Höhe und dadurch die Deindustrialisierung Großbritanniens voran, wie kritische Artikel herausstellten.84 Ein anderer negativer Effekt entging den Kommentatoren, nämlich dass das britische Nordseeöl jene Produktivitätsschübe verhinderte, die die rohstoffarme Bundesrepublik in jener Zeit verbuchen konnte. Nach außen wies Thatcher die Verantwortung für Rezession, massenhafte Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit strikt von sich. Die Regierung sei nur für die Inflationsbekämpfung zuständig; schuld seien dreißig Jahre Misswirtschaft im „Socialism“, der Anpassungsprozess sei alternativlos und brauche eben Zeit. Die „wets“ im Kabinett externalisierten die ökonomischen Kriseneffekte, indem sie sie der weltweiten Rezession zuschrieben. Einige hawks wie Industrieminister Joseph Keith und John Biffen, Chief Secretary to the Treasury, gestanden negative Begleiterscheinungen öffentlich ein, freilich als notwendigen Preis, der während einer Übergangsphase zu zahlen sei. Die „scharfe Auslese“ unter Industrieunternehmen werteten sie als „Gesundschrumpfung“, aus der die britische Wirtschaft gestärkt hervorgehen werde85 – eine Haltung, welche kritische Stimmen als „industriellen Darwinismus“ bezeichneten.86 Mit dem bereits erwähnten ‚kleinen Budget‘ von November 1980 kam Thatcher den immer lauter werdenden Hilferufen aus der Industrie etwas entgegen, so die Einschätzung in der Presse, indem sie den Diskontsatz von 16 % auf 14 % senken ließ. Anders als erhofft gab das teure Pfund aber nicht nach. Das „Minibudget“ wurde überwiegend als Scheitern der bisherigen monetaristischen Strategie gedeutet, offenbarte das Nachbessern am Haushalt doch die Schwierigkeiten der Regierung, Kurs zu halten und ihre selbstgesteckten

Art. „Hinter der Thatcher-Linie“, Frankfurter Rundschau, 29.8.1980; Art. „Phoenix in der Asche“, Die Zeit, 5.9.1980; Art. „Großbritannien. Frau Thatcher steckt tief in der Klemme“, Handelsblatt, 30.10.1980. 85 Art. „Britische Wirtschaftspolitik. Durch hohe Zinsen zu einer scharfen Auslese“, Handelsblatt, 3.11.1980; 86 Etwa Art. „Phoenix in der Asche“, Die Zeit, 5.9.1980. Zwischen 1979 und 1981 vollzog sich das größte Firmensterben in der britischen Geschichte mit einer Kontraktion von 25% im verarbeitenden Gewerbe, siehe Ben Jackson / Robert Saunders: Introduction: Varieties of Thatcherism, in: Dies., Thatcher’s Britain, S. 1–22, hier S. 5. 84

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Ziele zu erreichen.87 „The conventional wisdom now emerging in political comment is that the Government’s economic policy has failed“, fasste die „Times“ zusammen. Sie selbst schloss sich dieser Meinung jedoch nicht an, sondern verteidigte die Hardliner um Thatcher und attackierte stattdessen vergangene sozialistische Regierungen und den „so-called welfare state“.88 Der öffentliche Vertrauensverlust in die wirtschaftspolitische Strategie der Regierung und in die Kompetenz des Schatzkanzlers war immens und stand den Betroffenen Ende 1980 klar vor Augen. Eine gebeutelte Premierministerin blickte auf einen wirtschaftlichen und politischen Scherbenhaufen. Howe schrieb ihr beunruhigt, dass transatlantische Kommentatoren vor einer „Thatcherisation“ als einem Zustand warnten, den es unbedingt zu vermeiden gelte. Aber, fuhr er tröstend fort, die Regierung könne auf den „Thatcher factor“ bauen: den Sinn der Öffentlichkeit für die Hartnäckigkeit („tenacity“) der Premierministerin. Mochten etliche auch der Meinung sein, die Regierung sei verrückt – nur sehr wenige böten eine „coherent alternative solution“ an.89 Dass Howe mit dieser Einschätzung am Ende Recht behalten würde, war Ende 1980 wahrlich nicht abzusehen. Zunächst trafen von allen Seiten, auch aus dem Schatzamt selbst, düstere Wirtschaftsprognosen ein. Sogar die Londoner Finanzwelt, eigentlich Thatchers stärkster Rückhalt, zweifelte am monetaristischen Experiment. Die Bank of England war ohnehin keine Bank für Thatcher, verstieß das Geldhaus doch gegen die offizielle monetäre Doktrin und erfand immer neue Wege, Geld auszuleihen.90 Der Mangel an Vertrauen war gegenseitig, hatten einige Bank officials, darunter der Governor (Präsident) Gordon Richardson, doch dringend von sterling M3 als Geldmengenaggregat abgeraten. Jahre zuvor hatten Bank officials bereits herausgefunden, dass es keinen beweisbaren stabilen Zusammenhang zwischen sterling M3 und Inflation gab. Ihre Warnungen verpufften, nicht zuletzt weil alternative Geldmengenindikatoren den Einfluss der Bank gegenüber der Regierung gestärkt hätten. Thatcher, der Schatzkanzler und die ökonomischen Berater in der Policy Unit in Downing Street No. 10 hatten eine enge Abstimmung mit Bank officials nicht für nötig befunden.

Art. „Britain’s Monetary Retreat“, The Washington Post (abgedruckt in: International Herald Tribune, 1.12.1980); Art. „Das geköpfte Huhn. Peter Schmid über den Thatcher-Kurs“, Die Weltwoche, 3.12.1980. 88 Art. „Have they really been defeated?“, The Times, 20.11.1980. 89 Howe to PM, 31 Dec. 1980, zit. nach Moore, Thatcher, vol. I, S. 535 f (The National Archives [TNA]: Public Record Office [PRO] PREM 19/174). 90 Art. „Britische Geldpolitik. Da stimmt nichts mehr“, Handelsblatt, 12.9.1980. 87

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Obendrein pflegten Thatcher und Richardson eine ausgeprägte gegenseitige Aversion.91 Wie aus dem vertraulichen Schriftverkehr von Alan A. Walters hervorgeht, seit Januar 1981 Thatchers ökonomischer Chefberater, nahm auch hinter den Regierungskulissen die Krisendramatik zu. Die negative ökonomische Entwicklung überrollte die beteiligten Akteure förmlich. Thatcher und ihre Berater waren sich 1980/81 einfach nicht einig, mit welchem Indikator die Geldmenge am besten zu erfassen war und wie sie sich effektiv begrenzen ließ. Mit dem Aggregat sterling M3 konnten sie die Probleme jedenfalls nicht lösen, so viel wurde ihnen 1980 klar. Mit Entsetzen sahen sie zu, welche Wirkungen ihr riskanter Großversuch zeitigte, ein hochkomplexes ökonomisches, fiskalisches und monetäres System im Wesentlichen über eine zentrale Stellgröße zu steuern.92 Anfang Januar 1981 legte der angesehene Schweizer Geldtheoretiker Jürg Niehans im Auftrag der Thatcher-Regierung ein internes Gutachten ihrer Geldpolitik vor, den Niehans Report. Darin wies er nach, dass die starke Aufwertung des Pfundes, die der britischen Industrie erheblich zu schaffen machte, viel weniger  – wie von der Regierung behauptet  – durch das Nordseeöl als durch die Begrenzung der Geldmenge verursacht, somit hausgemacht war.93 Walters notierte in sein Tagebuch: „Niehans seminar  – bombshell; monetary policy has been too tight.“94 Als er Thatcher über das Seminar unterrichtete, pochte sie auf strikte Geheimhaltung der Ergebnisse. „MT [Margaret Thatcher] very defensive: NO-ONE must know about it – especially Bank of England. Frightened of calls for relaxation or sops to the wets. Am rapidly learning the political game  – never admit to an error!“95 Dass die Regierung ihre Glaubwürdigkeit verlöre, falls sie von ihrem monetaristischen Kurs abwich, galt in Politik und Medien als ausgemacht. „The only reason for sticking with the monetary policy is credibility“, sagte Frances

Vgl. Needham, Budget; Ders., UK Monetary Policy; Keegan, Thatcher’s Economic Experiment, S. 145–147 u. 150–156. 92 Siehe Churchill Archives Centre, Cambridge (CAC), WTRS Papers collected by Alan Arthur Walters relating to his time as Economic Advisor to the Prime Minister, August 1979 – November 1985, WTRS 1/1 (1979/80), WTRS 1/2 (1980) und 1/3 (1981). 93 Siehe Keegan, 1981, S.  99 f; Needham, Budget, S.  170–172; und Collins, Origins, S. 117 f. Collins argumentiert, die Wirkung des Berichts für den Kurswechsel der Regierung werde überschätzt, denn die Erkenntnisse seien unter Thatchers ökonomischen Beratern bereits vorhanden gewesen. Der Bericht wurde später im Jahr in den USA publiziert: Jürgen Niehaus: The appreciation of sterling: causes, effects, policies, Rochester 1981. 94 Alan A. Walters, Diary entry 7 January 1981, https://www.margaretthatcher.org/docu ment/128823 [20.11.2017]. 95 Alan A. Walters, Diary entry, 8 January 1981 (Hervorhebungen im Original), http:// www.margaretthatcher.org/document/128824 [20.11.2017]. 91

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Cairncross, ein Ökonomieprofessor aus Yale im Juli 1980 vor dem Commons Treasury and Civil Service Committee aus und stellte den monetaristischen Kurs der britischen Regierung grundsätzlich in Frage.96 Mochte Thatcher auch noch so darauf bedacht sein, vor der Öffentlichkeit zu verbergen, dass ihre Regierung mit sterling M3 auf die falsche monetaristische Karte gesetzt hatte und nachsteuern musste, um noch größeren wirtschaftlichen Schaden abzuwenden – die öffentliche Auseinandersetzung darüber war in vollem Gange. Die Fachdebatte zwischen Keynesianern und Monetaristen sowie unter Monetaristen wurde medienwirksam ausgetragen und fand entsprechend breiten Raum in den Zeitungen, und sie speiste die breitere politische Debatte über Kosten und Nutzen des britischen Monetarismus. Etliche Wirtschaftsredakteure hinterfragten den Regierungskurs fachkundig. Vergleiche mit dem erfolgreicheren Kurs der Bundesbank vor allem in deutschen, aber auch in britischen Zeitungen konturierten die Dysfunktionalitäten des Thatcher-Monetarismus.97 Im März 1981, kurz vor Bekanntgabe des neuen Budgets, spitzte sich die Krisendramatik in Großbritannien weiter zu. Eine Umfrage im „Guardian“ Anfang des Monats ergab, dass die Londoner City der einzig verbliebene Rückhalt für Thatchers Kurs war, und auch sie übte Kritik.98 Ein Allparteienkomitee war zu dem Urteil gelangt, dass die MTFS von 1980 „not soundly based“ war, und es stellte den reklamierten direkten Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation – den Kern des Thatcher-Monetarismus – in Frage.99 „Das britische Debakel. Margaret Thatchers monetaristisches Experiment gilt als gescheitert“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ und machte „eine Reihe schwerwiegender Fehler“ bei der Geldmengensteuerung aus. Das Beispiel England sei eine Warnung für andere Staaten und die Befürworter „der in Mode gekommenen supply-side economics“: Drastische Ausgabenkürzungen der öffentlichen Hand gingen zu Lasten der investiven Ausgaben und der Industrie. Thatchers Kürzungen hätten vor allem Rezession und Arbeitslosigkeit gebracht.100

Beispielhaft für dieses ceterum censeo die Art. „Unemployment ‚is no cure for inflation‘“, The Guardian, 30.7.1980; Art. „Reagan to Test the Water for Thatcher“, International Herald Tribune, 9.8.1982. 97 Siehe etwa den Art. „Britische Geldpolitik. Da stimmt nichts mehr“, Handelsblatt, 12.9.1980. 98 Art. „What the City thinks of Mrs Thatcher“, The Guardian, 2.3.1981. 99 Art. „Thatcher economic policy ‚not soundly based‘ all-party MP committee says“, The Times, 6.3.1981. 100 Art. „Das britische Debakel“, SZ, 7.3.1981. 96

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Am 10. März 1981 verkündete Schatzkanzler Howe das neue Budget, das Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen inmitten der Rezession vorsah. „The Budget is not well received“, lautete der erste Satz der Pressezusammenschau, den Pressereferent Bernhard Ingham der Premierministerin am folgenden Tag unterbreitete.101 Das deflatorische Budget löste eine beispiellose Intervention des keynesianischen Establishments in Großbritannien aus. Initiiert von zwei Professoren der Universität Cambridge wandten sich 364 Ökonomen, darunter etliche ehemalige Chief Economic Advisors vorheriger Regierungen, in einer öffentlichen Stellungnahme gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung.102 Damit steuerte die medienwirksam ausgetragene Kontroverse zwischen Keynesianern und Monetaristen ihrem Höhepunkt entgegen. Zeitgleich erschien eine düstere Prognose des britischen Unternehmerverbandes CBI. Die FAZ spielte den Protest der Ökonomen herunter und bezeichnete die Universitäten, aus denen sie stammten, vor allem Cambridge, als „dem Keynesianismus verschworen“. Sie berief sich auf Samuel Brittans Kritik in der „Financial Times“, der den Standpunkt vertrat, der Angriff auf die Regierungspolitik sei „das bestmögliche Anzeichen, daß diese Art Politik eben doch richtig ist“.103 Pressereferent Ingham notierte in der Pressezusammenschau für Thatcher: „Sam Brittan, FT, says this could be a favorable leading indicator for economic recovery.“104 Zwei Tage später legte die FAZ nach. Die innerbritische Kritik aufgreifend, dass die keynesianischen Professoren die Labour-Regierungen wahrlich schlecht beraten hätten, tat sie den Protestbrief als „eine Menge verletzter Kathederwürde“ ab.105 Der feste Glaube an die Höherwertigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung prägte die Berichterstattung der FAZ ebenso wie diejenige der „Welt“, des „Bayern-Kurier“, teilweise auch der NZZ. Sie verstanden sich als die Stimme der überlegenen marktwirtschaftlichen Vernunft und erblickten in Thatcher eine prinzipielle Verbündete, weshalb sie ihr Fehler bei der Anwen-

Ingham digest, 11 Mar 1981, THCR 3/5/4, zit. nach Moore, Thatcher, vol. I, S. 629 (CAC, The Papers of Baroness Thatcher LG., OM., FRS.). 102 „Statement on Economic Policy“ und Art. „University economists join in rejecting Thatcher monetarism“, The Times, 30.3.1981; Art. „364 sign statement condemning monetarist policy. Economists lay mass censure at Howe’s door“, The Guardian, 30.3.1981. Vgl. die rückblickende Einschätzung eines der beiden Initiatoren des Manifests: Neild, 1981 Statement. Eins der drei Hauptmotive sei die Abneigung gegen den „Charlatan“ Friedman gewesen. 103 Art. „Englands Keynesianer machen mobil. 364 Nationalökonomen kritisieren die Wirtschaftspolitik der Regierung“, FAZ, 31.3.1981. 104 Ingham digest, 30 Mar. 1981, THCR 3/5/4, zit. nach Moore,: Thatcher, vol. I, S. 631. 105 Art. „Attacke der 364“, FAZ, 2.4.1981. 101

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dung der monetaristischen Doktrin ebenso wie deren soziale ‚Nebenkosten‘ leichter verziehen, wohingegen Skeptiker in „Der Spiegel“, der „Frankfurter Rundschau“, den „Stuttgarter Nachrichten“, der „Wirtschaftswoche“ und im „Handelsblatt“ ebenjene Kosten ins Zentrum ihrer Kritik stellten. Als im Sommer 1981 in über dreißig britischen Städten soziale Unruhen mit Krawallen ausbrachen, konstatierte das „Handelsblatt“ „das völlige Versagen des monetaristischen Konzepts der konservativen Regierung“.106 In Großbritannien schwoll die öffentliche Kritik an Thatchers Wirtschaftspolitik nicht nur in oppositionellen Kreisen, sondern auch in den Reihen der Monetaristen, der Tories, des Kabinetts und der britischen Unternehmer zum Orkan an. Milton Friedman, um den Ruf der reinen Lehre fürchtend, ging auf immer größere Distanz zu Thatcher und ihren wirtschaftspolitischen Misserfolgen. Die Regierung habe den falschen Indikator für die Geldmenge gewählt, der Leitzins tauge nicht als Steuerungsinstrument und die massive Anhebung der Mehrwertsteuer sei ein Fehler gewesen.107 Nicht die Lehre war demnach falsch, sondern lediglich ihre Anwendung durch die Politik, womit für Friedman noch nicht bewiesen war, dass die Doktrin in der Praxis gescheitert sei. In einem Interview mit dem Zürcher Blatt „Die Weltwoche“ wiederholte auch der Berner Geldtheoretiker Niehans seine Kritik aus dem internen Gutachten. Der gewählte Geldmengenindikator sterling M3 sei fatal gewesen. Über Nacht sei der Geldhahn zugedreht, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden.108 Auch die Industrie- und Handelskammern gingen im Herbst 1981 auf Konfrontationskurs zu Thatcher. Das parteienübergreifende Commons Select Committee on the Treasury unterzog die Wirtschaftspolitik der Regierung einer Fundamentalkritik. Sie habe ihre Medium Term Financial Strategy aufgegeben, ohne jegliche neuen Politikziele zu nennen. Der Schatzkanzler habe den bisherigen Indikator für die Geldmenge sterling M3 in seiner Rede nicht einmal mehr erwähnt. Ein „Times“-Artikel über diese geballte öffentliche Schelte erweckte den Eindruck, als habe die Regierung ihren Kompass verloren.109 Während innerhalb Großbritanniens die Regierungskritik auch unter Konservativen immer harscher wurde, plädierten konservative und markt-

Art. „Großbritannien. Den Bogen überspannt“, Handelsblatt, 14.7.1981. Art. „Der Meister ist enttäuscht: Milton und Maggie“, Münchener Merkur, 11.3.1981; „Großbritannien. Friedman live“, Wirtschaftswoche, 20.3.1981; „Der Kampf in England geht weiter. Milton Friedman zur britischen Wirtschaftspolitik“, FAZ, 23.3.1981. Zu Friedmans Kritik an der MTFS auch Tomlinson, Thatcher, S. 74 f. 108 Art. „Was hat Margaret Thatcher falsch gemacht? Englands Sündenfall“, Die Weltwoche, 5.8.1981. 109 Art. „Money policy under new attack“, The Times, 19.12.1981. 106 107

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wirtschaftliche Blätter in Deutschland und der Schweiz entschieden für ein Durchhalten. Im Sommer 1981 meinte „Die Welt“ einen wirtschaftlichen „Aufwärtstrend“ auszumachen und deklarierte ihn als ersten Erfolg des strikten monetaristischen Kurses.110 Seither klammerte sie sich an jedes noch so geringe Indiz einer wirtschaftlichen Besserung. Die FAZ übernahm bis in den Wortlaut hinein Thatchers Sicht: Dreißig Jahre Keynesianismus und „sozialistischer Dogmatismus“ seien für den Zustand der britischen Wirtschaft verantwortlich.111 Für den ökonomischen Dogmenstreit zwischen Keynesianern und Monetaristen zeigte die FAZ wenig Verständnis, weil sie die Position der Keynesianer für längst überholt hielt. Sie seien zwar in der Mehrheit, gäben aber kein gutes Bild ab; das Zeitalter des „demand management“ und „fine tuning“ der Wirtschaft sei ein „Zeitalter der Mißerfolge“ gewesen. In der deutschen Nationalökonomie und wirtschaftspolitischen Debatte herrsche dagegen wesentlich mehr Sachverstand. Den gleichen Subtext hatte der Vergleich zwischen Westdeutschland 1948 und Großbritannien 1979: Wann würden die Briten begreifen, was die Deutschen ihnen schon lange erfolgreich vormachten, und einsehen, dass Thatchers Kurs gut für sie sei?112 Der Gestus marktwirtschaftlicher Überlegenheit zog sich auch durch Artikel in der „Welt“. Der Vorwurf des Dogmatismus gehe fehl, denn Thatchers Politik orientiere sich „an sehr realen, erprobten und zeitgerechten Vorbildern“  – wie jenem der deutschen Wirtschaftspolitik. Die gegen den „Thatcherismus“ erhobenen Vorwürfe wies „Die Welt“ zurück: „Gegner der konservativen Regierung haben versucht, deren Maßnahmen zur Gesundung der Wirtschaft als ‚Thatcherismus‘ verächtlich zu machen und sie mit einer ständig wachsenden Arbeitslosigkeit gleichzusetzen. Die Zukunft wird vielleicht erweisen, wie heilsam dieser ‚Thatcherismus‘ für die ökonomische Entwicklung war. Dann wird dieser Begriff für Erfolg stehen und für die Rettung des Vereinigten Königreiches.“113 Ähnlich kommentierte der „Bayern-Kurier“: „Das ist wohl die Tragödie des sogenannten ‚Thatcherismus‘: Er verlangt von den Briten das Unbegreifliche zu schnell und in zu großen Dosen.“ Anstatt die Briten besser über die Ziele ihrer Politik aufzuklären, habe Thatcher es zugelassen, „daß ihre Politik zum Schimpfwort, zum ‚Thatcherismus‘ wurde“.114 Als im März 1982 die nächste Budgetvorlage erschien, lobte ein Artikel im „Bayern-Kurier“ die Thatcher-Regierung dafür, dass sie die Einkommensteuer

Art. „Eisern – mit Erfolg“, Die Welt, 14.8.1981. Art. „Von früher redet keiner“, FAZ, 18.9.1981. 112 Art. „Ein Professorenstreit in England“, FAZ, 26.6.1982. 113 Art. „Die britische Atemnot und ihre Ärzte“, Die Welt, 17.11.1981. 114 Art. „Die Macht des Marktes setzt sich durch“, Bayern-Kurier, 16.1.1982. 110 111

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weiter senkte, um „ein Beispiel dafür zu geben, daß die Wirtschaft ohne staatliche Eingriffe am besten gesundet“. Damit gab er die marktwirtschaftliche Grundüberzeugung des Blattes wieder.115 Die Thatcher-kritische „Basler-Zeitung“ begrüßte zwar die weitere Abkehr der Regierung vom „dogmatischen Monetarismus“ hin zu einem „nüchternen, realistischen Wirtschaftskurs“  – die pragmatische Wende war (und ist) ein weitverbreitetes Deutungsmuster. Allerdings, so die Kritik der Zeitung, baue Howes Budgetstrategie weiter „auf den Selbstheilungskräften der Wirtschaft“ und halte keine Hoffnung für die drei Millionen Arbeitslosen im Land bereit. Thatcher bleibe das fragwürdige „,Verdienst‘, mit dem Nachkriegs-Konsens der britischen Gesellschaft gebrochen zu haben“.116 Eine äußerst negative Zwischenbilanz der Wirtschaftspolitik sowohl der Thatcher- als auch der Reagan-Administration zog die „Frankfurter Rundschau“. Beide Regierungen hätten nahezu sämtliche ihrer Ziele verfehlt. Entschieden konstatierte sie „das ökonomische Scheitern der radikalen Monetaristen“.117 Tatsächlich verabschiedete sich die Thatcher-Regierung bis 1983 immer mehr von ihrem monetaristischen Kurs, um dessen Einhaltung willen sie die Briten einen so hohen Preis hatte zahlen lassen.118 An der Deflationspolitik hielt sie allerdings trotz anhaltender Rezession fest und dehnte den fiscal squeeze bis 1982/83 aus, wodurch das Produktionstief in Großbritannien länger andauerte als in anderen OECD-Ländern und die Arbeitslosenzahlen im Januar 1982 erstmals die Drei-Millionen-Grenze durchbrachen. Bis zu den Wahlen im Juni 1983 blieb der industrielle Produktionsstand, der zwischen dem zweiten Quartal 1979 und dem vierten Quartal 1980 um ein Fünftel gesunken war, extrem niedrig; auch das Wachstum setzte 1982/83 nur sehr zögerlich ein, während die Arbeitslosigkeit weiter anstieg. Die Erwartungen der Presse an mögliche Hilfs- und Stützungsmaßnahmen der Regierung für Industrie und Arbeitslose waren inzwischen so gering, dass sie die folgenden deflatorischen Budgets von 1982 und 1983 relativ wohlwollend aufnahm; kleine Indizien wurden als Anzeichen wirtschaftlicher Erholung gedeutet.119 Dabei fielen die Schlagzeilen sehr unterschiedlich aus, je nachdem welcher

Art. „Mrs. Thatchers Politik. Konsequent und auch überzeugend“, Bayern-Kurier, 20.3.1982. 116 Art. „Grossbritanniens zerbrochener Konsens“, Basler-Zeitung, 12.3.1982. 117 Art. „USA und Großbritannien – Kosten der Bremspolitik überholen Spareffekte“, FR, 13.3.1982. 118 Vgl. Tomlinson, Thatcher. 119 Siehe zu den Budgets von 1982 und 1983 und der wirtschaftspolitischen Bilanz bis 1983 Keegan, Thatcher‘s Economic Experiment, S. 174–182 u. 202–204; außerdem Moore, Thatcher, vol. I, S. 651 u. 655. 115

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Leitindikator herangezogen wurde: „Tiefster Stand der britischen Teuerung seit 1970. Erfolgreiche Inflationsbekämpfung durch die Regierung Thatcher“, hieß es Ende Januar 1983 in der NZZ; dagegen fast zeitgleich in der „Welt“: „Großbritannien. Rekord bei Zusammenbrüchen. Tiefstand der Produktion“.120 Die Trendwende in der Berichterstattung lässt sich auf April 1983 datieren, als die nächsten Wahlen ähnlich intensiv antizipiert wurden wie der ersehnte Aufschwung. Es häuften sich positivere Daten und Prognosen zur Wirtschaftslage, die als Teilerfolge von Thatchers Wirtschaftspolitik ausgelegt wurden.121 Nachdem Thatcher Anfang Mai die Wahlen für den 9. Juni 1983 ausgerufen hatte, zeigten Umfragen einen starken Anstieg für die Konservativen.122 „How did the Thatcherites get away with it?“, fragte „Observer“-Redakteur William Keegan in seiner 1984 erschienenen Studie über Thatchers wirtschaftspolitisches Experiment.123

3. Fazit

Wie gebannt starrte die Zeitungswelt auf das monetaristische Experiment, das sich in Großbritannien zwischen 1979 und 1981/82 und damit just zur Zeit der Rezession vollzog. Thatchers wirtschaftspolitischer Großversuch galt als Nagelprobe für die Möglichkeit, eine kriselnde Volkswirtschaft radikal umzusteuern, die man in den 1970er Jahren nahezu abgeschrieben hatte. Es ging um die Frage der Regierbarkeit eines Landes, das vielen Zeitgenossen wegen der Macht der Gewerkschaften als unregierbar erschien. In der Diskussion über das Ausmaß der Verantwortung von Staat und Regierung für die Wirtschaft, insbesondere für Wachstum und Beschäftigung, verschoben sich die Parameter deutlich in Richtung der Inflationsbekämpfung. In der öffentlichen Auseinandersetzung um Wahrheits- und Hegemonieansprüche von Keynesianern, Monetaristen und Verfechtern der supply-side economics lässt sich ebenfalls eine Verschiebung feststellen, rückte doch der innermonetaristische Streit immer mehr in den Vordergrund, weil unter Thatchers politischer Führung nicht der Monetarismus als solcher zur Diskussion stand, sondern

NZZ, 23.1.1983; Die Welt, 26.1.1983. Siehe etwa die Art. „Grande-Bretagne: un meilleur climat“, le monde, 12.4.1983; „Großbritannien. Teilerfolge nach Radikalkur“, Wirtschaftswoche, 23.4.1983; „Großbritannien. Anzeichen für eine Erholung“, Die Welt, 23.4.1983; „Bemerkenswerter Erfolg“, Die Welt, 26.4.1983. 122 Siehe Moore, Thatcher, vol. II, S. 49. 123 Keegan, Thatcher’s Economic Experiment, S. 183. 120 121

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die Art seiner Umsetzung. In größerer historischer Perspektive betrachtet, rangen die Zeitgenossen um konkurrierende sozioökonomische Wertsysteme und Ordnungsvorstellungen im Zuge eines europäischen und transatlantischen Rechtsrucks, der unter der Devise von „mehr Markt, weniger Staat“ den Nachkriegskonsens des welfare capitalism, insbesondere die britische Variante der mixed economy, massiv in Frage stellte und sie als überholt, verfehlt, unterlegen oder auch „sozialistisch“ brandmarkte. Nicht zuletzt spiegelte die Kontroverse um Thatchers Wirtschaftspolitik umstrittene nationale Selbstund Fremdverortungen in einer fundamentalen Übergangsphase westlicher Industriegesellschaften nach dem Ende des Nachkriegsbooms. In diese und weitere Problemzusammenhänge lassen sich die printmedialen Deutungskonkurrenzen zu Thatchers makroökonomischem Experiment einordnen. Als Ergebnis der Presseanalyse gilt es zunächst festzuhalten, dass nahezu sämtliche Stimmen in den Zeitungen, mochten sie Thatchers Kurs grundsätzlich befürworten oder ablehnen, die neue Wirtschaftspolitik als radikal einstuften und dadurch die Rezeption des Thatcherismus auf Jahrzehnte prägten. Dass „Thatcherism“ schnell zum politischen Schimpfwort avancierte, spiegelt wesentliche Elemente zeitgenössischer Kritik am Neoliberalismus seit den 1980er Jahren, richtet sie sich doch auf die wahrgenommene Radikalität marktorientierter Reformen: ihre präzedenzlose Geschwindigkeit, Reichweite und Absicht.124 Just an diesen Punkten entzündete sich die Kritik der prinzipiellen Thatcher-Gegner. Neoliberale Deutungsmuster dagegen zogen sich überwiegend durch Beiträge der Verteidiger dieser Wirtschaftspolitik. Erstens: Am schärfsten und breitesten war die Opposition innerhalb der britischen Berichterstattung, weil die Folgen der Rezession und der Regierungsmaßnahmen im eigenen Land hart zu Buche schlugen. Aus Sicht der Kritiker in Großbritannien, die aus allen politischen Lagern stammten und zwischenzeitlich Dreiviertel der Befragten ausmachten, betrieben Thatcher und Schatzkanzler Howe wirtschaftstheoretischen Dogmatismus. Im Kampf gegen die Inflation alles auf die monetaristische Karte zu setzen, und dies mittels des zweifelhaften Geldmengenaggregats sterling M3 und trotz der Rezession, erschien ein ökonomisch hochriskantes und sozial unverantwortliches Unterfangen. Die Tatsache, dass die Regierung bis 1982 sämtliche ihrer wirtschaftspolitischen Ziele verfehlte, galt als Beweis für ihr ökonomisches Scheitern. Zweitens: Der politische Vorwurf linkssozialistischer, sozialliberaler und gemäßigter Zeitungen in- und außerhalb Großbritanniens lautete, die Thatcherites nähmen die Firmenpleiten in der britischen Industrie, Massenar-

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Vgl. Boas/Gans-Morse, Neoliberalism, S. 141.

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beitslosigkeit und Rezession schulterzuckend in Kauf oder spitzten sie gar zu. Durch eine ostentative Politik der Drohungen und der Angst wolle die Thatcher-Regierung legitime Ansprüche gegenüber Regierung und Staat (in der Sprache der Thatcherites „inflationary expectations“) drosseln und ihre politischen Gegner, vor allem die Gewerkschaften, gewaltsam beugen. Diese Kritik konzentrierte sich auf das Janusgesicht der neoliberalen Verheißung einer besseren ökonomischen Zukunft, die ohnehin nur den Bessergestellten zugutekäme, während der Rest der britischen Gesellschaft, allen voran über drei Millionen Arbeitslose, den Preis zu entrichten habe. So begründet die Kritik am monetaristischen Achterbahnkurs der Jahre 1979 bis 1981/82 in vielem war, so blieb ihre größte Schwäche doch die eigene Ausgangsposition: In der Krise des Winter of Discontent 1978/79 war die keynesianisch-staatsinterventionistische Alternative in Großbritannien gründlich verbrannt, und eine dezidiert sozialistische Alternative erschien noch fragwürdiger. Diese Schwäche grundsätzlicher wirtschaftspolitischer Alternativen in Großbritannien war der eigentliche Trumpf des Thatcherismus. In gewisser Weise profitierte Thatcher 1979/80 vom Ausmaß der Krise, machte jene doch den Weg frei für radikale Experimente in der Wirtschaftspolitik.125 Drittens: Scharfe fachliche Kritik an Thatchers Wirtschaftspolitik übten nicht nur Keynesianer, was zu erwarten war, sondern auch und gerade Monetaristen. Für sie stand nicht das Ob eines marktwirtschaftlichen Kurses zur Disposition, sondern lediglich das Wie. In den Augen einiger neo-klassischer Ökonomen war die „Radikalkur“ nicht radikal genug gewesen; die Mehrheit („gradualists“) befand, die Regierung habe entweder die falschen Hebel betätigt (sterling M3 anstatt M0 oder M1) oder die richtigen (Senkung der Leitzinsen) zur falschen Zeit und in falschem Ausmaß. Nicht die – damals noch wenig und nie in Reinform erprobte – Theorie des Monetarismus war demnach falsch, sondern die Regierungspraxis, wie der streitbare US-amerikanische Monetarist Milton Friedman, an dessen Lehre sich die Thatcherites eigentlich orientiert hatten, nicht müde wurde zu betonen. Staat und Politik, nicht Unternehmen und Märkte, waren verantwortlich zu machen, wenn es wirtschaftliche Probleme gab. Dieses Rechtfertigungs- und Beschuldigungsmuster ist wesentlich, will man die Diskursverschiebung hin zu einer neoliberalen Hegemonie in den 1980er Jahren verstehen. Einerseits sollten Staat und Regierung mehr Verantwortung an Marktkräfte abtreten, andererseits wurden sie im ökonomischen Fachdiskurs (von Keynesianern und Neoklassikern) weiterhin für wirtschaftliche Misserfolge verantwortlich gemacht. Thatchers Rhetorik war erfolgreich darin, Marktversagen als Staats- und Regierungsver-

125

So das Argument von Moore, Thatcher, vol. I, S. 456.

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sagen zu brandmarken, solange es die Vorgänger und Gegner betraf, nicht die eigene Regierungsverantwortung. Viertens: Die entschiedensten Fürsprecher fand Thatchers Kurs in konservativen und marktwirtschaftlichen bundesrepublikanischen und Schweizer Zeitungen. Für sie spielte die negative volkswirtschaftliche Bilanz der Wirtschaftspolitik so gut wie keine Rolle, solange Thatcher glaubhaft machte, mit dreißig Jahren keynesianischer Nachfragesteuerung und „sozialistischen“ Wirtschaftsdirigismus zu brechen. Die staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik der britischen Vorgängerregierungen, besonders das System der Lohnund Preiskontrollen, war zum Zeitpunkt von Thatchers Regierungsantritt in einem solchen Maße diskreditiert, dass die marktliberale Gegendevise „mehr Markt, weniger Staat“ bzw. „mehr Eigeninitiative, weniger Staatsinterventionismus“ unter allen Umständen überlegen schien, ja überlegen sein musste, zumal die Labour Party eine entschiedene Sozialisierung der Wirtschaft anstrebte. Die Überzeugung, am Ende der vielbeschworenen „Talsohle“ würden sich die positiven Effekte in Großbritannien einstellen, speiste sich aus den positiven Erfahrungen der Sozialen Marktwirtschaft, die als Richtschnur diente. In dieser Perspektive beschritt Großbritannien lediglich den Weg einer nachholenden und alternativlosen Vermarktwirtschaftlichung. Maß man sie dagegen an britischen Maßstäben, bedeutete Thatchers wirtschaftspolitischer Kurs, erst recht ihre Rhetorik eine viel radikalere Umwälzung des politischen und ökonomischen Koordinatensystems126 als dies aus bundesrepublikanischer Warte erscheinen mochte. Je düsterer indes die Wirtschaftsstatistiken unter Thatcher ausfielen, desto stärker trat der ideologische Gehalt marktwirtschaftlicher Wahrheits- und Überlegenheitsansprüche zum Vorschein, denn schließlich argumentierten die Redakteure und Kommentatoren zunächst wider volkswirtschaftlicher Evidenzen in Großbritannien. Fünftens: Angesichts der Intensität und Fachkunde der innerbritischen Zeitungskritik an Thatchers monetaristischem Großversuch mag es verwundern, dass ihre Regierung bei den Wahlen von 1983 nicht abgestraft wurde, zumal Großbritannien zu diesem Zeitpunkt eine Rekordarbeitslosenzahl von dreieinhalb Millionen verzeichnete.127 Sicher spielten Faktoren jenseits der prekären wirtschaftlichen Lage eine Rolle, so eine angeschlagene Labour Party mit dem Vorsitzenden Michael Foot und die Spaltung der Opposition in Labour und die Allianz aus Social Democrats und Liberals. Ein weiterer Faktor war der Sieg im Falklandkrieg im Sommer 1982, der eine Welle nationaler

Ähnlich Geppert, Revolutionen, S. 271. Ausführlich zu den Wahlen von 1983 Charles Moore: Margaret Thatcher. The Authorized Biography: Volume Two: Everything She Wants, London 2015, Kap. 3.

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Euphorie auslöste und Thatchers Glaubwürdigkeit als entschlossene Führerin untermauerte.128 Aber es kam noch etwas anderes hinzu. Offenbar war es Thatcher und den Thatcherites in ausreichendem Maße gelungen, die Mitverantwortung am „slump“ von 1980/81 und der Rekordarbeitslosigkeit von sich zu weisen und sie auf den „British decline“, Gewerkschaften und Labour, Nordseeöl und die Weltrezession zu schieben. Misserfolge externalisierten sie, den (zarten) Aufschwung reklamierten sie für sich.129 Es lag eine gewisse Ironie darin, dass Thatcher es lange Zeit nicht gelungen war, die „inflationären Erwartungen“ der Wirtschaftsteilnehmer zu senken und die Inflation effektiv zu bekämpfen. Im Gegenteil trieben die Budgetmaßnahmen von 1979 die Inflationsrate erheblich in die Höhe, woraufhin die Regierung zwei Jahre lang damit beschäftigt war, sie mit harter Deflationspolitik wieder unter Kontrolle zu bringen. Umso erfolgreicher waren die Thatcherites aber darin, „inflationäre Erwartungen“ gegenüber Staat und Regierung zu drosseln. So kam es, dass das monetaristische Abenteuer der Jahre 1979 bis 1981/82 nicht nur wahlpolitisch ungestraft blieb, sondern der Thatcherismus respektive der britische Neoliberalismus gestärkt aus der Wirtschafts- und politischen Legitimationskrise hervorging. Nicht die britische Wirtschaft, erst recht nicht die Industrie stieg 1983 wie der Phoenix aus der Asche, sondern Thatcher. Die Fürsprecher von austerity politics, supply-side economics und monetarism im politischen Establishment der Bundesrepublik hüteten sich davor, es ihr oder auch Reagan gleichzutun. Sie taten gut daran.

In einer öffentlichen Umfrage vom 2. Juni 1982 antworteten 46 Prozent der erklärten Tory-Wähler, sie würden wegen Thatchers Führung so stimmen, wohingegen nur 31 Prozent ihre Wahlentscheidung mit der Parteipolitik begründeten, ebd., S.  58. Zur Rezeption des Falklandkrieges Moore, Thatcher: vol. I, Kap. 24. 129 Vgl. Tomlinson, Thatcher’s Macroeconomic Adventurism. 128

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Der Yuppie Projektionen des neoliberalen Wandels

Einleitung

D

ie 1980er-Jahre waren das Jahrzehnt der Yuppies. Dies gilt zumindest im Hinblick auf ihre popkulturelle Omnipräsenz. Sie spielten die Hauptrollen in Filmen wie „Wall Street“ (1987) und „Das Geheimnis meines Erfolges“ (1987). Sie waren ebenso in den Fernsehserien „Familienbande“ (1982–1989), „Die besten Jahre“ (1987–1991) und „Capital City“ (1989–1990) zu sehen. Außerdem waren sie Hauptdarsteller in Romanen, etwa in „Fegefeuer der Eitelkeiten“ (1987) und „American Psycho“ (1991). Ihnen wurde musikalisch der Tod gewünscht und zum Ende des Jahrzehnts entwickelte sich sogar ein eigenes Filmgenre, das Yuppies als Serienmörder darstellte.1 In der Werbung wurden sie sowohl umworben als auch karikiert. In einem Werbespot für die Biermarke Foster’s findet sich der australische Schauspieler Paul Hogan („Crocodile Dundee“) in einer Londoner Yuppie-Bar wieder. Dort begegnet er Champagner trinkenden „Yuppies“, die mit ihren luxuriösen Wohnungen prahlen („I just moved into a warehouse“) oder sich über Kursverluste ihrer Aktien beklagen („my shares have just gone down twenty pence“). Der kernige Paul Hogan kann mit dem Yuppie-Leben wenig anfangen und missversteht ihre Aussagen. Die Botschaft ist klar: Foster’s ist ein Bier für die „normale“ Bevölkerung.2

Die australische Rockband „Painters and Dockers“ veröffentlichte 1987 die Single „Die Yuppie Die“, die es in die australischen Charts schaffte. Beispiele, in denen Yuppies als Mörder und Psychopathen dargestellt werden, sind u. a. „Blue Steel“ (1990) und „Vampire’s Kiss“ (1989). Vgl. v. a. zur filmischen Repräsentation von Yuppies in den USA: Kevin L. Ferguson: Eighties People. New Lives in the American Imagination, New York 2016, S. 79–108. 2 Vgl. die Foster’s Werbung: https://www.youtube.com/watch?v=Z4QiHJEhv0c [28.6.2017]. Vgl. für eine Werbung von British Airways, die Yuppies als Zielgruppe ansprechen wollte: https://www.youtube.com/watch?v=WBQmMEHqm-g [28.6.2017]. 1

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Das Bild des Yuppies ist in hohem Maße von diesen popkulturellen Porträtierungen geprägt. Häufig waren diese jedoch, wie das Werbebeispiel zeigt, stark klischee- und stereotypbehaftet, wenn nicht völlig überzogene Karikaturen. Den Yuppie einer historisch-analytischen Untersuchung zu unterziehen, ist deshalb eine gewisse Herausforderung. Ich fasse den Yuppie im Folgenden als ein mediales Zuschreibungsphänomen. Er war eine Projektionsfläche, so meine These, für einen wahrgenommenen neoliberalen gesellschaftlichen und politischen Wandel in den 1980er-Jahren, insbesondere in den USA und in Großbritannien. Ohne den Begriff „neoliberal“ zu verwenden, wurden Yuppies ökonomische Überzeugungen und Handlungen zugeschrieben, die wir heute als neoliberal fassen. In noch höherem Maße wurden sie als neoliberale Subjekte imaginiert, ebenfalls ohne dass der Begriff dabei gefallen wäre. In den letzten Jahren sind, ausgehend und in Weiterentwicklung von Foucaults Gouvernementalitätstheorie, mehrere Studien entstanden, die dem neoliberalen Subjekt als „unternehmerischem Selbst“ und „Humankapital“ nachspüren.3 Durch die Dominanz neoliberalen Denkens finde eine Weiterentwicklung des klassischen Modells des „Homo Oeconomicus“ statt, das Menschen nicht mehr nur als „Tauschpartner“ versteht, deren Handeln auf „rentablen Tauschgeschäften und dem unternehmerischen Einsatz der eigenen Vermögenswerte und Bemühungen“ beruht.4 Stattdessen orientiere sich das Modell des Humankapitals nun stärker am Finanz- und Kapitalwesen. Der Mensch sei nun sein eigenes Kapital. Eine so verstandene Person strebe danach, „auf solche Weise in sich selbst zu investieren, daß dadurch sein Wert gesteigert wird, oder Investoren durch die ständige Aufmerksamkeit auf seine wirkliche oder symbolische Kreditwürdigkeit anzuziehen.“5 Das gesamte Leben ist demnach nach ökonomischen Kriterien organisiert. Ausbildung und Weiterbildung werden unter diesem Gesichtspunkt zu rein ökonomischen Ressourcen, die den „zukünftigen Wert des zukünftigen Selbst“ steigern können.6 Auch beim Konsum wäge der Unternehmer seiner selbst genau ab, welches Gut ihm den optimalen Nutzen bringe.7

Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst, Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015; Christopher Payne: The Consumer, Credit and Neoliberalism. Governing the Modern Economy, Abingdon u. a. 2012. 4 Brown, Revolution, S. 34; Bröckling, Selbst, S. 88. 5 Brown, Revolution, S. 34 f. 6 Ebd., S. 36. 7 Bröckling, Selbst, S. 88. Es erscheint daher zunächst paradox, dass zeitgleich zum Aufstieg der Humankapitaltheorie auch die Verhaltensökonomie einen Boom erlebte. Sie geht davon 3

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Insbesondere in den USA und in Großbritannien wurden Yuppies und ihr Lebensstil ebenfalls mit diesen ökonomischen Rationalitätskategorien beschrieben. Beide Staaten gelten als Vorreiter neoliberaler Reformen.8 Im Folgenden wird der Diskussion um Yuppies, wie sie im Vereinigten Königreich geführt wurde, besondere Aufmerksamkeit gelten, da Yuppies dort explizit als Produkt der neoliberalen Reformen Margaret Thatchers aufgefasst wurden. Zum Vergleich werden aber auch die USA und die Bundesrepublik, der im Allgemeinen eine verspätete bzw. im Vergleich zu den anglo-amerikanischen Partnern geringere Neoliberalisierung attestiert wird, in die Betrachtung einbezogen.9 Zu fragen ist, ob sich dieser Unterschied auch in den Darstellungen von Yuppies widerspiegelte.

1. Die Geburt des Yuppies und sein Aufstieg in den USA

Der Begriff Yuppie (Young Urban Professional) etablierte sich 1984 in den USA. Dem Kolumnisten Bob Greene, der bereits im März 1983 in seiner Kolumne in der „Chicago Tribune“ den Begriff benutzte, wird zugeschrieben, ihn als erster öffentlich verwendet zu haben.10 Darin beschrieb er den Wandel Jerry Rubins von einem einflussreichen politischen Aktivisten der 1960erund 1970er-Jahre und Gründer der Yippies (Youth International Party) hin zu einem Veranstalter von Netzwerktreffen für junge erfolgreiche Unternehmer. In diesem Zusammenhang nannte Greene Rubin „the leader of the Yuppies – Young Urban Professionals“. Im darauffolgenden Jahr kam den Yuppies im Zuge der Präsidentschaftswahlen eine prominente Rolle in der medialen Berichterstattung zu. Sie galten als Hauptunterstützer des Präsidentschaftskandidaten Gary Hart, dem bei

aus, dass sich Menschen gerade nicht logisch und rein rational entscheiden. Wie Rüdiger Graf argumentiert, diente und dient die Verhaltensökonomie jedoch dazu, das irrationale menschliche Verhalten möglichst vorherseh- und steuerbar zu machen. Rüdiger Graf: „Heuristics and Biases“ als Quelle und Vorstellung. Verhaltensökonomische Forschung in der Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), 3, S. 511–519, hier S. 517 f. 8 Norbert Frei / Dietmar Süß (Hg.): Privatisierung, Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012; Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012; vgl. für die USA: Daniel T. Rodgers: Age of Fracture, Cambridge, Mass. 2011, S. 41–76 und für Großbritannien: Ewen H. H. Green: Thatcher, London/New York 2006, S. 55–101. 9 Vgl. die Beiträge in diesem Band; Biebricher, Neoliberalismus; Andreas Wirsching: „Neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Werner Plumpe (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 139–150. 10 „Jerry Rubin’s New Business is Business“, in: Chicago Tribune, 23.3.1983.

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den Vorwahlen der Demokraten lediglich Außenseiterchancen eingeräumt wurden. Hart erzielte mit einer Mischung aus wirtschaftsliberalen und gesellschaftlich progressiven Überzeugungen allerdings bedeutende Gewinne. Es schien lange Zeit möglich, dass er den Kandidaten des demokratischen Parteiestablishments, Walter Mondale, hinter sich lassen könnte. Obwohl ihm dies letztlich nicht gelang, traten seine Unterstützer als vermeintlich neue, einflussreiche Wählergruppe in den Fokus der Berichterstattung.11 Yuppies wurden zunächst primär in diesem politischen Kontext beschrieben. Doch auch nach Harts Verlust bei den Primaries blieb das Interesse an dieser Gruppe hoch. Yuppies wurden als Teil der „Baby Boomer“-Generation gesehen. In wirtschaftlicher Hinsicht hat man ihnen Überzeugungen zugeschrieben, die heute als neoliberal gelten, wie das Eintreten für den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Steuersenkungen und den Rückbau des Wohlfahrtsstaats. Zeitgenössisch galten diese Überzeugungen jedoch als konservativ, da sie den „economic liberalism of the New Deal“ ablehnten. In gesellschaftlichen Belangen wurden ihnen liberal-progressive Werte attestiert, weil sie individuelle Freiheit, gleiche Rechte für Männer und Frauen und ein liberales Abtreibungsrecht befürworteten.12 In den folgenden Jahren untersuchten mehrere politikwissenschaftliche Studien das Yuppie-Phänomen, um zu ergründen, ob es tatsächlich eine neue gesellschaftliche Schicht gab, auf die diese Kriterien zutrafen. Allerdings arbeiteten die Studien nicht mit einer einheitlichen Yuppie-Definition und die Untersuchungskriterien blieben recht vage. Eine Studie definierte Yuppies wie folgt: Jung (18–39 Jahre), in einer Großstadt mit mindestens 100.000 Einwohnern lebend und einem „professional“13 Job nachgehend. Nach dieser Definition machten Yuppies 2,4 Prozent der der USamerikanischen Bevölkerung aus.14 Die Studien untersuchten beispielsweise die Einstellung der als Yuppies definierten Personen zur Höhe der Steuern und den Sozialstaatsausgaben. Obwohl 70 Prozent der Yuppies die Steuerlast

Vgl. „Hart Taps a Generation Of Young Professionals“, in: The New York Times, 18.3.1984; „Gary Hart’s Bandwagon Scores With ‚Yuppies‘ In Two Areas of State“, in: Washington Post (Virginia Weekly), 29.3.1984. 12 John L. Hammond: Yuppies, in: The Public Opinion Quarterly 50 (1986) 4, S. 487–501, hier S. 487, 489. 13 „Professional“ bezieht sich auf die Berufe, die im General Social Survey (GSS) in dieser Kategorie aufgeführt sind. Wichtige Kriterien sind ein überdurchschnittlich hoher Bildungsabschluss und/oder eine formalisierte Ausbildung. 14 Michael Delli Carpini / Lee Sigelman: Do Yuppies Matter? Competing Explanations of Their Political Distinctiveness, in: The Public Opinion Quarterly 50 (1986) 4, S.  502–518, hier S. 504. 11

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als zu hoch empfanden, lagen sie damit um nur einen Prozentpunkt höher als Nicht-Yuppies. Bei Fragen nach den Sozialstaats- und Gesundheitsausgaben befürworteten Yuppies in deutlich stärkerem Maße höhere Ausgaben als Nicht-Yuppies. Selbst bei der Frage, ob Wohlstand (wealth) gerechter verteilt sein sollte, lagen Yuppies mit einer Zustimmungsquote von knapp 30 Prozent auf der Linie der Nicht-Yuppies.15 Alle Studien kamen einheitlich zu dem Ergebnis, dass sich wissenschaftlich keine „Yuppie-Schicht“ bzw. keine neue Wählergruppe nachweisen ließ, die die genannten wirtschaftsliberalen und gesellschaftlich-progressiven Werte vertrat und sich von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterschied.16 Die Studien gingen stattdessen von einem „Medienphänomen“ (media mirage) aus, dessen realgesellschaftliche Grundlage mehr als dürftig sei. Tatsächlich etablierte sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre der Yuppie als prägendste Sozialfigur der Dekade im medialen und popkulturellen Diskurs. Das Nachrichtenmagazin „Newsweek“ widmete sich in seiner letzten Ausgabe des Jahres 1984 ausführlich dem Yuppie-Phänomen und bezeichnete das zurückliegende Jahr als „Jahr des Yuppies“.17 In der Berichterstattung erschienen Yuppies nun nicht mehr vornehmlich als neue Wählerschicht, sondern als eine neue Konsumentengruppe, die Individualität und sozialen Status über Konsum ausdrücke. In dem breit rezipierten Artikel wurde ein Großteil der Yuppie-Charakteristika beschrieben, die in den folgenden Jahren prägend waren – nicht nur für die Wahrnehmung in den USA, sondern auch in Großbritannien und in der Bundesrepublik. Als typische Yuppies galten junge, erfolgsorientierte Männer und Frauen, die im Finanzwesen tätig waren. „Wall Street Yuppies“ waren die idealtypischen Vertreter dieses Phänomens. Bezeichnend für das Yuppie-Phänomen war, dass in ihm Männer  und Frauen gleichermaßen einbezogen waren. So waren etwa auf dem „Newsweek“Cover ein männlicher und weiblicher Yuppie abgebildet. Dies setzte sich bei weiteren Abbildungen und Charakterisierungen durch. Häufig wurde in den Beschreibungen explizit darauf hingewiesen, dass das Yuppie-Phänomen unter Frauen genauso vertreten war wie unter Männern. Dies führte in den USA zu einem eigenen Subdiskurs, indem das Yuppietum zum einen als Emanzipation von Frauen positiv betont wurde. Zum anderen wurde Yuppie-Frauen

Ebd., S. 505, 507. Hammond, Yuppies, S. 496 f; Delli Carpini / Sigelman, Yuppies, S. 516; Paul Dekker / Peter Ester: The Political Distinctiveness of Young Professionals: „Yuppies“ or „New Class“?, in: Political Psychology 11 (1990) 2, S. 309–330, hier S. 321 f. 17 Newsweek, 31.12.1984. 15 16

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jedoch auch vorgeworfen, zu karriereorientiert zu sein.18 Ein Kolumnist der „Washington Post“ führte unter der Überschrift „I’m not a Yuppie“ unter anderem als Beleg dafür an, dass er kein Yuppie sei, dass seine Frau sich ausschließlich um Kinder und Haushalt kümmere. Der Artikel rief verärgerte Reaktionen von Frauen hervor, die betonten, dass es nicht verwerflich sei, wenn Frauen ebenfalls eine berufliche Karriere anstrebten.19 Offensichtlich ging von karriereorientierten Frauen, die nicht weiblich konnotierte Konsumgüter wie Sportwagen offen zur Schau stellten, eine Faszination aus. Nach den prägenden Jugendkulturen der Hippies und Vietnamkriegsgegner der späten 1960er- und 1970er-Jahre schien sich nun eine entpolitisierte und konsumorientierte Generation anzukündigen. Der Fokus der Berichterstattung lag in den späten 1980er-Jahren deutlich auf dem Konsumverhalten und weniger stark auf den Arbeitsfeldern und -praktiken. Dabei standen der öffentlich zur Schau gestellte Luxuskonsum und neue Konsumformen im Mittelpunkt der Berichterstattungen. So wurde über internationale Konsumtrends etwa aus Italien (Wein- und Espresso-Bars), Japan (Sushi) und Westdeutschland (BMW) ausgiebig berichtet.20 In diesen Berichten wurden Yuppies ebenso häufig ironisch wie kritisch porträtiert.21 Die Berichterstattung in den USA war deutlich umfangreicher als in Großbritannien und erst recht als in der Bundesrepublik. Alleine in der „Los Angeles Times“ erschienen zwischen 1984 und 1989 über 3.000 Artikel, in denen der Begriff „yuppie“ vorkam.22 Die rege und zumeist negative Berichterstattung regte Autoren auch zum Nachdenken über die Gründe für diese Wahrnehmung der Yuppies an. Der liberale Publizist Hendrik Hertzberg beschrieb in einem Essay im Magazin „Esquire“ vom Februar 1988 „the short happy life of the American yuppie“. Darin ging er unter anderem der Frage nach dem schlechten Image von Yuppies nach und kam zu dem Schluss, dass auf die Figur des Yuppies alle negativen Merkmale, die die 1980er-Jahre in den USA ausmachten, projiziert wurden: „We turned him into an effigy, and

„Why Does Everyone hate Yuppies“, in: Los Angeles Times, 13.12.1987; „Feminists Lament the Yuppie Tangent“, in: Los Angeles Times, 8.3.1985; „The Poor Excuses Women Have for Not Getting Rich“, in: Chicago Tribune 5.4.1985. 19 „I’m not a Yuppie“, in: Washington Post, 9.2.1986; Letters to the Editor, in: Washington Post, 22.2.1986. 20 Vgl. „Polo to Sushi“, in: Chicago Tribune, 8.7.1985; „Yuppies: They Are What They Own“, in: Washington Post, 1.7.1984. 21 Vgl. „The Perfect Fall Guys“, in: Los Angeles Times, 13.12.1987; „I’m Not a Yuppie“. 22 Die Analyse basiert auf einer Suche in der ProQuest Historical Newspapers Datenbank. In der Chicago Tribune erschienen im selben Zeitraum über 2.000 Artikel mit einem YuppieBezug, in der Washington Post waren es ebenfalls knapp 2.000. 18

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then we hanged him. He became the collective projection of a moral anxiety. We loaded onto him everything we hated about the times we had been living through.“23 Zwar verwendeten Hertzberg und andere Autoren den Begriff „neoliberal“ nicht, doch die negativen Zuschreibungen kamen dem heutigen Verständnis von Neoliberalismus sehr nah. Die von Hertzberg angeführten negativen Charakterzüge eines Yuppies zeichneten sich etwa durch einen starken Glauben an die freie Kraft des Marktes aus, durch einen überzogenen Individualismus und durch die Überzeugung, dass soziale Ungleichheit nicht strukturell bedingt sei, sondern jeder individuelle Ziele erreichen könne, wenn er oder sie sich nur genug anstrenge. Auffallend sind die ökonomischen und kompetitiven Zuschreibungen des Yuppies, die Hertzberg nutzte, wie „contempt toward ‚losers‘“, „winnerism and the uncritical worship of ‚success‘“.24 Hier, ebenso wie in folgendem Beispiel, tritt die neoliberale „Ökonomisierung“ des Subjekts zutage. Ein Leserbrief, der „aus der Sicht eines Yuppies“ geschrieben war, argumentierte: „in many cases yuppies chose to be yuppies, and steelworkers and welfare mothers chose to be what they are.“ Yuppies würden permanent an sich arbeiten und seien deshalb erfolgreicher als andere, die weniger diszipliniert seien. Der Leserbriefschreiber attestierte Yuppies aus diesem Grund eine Abneigung gegen hohe Steuern und Sozialabgaben.25 Ein anderer Meinungsartikel, der sich mit der Frage befasste: „Why does everyone hate yuppies?“ kam ebenfalls zu dem Schluss, dass es daran liege, dass das Leben von Yuppies nach ökonomischen Kriterien wie Effizienz, Pragmatismus und Rationalität organisiert sei, und dass sie damit durchaus erfolgreich seien.26 Das „Wall Street Journal“ hatte sich bereits Ende 1984 positiv gegenüber Yuppies positioniert. „The Yuppie is confident in the rejection of oldfashioned, no-risk, no-growth ideas.“ Als Yuppie-Vorbilder nannte das Blatt Milton Friedman, den republikanischen Abgeordneten Jack Kemp, der sich wiederholt für niedrigere Steuern eingesetzt hatte, und George Gilder, einen Advokaten der Angebotspolitik.27 Die Zeitung fragte: „could it be, in fact, that we’re all Yuppies now?“ Einschränkend fügte sie hinzu: „Ralph Nader,

„The Short Happy Life of the American Yuppie“, in: Esquire 2/1988, S. 100–109, hier S. 109. 24 Ebd. 25 „Look at it from the Yuppie’s Side“, in: The Washington Post, 4.2.1989. 26 „The Perfect Fall Guys“. 27 Jack Kemp war 1989–1993 Bauminister unter George H. W. Bush und im Präsidentschaftswahlkampf 1996 Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten. Gilder veröffentlichte 1981 „Wealth and Poverty“, in dem er das Konzept der Angebotspolitik popularisierte. Ronald Reagan berief sich häufig auf Gilder. Vgl. Rodgers, Age, S. 68–73. 23

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and the editors of The Nation are out. Western European welfare staters are decidedly un-Yuppie“.28 Dieser Beitrag, in dem neoliberale Bezüge besonders deutlich zum Ausdruck kamen, bildete jedoch eine Ausnahme. Yuppies wurden in der USamerikanischen Medienberichterstattung seltener explizit mit den neoliberalen Reformen der Reagan-Regierung in Verbindung gebracht. Auch nach dem Ausscheiden Gary Harts aus dem Präsidentschaftsvorwahlkampf und dem zweiten Wahlsieg Reagans wurden sie zumeist nicht als seine Hauptunterstützer porträtiert. Ihr Aufkommen wurde – im Unterschied zum britischen Fall – ebenfalls nicht als Konsequenz der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen gesehen. Es sei vielmehr eine weitere Phase, die die Baby-Boomer durchliefen: „just another stage in the life quest of the baby boomers, the successor to the hedonism of the 1960 s and the obsessive selfimprovement of the Me decade.“29 Den Yuppies wurde nun allerdings vorgeworfen, im Unterschied zu der jungen Generation der 1960er- und 1970erJahre, apolitisch und nur am individuellen beruflichen sowie materiellen Erfolg interessiert zu sein.30 Die Bezeichnung „Yuppie“ war aufgrund der negativen Konnotationen und der stereotypen Beschreibungen ausschließlich ein Zuschreibungsphänomen und keine Selbstbeschreibungskategorie. Auch diejenigen, die als „Vorzeige-Yuppies“ porträtiert wurden, wie etwa Absolventen der Harvard Business School, wiesen die Zuschreibung von sich.31 Gleichwohl wurden vor allem Personen als Yuppies charakterisiert, die in Branchen – zumeist im Finanzwesen – tätig waren, die aufgrund der Reformen der Reagan-Regierung boomten. Dazu gehörten etwa die Deregulierung des Finanzwesens sowie eine laxere Regulierung von Monopolen. Im Zuge dessen kam es zu einer Vielzahl von Unternehmenszusammenschlüssen und mitunter feindlichen Firmenübernahmen.32 Im Vergleich zur Berichterstattung über das Konsumverhalten und den Lebensstil von Yuppies wurde ihre Arbeitswelt und -moral aber in deutlich geringerem Maße thematisiert. Dominik Geppert ist insofern zuzustimmen, als dass die Jobs und die Arbeitsmoral der als Yuppies beschriebenen Personen

„Yippie for Yuppies“, in: Wall Street Journal, 28.12.1984. „The Birth and – Maybe – Death of Yuppiedom“, in: Time, 8.4.1991. 30 „The Perfect Fall Guys“; „Fears for ‚Younger Generation‘ Persist“, in: Chicago Tribune, 8.3.1985; „The Short Happy Life of the American Yuppie“, S. 102. 31 „The Short Happy Life of the American Yuppie“, S. 102 f. 32 Biebricher, Neoliberalismus, S. 116 f; Robert M. Collins: Transforming America. Politics and Culture during the Reagan Years, New York u. a. 2007, S. 93–100. 28 29

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in den USA weniger stark im (negativen) Fokus standen als im Vereinigten Königreich. Dies galt allerdings nicht für das ostentative Konsumverhalten, das durchaus auch in den USA Gegenstand der Kritik war.33

2. Yuppies in Großbritannien: Das Gesicht von Margaret Thatchers Politik

Im Vereinigten Königreich lassen sich im Vergleich zur US-amerikanischen Berichterstattung Unterschiede in der Porträtierung von Yuppies erkennen. Hier wurden sie als Repräsentanten der neoliberalen Politik Margaret Thatchers beschrieben. Dies galt sowohl für die gesellschaftlichen als auch für die wirtschaftlichen Reformen. Die ersten Berichte über Yuppies im Vereinigten Königreich bezogen sich auf die USA, zunächst im Kontext der Präsidentschaftsvorwahlen und Harts Erfolgen. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre und vor allem nach Thatchers drittem Wahlsieg 1987 standen vornehmlich britische Yuppies im Fokus. Zu dieser Zeit hatte der „britische Yuppie“ auch eine konkrete Gestalt angenommen. Es handelte sich um junge Beschäftigte im Finanzdistrikt der Londoner City und dabei insbesondere um die Dealer an der Börse. Sie galten als die Verkörperung des Yuppies. Dass dies so war, hatte in hohem Maße mit den neoliberalen Reformen der Thatcher-Regierung zu tun, insbesondere mit der Liberalisierung des Finanzwesens. Die Thatcher-Regierung ging zunächst vorsichtig an die Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft heran. In ihrem ersten Wahlkampfprogramm von 1979 wurde dieser Aspekt nur sehr kurz erwähnt und es waren lediglich kleinere Unternehmen zur Privatisierung vorgesehen.34 In ihren ersten Regierungsjahren standen die Bekämpfung der Inflation und die Kontrolle der Geldmenge im Vordergrund des wirtschaftspolitischen Handelns.35 Die weitreichenden Privatisierungs- und Deregulierungsvorhaben, die auch im Rückblick als Signum Thatchers neoliberaler Reformen gelten, fielen erst in ihre zweite bzw. dritte Amtszeit.36 Für die Wahrnehmung des britischen

Dominik Geppert: Konservative Revolutionen? Thatcher, Reagan und das Feindbild des „Consensus Liberalism“, in: Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 271–289, hier S. 277. 34 Vgl. Conservative General Election Manifesto 1979, 11.4.1979, URL: [6.9.2017]. 35 Vgl. den Beitrag von Wenke Meteling in diesem Band. 36 Vgl. Dominik Geppert: „Englische Krankheit“? Margaret Thatchers Therapie für Großbritannien, in: Frei/Süß, Privatisierung, S. 51–68. 33

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Yuppie-Phänomens und für die Konturierung eines idealtypischen Yuppies war insbesondere die Deregulierung der britischen Börse zentral. Bis in die 1980er-Jahre hinein war der London Stock Exchange (LSE) ein hochgradig regulierter, kartellähnlich organisierter „private men’s club“.37 Bis 1973 waren Frauen vom Handel an der Börse ausgeschlossen. Noch 1971 sprach sich die Mehrheit der als Mitglieder an der Börse zugelassenen Männer gegen eine Mitgliedschaft von Frauen aus. Im darauffolgenden Jahr erlaubte dann das Leitungsgremium des LSE die Aufnahme von Frauen.38 Auf Kritik stieß ebenfalls die Entscheidung der LSE-Leitung, dass Mitglieder der Börse für ihre Dienste werben durften. Dies war bis 1973 verboten. Die Broker-Firmen führten unter anderem als Argument gegen die Werbeerlaubnis an, dass dies des Berufsstands unwürdig sei.39 Weitere zentrale und anachronistische Merkmale der Londoner Börse waren die festgelegten Mindestprovisionen, die für alle Broker galten. Außerdem waren Broker und Jobber getrennt voneinander. Broker waren die Mittelspersonen, die zwischen ihren Klienten und den Jobbern das Geschäft vermittelten und abwickelten. Jobber waren diejenigen, die den tatsächlichen Handel auf dem Parkett tätigten. Unter den bestehenden Regularien konnten Broker und Jobber jedoch nicht dieselbe Person sein.40 In der City als Ganzes waren in den 1970er-Jahren ebenfalls mehrheitlich konservative Kräfte vorherrschend. Ein Großteil der leitenden Beschäftigten entstammte einem überschaubaren Kreis wohlhabender Familien und viele hatten dieselben Privatschulen besucht. Exklusive Netzwerke und Seilschaften waren deshalb in diesem Umfeld besonders ausgeprägt. Der Druck, das verkrustete System zu reformieren, kam in erster Linie von außen. Das „Office of Fair Trading“ erhöhte unter den Labour-Regierungen bereits in den 1970er-Jahren den Reformdruck, was dazu führte, dass bald auch Frauen sich an der Börse betätigen durften und das Werbeverbot aufgehoben wurde. Ende der 1970er-Jahre drohte ein Verfahren vor dem „Restrictive Practices Court“ (RPC), das, wenn es zu Ungunsten der Börse ausgegangen wäre, auf einen Schlag die Aufhebung eines Großteils der Regulierungen zur Folge gehabt hätte. Hoffnungen, dass die konservative Regierung das Verfahren einstellen würde, zerschlugen sich schnell. Stattdessen wurden für Oktober 1983 Verhandlungen vor dem RPC festgesetzt. Gerade noch rechtzeitig vor Beginn Richard Vinen: Thatcher’s Britain. The Politics and Social Upheaval of the Thatcher Era, London 2009, S. 181. 38 David Kynaston: The City of London. Band 4: A Club No More, 1945–2000, London 2001, S. 420. 39 Ebd., S. 424 f. 40 Ranald C. Michie: The London Stock Exchange. A History, Oxford 2001, S. 545–547. 37

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des Verfahrens einigte sich das Leitungsgremium der Börse jedoch mit dem nach Thatchers zweitem Wahlsieg neu ins Amt des Handels- und Verkehrsministers gekommenen Cecil Parkinson darauf, dass die Börse sich bis Ende 1986 selbst reformiere und dereguliere und dafür die Verhandlungen vor dem RPC ausgesetzt würden.41 Eine der Hauptforderungen der konservativen Regierung war die Abschaffung der festgelegten Provisionen. Noch stärker als der juristische Druck, die Londoner Börse zu reformieren, wirkte allerdings die Abschaffung der Devisenverkehrsbeschränkungen bereits kurz nach Thatchers Regierungsantritt 1979. Die Devisenbeschränkungen hatten die Londoner Börse in weiten Teilen vor internationaler Konkurrenz geschützt, indem sie sowohl Kapitalinvestitionen im Ausland als auch ausländische Investitionen im Inland sehr stark einschränkten. Durch den Wegfall der Devisenbeschränkungen wurde die Londoner City Teil der globalen Finanzmärkte.42 Schnell wurde jedoch ersichtlich, dass die hochgradig regulierte Londoner Börse international nicht wettbewerbsfähig war. Ihr blieb deshalb gar nichts anderes übrig, als sich zu deregulieren. Dies tat sie umfassend zwischen den Jahren 1983 bis 1986. Als Tag, an dem die vereinbarten Reformen in Kraft treten sollten, wurde der 27. Oktober 1986 festgesetzt, der als „Big Bang“ in die Geschichte einging. Da bereits seit 1983 die Bedingungen für den „Big Bang“ feststanden, nutzten die Banken und die Börse die verbleibende Zeit, um sich auf den Knall vorzubereiten. Hier begann nun der Aufstieg des idealtypischen britischen Yuppies. Durch die Deregulierung konnten nun auch britische und ausländische Handels- und Investmentbanken direkt an der Börse handeln, da das Broker/Jobber-System abgeschafft wurde und nun eine Person oder Institution Aufträge von Kunden annehmen und selbst an der Börse handeln konnte. Eine Vielzahl von Banken kaufte sich in die bereits bestehenden Broker- und Jobber-Firmen ein oder übernahm sie ganz. Durch die Deregulierungsreformen strömten sowohl aus dem Ausland als auch aus dem Inland hohe Kapitalsummen in die Londoner City. Dies wirkte sich, da die festgelegten Provisionen wegfielen, auf die Gehälter der an der Börse Handelnden aus. Die Handels- und Investmentbanken benötigten die Expertise der Jobber und Broker. Bereits vor dem „Big Bang“ begann ein Kampf um die talentiertesten Börsenhändler, der in erster Linie über die Gehälter geführt wurde.43 Vor dem

Ebd., S. 547–553. Graham Stewart: Bang!, A History of Britain in the 1980s, London 2013, S. 54–56. Vgl. zum Finanzialisierungskonzept: Alexander Engel: The Bang after the Boom: Understanding Financialization, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015) 3, S. 500–510. 43 Michie, London, S. 555–557; Stewart, Bang, S. 393 f. 41 42

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„Big Bang“ hatten vornehmlich Absolventen von Privatschulen oder zumindest Angehörige der oberen Mittelklasse an der Börse gehandelt. Die soziale Abgrenzung brach nun teilweise auf. Zunehmend eröffneten sich auch für aufstrebende, risikoaffine junge Broker aus der Arbeiter- oder unteren Mittelschicht schnelle Karrierechancen. Dies galt insbesondere an der Terminbörse „LIFFE“, die 1982 öffnete, nachdem die Devisenbeschränkungen weggefallen waren. LIFFE war wesentlich weniger exklusiv und reguliert als der London Stock Exchange und zeigte noch einmal deutlich die Anachronismen des LSE auf.44 Ein Essay im Magazin „Spectator“ mit der Überschrift „The new club of rich young men“ beschrieb die Veränderungen in der City noch vor dem Big Bang wie folgt: „It is difficult to estimate the number of young investment bankers, stockbrokers, and commodity brokers earning £ 100,000 a year. Perhaps there are only a couple of thousand, but they are so mobile and noisy that they give the impression of being far more numerous. Most are aged between 26 and 34, and two years ago they were being paid £ 25,000, in some cases even less, until the opening of the City market precipitated an epidemic of headhunting and concomitant salaries.“45

Die Yuppies galten als das Gesicht des spektakulären Wandels der Londoner City, der durch die Reformen der Thatcher-Regierung ausgelöst worden war.46 Teilweise gingen die Liberalisierungen weiter als etwa in den USA. Dort bestand beispielsweise weiterhin eine Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken, die im Vereinigten Königreich unter Thatcher aufgehoben wurde. So wurde London vor allem für US-amerikanische Banken noch interessanter.47 Yuppies waren außerdem die Repräsentanten eines neuen Arbeitsethos, das in die City einzog und sich an US-amerikanischen Vorbildern orientierte. Vor der Deregulierung war die City bekannt für entspannte Arbeitszeiten. Leitende Manager kamen zumeist nicht vor 10 Uhr morgens ins Büro und genehmigten sich häufig ein ausgedehntes, mehrstündiges Mittagessen mit Kollegen. Diese Arbeitskultur irritierte insbesondere US-amerikanische Banker und Broker, die in den 1980er-Jahren zahlreich nach London kamen.48 Anders als die traditionellen Akteure der Londoner Börse wurden

Michie, London, S. 557–559. „The New Club of Rich Young Men“, 15.3.1986, in: Philip Marsden: Britain in the Eighties. The Spectator’s View of the Thatcher Decade, London 1989, S. 101–106, hier S. 103. 46 Vgl. dazu: Caryl Churchill: Serious Money, London 1987; Peter Pugh: The City Slicker’s Handbook, London 1988. 47 Stewart, Bang, S. 393 f. 48 Ebd., S. 394. 44 45

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die Yuppies als hart arbeitend porträtiert; ihre Arbeitszeiten erstreckten sich von früh morgens bis spät abends. So beschrieb etwa ein BBC-Fernsehbericht die Yuppies als „the people who drive down there (in die City, SF) between 4.30 and 7.30 in the morning in their Porsches, we’re told.“49 In einer Werbung der Bank und Bausparkasse Alliance & Leicester, die eine frühe Form des automatisierten und zeitunabhängigen Telefonbankings bewarb, karikierten die britischen Schauspieler Hugh Laurie und Stephen Fry zwei Yuppies, die sich noch um Mitternacht im Büro befanden.50

Am Tag nach dem Big Bang porträtierte die Financial Times Yuppies als Revolutionäre der Londoner City. The City Revolution, in: Financial Times Survey 27.10.1986.

Am Tag des „Big Bang“ veröffentlichte die „Financial Times“ eine Illustration unter dem Titel „The City Revolution“, die Yuppies als Revolutionäre darstellte. Während im Hintergrund die Skyline der City zu erkennen war, wurden Yuppies im Vordergrund in revolutionärer Pose abgebildet. Dass es sich um Yuppies handelte, lässt sich an ihrer Ausstattung erkennen. Die Figur im Vordergrund hält ein Mobiltelefon in der Hand. Diese kamen 1985 auf

BBC-Bericht über die Reaktion von „Yuppies“ zur Wahl Margaret Thatchers 1987: https://www.youtube.com/watch?v=CpRYHkXTB6I [10.6.2017]. 50 Vgl. den Werbespot aus dem Jahr 1988: https://www.youtube.com/watch?v=muytd FO5xQg [10.6.2017]. 49

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den Markt und entwickelten sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zu einem Signum von Yuppies.51 Ein mindestens ebenso gutes Erkennungszeichen ist der Terminkalender der Marke „Filofax“ in den Händen der abgebildeten Frau. Dieser in Leder gebundene Ringbuch-Organizer galt als absolutes Yuppie „Must-Have“. In den 1980er-Jahren verzwanzigfachte sich die Zahl der verkauften Terminplaner.52 Ein Filofax spielte sogar die Hauptrolle in der 1990 erschienenen Komödie „Filofax – Ich bin du und du bist nichts“, in der ein Taugenichts, gespielt von James Belushi, den Filofax eines Yuppies findet und aufgrund der detaillierten Aufzeichnungen in der Lage ist, dessen Leben zu leben, während der Yuppie ohne seinen Terminkalender völlig hilflos ist. Der Filofax galt als Symbol des straff durchorganisierten Tags eines Yuppies, der auf Effizienz und optimale Zeitausnutzung ausgelegt war. In ihm wurden nicht nur Arbeitstermine, sondern auch Sport- und Weiterbildungskurse vermerkt. Auch hier finden sich deutliche Parallelen zum neoliberalen Subjekt. Die Illustration in der „Financial Times“ verweist auf die enge Verknüpfung zwischen der Arbeits- und der Konsumwelt bei der Porträtierung von Yuppies. Dabei waren diese häufig nicht voneinander zu trennen. Ein weiteres in den Darstellungen oft aufgegriffenes Motiv war etwa das Trinken von Sekt und Champagner während der Arbeitszeit oder in den Pausen.53 Spezifisch für die Berichterstattung über Yuppies im Vereinigten Königreich war, dass sie als Folge und Resultat der neoliberalen Reformen Margaret Thatchers galten und demnach das Gesicht des Neoliberalismus in Großbritannien waren. Ähnlich wie in den USA wurden Yuppies als überaus ehrgeizig und kompetitiv beschrieben, die einem extremen Individualismus frönten, der sich durch Konsum und dessen ostentativen Zurschaustellung ausdrückte. Yuppies wurden zudem häufig als Repräsentanten einer „Gier“ (Greed)-Kultur beschrieben.54

Vgl. „Veto gegen ‚Yuppiephone‘“, in: Der Spiegel 28/1990, S. 155. Vgl. für die Entwicklung und Verbreitung von Mobiltelefonen in Deutschland: Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld 2008. 52 Vgl. „Filofax, Mobile Downwardly“, in: The Guardian, 23.9.1988; „Hard Times for ‚Yuppie Diaries‘ as Lookalikes Move in“, in: The Guardian, 23.9.1989. 53 Vgl. den BBC-Bericht über die Reaktion von „Yuppies“ zur Wahl Margaret Thatchers 1987: https://www.youtube.com/watch?v=CpRYHkXTB6I [10.6.2017]. 54 Der amerikanische Investor Ivan Boesky erklärte vor der Abschlussklasse der University of California Business School 1986: „Greed is all right, by the way. I want you to know that. I think greed is healthy.“ Kurz darauf wurde er wegen Insidergeschäften angeklagt und verurteilt. Gordon Gekkos (Michael Douglas) „greed is good“-Ansprache aus dem Film Wall Street ist davon inspiriert. 51

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Insbesondere von Thatchers Kritikern wurden diese gesellschaftlichen Veränderungen direkt auf ihre Politik zurückgeführt. Thatcher habe mit ihren neoliberalen Reformen den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, der vor ihrem Machtantritt intakt gewesen sei, zerstört.55 Tatsächlich gibt es eine Reihe von Aussagen Thatchers, die das Individuum und dessen Selbstverantwortung in den Mittelpunkt stellten.56 So betonte Thatcher etwa in einer Rede in New York: „Now, what are the lessons then that we’ve learned from the last thirty years? First, that the pursuit of equality itself is a mirage. What’s more desirable and more practicable than the pursuit of equality is the pursuit of equality of opportunity. And opportunity means nothing unless it includes the right to be unequal and the freedom to be different. […] I would say, let our children grow tall and some taller than others if they have the ability in them to do so. Because we must build a society in which each citizen can develop his full potential […].“57

In diesem Zitat kommt deutlich die Vorstellung vom „Humankapital“ zum Ausdruck. Mit denselben Voraussetzungen ausgestattet, sei es an jedem und jeder Einzelnen selbst das individuelle „Portfolio“ zu erweitern und zu verbessern. Es sei demnach nicht Aufgabe des Staates, soziale Ungleichheiten einzuebnen, sondern er solle lediglich die Voraussetzungen schaffen, damit alle Individuen dieselben Startvoraussetzungen, gewissermaßen dasselbe Grundkapital, besaßen.58 Interessant sind die unterschiedlichen Interpretationen eines sehr ähnlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Wandels in den USA und Großbritannien. Im Vereinigten Königreich wurden die gesellschaftlichen Veränderungen vornehmlich auf Thatchers Politik zurückgeführt. Dies kam besonders

Vgl. die rückblickenden Äußerungen auf die 1980er-Jahre: Mass Observation Archive (MOA): Retrospective on the 1980s, Frühling 1990, SxMOA2/1/31/2 P1044; M381; M2213; L2393; H1806; S496. In der Forschung wird diese Sichtweise jedoch seit kurzem relativiert. Vgl. Jon Lawrence  / Florence Sutcliffe-Braithwaite: Margaret Thatcher and the Decline of Class Politics, in: Ben Jackson / Robert Saunders (Hg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 132–147; Emily Robinson u. a.: Telling Stories about Post-war Britain: Popular Individualism and the ‚Crisis‘ of the 1970s, in: Twentieth Century British History 28 (2017) 2, S. 268–304. 56 Vgl. dazu: Sina Fabian: „Popular Capitalism“ in Großbritannien in den 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 56 (2016), S. 273–295; Amy Edwards: „Financial Consumerism“: Citizenship, Consumerism and Capital Ownership in the 1980s, in: Contemporary British History 31 (2017) 2, S. 210–229. 57 „Speech to the Institute of Socioeconomic Studies“, 15.9.1975, URL: http://www. margaretthatcher.org/document/102769 [21.6.2017]. 58 Vgl. Brown, Revolution, S. 35 f; Payne, Consumer, S. 109 f. 55

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in dem erfolgreichsten Theaterstück des Jahres 1987, „Serious Money“, einer bitterbösen Satire von Caryl Churchill über das Londoner Finanzzentrum zur Geltung. Darin standen die skrupellosen und gierigen Broker im Vordergrund und in der Kritik. Ihr rücksichtloses Verhalten wurde in direkten Bezug zu Thatchers Regierungszeit gesetzt, so etwa in einem Lied am Ende des Stücks. Darin heißt es: „Five more glorious years, five more glorious years. We’re saved from the valley of tears for five more glorious years. Pissed and promiscuous, the money’s ridiculous. Send her victorious for five fucking morious five more glorious years.“59 Das Stück hatte kurz vor der Wiederwahl Thatchers Premiere. „Fünf weitere glorreiche Jahre“ spielte auf die kommende Wahl und auf die Hoffnung auf Thatchers Sieg an. Das unregulierte Leben und Arbeiten gehe weiter, so die Botschaft des Stückes, solange Thatcher regierte. Kritik an Thatcher kam noch von einer ganz anderen Seite. Der katholische Erzbischof von Liverpool kritisierte ebenfalls die Regierung. Diese fördere „‚yuppie values‘, which were creating a hard and uncaring society.“60 Kritik an den Yuppies wurde besonders beim Thema Gentrifizierung laut. In London zogen viele junge Banker und Börsenhändler in traditionelle Arbeiterbezirke im Osten Londons, weil diese nahe an der City lagen oder nahe dem in den 1980er-Jahren neu entstandenen Finanz- und Dienstleistungszentrum rund um den Canary Wharf auf der Isle of Dogs. Teilweise kam es gar zu physischen Angriffen gegen die Zugezogenen. Zum einen herrschte die Angst vor Mieterhöhungen und einer Verdrängung der alteingesessenen Einwohner vor. Zum anderen wurde der Zuzug der vermeintlichen Yuppies auch als das Eindringen des Neoliberalismus in traditionelle Arbeiterbezirke gesehen, der die – in der Wahrnehmung – intakten Arbeiter-Communities zerstöre. Auch in diesem Fall kam Kritik von kirchlicher Seite, etwa vom anglikanischen Bischof von Worcester.61 Die zunehmende Gentrifizierung nahm die anarchistische Gruppe „Class War“ zum Anlass, um in Anlehnung an die erfolgreichen „Rock against

Churchill, Money, S. 111. Vgl. dazu auch: „Money Talks“, in: The Guardian, 30.3.1987; „Junge Zombies“, in: Der Spiegel 50/1987, S. 202. 60 „Roman Catholic Bishops Deride ‚Yuppie Values‘ for Creating a Hard and Uncaring Society“, in: The Guardian, 16.4.1988. 61 „Bishops Come Out Against Yuppies“, in: The Guardian, 23.10.1987; vgl. außerdem: „A Dockside Opportunity for the Yuppies, in: The Guardian, 3.1.1984; „Dockland Original“, in: The Observer, 29.10.1989. Vgl. für zeitgenössische wissenschaftliche Analysen: John R. Short: Yuppies, Yuffies and the New Urban Order, in: Transactions of the Institute of British Geographers 14 (1989) 2, S. 173–188; N. Smith, Of Yuppies and Housing: Gentrification, Social Restructuring, and the Urban Dream, in: Society and Space 5/1987, S. 151–172. 59

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Racism“-Konzerte 20 „Rock against the Rich“-Konzerte zu veranstalten. Diese richteten sich explizit gegen Yuppies, wie den Plakatankündigungen zu entnehmen war. Darauf war ein Yuppie abgebildet, der mit Steinen beworfen wurde.62 Die Konzertreihe sollte mit einem „Anti-Yuppie-Day“ enden. In den von Gentrifizierungen betroffenen Gegenden verteilte „Class War“ Flugblätter, die ebenfalls zu teilweise gewalttätigen Aktionen gegen Yuppies aufriefen.63 Während über Yuppies viel geschrieben wurde, kamen diese selbst wesentlich seltener zu Wort. Wie in den USA wurde der Yuppie-Begriff auch in Großbritannien nicht zur Selbstbeschreibung genutzt. Aufgrund des klaren Fokus auf Banker und Börsenhändler in der Londoner City lassen sich jedoch mehr Berichte finden, in denen diese sich äußern. Allerdings wurden sie nicht gefragt, ob sie Yuppies seien oder sich selbst als solche wahrnahmen. Es wurde vielmehr einfach angenommen, dass sie aufgrund ihres Profils Yuppies waren.64 Anders als in den USA, in denen es eine Auseinandersetzung um den Begriff und seine Zuschreibungen gab, blieb dies im Vereinigten Königreich weitgehend aus. Sowohl in den Medien als auch vereinzelt in wissenschaftlichen Studien wurde insbesondere die Zustimmung der als Yuppies identifizierten Personen zu Thatchers Politik untersucht. Am Tag nach der Wahl 1987 interviewte die BBC junge, Sekt trinkende Börsenhändler in der Londoner City und fragte, ob sie glücklich seien, dass Thatcher die Wahl gewonnen habe. Die einhellige Antwort war ja. Interessant sind die Begründungen, die sie anführen, die in hohem Maße Thatchers neoliberale Politik guthießen und sie für die Stabilität und den wirtschaftlichen Erfolg des Landes verantwortlich machten. Auf die Frage, was passiert wäre, wenn Labour die Wahl gewonnen hätte, antworteten die Befragten, dann würde es ihnen persönlich, aber auch dem Land generell finanziell in naher Zukunft schlechter gehen. Angesprochen auf die zunehmende soziale Ungleichheit, betonte eine Befragte, dass diese durch einen Wahlsieg Labours zwar zunächst wahrscheinlich abgemildert worden wäre. Sie sei jedoch nicht der Ansicht, dass das der richtige Weg sei. Vielmehr seien eine starke Wirtschaft und der daraus folgende Trickle-Down-Effekt die

Das Plakat ist auf der Homepage des Langzeit-Anarchisten Ian Bone zu finden, der bis in die frühen 1990er-Jahre Mitglied der „Class War“-Gruppe war: https://ianbone.wordpress. com/2014/07/21/rock-against-the-rich-launch-and-bookfair-gigs-announced/ [10.6.2017]. 63 „Rock gegen Reiche“, in: Der Spiegel 16/1988, S. 201. 64 Vgl. dazu beispielsweise die Anmoderation zum BBC-Bericht über die Reaktion von „Yuppies“ zur Wahl Margaret Thatchers 1987: https://www.youtube.com/watch?v=CpRYHkXTB6I [10.6.2017]. 62

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beste Lösung. Insgesamt betonten alle Befragten, dass sie sehr zufrieden mit Thatchers Reformen seien, insbesondere mit den gesenkten Steuersätzen. Sie zeigten sich zudem zuversichtlich, dass die wirtschaftliche Stabilität auch während Thatchers dritter Amtszeit erhalten bleibe.65 Während der BBC-Bericht nicht nur bei der Auswahl der Gesprächspartner, sondern auch bei der Moderation darauf achtete, das gängige „Yuppie“Bild zu bestätigen, kamen andere Analysen zu weniger eindeutigen Ergebnissen. Im Vorfeld der Wahl fragte die „Financial Times“ bei „Yuppies“ nach, wie sie wählen würden. Die meisten gaben an, Thatcher zu unterstützen. Allerdings fanden sich auch solche, die betonten, sie würden gegen ihre eigenen Interessen stimmen und sich für Labour oder die SDP-Liberal-Alliance entscheiden. Obwohl sie überzeugt waren, dass Thatcher in finanzieller Hinsicht die vernünftigere Wahl für sie sei, entschieden sie sich gegen sie; entweder, weil sie schon immer Labour gewählt hatten oder aus „sozialer Verantwortung“ heraus, weil sie etwa die zunehmende soziale Ungleichheit kritisierten.66 Der Soziologe David Lazar führte 1985  – also ein Jahr vor dem „Big Bang“ – eine Studie unter Beschäftigten in der City durch.67 Darin kam auch er zu nicht ganz so eindeutigen Ergebnissen. Anhand von drei Kriterien untersuchte er, welchen wirtschaftspolitischen Kurs die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie bevorzugten. Er befragte sie nach ihrer Einstellung zur Privatisierung von Staatsunternehmen, zur progressiven Einkommenssteuer und zum Umgang mit Arbeitslosigkeit und kam zu dem Schluss, dass die große Mehrheit der Beschäftigten dem Markt eine bedeutende Funktion beimesse. Unter ihnen seien aber nur etwa sieben Prozent radikale Neoliberale, die sich einen völlig unregulierten Markt wünschten. Fast die Hälfte vertrete sowohl neoliberale als auch konservative wirtschaftspolitische Ansichten. Sie maßen dem Markt zwar zentrale Bedeutung zu und hießen auch die Privatisierung von Staatsunternehmen weitgehend gut. Allerdings sollte der Staat weiterhin vor allem in sozialpolitischen Belangen Einfluss haben. So sprach sich etwa die Mehrheit gegen eine Privatisierung des Gesundheitssystems oder von Wasser- und Elektrizitätsversorgern aus und für eine progressive Einkommenssteuerverteilung.68 Die wenigsten befürworteten außerdem einen Rückzug des Staates aus der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, um dies dem freien Markt zu überlassen.

Ebd. Vgl. „The Yuppies Who Belie Their Upward Mobility“, in: Financial Times, 1.6.1987. 67 David Lazar: Markets and Ideology in the City of London, London 1990. 68 Ebd., S. 112. 65 66

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Lazar zufolge sahen etwa 13 Prozent der Befragten Thatchers Wirtschaftsreformen wie die Privatisierung und generell einen zunehmenden Rückzug des Staates aus wirtschaftlichen Belangen negativ. In der Altersgruppe der 20–29-Jährigen wurden nur vier Prozent als neoliberal charakterisiert, während sieben Prozent gar in die Kategorie „democratic socialist“ fielen, die die neoliberalen Reformen rundheraus ablehnten. Dies war der höchste Wert in allen Altersgruppen.69 So blieb etwa ein junger Börsenhändler, der aus einer Arbeiterfamilie kam und dessen Vater sich stark in der Gewerkschaft engagiert hatte, auch weiterhin seinen sozialistischen Überzeugungen treu.70 Obwohl es für eindeutige Ergebnisse mehrere und größer angelegte Untersuchungen geben müsste, verweisen die Befunde aus Lazars Studie noch einmal auf die Schwierigkeit, Yuppies als real existierende Sozialfiguren zu verstehen. Dies zeigt auch die Rezeption des Theaterstücks „Serious Money“ durch Banker und Börsenhändler. Das Stück erfreute sich bei ihnen sehr großer Beliebtheit. Einige Banken buchten ganze Vorstellungen für ihre Mitarbeiter.71 Diese waren begeistert von den überzogenen Darstellungen und machten dies durch Zwischenrufe und lautes Gelächter bemerkbar. Sie sangen sogar den Refrain am Ende des Stückes mit. Allerdings bedeutete dies nicht unbedingt, dass sie sich mit den Figuren des Stücks identifizierten. Ein Theaterkritiker sah sich das Stück in Begleitung eines Bankers an. Dieser fand zwar insgesamt die Arbeitsbedingungen der post-„Big Bang“-Ära realistisch dargestellt. Allerdings seien die Figuren sehr stark überzeichnet und hätten kaum etwas mit den realen Beschäftigten der City gemein. Sie seien viel zu eindimensional.72 Wohl die wenigsten Zuschauer aus dem Finanzwesen nahmen das Stück als realistische Darstellung wahr, sondern genossen es, gerade weil es eine Karikatur war. Margaret Thatcher selbst sah Yuppies nicht unbedingt als ihre VorzeigeBürger an. Sie hieß die nicht intendierten Folgen der Bankenderegulierung nicht ausnahmslos gut. So betonte sie bereits kurz vor dem „Big Bang“, dass die stark gestiegenen Gehälter in der City sie sehr beunruhigten.73 Das

Ebd. Ebd., S. 117 f. 71 „Junge Zombies“, S. 202. 72 „Big Bang is Hit on the Knocker“, in: The Observer, 5.4.1987. 73 Interview for CBI News, 10.1.1986, URL: http://www.margaretthatcher.org/document/ 106299 [3.1.2017]. Die neuere Forschung geht davon aus, dass die Thatcher-Regierung die weitreichenden Folgen, die der Big Bang haben würde, nicht intendiert oder vorhergesehen habe. Vgl. Christopher Bellringer / Ranald C. Michie: Big Bang in the City of London: an Intentional Revolution or an Accident?, in: Financial History Review 21 (2014) 2, S. 111–137. 69 70

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riskante Zocken an der Börse widersprach ihren Überzeugungen, in denen Sparsamkeit und eher konservatives statt riskantes kapitalistisches Handeln dominierten.74 Auch andere prominente Konservative warnten davor, dass die Tories in der Öffentlichkeit als „Partei der Yuppies“ angesehen werden könnten.75 Dennoch zeigte sich Thatcher hocherfreut über die bedeutende Stellung, die dem Londoner Finanzplatz zunehmend zukam. Nach der Wahl 1987 war die Freude und Zuversicht der jungen Banker jedoch nicht von langer Dauer. Nur drei Monate später, am sogenannten „Black Monday“, dem 19. Oktober 1987, kam es zum Börsencrash. Innerhalb von 48 Stunden sank der britische Börsenkurs um ein Viertel. In der Folge kam es zu Entlassungen in der City.76 Besonders betroffen waren gerade junge, unerfahrene Beschäftigte. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass sie keinen Bärenmarkt kannten und nicht wussten, wie sie mit fallenden Kursen umzugehen hatten. Mit teilweise großer Schadenfreude berichteten sowohl die britischen als auch die US-amerikanischen Medien über die Entlassungen in den Finanzzentren.77 Innerhalb der ersten fünf Monate waren die Entlassungen jedoch moderat. Von 450.000 Beschäftigten in der City waren 1.000 Jobs weggefallen, darunter allerdings viele bei namhaften Firmen wie Salomon Brothers, Citicorp und Merrill Lynch.78 Am Ende des Jahrzehnts mehrten sich Stimmen, die den „Tod des Yuppies“ diagnostizierten. Dazu hatte der Börsencrash maßgeblich beigetragen.79 Da der Yuppie in Großbritannien als Signum der Thatcher-Jahre galt, verringerte sich die Berichterstattung über ihn nach ihrem Rücktritt. „Yuppie“ blieb allerdings auch in den 1990er-Jahren ein etablierter Begriff. Allerdings wurde er nicht mehr mit derselben Prominenz verhandelt wie in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre.

John Campbell: The Iron Lady, London 2008, S. 249. „Biffen Warns Tories on Danger of Yuppie Image“, in: The Guardian, 11.10.1988. 76 Vgl. zu den Auswirkungen des Crashs: Michael David Kandiah: The October 1987 Stock Market Crash – Ten Years on, in: Contemporary British History 13 (1999) 1, S. 133–140. 77 „Yuppie Fired as Crash Claims its First Victim“, in: The Guardian, 29.10.1987; „Yuppy Lifestyle May Be Ending“, in: Financial Times, 21.10.1987; vgl. für die USA: „After the Fall: Will the Yuppies Rise Again?“, in: New York Times, 2.11.1987. 78 „Where are those Yuppies of Yesteryear?“, in: The Guardian, 22.1.1988. 79 „Death of the Yuppie“, in: The Observer, 15.10.1989; „Where Have All the Yuppies Gone?“ in: Los Angeles Times, 8.3.1988; „How Young Professionals Became the Me Generation: Yuppies“, in: The Guardian, 23.11.1990. 74 75

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3. Yuppies in der Bundesrepublik?

Die Berichterstattung in der Bundesrepublik über das Yuppie-Phänomen unterschied sich stark von der in Großbritannien und in den USA. Über Yuppies wurde wesentlich weniger in den bundesdeutschen Medien berichtet. Sie waren auch nicht in vergleichbarem Maße ein popkulturelles Phänomen wie im Vereinigten Königreich oder in den USA, und sie waren zudem keine besonders kontrovers diskutierten Figuren. Yuppies wurden in der bundesdeutschen Diskussion in erster Linie als neue Konsumenten- und MarketingZielgruppe aufgefasst. Sie galten als die Repräsentanten des „neuen Konsumenten“, der sich durch einen individualisierten Konsumstil auszeichnete. Der Konsum von Yuppies – so die Annahme der Marketing- und Werbeexperten – war nicht mehr durch Klassen oder Schichten definiert, sondern Ausdruck ihres individuellen Lebensstils.80 So erschienen in den 1980er-Jahren sowohl wissenschaftliche als auch eher unterhaltende Veröffentlichungen, die Yuppies als eine neue, zukunftsweisende Konsumentengruppe darstellten.81 Yuppies wurden häufig in Zusammenhang mit anderen neuen Konsumentengruppen genannt, wie „Dinkies“ (Double Income No Kids) oder „Woopies“ (Well-Off Older Person).82 Der Fokus auf den Konsum lässt sich anhand des „Yuppie-Handbuchs“ sehen. Das Handbuch wurde 1984 in den USA veröffentlicht. Kurz darauf kam es in Großbritannien auf den Markt und drei Jahre später in der Bundesrepublik.83 Interessant sind die jeweils nationalen Anpassungen des Buches,

Vgl. zur Diskussion um den „neuen Konsumenten“: Nepomuk Gasteiger: Der Konsument, Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989, Frankfurt am Main u. a. 2010, S.  210 ff; Andreas Wirsching: From Work to Consumption. Transatlantic Visions of Individuality in Modern Mass Society, in: Contemporary European History 20 (2011), S. 22 f; Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium, 1982–1990, München 2006, S. 452 ff. 81 Manfred Auer  / Wolfgang Horrion  / Udo Kalweit: Marketing für neue Zielgruppen. Yuppies, Flyers, Dinks, Woopies, Landsberg/Lech 1989; Dr. Hofner & Partner ManagementBeratung: Leader-Zielgruppen in Westeuropa, in: Marketing Journal (1987) 3, S. 196 f; Manfred Auer: Yuppies als Marktfaktor in den USA, in: Marketing Journal (1987) 5, S.  436 f; Marissa Piesman  / Marilee Hartley: Das Yuppie Handbuch. Einblicke in die Lebens- und Konsumgewohnheiten der Young Urban Professionals, Berlin 1987; Richard Kerler: Die Yuppies. Young Urban Professionals: die neue Generation der Erfolgreichen, München 1987; Claus Peter Müller-Thurau: Großstadtglimmer. Yuppies, Ultras, Dinks und der Glanz des Konsums, Düsseldorf 1988. 82 Vgl. z. B. Müller-Thurau, Großstadtglimmer, S. 106. 83 Vgl. Marissa Piesman  / Marilee Hartley: The Yuppie Handbook. The State-of-the-Art Manual for Young Urban Professionals, New York 1984; Russell Ash / Marissa Piesman / Ma80

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die sich bereits auf dem Cover widerspiegeln. Auf dem deutschen Cover ist vor allem der starke Fokus auf die Marken auffallend. Bei dem abgebildeten Yuppie-Pärchen in Business-Outfits sind die luxuriösen Marken ihrer Kleidungsstücke wie Hugo Boss, Joop und teure Uhren von Ebel aufgelistet. Das Cover des britischen Yuppie-Handbuchs ist sehr ähnlich aufgebaut. Auch darauf sieht man ein Yuppie-Pärchen. Der Fokus liegt ebenfalls in hohem Maße auf Konsumgütern. Allerdings lassen sich dem britischen Cover detailliertere Hinweise zum vermeintlichen Lebensstil von Yuppies entnehmen, da es auch Andeutungen von Lebensmitteln und sportlichen Aktivitäten der Yuppies gibt. Auffällig ist zudem ein Fokus auf neuste technische Geräte wie einen „tragbaren Apple IIc Computer“ und ein schnurloses Telefon.84 Diese verweisen auch auf die Arbeitswelt der Yuppies, die auf dem deutschen Cover fast völlig ausgeblendet wird. In der Werbe- und Marketingdiskussion um Yuppies wurden diese positiv gesehen, da sie über ein hohes Einkommen verfügten und bereit waren, einen großen Teil davon in teure Konsumgüter zu investieren. In der Bundesrepublik gab es in den 1980er-Jahre eine Diskussion um die Zunahme von Luxuskonsum und dessen ostentatives Zurschaustellen.85 In einer „Spiegel“-Titelgeschichte zur „Droge Luxus“ stellten Yuppies „nur eine Untergruppe der Ultras dar.“86 Auch hier wurden Yuppies in erster Linie als Konsumentengruppe beschrieben, die zudem keine klaren Unterscheidungsmerkmale zu anderen Konsumentengruppen wie den „Ultras“ oder den „Schicki-Mickis“ besaßen. Gesellschaftlicher oder politischer Einfluss wurde ihnen in der Bundesrepublik nicht zu geschrieben. Wenn dies in den bundesdeutschen Medien dennoch geschah, dann stets in Bezug auf das Vereinigte Königreich oder die USA. So war etwa die Berichterstattung im „Spiegel“ zu britischen und US-amerikanischen Yuppies auch wesentlich ausführlicher als über westdeutsche.87 Zu einem ähnlichen Schluss kam auch eine Rezensentin des Dokumentarfilms „Kaschmir, Kaviar und Karriere“, der bundesdeutsche Yuppies porträtierte. Diese entsprachen jedoch in zentralen Bereichen nicht dem

rilee Hartley: The Official British Yuppie Handbook. The State-of-the Art Manual for Young Urban Professionals, Horsham 1984; Piesman/Hartley, Yuppie. 84 Ash/Piesman/Hartley, British Yuppie. 85 Vgl. die Spiegel-Titelgeschichte „‚Wer isses bloß, der sich so was leisten kann‘“, in: Der Spiegel 48/1986, S. 230–241; „Hoch im Laden“, in: Der Spiegel 27/1989, S. 48 f. 86 „‚Wer isses bloß, der sich so was leisten kann‘“, S. 234. „Ultras“ bezeichnete in den 1980erJahren eine Konsumentengruppe, die sich durch einen sehr hohen Konsum auszeichnete. 87 Vgl. „Rock gegen Reiche“, in: Der Spiegel 16/1988, S. 201; „Der Ruin des reichen weißen Mannes“, in: Der Spiegel 34/1988, S. 128–130; „Lifestyle – Haribo macht Yuppies froh“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 6.6.1989.

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Yuppie-Image, etwa indem sie sich zum schlichten Leben bekannten oder es ablehnten, einen Kredit aufzunehmen.88 Im Gegensatz zu New Yorker oder Londoner Vertretern dieser Spezies gäbe es, so die Rezensentin, in der Bundesrepublik lediglich „Beinahe-Yuppies“. In einer international vergleichend angelegten wissenschaftlichen Studie wich die als Yuppies kategorisierte Untersuchungsgruppe im bundesdeutschen Fall besonders stark von den unterstellten „Yuppie-Werten“ ab. Sie gaben an, dass sie in ihrem Job nicht erfolgsorientiert seien, vielmehr wünschten sie sich, dass Arbeit weniger Bedeutung zukäme. Ebenso betonten sie, dass sie von einem einfacheren, natürlicheren Lebensstil träumten, was so gar nicht zum zur Schau gestellten Luxuskonsum der Yuppies passte.89 Die weitgehende Abwesenheit von Yuppies in der Bundesrepublik passt zu den Befunden mehrerer Beiträge in diesem Band, dass ein neoliberaler Wandel in der Bundesrepublik nur begrenzt festzustellen ist. Dies zeigte etwa die Steuerpolitik in den 1980er-Jahren.90 Anders als in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien wurden die Steuern nicht vornehmlich zugunsten von Besser- und Spitzenverdienenden gesenkt. Vielmehr blieb die Umverteilungswirkung in der Bundesrepublik weitestgehend bestehen. Helmut Kohl sowie Finanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) sprachen sich teilweise dezidiert gegen den Wirtschaftskurs Thatchers und Reagans aus.91 Ebenso blieb die Privatisierung von Staatsbetrieben hinter den zumindest rhetorisch gesteckten hohen Zielen und weit hinter den tatsächlichen Privatisierungen in Großbritannien zurück.92 Obwohl soziale Ungleichheit auch in Westdeutschland in den 1980er-Jahren zunahm, geschah dies wesentlich abgeschwächter als in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich. In der Bundesrepublik waren es statt der Yuppies die Grünen, die als neue politische und soziale Kraft fungierten.93 Yuppies waren dort demnach in deutlich geringerem Maße eine Projektionsfläche für wahrgenommene gesell„Lebensstilleben“, in: FAZ, 14.5.1987. Peter Ester / Henk Vinken: Yuppies in Cross-National Perspective. Is There Evidence for a Yuppie Value Syndrome?, in: Political Psychology 14 (1993) 4, S. 667–696, hier S. 678, 681. 90 Vgl. den Beitrag von Marc Buggeln in diesem Band. 91 Vgl. dazu auch die Steuerpolitiken im internationalen Vergleich: Marc Buggeln: Steuern nach dem Boom. Die öffentlichen Finanzen in den westlichen Industrienationen und ihre gesellschaftliche Verteilungswirkung, in: AfS 52 (2012), S. 47–89. 92 Vgl. den Beitrag von Thomas Handschuhmacher in diesem Band. Vgl. dazu auch: Frei/ Süß Privatisierung; Wirsching, „Neoliberalismus“. 93 Vgl. die Beiträge von Frank Bösch und Dierk Hoffmann in diesem Band. Dies soll nicht heißen, dass es in Großbritannien und den USA keine Ökologiebewegung gab. Allerdings kam ihr in der Bundesrepublik sowohl politisch als auch gesellschaftlich eine höhere Bedeutung zu. 88 89

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schaftliche und politische Veränderungen, als dies in den USA und Großbritannien der Fall war. Deshalb war das Yuppie-Image auch nicht so dezidiert negativ konnotiert wie im anglo-amerikanischen Raum.

4. Fazit

Im Time Magazine erschien 1991 ein satirischer „Nachruf auf den Yuppie“, der fragte, ob nach 22.000 Artikeln, die zwischen 1983 und 1991 erschienen waren, diese Flut nun ein Ende habe. Als Todesursache nannte der Nachruf „Familie, Finanzen und Ermüdung (Fatigue)“.94 War der Yuppie also nur ein kurzes Medienphänomen der 1980er-Jahre? Obwohl der Yuppie als Zuschreibungskategorie zu verstehen ist und nicht zur Selbstbeschreibung genutzt wurde, steckten hinter den oft klischeehaft zugespitzten Beschreibungen mehr als ein BMW, ein Filofax und rote Hosenträger. Sie waren Projektionsflächen eines wahrgenommen politischen und gesellschaftlichen Wandels der Zeitgenossen, der heute als neoliberal bezeichnet wird. Erklärungen für das Aufkommen von Yuppies und dem damit einhergehenden wahrgenommenen Gesellschaftswandel unterschieden sich allerdings in den zwei hier vornehmlich untersuchten Ländern USA und Großbritannien. In den USA wurden Yuppies vor allem mit sozialen Veränderungen in Verbindung gebracht. Insbesondere die vermeintliche 180-Grad-Wende im Vergleich zu den älteren Baby-Boomern wurde teils erstaunt, teils verärgert kommentiert. Dabei glichen sich Yuppies und die Aktivisten der vergangenen Jahrzehnte darin, dass sie zwar nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft ausmachten, dass ihnen aber eine Vorreiterrolle im gesellschaftlichen Wandlungsprozess zugesprochen wurde. Im Fall der Yuppies wurden diese Veränderungen allerdings vornehmlich negativ bewertet. Die Beschreibungen schilderten Yuppies  – ohne die Begriffe explizit zu nennen  – als idealtypische Ausprägungen der Humankapitaltheorie und der neoliberalen Ökonomisierung des Subjekts. Yuppies organisierten demzufolge ihren Alltag nach einem straffen Zeitplan, um stets ein Maximum im Kosten/Nutzen-Kalkül zu erreichen. Durch Sport und Weiterbildungen strebten sie ein ständiges Self-Improvement an, um ihren „Kapitalwert“ zu steigern. Auch ihr Konsumverhalten wurde als Investitionsstrategie beschrieben. Die Ökonomisierung des Subjekts und die Vorstellungen von „Humankapital“ wurden in Großbritannien ebenfalls wahrgenommen. Auch hier galten

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„The Birth and – Maybe – Death of Yuppiedom“.

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Yuppies als die Vorzeigerepräsentanten dafür. Im Unterschied zu den USA wurden sowohl die gesellschaftlichen als auch politischen Veränderungen Margaret Thatchers Politik zugeschrieben. Dies galt in besonderem Maße für junge Angestellte in Londons Finanzdistrikt. Die Liberalisierung der Börse und des Finanzwesens generell ermöglichte und beschleunigte das Aufkommen von idealtypischen Yuppies. Gerade bei diesen vermeintlichen Idealtypen zeigte sich jedoch, dass Yuppies in der Realität sehr viel schwerer greifbarer waren als in der medialen und popkulturellen Zuschreibung. Die als Yuppies beschriebenen Personen verstanden sich weder in den USA noch in Großbritannien selbst als solche und übernahmen die zumeist stereotyphaften Beschreibungen nicht. Es wäre deshalb interessant und nötig, auf die soziale Praxis der im Finanzwesen tätigen jungen Leute zu schauen, um so möglicherweise neoliberale Überzeugungen im Handeln der Akteure sichtbar zu machen, die über skandalträchtige Einzelfälle hinausgehen.95 Im Kontrast dazu wurden Yuppies in der Bundesrepublik lediglich als eine von vielen neuen Konsumentengruppen beschrieben, die sich über ihren Lebensstil und nicht mehr über sozio-ökonomische Schichtzugehörigkeit definierten. Sie dienten in deutlich geringerem Maße als Projektionsfläche für gesellschaftlichen und politischen Wandel. Dies lag in erster Linie an den im Vergleich zu den anglo-amerikanischen Staaten wesentlich abgeschwächten neoliberalen Reformen. In Westdeutschland waren es stattdessen andere Sozialfiguren, wie der „Öko“, der die mediale Berichterstattung beflügelte. Der Yuppie feiert hingegen seit etwa zehn Jahren ein Comeback in der Populärkultur. Während er in den 1980er-Jahren jedoch zumeist entweder als überzogene Witzfigur oder als zumindest am Ende liebenswürdiger Charakter, wie ihn beispielsweise Michael J. Fox verkörperte, dargestellt wurde, hat sich die Darstellung seit der Finanzkrise 2007/08 gewandelt. Die Porträtierung von Yuppies, wie sie in „Wolf of Wall Street“ (2013) geschieht, stellt nun deutlich den Exzess dar, der das unkontrollierbar gewordene Finanzsystem symbolisiert. Investmentbanker werden nicht mehr als lachhafte Karikaturen gezeichnet, sondern als rücksichtslose Personen, die rechtschaffene Bürger in den Ruin treiben, wie etwa in den Filmen „The Big Short“ (2015) oder in dem deutschen Dokumentarfilm „Master of the Universe“ (2013). So dient der Yuppie auch heute wieder als Projektionsfläche, in diesem Fall für den Wandel und die Entgrenzung des Kapitalismus.

Vgl. Nick Leeson / Edward Whitley: Rogue Trader, London 1997; Jordan Belfort: Der Wolf der Wall Street. Die Geschichte einer Wall-Street-Ikone, München 2014.

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Konzepte wirtschaftspolitischen Handelns

dierk hoFFmann

Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? Von der Kapitalismuskritik der Gründungsphase bis zur Riester-Rente

„Grüne Marktwirtschaft setzt einen effektiven Ordnungsrahmen. […] Der Ordnungsrahmen verhilft der nötigen Vernunft zum Durchbruch, ohne die Produzenten und Konsumenten in ihrer wirtschaftlichen Freiheit zu hindern. […] Grüne Marktwirtschaft stärkt die wirtschaftliche Freiheit und selbstbestimmtes Handeln durch einen fairen Marktzugang, Begrenzung von Marktmacht, Stärkung des Wettbewerbs [durch den] Abbau überflüssiger Bürokratie. […] Was [Unternehmens]Gründungen hemmt, muss abgebaut werden.“1

M

it diesen Aussagen umriss die Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen auf ihrer Homepage 2016 ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Klingen diese Sätze wie aus dem ordoliberalen Lehrbuch, wie ein FAZArtikel unter Verweis auf ähnlich lautende Passagen des nach wie vor gültigen Grundsatzprogramms von 2002 behauptet?2 Nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag 2013 wurde in derselben Tageszeitung jedenfalls die Vermutung geäußert, die Grünen würden nun „ihr liberales Herz“ entdecken und sich zur „legitimen Erbin der siechen FDP“ erklären. Zu dieser Diagnose scheinen auch Meldungen im Frühjahr 2015 zu passen, die Partei wolle mit einem neuen Wirtschaftskonzept auf Unternehmer zugehen. Insbesondere der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretsch-

https://www.gruene-bundestag.de/themen/wirtschaft/die-gruene-marktwirtschaft.html [29.9.2016]. 2 Vgl. Ralph Bollmann: Die Grünen entdecken ihr liberales Herz, in: faz-net vom 7.10.2013. In ihrem Grundsatzprogramm von 2002 bekannten sich die Grünen zum Modell der sozialen Marktwirtschaft, die sie mit ökologischen Ordnungsideen verknüpfen wollten. Vgl. Die Zukunft ist grün, Grundsatzprogramm von Bündnis 90 / Die Grünen, Berlin 2002, S. 50. 1

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mann beabsichtigte, die Grünen als Wirtschaftspartei stärker zu profilieren.3 Verweisen diese Aussagen aber schon auf wirtschaftsliberale Strömungen bei den Grünen und wenn ja, seit wann gab es diese? Haben sich die Grünen von einer eher kapitalismuskritischen hin zu einer teilweise marktliberalen Position gewandelt? Wie ist die programmatische Entwicklung der Partei in den langfristigen Wandel wirtschaftspolitischer Leitbilder nach dem Boom4 einzuordnen? Gab es inhaltliche Schnittmengen mit dem Neoliberalismus? Nach Ansicht mancher Forscher hat diese ökonomische „Ideologie“ in den 1980er Jahren mit der Forderung nach Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung einen globalen Siegeszug angetreten, der erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 beendet wurde.5 Die Beschäftigung mit den Grünen ist in dem Zusammenhang auf den ersten Blick erklärungsbedürftig, denn die Partei zählt in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu den klassischen Vertretern wirtschaftsliberaler Politik. Bei einer Untersuchung, die – wie im vorliegenden Fall – einen Zeitraum von fast 30 Jahren in den Blick nimmt, können jedoch Wirkungsmächtigkeit und Anpassungselastizität wirtschaftspolitischer Leitbilder differenziert analysiert werden. Im Folgenden kann nur ein erster Problemaufriss präsentiert werden, da der Untersuchungszeitraum sehr weit gesteckt ist und empirisch fundierte Studien  – bis auf wenige Ausnahmen  – eigentlich nicht vorhanden sind.6

Vgl. Absage an Rot-Rot-Grün. Kretschmann will Grüne als Wirtschaftspartei, in: SpiegelOnline vom 15.5.2015, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/winfried-kretschmanngruene-muessen-wirtschaftspartei-werden-a-1033890.html [31.8.2017]. 4 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 5 Vgl. Philipp Ther: Der Neoliberalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 5.7.2016, S. 1 f, URL: http://docupedia.de/zg/Ther_neoliberalismus_v1_de_2016 [31.8.2017]. Die konservative Stoßrichtung des Neoliberalismus, dem es vor allem darum gegangen sei, „die vielfältigen Regulierungen des Sozial- und Verwaltungsstaates aus der Zeit des Konsensliberalismus zurückzubauen“, betonen: Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: Dies. (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32, hier S. 29. 6 Dabei sind vor allem die vorzügliche ideengeschichtliche Studie von Silke Mende zur Gründungsphase der Grünen und die etwas statisch wirkende diskursgeschichtliche Überblicksdarstellung von Frieder Dittmar, die sich auf die Programmdebatte auf den Bundesversammlungen konzentriert, zu nennen. Vgl. Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Silke Mende: Von der „Anti-Parteien-Partei“ zur „ökologischen Reformpartei“. Die Grünen und der Wandel des Politischen, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 273–315; Frieder Dittmar: Das Realo-Fundi-Dispositiv. Die Wirtschaftskonzeptionen der Grünen, Marburg 2007; Antonia Gohr: Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren – Eine Herausforderung für die SPD (= ZeSArbeitspapier Nr. 5/02), Bremen 2002. 3

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An dieser Stelle kann es also nur darum gehen, einige Schlaglichter auf einen bisher weitgehend vernachlässigten Untersuchungsgegenstand zu werfen. Dies soll auf drei unterschiedlichen Ebenen geschehen: Der Beitrag geht erstens auf die Wirtschaftsprogrammatik der Grünen in den Anfangsjahren ein, untersucht zweitens Struktur und Funktion der Bundesarbeitsgemeinschaft Wirtschaft und geht drittens der Frage nach Brüchen und Kontinuitäten auf einem zentralen Sozialpolitikfeld, der Rentenpolitik, nach. Dabei wird die Einführung der Riester-Rente 2001 als ein Teil der sozial- und wirtschaftspolitischen Strukturveränderungen begriffen, die unter der rot-grünen Bundesregierung durchgeführt wurden. Abschließend soll noch einmal auf die eingangs gestellten Fragen Bezug genommen und ein vorläufiges Fazit gezogen werden.

1. Zum wirtschaftspolitischen Profil der Grünen Anfang der 1980er Jahre

In der Parteigründung der Grünen 1980 spiegelten sich die wachsenden Unsicherheiten gegenüber Ordnungsmustern und Schlüsselkategorien der modernen Industriegesellschaft wider, die den Wandel der westdeutschen Gesellschaft „nach dem Boom“ charakterisiert hatten. Mit dem Bericht des Club of Rome von 1972 waren die Begriffe „Wachstum“ und „Fortschritt“ immer mehr in die Kritik der westlichen Öffentlichkeit geraten. An diese Debatten konnten die Grünen anknüpfen und später etwa den Begriff des „qualitativen Wachstums“ mit prägen. Gleichzeitig versuchten die Grünen Antworten zu finden, die aufgrund des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft über den fordistischen Arbeitsbegriff und das damit verbundene Sozialstaatsmodell hinausgingen. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Anzahl an Sozialhilfeempfängern begann sich in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine Debatte über die „Zukunft der Arbeitsgesellschaft“ und die „neue Armut“ zu entwickeln. Für die Grünen galt es, konkret Stellung zu beziehen. Dabei standen frühzeitig arbeitsmarkt- und sozialpolitische Themen ganz oben auf ihrer Agenda. Die Grünen waren zwar von Anfang an auf der Suche nach einem eigenständigen wirtschaftspolitischen Programm, das sich von den konzeptionellen Überlegungen der etablierten Parteien der Bonner Republik deutlich unterscheiden sollte. Bei der Umsetzung zeigte sich aber, wie schwer es ihnen fiel, in diesem Politikfeld eine klare Konzeption zu entwickeln. Das hing zum einen damit zusammen, dass Frieden und Ökologie die vorherrschenden Themenfelder waren, bei denen sie klar gegenüber CDU/CSU, SPD und FDP punkten konnten. Das hing zum anderen aber auch mit der Heterogenität der Partei zusammen, die 1980 aus einer Vielzahl außerparlamentarischer

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Bewegungen hervorgegangen war, und den damit verbundenen Sollbruchstellen, die die innerparteilichen Debatten in den 1980er Jahren nachhaltig prägten. Die Grünen hatten sich bereits vor ihrem Einzug in den Bundestag mit arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Fragen beschäftigt. Dabei zeigten sich schnell die zum Teil gegensätzlichen Positionen. Nur die Kritik an der westlichen Konsumgesellschaft verband die einzelnen innerparteilichen Strömungen.7 Das auf der zweiten ordentlichen Bundesversammlung im März 1980 beschlossene Grundsatzprogramm (Saarbrücker Programm) enthielt nur äußerst vage Zielvorstellungen: Die Partei sprach sich zwar gegen „jegliches quantitatives Wachstum“ aus, konnte aber die Forderung nach qualitativem und sozialem Wachstum nicht so recht mit Leben füllen.8 Zu den arbeitsmarktpolitischen Forderungen gehörten unter anderem die Verkürzung der Wochen- und Lebensarbeitszeit bei vollem Lohn- bzw. Rentenausgleich, Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen sowie die Abschaffung von „Leichtlohngruppen“. Bei der Verabschiedung der Wahlplattform zur Bundestagswahl 1980 musste das Spannungsverhältnis zwischen Ökologie und Ökonomie noch offen gelassen werden; ein geplantes Papier zu dieser Thematik kam nicht zustande. Die Wahlplattform stellte jedoch eine kleine Niederlage der K-Gruppen dar, denn im ersten Satz des Wirtschaftsteils war von den Grenzen des Wachstums und den limitierten Rohstoffreserven die Rede, eine Formulierung, die den orthodoxen Linken in der Partei ein Dorn im Auge war, legte sie doch die Forderung nach Verzicht nahe. Der Misserfolg bei der Bundestagswahl 1980 – mit 1,5 Prozent der abgegebenen Stimmen verpassten die Grünen den Einzug in den Bundestag – bremste die Euphorie und führte dazu, dass eine Entscheidung zunächst vertagt wurde. 1982 wollte die Parteiführung die Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen.9 Dafür schien die Ausgangslage günstig zu sein, denn die Bundesrepublik befand sich nach dem zweiten Ölpreisschock in einer schweren Rezession. Für öffentliches Aufsehen sorgte der dreitägige Kongress „Zukunft der Arbeit“ Anfang Oktober 1982 in Bielefeld, der einen Brückenschlag zu den Gewerkschaften bilden sollte, die jedoch eine

Vgl. Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, S. 310–315. Archiv Grünes Gedächtnis (AGG), Grün 041–1 (1980) a, Saarbrücker Programm, S. 7. 9 Dazu hielten die Grünen vom 18. bis 20. Juni 1982 ein bundesweites Treffen in Landau ab. Vgl. AGG, Petra-Kelly-Archiv (PKA), Bd. 3540, Alternative Wirtschaft. Reader zum bundesweiten Wirtschaftsseminar der Grünen in Landau (18.–20.6.1982). Das Treffen sollte ergebnisoffen geführt werden, mit dem Ziel der Erarbeitung eines grünen Wirtschaftsprogramms für den Bundesparteitag im Herbst 1982. Vgl. AGG, B.I.1, Bd. 170, Rundbrief des Bundesvorstandes (Klaus Timpe) betr. Plenumswochenende in Landau. 7 8

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offizielle Teilnahme verweigert hatten.10 Zum Trägerkreis der Veranstalter gehörten nicht nur die Grünen, sondern auch der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, der gewerkschaftsnahe „Arbeitskreis Leben“ sowie die Jungsozialisten der SPD (Jusos). Zum Bielefelder Kongress erschien ein umfangreicher Reader, in dem weniger grüne Parteiprogrammatik als vielmehr der Wettstreit zwischen unterschiedlichen linken bzw. linksliberalen wirtschaftspolitischen Positionen dokumentiert wurde. So sprachen sich die Braunschweiger Grünen in Anlehnung an den tschechoslowakischen Wirtschaftsreformer Ota Šik für einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus aus.11 Dagegen forderte der Ökosozialist Rainer Trampert – einer der Gründungsväter der Grünen – die „gesellschaftliche Aneignung der Produktion“ und unterstützte Formen der Selbstverwaltung „oder entsprechende Versuche, wie Betriebsbesetzungen“12. Unter den über 2.000 Kongressteilnehmern, die in Bielefeld zusammenkamen, fanden sich nicht nur „weite Teile der bundesdeutschen Linken“, sondern auch Jungdemokraten.13 Der Regierungswechsel in Bonn am 1. Oktober 1982 erhöhte den Druck auf die Grünen, ein wirtschaftspolitisches Programm zu verabschieden. Denn in den Koalitionsgesprächen zwischen CSU/CSU und FDP zeichneten sich rasch vorgezogene Bundestagswahlen ab, die der neuen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) eine demokratische Legitimation durch den Wähler verschaffen sollten. Angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes wollte die grüne Parteiführung die für November in Hagen angesetzte Bundesdelegiertenversammlung dazu nutzen, um ein entsprechendes Thesenpapier14 der wenige Wochen zuvor gebildeten Bundeswirtschafts-Arbeitsgemeinschaft verabschieden zu lassen, das sich allerdings nur auf Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit konzentrieren sollte. Dieser Plan scheiterte jedoch, da die nachgeordneten Parteigliederungen das Vorhaben der Parteizentrale ausbremsten.15 Der Entwurf stieß frühzeitig auf zum Teil heftige Kritik in Vgl. Weg von „Ein-Punkt-Partei“, in: Frankfurter Rundschau vom 11.10.1982, S. 1; Null Bock auf Nichtstun, in: ebd., S. 3. 11 Wirtschafts-AG DIE GRÜNEN Kreisverband Braunschweig, Alternatives Wirtschaftsmodell, in: Kongress Zukunft der Arbeit. Wege aus Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung, Bielefeld 1982, S. 64–78. 12 Rainer Trampert: Ansätze grün-alternativer Wirtschaftspolitik, in: ebd., S. 349–354, hier S. 353. 13 Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv, S. 152. 14 AGG, A – Werner Vogel, Bd. 27, DIE GRÜNEN (Bundeswirtschafts-AG), Diskussionsvorlage: Programm gegen Arbeitslosigkeit (18 Seiten). 15 Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf einige Radikalpositionen, die auf dem Parteitag vorgetragen wurden; außerdem wurde eher die Bündnisfrage in den Mittelpunkt der Berichte gerückt. Vgl. Diskussion über Arbeitslosigkeit und Wirtschaftspolitik, in: 10

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den Kreis- und Landesverbänden, wobei es die Parteiführung versäumt hatte, der Parteibasis die Verengung der Auftragsstellung auf die Arbeitsmarktpolitik rechtzeitig zu kommunizieren. Die zahlreichen, zum Teil heftigen Reaktionen hatte die Bundesgeschäftsstelle offenbar nicht erwartet. So monierte der Kreisverband Ebersberg, in dem vorgelegten Entwurf befänden sich „unreflektierte marxistische Aussagen über die Ursachen unserer Wirtschaftsweise“16. Andere nannten ihn „unbefriedigend“ und beantragten eine Zurückstellung des Tagesordnungspunktes.17 Der Entwurf gebe – so der Hauptkritikpunkt – auf die zentralen Fragen keine Antwort, ob und wie eine „strikte Beachtung ökologischer Gesichtspunkte mit einer guten Versorgung der Bevölkerung“ miteinander zu vereinbaren sei. Der Kreisverband Stuttgart sprach sich dafür aus, zunächst ein ökologisches Wirtschaftskonzept zu entwickeln und erst danach Aussagen zur Arbeitsmarktpolitik zu treffen. Ein Programm gegen Arbeitslosigkeit werde „nur das gegenwärtige, wachstumsorientierte System stützen“.18 Eine Gruppe von 20 Frauen aus Nordrhein-Westfalen um Christa Nickels warf der Bundeswirtschafts-AG vor, „die Frauenfrage als eines der wirtschaftspolitischen Kernprobleme, das alle [Hervorhebung im Original] gesellschaftlichen Bereiche berührt, völlig ignoriert“19 zu haben. Angesichts von über 1.000 Änderungsund Ergänzungsanträgen20 und mehreren eingereichten Alternativkonzepten einzelner Kreisverbände sah sich die Bundesgeschäftsstelle schließlich dazu gezwungen, die vorgesehene Beschlussfassung auf eine Bundesdelegiertenversammlung Anfang 1983 zu vertagen und stattdessen einer ergebnisoffenen Diskussion auf der Bundesdelegiertenversammlung in Hagen breiten Raum zu gewähren.21

Tageszeitung (TAZ) vom 15.11.1982, S. 3; Grünes Sonthofen, in: Frankfurter Rundschau vom 15.11.1982, S. 3. 16 AGG, B.I.1, Bd. 18, Globalantrag des Kreisverbands Ebersberg vom 3.11.1982 zum vorgelegten Entwurf des Bundeswirtschafts-AK zur Bundesversammlung in Hagen. 17 Vgl. ebd., Anträge der Kreisverbände Augsburg-Stadt und Augsburg-Land vom 4.11.1982 zur Bundesdelegiertenversammlung in Hagen. 18 AGG, B.I.1, Bd. 20 (Teilband 1), Antrag des Kreisverbandes Stuttgart vom 5.11.1982 zur Änderung der Tagesordnung für die Bundesdelegiertenversammlung. 19 AGG, B.I.1, Bd.  20 (Teilband 1), Antrag an die Bundesdelegiertenversammlung der GRÜNEN in Hagen. 20 AGG, A – Werner Vogel, Bd. 5, Änderungsanträge zur Vorlage der Bundeswirtschafts-AG für die Bundesdelegiertenversammlung der GRÜNEN vom 12.–14.11.1982 in Hagen. 21 AGG, B.I.1, Bd. 18, 3. Rundbrief der Bundesgeschäftsstelle DIE GRÜNEN (Lukas Beckmann) vom 9.11.1982 an alle Delegierten der Bundesversammlung vom 12.–14.11.1982 in Hagen.

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Auf der Bundesdelegiertenversammlung in Sindelfingen, die am 15./16. Januar 1983 vor dem Hintergrund der vorgezogenen Bundestagswahl stattfand, gaben sich die Grünen erstmals ein sozial- und wirtschaftspolitisches Programm mit dem neuen Titel „Sinnvoll arbeiten – solidarisch leben. Gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau“.22 Das Sindelfinger Sofortprogramm war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die einzelnen Parteiströmungen einigen konnten. Der Kompromisscharakter fand sich nicht nur in der Überschrift, sondern auch in der Präambel wieder, in der konkrete wirtschaftspolitische Zielvorstellungen weitgehend fehlten. Die Sorge, ein weiterer, offen ausgetragener Streit könnte die Aussichten bei der bevorstehenden Wahl schmälern, bewog die Delegierten vermutlich dazu, den von einer Dreierkommission überarbeiteten Entwurf fast ohne Änderungen anzunehmen. Zu dieser Kommission gehörten die beiden Sprecher des Bundesvorstands Rainer Trampert und Manon Maren-Grisebach sowie Joachim – genannt „Jo“ – Müller vom Landesverband Bremen, der auf seiner Vorlage handschriftlich vermerkte: „Ein Gemisch unterschiedlicher Positionen – und mehr kann er auch nicht sein.“23 Bei den vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen avancierte die Arbeitsumverteilung zum Schlüsselprojekt grüner Arbeitsmarktpolitik. Dabei betrachtete die Partei die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bereits stark diskutierte 35-Stunden-Woche „nicht als langfristiges Endziel, sondern als Nahziel, das so schnell wie möglich erreicht werden muss.“24 Das Programm enthielt jedoch nicht nur Passagen zur Arbeitszeitverkürzung, sondern auch zur Flexibilisierung von Arbeitszeit. Gleichzeitig wollte es die gesellschaftliche Eigeninitiative und Selbstorganisation stärken und listete dazu einige Alternativprojekte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf, unter anderem Arbeitsloseninitiativen. Das Sindelfinger Sofortprogramm war über weite Strecken zweifellos, wie eine Studie wertete, ein „additiv zu Stande gekommene[r], formelhafte[r]“ Kompromiss,25 der einerseits zwar konkrete Antworten auf die Massenarbeitslosigkeit enthielt, andererseits aber eine eindeutige wirtschaftspolitische Positionierung vermied. Eine Entscheidung wurde erneut vertagt; stattdessen standen miteinander konkurrierende Ansätze im verabschiedeten Programm einfach nebeneinander. Bei der Sichtung der eingereichten Änderungswünsche fällt jedoch auf, dass sich linkssozialistische Positionen entgegen der öf-

AGG, PKA, Bd. 3540. AGG, B.I.1, Bd. 23, Vorlage der Bundeswirtschafts-AG der Grünen zur Bundesdelegiertenversammlung am 15./16.1.1983 in Stuttgart-Sindelfingen. 24 Ebd., S. 13. 25 Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv, S. 179. 22 23

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fentlichen Wahrnehmung in der Presse in der Minderheit befanden. So sprach sich etwa der Landesverband Baden-Württemberg für das „Beibehalten einer Freien Marktwirtschaft“ aus; nur sie garantiere eine „ausreichende, den Wünschen der Menschen entsprechende Versorgung von Gütern“26. Gleichzeitig wurde vor einem „Paralysieren der Wirtschaft durch Radikalkuren“ und einer Senkung des Lebensstandards gewarnt. Der Arbeitskreis des Landesverbandes schlug in dem Zusammenhang ausdrücklich selbstkritische Töne an: Ohne Namen zu nennen, warnte er davor, „uns für unfehlbare Inhaber letzter Weisheiten zu halten“.27 Es waren vor allem die Grünen in Baden-Württemberg und Bayern, die von Anfang an eine eher moderate Position einnahmen. Ihnen ging die teilweise fundamentale Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem der Bonner Republik, die etwa von Parteifreunden in den Stadtstaaten Hamburg und West-Berlin artikuliert wurde, entschieden zu weit. So hatte sich der bayerische Landesverband wenige Wochen vor der Parteigründung auf Bundesebene in Karlsruhe am 12./13. Januar 1980 für eine ergebnisoffene Diskussion über den zukünftigen wirtschaftspolitischen Kurs der Partei ausgesprochen. Dort stießen die Studien von Ota Šik auf so großes Interesse, dass man den ehemaligen tschechoslowakischen Wirtschaftsminister des Prager Frühlings zu einem Vortrag einladen wollte.28 Eine eher vermittelnde Position nahm die Landes-Wirtschafts AG in Nordrhein-Westfalen ein, die auch einen dritten Weg jenseits der privatkapitalistischen und staatssozialistischen Wirtschaftsweise favorisierte.29 Das noch zu entwickelnde Wirtschaftssystem müsse ökologisch, sozial und basisdemokratisch sein. Die Landes-Wirtschafts-AG bemühte sich, diese Zielvorstellung mit konkreten inhaltlichen Forderungen zu füllen, die jedoch insgesamt recht vage blieben. Doch auch die traditionellen Sozialisten, Linkssozialisten bzw. Linksalternativen, die sich 1980 unter dem Dach der neu gebildeten Bundespartei zusammengefunden hatten, vertraten keine einheitliche wirtschaftspolitische Linie. Eine Hochburg linksradikaler Ökologen war der hessische Landesverband,30 der mit antikapitalistischer Rhetorik und rätesozialistischen

AGG, PKA, Bd. 3540, Thesenpapier zur Wirtschaftspolitik der Grünen vom Redaktionsausschuss des Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen des Landesverbandes Baden-Württemberg (Rudolf Kießlinger und Hans Weisbart), S. 1. 27 Ebd. 28 AGG, C  – Bayern I.1, Bd.  1, Anlage zum Protokoll der Landesvorstandssitzung am 12.10.1979, S. 2. 29 AGG, B.I.1, Bd. 23, Alternativentwurf der Landes-Wirtschafts AG NRW (o. D.). 30 Ausführlicher dazu: Zoë Felder: Bündnis 90 / Die Grünen in Hessen. Entstehung und Entwicklung bis zur Landtagswahl 2009, Wiesbaden 2014. 26

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Ideen von sich reden machte.31 Zu den führenden Köpfen gehörte Jutta Ditfurth, die an den ersten Sitzungen der Bundeswirtschafts-AG teilgenommen, aber gegen den vorgelegten Entwurf für die Bundesdelegiertenversammlung in Sindelfingen offenbar keine Einwände erhoben hatte. Die Kritik von links blieb dennoch nicht aus. So zeigte sich der Landesverband Bremen demonstrativ enttäuscht und ließ am Entwurf kein gutes Haar: „Unsere Kritik […] ergab sich aus dem Eindruck, dass in diesem unser ökologischer Ansatz nicht genügend zum tragen [sic!] kommt, dass Arbeitsplatzbeschaffung zu sehr im Vordergrund steht und damit die Kritik an den bestehenden Produkten und Arbeitsverhältnissen zu kurz kommt.“32 Insgesamt handele es sich weniger um ein Wirtschaftsprogramm der Grünen, als um einen „angepassten Forderungskatalog für Verhandlungen mit den Sozialdemokraten“. Dem Landesverband Bremen, der den Entwurf für staatsfixiert hielt, waren die Gespräche ein Dorn im Auge, welche die SPD unter Klaus von Dohnanyi nach den Bürgerschaftswahlen in Hamburg am 6. Juni 1982 mit der Grün-Alternativen Liste (GAL) über die Tolerierung einer Minderheitsregierung aufgenommen hatte. Dadurch wurde die inhaltliche Kontroverse über den zukünftigen Kurs der Partei auch noch durch eine Debatte über eine mögliche Regierungsbeteiligung überlagert. Darüber hinaus standen die grünen Linkssozialisten vor dem Dilemma, dass sie zwar mit Rudolf Bahro in der öffentlichen Wahrnehmung über einen äußerst prominenten Wortführer verfügten, der für die zahlreichen Versuche in der Parteigründungsphase stand, sozialistische Theorie und ökologisches Denken miteinander zu vereinbaren.33 Die integrative Wirkung, die der SED-Dissident zunächst entfaltete, der 1977 im Westen eine viel beachtete Abrechnung mit dem real existierenden Sozialismus publiziert hatte („Die Alternative“)34 und zwei Jahre später in die Bundesrepublik ausreisen konnte, hielt jedoch nicht lange an. Denn Bahro kritisierte ebenfalls den Entwurf der Bundeswirtschafts-AG und versuchte ein Alternativkonzept zu entwickeln,

Vgl. Dittmar, Realo-Fundi-Dispositiv, S. 151. AGG, C – NRW I, LaVo/LGSt, Bd. 322, Antrag der Kreisverbände im Landesverband der Grünen in Bremen an die Bundeswirtschafts-AG und an die Bundesdelegiertenversammlung, 3.11.1982. 33 Vgl. Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, S. 258. 34 Zur Entstehung und Rezeption des Werkes: Guntolf Herzberg / Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 133–172 sowie 223–243; Alexander Amberger: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014, S. 141–173 sowie 184–200. 31 32

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das er an die Parteigremien verschickte.35 Seine Ideen eines erneuerten Sozialismus und einer dualwirtschaftlichen Ordnung verband er allerdings in zunehmendem Maße mit einer „apokalyptisch grundierten Zivilisationskritik“36. Hinzu kam die Tatsache, dass Bahros Einschätzungen teilweise missverständlich waren, was die politische Konkurrenz im Bundestagswahlkampf 1983 genüsslich aufgriff. So sah sich Bahro dazu veranlasst, gegen die von der CDU kolportierte Aussage öffentlich Stellung zu beziehen, er habe den Wunsch geäußert, fünf Millionen Arbeitslose seien fünf Millionen Chancen für ein Umdenken.37 Die außerordentliche Bundesdelegiertenversammlung Anfang 1983 beendete angesichts der Kompromisse beim Sindelfinger Programm nicht die Suche nach einem in sich geschlossenen wirtschaftspolitischen Programm bei den Grünen. So hieß es bereits in der Vorbemerkung: „Bei diesem Programm handelt es sich nicht um das Wirtschaftsprogramm der Grünen, sondern um ein Sofortprogramm gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau“38. Die Formulierung vertröstete alle Beteiligten darauf, in naher Zukunft doch noch eine Richtungsentscheidung zu den jeweils eigenen Bedingungen herbeiführen zu können. Ausschlaggebend war der Zeitdruck, der durch die vorgezogene Bundestagswahl entstanden war. Nachdem die Partei mehrmals öffentlich eine Positionierung in diesem Politikfeld angekündigt hatte, schien eine erneute Vertagung nicht mehr vertretbar zu sein. Da der Bundestagswahlkampf unter dem Eindruck der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit stattfand, rückten somit konkrete arbeitsmarktpolitische Antworten ganz oben auf die Agen-

AGG, A – Werner Vogel, Bd. 27, Anmerkungen von Rudolf Bahro zur Diskussionsvorlage der Bundeswirtschafts AG für die Bundesversammlung (o. D.). Bahros Entgegnungen finden sich auch gedruckt in: Moderne Zeiten, Heft 11 (1982), S. 38–41. 36 Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, S.  255. Bei einer gemeinsamen Sitzung der Fraktion, des Bundesvorstandes der Partei und des Bundeshauptausschusses am 15.11.1983 wurde Bahro vorgeworfen, er betreibe „Weltuntergangsstimmung“. Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, IV. Reihe, Bd. 14/I, 1. Halbband). Bearbeitet von Josef Boyer und Helge Heidemeyer unter Mitwirkung von Tim B. Peters, Düsseldorf 2008, S. 332–339, hier S. 334. Bahro war von November 1982 bis Dezember 1984 Mitglied des Bundesvorstandes und trat im Juni 1985 aus der Partei wieder aus. 37 AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993), Bd. 23, Persönliche Erklärung Rudolf Bahros vom 4.1.1983 über „5 Millionen Arbeitslose“. Die CDU griff das verkürzt wiedergegebene Zitat auch in der Folgezeit immer wieder auf. Vgl. CDU-Extra 28 („Die Grünen. Eine Analyse der öko-marxistischen Radikalopposition“) vom 20.9.1984, S. 15 (http://www.kas.de/wf/doc/ kas_26542-544-1-30.pdf [24.01.2018]). 38 AGG, PKA, Bd. 3540, Sindelfinger Sofortprogramm, S. 2. 35

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da.39 Im Gegenzug konnte es die Partei vermeiden, in einen langwierigen und grundsätzlichen Klärungsprozess ihres wirtschaftspolitischen Kurses einzutreten. Der Preis, den die Grünen dafür zahlen mussten, war allerdings eine indirekte Bestätigung der regionalen Differenzen, die vor allem die Landesverbände stärken sollten.

2. Zwischen Bundespartei und Bundestagsfraktion: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wirtschaft

Die Arbeitsfähigkeit der im Spätsommer 1982 gebildeten BundeswirtschaftsAG litt unter der relativ häufigen Fluktuation ihrer Mitglieder und der Tatsache, dass einzelne Landesverbände (wie z. B. Bremen und Schleswig-Holstein) in dem Gremium zunächst gar nicht vertreten waren. Deshalb schlug die Arbeitsgemeinschaft vor, auf der Bundesdelegiertenversammlung in Hagen offiziell die Einrichtung der AG zu beschließen, „die aus je zwei Delegierten der einzelnen Landesverbände zusammengesetzt“40 sein soll. Der Vorstoß hing freilich auch mit dem turbulenten Diskussionsverlauf über das Wirtschaftsprogramm der Grünen im Vorfeld der Hagener Versammlung zusammen. Nachdem bereits die Parteigründung einen erheblichen Programm- und Vereinheitlichungsdruck ausgeübt hatte,41 stellte die Parlamentarisierung der Grünen auf Bundesebene eine große Herausforderung für die Partei dar. Denn mit dem Einzug in den Bundestag offenbarte sich das Dilemma der Fraktion, die mit basisdemokratischen Prinzipien eine effiziente Arbeitsstruktur im Bundestag entwickeln musste. Als „Anti-Parteien-Partei“ versuchten die Grünen von Anfang an neue Wege zu gehen, um die enge Anbindung der Mandatsträger an die Parteibasis langfristig zu sichern. In dem Zusammenhang nahm vor allem das imperative Mandat eine Schlüsselfunktion im Selbstverständnis der Partei ein. Die erste Bundestagsfraktion, auf die sich das öffentliche Interesse immer mehr verlagerte, schuf dauerhaft organisatorische Strukturen, die das Mitwirkungsrecht der Parteibasis stärken und gleichzeitig zur Professionalisierung der Parlamentsarbeit beitragen sollten. Nach dem Einzug in den Bundestag errichtete die Fraktion beispielsweise rund 40  Regionalbüros, die weitgehend den Wahlkreisbüros der anderen Parteien entsprachen. Zusätzlich wurden zu wichtigen politischen Themenfeldern

Diese fanden dann auch Eingang in den Wahlaufruf der Grünen zur Bundestagswahl am 6.3.1983. Vgl. AGG, B.I.1, Bd. 23. 40 AGG, B.I.1, Bd. 18, Erklärung der Bundeswirtschafts-AG vom 6.11.1982. 41 Vgl. Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 117. 39

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Bundesarbeitsgemeinschaften gebildet, die „zwischen der parteiprogrammatischen Ebene einerseits und dem parlamentarischen Alltagsgeschäft andererseits vermitteln und so für eine Anbindung der Fraktion an die Problemsicht und Kenntnisse der außerparlamentarischen Bewegung“42 zu sorgen hatten. Einen entsprechenden Beschluss fasste zunächst die Bundesdelegiertenversammlung in Sindelfingen, obwohl die Bundeswirtschafts-Arbeitsgemeinschaft, aus der später die BAG Wirtschaft hervorging, zuvor schon bestanden hatte.43 Nachdem der Bundesrechnungshof im Juni 1983 mit dem Hinweis auf das Parteienfinanzierungsgesetz grundlegende Einwände gegen diese von der Fraktion finanzierten Parteigremien geäußert hatte, übernahm die Partei deren Finanzierung. Zweitens standen die BAGs lange Zeit im Schatten der sechs Arbeitskreise der Fraktion, die „der Motor der sachlichen Arbeit“ waren.44 Sie tagten regelmäßig, anfangs einmal wöchentlich, und hatten ihrerseits Unterarbeitskreise. Komplementär zur BAG Wirtschaft gab es somit einen Arbeitskreis „Haushalt, Wirtschaft, Finanzen, selbstverwaltete Betriebe“, in dem in der Legislaturperiode von 1983 bis 1987 Jo Müller, Eckhard Stratmann, Willi Tatge und die Fraktionssprecherin Marieluise Beck-Oberdorf den Ton angaben. Die bestehende Rivalität zwischen Partei und Fraktion fand eine Fortsetzung im ebenfalls strukturell bedingten Konkurrenzverhältnis zwischen BAGs und Fraktionsarbeitskreisen. Letztere waren aufgrund der materiellen und personellen Ausstattung aus Mitteln des Bundestags deutlich im Vorteil. Die Zusammenarbeit zwischen BAG und Fraktionsarbeitskreis wurde intern durchaus kritisch bewertet, wobei sich die Beteiligten die Schuld gegenseitig zuwiesen. So beklagten BAG-Mitglieder, ihre Arbeit werde von den Arbeitskreisen der Fraktion nicht genutzt.45 Im Gegenzug kritisierten Fraktionsvertreter, dass „manche Arbeitsschwerpunkte der BAG […] inhaltlich an den aktuellen parlamentarischen Erfordernissen“ vorbeigingen. Ein Bericht über die Bundesarbeitsgemeinschaften, den die stellvertretende Parlamentarische Geschäftsführerin vermutlich 1984/85 anfertigte, beanstandete außerdem den unzureichenden Informationsaustausch und den fehlenden Kooperationswillen einzelner Abgeordneter. Der Bericht wies schließlich noch auf ein grundlegendes Strukturproblem der BAG hin:46 Einerseits sollte sie dazu

Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987, S. LVII. Das erste Treffen der Bundeswirtschafts-AG fand am 21./22.8.1982 in Koblenz statt. Vgl. AGG, B.I.1, Bd. [443], Protokoll der Sitzung. 44 Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987, S. XLI. 45 Zum Folgenden: AGG, B.II.1, Bd. 3515, Bericht Heidemarie Danns über die Bundesarbeitsgemeinschaften (o. D.). 46 Vgl. ebd., S. 3. 42 43

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beitragen, dass „die Bundestagsgruppe [sic] nicht den Bezug zu der Arbeit an der Basis verliert“. Andererseits hatte sie ein berechtigtes Interesse daran, von der Fraktion inhaltlich nicht gegängelt zu werden. Dieses Dilemma, in dem sich die BAG befand, ließ sich jedoch kaum auflösen. Es überrascht daher nicht, dass die Bundeswirtschafts-AG in den 1980er Jahren weitgehend mit sich selbst beschäftigt war.47 Vorrangiges Ziel war es, das Verhältnis zur Parteiführung und zur Bundestagsfraktion grundsätzlich zu klären; außerdem mussten die Aufgabenbereiche und Kompetenzen der Arbeitsgemeinschaft abgesteckt werden. Auf Initiative der Alternativen Liste Berlin48 trafen sich Vertreter der Landesverbände nach der Bundestagswahl erstmals am 28. Mai 1983 in Frankfurt. Dort wurde der Versuch unternommen, eine verbindliche Arbeitsweise festzulegen und auf Parteiebene ein Gegengewicht zu den Fraktionsarbeitskreisen zu bilden. So plädierten die Teilnehmer des Treffens dafür, die Expertise der Landesverbände in der umbenannten Bundesarbeitsgemeinschaft „Grüne Wirtschaftspolitik“ personell und inhaltlich zu bündeln: „Die aus den Ländern Delegierte [sic!] sollen repräsentativ sein für die dort geleistete wirtschaftspolitische Arbeit, d. h. über Landes-Wirtschafts-AGs, Landesmitgliederversammlungen o. ä. gewählt werden und mit diesen eng zusammenarbeiten“.49 Ansonsten – so die Begründung – hätte die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) ihren Sinn verfehlt, an deren Sitzungen jedoch auch Vertreter aus den betreffenden Arbeitskreisen der Bundestagsfraktion regelmäßig teilnehmen sollten. Während die Fraktionsarbeitskreise für die unmittelbare Tagespolitik zuständig sein sollten, sah die BAG ihre Aufgabe in der „längerfristige[n] konzeptionelle[n] und programmatische[n]“ Arbeit.50 Das Verhältnis zwischen beiden Gremien war jedoch nicht statisch und musste immer wieder neu austariert werden. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik blieb ein zentrales Tätigkeitsfeld der BAG Wirtschaft. Angesichts des durch die Rezession hervorgerufenen Anstiegs der Erwerbslosenzahlen51 sprach sich die BAG kurz nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag für eine Verkürzung der Arbeitszeit aus, wo-

So wurde auf einer Sitzung der Bundeswirtschafts-AG am 7./8.1.1984 kritisiert, dass das Treffen „organisatorisch unzulänglich vorbereitet“ worden sei. AGG, B.II.1, Bd. 59 1/3. 48 AGG, B.II.1, Bd. 59 3/3, Notiz von Rotraut Grashey vom 20.7.1983. 49 AGG, C – BaWü I.1, LaVo/LGSt, Bd. 135, Protokoll der Sitzung vom 28.5.1983, S. 1. 50 Ebd. 51 Vgl. zur Bedeutung des Strukturwandels in den 1970er Jahren generell: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte? Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Bonn 2015; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 47

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bei man nicht nur die Forderung der Gewerkschaften nach Einführung der 35-Stunden-Woche aufgriff, sondern auch andere Modelle diskutierte, wie etwa die Verkürzung der Lebensarbeitszeit und den Ausbau der Teilzeitarbeit. Damit wurden vier Ziele verknüpft: die Schaffung von Arbeitsplätzen, ein „Ausgleich des Verschleißes der Arbeitskraft“, die Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie die Erhöhung der „disponiblen Zeit der Lohnabhängigen“.52 Dabei konnte sich die BAG am 28. Mai 1983 nach längerer Diskussion darauf einigen, die Grenze für einen Lohnausgleich bei einem monatlichen Bruttoeinkommen von 4.000,- DM festzusetzen. Mit ihren teilweise detaillierten Vorstellungen zur Arbeitszeitverkürzung waren die Mitglieder der BAG der Bundestagsfraktion zuvorgekommen, die das Thema erstmals auf einer Klausursitzung Anfang 1984 für sich entdeckte, ohne allerdings konkrete Beschlüsse zu fassen.53 Obwohl sich der zuständige Fraktionsarbeitskreis bereits im Herbst 1983 mit der Thematik beschäftigt hatte,54 brachte die Fraktion erst am 13. November 1987 einen eigenen Entwurf für ein Arbeitszeitgesetz in den Bundestag ein.55 Das Thema Arbeitszeitverkürzung war lange Zeit nur eines von vielen auf der politischen Agenda der Bundestagsfraktion. Das änderte sich schlagartig mit dem Vorstoß des saarländischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der Anfang März 1988 in mehreren Interviews dafür plädierte, zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen die 35-Stunden-Woche ohne vollen Lohnausgleich einzuführen. Damit ging Lafontaine nicht nur auf Distanz zu den Gewerkschaften, sondern setzte auch die Grünen unter Zugzwang, die sich in der Vergangenheit zu einem einheitlichen Kurs in dieser Frage nicht durchringen konnten und nunmehr im Wettstreit der beiden Oppositionsparteien ins Hintertreffen gerieten. In der

AGG, C – BaWü I.1, LaVo/LGSt, Bd. 135, Protokoll der Sitzung vom 28.5.1983, S. 2. Vgl. Protokoll der Klausursitzung der Fraktion am 17.1.1984 mit Anlage A, in: Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987, S. 402–406. 54 Dabei war nach kontroverser Diskussion ein Vermittlungsvorschlag verabschiedet worden, der den vollen Lohnausgleich für die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen ergänzt durch Lohnkostenzuschüsse bei Neueinstellungen über die Bundesanstalt für Arbeit vorsah. Die Lohnkostenzuschüsse sollten über eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen und Beamten finanziert werden. Vgl. AGG, B.II.1, Bd. 59 3/3, Protokoll der Sitzung des AK Haushalt, Wirtschaft und Finanzen vom 11.10.1983, S. 2. 55 Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/1188 vom 13.11.1987. Auf der Grundlage eines Regierungsentwurfs konnte das Arbeitszeitgesetz erst in der 12. Wahlperiode verabschiedet und am 6.6.1994 in Kraft treten. Vgl. Dietrich Bethge: Arbeitsschutz, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, hg. von Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 200–235, hier S. 233. 52 53

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öffentlichen Auseinandersetzung um Meinungsführerschaft schien der sozialdemokratische Ministerpräsident, der mit diesem Vorschlag seinen Ruf als unorthodoxer Querdenker zu festigen versuchte, einen Etappensieg errungen zu haben. Bei einer Sondersitzung am 2. Mai 1988, zu der die Bundestagsfraktion auch Gewerkschaftsvertreter eingeladen hatte, traten die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Fraktion offen zu Tage. In der kontrovers geführten Diskussion konstatierte Stratmann, es sehe nicht so aus, „als hätten wir [Die Grünen] ein einheitliches Programm“.56 Während der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Hubert Kleinert, dem Vorstoß Lafontaines einiges abgewinnen konnte und die Kritik der Gewerkschaften „in mehreren Punkten [für] falsch und unglaubwürdig“ hielt, warnte der Abgeordnete Uli Briefs vor der Entstehung einer „sozialreaktionäre[n] Entwicklung“.57 Dagegen nahm Beck-Oberdorf in ihrer Stellungnahme die Erwerbsmöglichkeiten von Frauen in den Blick, für die im Zuge von Arbeitszeitverkürzung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet werden sollten. Ihrem Selbstverständnis nach betrachtete sich die BAG Wirtschaft offenbar als eine Art Think Tank der Partei, in der langfristige konzeptionelle Überlegungen entwickelt und diskutiert werden sollten. Sie überließ die tagespolitische Arbeit der Bundestagsfraktion und ihrer Arbeitskreise. An den einzelnen Sitzungen,58 die jeweils einem Schwerpunktthema gewidmet waren, nahmen immer wieder Wissenschaftler als externe Gäste teil, die den Grünen teilweise nahestanden. Dort stellten etwa Mitarbeiter des Freiburger Öko-Instituts 1984 ihre Projektzwischenergebnisse zu einer „ökologisch orientierten Wirtschaft“ vor.59 Da einzelne Mitglieder der BAG Wirtschaft auch noch ein Bundestagsmandat besaßen, konnten die in der BAG entwickelten Ideen indirekt in die tagespolitische Arbeit der zuständigen Arbeitskreise der Bundestagsfraktion mit einfließen. In dem Zusammenhang nahmen anfangs Beck-Oberdorf und

Protokoll der Fraktionssondersitzung vom 2.5.1988, in: Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987–1990 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, IV. Reihe, Bd.  14/II, 1. Halbband). Bearbeitet von Wolfgang Hölscher und Paul Kraatz, Düsseldorf 2015, S. 440–451, hier S. 444. Die Fraktionssprecherin Christa Vennegerts hatte kurz zuvor in einer Pressemitteilung ganz allgemein „eine drastische Verkürzung“ der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich für untere und mittlere Einkommen gefordert. Pressemitteilung Nr.  211/88 der Fraktion Die Grünen vom 29.4.1988, in: ebd., S. 451. 57 Ebd., S. 442. 58 Da es im AGG keinen eigenen, in sich geschlossenen Teilbestand zur BAG Wirtschaft gibt, befinden sich die einzelnen, hier auch zitierten Sitzungsprotokolle vielmehr an unterschiedlichen Orten. 59 AGG, B.II.1, Bd. 59 1/3, Protokoll des Gesprächs mit Frieder Rubik, Christel Rosenberger und Volkerts vom Freiburger Öko-Institut am 20.2.1984. 56

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Stratmann, die in beiden Gremien saßen, eine Vermittlungsfunktion ein. Im Bundestag forderte Stratmann bereits frühzeitig zusätzliche Investitionen für eine langfristige und umweltfreundliche Energieversorgung und Maßnahmen zu einer „ökologischen Kohlepolitik“.60 Darüber hinaus wurde auch die Vergabe von staatlichen Subventionen für krisengeschüttelte Industriezweige auf den Prüfstand gestellt. Hierbei konnten sich jedoch mitunter Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundestagsfraktion auf der einen und einzelnen Landesverbänden auf der anderen Seite ergeben, wie das Beispiel der Werftenindustrie anschaulich macht. Nachdem die Grünen gemeinsam mit CDU/CSU und FDP einen Antrag der Sozialdemokraten auf Bundeshilfe im Wirtschaftsausschuss des Bundestages abgelehnt hatten, protestierte die grüne Fraktionsgemeinschaft in der Bremer Bürgerschaft heftig. Diese Entscheidung widerspreche „unsrer Politik vor Ort und macht uns das Leben gegenüber der SPD wie gegenüber den Werftbeschäftigten nicht gerade leichter“61. Die Parteifreunde hätten sich mit ihrem Votum als „Dogmatiker“ verhalten, und zwar „ohne Kenntnis der konkreten Situation, der realen Alternativen und der Auswirkungen auf die Betroffenen“.62 Stattdessen sprachen sich die Bremer Grünen dafür aus, die Zahlung von Bundeshilfen an Produktionsumstellungen und an erweiterte Mitspracherechte der Belegschaften zu koppeln. Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 stellte zweifellos einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Grünen dar. Mit 4,8 Prozent der im Wahlgebiet West abgegebenen Zweitstimmen verfehlten sie den Einzug knapp, aber mit deutlichen Verlusten. Aufgrund einer Sonderregelung für Ostdeutschland zogen acht Mandatsträger von Bündnis 90 in die erstmals gesamtdeutsche Volksvertretung ein, die allerdings keinen Fraktionsstatus erhielten. Mit der Wahlniederlage verloren alle bisherigen Mandatsträger und ein Großteil der Mitarbeiter und Referenten ihren Job. Als 1990/91 auch noch viele Köpfe des linken Flügels ihrer Partei den Rücken kehrten,63 die bis dahin vor allem die arbeitsmarktpolitische Ausrichtung der Grünen maßgeblich mitbestimmt hatten, verschoben sich die innerparteilichen Gewichte: So waren erfahrene und prominente Fundis, wie etwa Jürgen Reents, Thomas Ebermann, Rainer Trampert und die bereits erwähnte Jutta Ditfurth, nicht mehr mit an Bord. Mit der Wahlniederlage gab es auch keine Fraktionsarbeitskreise mehr. Im

AGG, B.II.1, Bd.  59 2/3, Pressemitteilung Nr.  383/83 der Bundestagsfraktion vom 30.9.1983, S. 2. 61 AGG, B.II.1, Bd. 59 3/3, Ralf Fücks am 9.12.1983 an Eckard Stratmann und Dieter Burgmann (Arbeitskreis Wirtschaft der Bundestagsfraktion), S. 1. Das Schreiben beginnt mit der Anrede: „Liebe grüne Astronauten im Bonner Raumschiff“. 62 Ebd., S. 2. 63 Vgl. Saskia Richter: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010, S. 306. 60

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Gegenzug gewannen die teilweise neu gebildeten, nach wie vor mit Vertretern aus den Landesverbänden besetzten BAGs – ab 1993 firmierte die BAG Wirtschaft unter der Bezeichnung BAG Wirtschaft/Finanzen64 – wieder an Bedeutung. Mit dem Wiedereinzug in den Bundestag 1994 setzte sich der Personalwechsel bei den Grünen weiter fort; neue Gesichter prägten nunmehr das wirtschaftspolitische Erscheinungsbild der Partei in der Öffentlichkeit. Die späteren Karrieren von Christine Scheel und Oswald Metzger, die sich in den 1990er Jahren schnell den Ruf als Finanzexperten der Partei erwarben, lassen sich teilweise vor diesem Hintergrund erklären. Der personelle Wechsel in der BAG Wirtschaft und im Fraktionsarbeitskreis ging mit einer inhaltlichen Neuausrichtung der Partei einher, die sich aber schon vor der Bundestagswahl 1990 angekündigt hatte. Im Kern ging es darum, neue Wege bei der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie auszuloten und dabei auch Berührungsängste im Umgang mit dem politischen Gegner – insbesondere mit der CDU – abzubauen. 1988 hatte die grüne Bundestagsfraktion eine parlamentarische Initiative gestartet, die darauf abzielte, die Bundesregierung zu einer umweltökonomischen Berichterstattung zu bewegen. Parallel zum Jahreswirtschaftsbericht sollte es regelmäßig einen Jahresbericht zu den ökologischen Folgekosten der bundesdeutschen Wirtschaft geben. Den Wirtschaftsexperten der Grünen ging es aber noch um sehr viel mehr: Sie wollten das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 reformieren und „ein neues Grundgesetz der Wirtschaftspolitik“65 schaffen, das freilich den wirtschaftspolitischen Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft nicht in Frage stellte. Konkret ging es darum, das stetige Wirtschaftswachstum im Zielkatalog zu streichen und dort stattdessen die Umweltverträglichkeit des Wirtschaftens aufzunehmen. Das traditionelle Magische Viereck sollte erweitert werden und folgende Ziele enthalten: „Ökologisches Wirtschaften, Arbeit für alle, gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, Preisniveaustabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht“66. Die grüne Bundestagsfraktion beauftragte das Progress-Institut für Wirtschaftsforschung damit,

AGG, C – Baden-Württemberg I.1, LaVo/LGSt, Bd. 1 1/3, Protokoll der Gründungsversammlung der BAG Wirtschaft/Finanzen am 30.10.1993. 65 AGG, A  – Joschka Fischer, Bd.  166, Pressemitteilung der Grünen im Bundestag Nr. 1048/89 vom 14.12.1989. Vgl. zur öffentlich geführten Debatte: Eckhard Stratmann-Mertens / Rudolf Hickel / Jan Priewe (Hg.): Wachstum. Abschied von einem Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik, Frankfurt am Main 1991. 66 AGG, A  – Joschka Fischer, Bd.  166, Pressemitteilung der Grünen im Bundestag Nr. 1048/89 vom 14.12.1989, S. 1. 64

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einen Alternativentwurf zum „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ zu erarbeiten; ein entsprechendes Konzeptpapier lag bereits zwei Wochen später vor.67 Die Pläne der Grünen stießen teilweise bei Bundestagsabgeordneten anderer Parteien auf Unterstützung. 1989 bildete sich im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestags eine interfraktionelle Arbeitsgruppe mit Josef Grünbeck (FDP), Dietrich Sperling (SPD), Eckhard Stratmann und Kurt Biedenkopf (CDU), die relativ zügig einen Konsens über einen fraktionsübergreifenden Antrag zur ökologischen Erweiterung der Wirtschaftsberichterstattung der sogenannten Fünf Weisen erzielen konnte.68 Insbesondere der christdemokratische Querdenker und spätere sächsische Ministerpräsident schien mit den Vorstellungen der Grünen zu sympathisieren: So hielt Biedenkopf auf der ersten von den Grünen mit organisierten deutsch-deutschen Konferenz „Ökologisches Wirtschaften“ am 6. April 1990 in Leipzig nach eigenen Angaben seine erste umweltpolitische Rede.69 Biedenkopf kritisierte in seiner Rede den ungezügelten Ressourcenverbrauch der Industrieländer, stellte das Wachstumsparadigma in Frage und forderte eine grundlegende Veränderung der wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen.70 Die Konferenz fiel allerdings mitten in den sich beschleunigenden Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten, der viele Reformdebatten der alten Bonner Republik überlagerte und zum Teil ausbremste. Immerhin übernahm die CDU „die Sicherung der ökologischen Zukunft“ als ein fünftes wirtschaftspolitisches Ziel in ihr Grundsatzprogramm von 1994 auf und bezeichnete sich nun häufiger als Partei der „ökologischen und sozialen Marktwirtschaft.71 Anfang 1989 hatte die grüne Bundestagsfraktion schließlich noch die Steuer- und Finanzpolitik als Instrument zur Umgestaltung der Industriegesellschaft entdeckt.72 So stellte der Fraktionsarbeitskreis I (Haushalt, Wirt-

AGG, A – Joschka Fischer, Bd. 166, Rudolf Hicke / Jan Priewe (Progress-Institut für Wirtschaftsforschung, AG Alternative Wirtschaftspolitik), Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz – Kritik und Alternativen (Dezember 1989). Basierend auf dieser Vorlage brachten die Grünen im Bundestag am 19.7.1990 einen Gesetzentwurf „für eine ökologisch-soziale Wirtschaft“ ein. Vgl. Stratmann-Mertens/Hickel/Priewe, Wachstum, S. 237–265. 68 Der geplante gemeinsame Antrag scheiterte schließlich jedoch am Widerstand aus dem Regierungslager. Vgl. Stratmann-Mertens/Hickel/Priewe, Wachstum, S. 8. 69 Vgl. Kurt H. Biedenkopf: Von Bonn nach Dresden. Aus meinem Tagebuch Juni 1989 bis November 1990, München 2015, S. 178. 70 Das Redemanuskript findet sich in: AGG, A – Karl Hirschgens, Bd. 43. 71 Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 40 sowie 61. 72 Die Umgestaltung der Industriegesellschaft stand immer wieder auf der Tagesordnung der Bundesdelegiertenkonferenzen. So hatten die Grünen auf der außerordentlichen Bundesversammlung in Nürnberg (26.–28.9.1986) das sogenannte Umbauprogramm beschlos67

Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? 139

schaft, Finanzen) erstmals die Erarbeitung eines Konzepts zur Einführung von Öko-Steuern in den Mittelpunkt seiner Arbeit.73 Dieses Projekt war langfristig konzipiert; ein politischer Alleingang sollte unbedingt vermieden und die anderen Arbeitskreise der Bundestagsfraktion in den Diskussionsprozess eingebunden werden. In der Folgezeit gewannen für die Grünen also steuerund finanzpolitische Themen an Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Partei auf diesem Politikfeld nach eigener Einschätzung die politische Initiative an die SPD verloren. Selbstkritisch wurde eingeräumt: In „Hinsicht der grünen Steuerpolitik rächt sich, dass der Finanzausschuss von uns Grünen hinsichtlich der Entsendung von Abgeordneten und der personellen Ausstattung ziemlich vernachlässigt wird.“74 Die innerparteiliche Diskussion, die gerade erst begonnen hatte, endete unerwartet abrupt, als die deutsche Einheit und die Wahlniederlage der Grünen bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 die Partei vor ganz neue Herausforderungen stellten. Darüber hinaus beeinflusste das Scheitern des real existierenden Sozialismus in der DDR auch die programmatischen Debatten der Grünen, die sich sukzessive von ihrer antikapitalistischen Stoßrichtung verabschiedeten, die das Wahlprogramm von 1990 noch sehr stark geprägt hatten. Vier Jahre später hatte die Partei den „Wandel zur kritischen Akzeptanz der Marktwirtschaft“ weitgehend vollzogen.75

3. Grüne Sozialpolitik im Wandel: Vom Konzept der Grundsicherung zur Teilprivatisierung der Rentenversicherung 2001

Die Staatskritik der Grünen beinhaltete von Anfang an auch eine Kritik am bundesdeutschen Sozialstaat, dessen Umbau die Partei bereits 1983 gefordert hatte. Bemängelt wurden insbesondere dessen „bürokratische Strukturen[, die] als autoritär, entmündigend und obrigkeitsstaatlich“76 empfunden wurden. Im Sindelfinger Programm von 1983 sprach sich die Partei für „eine

sen, das innerhalb der Bundestagsfraktion erarbeitet worden war; vgl. Dittmar, Das RealoFundi-Dispositiv, S. 444. Auch auf der außerordentlichen Bundesversammlung in Bayreuth (22./23.9.1990) befassten sich die Delegierten mit der Thematik, die allerdings schon hinsichtlich des umweltverträglichen Wandels in der DDR diskutiert wurde. AGG, B.II.1, Bd. 1675, Presseschau der Bundesgeschäftsstelle der Grünen Nr. 29/1990, S. 9 (TAZ vom 24.9.1990). 73 AGG, B.II.1, Bd.  1715, Bericht Eckhard Stratmanns über die Schwerpunkte des AK  I (o. D.). 74 Ebd., S. 2. 75 Vgl. Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv, S. 342. 76 Gohr, Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren, S. 8.

140 Dierk Hoffmann

grundlegende Abkehr vom bisherigen Prinzip des Sozialstaats“ aus: Sozialleistungen sollten nicht mehr an die wirtschaftlichen Wachstumsraten gekoppelt werden und auch nicht mehr „alle Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten und […] Privilegien des Erwerbssystems widerspiegeln“.77 Die Grünen machten sich in dem Zusammenhang für eine Neuausrichtung der primär erwerbsbezogenen Sozialpolitik stark, da der Industriegesellschaft in zunehmendem Maße die bezahlte Arbeit ausgehe.78 Dabei schälten sich rasch zwei Zielvorstellungen heraus, die miteinander verknüpft wurden: Die Partei sprach sich erstens für ein existenzsicherndes Grundeinkommen aus und verlangte zweitens die Bevorzugung von privaten bzw. gesellschaftlichen, d. h. vor allem nichtstaatlichen Initiativen. Da der Staat mit seinen Versorgungsleistungen nicht aus der Not befreie, sondern neue Abhängigkeiten schaffe,79 wollten die Grünen im Sinne einer Dezentralisierung das Prinzip der Gemeinschaft stärken – jenseits von Staat und Markt. Das grüne Modell einer „bedarfsorientierten Grundsicherung in allen Lebenslagen“80 von 1986 zielte darauf ab, „Armut zu verhindern und insbesondere auch eine eigenständige Einkommenssicherung für Frauen in einem für die ganze Bevölkerung einheitlichen Sicherungssystem aufzubauen“81. Diese Form der Grundsicherung, deren Finanzierung in den Planspielen über Steuern erfolgte, sollte allen Bürgern ein Einkommen in einer Höhe gewährleisten, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellte. In den 1980er Jahren unterschieden sich die Positionen der Parteien in diesem Teilaspekt der Alterssicherung zum Teil deutlich voneinander: Während die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP für ein „beträchtliches Maß an nichtstaatlicher sozialer Vor- und Nachsorge“82 eintraten, favorisierte die oppositionelle SPD staatliche bzw. kollektivrechtliche Lösungen. Dagegen pendelten die Grünen zwischen der Forderung nach einem Auf- bzw. Ausbau steuerfinanzierter Grundsicherung und dem Plädoyer für eine Stärkung der

AGG, PKA, Bd. 3540, Sindelfinger Sofortprogramm, S. 27. AGG, B.II.2, Bd. 392, Margherita Zander, Thesen zur Aktualität einer bedarfsorientierten Grundsicherung (März 1992), S. 1. 79 Vgl. Gohr, Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren, S. 9. 80 AGG, B.II.2, Bd. 392, Margherita Zander, Thesen zur Aktualität einer bedarfsorientierten Grundsicherung (März 1992), S. 2. 81 Ebd. 82 Manfred G. Schmidt: Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, hg. von Manfred G. Schmidt, BadenBaden 2005, S. 63–154, hier S. 93. 77 78

Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? 141

Selbsthilfe in Form von dezentralen „kleinen Netze[n]“.83 Inhaltliche Überschneidungen ergaben sich teilweise mit den Sozialdemokraten, die bereits 1984 die Einführung einer bedarfsgerechten Mindestsicherung gefordert hatten,84 allerdings unter Beibehaltung der Sozialhilfe als letztem Auffangnetz und in einer zeitlichen Stufenlösung. Mit der Vereinigung Deutschlands erhielt das Projekt einer bedarfsgerechten Grundsicherung neuen Auftrieb, denn mit dem dramatischen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern drohten viele Menschen nach Einschätzung der Grünen unter die Armutsgrenze zu sinken.85 Nachdem  – aus Sicht der grünen Sozialpolitikexperten86  – das lohn- und beitragsbezogene Sicherungssystem schon im Westen Armut nicht hatte verhindern können, verschärfte sich das Problem im Osten wegen des wesentlich niedrigeren Arbeitseinkommens und aufgrund der geringeren Lohnersatzleistungen.87 Obwohl das Modell von 1986 in eine Gesetzesinitiative von Bündnis  90/Die Grünen im Bundestag Anfang 1993 einfloss,88 war es innerparteilich doch umstritten. Reinhard Bütikofer, Peter Sellin, aber auch Marieluise Beck hielten die bedarfsorientierte Grundsicherung für „nicht finanzierbar“ und „unseriös“89  – vor allem angesichts des Festhaltens an der raschen Angleichung der Ost-Einkommen an das Westniveau. Bei den Vorbereitungen zur Bundestagswahl 1998 hielten die Grünen nach wie vor an der Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung fest, die neben das System der beitragsfinanzierten Rente treten sollte. Nach Einschät-

Vgl. Gohr, Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren, S. 8. Vgl. Winfried Schmähl: Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982– 1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, hg. von Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 318–388, hier S. 361. 85 Darauf wiesen insbesondere die ostdeutschen Landesverbände hin. Vgl. AGG, A – Werner Schulz, Bd. 214, Antrag des Landesverbands Bündnis 90 Brandenburg (Arbeitskreis Wirtschaft, Verkehr und Treuhandpolitik) an die Landesdelegiertenkonferenz am 11./12.12.1992 in Frankfurt/Oder, S. 2. 86 Das waren vor allem: Michael Opielka, der in den 1980er Jahren sozialpolitischer Referent der Grünen war und anschließend in die Wissenschaft wechselte, und Margherita Zander, die Anfang der 1990er Jahre sozialpolitische Referentin der grünen Bundestagsfraktion war und 1994 als Professorin für das Fachgebiet Sozialpolitik an die FH Jena berufen wurde. 87 Vgl. AGG, B.II.2, Bd.  751 (1), Vorlage („Aufschwung Ost“) für die Klausurtagung des Arbeitskreises 1 am 26.5.1992, S. 13. 88 Vgl. AGG, B.II.2, Bd.  393, Gesetzentwurf zur Einführung einer Grundsicherung vom 21.1.1993. Der Entwurf sah eine monatliche Grundsicherung in Höhe von 1.300,– DM und die alleinige Kostenübernahme durch den Bund vor. 89 AGG, B.II.2, Bd. 326, offener Brief von Daniel Kreutz (MdL NRW) vom 2.11.1993. 83 84

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zung der BAG Wirtschaft/Finanzen ergaben sich für die Höhe der Grundsicherung finanzielle Handlungsspielräume durch eine weitere Besteuerung von Renteneinkünften ab einer noch festzulegenden Grenze.90 Gleichzeitig sahen die Pläne der Partei eine langfristige Senkung des Rentenniveaus vor.91 Außerdem griffen die Grünen einen in der Öffentlichkeit schon länger diskutierten Begriff auf, der zu einem schillernden Leitbegriff avancierte und weitreichende Folgen hatte. Es ging um die sogenannte Generationengerechtigkeit, dem „privatisierungsnahe Experten“92 wie zum Beispiel Bernd Raffelhüschen ein quasi wissenschaftliches Gütesiegel aufdrückten. Die Hegemonie dieses Begriffs in der sozialpolitischen Debatte der Berliner Republik führte zu einer Ökonomisierung der Sozialpolitik, zu einer Verdrängung des älteren Begriffs des „Generationenvertrages“ und zu einer rentenpolitischen Neupositionierung der Grünen. Während der Begriff Ende 1996 von der sozialpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion, Andrea Fischer, aber auch vom Fraktionssprecher Joschka Fischer noch nicht verwendet wurde,93 beschloss der Länderrat der Grünen94 ein Jahr später, ihn ins Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1998 aufzunehmen.95 Nach der Regierungsübernahme 1998 durch Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) trug der grüne Juniorpartner den rentenpolitischen Paradigmenwechsel der Modernisierer in der SPD mit.96 Auch dieser erblickte in der kapitalgedeckten Teilprivatisierung der Alterssicherung ein

AGG, B.II.3, Bd. 308 1/2, Notiz Christoph Erdmengers über die Sitzung der BAG Wirtschaft/Finanzen am 8.6.1997, S. 1 91 AGG, B.II.3, Bd. 309 1/2, Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 14.10.1997 („Grüne arbeiten am ‚krisensicheren‘ Sozialstaat“) . 92 Hans Günter Hockerts: Abschied von der dynamischen Rente. Über den Einzug der Demographie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Bonn 2012, S. 294–324, hier S. 312. 93 AGG, B.II.3, Bd. 934, Denkschrift von Andrea Fischer („Konturen einer bündnisgrünen Sozialreform“) vom 30.1.1996; AGG, A – Werner Schulz, Bd. [58], überarbeitete Fassung des Diskussionsbeitrages von Joschka Fischer auf der Tagung „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien im Dezember 1995 (19 S.). 94 Der Länderrat ist seit 1991 das oberste beschlussfassende Organ der Partei zwischen den Bundesversammlungen und tagt vierteljährlich. 95 AGG, B.II.3, Bd. 934, Beschluss des Länderrats vom 26./27.4.1997 in Magdeburg zum Konzept des Wahlprogramms, S. 6. 96 Anders als bei den Grünen war die Riester-Rente in den Reihen der SPD stark umstritten. Vgl. Sebastian Nawrat: Agenda 2010 – ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozialpolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982, Bonn 2012, S. 200. 90

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Element der Generationengerechtigkeit, das der Partei, die eine „bürgerlichakademische Mittelschichtsklientel mit einem Gutteil an jüngeren Wählern“97 vertrat, vermutlich auch aus wahltaktischen Gründen notwendig erschien. Gerecht, so ein internes Diskussionspapier vom Oktober 1999, kann „eine soziale Sicherung dann sein, wenn sie zwischen heute Lebenden und den künftigen Generationen einen Interessenausgleich herstellt“98. Damit fand der Begriff Generationengerechtigkeit Eingang in die grüne Parteiprogrammatik. Eine Gruppe um die neue arbeits- und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Thea Dückert, schlug dem zuständigen Fraktionsarbeitskreis vor, sich bei der Ausgestaltung des rentenpolitischen Kurses für die laufende Legislaturperiode auf den Grundsatz der Generationengerechtigkeit zu einigen.99 Welche Ausstrahlungskraft der Begriff auf die Grünen ausübte, zeigt die Tatsache, dass Andrea Fischer ein Jahr nach dem Regierungswechsel ebenfalls von der „Generationengerechtigkeit“ sprach, wobei sie das ausdrücklich nicht nur auf die Rentenpolitik beschränkt wissen wollte.100 Die Parlamentarische Geschäftsführerin und rentenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Katrin Göring-Eckardt begründete die geplante Umsteuerung im System sozialer Sicherheit mit dem Hinweis, die alte Regierung unter Helmut Kohl habe schließlich „die Interessen der alten Generation über einen Ausgleich zwischen Alt und Jung gestellt“101. Sie forderte die Einführung eines Generationenfaktors bei der Rentenberechnung, der die Veränderungen

Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente, S. 317. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Antonia Gohr. Vgl. Antonia Gohr: Auf dem „dritten Weg“ in den „aktivierenden Sozialstaat“? Programmatische Ziele von Rot-Grün, in: Antonia Gohr  / Martin Seeleib-Kaiser (Hg.): Sozial- und Wirtschaftspolitik unter Rot-Grün, Opladen 2003, S. 37–60, hier S. 55. 98 AGG, A – Kristin Heyne, Bd. 169, Thea Dückert, internes Diskussionspapier („Leitbegriffe für die grüne Sozialpolitik“) vom 25.10.1999. 99 Auf der Klausurtagung des Arbeitskreises I der Bundestagsfraktion am 29.10.1999 bezeichnete Ekin Deligöz (kinder- und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion) das Umlageverfahren der Rentenversicherung als absurd. Vgl. AGG, A – Kristin Heyne, Bd. 169, Ekin Deligöz, Diskussionspapier vom 21.10.1999. 100 AGG, A  – Kristin Heyne, Bd.  169, Rede von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer auf dem Strategiekongress von Bündnis 90 / Die Grünen am 19.11.1999 in Kassel, S. 7. 101 Ebd., internes Diskussionspapier von Katrin Göring-Eckardt vom 29.10.1999, S. 4. Das Dokument wird unter anderer Signatur von Edgar Wolfrum zitiert; in seiner Darstellung bleibt ansonsten die Rolle der Grünen bei der Einführung der Riester-Rente völlig unterbelichtet. Vgl. Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 205 f. Göring-Eckardt hatte erst im Sommer 1999 die rentenpolitische Zuständigkeit in der Bundestagsfraktion erhalten. AGG, A – Klaus Müller, Bd. 54, BAG-Protokoll der Sitzung vom 2. bis 4.7.1999, S. 3. 97

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im Altersaufbau der Bevölkerung berücksichtigen sollte. Bei der abschließenden Beratung der Riester-Reform im Bundestag wies sie darauf hin, dass die Grünen sogar noch gern einen Schritt weitergegangen wären: „durch noch geringere Beiträge, damit den Leuten noch mehr im Portemonnaie verbleibt, vielleicht auch ein noch geringeres Rentenniveau, um die Notwendigkeit einer privaten Zusatzvorsorge deutlicher zu unterstreichen“102. Mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung wurde letztlich das Prinzip der Lebensstandardsicherung als Leitkriterium der gesetzlichen Rentenversicherung vom Ziel der Beitragsstabilität abgelöst. Auch wenn marktradikale Lösungen vermieden wurden und die gesetzliche Rentenversicherung die stärkste Säule der Alterssicherung blieb, öffnete die Riester-Reform  – auch vor dem Hintergrund der Börseneuphorie zur Jahrtausendwende – den Markt für private Anbieter, die darin ein neues lukratives Geschäftsmodell für sich entdeckten.103 Die Zustimmung der Grünen zur Riester-Reform erklärt sich nur zum Teil aus der Koalitionsdisziplin, der die Grünen mit dem erstmaligen Eintritt in eine Bundesregierung unterworfen waren. Das Projekt, benannt nach dem sozialdemokratischen Arbeits- und Sozialminister Walter Riester, war zwar primär ein sozialdemokratisches Reformvorhaben. Doch die Grünen trugen die Teilprivatisierung der Alterssicherung von Anfang an grundsätzlich mit und führten vor allem die Berücksichtigung der Interessen zukünftiger älterer Generationen und die weitere Senkung der Lohnnebenkosten als Begründung an. In der Öffnung des Marktes für die Versicherungswirtschaft erblickte der grüne Koalitionspartner keinen Tabubruch. Einiges deutet darauf hin, dass sich bei den Grünen mit der Regierungsübernahme generell das Verhältnis zur Finanzwirtschaft und zu den Finanzmärkten wandelte.104 Unter Verweis

Zitiert nach: Hockerts, Abschied, S. 317. Im Rückblick erklärte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Investment- und Vermögensverwaltungs-Gesellschaft Manfred Laux, „dass die Investmentbranche einer der wesentlichen Impulsgeber zur Reform der Altersvorsorge in Deutschland“ gewesen sei. Zitiert nach: Hans Günter Hockerts: Vom Wohlfahrtsstaat zum Wohlfahrtsmarkt? Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat, in: Norbert Frei / Dietmar Süß (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 70–87, hier S. 81. 104 Das zeigte sich auch bei der Diskussion über eine Reform der Unternehmenssteuer, mit der die Grünen bei den kleineren und mittleren Unternehmen punkten wollten. Darüber hinaus sollte Deutschland als Investitions- und Beschäftigungsstandort international wettbewerbsfähig gemacht werden. Vgl. AGG, A  – Klaus Müller, Bd.  54, Klaus Müller am 1.7.1999 zur Unternehmenssteuerreform; AGG, A – Kristin Heyne, Bd. 148 3/3, Pressemitteilung Nr.  0048/2000 vom 4.2.2000 zur Unternehmensbesteuerung. Insgesamt zeigen die eingesehenen Protokolle des zuständigen Fraktionsarbeitskreises und der BAG Wirtschaft/ Finanzen eine rege Beschäftigung mit der Thematik. 102 103

Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? 145

auf die sogenannte Asienkrise105 hielt der wirtschaftspolitische Experte der Partei die Finanzmärkte nicht nur für wichtig, sondern auch für steuerbar. Er forderte als politische Antwort die Einführung einer internationalen Kapitaltransaktionssteuer (Tobin-Steuer) und ging davon aus, „dass die nationalen Grenzen für Kapital in der Regel offen bleiben“106. Der Sprecher der BAG Wirtschaft/Finanzen ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte: Es sei zu erwarten, „dass Länder mit kluger sozialer und ökologischer Politik zu den Gewinnern der Globalisierung gehören werden und auf den Finanzmärkten eine erhebliche Attraktivität genießen.“107 Einigen BAG-Mitgliedern gingen Erdmengers wirtschaftsliberale Überlegungen offenbar nicht weit genug. So warnte der Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Otto Singer ausdrücklich vor einem „Korsett marktkritischer Grundüberzeugungen“108. Er bestritt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Liberalisierung der Finanzmärkte und ihrer Krisenanfälligkeit gebe. Die Verantwortung für die Asienkrise liege nicht so sehr in den „spekulativen, von internen ökonomischen Faktoren losgelösten Kapitalbewegungen“, sondern vielmehr in den „politisch-institutionellen Konstellationen der jeweils nationalen Wirtschaftspolitik“. Die Diskussionsbeiträge belegen im Übrigen, wie weit sich die Grünen von ihrer Kapitalismuskritik der 1980er Jahre entfernt hatten.

Fazit

Die zu Beginn dieses Beitrags gestellten Fragen sind zweifellos provokativ, grobschlächtig und lassen sich so pauschal kaum beantworten. Der Begriff „Wirtschaftsliberalismus“ ist äußerst schillernd; er wurde und wird im öffentlichen Diskurs – nicht erst seit der jüngsten Banken- und Finanzkrise – als politischer Kampfbegriff verwendet. Obwohl die Grünen bis heute kein kohärentes wirtschaftspolitisches Programm besitzen, haben sie sich von An-

1997/98 war es infolge der Liberalisierung des Finanzsektors in Malaysia, Südkorea, Indonesien und den Philippinen zum Platzen einer Kreditblase und anschließend zu einem massiven Wirtschaftseinbruch und einer sprunghaften Auslandsverschuldung in den genannten Staaten gekommen. Vgl. Joseph E. Stiglitz: America, Free Markets, and the Sinking of the World Economy, New York 2010. 106 AGG, A  – Klaus Müller, Bd.  54, Thesenpapier von Christoph Erdmenger zur Entwicklung und Regulierung der internationalen Finanzmärkte [weitergeleitete Nachricht der öffentlichen Mailingliste der BAG Wirtschaft und Finanzen vom 2.6.1999]. 107 Ebd. 108 Vgl. AGG, A – Oswald Metzger, Bd. 64, Email von Otto Singer an die Mailingliste der BAG Wirtschaft/Finanzen vom 8.6.1999. 105

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fang an zu wirtschaftspolitischen Themen geäußert. Bei der Untersuchung insbesondere der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Leitbilder der Grünen stechen drei Ergebnisse besonders hervor: Erstens ist mit dieser Fehlstelle eine relative Offenheit bei der konkreten Ausformulierung von Politikzielen zu konstatieren. So bestimmten andere Themenfelder, die für die Grünen von zentraler Bedeutung waren – von der Rüstungspolitik über die Umweltund Energiepolitik bis hin zur Frauenpolitik  – die wirtschaftspolitischen Konzeptionen der Partei. Das zeigte sich zum anderen aber auch in ihrer Positionierung zu anderen politischen Parteien, etwa in sozialpolitischen Fragen zur CDU. Mit der Forderung nach individueller Selbstbestimmung gab es etwa eine Schnittmenge mit dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre. Zweitens gilt es, die längerfristigen Traditionslinien einer grünen Sozialpolitik zu unterstreichen, die sich in einer Betonung von Eigeninitiative und Deregulierung niederschlugen. Die Skepsis vor einem scheinbar überbordenden Sozialstaat ermöglichte es den Grünen sehr viel leichter als der SPD, den Paradigmenwechsel zur Riester-Rente zu vollziehen. Drittens sorgte die Professionalisierung der Partei für einen relativ raschen Wandel des Sozialprofils der wirtschaftspolitischen Experten. Dies wurde insbesondere durch die Wahlniederlage 1990 und den Austritt von Teilen der linken „Fundis“ beflügelt. In der BAG Wirtschaft kamen ab Mitte der 1990er Jahre in verstärktem Maße Volks- und Betriebswirte zum Zuge, die, wie das Beispiel von Gerhard Schick zeigt, auch enge berufliche Verbindungen zu Verfechtern eines mehr oder weniger offen propagierten Wirtschaftsliberalismus hatten.109 Im Zusammenhang mit der Analyse grüner Wirtschafts- und Sozialpolitik konnten auch die Erfolge und Grenzen von Privatisierungsmodellen aufgezeigt werden. Das Beispiel der Riester-Rente verdeutlicht, dass es zwar zu einer Teilprivatisierung der Alterssicherung kam, an den Grundstrukturen der gesetzlichen Rentenversicherung aber festgehalten wurde. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es bei der Untersuchung einzelner Politikfelder generell ratsam erscheint, die „Brechungen und Diskontinuitäten zwischen Theorie und Praxis“ immer wieder in den Blick zu nehmen.110 Damit zeigt sich die behauptete Hegemonie neoliberalen Denkens nach dem Ende des Staatssozialismus in einem etwas anderen Licht.111 Weitere empirische Detailforschungen sind notwendig, und zwar nicht nur zu anderen wirtschafts- und Gerhard Schick, promovierter Ökonom und von 2001 bis 2007 Sprecher der BAG Wirtschaft und Finanzen, war von 1998 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ordoliberalen Walter Eucken Institut in Freiburg und von 2001 bis 2004 bei der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin tätig gewesen, in deren Lenkungsgruppe auch Bernd Raffelhüschen zu finden ist. 110 Vgl. Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012, S. 150. 111 So aber Ther, Der Neoliberalismus, S. 4. 109

Wirtschaftsliberalismus bei den Grünen? 147

sozialpolitischen Themenfeldern. Das beinhaltet beispielsweise die Analyse von Akteuren und Netzwerken, ganz besonders im Schnittfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Insgesamt geht es darum, den doch recht amorphen Begriff „Neoliberalismus“ zu historisieren und den Wirtschaftsliberalismus in seiner politischen und ökonomischen Praxis zu untersuchen.

Thomas handschuhmacher

Eine „neoliberale“ Verheißung Das politische Projekt der „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre

N

ach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Oktober 1982 war Helmut Kohl bestrebt, den Amtsantritt seines Kabinetts als Zäsur zu kennzeichnen.1 So sprach er in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag über „die Schwerpunkte und die Grundsätze […], nach denen wir in den vor uns liegenden Jahren eine Politik der Erneuerung einleiten werden.“2 Einen wesentlichen Bestandteil des angekündigten Politikwechsels sollte der weitreichende Rückbau staatlicher Zuständigkeiten und Besitzbestände bilden, den der neue Regierungschef in dem viel zitierten Satz zum Ausdruck brachte: „Wir wollen den Staat auf seine ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zurückführen“.3 Die erklärte Devise lautete: „weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt“.4 Indem der Bundeskanzler eine solche Reduktion des Staates auf den „Kern seiner Aufgaben“ im Anschluss an seine Wiederwahl im September 1983 nochmals bekräftigte und als „Leitgedanken“ der künftigen Regierungspolitik bezeichnete,5 erklärte Kohl „Entstaatlichung“ zu einem politischen Projekt des schwarz-gelben Bundeskabinetts, an das die Verheißung einer grundlegenden Neudefinition und Begrenzung staatlicher Aufgabenund Einflussbereiche geknüpft war. Dieser ebenso umfassende wie politische Anspruch bildet den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen, die

Ausführlich zur „Wende“-Rhetorik: Peter Hoeres: Von der „Tendenzwende“ zur „geistigmoralischen Wende“. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 93–119. 2 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 121. Sitzung vom 13.10.1982, S. 7215. 3 Ebd., S. 7224. 4 Ebd., S. 7218. 5 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 4. Sitzung vom 4.5.1983, S. 56. 1

150 Thomas Handschuhmacher

das Vorhaben der „Entstaatlichung“ für die Bundesrepublik der 1980er Jahre genauer in den Blick nehmen und auf seinen „neoliberalen“ Gehalt hin befragen.6 Zu diesem Zweck gilt es zunächst den analytischen Mehrwert des schon zeitgenössisch gebräuchlichen Begriffs „Entstaatlichung“ herauszuarbeiten. Anschließend werden die seit Mitte der 1970er Jahre geführten Debatten um eine Begrenzung der ökonomischen Staatsaufgaben mit den politischen Maßnahmen der christlich-liberalen Bundesregierung in den 1980er Jahren verbunden.

1. „Entstaatlichung“ als Terminus historischer Analyse

„Entstaatlichung“ war ein bereits zeitgenössisch gebräuchliches Schlagwort. Dennoch lässt sich die Bezeichnung auch als heuristischer Begriff operationalisieren, um den Wandel der wirtschaftlichen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiche des Staates differenziert und thematisch umfassend zu untersuchen. Denn „Entstaatlichung“ schließt gleichermaßen unterschiedliche Varianten von Privatisierung7 wie auch Vorhaben zum Abbau von Marktzutrittsbeschränkungen ein, die gemeinhin mit dem Etikett „Deregulierung“8 versehen werden. Die Betrachtung sowohl der staatlichen Bereitstellungs- als auch der Regulierungsaufgaben trägt nicht nur dem beschriebenen Anspruch

Die Ausführungen fußen auf der Dissertation des Autors Thomas Handschuhmacher: Was soll und was kann der Staat noch leisten? Eine politische Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989, Göttingen 2018. 7 „Privatisierung“ lässt sich im Anschluss an die Theorie ökonomischer Verfügungsrechte definieren als Gesamtheit „alle[r] Prozesse, die den Einflußbereich politischer Verfügungsrechte über ökonomische Güter zugunsten des Dispositionsspielraums privater Verfügungsrechte vermindern“. Rupert Windisch: Privatisierung natürlicher Monopole. Theoretische Grundlagen und Kriterien, in: ders. (Hg.): Privatisierung natürlicher Monopole im Bereich von Bahn, Post und Telekommunikation, Tübingen 1987, S. 1–146, hier S. 8. Ebenso: Sabine Spelthahn: Privatisierung natürlicher Monopole. Theorie und internationale Praxis am Beispiel Wasser und Abwasser, Wiesbaden 1994, S. 9–10. Vgl. zur Typologie von Privatisierungsprozessen u. a. Dieter Budäus: Privatisierung öffentlich wahrgenommener Aufgaben. Grundlagen, Anforderungen und Probleme aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, in: Christoph Gusy (Hg.): Privatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien – Grenzen – Folgen, Baden-Baden 1998, S. 12–36, hier S. 14–17; Herbert Obinger u. a.: Der Rückzug des Staates aus unternehmerischen Tätigkeiten. Eine Zwischenbilanz, in: dms – der moderne staat 3 (2010), S. 209–233. 8 Zur Definition der staatlichen Regulierungsaufgabe: Boris Gehlen / Günther Schulz: National Regulatory Traditions? Introductory Remarks, in: Günther Schulz / Mathias Schmoeckel / William J. Hausman (Hg.): Regulation between Legal Norms and Economic Reality, Tübingen 2014, S. 1–8, hier S. 2–3. 6

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Rechnung, den schon die Zeitgenossen erhoben. Vielmehr vermeidet sie die thematische Engführung bisheriger Forschungen, die Bereitstellungs- und Regulierungsaufgaben weitgehend isoliert betrachten, statt den Wandel der wirtschaftlichen Staatstätigkeit umfassend zu untersuchen.9 Um die ökonomischen Aufgabenbereiche des Staates zu fokussieren, wird der Terminus „Entstaatlichung“ hier dem Begriff „Vermarktlichung“ vorgezogen, der den analytischen Blick vorwiegend auf Märkte als Sozialräume lenkt.10 Darüber hinaus liegt den nachfolgenden Überlegungen die Annahme zugrunde, dass der Wandel von Staatlichkeit vornehmlich als „Wandel des Staatsaufgaben-Verständnisses“11 zu untersuchen ist, die Analyse also auf Definitionen, Begründungs- und Legitimationsweisen wirtschaftlicher Staatstätigkeiten auszurichten ist. Privatisierung und Deregulierung werden hier demnach nicht aus ökonomischer oder fiskalischer Perspektive betrachtet, sondern als politische Projekte untersucht, mit denen der Anspruch verbunden war, die wirtschaftlichen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiche des Staates verbindlich zu definieren. Folgt man den Annahmen der neueren politikhistorischen Forschung, zeichnen sich politische Kommunikationsprozesse, die auf die Herstellung kollektiver Verbindlichkeit abzielen, erstens durch die Pluralität der beteiligten Akteure und zweitens durch ihre sprachliche Bedingtheit aus. An den Prozessen der Produktion verbindlicher Bedeutungen partizipieren demnach nicht nur politische Entscheidungsträger, sondern beispielsweise auch Wissenschaftler, Journalisten oder Interessenvertreter. Darüber hinaus ist politische Kommunikation eingebunden in sprachlich verfasste, strukturierende Verweis- und Begründungszusammenhänge, die es zu analysieren gilt.12 Entstaatlichungsmaßnahmen gelten gemeinhin als wesentlicher Bestandteil politischer Reformvorhaben, die mit dem Etikett „neoliberal“ versehen werden. So umschreibt etwa Philipp Ther „den Neoliberalismus“ als eine „wirtschaftspolitische Ideologie“, die unter anderem „mit Hilfe von Privati-

Vgl. Obinger u. a., Rückzug. Vgl. Ralf Ahrens / Marcus Böick / Marcel vom Lehn: Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 12, 3 (2015), URL: http://www.zeithistorische-forschungen. de/3–2015/id=5264 [24.01.2018], Druckausgabe: S. 393–402, hier S. 396 sowie 399. 11 Gunnar Folke Schuppert: Was ist und wie misst man Wandel von Staatlichkeit?, in: Der Staat 47 (2008), S. 325–358, hier S. 342. 12 Vgl. Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606; ders.: Kulturgeschichte der Politik, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte_der_ Politik_Version_2.0_Thomas_Mergel?oldid=106446 [24.01.2018]. 9

10

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sierungen eine umfassende Entstaatlichung anstrebt“.13 Während eine solche Definition den Zusammenhang zwischen „Neoliberalismus“ und „Entstaatlichung“ voraussetzt, wird es im Folgenden insbesondere um die Begründungszusammenhänge gehen, in die das politische Vorhaben der „Entstaatlichung“ eingepasst war. Die Suche nach dessen „neoliberalem“ Gehalt erfolgt daher über einen Zugang, der am Selbstverständnis wichtiger Vertreter des „Neoliberalismus“ ansetzt. Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher versteht in diesem Sinne die Entstehung des „Neoliberalismus“ als Reaktion auf eine als tiefgreifend empfundene Krise des (wirtschafts-)liberalen Denkens im frühen 20. Jahrhundert, welche die selbsternannten „Neoliberalen“ auf externe Einflüsse wie den Ersten Weltkrieg oder die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre, aber auch auf endogene Faktoren und Fehlkonstruktionen des liberalen Gedankengebäudes zurückführten. Um die „Krise des Liberalismus“ zu überwinden, formulierten die frühen Vertreter des „Neoliberalismus“, die sich dieses Etikett im Rahmen des Walter-Lippmann-Kolloquiums im August 1938 in Paris anhefteten, das Ziel, die liberale Agenda sowohl zu revitalisieren als auch zu revidieren. Die Forderung nach Revitalisierung war dabei als Reaktion auf die äußeren Gefährdungen des Liberalismus zu verstehen. Das Postulat der Revision wiederum, das untrennbar mit dem der Revitalisierung verknüpft war, zielte auf eine gleichsam innere Erneuerung und Überprüfung liberaler Überzeugungen ab.14 Auch das politische Vorhaben der „Entstaatlichung“ lässt sich vor diesem Hintergrund als „neoliberales“ Projekt begreifen, da seine Verfechter auf die seit den 1970er Jahren vielfach diagnostizierte „Krise der Sozialen Marktwirtschaft“ rekurrierten, die sie durch eine Wiederbelebung ihrer ordoliberalen Wurzeln, aber auch durch die Revision wirtschafts- und wettbewerbspolitischer Grundannahmen zu überwinden suchten. Das politische Projekt der „Entstaatlichung“ war in der Bundesrepublik mithin ganz maßgeblich gekennzeichnet durch die Anknüpfung an die Tradition des Ordoliberalismus.15 Zugleich geriet das politische Versprechen einer weitreichenden „Rückführung“ des Staates auf dessen „Kern“ zu einer auf Dauer gestellten Verheißung, blieb die Umsetzung der weitreichenden „Entstaatlichungs“-Ziele in den 1980er Jahren doch weit hinter deren Ankündigung zurück. Die „Entstaatlichungs“-

Philipp Ther: Neoliberalismus, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 5.7.2016, URL: http://docupedia.de/zg/ther_neoliberalismus_v1_de_2016 [24.01.2018]. 14 Vgl. Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 22015, S. 31–38. 15 Zum Ordoliberalismus als Spielart des „Neoliberalismus“: Ebd., S. 38–49, sowie die Einführung zu diesem Band. 13

Eine „neoliberale“ Verheißung 153

Politik der 1980er Jahre fügt sich somit ein in die von Andreas Wirsching beschriebene „widersprüchliche Signatur“ der „Ära Kohl“.16

2. Von der funktionalen Privatisierung zur umfassenden „Entstaatlichung“

„Was soll und kann der Staat noch leisten?“ – dieser Leitfrage waren die sogenannten „Bad Kreuznacher Gespräche“ des Jahres 1975 gewidmet, die am 30.  und 31. Mai dieses Jahres bereits zum fünften Mal auf Einladung des CDU-Wirtschaftspolitikers Elmar Pieroth stattfanden. Tagungsort und zugleich Namensgeberin der Treffen war dessen Heimatstadt, die rheinlandpfälzische Kurstadt Bad Kreuznach.17 Den Bad Kreuznacher Diskussionskreis, der sich seit 1971 jährlich traf, bezeichnete Pieroth selbst als „Expertenrunde“. Sie sollte profilierten Politikern der Unionsparteien einen Rahmen bieten, in dem sie sich mit einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftlern über aktuelle finanz- und wirtschaftspolitische Themen austauschen, inhaltliche Positionen erarbeiten und mit ökonomischer Expertise grundieren konnten. Die thematische Klammer der ersten fünf Veranstaltungen bildeten Pieroth zufolge Fragen der „Vermögensbildung“.18 Dass die Diskutanten das damalige Verhältnis von öffentlicher und privater Vermögensbildung für kritikwürdig hielten, verwundert nicht. Bereits der Untertitel der nachträglichen Publikation sprach von „Krisensymptome[n] staatlicher Leistungsfähigkeit“. Pieroth warnte in seiner einführenden Ansprache gar: „Der Staat, ursprünglich nur Monopolist auf Gewalt nach innen und außen, der Wahrer des Rechts“, sei „auf dem besten Wege zu einem Monopolisten aller denkbaren Dienstleistungen zu werden. […] Die Gesellschaft will mehr Staat. Deshalb sind wir auf dem Wege zu einer Verstaatlichung der Gesellschaft.“19 Um dieser drohenden Gefahr einer zunehmenden „Verstaatlichung der Gesellschaft“ konzeptionell zu begegnen, bildeten die Teilnehmer der Bad Kreuznacher Tagung zwei Arbeitskreise, die sich hinter zwei programmatischen Stichwörtern versammelten: „Rationalisierung“ und „Entstaatlichung“. Wortführer und Sprecher des Arbeitskreises „Entstaatlichung“ waren die Wirtschaftsprofessoren Wolfram Engels und Karl Oettle. Engels, der ebenfalls der CDU angehörte und einem breiteren Publikum bereits als Kolumnist der Andreas Wirsching: Eine „Ära Kohl“? Die widersprüchliche Signatur deutscher Regierungspolitik 1982–1998, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 668–684. 17 Vgl. Was soll und kann der Staat noch leisten? Reden, Thesen und Ergebnisse auf den 5. Bad Kreuznacher Gesprächen vom 30./31. Mai 1975, Bad Kreuznach 1975. 18 Elmar Pieroth: Einführung in das Thema, in: ebd., S. 4–14, hier S. 4. 19 Pieroth, Einführung, S. 6. 16

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„Wirtschaftswoche“ und als Autor populärwissenschaftlicher Bücher bekannt geworden war,20 betonte in seinem Vortrag: „In vielen Bereichen brauchte sich der Staat nicht mit der Eigenproduktion zu belasten, er könnte die Güter oder Leistungen billiger kaufen.“21 Oettle pflichtete seinem Fachkollegen bei und beklagte: „Die gegenwärtige Entwicklung tendiert zu einer Vermehrung der öffentlichen Aufgaben und zu einer Vergrößerung des öffentlichen Anteils an der Verwendung des Sozialprodukts.“22 Ziel der anzustrebenden „Entstaatlichung“ müsse demzufolge sein, „den Umfang gemeinwirtschaftlicher Aufgabenerfüllung im Staatswesen insgesamt im Verhältnis zum Volumen der gesamtwirtschaftlichen Produktion zu verringern.“23 „Entstaatlichung“ war für Engels und Oettle somit gleichbedeutend mit funktionalen Privatisierungsmaßnahmen, die auf die Übertragung staatlicher Aufgaben an private Unternehmen und Dienstleister zielten.24 Vornehmlich hatten die beiden Wissenschaftler Aufgaben auf kommunaler Ebene im Blick – die Müllentsorgung, die Straßenreinigung, den öffentlichen Nahverkehr und den Betrieb von Schlachthöfen.25 Eingepasst waren die Überlegungen und Thesen des Bad Kreuznacher Arbeitskreises „Entstaatlichung“ in eine öffentlichkeitswirksame Diskussion über die Definition staatlicher Zuständigkeiten, die der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium Mitte der 1970er Jahre mit seinen Thesen zum Zusammenhang von öffentlicher Verschuldung und funktionaler Privatisierung anstieß. Am 5. Juli 1975 legte der Beirat sein Gutachten „Zur Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland“26 vor, dessen Schwerpunkt auf der Finanzsituation der Gebietskörperschaften im Bundesgebiet lag. Deren Haushalte wiesen demnach „im Jahre 1975 ein Defizit von über 60 Mrd. DM“ aus, das in einer „Größenordnung von etwa

Hierunter besonders: Wolfram Engels: Soziale Marktwirtschaft. Verschmähte Zukunft? Streitschrift wider falsche Propheten mit Bart und Computer, Stuttgart 1972. 21 Wolfram Engels: Leistung und Verschwendung der öffentlichen Hand, in: Was soll und kann der Staat noch leisten? Reden, Thesen und Ergebnisse auf den 5. Bad Kreuznacher Gesprächen vom 30./31. Mai 1975, Bad Kreuznach 1975, S. 15–66, hier S. 64. 22 Thesen von: Karl Oettle, in: Was soll und kann der Staat noch leisten? Reden, Thesen und Ergebnisse auf den 5. Bad Kreuznacher Gesprächen vom 30./31. Mai 1975, Bad Kreuznach 1975, S. 92–98, hier S. 92. 23 Ebd., S. 93. 24 Zur Typologie: Budäus, Privatisierung, S. 14–17. 25 Vgl. Engels, Leistung, S. 64. 26 Zur Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zur Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bulletin des Presseund Informationsamts der Bundesregierung, Nr. 103, 15.8.1975, S. 1001–1016. 20

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30 Mrd. DM […] Ausdruck eines strukturellen Ungleichgewichts der öffentlichen Haushalte“27 sei. Zur „Verringerung des staatlichen strukturellen Defizits“ schlugen die Beiratsmitglieder außer dem „Abbau“28 und „Einsparungen bei der Erstellung öffentlicher Leistungen“29 auch die „Verlagerung bisher öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich“ vor, deren Erörterung im Text den größten Raum einnahm. Dieses Instrument der Ausgabensenkung präzisierten die Gutachter dahingehend, „daß die Bereitstellung der bisher vom Staat angebotenen Leistungen auf den privaten Bereich verlagert wird“, der Staat jedoch nicht „die Verantwortlichkeit für die Erstellung bisher von ihm erbrachter Leistungen vollständig aufgibt  – dies wäre ein eindeutiger Abbau öffentlicher Leistungen –, sondern daß er die Privatwirtschaft stärker als bisher an der Erfüllung dieser Aufgaben beteiligt.“30 Mit dieser Empfehlung zur funktionalen Privatisierung, zur Übertragung öffentlicher Dienstleistungen an private Unternehmen, steckten die Gutachter das argumentative Feld ab für eine grundsätzliche Diskussion über die Bemessung staatlicher Zuständigkeitsbereiche, die seit Mitte der 1970er Jahre über wissenschaftliche Kommunikationszusammenhänge und Beratungsgremien hinaus auch in den politischen Parteien und der massenmedialen Öffentlichkeit auf Widerhall stieß. Die Debatten um „Entstaatlichung“ und „Privatisierung“ flammten somit bereits in einer Phase wieder auf, als auf Bundesebene die Zahl staatlicher Unternehmensbeteiligungen noch kontinuierlich anstieg, die bundespolitischen Entscheidungen also die entgegengesetzte Tendenz zur Verstaatlichung begünstigten.31 Wie ein Blick auf die verwendete Terminologie zeigt, blieben die Diskussionen jedoch auf funktionale Privatisierungen im kommunalen Bereich beschränkt. Die Mehrheit der Stimmen verwendete das Wort „Privatisierung“, um damit die Übertragung sogenannter „öffentlicher Aufgaben“ an private Unternehmen und Dienstleister zu bezeichnen.32 Dagegen benutzten Ebd., S. 1001. Ebd., S. 1004–1006. 29 Ebd., S. 1006–1007. 30 Ebd., S. 1007. 31 Vgl. Bundesministerium der Finanzen: Die Beteiligungen des Bundes, Bonn-Bad Godesberg 1970 ff. 32 So beispielsweise: Detlef Bischoff  / Karl-Otto Nickusch: Einleitung, in: dies. (Hg.): Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Ausweg aus der Finanzkrise des Staates?, Berlin/New York 1977, S. 9–32; Kommission für Wirtschaftlichen und Sozialen Wandel: Wirtschaftlicher und sozialer Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1977, S. 101; Wilhelm R. Kux: Ansätze zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben, St. Augustin 1976; Marcel Zumbühl: Privatisierung staatlicher Wirtschaftstätigkeit. Notwendigkeit und Möglichkeiten?, Diss. Basel 1976; Deutscher Städtetag: Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Köln 1976. 27 28

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der Bund der Steuerzahler sowie eine Reihe von Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern das Wort „Entstaatlichung“, das sie gleichwohl synonym verwendeten und mit denselben Bedeutungsimplikaten ausstatteten. Willy Haubrichs, der Präsident des Steuerzahlerbundes, etwa verknüpfte in seinem Geleitwort für eine 1975 erschienene Publikation mit „Entstaatlichung“ die Zielsetzung, „unseren Staat von Aufgaben zu entlasten“.33 Dass die Diskussionen um funktionale Privatisierungen in den 1970er Jahren ganz überwiegend auf Kommunen bezogen waren, reflektierte die Bezeichnung „Entkommunalisierung“, die beispielsweise Journalisten des „Spiegel“ als weiteres Synonym für „Privatisierung“ benutzten.34 Darüber hinaus kamen die Diskussionen um funktionale Privatisierungen auf kommunaler Ebene in den 1970er Jahren nicht ohne den Verweis auf das „strukturelle Defizit“ der öffentlichen Haushalte aus, das der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium problematisiert hatte. Der Deutsche Städtetag etwa verband gleich im Vorwort seiner Publikation zur „Privatisierung öffentlicher Aufgaben“ dieses Vorhaben mit dem „Ziel einer Entlastung der öffentlichen Haushalte und der Verbilligung öffentlicher Dienstleistungen für den Bürger“.35 In ihrer „Mannheimer Erklärung“ aus dem Frühsommer 1975 hatte die CDU bereits gemahnt: „Durch die Übernahme eines wesentlichen Teils der Dienstleistungen durch den Staat wird dessen Finanzkraft […] überfordert.“36 Die „Entlastung des Staates im Dienstleistungsbereich durch nichtstaatliche Leistungsträger“37 zählte sie demzufolge zu den wichtigsten Instrumenten für die angestrebte „Sanierung der öffentlichen Haushalte“38. In ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1978 bestätigte die Partei diese Problemdiagnose und konstatierte: „Die Neuordnung der Staatswirtschaft wird zu einem vordringlichen Problem.“39 Am Übergang zu den 1980er Jahren war mit „Entstaatlichung“ dann jedoch keineswegs mehr ausschließlich das politische Vorhaben verknüpft, die städtischen Leistungskataloge zum Zweck der Haushaltssanierung zusammenzukürzen, blieb der Bedeutungsgehalt von „Entstaatlichung“ doch

Präsidium des Bundes der Steuerzahler: Entstaatlichung. Wie man die öffentlichen Haushalte durch Verlagerung von Aufgaben auf Private entlasten kann, Wiesbaden 1975, S. 3. 34 „Dann müssen Behörden Brötchen backen“, in: Der Spiegel, 3.11.1975. 35 Städtetag, Privatisierung, S. 5. 36 Christlich Demokratische Union Deutschlands: Unsere Politik für Deutschland. Mannheimer Erklärung. 23. Bundesparteitag, 23.–25. Juni, Mannheim 1975, S. 110. 37 Ebd., S. 112. 38 Ebd., S. 111. 39 Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Verabschiedet auf dem 26. Bundesparteitag Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978, S. 34. 33

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nun nicht mehr auf funktionale Privatisierungen im kommunalen Bereich beschränkt. Nachdem die Privatisierungsdebatten auf Bundesebene zunächst kein Echo hervorgerufen hatten, war es insbesondere der CSU-Bundestagsabgeordnete und vormalige Bundesschatzminister Werner Dollinger, der die wirtschaftlichen Zuständigkeitsbereiche des Staates seit den ausgehenden 1970er Jahren wieder auf die bundespolitische Agenda setzte und zunächst in mehreren kleinen Anfragen problematisierte.40 Klarere Konturen verlieh Dollinger diesem politischen Handlungsfeld, als er im Herbst 1980 in einem programmatischen Aufsatz mehrere „Grundsätze der CDU/CSU für die öffentliche Beteiligungspolitik“ formulierte. Um den grundlegenden Charakter seiner Ausführungen hervorzuheben, betonte er einleitend: „Die Grenzen der öffentlichen Wirtschaft müssen immer wieder prinzipiell überdacht und gegebenenfalls neu abgesteckt werden.“41 Doch übertrug er die Privatisierungsforderungen nicht nur auf die Ebene des Bundes, sondern forderte darüber hinaus materielle Privatisierungen, also den Verkauf staatlicher Unternehmensbeteiligungen: „Auch der Bund sollte sich nicht scheuen, überflüssig gewordene Beteiligungspositionen abzustoßen“.42 Otto Graf Lambsdorff weitete 1982 in seinem „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ die Forderungen nach einer Begrenzung der staatlichen Zuständigkeitsbereiche auch auf die Regulierungsdimension aus, plädierte er doch außer der Privatisierung auch für den „Abbau von unnötiger Reglementierung und Bürokratie in allen Bereichen der Wirtschaft“.43 An der Schwelle zu den 1980er Jahren hatte sich somit der Bezugsrahmen der Debatten um die wirtschaftlichen Aufgabenbereiche des Staates in dreierlei Hinsicht ausgeweitet. Waren die Diskussionen der 1970er Jahre ausschließlich um funktionale Privatisierungen gekreist, standen nun erstens auch materielle Privatisierungen zur Disposition, die zweitens nicht mehr allein den kommunalen Bereich, sondern auch Bund und Länder betrafen. Drittens war fortan neben der Bereitstellungs- auch die

Eine Übersicht der Anfragen sowie der zugehörigen Antworten findet sich bei: Fritz Knauss: Äußerungen der CDU/CSU zur Beteiligungspolitik des Bundes in der Zeit der Bundestagsopposition, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 7 (1984), S. 404–408, hier S. 407–408. 41 Werner Dollinger: Grundsätze der CDU/CSU  für die öffentliche Beteiligungspolitik, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 3 (1980), S. 457–464, hier S. 457. 42 Ebd., S. 460. 43 Otto Graf Lambsdorff: Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, o. O. 1982, S. 17. 40

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Regulierungsfunktion Gegenstand der formulierten Forderungen und Absichtserklärungen.

3. Ein „neoliberales“ Projekt

In seinen eingangs zitierten Regierungserklärungen nahm Helmut Kohl dieses umfassende Verständnis von „Entstaatlichung“ auf und integrierte es in sein Programm einer „Politik der Erneuerung“. Einen zentralen argumentativen Bezugspunkt des angestrebten Politikwechsels bildete das Wirtschaftsordnungsmodell der „Sozialen Marktwirtschaft“, das zahlreiche Ökonomen, Politiker und Publizisten seit den 1970er Jahren in einer tiefgreifenden und geradezu existenziellen Krise wähnten.44 Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Sander beispielsweise sah am Übergang zu den 1980er Jahren „einen Gefährdungspunkt erreicht, der dringend zu einer politischen Umkehr veranlaßt. Worin besteht die Gefahr? Sie liegt vor allem darin, daß das Ordnungssystem unterminiert wird.“45 Verantwortlich für diesen Missstand machte Sander eine „Politik, die die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft auf das gröbste verletzte“.46 Der in den Aussagen Sanders aufscheinende Krisendiskurs war eng mit dem wirtschaftstheoretischen Ideengeflecht des Ordoliberalismus verknüpft, zu dessen Grundannahmen die konstitutive Trennung des marktförmig und kompetitiv zu organisierenden Wirtschaftsgeschehens von anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen gehörte. Der Publizist Wolfgang Pohle aktualisierte dieses Postulat und warnte vor der „Gefahr, daß Politik und Gesetzgebung wirtschaftsfremder werden“.47 Unüberhörbar hallte in dieser Aussage nicht nur das wirkmächtige Diktum Wilhelm Röpkes vom Monopol als „Fremdkörper“ im Wirtschaftsprozess wider, das bereits in den ordnungspolitischen Debatten der frühen Bundesrepublik einen hohen argumentativen Gebrauchswert besessen hatte.48 Auch die medizinisch-biologistische Metaphorik, die hiermit verknüpft war, prägte den Krisendiskurs seit

Vgl. auch: Stefan Scholl: Begrenzte Abhängigkeit. „Wirtschaft“ und „Politik“ im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2015, S. 338–342. 45 Horst Sander: Investitionen – Kern der Sozialen Marktwirtschaft, in: Lothar Bossle (Hg.): Konservative Bilanz der Reformjahre. Kompendium des modernen freiheitlichen Konservatismus, Würzburg 1981, S. 275–282, hier S. 275. 46 Ebd., S. 277. 47 Wolfgang Pohle: Das Programm der Wirtschaft. Marktwirtschaft als politische Chance, Stuttgart 1970, S. 393–394. 48 Vgl. Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 2. Buch, Erlenbach-Zürich 1942, S. 359. 44

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den 1970er Jahren maßgeblich. So sprach etwa der Ökonom Walter Hamm im Juli 1975 am Walter-Eucken-Institut in Freiburg zu der zugespitzten Frage: „Entartet die soziale Marktwirtschaft?“. Mit „Entartung“ bezeichnete Hamm diejenigen „Vorgänge“, die „durch Veränderungen wesentlicher Ziele oder Ordnungselemente der Sozialen Marktwirtschaft ausgelöst werden und die zur Transformation dieses Wirtschaftssystems führen oder zu führen drohen.“ Hierbei handle es sich um „Verstöße staatlicher Instanzen gegen wesentliche marktwirtschaftliche Regeln“. Es gehe also „in allererster Linie um die Abwehr äußerer Feinde einer freiheitlichen Ordnung, und nicht um den Kampf gegen innere Verfallserscheinungen.“49 Die Kassandrarufe warnten mithin in Anknüpfung an die ordoliberale Kritik der Zwischenkriegszeit vor Gefährdungen, die nicht dem marktwirtschaftlichen Geschehen selbst inhärent seien, sondern dieses gleichsam von außen bedrohten. Als äußere Gefahrenquellen identifizierten die selbsterklärten Seismographen der markwirtschaftlichen Krise zum einen die Zunahme wirtschaftlicher Staatsaufgaben seit den 1960er Jahren, die zu einer unzulässigen Verflechtung staatlicher und ökonomischer Zuständigkeitsbereiche geführt habe. So beklagte Walter Hamm: „Was die freiheitliche Ordnung gefährdet und ihre Entartung zu bewirken droht, ist nicht so sehr das Ausmaß, sondern die Art der staatlichen Tätigkeiten in der Wirtschaft.“50 Hamm zufolge waren beispielsweise Geld- und Wettbewerbspolitik, Investitionsförderung, aber auch Infrastruktur-, Sozial- und Umweltpolitik durchaus Aufgabenfelder des Staates.51 Jedoch habe eine steigende „Inflation der Wünsche“ und Erwartungen gegenüber staatlichen Instanzen zur Zunahme von „staatliche[n] Maßnahmen“ geführt, „die die Entfaltung der Marktkräfte lähmen, deren Koordination über die Märkte beeinträchtigen oder unmöglich machen, die Initiative der Individuen abtöten“.52 Damit verwies er zum anderen auf einflussreiche „Interessengruppen“, die ihre Anliegen „mit zunehmender Härte“ verträten und die marktwirtschaftliche Ordnung als „äußere Feinde“ dadurch ebenfalls gefährdeten.53 Dieser Diagnose lag die ordoliberale Problembeschreibung eines „Wirtschaftsstaates“ zugrunde, der zunehmend von gesellschaftlichen Gruppeninteressen dominiert werde und seiner Funktion als wirtschaftlicher Ordnungsgarant nicht mehr gerecht werden könne.54

49 50 51 52 53 54

che

Walter Hamm: Entartet die soziale Marktwirtschaft?, Tübingen 1975, S. 7. Ebd., S. 4. Vgl. Ebd., S. 8. Ebd., S. 4. Ebd., S. 9. Die Problematik des „Wirtschaftsstaates“ skizzierte vor allem: Walter Eucken: StaatliStrukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36

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Wenn Walter Hamm mit „Entartung“ außerdem „Verstöße“ gegen „marktwirtschaftliche Regeln“ bezeichnete,55 lag seinen Ausführungen ebenso das Postulat zugrunde, bei der Marktwirtschaft handle es sich um ein „höchst kompliziertes System von Regeln“.56 Als Plausibilitätsspender für diese Annahme dienten Metaphoriken aus dem semantischen Feld des Sports. So zählte der Kölner Ökonom Christian Watrin zu den wesentlichen „ordnungspolitischen Gesichtspunkten“ das Grundprinzip „gleicher Regeln für alle“, das er auch als das „Fairnessprinzip“ bezeichnete.57 Noch wirkmächtiger waren die metaphorischen Definitionen der staatlichen Aufgabenbereiche, die zugleich auf die Rückseite des Krisendiskurses und damit die Vorschläge zur Überwindung der beschriebenen Gefährdungslagen verwiesen. Im Rahmen der „Baden-Badener Unternehmergespräche“ im Juni 1979 zum Verhältnis von „Unternehmer und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft“ eignete sich beispielsweise Otto Schlecht, Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsministerium, den von Wilhelm Röpke angestellten Vergleich der staatlichen Wirtschaftsaufgaben mit den Tätigkeiten eines Schiedsrichters an: „Um in einem Bilde zu sprechen: Der Staat hat im marktwirtschaftlichen Wettkampf nicht die Aufgabe, selbst als Wettkämpfer mitzuspielen. Aber er ist Ausrichter und Schiedsrichter in diesem Wettkampf. Er muß klare und faire Spielregeln verordnen und bei Verstößen die gelbe und rote Karte zeigen.“58 Wie schon in den ordnungspolitischen Debatten der jungen Bundesrepublik plausibilisierte die Metapher vom Staat als Schiedsrichter das dem ordoliberalen Theoriehaushalt entnommene Ideal des Staates als wirtschaftspolitischer Ordnungsinstanz, die das „Rahmenwerk“ für das wirtschaftliche Betätigungsfeld abzustecken, jedoch nicht selbst auf diesem Feld zu agieren habe.59 Die im Laufe der 1970er Jahre geäußerten Warnungen vor einem Verfall der „Sozialen Marktwirtschaft“ waren untrennbar mit dem Ziel verbunden, diese wiederherzustellen und an die ordnungspolitischen Weichenstellungen (1932), S. 297–321; vgl. auch: Franz Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart 1937. 55 Hamm, Marktwirtschaft, S. 7. 56 Christian Watrin: Wie gefährdet ist die marktwirtschaftliche Ordnung?, in: Wolfgang Stützel u. a. (Hg.): Grundtexte zur sozialen Marktwirtschaft. Zeugnisse aus zweihundert Jahren ordnungspolitischer Diskussion, Stuttgart 1981, S. 117–128, hier S. 121. 57 Ebd., S. 124. 58 Otto Schlecht: Die Rolle von Unternehmer und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft, in: Guido Brunner (Hg.): Unternehmer und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft. Teilnehmertreffen der Baden-Badener Unternehmergespräche am 23. Juni 1979 in Berlin, Frankfurt 1979, S. 15–34, hier S. 21–22. 59 Grundlegend: Walter Eucken: Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, in: Ordo 2 (1949), S. 1–99, hier S. 93.

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der frühen Bundesrepublik anzuschließen. Die Übernahme von wesentlichen Elementen des ordoliberalen Gedankengebäudes in die Krisendiagnostik verwies nicht nur auf den theoretischen Kern der „Sozialen Marktwirtschaft“, die in der bundesrepublikanischen Gründungsphase auf dem Fundament des Ordoliberalismus errichtet worden war.60 Vielmehr ging es den Seismographen der marktwirtschaftlichen Krise nicht allein um die „Soziale Marktwirtschaft“ im Besonderen, sondern um eine „Belebung der ordnungspolitischen Diskussion“61 im Allgemeinen. Sie forderten eine Rückkehr zum „Denken in wirtschaftlichen Ordnungen und sozialen Interdependenzen“62 und damit nicht weniger als eine „Renaissance der Ordnungspolitik“63. Auch die neue schwarz-gelbe Bundesregierung eignete sich das Ziel einer Revitalisierung des ordnungspolitischen Denkens im Allgemeinen und der „Sozialen Marktwirtschaft“ im Besonderen an. So betonte Helmut Kohl in seiner zweiten Regierungserklärung, die von ihm angestrebte „Politik der Erneuerung“ müsse sich „zuerst beweisen in der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft.“ Dass mit dieser Rückbesinnung auch das Ziel einer Begrenzung staatlicher Zuständigkeiten unmittelbar verbunden war, stellte der Bundeskanzler ebenso heraus: „Alle geschichtlichen Erfahrungen dieses Jahrhunderts lehren: Eine Wirtschaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem einzelnen seine Freiheit läßt. […] Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger“.64 Die Jahreswirtschaftsberichte der Bundesregierung aus den folgenden Jahren bekräftigten diese Verknüpfung. 1984 kündigte das Kabinett beispielsweise die „Neubesinnung auf die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft“65 an, zu deren „Handlungsschwerpunkte[n]“66 die „Privatisierung öffentlicher Beteiligungen und Dienstleistungen“67 zählte. Das politische Projekt der Rückführung des Staates auf dessen „Kern“ war zugleich ein Projekt der Revitalisierung der „Sozialen Marktwirtschaft“ als Wirt-

Dazu ausführlich: Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004. 61 Hamm, Marktwirtschaft, S. 33. 62 Ebd., S. 3–4. 63 Armin Bohmet / Wolfgang Mansfeld: Renaissance der Ordnungspolitik, in: Wirtschaftsdienst 61 (1981), S. 223–227. 64 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 4. Sitzung vom 4.5.1983, S. 57. 65 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jahreswirtschaftsbericht 1984 der Bundesregierung, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 952, 2.2.1984, S. 8. 66 Ebd., S. 11. 67 Ebd., S. 12. 60

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schaftsordnungsmodell der Bundesrepublik. Aus dem haushaltspolitischen war endgültig ein primär ordnungspolitisch motiviertes Vorhaben geworden. Indem die Verfechter einer wirtschaftspolitischen „Erneuerung“ und der Begrenzung wirtschaftlicher Staatsaufgaben eine Rückbesinnung auf die Grundpfeiler des Ordoliberalismus anstrebten, schlossen sie sich auch dessen wesentlichen ordnungspolitischen Zielen an, galt ihnen doch die Ermöglichung ökonomischen Wettbewerbs als das vorrangige Ziel der staatlichen Ordnungspolitik. So bezeichnete etwa Otto Schlecht in Anlehnung an eine Monographie des Eucken-Schülers Leonhard Miksch68 „Wettbewerb als ständige Aufgabe“.69 „Der Staat“ – so Schlecht – „muß zunächst die rechtlichen Voraussetzungen für einen funktionierenden Wettbewerb schaffen“.70 Otto Graf Lambsdorff übernahm die Formulierungen seines langjährigen Staatssekretärs beinahe wörtlich und betonte wiederholt: „Die Erhaltung des Wettbewerbs ist eine permanente Herausforderung an den Staat.“71 Für Christian Watrin bestand die vorrangige „Aufgabe der Wirtschaftsordnungspolitik“ ebenfalls darin, den „Wettbewerb zu schützen und zu ermöglichen“.72 Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre eigens ein Gutachten zu Fragen der „Wettbewerbspolitik“, in dem die Ratsmitglieder einleitend konstatierten: „Der Staat muß eine wettbewerbsfreundliche Rahmenordnung setzen und erhalten.“73 Knüpften die Ökonomen und Wirtschaftspolitiker seit den 1970er Jahren auch an ein zentrales ordnungspolitisches Anliegen des Ordoliberalismus an, fußten ihre Überlegungen doch auf einem Verständnis von ökonomischen Vorgängen, das sich von dem ordoliberalen Ideal der „vollständigen Konkurrenz“ unterschied. Die Rückbesinnung auf die ordoliberalen Leitgedanken zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft ging somit einher mit der Revision wirtschafts- und wettbewerbstheoretischer Überlegungen. Verbunden war diese Neubestimmung des semantischen Gehalts von „Wettbewerb“ mit einem diskursiven Wandel, in dessen Verlauf sich die Beschreibungsweisen für den

Leonhard Miksch: Wettbewerb als Aufgabe. Die Grundsätze einer Wettbewerbsordnung, Stuttgart u. a. 1937. 69 Otto Schlecht: Wettbewerb als ständige Aufgabe. Grundsätzliche und aktuelle Fragen der Wettbewerbspolitik, Tübingen 1975. 70 Schlecht, Rolle, S. 22. 71 Otto Graf Lambsdorff: Liberalismus und Marktwirtschaft, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 33 (1984), S. 5–12, hier S. 7. 72 Watrin, Ordnung, S. 121. 73 Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft: Gutachten vom 5./6. Dezember 1986. Thema: Wettbewerbspolitik, in: ders.: Sammelband der Gutachten von 1973 bis 1986, Göttingen 1987, S. 1359–1391, hier S. 1362. 68

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gesellschaftlichen Funktionsbereich Wirtschaft grundlegend veränderten. Die Wirtschaft im Kollektivsingular wurde seit den 1970er Jahren in der Regel als „flexibel“, „anpassungsfähig“ und „dynamisch“ beschrieben. Diese Bezeichnungsinnovation war zum einen eng verknüpft mit dem Bedeutungswandel des Wortes „Flexibilität“.74 Hatte etwa im englischen Sprachgebrauch des 15. Jahrhunderts ursprünglich dasjenige Lebewesen als „flexibel“ gegolten, das sich durch Anpassungsfähigkeit und Persistenz gleichermaßen auszeichnete,75 wurde die zweite Bedeutungskomponente im Laufe der Zeit getilgt: „Flexibilität ist jetzt gleichbedeutend mit der Fähigkeit, sich permanent und unverzüglich auf Veränderungen einzustellen“.76 Mit dieser semantischen Veränderung, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verfestigte, korrespondierte zum anderen ein diskursiver Wandel innerhalb der Medizin. Seit den 1960er Jahren gewann auf der Grundlage medizinischer Forschungen zum Immunsystem die Annahme an Einfluss, der menschliche Organismus zeichne sich nicht durch regelhafte, wiederkehrende, gleichförmige Abläufe aus, sondern durch seine Fähigkeit zur permanenten Veränderung und aktiven Anpassung an äußere Einflüsse.77 Ausgehend von der Medizin diffundierte diese „immunologische Logik“78, welche die etablierten Vorstellungen von zentraler Steuerung, hierarchischer Organisation und Gleichmäßigkeit infrage stellte, auch in andere Diskurszusammenhänge und gesellschaftliche Funktionsbereiche. „Flexibilität“, „Anpassungsfähigkeit“ und „Dynamik“ avancierten zu unverzichtbaren Attributen für Individuen wie für gesellschaftliche Organisationseinheiten. Die Umdeutung des ökonomischen Verständnisses von „Wettbewerb“ war in diesen allgemeinen diskursiven Wandel eingepasst, setzte sich doch während der 1970er Jahre in den wissenschaftlichen und publizistischen Debatten der Bundesrepublik zunehmend das Verständnis von „Wettbewerb“ als Modus ökonomischen Handelns durch, der geprägt sei von Dynamik, Spontaneität und Produktivität. Zwar war die ordoliberale Vorstellung, ökonomische Prozesse vollzögen sich im Modus „vollständiger Konkurrenz“ und

Zum Folgenden: Thomas Lemke: Flexibilität, in: Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt 2004, S. 82–88; Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 75 „Seine Bedeutung war ursprünglich aus der einfachen Beobachtung abgeleitet, daß ein Baum sich zwar im Wind biegen kann, dann aber zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrt“, Sennett, Mensch, S. 57. 76 Lemke, Flexibilität, S. 82. 77 Vgl. Ebd., S. 83. 78 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1984, S. 507. 74

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strebten dabei stets einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu, bereits im Zuge der zweiten Kartellgesetznovelle in den frühen 1970er Jahren endgültig verabschiedet worden. Die wissenschaftlichen Stichwortgeber dieser Reform hatten ihre Überlegungen scharf gegen ein idealisiertes und zu statisches Verständnis von „Wettbewerb“ abgegrenzt. Sie beriefen sich hierbei auf Veröffentlichungen englischsprachiger Ökonomen, die bereits in der Zwischenkriegszeit gegen die Modellannahmen der neoklassischen Theorie Front gemacht und „Wettbewerb“ als „dynamischen Prozess“ begriffen hatten. Die Neudefinition von „Wettbewerb“ im Zuge der Kartellnovelle blieb jedoch nicht auf die Absage an ein allzu starres theoretisches Modell beschränkt. Als neues wettbewerbspolitisches Leitbild sollte vielmehr künftig die „Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs“ gelten, die optimale Ausrichtung der kompetitiven Marktprozesse an „gesamtwirtschaftlichen“, makroökonomischen Orientierungsgrößen.79 In dem Maß jedoch, in dem der Anspruch einer umfassenden politischen Steuerung wirtschaftlicher Prozesse zunehmend in Misskredit geriet, verlor auch das Konzept des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ im weiteren Verlauf der 1970er Jahre in den politischen, wissenschaftlichen und publizistischen Debatten der Bundesrepublik an Plausibilität, veränderte sich der Bedeutungsgehalt von „Wettbewerb“ nochmals beträchtlich und nachhaltig. Einer der wissenschaftlichen Wegbereiter dieses semantischen Wandels war der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek, der bereits an der intellektuellen Geburt des „Neoliberalismus“ in den 1930er Jahren maßgeblich beteiligt gewesen war und aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit an der London School of Economics und der Universität Chicago sowie der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften im Jahr 1974 zu den einflussreichsten Vertretern seines Faches gehörte.80 Eine komprimierte Darstellung seiner wettbewerbstheoretischen Überlegungen legte Hayek in einem Vortrag vor, den er im März 1968 vor der Philadelphia Society in Chicago unter dem Titel „Competition as a Discovery Procedure“ hielt.81 Hierin distanzierte auch er sich von der Annahme, ökonomische Konkurrenz führe ein „Gleichgewicht“ herbei, wäre „der Prozeß des Wettbewerbs“ doch damit

Vgl. Wolfgang Kartte: Ein neues Leitbild für die Wettbewerbspolitik, Köln 1969; Erhard Kantzenbach: Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, Göttingen 1966. 80 Zu Leben, Werk und politischem Einfluss Hayeks: Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000. 81 Friedrich August von Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Viktor J.  Vanberg (Hg.): Hayek-Lesebuch, Tübingen 2011, S.  188–205. Zu früheren wettbewerbstheoretischen Aufsätzen Hayeks: Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek zur Einführung, Hamburg 32014, S. 57–61. 79

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„zum Stillstand gekommen“.82 Hayek nannte es gar eine „Absurdität des gebräuchlichen Vorgehens“, dass Ökonomen ausgingen von „einem Zustand, den die Theorie merkwürdigerweise vollkommenen Wettbewerb nennt, in dem aber für die Tätigkeit, die wir Wettbewerb nennen, keine Gelegenheit mehr besteht, und von der vielmehr vorausgesetzt wird, daß sie ihre Funktion bereits erfüllt hat.“83 Hier scheint die Gegenüberstellung eines statischen und eines dynamischen, handlungsbezogenen Verständnisses von kompetitiven Marktprozessen wieder auf, die zwar schon wesentlicher Bestandteil des theoretischen Leitbildes vom „funktionsfähigen Wettbewerb“ gewesen war. Ebenso scharf grenzte sich Hayek jedoch von dem Postulat ab, „Wettbewerb“ funktional zu begreifen und aus makroökonomischer Perspektive an „gesamtwirtschaftlichen“ Zielprojektionen auszurichten. Wie der Vortragstitel bereits andeutet, ging es ihm vielmehr darum, „Wettbewerb einmal systematisch als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen [zu] betrachten“.84 Dabei verglich er den wirtschaftlichen Wettbewerb mit wissenschaftlichen Verfahren und nannte ihn „eine Methode zur Entdeckung besonderer vorübergehender Umstände“, zur Produktion von Wissen.85 Aus dem experimentellen Charakter des ökonomischen Wettbewerbs, den Hayek in Anlehnung an einen Aufsatz Leopold von Wieses86 postulierte, ergab sich für ihn unmittelbar, „daß Wettbewerb nur deshalb und insoweit wichtig ist, als seine Ergebnisse unvoraussagbar und im ganzen verschieden von jenen sind, die irgend jemand bewußt hätte anstreben können“.87 Eine makroökonomische Fundierung der Wettbewerbstheorie, die „auf die Voraussage konkreter Ereignisse hinzielt“88, war aus dieser Sicht nicht nur irreführend, sondern nicht möglich. Hayek zufolge produzierte „der Wettbewerb“ weder ein Gleichgewicht noch konkrete Ergebnisse, sondern vielmehr eine „spontane Ordnung“, über die „gar nicht gesagt werden kann, daß sie bestimmte Zwecke hat“.89 Die von Hayek perpetuierte Vorstellung eines dynamischen, Wissen produzierenden und unvorhersehbare, „spontane Ordnungen“ generierenden

Hayek, Wettbewerb, S. 195. Ebd., S. 193. 84 Ebd., S. 188. 85 Ebd., S. 189–190, Zit. S. 190. 86 Leopold von Wiese: Die Konkurrenz, vorwiegend in soziologisch-systematischer Betrachtung, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.): Verhandlungen des 6. Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich. Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen, Tübingen 1929, S. 15–35. 87 Hayek, Wettbewerb, S. 189. 88 Ebd., S. 191. 89 Ebd., S. 194. 82 83

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Modus wirtschaftlichen Handelns entfaltete auch in den wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Debatten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren einige Wirkungsmacht. Sowohl einflussreiche Ökonomen und Gremien der Politikberatung als auch Politiker integrierten diese Denkfigur in ihre Vorträge und Veröffentlichungen. Der Sachverständigenrat etwa nannte den „dynamischen Wettbewerb“ in den frühen 1980er Jahren mehrfach „das Lebenselixier der Wirtschaft“ und „das Leitbild“ der Wirtschaftspolitik. Deren Ziel müsse demnach sein, sowohl „für wettbewerbsgerechte und verläßliche Rahmenbedingungen zu sorgen“ als auch den „Wettbewerbsprozeß […] zu stimulieren“.90 Dass die Umdeutung des ökonomischen Begriffs von „Wettbewerb“ mithin eng verbunden war mit den Forderungen nach einer Rückbesinnung auf die Grundpfeiler des ordoliberalen Denkens, lassen auch die Aussagen der Verfechter einer solchen ordnungspolitischen „Renaissance“ erkennen. So sprach BMWi-Staatssekretär Otto Schlecht während eines Symposiums zur Definition wirtschaftlicher Staatsaufgaben über die Notwendigkeit, das „Entdeckungsverfahren freier Marktprozesse“91 zu fördern, oder beklagte der Ökonom Walter Hamm in seinem Vortrag am Walter-EuckenInstitut: „Die spontane Ordnung wird mehr und mehr von unmittelbarer staatlicher Lenkung wirtschaftlicher Prozesse beeinträchtigt.“92 Die wichtigste Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik, die sich daraus ergebe, bestehe darin, „schöpferische Kräfte“ anzuregen und die „marktwirtschaftliche Dynamik“ zu „verstärken“.93 Die Beweglichkeit, Vitalität und Dynamik kompetitiver Marktprozesse stand hierbei im Gegensatz zu deren Beeinträchtigung durch staatliche Eingriffe und Regulierungen, lag doch beispielsweise für den Sachverständigenrat die Förderung „dynamischen Wettbewerbs“ darin: „Abzubauen, was ihm an unnötigen Hemmnissen im Wege steht“94, dem „dyna-

Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jahresgutachten 1985/86 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 4295, 22.11.1985, S. 152; Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jahresgutachten 1984/85 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 2541, 30.11.1984, S. 166. 91 Otto Schlecht: Ordnungs- und wettbewerbspolitische Aspekte unternehmerischer Tätigkeit des Staates, in: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb (Hg.): Der Staat als Wettbewerber und Auftraggeber privater Unternehmen. Referate des XVII. FIWSymposiums, Köln u. a. 1984, S. 1–13, hier S. 8. 92 Hamm, Marktwirtschaft, S. 13. 93 Ebd., S. 4. 94 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jahresgutachten 1984/85 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 2541, 30.11.1984, S. 166. 90

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mischen Wettbewerb“, der „ein ständig pulsierender Prozeß“95 sei, „mehr Schubkraft zu verleihen“96 und „Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten“97. In einem 1984 erschienenen Aufsatz zeichnete auch Otto Graf Lambsdorff das Bild einer gehemmten Wirtschaft, deren „Dynamik“ gleichsam freigesetzt werden müsse: „Unsere Wirtschaft liegt […] wie Gulliver gefesselt am Boden. Von diesen Fesseln müssen wir die Wirtschaft wieder befreien und das heißt: Rückführung des Staates, Privatisierung, Abbau von Bürokratismus.“98 Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion erklärte die Politik einer umfassenden „Entstaatlichung“ damit zu demjenigen Rezept, mit dem man nicht nur an die bewährte wirtschaftliche Ordnung der Nachkriegszeit anknüpfen, sondern auch die von Hayek beschriebenen innovativen Kräfte einer kompetitiven Marktwirtschaft freilegen könne. Der diskursive Dreiklang, bestehend aus der Diagnose einer schwerwiegenden Krise der „Sozialen Marktwirtschaft“ und dem Postulat der Revitalisierung ihrer ordoliberalen Wurzeln sowie der Revision wirtschafts- und wettbewerbstheoretischer Annahmen, kennzeichnete die „Entstaatlichungs“vorhaben der 1980er Jahre mithin als „neoliberales“ politisches Projekt. Nach ihrer Amtsübernahme ging die neue schwarz-gelbe Bundesregierung schließlich daran, ihre weitreichenden Ankündigungen zu konkretisieren. Schon im Herbst 1983 ließ sie den Absichtserklärungen Taten folgen und demonstrierte ihre selbsterklärte „ordnungspolitische Entschlossenheit“99: In seiner Sitzung am 26. Oktober 1983 beschloss das Kabinett auf Vorschlag von Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg die Reduzierung des Bundesanteils am Energiekonzern VEBA auf 30 Prozent.100 Mit dem Aktienverkauf, dem der Bundestag noch im selben Jahr zustimmte und dessen erfolgreichen Verlauf Stoltenberg Anfang Februar 1984 vermelden konnte,101 waren mehrere Implikationen verbunden. Erstens markierte die abermalige Teilprivatisierung der VEBA einen entschiedenen Bruch mit dem erklärten Ziel der VorgängerregieEbd., S. 167. Ebd., S. 166. 97 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jahresgutachten 1985/86 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 4295, 22.11.1985, S. 152. 98 Lambsdorff, Liberalismus, S. 10. 99 Neukonzeption der Beteiligungspolitik des Bundes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 118, 4.11.1983; Gerhard Stoltenberg: Ein Beitrag zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, 64 (1984), 59–62, hier S. 61. 100 Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 1983. Protokolle, 17. Kabinettssitzung am 26. Oktober 1983. 101 Vgl. Zum Verkauf der VEBA-Aktien des Bundes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 11, 1.2.1984. 95 96

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rung, durch Unternehmenszusammenschlüsse einen „nationalen Mineralölkonzern“ aufzubauen.102 Da zweitens der Bundesanteil fortan unterhalb der Majoritätsgrenze lag, die der Bundesgerichtshof in seinem Grundsatzurteil vom 13. Oktober 1977 zum Maßstab für die unternehmerische Abhängigkeit erklärt hatte,103 galt die VEBA nach der neuerlichen Teilprivatisierung nicht mehr als ein vom Bund abhängiges Unternehmen. Dieser Umstand hatte weit mehr als aktienrechtliche Konsequenzen, tauchte doch fortan die große Zahl der VEBA-Firmenbeteiligungen, an denen der Bund mittelbar beteiligt gewesen war, nicht mehr im Beteiligungsbericht des Bundesfinanzministeriums auf. Folglich fiel die Zahl der Unternehmen im Bundesbesitz innerhalb eines einzigen Berichtszeitraumes von 958 auf 487.104 Diese Entwicklung konnte die Bundesregierung drittens als sichtbares Zeichen deuten, das ihre beteiligungspolitische Handlungsbereitschaft unterstreiche. Im März 1985 legte Stoltenberg dann ein „Gesamtkonzept für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes“ vor. In diesem ersten beteiligungspolitischen Grundsatzprogramm der bundesrepublikanischen Geschichte leitete der Bundesfinanzminister aus dem zitierten „Leitgedanken“ der Regierungserklärung vom Mai 1983, „den Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurückzuführen“, die „drei Aufgabengebiete“ der „Entbürokratisierung“ sowie der funktionalen und materiellen Privatisierung ab.105 Die aus

Die sozial-liberale Bundesregierung hatte Mitte der 1970er Jahre Anteile am Energiekonzern Gelsenberg erworben und in die VEBA eingebracht. Der Bundesanteil der 1965 teilprivatisierten VEBA war dadurch auf rund 43 Prozent angestiegen. 103 Im Zuge des Zusammenschlusses von VEBA und Gelsenberg im Juli 1975 hatten die freien Gelsenberg-Aktionäre auf das Angebot einer Barabfindung geklagt, das ihnen aufgrund der aktienrechtlichen Abhängigkeit der aufnehmenden Gesellschaft – der VEBA – vom „Unternehmen“ Bundesrepublik Deutschland zustehe. Der zweite Zivilsenat des Bundesgerichtshofes schloss sich in seinem Grundsatzurteil vom 13. Oktober 1977 dieser Rechtsauffassung an, da der Bund mit seinem Anteilsbesitz von mehr als 40 Prozent die VEBA-Hauptversammlung dauerhaft majorisieren konnte, in der kontinuierlich lediglich 77 Prozent des Grundkapitals vertreten waren. Den Klägern wurde damit nicht nur das Recht auf eine Barabfindung zugesprochen. Vielmehr galt die Bundesrepublik Deutschland fortan als Unternehmen im Sinne des Aktienrechts. Mit der Reduktion des Bundesanteils auf 30 Prozent bestand die faktische Mehrheit des Bundes in der Hauptversammlung nicht mehr, war die gerichtlich festgestellte Abhängigkeit der VEBA vom Bund aufgehoben; Heiner Radzio: Unternehmen mit Energie. Aus der Geschichte der Veba, Düsseldorf u. a. 1990, S. 256–257. 104 Vgl. Fritz Knauss: Die Entscheidungen der Bundesregierung zur Privatisierung. Ein Sachstandsbericht, in: Helmut Brede (Hg.): Privatisierung und die Zukunft der öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1988, S. 159–176, hier S. 164–165. 105 Gesamtkonzept für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 34, 28.5.1985, S. 281–285, hier S. 281. 102

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den eingangs formulierten Prinzipien abgeleitete Notwendigkeit zum „Abbau“ von Bundesbeteiligungen sollte zudem ohne bisherige Einschränkungen erfolgen und sich „grundsätzlich auf alle Beteiligungen des Bundes und der Sondervermögen erstrecken“.106 Damit standen fortan auch Privatisierungen von Besitzbeständen aus dem Bereich der „Sondervermögen“ Deutsche Bundesbahn und Deutsche Bundespost zur Disposition, die in der Frühphase der Bundesrepublik noch ausdrücklich sowohl von den Privatisierungsforderungen seitens der Wirtschaftsverbände, Journalisten und Parteien als auch den Privatisierungsplänen der Bundesregierung ausgenommen gewesen waren. Zugleich beschränkte sich Stoltenberg nicht auf die Formulierung beteiligungspolitischer Prinzipien, sondern legte dem Kabinett gemeinsam mit dem „Gesamtkonzept“ eine weitere „Beschlußvorlage“ vor, in der dreizehn „Vorhaben“ zur Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen des Bundes genannt waren.107 Das beteiligungspolitische „Gesamtkonzept“ bekräftigte mithin die beschworene „ordnungspolitische Entschlossenheit“ der Regierung zur „Entstaatlichung“. Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik hatte ein Bundeskabinett in Form einer Gesamtkonzeption beteiligungspolitische Leitlinien skizziert, die zudem weitreichender waren als noch in der jungen Bundesrepublik. Die angestrebten Maßnahmen erstreckten sich erstens auf unterschiedliche Dimensionen wirtschaftlicher Staatstätigkeit und blieben nicht auf das Ziel der materiellen Privatisierung beschränkt, die zweitens auf sämtliche Bundesbeteiligungen  – auch diejenigen der „Sondervermögen“  – ausgedehnt werden sollte. Schließlich war der Beschluss beteiligungspolitischer Prinzipien drittens eng verbunden mit der Ausarbeitung mehrerer Privatisierungsmaßnahmen, welche die allgemeinen Absichtserklärungen in konkrete Handlungsziele überführten.

4. Verzögerung und Beharrung

Im September 1985 kommentierte der Journalist Peter Hort in einem Artikel für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die Beteiligungspolitik der Bundesregierung und stellte spöttisch fest, „von Stoltenbergs ordnungspolitisch so bedeutsame[m] Vorhaben“ sei „nicht viel mehr als ein Skelett übrig“.108 Für das „Handelsblatt“ prognostizierte Reinhard Uhlmann Anfang 1986 lakonisch, in dem vorgelegten „Schneckentempo“ werde die Regierung „ohne Wunder

Ebd., S. 283. Ebd., S. 285. 108 Privatisierung – nur noch ein Skelett, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.1985. 106 107

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ihren Beschluß nicht einhalten können.“109 Diese Einschätzungen spiegeln das schon von den Zeitgenossen wahrgenommene Spannungsverhältnis wider zwischen den verheißungsvollen „Entstaatlichungs“-Ankündigungen der Bundesregierung einerseits und deren zögerlicher Umsetzung andererseits. So folgten den weitreichenden Absichtserklärungen – sieht man von der zügigen Entscheidung für die Teilprivatisierung der VEBA ab – zunächst keine weiteren Beschlüsse. Das „Gesamtkonzept zur Privatisierungs- und Beteiligungspolitik“ und die ergänzende „Beschlussvorlage“, die Privatisierungen von 13 Bundesbeteiligungen – darunter Volkswagen, Lufthansa und VIAG – vorsah,110 lagen vielmehr erst zweieinhalb Jahre nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung vor. Eine „Deregulierungskommission“ setzte das Kabinett gar erst 1987 ein. Erste Ergebnisse konnte dieses Gremium demnach erst Anfang der 1990er Jahre vorlegen.111 Besonders augenfällig wird die Tendenz, die „Entstaatlichungs“-Vorhaben zu verlangsamen und zu verzögern, mit Blick auf die „Postreform I“. Obwohl der Bundeskanzler schon bei Amtsantritt des neuen Kabinetts Umstrukturierungen im Bereich des Post- und Fernmeldewesens in Aussicht gestellt hatte, dauerte es bis Mai 1985, ehe das Kabinett die „Regierungskommission Fernmeldewesen“ bestellte, die im Laufe von zwei Jahren eine valide Grundlage für die nachfolgenden Reformdiskussionen erarbeiten sollte. In der Zwischenzeit geriet der dilatorische Verweis auf das ausstehende Gutachten der Kommission zu einer vielfach bemühten Redefigur. Am Ende dauerte es bis zum Sommer 1989, ehe die über mehrere Jahre ausgehandelten Reformen im Bereich des Post- und Fernmeldewesens in Kraft treten konnten.112 Diese Diskrepanz zwischen Verheißung und Beharrung, Ankündigung und Umsetzung ist erklärungsbedürftig, zumal die schwarz-gelbe Bundesregierung auch im Bundesrat über eine stabile Mehrheit verfügte. Gewichtige „Veto-Spieler“113 fanden sich jedoch vor allem in den Reihen der Union, wo

Im Schneckentempo, in: Handelsblatt, 27.2.1986. Knauss, Entscheidungen, S. 172–175. 111 Vgl. Deregulierungskommission. Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen: Marktöffnung und Wettbewerb. Deregulierung als Programm?, Stuttgart 1991. 112 Vgl. Gabriele Metzler: „Ein deutscher Weg“. Die Liberalisierung der Telekommunikation in der Bundesrepublik und die Grenzen politischer Reformen in den 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S.  163–190. Zügiger erfolgte die Einführung des privaten Rundfunks: Frank Bösch: Politische Macht und gesellschaftliche Gestaltung. Wege zur Einführung des privaten Rundfunks in den 1970/80er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 191–210. 113 Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. 1982–1990, Stuttgart 2006, S. 212–222. 109 110

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die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) frühzeitig gegen die Entstaatlichungsvorhaben Front machte. Dabei nahmen deren Vertreter das von Helmut Kohl erklärte Ziel einer „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ auf, um einen Deutungskampf über die zentralen Elemente der anzustrebenden wirtschaftlichen Ordnung zu eröffnen. Heinz Soénius, Vorsitzender des größten CDA-Kreisverbandes in Köln, etwa suchte die „Soziale Marktwirtschaft“ scharf gegen die Privatisierungsmaßnahmen in Großbritannien und den USA abzugrenzen: „Unser Vorbild ist […] weder Ronald Reagan noch Margret Thatcher, sondern Ludwig Erhard. […] Wer also heute einseitig dem freien Spiel des Marktes das Wort redet, will nicht die Wende zurück zur ‚sozialen Marktwirtschaft‘, sondern ein anderes System.“114 Peter Köppinger, Geschäftsführer der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe, pflichtete dem bei und bemängelte, mit den „Entstaatlichungs“-Absichten würde „die Marktwirtschaft […] absolut gesetzt“. Statt einer „Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft“, für die auch „soziale Partnerschaft“ und „verantwortliche Rahmensetzung durch den Staat“ unabdingbar seien, finde eine „Abkehr von der sozialen Marktwirtschaft“ statt.115 Beide Aussagen stehen zum einen beispielhaft für den Status der Wortverbindung „Soziale Marktwirtschaft“ als Leerformel, deren Bedeutungsbestände umstritten waren und die sich gerade aufgrund dieser Uneindeutigkeit als argumentativer Fluchtpunkt eignete. Zum anderen belegen sie den Widerstand, den insbesondere der Arbeitnehmerflügel der CDU den „Entstaatlichungs“-Absichten des Kabinetts entgegenbrachte. Vornehmlich wirtschaftspolitisch motiviert war der Widerstand einzelner Bundesländer. Insbesondere der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß stellte sich einer weitreichenden Privatisierung der Deutschen Lufthansa vehement entgegen, da er Nachteile für die überwiegend in Bayern ansässigen Firmen der bundesdeutschen Luftfahrtindustrie befürchtete.116 Wirtschaftspolitische Interessen standen auch hinter der Absicht der niedersächsischen Landesregierung, ihre Minderheitsbeteiligung an der Volkswagen AG zu behalten. Schon im Zuge der ersten VW-Teilprivatisierung Anfang der 1960er Jahre, in deren Verlauf das Volkswagenwerk in eine Aktiengesellschaft

An der sozialen Marktwirtschaft nagt der Wurm, in: Soziale Ordnung. Zeitschrift der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft, 1.10.1983, S. 3. 115 Das ist keine Perspektive, in: Soziale Ordnung. Zeitschrift der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft, 29.11.1984, S. II–III, hier S. III. 116 Vgl. Reimut Zohlnhöfer: Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982–1998, Opladen 2001, S. 169. 114

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umgewandelt worden war, hatte das Land Niedersachsen auf einer Sperrminderheit bestanden, um seinen Einfluss in der Hauptversammlung geltend machen zu können.117 Während Finanzminister Stoltenberg nun eine Veräußerung der noch bestehenden Anteile des Bundes beabsichtigte, pochte das Land Niedersachsen weiterhin auf seine Minderheitsbeteiligung. Doch nicht nur die genannten „Veto-Spieler“ trugen zur Verzögerung der angekündigten „Entstaatlichungs“-Maßnahmen bei, die in deutlichem Kontrast zur Wende- und Dringlichkeitsrhetorik der Regierungserklärung stand. Vielmehr war die zeitliche Verschleppung der Verfahren auch sprachlich vorstrukturiert. So nannte die Kabinettsvorlage des Finanzministers, die Fritz Knauss, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium, auch als „Schwerpunktprogramm“ bezeichnete, zwar explizit dreizehn Beteiligungsunternehmen, deren Veräußerung das Kabinett grundsätzlich anstrebe. Als „ausdrückliche Verkaufsvorhaben“ deklariert waren jedoch lediglich die VIAG, die Deutsche Pfandbriefanstalt, die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank, das Prospektionsunternehmen Prakla-Seismos sowie die Deutsche Verkehrs-Kredit-Bank und die Logistikfirma Schenker & Co, die beide zum Beteiligungsbesitz der Deutschen Bundesbahn gehörten. Im Falle der Volkswagen AG war zunächst eine „passive Privatisierung“ durch Nicht-Beteiligung des Bundes an künftigen Kapitalerhöhungen vorgesehen. Bei der DIAG ging es um die „Bekundung einer Verkaufsabsicht ohne Konkretisierung“, während für die Deutsche Lufthansa, die IVG, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen sowie die beiden Touristikunternehmen DER und abr aus dem Beteiligungsbesitz der Deutschen Bundesbahn sogar nicht mehr als „Verhandlungs-“ und „Untersuchungsaufträge“ erteilt werden sollten.118 Die Formulierungen des „Schwerpunktprogramms“ waren zum einen vage, referierten die verwendeten Bezeichnungen – „Vorhaben“, „Absichten“, „Aufträge“  – doch auf einen zeitlich nicht genau bestimmbaren, unabgeschlossenen Prozess, ohne einen konkreten Veräußerungszeitpunkt zu benennen. Zum anderen wird sowohl in der Beschlussvorlage des Bundesfinanzministers als auch im zeitgleich verabschiedeten „Gesamtkonzept“ der Topos der Einzelfallprüfung überdeutlich sichtbar, an den die Vertreter der Regierungskoalition sich vielfach zurückzogen. So erklärte der Bundesfinanzminister die „Prüfungserfordernis“, „ob Zahl und Höhe der Beteiligungen des Bundes in bisherigem Ausmaß erforderlich sind“, nicht nur zum ersten und damit

Ausführlich zur Einrichtung der Volkswagenwerk AG: Rainer Nicolaysen: Der lange Weg zur Volkswagenstiftung. Eine Gründungsgeschichte im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Göttingen 2002. 118 Knauss, Entscheidungen, S. 174. 117

Eine „neoliberale“ Verheißung 173

wichtigsten der beteiligungspolitischen „Grundsätze“. Das „Gesamtkonzept“ durchzogen vielmehr unterschiedliche grammatikalische Formen des Verbs „prüfen“, die auf jeder Seite des Textes zu finden waren.119 In einem Beitrag für den „Wirtschaftsdienst“ betonte Gerhard Stoltenberg ebenfalls, dass die „Entscheidung, ob eine Beteiligung verringert oder ganz aufgegeben werden kann, […] eine sorgfältige Prüfung“ voraussetze.120 Auf notwendige Einzelfallprüfungen verwiesen auch mehrere Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als sie die Redner des liberalen Koalitionspartners im März 1985 während einer Aktuellen Stunde zur Privatisierungspolitik im Bundestag mit dem Vorwurf konfrontierten, die angestrebten Privatisierungsmaßnahmen zu verschleppen. So wollte Bernhard Friedmann von der CDU „großen Wert darauf legen, daß wir bei allen diesen Überlegungen ganz konkret und gezielt von Fall zu Fall vorgehen“ und „das alles gar nicht von heute auf morgen so Hals über Kopf übers Knie brechen“.121 Dem CSU-Abgeordneten Erich Riedl zufolge „steckt der Teufel im Detail: Was ist ein wichtiges Interesse des Bundes? Was das ist, läßt sich nicht mit einer Schablone feststellen. Man wird und kann es eigentlich immer nur im Einzelfall ermitteln.“122 Die Rede von der fortdauernden Prüfungsbedürftigkeit des Einzelfalls nahm die als langsam und zögerlich wahrgenommene Umsetzung der formulierten „Entstaatlichungs“Ziele sprachlich vorweg. Auf der Bedeutungsebene referierte die Redefigur auf einen zeitlich nicht genau bestimmbaren, unabgeschlossenen und ergebnisoffenen Prozess. Die Fragen, wann mit der Veräußerung von Aktienanteilen des Bundes begonnen werde und in welchem Umfang dessen Besitzanteile reduziert werden könnten, waren deklariert als Gegenstand andauernder Untersuchungen, die ausschließlich unternehmensspezifisch durchgeführt werden könnten. Die Verknüpfung der Redefigur mit deutungsbedürftigen Wortverbindungen wie „öffentliches Interesse“ verlieh den Verweisen auf die Prüfungsbedürftigkeit im Einzelfall umso größere Plausibilität. Gerade weil das „wichtige Bundesinteresse“ nicht allgemein und grundsätzlich definiert war, bestand eine umso größere Notwendigkeit, den semantischen Gehalt der Wortverbindung im konkreten Fall verbindlich festzulegen. Deutungsbedürftig war auch die Wortverbindung „Daseinsvorsorge“, die in den „Entstaatlichungs“-Debatten der 1980er Jahre einen hohen argumentativen Gebrauchswert erreichte. Während der NS-Zeit von Ernst Forsthoff Vgl. Gesamtkonzept für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 34, 28.5.1985, S. 281– 285, Zit. S. 282. 120 Stoltenberg, Beitrag, S. 61. 121 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 128. Sitzung vom 27.3.1985, S. 9443. 122 Ebd., S. 9445.

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als verwaltungsrechtlicher Begriff eingeführt,123 war „Daseinsvorsorge“ auch im bundesrepublikanischen Sprachhaushalt als Bezeichnung für staatliche Versorgungsaufgaben enthalten. In den 1980er Jahren war die Wortverbindung insbesondere in den Debatten um die Zukunft des bundesdeutschen Post- und Fernmeldewesens gebräuchlich.124 Für die Unionsparteien in der Regierungskoalition diente die Bezeichnung „Daseinsvorsorge“, die als „öffentliche Aufgabe“ sogar Eingang in das „Poststrukturgesetz“ fand, der sprachlichen Begrenzung einer umfassenden Deregulierung im Fernmeldebereich. Doch erwies sich das Wort nicht nur im Falle der „Postreform“ als brauchbar, um gegen eine umfassende „Entstaatlichung“ zu argumentieren und staatliche Aufgabenbereiche zu bestätigen. So legte etwa der CSU-Bundestagsabgeordnete Erich Riedl Wert auf die Feststellung, dass die Deutsche Lufthansa „mit dem Fluglinienverkehr Aufgaben staatlicher Daseinsvorsorge“ erfülle.125 Dabei konnte er sich auf eine gleichlautende Äußerung des Staatssekretärs beim Bundesverkehrsministerium vom August 1983 berufen.126 Die beschriebenen Verzögerungs- und Beharrungstendenzen, die auf den Widerstand von „Veto-Spielern“ innerhalb der Koalition zurückzuführen sind und gleichermaßen sprachlich vorstrukturiert waren, wirkten sich auch auf den materiellen Umfang der Entstaatlichungsmaßnahmen in den 1980er Jahren aus. So mutet nicht nur die Zahl von 13 im „Schwerpunktprogramm“ der Bundesregierung genannten Privatisierungsvorhaben angesichts der Gesamtzahl von 487 Bundesbeteiligungen zu diesem Zeitpunkt gering an. Auch trat die Bundesregierung den angekündigten Rückzug des Staates aus der unternehmerischen Tätigkeit in diesen Fällen nur mit zögerlichen Schritten an.127 Der Bund veräußerte bis zum Jahr 1988 allein seine Anteile an den Konzernen VEBA und VIAG vollständig, während Volkswagen und Lufthansa – um hier nur die umsatzstärksten Unternehmen zu behandeln – lediglich teilprivatisiert wurden. Der Bundesanteil an der Volkswagen AG verringerte sich 1985 zunächst von 20 auf rund 14 Prozent, da der Bund auf seinen Anteil an der vorgenommenen Kapitalerhöhung verzichtete, ehe er 1988 schließlich seine VW-Beteiligung vollständig veräußerte. Das Land Niedersachsen hingegen, das weiterhin auf seiner Sperrminderheit bestand,

Vgl. Ernst Forsthoff: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/Berlin 1938. Vgl. auch: Metzler, Weg, S. 188. 125 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 128. Sitzung vom 27.3.1985, S. 9445. 126 Vgl. Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 22. August 1983 eingegangenen Antworten der Bundesregierung, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Drucksachen, 10. Wahlperiode, 320, 26.8.1983, S. 23. 127 Zum Folgenden: Zohlnhöfer, Wirtschaftspolitik, S. 168–170; Knauss, Entscheidungen, S. 174–175. 123 124

Eine „neoliberale“ Verheißung 175

behielt seinen 20-prozentigen Anteil am Grundkapital der Gesellschaft, den es seit der ersten VW-Privatisierung Anfang der 1960er Jahre hielt. Bei der Lufthansa AG kam die Verringerung der Bundesanteile auf rund 55 Prozent ebenfalls lediglich dadurch zustande, dass der Bund auf seine Beteiligung an der im Juli 1989 beschlossenen Kapitalerhöhung verzichtete.128 Für die Deutsche Bundespost wiederum war eine materielle Privatisierung bereits mit Einberufung der „Regierungskommission Fernmeldewesen“ unter Verweis auf die Bestimmungen des Grundgesetzes ausgeschlossen worden.

5. Schluss

Das politische Vorhaben einer Rückführung des Staates auf dessen „Kern“ war ein „neoliberales“ Projekt. Die vielbeschworene Krise der „Sozialen Marktwirtschaft“ als Wirtschaftsordnungsmodell, das in den Gründungsjahren der Bundesrepublik auf dem theoretischen Fundament des Ordoliberalismus errichtet worden war, sollte durch die Wiederbelebung dieser ordoliberalen Wurzeln überwunden werden. Demnach hatte der Staat als wirtschaftspolitische Ordnungsinstanz das „Rahmenwerk“ für das wirtschaftliche Betätigungsfeld abzustecken, jedoch nicht selbst auf diesem Feld zu agieren. Zugleich ging mit der Rückbesinnung auf die Grundüberzeugungen des Ordoliberalismus eine Revision wirtschafts- und wettbewerbstheoretischer Prämissen einher. Wenn die Ermöglichung ökonomischen Wettbewerbs auch weiterhin als zentrales Aufgabenfeld staatlicher Ordnungspolitik galt, hatten sich doch die Annahmen über die Beschaffenheit ökonomischer Prozesse grundlegend geändert. Auch in der Bundesrepublik orientierten sich die wirtschaftspolitischen Debatten seit den 1970er Jahren an der Vorstellung eines dynamischen, unvorhersehbaren und schöpferischen ökonomischen Wettbewerbs. Damit knüpfte das Vorhaben einer weitreichenden „Entstaatlichung“ einerseits mit dem Verweis auf die „Soziale Marktwirtschaft“ an eine idealisierte Vergangenheit an, die es zu revitalisieren galt. Andererseits war „Entstaatlichung“ zugleich das Versprechen auf eine Zukunft, in der wirtschaftlicher Wettbewerb – befreit von staatlichen „Fesseln“ – dynamischer, innovativer und damit wohlstandsfördernder ablaufen würde. Im Laufe der 1980er Jahre geriet dieses zweifache, gleichermaßen auf Vergangenheit und Zukunft gerichtete Versprechen allerdings zunehmend in Spannung gegenüber Beharrungskräften, die sich hemmend und verzögernd auf seine Einlösung auswirkten.

Vgl. Songül Bozdag-Yaksan: Vom Staatsunternehmen zum Global Player. Die Unternehmensentwicklung der Deutschen Lufthansa AG, Köln 2008, S. 130–132.

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Zum einen formierte sich in den Reihen der Union Widerstand gegen das erklärte Vorhaben einer umfassenden „Entstaatlichung“. Während einzelne Landesregierungen insbesondere ihre wirtschaftspolitischen Interessen in Gefahr sahen, zogen einflussreiche Vertreter der CDA das erklärte Ziel einer „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ in Zweifel, indem sie deren Unvereinbarkeit mit Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen postulierten. Die Verzögerungstendenzen hatten zum anderen auch eine sprachliche Dimension. Indem sich die Vertreter der Regierungskoalition vielfach an den Topos der Prüfungsbedürftigkeit im Einzelfall zurückzogen, den auch das beteiligungspolitische „Gesamtkonzept“ der Koalition als maßgeblichen Orientierungspunkt ausgewiesen hatte, nahmen sie die vielfach beklagte Verschleppung der angekündigten Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen sprachlich vorweg. Da die Ankündigung einer weitreichenden „Entstaatlichung“ und deren Umsetzung im Laufe der 1980er Jahre zunehmend auseinanderdrifteten, tat sich ein kommunikativer Resonanzraum auf, in dem das noch uneingelöste Versprechen einer Reduktion des Staates auf den „Kern seiner Aufgaben“ permanent aktualisiert wurde. Das Vorhaben der „Entstaatlichung“, das mit dem „neoliberalen“ Versprechen verbunden war, die „Krise der Sozialen Marktwirtschaft“ durch eine strikte Trennung staatlicher und wirtschaftlicher Zuständigkeitsbereiche sowie die „Entfesselung“ der wirtschaftlichen Dynamik zu überwinden, geriet zu einer auf Dauer gestellten Verheißung.

Liberalisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik?

marc BuGGeln

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? Der Umgang von FDP und CDU/CSU mit den öffentlichen Finanzen in den 1970er und 1980er Jahren*

„Ich bin kein Anhänger der Marktwirtschaft, sondern der sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung vom Liberalismus […], daß der Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift, und dadurch die Schwachen hochzieht.“

M

it diesen Worten distanzierte sich Bundeskanzler Helmut Kohl 1988 von Margaret Thatcher und ihrer Steuerpolitik, nachdem er von einem Vertreter des Wirtschaftsflügels seiner Partei zu deutlicheren Steuersenkungen aufgefordert worden war.1 Dieses Abstandnehmen mag auf den ersten Blick überraschen, war Kohl 1982 doch im Hinblick auf die öffentlichen Finanzen mit ganz ähnlichen Zielen wie Thatcher angetreten. Im Mittelpunkt standen bei beiden Steuersenkungen, Schuldenabbau und Inflationsbekämpfung.2 In der Forschung sind Margaret Thatcher und Ronald Reagan die beiden zentralen Figuren, die den Neoliberalismus in den westlichen Demokratien politikfähig gemacht haben. Dies gilt insbesondere für ihren Umgang mit den öffentlichen Finanzen.3 Auch die schwarz-gelbe Koalition unter Kohl in der

* Ich danke Wencke Meteling und den drei HerausgeberInnen für hilfreiche Kritik und Änderungsvorschläge. 1 Zum Zusammenhang und dem Beleg des Zitats siehe unten. 2 Zur deutschen Thatcher-Rezeption vgl. den Beitrag von Wencke Meteling in diesem Band. 3 Marc Buggeln: Steuern nach dem Boom. Die öffentlichen Finanzen in den westlichen Industrienationen und ihre gesellschaftliche Verteilungswirkung, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 52 (2012), S. 47–90.

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Bundesrepublik wird mitunter in diesem Zusammenhang genannt.4 Im folgenden Beitrag wird untersucht, ob und inwiefern sich die Politik hinsichtlich der öffentlichen Finanzen und insbesondere der Steuerpolitik der drei Regierungsparteien CDU, CSU und FDP mit dem Machtantritt 1982 grundlegend gewandelt hat. Deswegen wird der Umgang der Parteien mit dem Thema seit Ende der 1960er-Jahre in den Blick genommen. Zudem wird gefragt, ob die dann seit 1982 praktizierte Politik mit dem Begriff „neoliberal“ treffend gekennzeichnet ist. Um dies sinnvoll tun zu können, erfolgt zu Beginn eine Auseinandersetzung mit einigen bisherigen Darstellungen und insbesondere Begriffsdiskussionen zur Geschichte des Neoliberalismus. Anschließend folgt der Aufsatz chronologisch den inhaltlichen Debatten der drei Parteien in Bezug auf Steuern, Staatsausgaben und Schulden von 1969 bis 1989.

1. Neoliberalismus: Geschichte und Definition

Der Begriff „Neoliberalismus“ begann seine Erfolgsgeschichte praktisch erst in den 1980er-Jahren. Im angloamerikanischen Sprachraum taucht der Terminus seit Anfang der 1980er-Jahre etwas häufiger auf, erfährt dann aber einen rasanten Anstieg in der Verwendung.5 Zweifelsohne war dies eng an die Wahlen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher gekoppelt, die früh als die zentralen politischen Vertreter des Neoliberalismus bezeichnet wurden. Allerdings wurde der in den 1980er-Jahren ebenfalls rasch an Bedeutung zunehmende Begriff des Neokonservatismus häufiger verwendet und viele Kommentatoren hielten Reagan und Thatcher in stärkerem Maße für neokonservativ als neoliberal. Dies änderte sich in den angloamerikanischen Ländern mit den Amtsantritten von Bill Clinton und Tony Blair 1993 bzw. 1997, deren Politik als „neoliberal“, aber nicht als „neokonservativ“ betrachtet wurde, was zu einer Dominanz der Begriffs „Neoliberalismus“ beitrug. Die Wahl von George W. Bush führte dazu, dass „neokonservativ“ wieder häufiger gebraucht wurde. In den englischsprachigen Wissenschaftszeitschriften war die Verwendung beider Begriffe in den 1980er-Jahren noch vergleichsweise spärlich. Dort setzte sich dann aber der Begriff „Neoliberalismus“ ab 1992 gegen alle konkurrierenden Konzepte wie „Neokonservatismus“ oder

Monica Prasad: The Politics of Free Markets: The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States, Chicago 2006; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 357. 5 Für diese Untersuchung wurde der Google Books Ngram Viewer verwendet. 4

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 181

„Monetarismus“ eindeutig durch.6 Er ist im akademischen Milieu der USA seitdem zum zentralen Leitbegriff für die Kritik an liberal-konservativer Politik geworden, die den Kapitalismus verteidigt und den Ausbau von Marktmechanismen fordert. Diese Auswertungen stützen die Analyse von Thomas Biebricher, der betont, dass der Begriff „neoliberal“ im politischen Diskurs der USA kaum eine Rolle spielt, weil seit dem New Deal „liberal“ ein positiv besetzter Begriff zur Bezeichnung einer progressiven, demokratischen Politik ist, weswegen im politischen Diskurs die republikanischen Präsidenten von ihren Gegnern vor allem als „neokonservativ“ gefasst werden. Demgegenüber erfreue sich im US-amerikanischen Wissenschaftsdiskurs der Begriff „neoliberal“ steigender Beliebtheit.7 Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff bereits in den 1960er-Jahren zur Kennzeichnung des Ordoliberalismus verwendet, allerdings war diese Verknüpfung schon zu Beginn der 1970er-Jahre kaum mehr gebräuchlich. Erst mit dem Dienstantritt der Kohl-Regierung erlebte der Begriff „Neoliberalismus“ wieder einen Aufschwung, wobei aber ähnlich wie im angloamerikanischen Raum der Terminus „Neokonservatismus“ vorherrschend war. Seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders  – und dies änderte sich nicht unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel – dominiert im deutschsprachigen Raum der Begriff „Neoliberalismus“, während die Verwendung von „neokonservativ“ deutlich zurückgegangen ist. Dies spricht dafür, dass die Differenz zwischen den beiden Begriffen und den politischen Forderungen, die sie charakterisieren sollen, weniger auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen als auf dem Feld der Identitätspolitik zu suchen ist. Während beispielsweise Neokonservative die Bedeutung der heterosexuellen Familie betonen und der gleichgeschlechtlichen Ehe skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, sind Neoliberale hier tendenziell offener und flexibler. Ebenso messen Neokonservative tendenziell der Religion und der Nation einen größeren Wert bei und lehnen Immigration stärker ab als Neoliberale. Zudem spielen militärische Optionen in der Außenpolitik zumindest im Sprachgebrauch neokonservativer Politiker eine weit größere Rolle.8 Der Ausdruck „Neokonservativ“ bleibt deswegen im Regelfall der Kennzeichnung von Positionen des rechten politischen Spektrums vorbehalten, so dass weder

Taylor C. Boas  / Jordan Gans-Morse: Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan, in: Studies in Comparative International Development 44 (2009) 2, S. 137–161, hier S. 137 f. 7 Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012, S. 11 f. 8 Als frühe Studie: Helmut Dubiel: Was ist Neokonservatismus, Frankfurt am Main 1985. Für die Spezifik der US-Neocons: Murray Friedman: The Neoconservative Revolution. Jewish Intellectuals and the Shaping of Public Policy, Cambridge 2005; Justin Vaïsse: Neoconservatism. The Biography of a Movement, Cambridge/Mass. 2010. 6

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die SPD, noch die britische Labour-Party oder die US-Demokraten so bezeichnet werden, während alle drei Parteien spätestens seit den 1990er-Jahren häufig als „neoliberal“ betrachtet wurden. Im Prinzip handelt es sich aber bei den Aspekten, die die Differenz zwischen „neoliberal“ und „neokonservativ“ ausmachen, um jene, die schon im 19. Jahrhundert für die Unterscheidung zwischen Liberalismus und Konservativismus konstitutiv waren. Der sehr häufige Gebrauch des Begriffs „Neoliberalismus“ seit den 1990er-Jahren hat ihn zu einer fast allumfassenden Kategorie gemacht, die dadurch mitunter für alles und nichts steht. Weitgehend klar ist nur, dass im heutigen Gebrauch des Begriffs fast immer eine Kritik des aktuellen Kapitalismus mitschwingt und Befürworter einer kapitalistischen Marktwirtschaft sich selbst nur äußerst selten als „neoliberal“ bezeichnen. In den 1960er-Jahren war dies noch anders gewesen. Die deutschen Ordoliberalen, die den Begriff als erste nutzten, propagierten ihn offensiv als Bezeichnung für einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Sozialismus, der dem Staat eine Rolle bei der Lösung von funktionalen Problemen der Marktwirtschaft zugestand. Von diesem Begriffsgebrauch ist heute wenig geblieben. Schon führende US-Ökonomen der 1970er- und 1980er-Jahre schlossen mit ihren Vorstellungen wieder stärker an den Laissez-faire-Liberalismus an und radikalisierten diesen mitunter noch. Die Geburtsstunde eines negativ konnotierten Neoliberalismus-Begriffs lag in den USA jedenfalls in den 1970er-Jahren, als lateinamerikanische Intellektuelle die Versuche marktliberaler Deregulierung in Chile unter dem Diktator Pinochet und angeleitet von US-Ökonomen unter der Führung von Milton Friedman mit diesem Terminus kritisierten.9 Diese Ausprägung ist es auch, die in den überraschend wenigen Versuchen, den Begriff zu definieren, im Vordergrund steht. So fasst Wendy Brown den Neoliberalismus als „eine seltsame Form des Begründens, die alle Aspekte der Existenz in ökonomischen Denkweisen rekonfiguriert“10. Sie nennt ihn eine Form der Regierungsrationalität („governing rationality“). Der Neoliberalismus ist hier dann weniger eine ökonomische Praxis als eine Denkweise, die auf alle Gesellschaftsbereiche übergreift. Ähnlich sieht dies Paul Treanor: „Neoliberalismus ist eine Philosophie, in welcher die Existenz und Operation eines Marktes einen Wert an sich darstellen, unabhängig von jeder vorherigen Beziehung zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen und ohne jeden Versuch, das Marktwirken aufgrund seiner Effekte für die Produktion von Gü-

Boas/Gans-Morse: Neoliberalism. Siehe hierzu auch den Beitrag von Philipp Ther in diesem Band. 10 Wendy Brown: Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution, New York 2015, S. 17; diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Englischen durch den Autor. 9

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 183

tern und Dienstleistungen zu rechtfertigen. Stattdessen wird die Operation von Markt oder Markt-ähnlichen Strukturen als Ethik an sich betrachtet, die in der Lage ist, als Wegweiser für alle menschlichen Handlungen zu dienen und alle zuvor existierenden ethischen Glaubensvorstellungen zu ersetzen.“11 Dies trennt den Neoliberalismus vom klassischen Liberalismus, weil zumindest die meisten Vertreter des klassischen Liberalismus andere ethische Werte jenseits des Marktes akzeptierten und mitunter auch vertraten. So fassen auch Chantal Mouffe und Ernesto Laclau die Differenz. Ihrer Meinung nach hätten spätestens seit John Stuart Mill die wichtigsten Vertreter des klassischen Liberalismus Formen der Staatsintervention zur Bekämpfung von Ungleichheit als berechtigt akzeptiert, weil sie dies als Mittel zur Gewinnung von Freiheit für Benachteiligte betrachteten. Ebenso sei die politische Freiheit ein positiver Wert geworden, der die Wahlmöglichkeiten der Menschen betonte. Diese Auffassung sei insbesondere von Friedrich August Hayek massiv bekämpft worden; im Anschluss an Hayek habe der neoliberale Diskurs ein Zurück zu einer rein negativen Freiheitsdefinition angestrebt: „Dieser Versuch einer Rückkehr zur traditionellen Konzeption von Freiheit, die als Nichteinmischung in das Recht unbeschränkter Aneignung und in die Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft charakterisiert wird, ist darum bemüht, jede ‚positive‘ Konzeption von Freiheit als potentiell totalitär zu diskreditieren.“12 Zusammengefasst verstehen diese drei ähnlich gelagerten Definitionsversuche den Neoliberalismus als eine marktliberale Weltanschauung, die ihre Prinzipien auf alle gesellschaftlichen Bereiche angewendet wissen will und die Freiheit nur negativ zu fassen vermag. Am prägnantesten hat Michel Foucault die Differenz zwischen klassischem Liberalismus und Neoliberalismus gefasst, wobei er dem Ordoliberalismus als Zwischenstufe in dieser Entwicklung eine eigenständige Position eingeräumt hat. Für Foucault prägt den klassischen Liberalismus die klare Trennung von Markt und Staat. Dem Markt wird die Aufgabe und Fähigkeit zugeschrieben, den Staat zu beschränken. Das Handlungsfeld des Staates ist dabei ein anderes als jenes der Wirtschaft und der Staat funktioniert nach anderen Mechanismen. Im Ordoliberalismus sieht Foucault dann die Auffassung hervortreten, dass der Staat möglichst weitgehend nach den Regeln des Marktes funktionieren müsse: „es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter der Aufsicht des

Paul Treanor: Neoliberalism: origins, theory, definition, in: URL: http://web.inter. nl.net/users/Paul.Treanor/neoliberalism.html [2.12.2005]. 12 Ernesto Laclau  / Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 215. 11

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Staates“.13 Dabei werden dem Staat aber gewisse Eigenlogiken zugestanden und der Ordoliberalismus bleibt für Foucault eine Ideologie der Regierung. Der US-amerikanische Neoliberalismus habe demgegenüber diese Fesseln abgestreift und die Logik des Marktes zum allgemeinen Stil des Denkens erhoben, der sowohl für die Regierung wie die Regierten handlungsleitend sein sollte.14 Anders als bei der Mehrheit der bisherigen Interpreten ist der Ordoliberalismus bei Foucault darum keineswegs eine Wirtschaftsauffassung, die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise dem Staat mehr Handlungsspielräume als der klassische Liberalismus zuwies, sondern eine, die den Staat durch die Übertragung vor allem auf einige marktgerechte oder marktunterstützende Aufgaben lenken will.15 Andere Definitionsversuche in Bezug auf den Neoliberalismus orientieren sich enger an den sozio-ökonomischen Zusammenhängen. So argumentieren Alfredo Saad-Filho und Deborah Johnston etwa: „Das grundlegendste Merkmal des Neoliberalismus ist die systematische Nutzung staatlicher Macht zur Durchsetzung von (Finanz-)Markt-Imperativen in einem nationalen Prozess, der international durch ‚die Globalisierung‘ repliziert wird.“16 Im Zentrum steht hier die Durchsetzung ökonomischer Forderungen auch mit Hilfe des Staates. David Harvey definiert Neoliberalismus als „eine Theorie politökonomischer Praktiken, die behauptet, dass menschliches Wohlergehen am besten vorangetrieben wird, wenn individuelle unternehmerische Freiheiten und Fähigkeiten liberalisiert und durch ein institutionelles Setting unterstützt werden, das durch starke Eigentumsrechte, freie Märkte und freien Handel gekennzeichnet ist.“17 Häufig wird die engere, politökonomische Auffassung vom Neoliberalismus mit einer klassenanalytischen Betrachtung verbunden. So verstehen Gérard Duménil und Dominique Lévy und im Anschluss an sie auch David Harvey den Neoliberalismus als ein Projekt zur Wiederherstellung der Macht der Oberschicht oder der besitzenden Klasse.18 In den Worten von Duménil/Lévy: „Neoliberalismus ist der Ausdruck des Wunsches

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt am Main 2004, S. 168. 14 Ebd., S. 305. 15 Jan-Otmar Hesse: „Der Mensch des Unternehmens und der Produktion“. Foucaults Sicht auf den Ordoliberalismus und die ‚Soziale Marktwirtschaft‘, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), S. 291–296. 16 Alfredo Saad-Filho  / Deborah Johnston: Introduction, in: dies. (Hg.): Neoliberalism. A Critical Reader, London 2005, S. 3. 17 David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, S. 2. 18 Gérard Duménil / Dominique Lévi: Capital Resurgent. Roots of the Neoliberal Revolution, Cambridge/Mass. 2004; Harvey, Brief History, S. 40–45. 13

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einer Klasse kapitalistischer Eigentümer und der Institutionen, in denen ihre Macht konzentriert ist, die wir kollektiv ‚Finanz‘ nennen, die alten Einnahme- und Machtpositionen der Klasse wiederherzustellen, die seit der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg zusammengeschrumpft waren.“19 Auch wenn einige Formulierungen hier wenig überzeugen, z. B. weil es sehr viel stärker um die Ausnutzung aktueller Chancen als um die Wiederherstellung von Machtpositionen von vor mehr als 60 Jahren ging, ist die generelle Vorstellung vom Neoliberalismus als einem Projekt der Oberschicht weit verbreitet. Sie erhält zudem durch die Veränderung der Verteilungspositionen insbesondere in den USA und Großbritannien zugunsten des reichsten Zentils der Bevölkerung eine gewisse Plausibilität. Allerdings wird kaum diskutiert, inwiefern dies einen Unterschied zum Laissez-faire-Liberalismus des 19.  Jahrhunderts darstellt oder ob dieser ebenso als Weltanschauung einer Oberschicht verstanden werden kann. Einen anderen Aspekt heben Studien hervor, die die Anfänge neoliberaler Netzwerkbildung in den 1930er und 1940er-Jahren sehen, die dann mit der Gründung der Mont Pèlerin Society im Jahr 1947 ein institutionelles Zentrum fanden. So heißt es bei Ralf Ptak in einer der wichtigsten Arbeiten zum deutschen Ordoliberalismus: „Insgesamt stellt der Neoliberalismus also eine durchaus heterogene internationale Richtung der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie dar, deren verbindendes Ziel, eine zeitgemäße Legitimation für eine marktwirtschaftlich dominierte Gesellschaft zu entwerfen und durchzusetzen, unter verschiedenen politischen und ökonomischen Bedingungen verfolgt wurde und wird.“20 Ptak betont insbesondere die Variabilität und Anpassungsfähigkeit des Neoliberalismus. Den Beginn des Neoliberalismus sieht er in der Großen Depression seit 1929, die zur Diskreditierung des klassischen Liberalismus führte. Das Neue am Neoliberalismus ist für Ptak dabei vor allem propagandistisch: Es sei nach einer zeitgemäßen Rechtfertigung der Marktwirtschaft gesucht worden, wofür man gegebenenfalls bereit gewesen sei, sich mitunter scharf vom klassischen Liberalismus abzugrenzen, ohne dass es aber in der Mont Pèlerin Society oder bei den deutschen Ordoliberalen eindeutig benennbare programmatische Differenzen zum klassischen Liberalismus gegeben habe. Der Nachteil dieser Definition besteht in ihrer mangelnden Trennschärfe. Der zentrale Punkt der Definition „Legitimation für eine marktwirtschaftlich dominierte Gesellschaft“ könnte, wenn man nicht weitere Präzisierungen

Duménil/Lévy, Capital, S. 1 f. Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 15.

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vornimmt, durchaus auch für John Maynard Keynes gelten, der sich selbst als liberal verstand, dessen Theorien aber neben dem Sozialismus das wichtigste Feindbild des Neoliberalismus darstellten. Ebenso bleibt eine Unterscheidung von Neoliberalismus und klassischem Liberalismus hier wenig konturiert und auch die Politik der SPD/FDP-Koalition in den 1970er-Jahren müsste als neoliberal gefasst werden. Aufgrund dieser mangelnden Trennschärfe vermag Ptaks Definition nicht zu überzeugen und wird hier im Weiteren nicht verwendet. Um die historische Entwicklung sichtbar zu machen, bietet es sich an, stärker zwischen einer Formierungsphase des Neoliberalismus, in der es vor allem um Theorie- und Netzwerkbildung ging, und einer hegemonialen Phase ab Mitte der 1970er-Jahre zu unterscheiden, in der sich die Chance bot, neoliberale Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Durchsetzbarkeit neoliberaler Theorien hatten die Durchsetzung flexibler Wechselkurse und die Zerstörung des Systems von Bretton Woods 1973. Dieser Erfolg, der von einem Teil des Netzwerkes der Mont Pèlerin Society seit den 1960er-Jahren propagiert und in den 1970erJahren durch den Aufstieg einzelner ihrer Mitglieder in Beratungsfunktionen für US-Präsident Richard Nixon möglich wurde,21 bildete die Voraussetzung für das Ende der Kapitalverkehrskontrollen und die dramatische Expansion internationaler Finanzmärkte.22 Die Möglichkeit einer solchen Phasenteilung liberaler Strömungen hat hierzulande insbesondere Anselm Doering-Manteuffel durchgespielt. Er sieht in den westlichen Industrienationen eine weitgehende Hegemonie des Konsensliberalismus in der Zeit von etwa 1945 bis 1975, der dann die allmähliche Durchsetzung neoliberaler Diskurshoheit folgte.23 Doch dieses Modell hat ebenfalls Schwächen: So wird das Modell des US-amerikanischen Konsensliberalismus zu umstandslos auf europäische Staaten übertragen. Dabei wird der Gegensatz liberal vs. anti-liberal zu stark gemacht, wodurch DoeringManteuffel die durchaus anders gelagerten Weltanschauungen des Konserva-

Matthias Schmelzer: Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010. 22 Marc Buggeln  / Martin Daunton  / Alexander Nützenadel: The Political Economy of Public Finance since the 1970 s: Questioning the Leviathan, in: dies. (Hg.): The Political Economy of Public Finance: Taxation, State Spending and Debt since the 1970 s, Cambridge 2017, S. 1–31. 23 Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20.  Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), S.  321–348; ders.  / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert. Aufriss einer Phänomenologie, in: dies. (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32. 21

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tismus und der Sozialdemokratie „liberalisiert“ und ihre eigenständige Rolle bei der Herausbildung eines vielfältigen europäischen Sozialstaatsmodells zu gering veranschlagt. Zugleich scheint dadurch der Bruch zwischen Konsensliberalismus und Neoliberalismus in Doering-Manteuffels Erzählung gewaltig, sogar fast unüberbrückbar.24 So entsteht der Eindruck, dass es zwischen dem Sozialliberalismus bis in die 1970er-Jahre und dem Marktliberalismus der 1980er-Jahre kaum Kontinuitäten gab. Gegen eine solche Lesart dürften in der Bundesrepublik schon die Lebensläufe von Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff sprechen, die ihre Meinung nicht so radikal geändert haben, wie dies eine solche Interpretation nahelegen würde. Dem Begriff des Konsensliberalismus scheint zu viel aufgebürdet zu sein, wenn er zum einzig tragenden Begriff für die Nachkriegszeit bis Mitte der 1970er-Jahre in den westlichen Industrieländern gemacht wird. Ebenso müsste stärker nach den Verbindungslinien zwischen Konsens- und Neoliberalismus gefragt werden, was im Folgenden am Beispiel der öffentlichen Finanzen ansatzweise erfolgt. Für die Frage der Bewertung der Steuerpolitik nach 1982 wird mit den unterschiedlichen Definitionen des Neoliberalismus gearbeitet, um zu prüfen, ob und inwieweit die deutsche Finanzpolitik als „neoliberal“ zu charakterisieren ist.

2. Die Ära des „easy finance“

Im Hinblick auf die öffentlichen Haushalte kann die Zeit von 1949 bis 1969 unter Führung von CDU-Kanzlern in der Bundesrepublik Deutschland als eine Ära der einfachen Finanzen bezeichnet werden.25 Die Steuersätze befanden sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges sowohl in Deutschland als auch in den USA, Großbritannien oder Frankreich auf einem Allzeithoch. Als dann Anfang der 1950er-Jahre der fast 20 Jahre währende starke Wirtschaftsaufschwung einsetzte, führte dies 1950 zu sprudelnden Staatseinnahmen, ohne dass dafür Steuererhöhungen notwendig gewesen wären. Ganz im Gegenteil: Die Steuereinnahmen stiegen in Deutschland trotz mehrfacher umfassender Steuersenkungen, bei denen auch der 1949 noch bei 95 Prozent liegende Einkommenssteuerspitzensatz bis auf 53 Prozent im Jahr 1958 ge-

Ariane Leendertz: Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 191–217. 25 In Anlehnung an: W. Elliot Brownlee (Hg.): Funding the modern American state, 1941– 1995. The rise and fall of the era of easy finance, Cambridge 1996. 24

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senkt wurde.26 Der Grund hierfür lag in der „kalten Progression“ bei den Einkommenssteuern. Während die Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer weitgehend neutral mit dem Wachstum des Bruttosozialproduktes (BSP) ansteigt, haben die Einkommenssteuern die Tendenz, aufgrund der verschiedenen Progressionsstufen stärker zu steigen als das Wirtschaftswachstum. In der Regel war in der frühen Bundesrepublik damit zu rechnen, dass der Einkommenssteuerertrag pro Prozentpunkt BSP-Anstieg um etwa 1,4–1,6 Prozent Prozentpunkte wuchs. Bei einem Wirtschaftswachstum von 5 Prozent ergab sich also ein Einnahmeanstieg von 7 bis 8 Prozent bei den Einkommenssteuern. Bei einem solchen Wirtschaftswachstum ließen sich umfassende Ausgabenprogramme finanzieren, ohne die Bürger mit der öffentlichen Verhandlung eventueller Steuererhöhungen aufzuschrecken. Gleichzeitig wurde das Steuersystem auf diese Weise automatisch progressiver und stärker von den direkten Steuern getragen, wenn die Politik nicht gegenlenkte.

3. Die Steuer- und Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition

Im Zuge der Wahl Willy Brandts zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler27 waren sowohl SPD wie FDP mit einem Programm angetreten, das vielfältige neue Ausgaben vorsah, während man im Wahlkampf aber kaum von Steuererhöhungen, sondern eher von Steuersenkungen gesprochen hatte. Zu den Koalitionsabsprachen hinsichtlich der Steuerpolitik hielt die FDP fest: „In der Steuerpolitik bestand Übereinstimmung, daß der Arbeitnehmerfreibetrag verdoppelt wird. Die Ergänzungsabgabe wird ab 1. Januar 1970 erst ab 32.000/64.000 DM statt bisher 16.000/32.000 DM Einkommen erhoben und ab 1. Januar 1971 ganz fortfallen. Die Steuerquote soll nicht erhöht werden, um den Leistungswillen des Einzelnen und die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft nicht einzuschränken. Alle übrigen Steuerfragen werden geklärt nach Vorliegen des Berichtes der Steuerreformkommission. An die Einführung konfiskatorischer Steuern ist nicht gedacht.“28

Marc Buggeln: Die Debatten um staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf den privaten Reichtum. Der Einkommensteuerspitzensatz in Deutschland 1871–1955, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1 (2018) (im Erscheinen). 27 Zum Machtwechsel und den mit ihm verbundenen Hoffnungen auf eine neue Politik: Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 39–79. 28 Sitzungsprotokoll von der Koalitionsrunde am 2.10.1969, in: Archiv des Liberalismus (ADL), A 41/943. 26

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In der Regierungserklärung versicherte Brandt nach außen, die anstehenden Aufgaben ohne die Erhöhung von Steuerlastquoten zu bewältigen.29 Wie im Koalitionsgespräch vereinbart, betonte der Kanzler: „Wir haben nicht die Absicht, bestehende Vermögen durch konfiskatorisch wirkende Steuern anzutasten.“30 Vermutlich gingen beide Parteien davon aus, dass die steigenden Kosten beim erwarteten stabilen Wachstum kein Problem darstellen würden. So kam es unter dem sozialdemokratischen Finanzminister Alex Möller trotz wesentlich umfassenderer Vorstellungen von Steuererhöhungen beim linken Flügel seiner Partei erst einmal zur Senkung der Einkommenssteuer und zu einem Gesetz, welches die Steuerflucht erschwerte. Zudem wurde aufgrund der Hochkonjunktur 1970 ein rückzahlbarer Konjunkturzuschlag erhoben, der Kaufkraft abschöpfen sollte, die dann beim Konjunkturrückgang freigegeben werden könnte. Etwaige Steuererhöhungen verlegte der Finanzminister gemäß der Koalitionsabsprache auf die Zeit nach dem Gutachten der noch von Möllers Vorgänger Strauß eingesetzten Steuerreformkommission. Die Kommission verschob aber den Abgabetermin, so dass das Gutachten erst im März 1971 vorlag. Gleichzeitig geriet Möller von Seiten der SPD- wie FDP-Minister rasch unter Druck, die Ausgaben schneller zu erhöhen. 1970 konnte er sich dieses Drucks noch halbwegs erwehren, aber 1971 konnte er sich nicht mehr gegen die Wünsche seiner Kabinettskollegen durchsetzen und trat schließlich zurück. Ersetzt wurde er durch den sozialdemokratischen „Superminister“ Karl Schiller, der nun das Wirtschafts- und das Finanzministerium führte und letztlich genau wie Möller nicht in der Lage war, entweder die Ausgabenwünsche der Koalitionspolitiker zu begrenzen oder für eine Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen zu sorgen. So trat auch Schiller nach einem Jahr zurück.31 Wie positionierte sich die FDP in den Jahren der ersten Koalition?32 Trotz des vorläufigen Verzichts auf Steuererhöhungen bekam die FDP erhebliche Proteste von mehreren Fraktionen der deutschen Wirtschaft zu hören. So berichtete ein Mitarbeiter von Wolfgang Mischnick 1971 von der Vollversammlung des Handwerkskammertages, dass man dort die SPD auf dem Weg in den Sozialismus sehe und der FDP nicht zutraue, sie dabei aufzuhalten.

Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 5. Sitzung vom 28.10.1969, S. 24. Ebd. 31 Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1969–1998, Stuttgart 2010, S. 11–29. 32 Als Überblick für andere Politikfelder: Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 52–56 und 299–305. 29 30

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Weiter wird betont, dass die CDU/CSU dies ausnutze: „Die Verunsicherung der Wirtschaft wird seitens der Opposition über ihren starken Einfluss in den Verbänden bis zum Extrem getrieben.“33 Daraus folgerte er, dass die FDP der Mittelschicht einerseits klar machen müsse, dass mit der FDP kein Weg in den Sozialismus, aber andererseits nur mit der SPD die Durchsetzung liberaler Kernforderungen gegen Konservative möglich wäre. Insgesamt sollte deswegen nicht nur die Abwehr des Sozialismus betont werden, sondern es müssten auch die Ziele und Erfolge eigener Politik klar herausgestrichen werden. Mit den Freiburger Thesen gab sich die FDP im Oktober 1971 ein Grundsatzprogramm, welches den Schwerpunkt in Richtung des sozialen Liberalismus verschob;34 ein Wandel, dessen Grundlage vor allem in der Oppositionszeit von 1966 bis 1969 gelegt worden war.35 Das Programm enthielt ein klares Bekenntnis der Notwendigkeit des Staates für eine menschenwürdige Gesellschaft und eine scharfe Kritik an der Konzentration von Reichtum: „Wo Ziele liberaler Gesellschaft durch den Selbstlauf der privaten Wirtschaft nicht erreicht werden können, wo somit von einem freien Spiel der Kräfte Ausfallerscheinungen oder gar Perversionstendenzen für die Ziele liberaler Gesellschaft drohen, bedarf es gezielter Gegenmaßnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts. Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. […] Dem freien Selbstlauf überlassen, müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen [des Wirtschaftssystems; MB] Menschlichkeit am Ende zerstören.“36

Die scharfe Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit lief aber nicht auf eine Ablehnung des Kapitalismus, sondern auf dessen Reform hinaus: „Effektiver und humaner Kapitalismus: Das ist das Losungswort des Sozialen Liberalismus der Zukunft.“37 Der einzige steuerpolitische Punkt, der dafür dann aber sehr ausführlich auf sieben Seiten geschildert wurde, beinhaltet den Vorschlag, die Erbschaftssteuer durch eine Nachlassabgabe zu ersetzen, in der letztlich Schenkungs-

Brief von Hübner an Mischnick und Mertes vom 26.11.1971, in: ADL, A 40/403. Günter Verheugen: Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP, Hamburg 1984, S. 67 ff; zu den Freiburger Thesen siehe auch den Beitrag von Gabriele Metzler in diesem Band. 35 Andreas Morgenstern: Die FDP in der parlamentarischen Opposition 1966–1969. Wandel zu einer „Reformpartei“, Marburg 2004. 36 Karl-Hermann Flach / Werner Maihofer / Walter Scheel (Hg.): Die Freiburger Thesen der Liberalen, Hamburg 1972, S. 65. 37 Ebd., S. 16. 33 34

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und Erbschaftssteuer zusammengefasst werden sollten. Zentral für die Auswirkungen der Reformvorschläge blieben die vorgeschlagenen Steuersätze. Diese hätten sowohl gegenüber dem geltenden Recht wie gegenüber der aktuell im Kabinett verhandelten Vorlage des Bundesfinanzministers Erbschaften bis zum Wert von 25 Millionen DM entlastet, darüber hinausgehende vererbte Summen aber stärker belastet. Die Reform zielte dementsprechend auf die Entlastung der Mittel- und unteren Oberschicht zu Ungunsten der großen Vermögensbesitzer.38 Die SPD war aber für die Nachlasssteuer nicht zu gewinnen. Der außerordentliche Parteitag der SPD in Bonn vom 18.–20. November 1971 ermöglichte es der FDP, sich als Stimme der Vernunft zu präsentieren, hatte sich die SPD-Linke doch auf dem Parteitag mit deutlichen Forderungen nach Steuererhöhungen durchgesetzt, auch wenn keiner der SPD-Finanzminister ernsthaft ihre Durchsetzung betrieb.39 So legte sich auch der Arbeitskreis (AK) II „Finanzen“ der FDP-Bundestagsfraktion im Februar 1972 darauf fest, dass es vorerst keine Steuererhöhungen mehr geben solle, die die Wirtschaft belasten könnten. Der AK hielt stattdessen eine Verstärkung der Investitionsanreize für erforderlich. Im Protokoll heißt es: „Nach ausführlicher Diskussion kommt der AK zu dem Ergebnis, dass lediglich interne Besprechungen mit dem Koalitionspartner bzw. mit dem BMWF und dem Bundeskanzler über die Generallinie der Wirtschaftspolitik zu keinem Ergebnis führen werden. Der AK bekräftigt deshalb nachdrücklich seine Auffassung, dass eine klare öffentliche Erklärung der Fraktion die Vorbedingung für ein erfolgreiches Gespräch mit dem Koalitionspartner darstellt. Nur wenn es gelingt, gegenüber der Öffentlichkeit den Standpunkt der FDP zu verdeutlichen und von hier entsprechende Reaktionen ausgehen, verspricht sich der AK erfolgreiche Verhandlungen.“40

Dies war für die anstehenden Wahlen ein deutlicher Wink an die eigene Klientel, doch trotz dieser Kritik blieb die FDP mehrheitlich auch nach der Wiederwahl zu Kompromissen mit der SPD bereit, was immer wieder zu Kritik vom Wirtschaftsflügel der Partei führte. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt 1972 verlor die FDP unter anderem mit dem Unternehmensberater Gerhard Kienbaum auch einen ihrer profiliertesten Wirtschaftsvertreter, der auch im Bereich der Steuerpolitik immer wieder initiativ geworden war. Er trat 1975 in die CDU ein.

Ebd., S. 43–50 sowie Anlage 2 mit den Satzvorschlägen, S. 80–87. Faulenbach, Sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 220–224. 40 Sitzung des AK II vom 29.2.1972, in: ADL, A 40/403. 38 39

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Die Nachfolge von Karl Schiller als Bundesfinanzminister trat 1972 Helmut Schmidt an. Anders als seine beiden Vorgänger Alex Möller und Karl Schiller verfügte er über erhebliche Hausmacht in der SPD, wodurch er allzu hohe Erwartungen auf der Ausgabenseite etwas dämpfen konnte. Daneben stand dann schnell die Frage nach den Steueränderungen an, die auf dem SPD-Parteitag vorgeschlagen worden waren. Es wurde rasch klar, dass der sozialdemokratische Finanzminister keineswegs vorhatte, die Ergebnisse des Parteitages in die Praxis umzusetzen. Schmidt gab dem Druck der FDP nach geringeren Erhöhungen der Steuersätze schnell nach. Gleichzeitig musste die FDP aber eine geringfügige Erhöhung der Erbschafts- und Vermögenssteuer akzeptieren. Umso fester betonte sie danach, dass eine Erhöhung von Einkommens- und Körperschaftssteuer nun völlig ausgeschlossen sei. Da es auch innerhalb der SPD Kritik an der hohen Besteuerung von Arbeitnehmern gab und Kanzler Brandt in einem Fernsehinterview im Januar 1974 eine baldige Steuersenkung ankündigte, kam es schließlich trotz steigender Defizite zu erheblichen Senkungen der Einkommenssteuer, die für Schmidts Kurs der Haushaltskonsolidierung einen Dämpfer bedeuteten, zumal der Koalitionspartner FDP dafür sorgte, dass auch die mittleren und höheren Einkommen leichte Entlastungen erfuhren. Noch problematischer war, dass die angekündigte Gegenfinanzierung durch Subventionsabbau  – von der FDP vielfach gefordert, aber selten umgesetzt41 – ausblieb und dadurch die Staatsverschuldung deutlicher als in den vorherigen Jahren zu steigen begann. Die Steuerreform 1974 war die letzte, die vor allem verteilungspolitisch begründet wurde. In den folgenden Jahren dominierten durch die Ölkrise und die steigende Arbeitslosigkeit wirtschaftliche Argumente als Anstoß für Reformen, auch wenn im politischen Diskurs die Verteilungswirkungen fast immer eine wichtige Rolle spielten.42 Im Groben blieb die Konstellation in der Finanzpolitik aber bis gegen Ende der 1970er-Jahre relativ konstant. Es gab sowohl bei der SPD wie bei der FDP nur einen bedingten Sparwillen, weshalb die staatlichen Ausgaben permanent stiegen. Da viele Stammwähler beider Parteien durch das Aufrücken in die Progressionszonen der Lohn- und Einkommenssteuer belastet wurden, erfolgten als politische Schritte bei den direkten Steuern fast ausschließlich Steuersenkungen. Demgegenüber erhöhte man dann die Mehrwert- oder die Mineralölsteuer. Vor allem aber stiegen die Sozialbeiträge. Insgesamt führte der weitgehende Verzicht auf Steuererhöhungen bei stagnierender Konjunk-

Siehe dazu den Beitrag von Ralf Ahrens im Band. Hans-Peter Ullmann: Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen, München 2005, S. 202.

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tur und stetigem Ausgabenwachstum dazu, dass die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben stärker auseinanderklaffte und die Staatsverschuldung seit Mitte der 1970er-Jahre deutlich anstieg. Bis Ende der 1970er-Jahre rief diese Entwicklung in der Koalition aber wenig Unruhe hervor.

4. Die Kieler Thesen der FDP von 1977

Gegen Ende der 1970er-Jahre rückte der FDP-Wirtschaftsflügel von der keynesianischen Konjunktursteuerung ab und wandte sich der Angebotspolitik zu. Dieser Wechsel vollzog sich innerhalb der FDP schleichender als beispielsweise innerhalb der Bundesbank oder des Sachverständigenrats. In den Kieler Thesen mit dem Titel „Wirtschaft im sozialen Rechtsstaat“ vom November 1977, die gegenüber den sozialliberalen Freiburger Thesen aus dem Jahr 1971 den Rückschwenk zur Dominanz wirtschaftspolitischer Fragestellungen in der Partei bedeutete, heißt es bezüglich der Globalsteuerung: „Alle Erfahrungen sowohl in der Hochkonjunktur als auch in der Rezession sprechen dafür, daß die traditionelle Vorstellung von einer Konjunktursteuerung durch antizyklische Gestaltung der öffentlichen Haushalte nicht realistisch ist.“ Die Maßnahmen seien immer zu langsam gewesen und hätten deswegen „durchweg prozyklisch gewirkt. Mehr konjunkturpolitische Effizienz ist deshalb von einer stetigen Haushaltspolitik zu erwarten.“ Nur bei ernsthafteren Krisen wollte man an der Globalsteuerung festhalten: „Bei erheblichen und anhaltenden Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bleibt der antizyklische Einsatz der öffentlichen Haushalte notwendig“.43 Damit hielt sich die FDP viele Wege offen, da politisch diskutabel blieb, wann die „erheblichen und anhaltenden Störungen“ gegeben waren. Nichtsdestoweniger war aber eindeutig, dass die FDP auf eine Reduktion der Staatseingriffe durch keynesianische Konjunktursteuerungspolitik setzte. Hinsichtlich des Steuer- und Transfersystems vertrat die FDP in den Kieler Thesen folgende Position: „Das unkoordinierte Nebeneinander staatlicher Transferzahlungen und die Praxis, nahezu alle staatlichen Leistungen nach Verteilungsgesichtspunkten zu differenzieren, haben nicht nur zu fortschreitender Bürokratisierung geführt. Es ist auch kaum mehr möglich festzustellen, welches Einkommen der einzelne Bürger nach Berück-

FDP (Hg.): Kieler Thesen, beschlossen auf dem 28. Ordentlichen Bundesparteitag der F. D. P. vom 6. bis 8. November 1977 in Kiel, Bonn 1977, These 9, S. 31, in: ADL, Druckschriftenbestand, Signatur D1–135. Online unter URL: fdp-sh.universum.com/sites/default/ files/uploads/2016/08/18/1977kielerthesen.pdf.

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sichtigung aller Transfererleichterungen (Geld und Sachmittel) und nach Abzug aller Steuern und Abgaben zur Verfügung hat. Durch untereinander nicht abgestimmte Einkommens- und Berechtigungsgrenzen bei den einzelnen Leistungen entstehen häufig Ungerechtigkeiten. Eine sozial verpflichtete, gleichzeitig aber Leistungswillen und Eigeninitiative erhaltende Verteilungspolitik wird dadurch erheblich erschwert. Die Liberalen fordern daher, daß die Verteilungswirkungen des Systems staatlicher Transferzahlungen und Steuern überprüft werden. Es soll darüber hinaus erwogen werden, ob Verteilungsaufgaben auf einige wenige staatliche Leistungen konzentriert werden können.“44

Die Kritik der FDP richtete sich also gegen die Bürokratisierung und Undurchschaubarkeit des entstandenen Transfer- und Steuersystems. Eine klare Zielrichtung auf den Abbau sozialer Leistungen enthielt das Programm nicht, stattdessen wurde von der Konzentration auf wenige Leistungsprogramme gesprochen. Letztlich handelte es sich hierbei um die nochmalige Begründung für die bereits mit dem Koalitionspartner abgesprochene und in der Regierungserklärung verkündete Einsetzung der Transfer-Enquete-Kommission.45

5. Die Angst vor einer deutschen Steuersenkungspartei: Steuer- und Finanzpolitik in der dritten Wahlperiode der sozialliberalen Koalition

Nach der Wiederwahl Helmut Schmidts zum Regierungschef der sozialliberalen Koalition 1976 kam es erneut zu einer Steuersenkungsrunde, die Finanzminister Apel allerdings als das Ende der Fahnenstange bezeichnete. Auch Bundeskanzler Schmidt hatte in der Regierungserklärung nach der Benennung der Eckpunkte der Steuerreform betont: „Ich will aber auch klar feststellen, daß die Regierung […] keine Möglichkeit sieht, Vorschläge für weitere Steuersenkungen zu realisieren.“46 Beeindruckt von den Erfolgen der dänischen Steuerprotestpartei von Mogens Glistrup, die 1973 zur zweitstärksten Fraktion im dänischen Parlament geworden war und die auch bei den Wahlen 1975 und 1977 große Erfolge er-

Ebd., These 7, S. 30. Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 5. Sitzung vom 16.12.1978, S.  31–52, hier S.  38. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht im Juni 1981 vor: Transfer-Enquete-Kommission, Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Stuttgart 1981. 46 Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 5. Sitzung vom 16.12.1978, S. 31–52, hier S. 38. 44 45

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zielte, setzte auch in Deutschland die Diskussion um die mögliche Gründung einer Steuerprotestpartei ein. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Wilhelm Haubrichs, und der Vorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, Hermann Fredersdorf, hatten am 16. Mai 1978 in einem gemeinsamen Appell Forderungen zur Vereinfachung des Steuersystems formuliert. Bei der Begründung vor der Presse brachte Fredersdorf den Gedanken auf, eine Steuerpartei für die Bundestagswahl 1980 zu gründen.47 In einem Fernsehinterview sagte er: „Wenn sich bei den etablierten Parteien gar nichts bewegt, dann scheint es mir notwendig zu sein, sie zu bewegen.“48 Er gehe davon aus, dass eine solche Partei zehn Prozent der Stimmen erreichen würde. In den Folgetagen nutzte er insbesondere die „Bild-Zeitung“ zur Propagierung seiner Ideen. Eine Schlagzeile hieß: „FDP wird sterben, wenn wir kommen“. Das Bundeskabinett sah sich gezwungen, sich mit dem Vorgang zu beschäftigen, und das Bundesfinanzministerium reagierte mit einer Pressemitteilung.49 Am 1. Mai 1979 gründete das vormalige SPD-Mitglied Fredersdorf dann die Bürgerpartei (BPa), deren Hauptanliegen Steuersenkungen waren. In einem Interview mit dem „Spiegel“ betonte er, dass die Parteigründung vor allem für die FDP eine Gefahr sei: „Bei den Liberalen geht es um die Existenz. Die anderen werden erschreckt sein, aber die sterben deswegen nicht.“50 Die CSU sah in ihr zeitweilig einen Bündnispartner und gab gegenüber dem „Spiegel“ zu Protokoll, dass sie über eine gemeinsame Wahlliste nachdenke. Die Realität sah dann aber anders aus. Die ersten Querelen in der Bürgerpartei sowie die Ernennung von Franz-Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten der Unionsparteien führten zur Distanzierung bei der CSU51 und die Partei erreichte 1980 lediglich 0,03 Prozent der Stimmen. Die „ZEIT“ erkannte treffend, dass das Problem der Partei auch im Naturell ihres Gründers lag: „Er ist kein Tribun wie Glistrup, kein Rebell wie Poujade. Wer ihn kennt, findet ihn sympathisch und schrecklich normal. Seine Eloquenz ist begrenzt. Er ist ein Temperament in grauem Flanell mit dicker Hornbrille und Eigenheim im Westerwald.“52 Auch wenn die Partei bei allen weiteren Wahlen erfolglos blieb, war sie doch nicht vollständig unbedeutend. Die gesamte deutsche

„Revolutionärer Aufstand“, in: Spiegel vom 22.5.1978 (Heft 21/1978), S. 118–120. Zitiert nach dem Schreiben des Referats 44 über Abteilungsleiter und Staatssekretär im Bundeskanzleramt an den Bundeskanzler vom 2.6.1978, in: BAK, B 136/14809. 49 Ebd. 50 Spiegel-Gespräch mit Hermann Fredersdorf, in: Spiegel vom 12.6.1978 (Heft 24/1978), S. 41–44, hier S. 44. 51 „Schräge Vögel“, in: Spiegel vom 23.7.1979 (Heft 30/1979), S. 25–27. 52 „Alles eine Nummer zu groß“ in: Zeit vom 4.5.1979. 47 48

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Presselandschaft hatte die Parteigründung ausführlich dargestellt und alle Parteien fühlten sich aufgefordert, Stellung zu deren Zielen zu beziehen. Insbesondere in der FDP stieg seit dem Appell im Mai 1978 die Unruhe beträchtlich an. Die Partei legte bald ein umfassendes Steuersenkungspaket vor und ergänzte dies durch vermögenspolitische Vorschläge. Liselotte Funcke, die langjährige FDP-Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestages, äußerte Bedenken: „Frau Funcke hält es für bedenklich, wenn die SPD neben den steuerpolitischen Vorschlägen nun auch noch mit vermögenspolitischen Vorschlägen der FDP konfrontiert würde, die den Vorschlägen der CDU/ CSU näher lägen.“53 Doch fanden viele der Vorschläge nach einigen Kompromissen schließlich auch beim Koalitionspartner Zustimmung, sodass eine weitere Steuersenkung beschlossen wurde. Dies zeigt auch, dass innerhalb der FDP bis zum Ende der 1970er-Jahre Steuersenkungen politisch deutlichen Vorrang vor einer Haushaltskonsolidierung hatten, auch und gerade beim Wirtschaftsflügel der FDP: „Frau Hamm-Brücher erklärt, sie werde ebenfalls nicht mitabstimmen, da sie das ganze Steuerpaket für ein großes Wahlgeschenk halte; stattdessen hätte man damit besser den Schuldenabbau finanziert. Diese Argumentation nannte Graf Lambsdorff absurd, denn es gelte, dem Bürger zurückzugeben, was ihm als Übersteuerung zuviel abgenommen worden sei.“54

6. Die CDU/CSU-Finanzpolitik in der Opposition: Von der Befürwortung der Konjunktursteuerung zur Steuersenkungs- und Konsolidierungspartei

Die CDU/CSU war zu Beginn ihrer Oppositionszeit nicht auf Steuersenkung fokussiert, sondern dachte noch ganz im Sinne einer keynesianischen Konjunktursteuerung und zielte darauf ab, der Regierung hier Schwächen nachzuweisen. So berichtete Rainer Barzel auf einer Fraktionssitzung im Januar 1970: „Die Wahrheit ist, daß sie [die sozialliberale Koalition, M. B.] die Steuern zu senken beabsichtigt, obwohl dies in die Konjunkturlandschaft nicht passt und obwohl dies Geld dringend für andere Anstrengungen gebraucht würde. […] Wir haben vorige Woche auf der Pressekonferenz erklärt, es sei offensichtlich der Regierung nicht gelungen, ihre Koalitionsverabredung durchzusetzen, nämlich zum 1.7. die Steuern zu senken. In diese Falle ist Alex Möller sofort gelaufen und hat gesagt: ‚Natürlich bleibt

Fraktionssitzung am 20.6.1978, in: ADL, A 49/19. Fraktionssitzung am 4.7.1980, in: ADL, A 49/26. Zu Hildegard Hamm-Brücher vgl. den Beitrag von Jacob S. Eder in diesem Band.

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es bei dem Vorhaben. Er werde es rückwirkend in Kraft setzen.‘ Das heißt: diese Milliarde ist noch zusätzlich auf dem Tisch.“55

Die CDU/CSU-Opposition erlangte ab der zweiten Legislaturperiode der SPD/FDP-Koalition ein gewisses Stör- oder sogar Mitwirkungspotential, weil sie von 1972 bis 1976 im Bundesrat über eine Einstimmen-Mehrheit und ab 1976 fast durchgängig eine noch deutlichere Mehrheit dort besaß. Außerdem übernahm Helmut Kohl 1972 als neuer Bundesvorsitzender der CDU die Rolle des Oppositionsführers. Er setzte eine Modernisierung des Parteiapparates durch und verwandelte die CDU von einer Honoratioren- zu einer Mitgliederpartei.56 Auf den Beginn seiner Amtszeit fiel die Ölkrise, auf die die CDU/CSU zunächst keynesianisch reagieren wollte. Sie forderte Ausgabenund Investitionsprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft. Der finanzpolitische Sprecher der Opposition, Franz-Josef Strauß, riet seinen Parteifreunden 1974 auf konstruktive und bezifferbare Vorschläge zu verzichten, weil diese immer auch angreifbar wären. Er riet: „Nur anklagen und warnen, aber keine konkreten Rezepte etwa nennen.“57 Doch das erwies sich als schwierig, wenn man im Bundesrat sein Einflusspotenzial nutzen wollte. Oppositionsführer Kohl ging diese Obstruktionspolitik zu weit. Zudem war die CDU/CSU in dieser Sache keineswegs geschlossen, vielmehr verfolgten im Bundesrat immer wieder einzelne, unionsregierte Länder ihre eigenen Interessen und ließen sich von der Regierung für lukrative Kompromisse gewinnen. Ernst Müller-Hermann kritisierte deswegen in der Fraktionssitzung, dass die CDU es Schmidt zu einfach mache, weil er immer wieder auf Widersprüche in der CDU-Argumentation verweisen könne.58 Hinzu kam, dass die Steuerpolitik der Regierung ab 1972 für die Opposition oft nur schwer angreifbar war. Den Anstieg der Steuereinkommen bewirkte weiterhin vor allem

ACDP, 08-001-1021/1. Schon bei Brandts Regierungserklärung hatte Barzel in dem Moment, als Brandt von solider Finanzpolitik sprach, dazwischengerufen: „Aber vorweg erst einmal die Steuern senken! Das ist dann solide!“ in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 5. Sitzung vom 28.10.1969, S. 24. 56 Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002, S.  108–114; Wolfgang Jäger: Helmut Kohl setzt sich durch, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 141–160; Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: AfS 44 (2004), S. 449–478, hier S. 463–465. 57 Rede von Franz-Josef Strauß auf der Tagung der CSU-Landesgruppe in Sonthofen am 18./19. November 1974, zit. nach: Bernt Engelmann: Das neue Schwarzbuch: Franz Josef Strauß, Köln 1980, 5. veränderte Neuauflage, S. 177–200, hier S. 185. 58 Fraktionssitzung am 17.9.1974, in: ACDP, 08-001-1038/1. 55

198 Marc Buggeln

die Steuerprogression, die vom Bundesrat aus nicht effektiv attackiert werden konnte. Als Gegenmittel sahen viele der Regierungsvorhaben eine Absenkung der Einkommenssteuer vor und im Einzelfall noch Umschichtungen hin zu den indirekten Steuern. Häufig begrüßte die deutsche Wirtschaft die entsprechenden Vorschläge und auch die CDU/CSU fand diese Politik prinzipiell richtig, sodass eine Ablehnung den eigenen Wählern schwer zu erklären war. So blieb den Unionsparteien nur, eine größere Absenkung zu fordern, doch dies hatte wenig Drohpotential. Bis Ende der 1970er-Jahre hielten auch weite Teile der Union die Erhöhung der Schuldenaufnahme in Folge der Wirtschaftskrise für berechtigt, sodass etwa Strauß noch 1977 im Bundestag Finanzminister Apel zugestand, dass die Kreditneuaufnahme notwendig gewesen sei.59 Erst als 1979 Meinhard Miegel und Kurt Biedenkopf die verstärkte Schuldenaufnahme massiv kritisierten, kam es zu einem Wandel.60 Fortan attackierte die Opposition in zunehmender Schärfe die Staatsverschuldung.61 Schwieriger war es als Opposition dann, der Öffentlichkeit zu erläutern, wie die Staatsverschuldung reduziert werden sollte. Die CDU hatte 1980 noch in der Opposition umfangreiche Sparmaßnahmen vorgeschlagen, was allerdings sofort zu Einbrüchen in ihren Umfragewerten geführt hatte. In der CDU/CSU-Fraktion diskutierte man zwar weiter über später einmal erwünschte Kürzungsbereiche, doch trug man davon fortan nur noch wenig in die Öffentlichkeit. Walter Althammer, ein auch in Finanzfragen versierter Jurist der Fraktion, erklärte, dass es das Ziel der Regierung sei, „[…] daß man uns herauslocken will mit besonders gravierenden Vorschlägen, die man dann ablehnt und der Bevölkerung sagt: Habt Ihr ein Glück, daß die nicht regieren! Die würden noch viel schlimmer mit Euch verfahren. Ich glaube, auf diese Tour sollten wir nicht mitspielen.“62

Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 8. Sitzung vom 5.10.1977, S.  3476. Siehe auch: Werner Abelshauser: Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S. 440. 60 Kurt Biedenkopf / Meinhard Miegel: Die programmierte Krise. Alternativen zur staatlichen Schuldenpolitik, Stuttgart 1979. 61 Hans-Peter Ullmann: Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren, Göttingen 2017, S. 275–300; ders.: Die Expansionskoalition. Akteure und Aktionen in der bundesdeutschen Schuldenpolitik der 1970er-Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft (GuG) 41 (2015), S. 394–417, hier S. 415. Zur Entwicklung der deutschen Schuldenquote im 20.  Jahrhundert: Marc Hansmann: Vor dem dritten Staatsbankrott? Der deutsche Schuldenstaat in historischer und internationaler Perspektive, München 2012, S. 13. 62 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 27.10.1981, in: ACDP, VIII-001-1065/1. 59

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 199

Als in der Fraktion erneut Kürzungsvorschläge zur Sprache kamen, warnte Helmut Kohl vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die seine Partei damit zuvor gemacht hatte, noch einmal nachdrücklich vor einem solchen Vorgehen.63 Stattdessen betonte Kohl, dass die Fraktion die Verantwortung der Koalition für die Finanzmisere und deren Zuständigkeit, diese zu beheben, in den Mittelpunkt stellen sollte. Allerdings sollte immer der Wille erkennbar sein, dass die CDU/CSU bei richtigen Entscheidungen der Regierung mitarbeiten und alles dafür tun würde, Deutschland wieder auf Kurs zu bringen, weil die Wähler sie sonst als Verweigerer empfinden würden. Helmut Kohl formulierte intern die Strategie: „Natürlich ist es wahr: Die Regierung hat das Land in diese Lage gebracht. Aber wir müssen es ja gemeinsam ausbaden, und das muß auch bei unseren Einlassungen deutlich werden.“64 Spätestens ab 1977/78 begann sich die CDU/CSU auch gegen jede Steuererhöhung zu wehren. Insbesondere in der Debatte um die Erhöhung der Mehrwertsteuer nahmen jene Stimmen zu, die Steuererhöhungen generell ablehnten, auch wenn es nach wie vor viele Gegenstimmen hierzu gab. Kohl betonte 1978 in einer Fraktionssitzung: „Wir sind die Steuersenkungspartei – das muß deutlich werden.“65 1980 finden sich dann sehr dezidierte Aussagen zur Ablehnung von Konjunkturprogrammen, da nun völlig klar sei, dass es sich bei der aktuellen Wirtschaftskrise nicht um ein Konjunkturproblem handele. Ab 1980 gelangen der Opposition auch einige Erfolge in der Steuerpolitik, weil sich langsam der Graben zwischen der FDP und der SPD verbreiterte. Dies führte dazu, dass nun mitunter ein wenig abgestimmtes Gemisch aus den Wünschen beider Parteien in den Bundestag kam. Der CDU/ CSU gelang es dann im Bundesrat, vor allem die ihr näher stehenden FDPVorschläge eines Gesetzesentwurfes beizubehalten und gleichzeitig einige der SPD-Vorschläge zu kippen. Dies erhöhte in der SPD-Fraktion die Frustration und verstärkte dort den Wunsch nach einer umverteilenden Steuerpolitik. Gegen diese Stimmung konnte sich Finanzminister Hans Matthöfer mit seinen Versuchen, Steuerpakete zu ersinnen, die von der Opposition nicht auseinandergeschnürt werden konnten, nicht durchsetzen. Es mehrten sich die Stimmen in der SPD-Fraktion, die nunmehr wenig im sozialdemokratischen Sinn agierende Koalition zu beenden.66

Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 1.2.1982, in: ebd., 1066/1. Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 18.1.1982, in: ebd. 65 Fraktionssitzung vom 14.11.1978, in: ACDP, 08-001-1054/1. 66 Abelshauser, Wirtschaftswunder, S. 516–532. 63 64

200 Marc Buggeln

7. Das Lambsdorff-Papier und das Ende der sozialliberalen Ära

Ein von Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff verfasstes Papier über die zukünftige Ausrichtung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik führte schließlich zum endgültigen Bruch.67 In beiden Regierungsfraktionen war der Wille zum Kompromiss aufgebraucht. Steuerpolitisch enthielt das Papier eher wenig Neues. Lambsdorff forderte unter anderem, die inflationsbedingten Gewinne bei der progressiven Einkommenssteuer durch Steuersenkung an die Bürger zurückzugeben. Sie sollten dabei ohne Ausgleich abgegeben werden; jede weitere Kürzung wollte Lambsdorff aber durch die Anhebung der Mehrwertsteuer ausgleichen. Weiter wiederholte die FDP ihre alte Forderung nach Abschaffung der Gewerbesteuer, was aber immer und bis heute am Widerstand sowohl von SPD wie CDU/CSU scheiterte. Wirkliches Konfliktpotenzial mit der SPD barg vor allem die Forderung nach partieller Entlastung gewerblich genutzten Vermögens von der Vermögenssteuer.68 Der Scheidungscharakter des Papiers lag jedoch kaum in der Steuerpolitik begründet, sondern eher in einigen Vorschlägen zur Kürzung im Sozial- und Bildungsbereich sowie in der zum Ziel erklärten Verbilligung der Arbeit mit einer klar benannten Frontstellung gegen die Gewerkschaften. Am 17. September trafen sich Kanzler Schmidt und Wirtschaftsminister Lambsdorff zu einem Abschiedsgespräch. Beide versicherten sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung. Schmidt betonte, dass er die FDP in den nächsten Tagen scharf angreifen werde, sich dies aber vor allem gegen Genscher richten würde. „Der Bundeskanzler fragt, ob seine Notiz richtig sei, daß Graf Lambsdorff im April oder Mai in einer Veranstaltung des BDI gesagt habe, ein etwaiger Regierungswechsel in Bonn werde nicht zu einem großen oder wichtigen Wechsel in der Wirtschaftspolitik führen. […] BM Graf Lambsdorff bestätigt, daß er dies nicht nur einmal, sondern mehrfach öffentlich gesagt habe.“69

Zum Ende der SPD/FDP-Koalition: Joachim Scholtyseck: Die FDP in der Wende, in: Historisch-Politische Mitteilungen (HPM) 19 (2013), S. 197–220; Martin H. Geyer: Rahmenbedingungen: Unsicherheit als Normalität, in: Ders. (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 6: 1974–1982 Bundesrepublik Deutschland. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheit, Baden-Baden 2008, S. 1–109, hier S. 105–109; Faulenbach, Sozialdemokratisches Jahrzehnt, S. 738–755. Vgl. auch den Beitrag von Ralf Ahrens in diesem Band. 68 Otto Graf Lambsdorff: „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vom 9.9.1982. Online unter URL: https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/lambsdorff_papier_1982.pdf. 69 Aufzeichnung vom Gespräch zwischen BK Schmidt und BM Lambsdorff am 17.9.1982, in: ASD, Nachlass Helmut Schmidt, 1/HSAA009385. 67

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 201

Lambsdorff fragte dann, warum Schmidt sein Konzept als Widerspruch zu sozialliberaler Politik ansehe: „Der Bundeskanzler antwortet, daß er den Widerspruch in zwei zentralen Punkten sehe: 1. In dem fehlenden Bemühen um soziale Ausgewogenheit. In diesem Zusammenhang sei die Formulierung ‚Keine Verschärfung der Mitbestimmung‘ ein Schlüsselwort. 2.  In der Abweichung vom Jahreswirtschaftsbericht, die in dem Vorschlag liege, sowohl die konjunkturbedingten Mehrausgaben als auch die konjunkturbedingten Mindereinnahmen überwiegend durch Einsparungen im Transferbereich und nicht durch Kreditaufnahme zu finanzieren. Eine solche Politik sei in der gegenwärtigen, zur Depression tendierenden Wirtschaftslage falsch; das sei reine Deflationspolitik, die er, der Bundeskanzler nicht vertreten könne.“

Lambsdorff bestritt dem gegenüber jede Abweichung vom Jahreswirtschaftsbericht und betonte, dass die FDP-Fraktion seine Kreditfinanzierung noch zu üppig fand. In Sachen Mitbestimmung habe er eine andere Meinung als der Kanzler; er sehe diese vorwiegend als Investitionshindernis. Schmidt hob hervor, dass er dies als „Tendenz zu Reaganscher supply-side-Politik“ betrachte. Auch bei Schmidt lag das Trennende also nicht in der Steuerpolitik, sondern auf der Ausgabenseite sowie in der Mitbestimmungspolitik. Dort wähnte er Lambsdorff und die FDP auf dem Weg zur Wirtschaftspolitik des neuen USPräsidenten, die die SPD entschieden ablehnte.

8. Die neue Regierung: Erst Haushaltssanierung, dann Steuerkürzung

Die FDP trat nun in eine Koalitionsregierung mit der CDU/CSU ein, und der neue Kanzler Helmut Kohl versprach im Koalitionspapier eine „geistigmoralische Wende“. Besonders scharf wurde diese Wende für die Finanzpolitik verkündet. Die Staatsquote sollten gesenkt werden, ebenso die Verschuldung und die Inflationsrate.70 Die neue Koalitionsregierung hatte dabei den Vorteil, dass sie bis auf Fragen, die eine Zweidrittelmehrheit benötigten, kaum auf Kompromisse mit der Opposition angewiesen war, weil sie von 1982 bis 1989 auch über eine Mehrheit im Bundesrat verfügte. Da die neue Koalition den Schwerpunkt aber zuerst auf den Abbau der Staatsverschuldung legte, blieb in der Steuerpolitik anfangs vieles beim Alten. Die Tarife der Einkommenssteuer blieben bis 1986 bei einem Eingangssatz

Roland Sturm: Die Wende im Stolperschritt – eine finanzpolitische Bilanz, in: Göttrik Wewer (Hg.): Bilanz der Ära Kohl, Opladen 1998, S. 183–200, hier S. 183 f.

70

202 Marc Buggeln

von 22 und einem Spitzensatz von 56 Prozent unverändert.71 Zudem beschloss man 1982 die Anhebung der Mehrwertsteuer um einen weiteren Prozentpunkt auf 14 Prozent und die Erhebung einer allerdings rückzahlbaren Investitionsabgabe für Besserverdienende. Parallel erfolgte eine Senkung der Gewerbesteuer für die Unternehmen. Die Folge waren eine leicht ansteigende Belastung der Masseneinkommen und eine partielle Entlastung der Unternehmenseinkommen. Erst nachdem absehbar geworden war, dass der Konsolidierungskurs erste Erfolge erzielen und das Haushaltsdefizit 1983 gering ausfallen würde, begann die Koalition, über Steuersenkungen zu verhandeln. Aufgrund der Konsolidierungsbemühungen des Finanzministers Gerhard Stoltenberg und der Länderfinanzminister einigte man sich auf eine langsame Entlastung in zwei Schritten.72 1986 führte man vor allem die von der SPD abgeschafften Kinderfreibeträge wieder ein, die im Gegensatz zum Kindergeld Besserverdienende bevorteilten. 1988 erfolgte eine Tarifveränderung, die vor allem die mittleren Progressionsstufen absenkte, während der Spitzensteuersatz bei 56 Prozent konstant blieb.73 Schon nach der Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 forderten CSU und FDP in den Koalitionsverhandlungen dann mit Vehemenz eine deutliche Senkung des Spitzensteuersatzes. Dieses Ansinnen wurde vom Arbeitnehmerflügel und der Sozialstaatsfraktion der CDU um Norbert Blüm und Heiner Geißler erbittert bekämpft. Erst ein Ultimatum Helmut Kohls führte zur Einigung auf eine Absenkung von 56 auf 53 Prozent.74 Etwas lautloser erfolgte die parallele Absenkung des Höchstsatzes der Körperschaftssteuer von 56 auf 50 Prozent. Als Kompromiss zur Herstellung der von Blüm und Geißler eingeklagten sozialen Symmetrie wurde auch der Eingangssteuersatz um 3 Prozent reduziert. Die Einigung kam aufgrund der Koalitionsstreitigkeiten in der Öffentlichkeit nicht gut an. Zudem stand der Koalition der schwierige Teil der Lösung noch bevor, hatte man doch in den Verhandlungen jede Konkretisierung

Marc Buggeln: „Keine Aktion Volksbeglückung“. Der Spitzensatz der Einkommenssteuer als Politikum, in: Mittelweg 36, 27 (2018), S. 48–76. 72 Zur Sicht Stoltenbergs auf die Steuerreformen der 1980er-Jahre: Gerhard Stoltenberg: Wendepunkte. Stationen deutscher Politik 1947–1990, Berlin 1997, S. 277–313. 73 Ullmann, Steuerstaat, S. 208; Buggeln, Steuern, S. 69–72; Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, Stuttgart 2006, S. 270–277. 74 Jürgen Gros: Politikgestaltung im Machtdreieck Partei, Fraktion, Regierung. Zum Verhältnis von CDU-Parteiführungsgremien, Unionsfraktion und Bundesregierung 1982–1989 an den Beispielen der Finanz-, Deutschland- und Umweltpolitik, Berlin 1998, S. 153 f. 71

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 203

vermieden, wie die geplante Gegenfinanzierung durch die Streichung von Subventionen in Höhe von 19 Milliarden DM aussehen sollte. Ein Erfolg für den Finanzminister war es dann, dass im Sommer trotz einigen Koalitionsstreits über die Steuerpolitik nichts von den Verhandlungen über die zur Gegenfinanzierung erwünschten Subventionskürzungen nach außen drang. Die Streichliste wurde von einer fünfköpfigen Koalitionsgruppe erstellt. Sie umfasste offiziell eine Gegenfinanzierung in Höhe von 17 Milliarden DM. Die Kürzungen trafen sowohl die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberseite umfangreich. Hinzu kam die Verkündung der Einführung einer Quellensteuer auf Kapitalerträge in Höhe von zehn Prozent. Löste all dies bereits Proteste aus, so geriet die Diskussion um die Gegenfinanzierung durch eine von Franz-Josef Strauß durchgesetzte Befreiung von Privatfliegern von der Flugbenzinsteuer zu einem echten PR-Desaster. Sie machte es dem politischen Gegner nämlich leicht, öffentlich darzulegen, dass die von der Regierung immer wieder betonte soziale Symmetrie der Reform nicht gegeben sei, auch wenn die genannte Befreiung für die Umverteilungswirkung quantitativ praktisch keine Bedeutung hatte.75

9. Die Debatten in der CDU/CSU und FDP über die Finanzpolitik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher

Während die internationalen Bezüge in den politischen Debatten um Fragen der Steuerpolitik in den 1970er-Jahren noch eine vergleichsweise geringe Rolle spielten,76 änderte sich dies in den 1980er-Jahren spürbar. Diese These scheint mir nach Durchsicht der Fraktionsprotokolle von FDP, SPD und CDU/CSU der 1970er- und 1980er-Jahre gut belegbar zu sein. In den 1970er-Jahren nahm man insbesondere bei den Lohn-, Einkommens- und Unternehmenssteuern wenig Bezug auf Entwicklungen in anderen Staaten. Einzig bei den indirekten Steuern spielte die internationale Dimension eine

Buggeln, Steuern, S.  72–77; Wirsching, Abschied, S.  277–287; Bökenkamp, Ende, S.  271–291; Reimut Zohlnhöfer: Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung 1982– 1998, Opladen 2001, S. 83–103. 76 Gemeint sind damit vor allem die Debatten innerhalb der Parteien, im Bundestag sowie in den Presseäußerungen deutscher Politiker. Im Bundesfinanzministerium und in der Finanzwissenschaft beobachtete man die Entwicklungen in anderen Ländern dagegen sehr genau und prüfte immer wieder, ob Reformen in anderen Ländern Potenzial für das bundesrepublikanische System besaßen. 75

204 Marc Buggeln

Rolle, allerdings beschränkte sich die Auseinandersetzung damit vor allem auf andere Staaten der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere auf Frankreich und die Frage, wie man eine Annäherung bei den Mehrwertsteuersätzen erreichen könnte. Die SPD lehnte sowohl die Politik Reagans wie jene Thatchers in Steuerfragen entschieden ab. 1981 setzte die SPD eine Adhoc-Gruppe ein, um Haushaltskürzungen im Sinne der Partei zu erarbeiten. Der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Heinz Westphal, hielt als Ergebnis fest: „Wir wollen weder eine Brüning- noch eine Thatcher-Politik.“77 In der CDU/CSU waren die Bezugnahmen auf Thatcher und Reagan deutlich heterogener.78 In der Tendenz zeigt sich dabei in mehreren CDU/ CSU-Fraktionssitzungen ein recht ähnlicher Ablauf. Den Bezug zu den USA oder Großbritannien stellte in der Regel ein Vertreter des Wirtschafts- bzw. des Mittelstandsflügels der Union her. Zumeist erfolgte überschwängliches Lob für jene Teile der Reformen, die man sich auch wünschte, während andere Aspekte der Reformen einfach ausgeblendet wurden. Darauf antwortete wahlweise ein Arbeitnehmervertreter, der Bundeskanzler oder der Bundesfinanzminister mit Anmerkungen über die problematischeren Seiten der Reformen und die unterschiedlichen Gesamtsysteme. In einer Fraktionssitzung platzte Helmut Kohl schließlich der Kragen, als der Abgeordnete Jung, ein Vertreter des Wirtschaftsflügels aus Baden-Württemberg, einmal mehr die Senkung der Unternehmensbesteuerung verlangte und dazu anmerkte, dass man „[…] nicht die Frage außer Acht lassen [solle, M. B.], was zwischenzeitlich in europäischen Nachbarländern dazu schon beschlossen wurde. Ich sage Ihnen nur das Beispiel England.“79 Kohl antwortete darauf mit einem emotionalen Grundsatzreferat: „Das ist Äpfel und Birnen miteinander vergleichen, nicht nur im Steuersystem. Der erste Punkt: […] Großbritannien [hat] ein völlig anderes politisches System. […] Frau Thatcher hat mit 32 Prozent der wahlberechtigten Stimmen und 43 Prozent der abgegebenen Stimmen 66 Prozent der Mandate. […] Sie kann sich erlauben, mit Mehrheitsverhältnissen zu operieren, die für uns gar nicht denkbar sind. Zweitens: Sie kann sich erlauben, regionale Unterschiede hinzunehmen. […] Dritter Punkt: Ich glaube nicht an ihre Philosophie. Und das ist der entscheidende Punkt: Ich bin kein Anhänger der Marktwirtschaft, sondern der sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung vom Liberalismus […], daß der Reichtum einer

Arbeitsergebnisse der adhoc-Arbeitsgruppe vom 26.6.1981, in: ASD, Abt. II/SPD-BTFraktion 9. WP, 2/BTFI000026. 78 Zur Rezeption der Politik Thatchers in der Bundesrepublik vgl. den Beitrag von Wencke Meteling in diesem Band. 79 CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 19.9.1988, in: ACDP, 08-001-1086/2, S. 105. 77

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 205

ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift, und dadurch die Schwachen hochzieht. […] Und jetzt zu den harten ökonomischen Tatsachen: Ich bin ein großer Bewunderer der Leistung, die Margaret Thatcher im Wirtschaftlichen vollbracht hat. Allein schon die Art und Weise, wie sie in der Gewerkschaftsfrage Mut bewiesen hat. […] Es ist aber auch wahr, Herr Kollege Jung, daß wir die höchste Produktivität haben. Sie liegt um fast 30 Prozent über der britischen Produktivität.“

In seinen Gesprächen habe er den Eindruck gewonnen, dass weitsichtige Briten Deutschland lobten und noch lange vorn sähen. „Wir sollten wirklich damit aufhören, ausgerechnet die Briten als unser Beispiel hinzustellen.“80 Kohl betonte also nachdrücklich die Differenzen zwischen der Bundesrepublik und Großbritannien im politischen System (Wahlrecht und Föderalismus) und in der Ideologie. Zudem sah er die deutsche Wirtschaft besser aufgestellt als ihr Kritiker Jung. Was Kohl und Jung nicht erwähnten, war, dass Thatcher für ihre Reformen die Mehrwertsteuer deutlich erhöht hatte. Das war ein Punkt, den Jung wenig geschätzt haben dürfte, bekämpfte er doch in den Fraktionssitzungen energisch jeden Versuch einer Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt. Hans-Peter Schwarz geht davon aus, dass Kohl sich in seinen öffentlichen Äußerungen mit Kritik an Thatcher deutlich zurückhielt, während er innerlich ihre Politik vollkommen ablehnte: „Er haßt den ‚Thatcherismus‘ wie die Pest“.81 Fast noch häufiger war die Bezugnahme auf das US-amerikanische Beispiel. In einer Debatte im Juni 1987 zeigte sich der Abgeordnete Manfred Abelein zwar skeptisch gegenüber einem allzu großen Glauben an die Erfolge der Steuerpolitik von Ronald Reagan, aber er befürwortete nachdrücklich eine Senkung der direkten Steuern ohne Gegenfinanzierung durch die Erhöhung der indirekten Steuern. Ein Teilausgleich solle höchstens durch Subventionsabbau erfolgen: „Amerikaner  – man sieht natürlich das Vorbild auch bei uns. Wir wollen es den Amerikanern nachmachen. Und die haben ihren großen Theoretiker, den Herrn Lover [Laffer; M. B.82]. Und ob die ganze Sache stimmt, weiß man nicht genau, weiß niemand genau. Auch die Wirtschaftswissenschaft weiß es nicht – und der Herr Lover weiß es letztlich auch nicht. Da gibt es diese Lover-Kurve, und danach geht’s und geht – oder es geht nicht. […] Also, ich glaube, die Sache kann ganz gut laufen. Nur ich habe gewisse Zweifel, ob diese Lover-Theorie bei uns auch richtig funktioniert.

CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 19.9.1988, in: ACDP, 08-001-1086/2, S. 105–110. Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 333. 82 Gemeint ist der US-amerikanische Ökonom Arthur B. Laffer und die nach ihm benannte Hypothese („Laffer-Kurve“). Die Unkenntnis des Namens dürfte dem Protokollanten und nicht dem Diskutanten zuzuordnen zu sein. 80 81

206 Marc Buggeln

Und in einem, das muß ich Ihnen sagen, ist die Parallele zu den Vereinigten Staaten überhaupt nicht mehr zutreffend; denn wenn man bei uns Teile ausgleichen will mit Steuererhöhungen, dann stehen wir in diametralem Gegensatz zu den Vereinigten Staaten. (Unruhe).“83

Finanzminister Stoltenberg antwortete, dass aus den USA viel Druck komme und er von dort aufgefordert würde, viel radikaler zu agieren und eine expansive Finanzpolitik zu betreiben. Stoltenberg verwahrte sich aber gegen solche Vorschläge. Noch kritischer war seine Haltung zur ersten Reagan-Steuerreform von 1981: „Ich bin kein Anhänger der Lover-Kurve und der Lover-Theorie. Die Amerikaner haben zwei grundlegende Steuerreformen gemacht; Sie dürfen das zweite nicht vergessen. Sie haben 1981 zu Beginn der Reagan-Periode die Steuern massiv gesenkt. Und da war die Idee, daß man durch so massive Steuersenkungen ein so hohes Wachstum erzeugen kann – das war Lover in Reinkultur –, daß man sozusagen die Steuerausfälle wiederbekommt. Das wäre ja phantastisch. Das wäre sozusagen ‚der Nürnberger Trichter‘ in der Steuerpolitik, nicht? Also das Perpetuum mobile! Wenn das so einfach ginge! Dies glaube ich nicht.“84

Eher als Vorbild betrachtete er die 1986er-Reform: „Und weil dies nicht funktioniert hat in Amerika, haben sie eine zweite Steuergesetzgebung gemacht, die eine wirkliche Reform war. Und diese zweite Steuergesetzgebung ist eindrucksvoll, weil sie nur durch Umschichtung finanziert wurde: Drastische Senkung der Tarife und Abbau von Steuervergünstigungen und Sonderregelungen auf so breiter Front, daß das Ergebnis aufkommensneutral ist. So ehrgeizig sind wir nicht! (Zuruf Prof. Dr. Abelein: Leider!) Ja, leider, ich rufe da wirklich Mutige an die Front.“85

Stoltenberg stand damit paradigmatisch für die Wahrnehmung der Reaganschen Reformen bei den Steuer- und Haushaltsexperten in der Bundesrepublik und auch in anderen Ländern Westeuropas: Während die Reform von 1981 als zu radikal und mitverantwortlich für das steigende US-Defizit betrachtet wurde, galt die Reform von 1986 mit ihrer Steuerstufenreduzierung und der Gegenfinanzierung durch Subventionsstreichung durchaus als ein diskutables Vorbild.86

CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 16.6.1987, in: ACDP, 08-001-1082/2, S. 32. Ebd., S. 53. 85 Ebd., S. 54. 86 Buggeln, Steuern, S. 54–63. 83 84

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 207

Auch bei Vertretern des Wirtschaftsflügels der CDU/CSU trat dann mitunter die Erkenntnis ein, dass das US-Steuersystem unter Reagan aus ihrer Sicht auch negative Seiten hatte. So betrachtete der Abgeordnete Hermann Schwörer in der Debatte um die Einführung der Quellensteuer, bei der die CDU/CSU auf jeden Fall Kontrollmitteilungen von den Banken an das Finanzamt vermeiden wollte, die USA als Negativbeispiel für eine allumfassende Kontrolle des Steuerzahlers: „In den USA gibt es ein perfektes System der Kontrollmitteilungen. Und die USA ist das Land in der Welt, das mit Abstand die geringste Sparquote in der Welt hat. Das mag mit der Mentalität der Amerikaner zusammenhängen, das hängt sicher aber auch davon ab, daß hier so bis in die letzte Einzelheit alles erfaßt wird.“87

Er betonte dagegen, dass in der Bundesrepublik Sparkapital für Investitionen dringend gebraucht würde und man deswegen auf keinen Fall Kontrollmitteilungen einführen und am besten die ganze Quellensteuer wieder abschaffen sollte.

10. Fazit

In der Bilanz der CDU/CSU/FDP-Koalition bis zur Deutschen Einheit kann festgehalten werden, dass die erwünschte Absenkung der Steuer- und Abgabenquote erreicht wurde. Sie fiel allerdings minimal aus und war insgesamt deutlich geringer als der Rückgang, den noch die sozialliberale Koalition seit dem Jahr 1977, dem Jahr der höchsten Steuer- und Abgabenquote, erreicht hatte. Die staatliche Ausgabenquote konnte zwar stärker gesenkt werden, aber nicht in einem solchen Maß, als dass die zunehmende Staatsverschuldung hätte beendet werden können. Im Gegenteil: Sie nahm weiter zu, jedoch im internationalen Vergleich in moderater Weise.88

CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 25.4.1989, in: ACDP, 08-001-1089/2, S. 106. Zur Entwicklung der Schuldenquote siehe die Grafiken bei: Ullmann, Abgleiten in den Schuldenstaat, S. 255; Mark Spoerer: Öffentliche Finanzen, in: Thomas Rahlf (Hg.): Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 102–113, hier S. 112.

87 88

208 Marc Buggeln

Tabelle: Volkswirtschaftliche Quoten für die Bundesrepublik Deutschland 1970–198989 Steuerquote

Abgabenquote

Ausgabenquote

1970

23,0

34,8

38,5

1977

24,6

40,4

48,8

1981

22,8

39,1

47,5

1985

22,8

39,1

45,2

1989

22,7

38,8

43,1

Generell blieb insbesondere die CDU dabei um soziale Symmetrie bemüht, während CSU und FDP für eine deutlichere Umverteilung zugunsten der Unternehmen und Spitzenverdiener plädierten. Innerhalb der CDU verweigerte nicht nur der Flügel um Blüm und Geißler diesen Forderungen die Zustimmung, sondern auch Helmut Kohl stand, wie wir gesehen haben, derlei Forderungen eher skeptisch gegenüber. Auch darum blieb die Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit in den 1980er-Jahren im Vergleich zu den USA oder Großbritannien in der Bundesrepublik moderat. Allerdings wendete sich der Trend der 1960er- und 1970er-Jahre, der die Einkommensverteilung in der Bundesrepublik egalitärer gemacht hatte, hin zu einer leichten Zunahme der bereits bestehenden Ungleichheit. Dies war nicht nur bedingt durch die Senkung der Einkommenssteuer begründet, sondern auch durch die verringerte Besteuerung von Unternehmens- und Kapitalgewinnen, vor allem aber durch die Zunahme der Ungleichheit beim Markteinkommen. Tabelle: Gini-Koeffizient für Einkommen und fiskalische Umverteilung in der Bundesrepublik 1981 und 198990 Markteinkommen

Verfügbares Einkommen

Fiskalische Umverteilung

1981

0.405

0.244

0.161

1989

0.438

0.258

0.180

Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.5., Wiesbaden 2016 (letzte Aktualisierung am 6.4.2016), S. 43. 90 David K. Jesuit / Vincent A. Mahler: Fiscal Redistribution in Comparative Perspective: Recent Evidence from the Luxembourg Income Study (LIS) Data Centre, in: Buggeln/Daunton/Nützenadel, Political Economy, S. 177–198. 89

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 209

Weil die Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen in den USA und Großbritannien durch die starken Steuersenkungen für Spitzenverdiener deutlich schneller stieg, entfernte sich Deutschland in den 1980er-Jahren von den angloamerikanischen Staaten, in denen die Ungleichheit deutlich zunahm und rückte in dieser Hinsicht näher an die stärker egalitären skandinavischen Länder. Tabelle: Gini-Koeffizienten für das verfügbare Einkommen 1979–199291 USA

Großbritannien

Bundesrepublik

Norwegen

Schweden

1979–81

0,299

0,267

0,244

0,224

0,197

1989–92

0,335 (+36)

0,336 (+69)

0,258 (+14)

0,231 (+7)

0,229 (+32)

Vergleicht man die Finanzpolitik der SPD/FDP-Koalition mit jener der nachfolgenden CDU/CSU/FDP-Koalition, so wurde in der Literatur häufig betont, dass bereits unter Kanzler Schmidt in einigen Bereichen Konsolidierungsbemühungen einsetzten und diese unter Kohl eher moderat verstärkt wurden.92 Bei der Steuerquote ist unter der SPD/FDP-Koalition ein leichter Anstieg festzustellen, der dann aber schon ab 1977 gestoppt wurde. Vieles spricht von daher dafür, den Regierungswechsel nicht als allzu große Wende in der Finanzpolitik zu betrachten und die Kontinuitäten im Regierungshandeln nicht zu übersehen. Betrachtet man jedoch die Verteilungswirkungen der von beiden Koalitionen vorgenommenen Steueränderungen, zeigen sich die politischen Prioritäten doch recht deutlich. Während der Lohn- und der Verbrauchssteuersatz unter der SPD/FDP-Regierung stark sanken, stieg gleichzeitig der Steuersatz auf Unternehmenstätigkeit und Vermögen deutlich an. Die nachfolgende CDU/CSU/FDP-Regierung drehte diese Entwicklung um und führte die jeweiligen Steuersätze bis 1989 wieder in die Nähe der Ausgangssätze von 1969. Dadurch verminderte sich die Progressionswirkung des bundesdeutschen Steuersystems in den 1980er-Jahren leicht. Im Detail fällt auf, dass die SPD/FDP-Regierung sich zwar nach der ersten Ölkrise gezwungen sah, den Lohn- und Verbrauchssteuersatz wieder anzuheben, aber eine Entlastung auf der Unternehmensseite weitgehend unterblieb.

Chen Wang  / Koen Caminada (2011): ‚Leiden LIS Budget Incidence Fiscal Redistribution Dataset‘, online verfügbar unter URL: http://www.lisdatacenter.org/resources/otherdatabases/ [11.4.2017). 92 Ullmann, Steuerstaat, S. 205 f; Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 446–449. 91

210 Marc Buggeln

Gerade auf diesem Feld vollzog sich nach dem Regierungswechsel eine der größten Veränderungen. Die Steuerbelastung der Unternehmen wurde zügig verringert.93 Die hierfür zumeist zuerst genannte Begründung, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen würden, erwies sich aber nur bedingt als stichhaltig, denn die Arbeitslosenzahlen stiegen weiter. Es gab aus meiner Sicht deswegen nach 1982 sehr wohl eine Wende in der Steuer- und Finanzpolitik. Diese zeigte sich weniger in den volkswirtschaftlichen Quoten für die öffentlichen Finanzen als in den Veränderungen bei den Be- und Entlastungswirkungen der Steuern für unterschiedliche soziale Gruppen. Ob dies aber eine Kennzeichnung als „neoliberal“ rechtfertigt, wie dies gerade in politikwissenschaftlichen Publikationen häufig geschieht, sollte mit Bedacht geprüft werden. In vielem handelte es sich nach der etwa zehnjährigen Hochphase des Keynesianismus in Deutschland, der in dieser Zeit auch in der FDP und der CDU/CSU erheblich an Einfluss gewonnen hatte, eher um ein Zurück zu den Werten des klassischen Liberalismus, der katholischen Soziallehre und des Ordoliberalismus. Helmut Kohl stellte sich mit seinen Verweisen auf die soziale Marktwirtschaft explizit in die Tradition des Ordoliberalismus. Im Hinblick auf Foucaults Differenzierung stünde Kohl aber dem klassischen Liberalismus näher, weil er der Übertragung von Marktlogiken auf den Staat eher skeptisch gegenüberstand. Folgt man einer Definition des Neoliberalismus, die Marktfundamentalismus in den Mittelpunkt stellt, dann muss man feststellen, dass zwar dem Markt eine größere Bedeutung zugemessen wurde als zu Beginn der 1970er-Jahre, aber eine Diktion, die den Markt als Lösung für nahezu alle Probleme betrachtete, lässt sich auch nach 1982 bei den Parteien der neuen Regierungskoalition nur in sehr begrenztem Maße finden. Ein weitgehender Rückzug des Staates aus Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde kaum gefordert und erst recht nicht realisiert. Gerade in der Steuerpolitik wäre auch eine Charakterisierung des Politikwechsels nach dem Kriterium möglich, wer von den Veränderungen profitierte, etwa im Sinne David Harveys, der den Neoliberalismus als Ideologie zur Durchsetzung der Interessen der Oberschicht betrachtet. Für den Regierungswechsel 1982 in der Bundesrepublik ließe sich in der finanzpolitischen Entscheidungsfindung zugespitzt von der Ablösung einer Unterschicht-Mittelschicht-Koalition durch eine Mittelschicht-Oberschicht-Koalition sprechen. Tatsächlich profitierte die Oberschicht auch in Deutschland in der Tendenz am meisten von den Veränderungen in der Steuerpolitik. Allerdings blieben die Verschiebungen im Vergleich zur Politik von Reagan oder Thatcher mo-

Otto Roloff: Der eigennützige Staat in der Konfliktgesellschaft. Studien zur politischen Ökonomie des staatlichen Budgets, Marburg 2001, S. 248–255.

93

Gab es eine neoliberale Wende in der Steuerpolitik? 211

derat. Der starke Arbeitnehmer-Flügel der CDU verhinderte erfolgreich, dass schon in den 1980er-Jahren eine noch stärkere Entlastung der Oberschicht stattfand. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Politik der liberal-konservativen Regierungskoalition auf dem Feld der öffentlichen Finanzen in den 1980er-Jahren bei den beiden zentralen Kriterien – Marktfundamentalismus und Oberschichtenbevorzugung – keinesfalls als rein neoliberales Projekt bezeichnet werden kann. Treffender scheint es, das Jahr 1982 als Beginn einer sehr langsamen Verschiebung hin zu stärker neoliberal geprägten Werten zu sehen. Hält man sich an diese beiden Kriterien, dann kann frühestens Mitte der 1990er-Jahre mit der Debatte um den Standort Deutschland94 und den einsetzenden Diskussionen um sehr viel radikalere Steuerkürzungen davon gesprochen werden, dass der Neoliberalismus sich in der Regierungspolitik wie in der öffentlichen Meinung stärker festgesetzt hat.

Wencke Meteling: Internationale Konkurrenz als nationale Bedrohung – Zur politischen Maxime der „Standortsicherung“ in den neunziger Jahren, in: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 289–316.

94

ralF ahrens

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? Industriepolitik im Bundeswirtschaftsministerium von Friderichs bis Bangemann

1. Einleitung

D

er Rückzug des Staates aus der Steuerung ökonomischer Prozesse gilt als neoliberales Kernprogramm. Darunter lässt sich grundsätzlich auch die ordoliberale deutsche Traditionslinie subsumieren, obwohl sie dem Staat als Garanten der Wettbewerbsordnung eine gewichtigere Rolle zuweist als andere Theoriestränge.1 Die programmatischen Positionierungen und die reale Politik des bundesdeutschen Liberalismus bezogen sich zwar auch auf solche reinen Lehren, aber sie waren natürlich ebenso vom jeweiligen Zeitgeist geprägt. So findet sich an prominenter Stelle eines Büchleins mit dem Titel „Mut zum Markt“, das der erste von der FDP gestellte Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs 1974 veröffentlichte, der scheinbar paradoxe Satz „Globalsteuerung erhält die Freiheit“.2 Diese Formulierung verweist auf eine eigentümliche historische Gemengelage, denn zwei Jahre zuvor hatte Friderichs im Wirtschaftsministerium, nach einem kurzen Intermezzo unter Helmut Schmidt, die Nachfolge des Sozialdemokraten Karl Schiller angetreten, dessen konjunktur- und wachstumspolitisches Konzept der Globalsteuerung heute geradezu symbolhaft für den sozialdemokratischen Steuerungsoptimismus der späten 1960er Jahre steht.3

Vgl. etwa die Abgrenzungsversuche bei Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012, S. 24–86; Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hg.): The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 22015, S. 45–178; Rolf Steltemeier: Liberalismus. Ideengeschichtliches Erbe und politische Realität einer Denkrichtung, Baden-Baden 2015, S. 295–387. 2 Hans Friderichs: Mut zum Markt. Wirtschaftspolitik ohne Illusionen, Stuttgart 1974, S. 13. 3 Vgl. zur Einordnung etwa Michael Ruck: Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie  – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt / Detlef Sieg1

214 Ralf Ahrens

Dieser Anspruch auf Steuerung hatte sich nicht nur in der Konjunkturpolitik gezeigt, sondern auch in der Vorstellung, Wirtschaftspolitik habe sich mit ökonomischen „Strukturen“ zu befassen. „Strukturpolitik“ sollte in einer systematischeren, kontrollierteren Weise als bisher die Resultate von Marktprozessen in einzelnen Branchen oder Regionen korrigieren, die Folgen wirtschaftlichen Strukturwandels dämpfen oder Innovationstätigkeit unterstützen; faktisch handelte es sich dabei vor allem um Industriepolitik. Auch dieses Erbe traten die Freidemokraten an, und liberale Industriepolitik erscheint in besonderer Weise legitimationsbedürftig: Sie bedeutet immer eine staatliche Intervention in Märkte, deren Effizienz in liberalen Vorstellungen von der Ordnung der Wirtschaft grundsätzlich unterstellt wird. Nichtsdestoweniger führte die FDP seit 1972 ein Ministerium, das federführend für die Vergabe von Subventionen und mit entsprechenden Forderungen der Industrie konfrontiert war. Gerade in dieser Hinsicht stand Industriepolitik in Zeiten des beschleunigten Strukturwandels und verschärften internationalen Wettbewerbs, der Branchenkrisen und zunehmenden Unternehmenspleiten4 vor besonderen Herausforderungen. Es stellt sich also die Frage, wie von den regierenden Liberalen mit dem Spannungsverhältnis zwischen ordoliberaler Lehre und tendenziell wachsendem Interventionsbedarf umgegangen wurde und welche Kontinuitäten oder Veränderungen sich dabei gegenüber der Ära Schiller, aber auch in der Folgezeit zeigen lassen. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich dazu auf die Amtszeiten von Hans Friderichs, Otto Graf Lambsdorff und Martin Bangemann, also auf die 1970er und 1980er Jahre. Das hat nicht zuletzt den Vorteil, dass auf archivalische Quellen zurückgegriffen werden kann. Überdies änderte die deutsche Wiedervereinigung durch die Sonderentwicklung in den neuen Bundesländern zwar grundlegend das industriepolitische Szenario, doch eine Zunahme liberalen Einflusses auf die programmatischen Diskussionen oder

fried / Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S.  362–401; Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 837 f. 4 Vgl. u. a. Herbert Giersch  / Karl-Heinz Paqué  / Holger Schmieding: The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 31994, S. 185–255; Ingo Köhler: „Havarie der Schönwetterkapitäne“? Die Wirtschaftswunder-Unternehmer in den 1970er Jahren, in: ders. / Roman Rossfeld (Hg.): Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20.  Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012, S.  251–283; André Steiner: Abschied von der Industrie? Wirtschaftlicher Strukturwandel in West- und Ostdeutschland seit den 1960er Jahren, in: Werner Plumpe / André Steiner (Hg.): Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 15–54.

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 215

gar die politische Praxis dürfte dabei schwerlich festzustellen sein, obwohl das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) noch bis 1998 in liberaler Hand blieb. Schon die Wirtschafts- und Währungsunion wurde jedoch vor allem im Kanzleramt und im christdemokratisch geführten Finanzministerium arrangiert, letzterem auch die Treuhandanstalt als mit Abstand wichtigster industriepolitischer Akteur in den neuen Ländern unterstellt.5 Im Folgenden soll es zunächst anhand der programmatischen Positionen der drei genannten Minister darum gehen, ob sich an prominenter Stelle ein konzeptioneller Wandel liberaler Industriepolitik beobachten lässt. Danach soll anhand der beiden Fallbeispiele Stahl und Flugzeugbau ein Blick in die politische Praxis geworfen werden. Dabei geht es um Industriepolitik im engeren, „klassischen“ Sinne, d. h. nicht um Privatisierung, Deregulierung oder staatliche Infrastrukturleistungen, sondern um die Umverteilung von Ressourcen innerhalb einer Volkswirtschaft,6 im konkreten Fall also um Subventionen in Form von Finanzhilfen an oder Steuervergünstigungen für diese beiden Branchen sowie um damit zusammenhängende Versuche zur Beeinflussung der Branchenstruktur. Abschließend ist zu fragen, inwiefern sich in dieser Politik tatsächlich Tendenzen eines neoliberalen Umbaus von Staat und Gesellschaft zeigten.

2. Programmatische Konturen: Liberale Industriepolitik und Subventionskritik

Industriepolitik wurde in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre gewöhnlich unter der Bezeichnung „Strukturpolitik“ betrieben. Der Blick in die einschlägigen Lexika macht schnell deutlich, dass die Unterschiede weniger inhaltlicher als semantischer Natur sind. Mit dem Fokus auf „Strukturen“, der sich Mitte der 1960er Jahre begrifflich durchsetzte, tat sich zwischen der gesamtwirtschaftlichen Makro- und der unternehmerischen Mikroebene eine „mesoökonomische“ Ebene auf, die eigenständige wirtschaftspolitische

Vgl. Dieter Grosser: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; Wolfgang Seibel: Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000, Frankfurt a. M. 2005, S. 119–130. 6 Vgl. Giovanni Federico / James Foreman-Peck: Industrial Policies in Europe. Introduction, in: dies. (Hg.): European Industrial Policy. The Twentieth-Century Experience, Oxford 1999, S. 1–17, hier S. 5. Zur Privatisierung und Deregulierung vgl. den Beitrag von Thomas Handschuhmacher in diesem Band. 5

216 Ralf Ahrens

Konzepte zu erfordern schien.7 Strukturpolitik hatte eine regionale und eine sektorale Dimension, die sich freilich vielfach überlagerten. Die finanzielle Unterstützung bestimmter Regionen durch Bund und Länder mittels pauschaler Förderung gewerblicher Investitionen diente grundsätzlich der Anhebung des Lebensniveaus in schwach entwickelten Gebieten, betraf aber mit dem pauschal definierten „Zonenrandgebiet“ (sämtliche Stadt- und Landkreise, deren Gebiet überwiegend bis zu 40 Kilometern westlich der innerdeutschen Grenze lag) und West-Berlin auch hochindustrialisierte sowie später altindustrielle Regionen, die bei der Bewältigung des Strukturwandels unterstützt werden sollten. Neben der Förderung der Industrie und des Tourismus flossen hier auch Gelder in die Verbesserung der Infrastruktur.8 Dagegen war mit sektoraler Strukturpolitik faktisch Industriepolitik zugunsten bestimmter Branchen gemeint, da für die Landwirtschaft eine eigenständige Politik in einem eigenen Ressort der Bundesregierung betrieben wurde und der Dienstleistungssektor in der strukturpolitischen Praxis kaum eine Rolle spielte. Langfristig profitierten von den daraus resultierenden Subventionen vor allem „alte“ Industrien mit einem hohen Konzentrationsgrad, nämlich der Steinkohlenbergbau, der Schiffbau sowie in den 1980er Jahren die Eisen- und Stahlindustrie. Daneben wurden aber seit den 1960er Jahren auch die „Zukunftsindustrien“ Luft- und Raumfahrt, Kernenergie und Elektronische Datenverarbeitung sowie allgemein die Forschung und Entwicklung gefördert.9

Vgl. etwa die Lehrbücher von Heinz-Dietrich Ortlieb / Friedrich-Wilhelm Dröge (Hg.): Wirtschaftsordnung und Strukturpolitik. Modellanalysen, Opladen 1968; Hans-Rudolf Peters: Grundlagen der Mesoökonomie und Strukturpolitik, Stuttgart 1981. Seit den 1990er Jahren erschienen hingegen, wie ein Blick in die Bibliothekskataloge zeigt, verstärkt Lehr- und Fachbücher unter dem Label „Industriepolitik“, während der Begriff „Strukturpolitik“ heute meist auf regionalpolitische Maßnahmen und die Strukturfonds der EU beschränkt wird. In der Selbstdarstellung des BMWi ist heute ausdrücklich von „moderner Industriepolitik“ die Rede, vgl. URL: http://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/moderne-industriepolitik. html [28.6.2017]. 8 Vgl. Stefan Grüner: Geplantes „Wirtschaftswunder“? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973, München 2009, S. 195–223; Horst Zimmermann / Rolf-Dieter Postlep: Regionale Strukturpolitik, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 5: Die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, S. 861–874.; Astrid M. Eckert: West German Borderland Aid and European State Aid Control, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (JWG) 58 (2017), S. 107–136; Ralf Ahrens: Teure Gewohnheiten. Berlinförderung und Bundeshilfe für West-Berlin seit dem Mauerbau, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) 102 (2015), S. 283–299. 9 Vgl. Stefan Grüner: Strukturpolitik als Industriepolitik. Konzeption und Praxis in Westdeutschland, in: ders. / Sabine Mecking (Hg.): Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahr7

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 217

Dass es bei der staatlichen Stützung einzelner Branchen keineswegs nur um die Rettung von industriellen Dinosauriern und die Stabilisierung der alten Industrieregionen ging, brachten auch die „Grundsätze“ der sektoralen und der regionalen Strukturpolitik zum Ausdruck, die Anfang 1968 auf wenigen Seiten die programmatische Haltung der sozialliberalen Koalition und ihres populären Wirtschaftsministers Karl Schiller zum Ausdruck brachten. Die Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels wurde hier zuallererst als unternehmerische Aufgabe dargestellt. Durch den Staat könne die Anpassung erleichtert, sie dürfe aber grundsätzlich nicht aufgehalten und eine effiziente Allokation der Produktionsfaktoren nicht verhindert werden, wobei allerdings „unzumutbare soziale Härten“ zu vermeiden seien. Grundsätzlich gehe es darum, den Strukturwandel zu fördern und nicht zu hemmen. Bei besonders dramatischen Veränderungen der „Marktverhältnisse“ für ganze Branchen komme freilich auch in Betracht, durch Einfuhrrestriktionen oder finanzielle Erleichterungen die Anpassung zu verlangsamen; denkbar sei aber auch die finanzielle Förderung beschleunigter Anpassung oder der Abbau hemmender Subventionen. Dabei gelte stets „das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe“. Die bloße Erhaltung von Betrieben sei dadurch nicht legitimiert und entsprechende Unterstützungen seien abzubauen. Subventionen müssten überdies stets „zeitlich befristet und degressiv gestaltet werden“, zudem die „Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs […] gewahrt bleiben“.10 Die Verabschiedung der Grundsätze zielte nicht zuletzt darauf, zunehmenden Subventionsforderungen aus der Privatwirtschaft einen prinzipiellen Handlungsrahmen entgegenzusetzen. Es ging darum, die nach dem Auslaufen des vermeintlichen „Wirtschaftswunders“11 grundlegend veränderten Wachstumsbedingungen als politische Herausforderung anzuerkennen, ohne die ordoliberalen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft mit ihrer starken Betonung von Wettbewerbsregeln und Subsidiarität über Bord zu werfen. Inhaltlich lassen sich solche Vorstellungen einer Vereinbarkeit von marktwirt-

nehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945–2000, München 2017, S. 39–58; Ralf Ahrens: Sectoral Subsidies in West German Industrial Policy. Programmatic Objectives and Pragmatic Applications from the 1960 s to the 1980 s, in: JWG 58 (2017), S. 59–82. 10 Die „Grundsätze der sektoralen Strukturpolitik“ (Zitate) und „Grundsätze der regionalen Wirtschafftspolitik“ wurden dem Bundestag in Form einer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Kenntnis gegeben; Bundestags-Drucksache V/2469, 16.1.1968. Eine erste Fassung der sektoralen Grundsätze war zuvor bereits im Bundesanzeiger (24.11.1966, S. 2 f) publiziert worden. 11 Vgl. Ludger Lindlar: Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997.

218 Ralf Ahrens

schaftlicher Ordnungs- und intervenierender Strukturpolitik bis in die frühen 1950er Jahre zurückverfolgen, ihre intensive Diskussion im BMWi begann noch unter dem christdemokratischen Wirtschaftsminister Kurt Schmücker, also während der Kanzlerschaft Ludwig Erhards. Verantwortet wurden die ersten Grundsatzpapiere von dem Eucken-Schüler Rolf Gocht als Leiter der BMWi-Abteilung I (Wirtschaftspolitik).12 Die strukturpolitische Programmatik der Großen Koalition und der nachfolgenden sozialliberalen Regierungen konnte also auf ordoliberal geprägte Vorarbeiten zurückgreifen, demonstrierte jedoch einen systematischeren politischen Steuerungsanspruch auf der Ebene von Branchenstrukturen. Das zeigte sich auch in der Subventionskontrolle, einem seit den späten 1950er Jahren intensiv unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten diskutierten Problemfeld. Im Juni 1967 verpflichtete das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz die Bundesregierung, dem Bundestag in zweijährlichem Abstand einen Bericht über die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes vorzulegen. Im Gegensatz zu früheren Berichten waren diese Subventionen nunmehr danach zu unterscheiden, ob sie der „Erhaltung von Betrieben oder Wirtschaftszweigen“, ihrer „Anpassung […] an neue Bedingungen“ oder einer „Förderung des Produktivitätsfortschritts und des Wachstums […] insbesondere durch Entwicklung neuer Produktionsmethoden und -richtungen“ dienen sollten.13 In der statistischen Praxis war diese Unterscheidung oft nicht trennscharf, aber der grundsätzliche Anspruch demonstrierte den Zusammenhang der systematischen Kontrolle strukturpolitisch relevanter Ausgaben mit dem allgemeinen Interventionsoptimismus der Ära Schiller. Für Letzteren stand am prominentesten die Idee der Globalsteuerung: Mittels Prognosen, makroökonomischer Zielvorgaben und daran orientierter antizyklischer Fiskalpolitik

Vgl. Albrecht Ritschl: Soziale Marktwirtschaft in der Praxis, in: Werner Abelshauser (Hg.): Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik, Berlin 2016, S.  265–389, hier S.  358 f. Vgl. etwa Gochts Schreiben an Minister Schmücker vom 3.3.1965, Bundesarchiv Koblenz, B 102/58982, demzufolge „von den Verbänden z. T. unerfüllbare Erwartungen“ bis hin zu staatlichen „Absatzund Ertragsgarantien“ an die Ministerialbürokratie gerichtet würden. Beispielhaft für die Bemühungen um eine Integration der Strukturpolitik in marktwirtschaftliche Grundlagen ist auch ein publizierter Vortrag von Gochts Nachfolger Otto Schlecht, vgl. ders.: Strukturpolitik in der Marktwirtschaft, Köln 1968. 13 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967 (§ 12), Bundesgesetzblatt 1967/I, S. 582–589; (erster) Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuerbegünstigungen für die Jahre 1966 bis 1968 gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) vom 8. Juni 1967, Bundestags-Drucksache V/2423, 21.12.1967, Zitate S. II. 12

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 219

sollte die Konjunktur auf wissenschaftlicher Grundlage stabilisiert und ein „angemessenes“ Wirtschaftswachstum sichergestellt werden. Die Globalsteuerung geriet schnell unter politischen und wissenschaftlichen Beschuss, und sie erwies sich in der Praxis als nur begrenzt umsetzbar. Auf die „Stagflation“, die Gleichzeitigkeit von Stagnation und Inflation im Gefolge der ersten Ölpreiskrise, fanden sich in diesem Konzept keine hinreichenden Antworten mehr. Der konjunkturpolitische Anspruch wurde nie völlig aufgegeben, doch die Globalsteuerung geriet in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gegenüber angebotsökonomischen und monetaristischen Ansätzen klar ins Hintertreffen. Sie überlebte damit immerhin das Karriereende ihres wichtigsten Protagonisten. Den unmittelbaren Anlass für Schillers Rücktritt von seinem Posten als „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen Mitte 1972 boten währungspolitische Differenzen. Doch zuvor war der gelernte Ökonom Schiller mit seinen Ressortkollegen bereits in ernsthafte Konflikte geraten, weil die Staatsausgaben aus dem Ruder zu laufen drohten und in einer Phase der Hochkonjunktur noch ausgeweitet werden sollten, sein keynesianisch begründetes Konzept der Konjunkturpolitik in einer Bewährungsprobe also nicht durchsetzbar war.14 Nichtsdestoweniger konzedierte Schillers Nachfolger Hans Friderichs zwar eine ursprüngliche Überschätzung der Globalsteuerung, hielt sie aber noch für die „wirkungsvollste Form wirtschaftspolitischer Betätigung des Staates, die zugleich dem einzelnen den meisten Freiheitsspielraum“ lasse, weil nicht unmittelbar in Preise und Löhne eingegriffen werde. Eine generelle Abstinenz von staatlichen Interventionen in den Wirtschaftskreislauf aber sei längst nicht mehr denkbar: „Kein liberal gesonnener Mensch wird darüber Freude empfinden. Der leise Vormarsch des Staates wird dennoch nicht aufzuhalten sein; er ist im Interesse der Staatsbürger unvermeidbar.“ Dabei blieb Globalsteuerung, also Konjunkturpolitik, für Friderichs immer nur eine makroökonomische Rahmensetzung und ließ sich insofern in der Tat mit ordoliberalen Grundsätzen vereinbaren. Davon sorgfältig zu trennen sei die Strukturpolitik, also die Beeinflussung der Mesoebene. Hier trat Friderichs, wenig überraschend, gegen die zu dieser Zeit intensiv diskutierte staatliche Investitionslenkung auf. Grundsätzlich ging es ihm darum, die Un-

Vgl. dazu insbesondere Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, S. 279–352; Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S.  55–128, 163–230. Schanetzky verweist auch auf diesem Feld auf Kontinuitäten zu älteren Ansätzen und zum Freiburger Ordoliberalismus; ebd., S. 55. Zu Schillers Rücktritt vgl. Torben Lütjen: Karl Schiller (1911–1994). „Superminister“ Willy Brandts, Bonn 2007, S. 332–346.

14

220 Ralf Ahrens

ternehmen „befristet und marktkonform“ bei der Anpassung an gewandelte Rahmenbedingungen zu unterstützen, während die „leider“ allerorten zu erkennenden Erhaltungssubventionen abzulehnen seien. Entsprechend leicht fiel Friderichs das Bekenntnis zu den 1968 verabschiedeten Grundsätzen der Strukturpolitik.15 Darüber hinaus aber hielt ausgerechnet ein liberaler Wirtschaftsminister nüchtern fest, dass es nun einmal auch in Zukunft „gewichtige Erwägungen“ geben werde, die „dauerhafte Interventionen – auch gegen den Markt – notwendig machen“ würden. Daraus leitete sich ein bunter Strauß potenzieller Ziele und Aufgabenfelder von Strukturpolitik ab: Diese solle „[…] auf Strukturwandlungen und ihre Folgen rechtzeitig vorbereiten oder sie auch aufhalten, soziale Friktionen mildern, die Einführung neuer Technologien unterstützen oder erst ermöglichen, der Volkswirtschaft Ressourcen und Arbeitsplätze, aber auch Wirtschaftsregionen erhalten, die andernfalls nicht nur national bestimmten Entwicklungen zum Opfer fielen.“

Tendenziell tat sich hier also eine Kluft zwischen liberalen Vorstellungen einer auf Rahmensetzung beschränkten Politik einerseits, „strukturell“ bedingtem Interventionsbedarf in bestimmten Branchen oder Regionen andererseits auf, wobei sich Eingriffe je nach Bedarf ökonomisch oder außerökonomisch rechtfertigen ließen. Was Friderichs als „Prinzip“ der Strukturpolitik bezeichnete – „Strukturen so weit wie möglich über den Markt zu steuern, so weit wie nötig über strukturgestaltende Rahmendaten“  – machte sie gerade zur Verhandlungssache, statt die staatlichen Interventionen in die bundesdeutsche Industrielandschaft möglichst eindeutigen Regeln zu unterwerfen.16 Den im November 1977 von einem FDP-Parteitag verabschiedeten Kieler Thesen, die vom Wirtschaftsflügel der Partei um Friderichs und seinen Nachfolger Lambsdorff geprägt wurden und sich ausdrücklich als Erweiterung der sozialliberal orientierten Freiburger Thesen verstanden, ließ sich nicht unbedingt ein Positionswechsel ablesen, auch wenn hier pointierter auf wirtschaftsliberale Grundsätze gepocht wurde. Friderichs hielt namens der „Programmkommission Wirtschaftspolitik“ der Partei eine Einbringungsrede und betonte, die „Steuerung der Strukturen und des Strukturwandels“ habe „grundsätzlich über den Markt“ zu erfolgen; sein Verständnis von MarktFriderichs, Mut, S. 11 f, 24. Zur Debatte über Investitionslenkung, die sich damals vor allem im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Umfeld abspielte, vgl. Thilo Sarrazin (Hg.): Investitionslenkung. „Spielwiese“ oder „vorausschauende Industriepolitik“?, Bonn 1976; Dieter Tiegel: Wirtschaftspolitik durch Investitionslenkung. Neuere Modelle in der Diskussion, München 1980. 16 Sämtliche Zitate n. Friderichs, Mut, S. 21–24. 15

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 221

wirtschaft führte er dabei ausdrücklich auf Euckens Ordoliberalismus zurück. Die Thesen selbst beschrieben „Anpassungssubventionen als letztes Mittel“ zur Dämpfung sozialer Härten. Ansonsten solle Strukturpolitik die Mobilität der Arbeitnehmer sowie Forschung und Entwicklung insbesondere in mittelständischen Betrieben fördern, Subventionen permanent kontrollieren und befristen. Neben der wenig überraschenden Absage an staatliche Investitionslenkung und dem Hintertürchen von Produktionskontrollen in Extremfällen bot immerhin das Plädoyer für eine differenziertere, systematischer kontrollierte Regionalförderung konkrete Politikansätze.17 Friderichs war wenige Wochen zuvor zur Dresdner Bank gewechselt, um deren ermordeten Vorstandssprecher Jürgen Ponto zu ersetzen. Sein Nachfolger Otto Graf Lambsdorff hatte sich zuvor schon als wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion mit skeptischen Einschätzungen wissenschaftlicher Steuerungsansätze wie der Globalsteuerung profiliert.18 Doch auch Lambsdorff bekannte sich 1978 öffentlich zur Strukturpolitik, sei diese doch längst „ein entscheidender und unverzichtbarer Bestandteil der Wirtschaftspolitik aller Industrieländer geworden“. Sie könne und müsse „in das Ordnungssystem einer sozialen Marktwirtschaft ohne Bruch eingepasst werden“. Dass nichtsdestoweniger die Anpassung an ökonomischen Strukturwandel auch unter den erschwerten Bedingungen seit Mitte der 1970er Jahre in erster Linie die Aufgabe der Unternehmen sei, dass Strukturpolitik eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ sein müsse, dass Subventionen nur zwecks Förderung solcher Anpassungen und zeitlich begrenzt zu vergeben seien – das hätte so wohl auch Karl Schiller unterschreiben können, und Lambsdorff konnte denn auch ausgiebig und zustimmend die Positionen aus dem ersten Strukturbericht der Bundesregierung von 1969 referieren. Bei Lambsdorff allerdings folgte daraus, dass die Politik in erster Linie die Investitionsneigung der Unternehmen zu vergrößern habe und sich der sehr begrenzten Prognosemöglichkeiten zukünftiger Wachstums- und Niedergangstrends bewusst sein möge.19

Kieler Thesen zu Wirtschaft im sozialen Rechtsstaat, zu Bürger, Staat, Demokratie, zu Bildung und Beschäftigung der jungen Generation, Bonn o. D. (1977), S. 19 (erstes Zitat), 23, 32 f (zweites Zitat). Vgl. Thorsten Freiberger: Die wirtschaftspolitische Programmatik der Freien Demokratischen Partei auf Bundesebene 1982–1998 und ihr Einsatz als Planungsinstrument in der Wirtschaftspolitik, Frankfurt a. M. 2002, S. 84; Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 22010, S. 282 f. 18 Vgl. Schanetzky, Ernüchterung, S. 225. 19 Sämtliche Zitate n. Otto Graf Lambsdorff: Die Bewältigung des Strukturwandels in der Marktwirtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 47/48 (1978), S.  3–13, hier S. 3. Vgl. Michael Ruck: „Zwischen Steuerungsbedarf und ordnungspolitischem Sündenfall“. 17

222 Ralf Ahrens

Das ließ sich zumindest als vorsichtiges Abrücken von Friderichs’ Vorstellungen über den politischen Wert von Strukturinformationssammlungen und Prognosen sowie als Versuch einer Integration angebotsökonomischer Positionen lesen. Parallel dazu lässt sich eine gewisse semantische Verschiebung beobachten, die den Markt als regulierendes Prinzip aufwertete. In den strukturpolitischen Grundsatztexten der 1960er Jahre war noch stets die Rede davon, dass der Staat nur punktuell und wohlüberlegt in die Tätigkeit „des Unternehmers“, also in ganz konkretes Investitionsverhalten und konkrete Unternehmensplanungen, eingreifen dürfe. In den späten 1970er Jahren wurde anstelle des Unternehmers „der Markt“ zum Gegenüber des Staates, und dies durchaus als Orientierung gebende Leitfigur. So endete etwa 1978 die Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, ob eigentlich die Grundsätze der sektoralen Strukturpolitik noch Gültigkeit besäßen, mit dem Bekenntnis, die Bundesregierung sei „[…] der Auffassung, dass Marktsignale im Regelfall am besten in der Lage sind, drohende Ungleichgewichte und Innovationschancen aufzuzeigen“.20 Ein starker mittelstandspolitischer Akzent in der Strukturpolitik, der vor allem die Stärkung der Eigenkapitalbildung sowie der Forschung und Entwicklung fokussierte, bei grundsätzlich klaren Bekenntnissen zur „konsequente[n] Marktwirtschaft“ und zum allgemeinen Subventionsabbau prägte ebenso die Wahlaussage der FDP für den Bundestagswahlkampf 1980.21 Das notorische „Lambsdorff-Papier“ von 1982 war in diesem Punkt keineswegs eine „entscheidende Wendemarke“.22 Es fokussierte zwar ebenfalls die private Investitionstätigkeit, insbesondere der kleineren und mittleren Unternehmen, als Wachstumsmotor und verlangte die Kürzung von Subventionen  – möglicherweise auch in einer linearen Kürzung um einen bestimmten Prozentsatz. Dabei von „Gleichbehandlung aller Betroffenen“ zu sprechen, war allerdings

Sektorale „Strukturpolitik“ im bundesdeutschen Planungsdiskurs, in: S.  Grüner  / Mecking, Wirtschaftsräume, S.  23–38, hier S.  36 f, der allerdings den Gegensatz zu sozialdemokratischen Positionen deutlich höher gewichtet. 20 Antwort der Bundesregierung, 9.3.1978, auf eine Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Barzel […] und der Fraktion der CDU/CSU: Sektorale Strukturpolitik, 23.12.1977, Bundestags-Drucksache 8/1607. 21 Freiberger, Programmatik, S. 87 ff. 22 So aber Gérard Bökenkamp / Jürgen Frölich: Das „Lambsdorff-Papier“ – entscheidende Wendemarke in der bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, in: Gérard Bökenkamp u. a. (Hg.): 30 Jahre „Lambsdorff-Papier“. Texte und Dokumente zum „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ (9. September 1982), Berlin 22012, S. 7–13; das im Folgenden zitierte Papier als Faksimile ebd., S. 21–31 (Zitat S. 27). Vgl. das ausführliche Referat bei Freiberger, Programmatik, S. 94–102.

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wenig überzeugend. Lambsdorff wollte nämlich, ganz der bisherigen Praxis einer Privilegierung bestimmter Branchen entsprechend, von vornherein Ausnahmen für „einige wenige Bereiche“ zulassen. Überdies schlug er eine Aufstockung der Mittel für die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ vor, wo man gerade erst darangegangen war, die ein Jahrzehnt lang ausgeuferte Festlegung förderungswürdiger Gebiete zurückzuführen.23 Dass die leitenden Beamten im BMWi, die das „Lambsdorff-Papier“ verfasst hatten, den Weg aus der Krise vor allem in einer angebotspolitisch orientierten Auflösung von Investitionshemmnissen auf diversen Politikfeldern sahen, zeigte zwar gewisse Kontinuitäten zu den strukturpolitischen Überlegungen der 1960er Jahre; diese hatten ja wesentlich darauf gezielt, den Strukturwandel voranzutreiben und seine sozialen Konsequenzen höchstens vorübergehend zu dämpfen.24 Aber anders als bei den geforderten massiven Kürzungen zahlreicher Sozialausgaben war Lambsdorffs „Wende“-Papier hinsichtlich der aktiven Strukturpolitik bestenfalls unentschieden und vor allem wenig konkret. Dass Lambsdorffs Rücktritt von seinem Ministeramt im Zuge der FlickAffäre 1984 in der industriepolitischen Programmatik der FDP keinen Einschnitt markierte, erstaunt nicht, zumal seine wirtschaftspolitische Autorität in der Partei dadurch nur kurzzeitig erschüttert wurde. Das „Liberale Manifest für eine Gesellschaft im Umbruch“, das 1985 verabschiedete neue Grundsatzprogramm der FDP, bekräftigte vielmehr die Politik der „Wende“ mit Forderungen nach dem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft durch Privatisierung und Deregulierung. Die angebotspolitische Orientierung fokussierte vor allem die Verbesserung der Investitionsbedingungen für kleinere und mittlere Unternehmen. Subventionen sollten schrittweise zurückgeschnitten, indirekte Steuervergünstigungen in sichtbare Finanzhilfen umgewandelt werden, um mehr Transparenz in der Wirtschaftsförderung herzustellen. Noch im selben Jahr verabschiedete der Bundeshauptausschuss der Partei außerdem ein Aktionsprogramm, das vom Bundesfinanzminister konkrete Vorschläge für den Subventionsabbau für den Haushaltsentwurf 1986 oder einen alternativen Gesetzentwurf verlangte.25 Dabei wurde allerdings weiterhin zwischen „guten Subventionen (für den Mittelstand)“, die vor allem Forschung und Ent-

Vgl. Eckert, Borderland Aid, S. 127. Vgl. Ritschl, Marktwirtschaft, S. 381. Ritschls Formulierung, für Lambsdorffs „Ghostwriter“ sei „die Krise der siebziger Jahre kein konjunkturpolitisches, sondern ein strukturpolitisches Problem“ gewesen, ist allerdings insofern irreführend, als es den Verfassern gerade nicht um politische Eingriffe in Branchenstrukturen ging, sondern insbesondere um die Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. 25 Freiberger, Programmatik, S. 121–125, 166. 23 24

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wicklung unterstützten, und „großen Subventionen“, die es in Grenzen zu halten gelte, unterschieden. So brachte es Martin Grüner, von 1972 bis 1987 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeswirtschafts- und danach beim Umweltminister sowie Mitglied des Bundesvorstands, 1988 intern auf den Punkt.26 Auch in den Debatten um die für 1990 geplante Steuerreform sprach sich die FDP sehr deutlich für eine Streichung von Erhaltungssubventionen an nicht wettbewerbsfähige Unternehmen aus.27 Der neue Wirtschaftsminister Martin Bangemann, dessen programmatische Konturen als Parteivorsitzender wie als Wirtschaftsminister recht unscharf blieben, hatte den Einlassungen seiner Vorgänger ansonsten wenig hinzuzufügen. Bangemann wetterte zwar gegen „Subventionsmentalität“ und verlangte dezidiert den „Abbau von Subventionen zur Erleichterung des Strukturwandels“. Damit befand er sich ganz auf der Höhe einer seit etwa zehn Jahren grassierenden pauschalen Subventionskritik,28 wobei offen blieb, wieso nach 16 Jahren freidemokratischer Verantwortung für die Industriepolitik der Strukturwandel denn immer noch nicht erleichtert war. Zugleich verstand Bangemann aber „Subventionen als Instrument der Politik“ – womit sich eben die Frage stellte, für welche industriepolitischen Ziele und in welchen Formen ihr Einsatz erlaubt sei. In der regionalen Strukturpolitik bekannte sich Bangemann immerhin klar zu differenzierten Löhnen anstelle der über lange Zeit betriebenen Angleichung der Lebensstandards, was der sozialpolitischen Linie der FDP entsprach. Grundlegende Korrekturen der Subventionierung der seit Jahrzehnten dahinsiechenden Branchen Kohle und Landwirtschaft ließen sich ebenfalls relativ leicht fordern, zumal hier nicht gerade die Hauptklientel der Partei beheimatet war.29 Das Grundproblem aber, nach welchen Kriterien eine marktliberale Industriepolitik austariert werden sollte, wann die Resultate oder die Zugangsbarrieren der Märkte nicht einfach hinzunehmen und wie sie zu korrigieren

FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Kurz- und Beschlussprotokoll der Sitzung des Arbeitskreises II am 23. Februar 1988, S. 3, Archiv des Liberalismus, Gummersbach, Bestand FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, A 49/263. 27 Vgl. Reimut Zohlnhöfer: Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982–1998, Opladen 2001, S. 89 f. 28 Vgl. Ahrens, Sectoral Subsidies, S. 76 ff. 29 Martin Bangemann: Steuerpolitik für die 90er Jahre. Plädoyer für den Abbau von Steuern und Subventionen, Herford 1988, S.  106, 114, 116. Zu Bangemann und dem zeitweiligen Rückzug Lambsdorffs vgl. Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 168–171. 26

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 225

waren, ließ sich mit solchen Sonntagsreden nicht lösen. Das spiegelte sich in der Subventionsstatistik. Bereits 1981, also noch vor dem Bruch der sozialliberalen Koalition, trieben zwar ein Subventionsabbaugesetz und ein Haushaltsstrukturgesetz einen substanziellen Subventionsabbau voran. Durch Streichungen bei der Sparförderung und bei Steuervergünstigungen für den Schienen- und öffentlichen Nahverkehr trafen diese Gesetze aber letztlich vor allem die privaten Haushalte.30 Die Industrie hingegen konnte in den 1980er Jahren ein Subventionsvolumen verbuchen, das sogar überproportional zu den gesamten Staatsausgaben wuchs: Der Anteil der direkten Zuwendungen an die gewerbliche Wirtschaft an den Ausgaben des Bundes, der um 1970 etwa ein Prozent betragen hatte, schwankte in den 1980er Jahren zwischen 1,4 und 1,9 Prozent. Bei den Steuervergünstigungen profitierte die Industrie ebenfalls überdurchschnittlich von einem deutlichen Anstieg. Parallele Tendenzen gab es bei den Subventionen der Länder. Überdies sank der Anteil der sogenannten Produktivitätshilfen, also im Wesentlichen der auch von der FDP gutgeheißenen Innovationsförderung, an den Finanzhilfen des Bundes von etwa 25 auf 14 Prozent.31 Diese Zahlen demonstrieren offenkundig das Gegenteil einer neoliberalen Subventionswende und lassen sich nicht aus der industriepolitischen Programmatik der Bundesregierungen, sondern – wie im Folgenden an zwei Fallbeispielen gezeigt werden soll – nur aus der konkreten und sehr unterschiedlichen Entwicklung einzelner Branchen erklären.

3. Die Kosten des Strukturwandels: Das BMWi und die Stahlkrise

Auf der Branchenebene hatte sich Hans Friderichs in seinem Bekenntnis zum Markt nur mit der Energie-, Rohstoff- und Agrarpolitik ausführlicher beschäftigt. Wäre das Buch wenige Jahre später verfasst worden, hätte er sich vielleicht auch der Eisen- und Stahlindustrie zugewandt, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in ganz Westeuropa in eine Überproduktionskrise geriet. Ursachen waren Überkapazitäten, schrumpfende Nachfrage und wachsender Wettbewerb aus Schwellenländern bei technisch anspruchslosen Massenstählen. Die bundesdeutschen Stahlproduzenten hatten zwar durch Rationalisierung und Unternehmenskonzentration seit den 1960er Jahren ihre Wettbewerbsfähigkeit zunächst erhalten können und waren im westeuropäischen

Zoltán Jákli: Vom Marshallplan zum Kohlepfennig. Grundrisse der Subventionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1948–1982, Opladen 1990, S. 246–256. 31 Eigene Berechnung nach den Subventionsberichten der Bundesregierung; Wirsching, Abschied, S. 252–255. 30

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Vergleich ausgesprochen produktiv. Die Neuinvestitionen hatten aber zu erheblichen Überkapazitäten geführt, für die der Export wegen der globalen Konjunkturschwäche kein Ventil mehr bot. Der notwendige Kapazitätsabbau wurde wesentlich durch die Europäische Kommission vorangetrieben. Im nationalen Rahmen nahmen die Subventionen drastisch zu, auch wenn der Subventionierungsgrad in der Bundesrepublik deutlich geringer und die Industrie wettbewerbsfähiger war als in allen anderen westeuropäischen Ländern.32 Die sozialliberale Koalition zeigte sich gegenüber der Stahlindustrie zunächst deutlich zugeknöpfter als gegenüber dem Steinkohlenbergbau, wo seit den späten 1950er Jahren enorme Summen in sozialpolitische Maßnahmen zur Abfederung des Beschäftigungsabbaus, Stilllegungsprämien und Investitionsförderungen geflossen waren und die Energiekrise die Subventionen nochmals deutlich in die Höhe getrieben hatte.33 Kanzler Schmidt hatte schon 1977, als die strukturelle Stahlkrise nicht mehr zu übersehen war, gegen „Subventionen mit der Gießkanne“ gewettert und entsprechende „Vorstellungen der Stahlindustrie“ als „Landwirtschaftsmentalität“ gegeißelt.34 Im März 1981 beschied auch Lambsdorff die Vorstände der privaten Stahlunternehmen, die bereits mit Werksstillegungen drohten, noch mit den markigen Worten, sie könnten, „solange er Wirtschaftsminister sei, nicht mit staatlichen Hilfen rechnen, wenn sie ihre Löhne nicht mehr zahlen könnten“. Die Industrie glaubte freilich schon zu dieser Zeit nicht so recht an Lambsdorffs Prinzipienfestigkeit.35 Die Probe aufs Exempel ging in der Tat zugunsten der Unternehmen aus, als im Sommer 1981 über eine Verknüpfung kaum vermeidbarer Subventionen aus den verschiedensten Töpfen mit einer strukturpolitischen Lösung nachgedacht wurde. Das ging durchaus bis zu Lösungsideen analog zum Steinkohlenbergbau, wo man 1968 durch die Gründung der Ruhrkohle AG Vgl. Arne Gieseck: Krisenmanagement in der Stahlindustrie. Eine theoretische und empirische Analyse der europäischen Stahlpolitik 1975 bis 1988, Berlin 1995, S.  24–78; Karl Lauschke: Wandel und neue Krisen. Die alten Industrien in den 1970er und 1980er Jahren, in: Stefan Goch (Hg.): Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004, S.  136–162; Wirsching, Abschied, S.  246–251; zur europäischen Dimension jetzt Laurent Warlouzet: When Germany Accepted a European Industrial Policy. Managing the Decline of Steel from 1977 to 1984, in: JWG 58 (2017), S. 137–162. 33 Christoph Nonn: Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2000; Stefan Goch: Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet, Essen 2002, S. 182–212. 34 Von Würzen, Ergebnis des Gesprächs des Bundeskanzlers mit der IG Metall am 8. Dezember, 9.12.1977, BAK, B 102/235953. 35 Vermerk Möller (IV B 1), 9.3.1981, BAK, B 102/235953. 32

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den Bergbaukonzernen ihre verlustträchtigen Zechen abgenommen und für den Kaufpreis die Steuerzahler in Haftung genommen hatte. Eine „Stahl AG“ nach diesem Modell stieß jedoch im BMWi auf klare Ablehnung.36 Unter Verweis auf die massive Subventionierung nicht kostendeckender Stahlproduktion in anderen europäischen Ländern wurden jedoch schon 1981 erhebliche Mittel vor allem für Investitionszulagen, aber auch zur Abfederung von Entlassungen in Aussicht gestellt.37 Als sich Anfang 1983 die Lage zuspitzte, der Korf-Konzern zusammenbrach und der Konkurs von Krupp bevorstand, erging schließlich der Kabinettsbeschluss, die Umstrukturierung der Branche – deren Vertreter die Kosten auf etwa 43 Milliarden Mark schätzten – mit bis zu drei Milliarden aus dem Bundeshaushalt zu „flankieren“. Dabei ging es im Wesentlichen um das Ruhrgebiet und norddeutsche Standorte, hinzu kamen die bereits laufenden und weiter absehbaren Subventionen für die saarländische Stahlindustrie.38 Entgegen dem bereits kursierenden Vorwurf, „Bonn gewähre Abwrackprämien“,39 sollte mit den Geldern nicht nur die Abwicklung unrentabler Werke, sondern die aktive Umgestaltung der Branchenstrukturen gefördert werden. Dabei stimmte die Bundesregierung im Prinzip einem Konzept zu, das drei von der Industrie eingeschaltete „Stahlmoderatoren“  – der Berufsaufsichtsrat und ehemalige Krupp-Chef Günter Vogelsang, Marcus Bierich aus dem Vorstand des Allianz-Konzerns und Deutsche-Bank-Vorstand Alfred Herrhausen – vorgelegt hatten. Es ging dezidiert darum, vor allem (indirekt) die Liquidität der Unternehmen zu sichern, für den Umbau der Konzerne sollten keine staatlichen Vorgaben gemacht werden. Anders als im Steinkohlenbergbau wurde auch keine langfristige Sicherung unrentabler Arbeitsplätze betrieben. Die Stahlsubventionen waren tatsächlich mittelfristig angelegt, und ein ähnliches Paket wie das 1983 verabschiedete gab es danach auf Bundesebene nicht mehr. In ähnlicher Weise war Lambsdorff bereit, nach Verhandlungen mit dem Vorstand mehrere Hilfspakete für ARBED Saarstahl zu bewilligen –

Von Würzen an Minister, Betr.: Stahl, 16.7.1981, BAK, B 102/235955. Die als Holdinggesellschaft für den kontrollierten Abbau der Förderkapazitäten geschaffene Ruhrkohle AG musste den alten Bergwerksgesellschaften ihre Zechen in Raten abkaufen; sofern sie für diese Zahlungen keine ausreichenden Profite erwirtschaftete, hatte der Bund einzuspringen. Vgl. Werner Abelshauser: Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Anpassung, Krise, München 1984, S.  118–148; Jákli, Marshallplan, S.  103–117; Nonn, Ruhrbergbaukrise, S. 356–363. 37 Beschluss der Bundesregierung vom 30.7.1981, BAK, B 102/235957. 38 Aufzeichnung IV C 8, 26.5.1983, BAK, B 102/235961. 39 Unterabteilung IV C, Betr.: Vorwurf in der Öffentlichkeit, Bonn gewähre Abwrackprämien, es gebe die deutsche Stahlindustrie preis, 24.5.1983, BAK, B 102/235961. 36

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trotz seiner massiven öffentlichen Kritik an einer langjährigen Verschleppung notwendiger Einschnitte. Auch hier wurden die Hilfen 1983 aber mit der Forderung nach Rationalisierung und Kapazitätsabbau gekoppelt, als das Unternehmen praktisch zahlungsunfähig wurde. Im Konfliktfall des KruppStahlwerks Rheinhausen schließlich stellten sich Lambsdorff und Bangemann klar gegen Forderungen, die Produktion aus sozialen Gründen fortzusetzen.40 In der Stahlkrise agierten also der liberale Minister und seine Spitzenbeamten mit einer begrenzten und konditionierten, aber im Ernstfall eben doch vorhandenen Bereitschaft, die Regeln der Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen. Das galt nicht für jede Branche: Als die deutsche Schuhindustrie mit dem Stahlbeispiel die Forderung nach Subventionen begründete, biss sie damit ebenso auf Granit wie früher bereits die Textilindustrie.41 Lambsdorff selbst gestand die Ungleichbehandlung im Nachhinein zerknirscht ein, obwohl er das subventionierte Anpassungsprogramm in der Stahlindustrie grundsätzlich als Erfolgsgeschichte einstufte und gerade mit der im europäischen Vergleich geringen Subventionsintensität rechtfertigte.42 Das war zwar ein schlüssiges Argument, aber der relativ niedrige Subventionsgrad war nun wiederum kein politisches Verdienst, sondern resultierte daraus, dass die deutschen Stahlwerke im europäischen Vergleich ausgesprochen modern und produktiv waren. Sachlich mochte das Subventionsprogramm tatsächlich mit der Ausnahmesituation einer akuten, europäischen Stahlkrise zu rechtfertigen sein, doch die große Verhandlungsmacht einer hochkonzentrierten Branche dürfte dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Denkbare Hilfen an die Stahlindustrie wurden in engem Kontakt mit den Konzernvorständen erörtert und darüber hinaus mit Vertretern der Finanzbranche als „Stahlmoderatoren“. Kennzeichnend für die Krisenpolitik war außerdem das Agieren in korporatistischer und föderalistischer Tradition durch die Einbeziehung der

Vgl. Wirsching, Abschied, S. 247–252. Lambsdorff an den Vorsitzenden des Hauptverbandes der Deutschen Schuhindustrie, 15.9.1981, BAK, B 102/235957. Zur schwachen Unterstützung der Textil- und der nachgelagerten Bekleidungsindustrie vgl. Stephan H. Lindner: Den Faden verloren. Die westdeutsche und die französische Textilindustrie auf dem Rückzug (1930/45–1990), München 2001, S. 110–120, 137–145; Julia Schnaus: Das leise Sterben einer Branche – Der Niedergang der westdeutschen Bekleidungsindustrie in den 1960er/70er Jahren, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (ZUG) 62 (2017), S.  9–33; Karl Ditt: „Passive Sanierung“. Der Niedergang der bundesdeutschen Textilindustrie und die Reaktionen von Staat und Unternehmern am Beispiel von Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, in: Grüner/Mecking, Wirtschaftsräume, S. 133–147. 42 Vgl. Otto Graf Lambsdorff: Die Probleme der Stahlindustrie. Rede vor der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie am 17.9.1986, in: ders.: Frische Luft für Bonn. Eine liberale Politik mit mehr Markt als Staat, Stuttgart 1987, S. 156–167, hier S. 160. 40 41

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IG Metall und der betroffenen Bundesländer.43 Zudem konnte Lambsdorff auf einen parteiübergreifenden Minimalkonsens zur Stützung der Branche verweisen, der in einer „Stahldebatte“ des Bundestags im Oktober 1982 zum Ausdruck gekommen war.44

4. Der Preis der Zukunft: Die Subventionierung des Zivilflugzeugbaus

Im Gegensatz zur krisenbedingten „Flankierung“ der Umstrukturierungen in der Stahlindustrie war die Förderung der Luft- und Raumfahrt ein strategisches Langzeitprojekt. Die Branche galt seit den 1960er Jahren als „Zukunftsindustrie“, und sie war eine der wenigen, in denen es in den 1970er und 1980er Jahren tatsächlich einen erheblichen Nettozuwachs an Arbeitsplätzen gab.45 Wesentlich aktiver als beim Stahl wurden hier von staatlicher Seite Fusionen von Unternehmen unterstützt, und zwar schon seit den 1960er Jahren. Statt früherer militär- und nationalpolitischer Argumente stand dabei jetzt der erhoffte strukturpolitische Effekt im Vordergrund.46 1977 wurden Subventionen für den kriselnden Hersteller VFW-Fokker an eine Fusion mit MBB gebunden, die 1980 tatsächlich stattfand; ein Konzept, das federführend von dem Luft- und Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung und FDP-Staatssekretär im BMWi Martin Grüner vertreten wurde. 1989 kulminierte der Konzentrationsprozess in der Übernahme von MBB durch Daimler-Benz und dem Zusammenschluss mit Dornier in der Daimler-Tochter

Zur Politik der betroffenen Länder vgl. Goch, Region, S. 215–224; Karl Lauschke: Unternehmerisches Handeln, Standortbedingungen und regionalpolitische Reaktionen. Hüttenwerke der Klöckner-Konzerns in Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, in: Grüner/Mecking, Wirtschaftsräume, S. 117–132; Veit Damm: Konzepte gegen die Entindustrialisierung. Strukturpolitische Diskurse und die Neugestaltung des Industriestandorts Saarland, in: ebd., S. 191–206. 44 Betr.: Haltung der Bundesregierung zur finanziellen und außenwirtschaftlichen Flankierung des Moderatorenkonzeptes Stahlindustrie. Anlage zum Kabinettsprotokoll vom 26.1.1983, BAK, B 126/83407; Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 125. Sitzung vom 28.10.1982, S. 7512–7538. 45 Die Beschäftigungsdaten des Statistischen Bundesamts und des Branchenverbands differieren zwar erheblich, doch liegt in beiden Datenreihen der Beschäftigungszuwachs zwischen 1971 und 1989 bei mehr als 50 Prozent; Frank Rosenthal: Die nationale Luft- und Raumfahrtindustrie. Aspekte staatlichen Engagements in Hochtechnologie-Branchen, Frankfurt a. M. 1993, S. 33–36. 46 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Wirtschafts- und Mittelstandsfragen […] zur Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie, 14.3.1968, Bundestags-Drucksache V/2758. 43

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Deutsche Aerospace (DASA). Danach gab es Schätzungen, denen zufolge ein Drittel der staatlichen Forschungsförderung in der Bundesrepublik (und 60 Prozent der Rüstungsbeschaffungen) auf den Daimler-Konzern entfielen.47 Unabhängig von der Eigentümerstruktur waren die Amortisationszeiten der teuren Neuentwicklungen im kapitalintensiven Flugzeugbau besonders lang, die Risiken und die Nachfrage nach Subventionen entsprechend hoch. Ein sehr großer Teil der Branchensubventionen floss in ein deutsch-französisches Kooperationsprojekt für den Bau großer Passagierflugzeuge, den Airbus, für den neben allgemeinen Darlehen und Zuschüssen für die Entwicklung auch sogenannte Produktionshilfen und Absatzhilfen gezahlt wurden. Die Wettbewerbsfähigkeit der Flugzeuge wurde also durch eine Heruntersubventionierung der Absatzpreise ermöglicht. 1987 wurde schließlich noch eine „Altlastensanierung“ aufgelegt, indem Bürgschaften von 1,9 Milliarden Mark in bedingt rückzahlbare Zuschüsse umgewandelt und bis dahin aufgelaufene Verluste der Deutschen Airbus GmbH von 2,25 Milliarden vom Bund übernommen wurden. Diese Entschuldung war wiederum eine Voraussetzung für die MBB-Übernahme durch Daimler-Benz.48 Es ging hier also um ähnliche Größenordnungen, insgesamt sogar um höhere Summen als beim Stahl, und dies bei erheblich geringeren Beschäftigtenzahlen, was sich in einer deutlich höheren Subventionierung pro Arbeitsplatz niederschlug.49 Die staatlich forcierte Konzentration und die hohen Subventionen brachte einen liberaldemokratischen Wirtschaftsminister wie Bangemann in arge Legitimationskonflikte, gehörte doch eine Wettbewerbspolitik in ordoliberaler Tradition, die eine Ausschaltung der Marktkonkurrenz durch derartige Machtballungen zutiefst verdammte, zum festen Inventar der FDP-Grundsatzprogramme. Bangemanns Nachfolger Helmut Haussmann genehmigte die Fusion nichtsdestoweniger, ganz im Sinne seines Vorgängers, per Ministererlaubnis und gegen ein Verbot des Bundeskartellamts, nachdem ihm ein FDP-Bundesparteitag im Oktober 1988 mit knapper Mehrheit freie Hand gegeben hatte. Die entsprechende Verfügung enthielt allerdings Auflagen zum Rückzug von Daimler-Benz aus einigen Rüstungsbereichen, und sie ließ

Vgl. Rosenthal, Luft- und Raumfahrtindustrie, S. 88 ff; Saskia Freye: Ein Rückzug aus der Mitte der Deutschland AG? Die strategische Neuausrichtung von Daimler-Benz in den 1980er Jahren, in: Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hg.): Die „Deutschland AG“. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013, S. 323–350, hier S. 335–339. 48 Vgl. Rosenthal, Luft- und Raumfahrtindustrie, S. 93–99. 49 Vgl. die Angaben im 10. bis 13. Subventionsbericht der Bundesregierung. 47

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sich mit dem Ziel legitimieren, die privatwirtschaftliche Verantwortung für die Luftfahrtindustrie zu stärken.50 Grundsätzlich war schwer zu bestreiten, dass Kooperationen und Fusionen notwendig waren, wenn man den Markt für große Passagiermaschinen nicht komplett der amerikanischen Konkurrenz überlassen wollte. Damit war aber die Frage noch nicht beantwortet, in welchem Umfang man den Unternehmen das wirtschaftliche Risiko abnehmen sollte. An einer langfristigen Rentabilität des Airbus-Projekts hatten schon in den frühen 1970er Jahren starke Zweifel geherrscht,51 und seitdem hatte man unter anderem durch die Einsetzung eines Koordinators der Bundesregierung 1974 darauf hingearbeitet, dem Projekt eine systematische Entwicklungsperspektive zu verschaffen. Der als solcher eingesetzte Staatssekretär Grüner betonte, die vom Bund nicht konkret vorgegebene „Restrukturierung“ der Branche sei „zuerst einmal eine industrielle Aufgabe“, Kapitalbeteiligungen des Bundes lehnte er außerdem dezidiert ab.52 Gewünschte Strukturveränderungen versuchte die Bundesregierung später aber durchaus durch die Hinauszögerung von Subventionstranchen zu erreichen. Die Hinzuziehung von Deutsche-Bank-Vorstand Alfred Herrhausen oder die zeitweiligen Versuche, den Krupp-Konzern an einem Einstieg zu interessieren, zeugten in den späten 1970er Jahren ebenso von Bemühungen, die Risiken teilweise auf die Privatwirtschaft zurück zu verlagern, wie die Beauftragung der Unternehmensberatung McKinsey mit einer Studie zur Fusion VFW und MBB den Anspruch auf schärfere Kostenkontrolle demonstrierte. Grundsätzlich arbeitete das Wirtschaftsministerium um 1980 nicht auf einen Ausbau der Förderung, sondern auf einen Abbau der AirbusSubventionen hin.53 Grüner betrieb auch weiterhin eine stärkere Risikobeteiligung der Privatwirtschaft, gab allerdings selbst gegenüber Gewerkschaftern, die den Bund zu größerem Engagement bei der Erhaltung von Arbeitsplätzen drängten, zu, die „Möglichkeiten der Bundesregierung, Druck auf die Gesellschafter [der Deutschen Airbus] auszuüben, seien naturgemäß […] begrenzt“.54 Auf die

Vgl. Freiberger, Programmatik, S. 164–170. O. V., Chronologie der Grundsatzaussagen der Bundesregierung zur LRI-Strukturpolitik, o. D. (1975), BAK, B 102/230363. 52 Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Wirtschaft, Martin Grüner, MdB (F. D. P.) auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt e. V. am 13. September 1977, BAK, B 102/230368. 53 Vgl. Hasselberg, Argumentationskatalog, 19.5.1980, BAK, B 102/230375; Vermerk Birke (IV A 5), 5.9.1979, BAK, B 102/258713. 54 Ergebnisvermerk Ockenfels, 9.2.1984, BAK, B 102/350152. 50 51

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Subventionsbremse trat Mitte der 1980er Jahre aber vor allem Finanzminister Stoltenberg, unter dessen Vorbehalt die Verabschiedung von BMWi-Subventionskonzepten für den Airbus stand.55 Bangemann hingegen konnte sich grundsätzlich auch noch für die Unterstützung des Kleinflugzeugbaus bei Dornier erwärmen56 und bewegte sich damit in einem deutlichen Gegensatz zu seinem Vorgänger Lambsdorff, der zu dieser Zeit die „neomerkantilistische“ Förderung „selbsternannter Zukunftsindustrien“ geißelte.57 Doch selbst Grüners Nachfolger Erich Riedl (CSU) signalisierte 1987 noch die Möglichkeit größerer Bundessubventionen für den Airbus, falls die Industrie sich im Gegenzug zu verstärkten Kostensenkungen in der Lage zeige – schließlich gehe es in der Luft- und Raumfahrt um „Zukunftsmärkte“ auch für andere deutsche Industrieunternehmen.58 Den Vertretern der Industrie vermittelte der Beauftragte der Bundesregierung die Grenzen der Subventionierung kurzerhand mit der Knauserigkeit des Bundestags, statt eigene Umstrukturierungsvorschläge zu machen: „Es wird immer schwieriger, im Parlament mehr Geld für die Projekte der Luftfahrt durchzusetzen.“59 Erich Riedl wird man keinen Liberalen nennen wollen. Aber mit Bangemann und dessen Nachfolger Helmut Haussmann verband ihn offenkundig die Neigung, der deutschen Luftfahrtindustrie den Weg auf die Zukunftsmärkte zu ebnen. Die enormen Zuschüsse und Bürgschaften für das AirbusProgramm schienen Bangemann Ende der 1980er Jahre mehr oder weniger gerechtfertigt, allerdings sei es hohe Zeit, dass private Unternehmen hier wieder ins Risiko gingen und die Kosten senkten, um die Unterstützung zu reduzieren. Zudem mahnte er eine Reorganisation des Airbus-Konsortiums an. Auf dieser Linie verweigerte die Bundesregierung denn auch eine weitere Bürgschaft für die neuen Airbus-Typen der 1990er Jahre.60 Die Entwicklung dieser neuen Flugzeuge und die Absicherung gegen Währungsrisiken wurden jedoch weiterhin subventioniert.61 Insgesamt lässt sich die langfristige Subventionierung der „Zukunftsindustrie“ Flugzeugbau darauf zuspitzen, dass letztlich die Industrie entschied, was

Jahnke an Minister, 16.1.1986, BAK, B 102/350152. Vermerk Seidel, 21.1.1986, BAK, B 102/350152. 57 Otto Graf Lambsdorff: Neomerkantilismus, in: Die Welt, 11.1.1986, Nachdruck in: ders.: Luft, S. 36–45 (Zitat S. 41). 58 Ergebnisvermerk Friske, 4.12.1987, BAK, B 102/350152. 59 Vermerk Born, 18.4.1988, BAK, B 102/350152. 60 Bangemann, Steuerpolitik, S. 144–147. 61 Rosenthal, Luft- und Raumfahrtindustrie, S. 99 ff; Meyer, Betr.: Diskussion PStS Dr. Riedl mit dem Airbuskreis [sic] „Luft- und Raumfahrtindustrie“ der IG Metall am 13. Juni 1991 in Berlin, 29.5.1991, BAK, B 102/376682. 55 56

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 233

entwickelt und produziert wurde, der Bund aber erhebliche Teile des unternehmerischen Risikos übernahm. Letzteres unterschied die Industriepolitik auf diesem Feld von der Unterstützung der Stahlindustrie. Das industriepolitische Management, die Aushandlung der jeweiligen Unterstützungen und Umstrukturierungen, zeigt jedoch in beiden Branchen erhebliche Ähnlichkeiten. Auch im Fall der Luftfahrtindustrie gab es regelmäßige Besprechungen im BMWi mit Unternehmensvertretern und Gewerkschaftern. Über die Gestaltung der industriellen Zukunft wurde in den geläufigen korporatistischen Strukturen verhandelt, und es erstaunt kaum, dass auch hier der Bankier Alfred Herrhausen als Berater hinzugezogen wurde. Die Industriepolitik der 1970er und 1980er Jahre hatte es, zumal bei zwei derart hochkonzentrierten Branchen, mit den eingespielten Unternehmensnetzwerken der „Deutschland AG“ zu tun, auch wenn diese sich selbst im Umbruch befand.62 Es erstaunt nicht sonderlich, dass sich die FDP an der Macht diesen Strukturen kaum entziehen konnte oder wollte.

5. Fazit: Neoliberalisierung der Industriepolitik?

Die beiden hier als Fallbeispiele für die Industriepolitik freidemokratischer Wirtschaftsminister herangezogenen Branchen wurden von wenigen Großunternehmen beherrscht. Gemessen an Martin Grüners Einteilung, handelt es sich also bei ihrer Förderung um „schlechte“ Subventionen. Diese Politik ließ sich nicht als mittelstandsorientierter „liberaler Interventionismus“ im Sinne Röpkes und Rüstows rechtfertigen,63 sie schadete eher dem Image der FDP als Mittelstandspartei. Es gab also programmatische ebenso wie taktische Gründe, sich bei der Unterstützung dieser Branchen zurückzuhalten oder sich mit Sparprogrammen zu profilieren. Dass sie trotzdem in den 1980er Jahren sehr hohe Subventionen einstreichen konnten, verweist zunächst auf die begrenzte Lenkbarkeit industrieller Strukturen, auf Branchengegebenheiten und Unternehmenskrisen, die ihrerseits der Politik den Stempel aufdrückten. Daraus ergibt sich wiederum die Frage, ob es in den 1970er und 1980er Jahren überhaupt eine spezifisch liberale Industriepolitik gab, und inwiefern sich daran ein Wandel des Wirtschaftsliberalismus an der Macht festmachen lässt.

Vgl. Ahrens/Gehlen/Reckendrees, „Deutschland AG“; Wolfgang Streeck / Martin Höpner (Hg.): Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG, Frankfurt a. M. 2003. 63 Vgl. Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, S. 174–200. 62

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Blickt man zunächst auf die von den liberalen Wirtschaftsministern vertretene Programmatik, so lagen zwischen Hans Friderichs’ Bekenntnis zum „leisen Vormarsch des Staates“ und Martin Bangemanns Forderung nach „Erleichterung des Strukturwandels“ durch Subventionsabbau nicht bloß rhetorische Abstände. Schon vor dem Wechsel zur konservativ-liberalen Koalition 1982 finden sich Hinweise auf einen vorsichtigen Richtungswechsel, indem die Bedeutung des Marktes für die Bewältigung des Strukturwandels stärker betont und angebotspolitischen Aspekten mehr Raum gegeben wurde. Doch neben dieser langsamen Verschiebung der Gewichte zeigen sich deutliche inhaltliche Kontinuitäten. Industriepolitik im semantischen Gewand der Strukturpolitik blieb ganz eindeutig eine Aufgabe des Staates, zu der sich auch die FDP bekannte. Dabei fielen Forderungen nach Einschränkung des staatlichen Engagements den Liberalen tendenziell leichter, weil sie keine Klassen- oder Volkspartei darstellten und es auch nicht werden wollten. Die profilierteste Subventionskritikerin der 1980er Jahre war dennoch eine Christdemokratin, nämlich die niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel.64 Die zunehmende programmatische Beschwörung des Marktes fügt sich daher nur auf den ersten Blick in jene „lange Wende zum Neoliberalismus“ seit den 1970er Jahren, die Wolfgang Streeck ausgemacht hat.65 Vielmehr lässt sich bereits gegenüber den von der Großen Koalition verabschiedeten strukturpolitischen Grundsätzen, aber auch über den Koalitionswechsel 1982 hinweg eine Kontinuität ordoliberaler Argumente feststellen, die von einer Verantwortung des Staates für die Wirtschaftsentwicklung auf der Mesoebene ausgingen, diese Verantwortung allerdings zunehmend auf den Markt verlagert sehen wollten. Ungeklärt blieb dabei das grundsätzliche Problem, welche Kriterien überhaupt industriepolitische Eingriffe rechtfertigten. Die industriepolitische Praxis der 1980er Jahre, als marktliberale Forderungen vor allem in der Wende-Rhetorik insgesamt einen hohen Stellenwert bekamen, prägten solche Grundsatzfragen wiederum nur sehr begrenzt. Mit allzu liberalen Positionen hätten sich die FDP-Minister gegen die überwiegend zögerliche Haltung in der CDU66 ohnehin kaum durchsetzen können, wie auch immer die Forderungen aus der eigenen Partei lauten mochten. Aber selbst wettbewerbspolitische Aspekte, ein klassisches ordoliberales Thema, spielten weder beim Stahl noch in der Luftfahrtindustrie eine nennenswerte Rolle. Während in der strukturpolitischen Programmatik stets die marktkon-

Ahrens, Sectoral Subsidies, S. 76 ff. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2013, S. 58. 66 Vgl. dazu Wirsching, Abschied, S. 252. 64 65

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 235

forme Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen zu den wenigen positiven Forderungen zählte, wurde in der Luftfahrtindustrie der Wettbewerb über Jahrzehnte hinweg bewusst verringert. In der Stahlindustrie sperrte sich das Wirtschaftsministerium zwar gegen die Ausschaltung des Wettbewerbs durch eine branchenumfassende „Stahl AG“, aber nicht gegen Fusionspläne einzelner Großunternehmen. Größenvorteile im internationalen Wettbewerb reichten hier allemal zur Legitimation von Konzentrationspolitik. Das Resultat freidemokratischer Industriepolitik war, wenn man den Umfang der Industriesubventionen als Maßstab staatlicher Intervention heranzieht, schlicht das Gegenteil einer Durchsetzung neoliberaler Reformansätze. Das bedeutet andererseits nicht, dass die Politik hier die Steuerzahler in die Pflicht genommen hätte, um bewusst unterbliebene Investitionen der Industrie zu kompensieren, oder sich durch drohende Arbeitsplatzverluste erpressen ließ. Die westdeutsche Stahlindustrie kalkulierte mit eigenen Aufwendungen für die Sanierung der Branche, die die geforderten Subventionen um ein Vielfaches überstiegen. Die Modernisierungsinvestitionen in den 1960er Jahren und die im westeuropäischen Vergleich geringe Subventionsintensität sprechen ebenso gegen eine solche Interpretation wie die Konditionen der großen Stützungsaktionen in den 1980er Jahren. In der Luftfahrtindustrie ging es um die Überwälzung von Unternehmerrisiken, insofern durchaus um politökonomisch erklärbare Strategien des rent seeking. Investitionsbereitschaft aber war fraglos vorhanden und führte zu einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen. Und fern am Horizont gab es immerhin den Silberstreif eines aus eigener Kraft wettbewerbsfähigen europäischen Großflugzeugs. Auch bietet die Industriepolitik kein Beispiel für neoliberale Reformen, die letztlich Kapitalinteressen entsprungen wären, oder einen entsprechenden neuen Politikstil. Auf politischer Ebene zeigen sich keine grundlegenden Änderungen in den Verhaltensmustern, die sich im Umgang mit kriselnden Industrien seit den 1950er Jahren eingebürgert hatten. Industriepolitik war Verhandlungssache und mit Hilfe von Grundsätzen kaum einzuhegen. Die Definition von Problemlagen als „strukturell“ und damit interventionsbedürftig konnte von sehr verschiedenen Kriterien und Interessen bestimmt sein. In der heftig gebeutelten Stahlindustrie konnte Lambsdorff relativ harte Schnitte setzen, um die Krisenintervention möglichst bald zu beenden. Im Flugzeugbau dagegen, der allgemein als „Zukunftsindustrie“ galt, wuchsen die Subventionen parallel zu den marktwirtschaftlichen Bekenntnissen. Nicht zuletzt fanden diese Aushandlungsprozesse in jenem korporatistischen Rahmen statt, der als typisch für die Organisation der deutschen Wirtschaft

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gilt (wobei die betroffenen Unternehmen aufgrund ihrer Größe kaum der Unterstützung ihrer Interessenverbände bedurften).67 Neben den ordoliberalen Kontinuitäten zeigten sich hier eher Züge jenes „Konsensliberalismus“ US-amerikanischer Prägung, der in den westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegsjahrzehnte die Gleichzeitigkeit von liberaler Marktordnung und staatlicher Intervention legitimieren half,68 als der Übergang zu jenem „historisch neuartigen Liberalismus“, der gewöhnlich an der Privatisierung von Staatseigentum und der Deregulierung von Märkten festgemacht wird.69 Praxis und Programmatik der freidemokratischen Industriepolitik hatten mit dem geläufigen Narrativ des Neoliberalismus an der Macht, d. h. mit den Veränderungen in Großbritannien in der Ära Thatcher und den USA während der Präsidentschaft Reagans, wenig gemein. Selbst in diesen Fällen, die regelmäßig als frühe Musterbeispiele der Umsetzung neoliberaler Ideen angeführt werden, hat die historische Forschung mittlerweile Kontinuitäten, Ambivalenzen und Pragmatismus gegenüber den früher hervorgehobenen programmatischen Brüchen stärker herausgearbeitet,70 und der Blick auf die Industriepolitik bestätigt dies. Im britischen Fall fand zwar eine deutliche Abwertung der Industrie- gegenüber der Wettbewerbspolitik statt, doch sind industriepolitische Kontinuitäten insbesondere in der Luftfahrtindustrie zu beobachten, die trotz ihrer Reprivatisierung und einer drastischen Senkung der gesamtwirtschaftlichen Subventionen weiterhin massiv unterstützt wurde.71 In den USA wurde in den 1980er Jahren offiziell zwar keine Industriepolitik betrieben, stattdessen wurden aber unter Wettbewerbsdruck

Zur Tradition des Korporatismus und seiner Renaissance nach 1945 vgl. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 22011, S. 167–172. 68 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 75 ff. 69 Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert. Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: dies. (Hg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32, hier S. 29 ff; ebenso Biebricher, Neoliberalismus, S. 87. Die Trennschärfe steigt nicht gerade, wenn diese Aspekte auch noch mit einer Politik des „freien Marktes“ gleichgesetzt und somit die mit Privatisierungen regelmäßig einhergehenden neuen Regulierungen ignoriert werden; so bei Monica Prasad: The Politics of Free Markets. The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States, Chicago 2006, S. 4. 70 Was wiederum gut zu der Tatsache passt, dass es sich bei den Protagonisten gerade nicht um liberale, sondern um konservative Politiker handelt, vgl. Dominik Geppert: Konservative Revolutionen? Thatcher, Reagan und das Feindbild des Consensus Liberalism, in: DoeringManteuffel / Leonhard, Liberalismus, S. 271–289, hier S. 278–284. 71 Vgl. James Foreman-Peck / Leslie Hannah: Britain: From Economic Liberalism to Socialism  – And Back?, in: Federico  / Foreman-Peck, European Industrial Policy, S.  18–57; 67

Der Interventionsstaat auf dem Rückzug? 237

stehende Branchen wie die Stahl-, Textil- und Automobilindustrie durch massiven Protektionismus gestützt und staatliche Programme der Innovationsförderung aufgelegt.72 Der Begriff des Neoliberalismus mag, unabhängig von seiner Verwendung als politische Kampfvokabel und über die Zusammenfassung durchaus heterogener ökonomischer Theoriestränge hinaus, manche Aspekte des marktliberalen Umbaus der westlichen Marktgesellschaften in den letzten Jahrzehnten sinnvoll zuspitzen. Für die historische Analyse anderer zentraler Aspekte der staatlichen Intervention in die Wirtschaft greift er zu kurz.

Geoffrey Owen: Industrial Policy in Twentieth Century Britain, in: Richard Coopey / Peter Lyth (Hg.): Business in Britain in the Twentieth Century, Oxford 2009, S. 48–64. 72 Vgl. William R. Nester: A Short History of American Industrial Policies, Basingstoke 1998; Marco R. Di Tommaso / Stuart O. Schweitzer: Industrial Policy in America. Breaking the Taboo, Cheltenham 2013, S. 67–95.

PhiliPP Ther

Europäische Transformationen Über Schocktherapien, Demokratie und Populismus nach 1989

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uropa durchlebt gerade illiberale Zeiten. Die gab es bereits zuvor, im Fin de Siècle und in der Zwischenkriegszeit. Umso relevanter erscheint mir heute eine Konferenz über den Liberalismus, den man aus seinen Antipoden vielleicht leichter bestimmen kann als aus sich selbst heraus.1 Wenn wir die illiberalen Strömungen verstehen wollen, die seit den neunziger Jahren entstanden sind, bedarf es einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus. Mit dieser wirtschaftspolitischen Ideologie werde ich mich im ersten Teil meines Beitrags befassen. Nach einem kurzen Überblick über die Intellectual History des Neoliberalismus geht es vor allem um dessen globale Hegemonie, die rund um das Jahr 1989 entstand. Ich werde mich dabei auch mit den neoliberalen Argumentationsmodi befassen, die Margaret Thatchers Leitspruch „there is no alternative“ folgten. Der Populismus, den ich im dritten Teil behandle, beruht darauf, dass es sehr wohl Alternativen zum politischen Mainstream gibt. Der Populis-

Der vorliegende Beitrag beruht auf einem öffentlichen Keynote-Vortrag, der im Rahmen des Theodor-Heuss-Kolloquiums am 3.11.2016 am Zentrum für Zeithistorische Forschung gehalten wurde. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Inhaltlich beruht der Vortrag auf meinem Buch: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neuen Europa, Berlin 22016; sowie der englischen Version: Europe since 1989: A history, Princeton 2016. Dort sind ausführliche bibliographische Angaben über die Geschichte des Neoliberalismus und seine politischen Nebenwirkungen enthalten. Vgl. zur Geschichte des Liberalismus u. a. Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: Dies. (Hg): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32; Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines Deutungsmusters, München 2001. 1

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mus ist daher, so die hier vertretene These, zumindest teilweise ein Produkt des Neoliberalismus, wenngleich die Erfolge populistischer Parteien in jedem Land von jeweils spezifischen politischen Konstellationen und Traditionen abhängen. Der Beitrag wird sich dann vor zeithistorischem Hintergrund – in anderen europäischen Demokratien reüssieren Populisten schon länger als in Deutschland  – mit deren multiplen Schutz- und Sicherheitsversprechen auseinandersetzen. Das Weltbild des Populismus ist gerade vor diesem Hintergrund stringent, und man sollte es entsprechend ernst nehmen, wenn die westlichen parlamentarischen Demokratien Bestand haben sollen. Ich werde argumentieren, dass deren Schwächung in den vergangenen Jahren eng mit dem Neoliberalismus und der großen Krise von 2008/09 zusammenhängt. Insofern kehrt der Beitrag dann wieder zum Ausgangspunkt zurück. Wenn man den Populismus eindämmen will, wird das nur möglich sein, wenn sich liberale Demokraten und Parteien wieder verstärkt damit auseinandersetzen, was Liberalität heute eigentlich bedeutet und wie man den Liberalismus vom Neoliberalismus unterscheiden kann.

1. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus

Die intellektuellen Wurzeln des Neoliberalismus gehen auf die Zwischenkriegszeit und die frühe Nachkriegszeit zurück. Es handelte sich um eine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die nach Ansicht vieler auf den Laissez-Faire-Liberalismus und mangelnde staatliche Regulierung der Börsen zurückging. Die Vorsilbe „Neo“ stand daher ursprünglich für eine stärkere Rolle des Staates sowie Regulierungen gegen Monopolbildungen und Verwerfungen der Kapitalmärkte. In diesem Sinne wurde Neoliberalismus anfangs als affirmativer Begriff verwendet, als Weiterentwicklung des traditionellen Liberalismus. Eine Schlüsselrolle in der Weiterentwicklung neoliberaler Konzeptionen spielte dabei der aus Österreich stammende Ökonom Friedrich August von Hayek, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Mont Pèlerin Society eine Gruppe gleichgesinnter amerikanischer und westeuropäischer Wirtschaftswissenschaftler und Intellektueller versammelte, die ein Gegenmodell zur sowjetischen Planwirtschaft entwarfen, aber zugleich gegenüber dem staatlichen Dirigismus und Keynesianismus skeptisch eingestellt waren.2

Vgl. zur frühen Geschichte des Neoliberalismus und der Mont Pèlerin Society u. a. Angus Burgin: The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012; Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012; Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hrsg.): The Road from

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Im Lauf der 1960er und 70er Jahre kam es zu einer Selbstradikalisierung der neoliberalen Ökonomen. In Reaktion auf den Ausbau des Sozialstaats unter US-Präsident Lyndon B. Johnson, dem Versagen des Keynesianismus bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise nach der ersten Ölkrise und der „Stagflation“ in den siebziger Jahren schlug der Neoliberalismus eine libertäre, anti-staatliche Volte. Für diese Radikalisierung stand vor allem Milton Friedman, der bekannteste Vertreter der Chicago School und nach Keynes der einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts. Der Aufstieg des Neoliberalismus bzw. der Chicago School of Economics als Nukleus neoliberalen Denkens erfolgte erst in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, dann in der Politik, vor allem unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan.3 Milton Friedman war hier erneut eine Schlüsselfigur, er stieg 1980 zum einflussreichsten Wirtschaftsberater des republikanischen Präsidenten auf und prägte die „Reagonomics“, insbesondere die anfängliche Bekämpfung der Inflation durch eine strikte Steuerung der Geldmenge, die Deregulierung und Privatisierung. Ähnlich wie beim Liberalismus ist es schwierig, den Neoliberalismus aus sich selbst heraus zu definieren. Kurz zusammengefasst handelt es sich in seiner späteren Ausprägung seit den 1980er Jahren um eine wirtschaftspolitische Ideologie, die auf einem Idealbild sich selbst ausbalancierender, freier Märkte und rationaler Marktakteure beruht, staatliche Regulierung grundsätzlich skeptisch betrachtet, mit Hilfe von Privatisierungen eine umfassende Entstaatlichung anstrebt und die Wirtschaft auf nationaler und internationaler Ebene liberalisiert und dereguliert. Zurück zur Praxis bzw. der Anwendung des Neoliberalismus, die in meinem Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ im Vordergrund steht: Ein zweiter Schwerpunkt der Chicago School – neben den USA und Großbritannien – waren Schwellenländer, allen voran Chile. Dort veranlasste der 1973 durch einen Putsch an die Macht gekommene General Augusto Pinochet in zwei Schüben radikale Reformen, die in einer gefestigten westlichen Demokratie so nicht durchsetzbar gewesen wären. Es ist bis heute umstritten, ob und wie Pinochets drastische Sparmaßnahmen, die Privatisierung

Mont Pèlerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009. Die Formierungsphase und die weitere Entwicklung des Neoliberalismus sind u. a. zusammengefasst in Philipp Ther: Der Neoliberalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, URL: http:// docupedia.de/zg/ther_neoliberalismus_v1_de_2016, [5.7.2016]. Vgl. außerdem Heft 3/2015 der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ mit dem Titel „Vermarktlichung“, das eine Reihe von relevanten Beiträgen enthält. 3 Vgl. zur Politik der beiden Dominik Geppert: Konservative Revolutionen? Thatcher, Reagan und das Feindbild des consensus liberalism, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 271–290.

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fast aller staatlichen Betriebe sowie die schrankenlose innere und äußere Liberalisierung makroökonomisch wirkten. Aber diese Maßnahmen erzeugten jedenfalls neues Wachstum, nicht zuletzt aufgrund des niedrigen Ausgangsniveaus nach der Schuldenkrise von 1982. Den Preis dafür zahlten die Armen und die untere Mittelklasse; im Lauf der 1980er Jahre stürzten 40 Prozent der Chilenen unter die Armutsgrenze.4 In der Außenwahrnehmung durch die westliche Welt und primär der USA als Hauptgläubigerland zählten vor allem die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts und der pünktliche Schuldendienst.

2. Das globale 1989 und der Transfer des Neoliberalismus nach Osteuropa

Den entscheidenden Durchbruch für den Neoliberalismus brachte der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion. Das Jahr 1989 wird in Deutschland meist als ein nationales oder ostmitteleuropäisches Ereignis wahrgenommen, aber es gab auch ein „globales 1989“. In diesem Jahr vereinbarten der IWF, die Weltbank, das US-Finanzministerium und hochrangige Mitglieder des US-Kongresses den „Washington Consensus“. Am Anfang des Dekalogs stand die makroökonomische Stabilisierung von Ländern mit hoher Inflation und Schulden durch eine strikte Spar- bzw. Austeritätspolitik. Weitere wichtige Elemente des Zehn-Punkte-Programms waren die Triade Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Auch Foreign Direct Investments und somit der globale Finanzkapitalismus wurden bereits thematisiert.5 Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Bezeichnung als „Konsens“ – damit fiel Kritikern indirekt die Rolle von Abweichlern zu.

Besonders betroffen war die Landbevölkerung. Vgl. dazu Marcus J. Kurtz: Free Market Democracy and the Chilean and Mexican Countryside, Cambridge 2004. Vgl. zu den Arbeitern Peter Winn (Hg.): Victims of the Chilean Miracle: Workers and Neoliberalism in the Pinochet Era, 1973–2002, Durham 2004. Außerdem wurden die Mindestlöhne um mehr als ein Viertel abgesenkt. Vgl. dazu das Working Policy Research Paper Nr. 1188 (Mario Marcel / Andrés Solimano: Developmentalism, Socialism, and Free Market Reform. Three Decades of Income Distribution in Chile), das über das Archiv der Weltbank online zugänglich ist: URL: http:// www-wds.worldbank.org/external/default/WDSContentServer/WDSP/IB/1993/09/01/0000 09265_3961005091434/Rendered/PDF/multi0page.pdf, [27.9.2017]. 5 Der eigentliche Autor des Konsenspapiers war der Ökonom John Williamson, ihn hatten die beteiligten Institutionen als Experten hinzugezogen. Vgl. den Originaltext in: John Williamson (Hg.): Latin American Adjustment: How Much has Happened, Washington 1990. Vgl. zum globalen Finanzkapitalismus: Rawi Abdelal: Capital Rules: The Construction of Global Finance, Cambridge 2007. 4

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Ursprünglich zielte der Konsens vor allem auf Lateinamerika, diente dann aber als Blaupause für die Reformen im östlichen Europa. So verabschiedete Polen 1989 mit dem Balcerowicz-Plan ein radikales Reformprojekt, das inhaltliche und formale Ähnlichkeiten mit dem Washington Consensus aufweist. Ähnlich wie Chile in den 1980er Jahren diente Polen dann in den 1990er Jahren als Inbegriff einer erfolgreichen „Schocktherapie“ – diese global verbreiteten Erfolgsnarrative gehören ebenso zur Geschichte des Neoliberalismus wie die Indizes und Rankings, mit denen seit Mitte der neunziger Jahre Länder auf aller Welt und vor allem im postkommunistischen Europa daran gemessen wurden, wie weitgehend sie die Triade Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung umsetzen. Der Fokus auf Chile, Polen und weitere „Reformstaaten“ hat jedoch überdeckt, dass die radikalste „Schocktherapie“ in mancher Hinsicht in Ostdeutschland angewendet wurde, jedenfalls in Bezug auf die Liberalisierung und Privatisierung. Erstere war durch die Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 sowie dem Beitritt zur EU im Oktober 1990 vorgegeben (dieser Bestandteil der Vereinigung wird häufig übersehen), die Privatisierung wurde ebenfalls so rasch durchgezogen wie in keinem anderen postkommunistischen Land. In Kombination mit der Währungsunion und ihrem unrealistischen Wechselkurs entstand ein wirtschaftliches Desaster. Nirgendwo ging die Industrieproduktion so stark zurück wie in der ehemaligen DDR, nicht einmal in Bosnien, und dort herrschte bekanntlich Krieg. Die Privatisierung durch die Treuhand erbrachte statt der erhofften 600 Millionen Mark Einnahmen ein Defizit von 270 Milliarden Mark.6 Das lag an einem simplen Marktmechanismus: Wenn man eine ganze Volkswirtschaft auf den Markt wirft, erzeugt das unvermeidbar ein Überangebot an Firmen, die privatisiert werden sollten. Also sank ebenso unvermeidbar deren Preis. Die deutsche Schocktherapie wurde bekanntlich durch Transfer- und Sozialleistungen abgefedert, außerdem wurde die deutsche Wirtschaft aufgrund der Tradition des Ordoliberalismus stärker reguliert als in anderen postkommunistischen Ländern. Doch die Währungspolitik, die hastige Privatisierung und die sehr rasche Liberalisierung führten dann zu einer gesamtdeutschen Krise und einer zweiten Welle an Reformen in den Nullerjahren. Polen und die Tschechoslowakei verhielten sich Anfang der neunziger Jahre flexibler, etwa bei der Privatisierung, vertraten aber eine schärfere neoliberale Marktrhetorik, nicht zuletzt mit dem Ziel, westliche Investoren anzuziehen. Den Preis dafür bezahlten wie in Chile die Mittelklasse und vor allem

Vgl. zur Treuhand Marcus Böick: Die Treuhandanstalt 1990–1994, Erfurt, Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen, 2015.

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die Landbevölkerung. In der Hauptstadt Warschau, die noch vergleichsweise gut dastand, und der umgebenden Wojewodschaft sanken die monatlichen Durchschnittseinkommen 1990 auf umgerechnet knapp 100 D-Mark. Davon wurde mehr als die Hälfte für Lebensmittel ausgegeben, die Menschen lebten sprichwörtlich von der Hand in den Mund. Die Arbeitslosigkeit stieg so rapide wie in Ostdeutschland; Tschechien, Ungarn und Slowenien konnten mit ihrem bedächtigeren Reformkurs ähnliche soziale Krisen vermeiden. Aber 1992 sprang das polnische Wachstum wieder an, nicht zuletzt wegen des niedrigen Ausgangsniveaus. Der IWF und diverse neoliberale think tanks nutzten dies dazu, um nach Chile eine zweite neoliberale success story zu konstruieren. Demnach war die Schocktherapie die Grundlage der späteren ökonomischen Erfolge. Ich will die Wirkung der ökonomischen Reform des 1989 bis 1991 und erneut 1997 bis 2000 amtierenden polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz bei der Bekämpfung der Inflation nicht abstreiten, aber ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Schocktherapie und späterem Wirtschaftsaufschwung ist schwer nachweisbar. Der Einbruch der Industrieproduktion und der Anstieg der Arbeitslosigkeit wurden ähnlich wie in Ostdeutschland unterschätzt. In Polen und den anderen Vysegrad-Staaten wirkten sich vor allem zwei Faktoren positiv aus: ihre geographische Lage und das Timing. Da sie als erste mit den Reformen begannen konnten sie viel Auslandskapital anziehen und von Betriebsverlagerungen profitieren. Die misstrauisch betrachteten Postkommunisten setzten diese Reformen weitgehend fort, so dass es auch nach den Protestwahlen Mitte der 90er Jahre, bei denen die Postkommunisten gewannen (erst in Litauen, dann in Polen und Ungarn, die PDS erreichte in Berlin ebenfalls einige Direktmandate und zog dadurch in den Bundestag ein), zu keinem großen Umschwung kam. Die wichtigste Ressource der Reformen war jedoch das Humankapital,7 vor allem der hohe Bildungsstand der Bevölkerung, die in Polen und Ungarn bereits marktwirtschaftlich agierte, ehe die Marktwirtschaft offiziell eingeführt wurde. Von grundlegender Bedeutung waren außerdem der Fortbestand der Staatlichkeit und einer funktionierenden Verwaltung; weil dies in der ehemaligen Sowjetunion nicht der Fall war, hatten die Reformen und vor allem die Privatisierung dort so fatale Auswirkungen.

Vgl. zum Begriff des Humankapitals, der ebenfalls aus der Chicago School stammt, jedoch auf die Bedeutung langfristiger gesellschaftlicher Ressourcen durch Bildungs- und Gesundheitssysteme verweist und somit in einem Spannungsverhältnis zu den neoliberalen Reformpolitiken der neunziger Jahre steht, Gary Becker: Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, Chicago 1964. Beckers Buch erlebte mehrere Neuauflagen, die letzte im Jahr 1993. Danach passte es offenbar nicht mehr in die Zeit bzw. zu den Paradigmata des späteren, radikaleren Neoliberalismus.

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Es ist hier nicht der Ort, um ausführlich auf die sozialen Folgen des Neoliberalismus einzugehen, zumal hervorzuheben ist, dass jene Länder, die Anfang der 90er Jahre durchgehend von (Post)Kommunisten regiert wurden (u. a. Rumänien, Bulgarien, Serbien und die Ukraine) und durchgreifende Reformen vermieden, in ihrer sozialen Bilanz noch schlechter abschnitten. Aber zwei Resultate stechen heraus: Neben einer sozialen und generationellen Spaltung kam es vor allem zu einer regionalen Divergenz, ländliche Regionen, Klein- und Mittelstädte wurden von den Reformen abgehängt und verarmten.8 Der politische Preis der Wirtschaftsreformen war eine Entfremdung breiter Wählerschichten von der Demokratie. Ähnlich wie Anfang der 90er Jahre und dann erneut unter dem „Reformkanzler“ Gerhard Schröder wurden die Wirtschaftsreformen vor allem mit einem Argument begründet: There is no alternative. Ich wurde nach den Übersetzungen meines Buches ins Polnische und Tschechische oft gefragt, ob es denn 1989 wirklich keine Alternativen gegeben habe. Meine Antwort ist, dass überzeugendere Alternativen zu den Rezepten der Chicago School fehlten. Die Strategie gradueller Reformen, im Rahmen des existierenden Systems, war mit der Perestroika gescheitert. Durch den faktischen Staatsbankrott Jugoslawiens konnte zudem der prominenteste Vertreter des „Dritten Wegs“ kein Modell mehr sein, und die westeuropäischen Wohlfahrtssysteme waren in der Zeit der Vollbeschäftigung entwickelt und darauf ausgelegt worden. Wie die Bundesrepublik in den 1990er Jahren in der ehemaligen DDR lernen musste, war ein voll ausgebauter Sozialstaat zu teuer, um ihn in die postkommunistische Welt zu exportieren. Doch so explizit wurde selten argumentiert, vielmehr wurden die Reformen der 90er Jahre vor allem mit technokratischen und anti-politischen Argumenten durchgesetzt. Die polnischen und tschechischen Reformer und ihre westlichen Berater bekannten ganz offen, dass ihrer Meinung nach die Gesellschaft wenig von der Ökonomie verstehe und es daher am besten sei, die Reformen so rasch und radikal umzusetzen, dass sie unumkehrbar seien. In der zweiten Welle des Neoliberalismus seit den späten 90er Jahren, als es nicht mehr um die Privatisierung staatlicher Betriebe, sondern um staatliche Kernkompetenzen in den Renten- und Gesundheitssystemen und im Bildungswesen ging, spitzte sich diese Rhetorik zu. Gerhard Schröder war nicht

8 Vgl. zu dieser regionalen Divergenz u. a. die Forschungen des polnischen Sozialwissenschaftlers Grzegorz Gorzelak, der dazu seit den 1990er Jahren zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben hat, in englischer Sprache u. a. Grzegorz Gorzelak  / John Bachtler  / Maciej Smętkowski (Hg.): Regional Development in Central and Eastern Europe. Development Processes and Policy Challenges, London 2010.

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zu Unrecht als „Basta-Kanzler“ bekannt, Angela Merkel verwendete in ihren ersten Amtsjahren das Wort „alternativlos“ ebenso häufig. Diese Rhetorik und die erwähnte soziale und regionale Kluft hatten einen Preis, der sich im östlichen Europa früher abzeichnete als in den alten EU-Staaten. Als die Anhänger radikaler Reformen Polen von 1997 bis 2001 erneut vier Jahre lang regierten und die Arbeitslosenquote auf fast 20 Prozent stieg (wofür die Politik nur bedingt verantwortlich war, es lag u. a. an den starken Jahrgängen, die während des Kriegsrechts Anfang der achtziger gezeugt wurden, aber auch an den Privatisierungen, die mittlerweile voll durchschlugen), war der Unmut so groß, dass drei populistische Parteien bei den anschließenden Parlamentswahlen über 30 Prozent der Stimmen erhielten. Dieses Muster sollte sich nach der Krise von 2009 in anderen Teilen und Ländern Europas wiederholen. Noch fataler als der Sieg der Populisten war die niedrige Wahlbeteiligung, die 2001 in Polen nur noch 46 Prozent betrug. Etwa zur gleichen Zeit begannen die Zweifel an den westlichen Demokratien zu wachsen. Im Jahr 2000 veröffentlichte Colin Crouch sein viel zitiertes Buch mit dem Titel „Post-Democracy“.9 Über die darin enthaltenen Thesen kann man streiten, jedenfalls beruhten sie auf seiner Beobachtung von Tony Blairs „New Labour“ und dem Reformpakt zwischen Sozialdemokraten und den Wirtschaftseliten. Die Postkommunisten in Ostmitteleuropa verfolgten eine ähnliche Strategie, wenngleich aus anderen Gründen. Die Privatisierungen boten Chancen zur Bereicherung, außerdem konnten sie sich damit im Westen Respekt für ihre Wirtschaftspolitik verschaffen und weitere Investoren anlocken. Das hieß jedoch zugleich, dass keine traditionelle, sozialstaatlich und egalitär orientierte Linke mehr existierte (außer in Tschechien, dort gab es weiter die nicht-reformierten Kommunisten), diese Lücke füllten dann unter nationalistischen Vorzeichen Rechtsparteien wie die PiS in Polen oder Fidesz in Ungarn. Gerhard Schröders „Neue Mitte“ war stark nach dem Vorbild von „New Labour“ ausgerichtet, wobei die rot-grünen Sozial- und Arbeitsmarktreformen den tiefsten Einschnitt in den deutschen Sozialstaat seit Gründung der Bundesrepublik mit sich brachten. Letztlich bedeuteten die Hartz-Reformen eine Abkehr von der Strategie einer schnellen „Verwestlichung“ Ostdeutschlands, stattdessen passte sich die Bundesrepublik an die bescheidenere, primär auf Bedürftigkeit ausgerichtete Sozialpolitik der postkommunistischen Welt an, Deutschland wurde sozialpolitisch gewissermaßen „veröstlicht“. Auch das Lohnniveau wurde abgesenkt, im Niedriglohnsektor – dieses Konzept geht

9

Colin Crouch: Post-Democracy, Oxford 2004.

Europäische Transformationen 247

ursprünglich auf Milton Friedman zurück,10 was aber in Deutschland kaum thematisiert wurde – auf das damalige tschechische oder polnische Niveau. Mit den rot-grünen Reformen verschwammen wie zuvor in Ostmitteleuropa die politischen Koordinaten rechts und links sowie konservativ und fortschrittlich. Es ist oft gesagt worden, die Sozialdemokratie habe sich in Europa in den 1970 und 80er Jahren zu Tode gesiegt. Traf das zwischen 1989 und 2008 vielleicht auf den Liberalismus zu? Die Vorsilbe „neo“ habe ich hier bewusst weggelassen, weil eine liberale Weltanschauung und der wirtschaftspolitische Konsens weit in andere politische Lager und soziale Milieus hineinreichten.

3. Die Krise von 2008/09

Die Krise der Demokratie in Ostmitteleuropa, die sich vor allem an der niedrigen Wahlbeteiligung abzeichnete, hatte zunächst geringe Auswirkungen, weil es nach wie vor an politischen Gegenbewegungen zum neoliberalen Mainstream mangelte. Wie der amerikanische Politologe Mitchell Orenstein gezeigt hat, wurden im Rahmen der „zweiten Welle“ des Neoliberalismus in sämtlichen postkommunistischen Ländern Flat-Tax-Systeme eingeführt und die Rentensysteme voll- oder teilprivatisiert.11 Dies ließ die Bundesrepublik nicht unberührt: Die CDU forderte in ihrem Parteiprogramm von 2003 eine Pro-Kopf-Abgabe für die Krankenkassen und damit eine Art Flat-Tax im Gesundheitssystem das nie realisierte, auf einen Bierdeckel passende dreistufige Steuermodell von Angela Merkels Gegenspieler Friedrich Merz war die deutsche Variante der Flat-Tax. Nachdem Merkel mit solchen Konzepten die Bundestagswahl von 2005 beinahe verloren hätte, beendete die anschließende große Koalition den politischen Wettlauf um immer weitere Reformen. Auf globaler Ebene bescherte die Finanz-, Wirtschafts-, und Budgetkrise von 2008/09 allerdings einen noch tieferen Einschnitt. Denn die große Krise delegitimierte die neoliberale Wirtschaftsordnung. Der vorher verachtete Staat musste die Finanzmärkte vor dem Zusammenbruch retten, die Marktteilnehmer reagierten panisch und keineswegs ratio-

Vgl. dazu u. a. Milton Friedman / Rose Friedman: Free to Choose. A Personal Statement, New York: Harcourt, 1980, S.  120–126, sowie die 2002 erschienene Jubiläumsausgabe von Friedmans Capitalism and Freedom: Fortieth Anniversary Edition, Chicago: University of Chicago Press, 2002, S. 192–194. 11 Vgl. dazu Mitchell Orenstein: Privatizing Pensions. The Transnational Campaign for Social Security Reform, Princeton 2009; Hilary Appel / Mitchell A. Orenstein: From Triumph to Crisis: Neoliberal Economic Reform in Postcommunist Countries, Cambridge 2018. 10

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nal, die übertriebene Deregulierung und Liberalisierung wurden als Hauptursachen der Krise erkannt.12 Mit Ausnahme Polens traf die Krise das östliche Europa besonders hart. Das lag an der Osteuropa-Blase, die sich, vergleichbar mit der amerikanischen Immobilien- und Finanzblase, bis 2007 gebildet hatte. In jenen Ländern, die sich westlichem Spekulationskapital besonders weit geöffnet hatten, schrumpfte die Wirtschaft um bis zu 18 Prozent. Eine besonders giftige Saat bildeten die Fremdwährungskredite, die in einigen osteuropäischen Ländern mehr als 50 Prozent der gesamten Kreditvergabe ausgemacht hatten. Aufgrund der Abwertung der Ostwährungen standen Millionen von Kreditnehmern vor dem Ruin; Viktor Orbán nutzte die Gelegenheit, sich als Beschützer der ungarischen Mittelklasse zu präsentieren, die er tatsächlich besser gegen die Banken verteidigte als es die spanische oder die amerikanische Regierung ihren Immobilienschuldnern gegenüber tat. In einer zweiten Phase erreichte die Krise das südliche Europa, weil die internationalen Kapitalflüsse versiegten und die Banken nicht mehr willens waren, hohe Haushaltsdefizite zu finanzieren. Die überschuldeten Südländer der EU wurden mit dem Kürzel „PIGS“ zusammengefasst (es stand für Portugal, Italy, Greece and Spain; Irland bzw. das zweite „I“ fiel bald weg, weil die irische Regierung den Reformrezepten des IWF brav folgte und seinen Haushalt rasch konsolidierte). Damit wurden diese Länder verbal in den Schweinestall der internationalen Ratingagenturen verbannt. Da die deutsche Bundesregierung und andere Staaten eine Vergemeinschaftung der Schulden ablehnten, waren die Südländer der EU zu drastischen Sparprogrammen gezwungen. Damit zu den drei Wegen aus der Weltwirtschaftskrise von 2009: Die USA, Deutschland, Österreich, Polen, die Slowakei und auch China reagierten mit einer insgesamt neokeynesianischen Politik, die aber damals wegen der Hegemonie des Neoliberalismus nicht als solche benannt wurde. Das hieß, dass diese Staaten ihre Ausgaben nicht reduzierten, sondern beibehielten oder sogar steigerten – trotz der stark verminderten Einnahmen. Ein Beispiel dafür ist die (ökologisch fragwürdige) Abwrackprämie in Deutschland. Diese Staaten kamen am besten durch die Krise, erholten sich relativ rasch und vor allem nachhaltig. Die baltischen Länder, Ungarn, Rumänien und die ärmeren Reformstaaten reagierten, indem sie die neoliberale Politik weiterführten oder sogar zuspitzten. Vorreiter war hierbei Lettland mit seiner Politik der internen Abwer-

Eine dezidiert gegen die Chicago School und zum Teil auch gegen die neoklassische Lehre gerichtete Meinung vertritt u. a. Joseph Stiglitz: Freefall. America, Free Markets, and the Sinking of the World Economy, New York 2010.

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tung, die Staatsgehälter wurden im Schnitt um 25 Prozent gesenkt, um auf diese Weise eine Abwertung der nationalen Währung zu vermeiden. Zusätzlich wurden auch die übrigen staatlichen Ausgaben drastisch zurückgefahren, indem zum Beispiel Krankenhäuser nur noch lebenserhaltende Operationen durchführten. Diese neoliberalen Staaten erzielten wenige Jahre nach dem Beginn der Krise wieder ein nominelles Wirtschaftswachstum, auch wegen des niedrigen Ausgangsniveaus. Aber sie bezahlten dies mit einem erheblichen demographischen Substanzverlust. Rumänien, Lettland und Litauen verloren innerhalb von zwei, drei Jahren fast 10 Prozent ihrer Bevölkerung. Durch die hohe Arbeitsmigration, die die Fluchtmigration von 2015 in den Schatten stellt, gab es ein Ventil für die rasant steigende Arbeitslosigkeit. Aber diese Länder exportierten damit ihre sozialen Probleme. Auch das hatte Auswirkungen auf den Westen. So trug das Ausmaß der Einwanderung aus Osteuropa zum Brexit bei, den ersten strahlenden Sieg des Rechtspopulismus in Westeuropa. Die südeuropäischen Länder lavierten zwischen diesen beiden Polen. Für ein Ausgabenprogramm fehlte ihnen das Geld, für tiefgreifende Reformen der Wille. So blieb es bei einem Austeritätsprogramm; eine weitreichende Liberalisierung und Privatisierung, wie sie der IWF 2013 nach dem Vorbild Lettlands Griechenland empfahl, konnte nur unter massivem externem Druck durchgesetzt werden. Griechenland zum Beispiel musste seine Flughäfen und andere Infrastruktur privatisieren und zusätzlich nach deutschem Vorbild eine Privatisierungsbehörde gründen. Ob die „griechische Treuhand“ Erfolg haben wird, muss sich noch zeigen. Die einfallslose Sparpolitik erzeugte eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, von der sich Griechenland und Italien bis heute nicht erholt haben; Spanien und Portugal eher, aber auch nur deshalb, weil dort der Staat seit einigen Jahren nicht mehr so sehr spart.

4. Der Aufstieg der Populisten

Die Krise und die Perspektivlosigkeit boten dem Populismus nun auch in Südeuropa ein weites Feld. Die Wahlergebnisse sind mit denen Ostmitteleuropas vergleichbar, so erzielten die italienischen Links- und Rechtspopulisten nach den Reformen des Berlusconi-Nachfolgers Mario Monti ein ähnlich gutes Resultat wie 2001 die polnischen Populisten, insgesamt um die 30 Prozent. Während die polnischen Links- und Rechtspopulisten nach vier Jahren von der heute wieder regierenden PiS aufgesaugt wurden, etablierte sich das Movimiento Cinque Stelle auf Anhieb in der italienischen Parteienlandschaft. In Griechenland konnten die Linkspopulisten von der Syriza 2015 sogar die Regierung übernehmen, während Marine Le Pen 2017 mit Leichtigkeit in die

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Stichwahlen um die französische Präsidentschaft einzog und in Österreich die FPÖ im selben Jahr eine Koalitionsregierung mit der ÖVP bildete. Die Präsidentschaftswahlen in den USA brachten den zweiten großen Sieg des Populismus nach dem Brexit. Nun zeigt bereits dieses breite Spektrum an Ländern, dass man ebenso wenig wie bei den Reformpolitiken Anfang der neunziger Jahre einen klaren kausalen Zusammenhang konstruieren kann. Die simple These, dass der Neoliberalismus (der wie erwähnt in der Anwendung weniger stringent ist als auf dem Papier) gewissermaßen die Ursache einer populistischen Gegenbewegung sei, geht nicht auf, sonst könnte man zum Beispiel in Österreich mit seinem gut ausgebauten Sozialstaat nicht die Erfolge der FPÖ erklären. Dennoch sollte zu denken geben, dass der Brexit und der Sieg von Donald Trump jeweils in Ländern erfolgten, die bereits sehr früh und weitgehend neoliberalen Reformen unterzogen wurden. Den stärksten Zuspruch gab es jeweils in jenen Landesteilen, in denen die Deindustrialisierung besonders weit fortgeschritten war und die ohnehin bröckelnde Mittelschicht Angst vor der Zukunft und vor allem vor Arbeitslosigkeit hatte. Wenn man den Begriff „Populismus“ wertneutral und analytisch betrachten will – und das sollte die Zeitgeschichte ähnlich wie beim Neoliberalismus anstreben13 – kann man sich zunächst auf eine sehr breite, in den USA gängige Definition stützen, wonach der Populismus populäre politische Stimmungen aufnimmt und verarbeitet. Dies mag im ersten Moment tautologisch anmuten, ist aber neutraler als die deutsche Verwendung des Begriffs, bei der man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass hier neue politische Konkurrenz mit einem negativ konnotierten Label versehen werden soll. In der Bundesrepublik stehen wegen der AfD bekanntlich die Rechtspopulisten im Vordergrund, im Süden Europas sind die Linkspopulisten erfolgreicher – sofern man das alte Links-Rechts-Schema noch für aussagekräftig hält. Ein Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulisten liegt in den politischen und familiären Wurzeln der jeweiligen Aktivisten. Bei den einen handelt es sich eher um enttäuschte Sozialdemokraten, Gewerkschafter und ehemalige Kommunisten, bei den anderen gibt es häufig eine transgenerationelle Verbindung, insbesondere in Italien und Österreich, zum Faschismus oder Nationalsozialismus. Dementsprechend beruht die Weltanschauung der Rechtspopulisten oft auf einem xenophoben Nationalismus und Rassismus, der sich nicht zuletzt in der von Jan Werner Müller beobachteten Tendenz niederschlägt, das „Volk“ bzw. den Demos ethno-nationalistisch einzugrenzen

Als Vorbild könnte das Buch des Politologen Jan Werner Müller dienen: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016.

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Europäische Transformationen 251

und einzuengen.14 Doch die Linkspopulisten stehen der EU ebenfalls sehr kritisch gegenüber, weil sie Brüssel als Förderer des globalen Kapitalismus und neoliberaler Reformpolitiken kritisieren. Diese Kritik stimmt zwar nur bedingt, wie die Struktur- und Regionalpolitik der EU und ihre keineswegs neoliberalen Grundlagen zeigen, aber Brüssel tat sich bei der Präsentation eigener Stärken schon immer schwer und hat sich mit der Lissabon-Agenda aus dem Jahr 2000 in der Tat sehr weit gehend neoliberalen Rhetoriken angepasst. Häufig werden populistische Parteien ausschließlich als Protestparteien verstanden. In der Tat bilden die Verlierer der postkommunistischen Transformation und analog dazu im Westen die Verlierer der Globalisierung und der europäischen Integration (die man als Globalisierung im Kleinen betrachten kann) die Hauptwählerschaft. Aber das Wählerspektrum reicht bis weit in die Mittelschichten, die Angst vor einem sozialen Abstieg haben, und ist daher nicht klar abgrenzbar. Anders als die rechtsnationale Agitation vermuten ließe, werden durchaus frühere Wähler der Sozialdemokraten und anderer Linksparteien angesprochen. Der positive Appeal der Populisten liegt in einem Bündel an Schutz- und Sicherheitsversprechen. Die Populisten versprechen unabhängig von ihrer Couleur Schutz vor internationaler Konkurrenz, Schutz des heimischen Arbeitsmarkts, speziell vor Arbeitsmigranten und Flüchtlingen, Schutz vor Kriminalität und Schutz nationaler Werte. So gesehen ist das Weltbild der Populisten stringent, man kann auch zusammenfassen, dass es nationalistisch und illiberal ist. Dieser Illiberalismus erreicht eine solche Schlagkraft, weil er sich als Alternative zum herrschenden System präsentiert. Das ist gewissermaßen die Antithese zum neoliberalen there is no alternative. Auch der Aufstieg von Donald Trump lässt sich ähnlich erklären, denn sein wichtigstes Wählerreservoir besteht aus männlichen, weißen Amerikanern mit mittlerer oder niedriger Schulbildung. Diese Bevölkerungsgruppe hat seit den 1980er-Jahren am meisten unter der Öffnung der Märkte, der Verlagerung der Industrie und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gelitten. Ablesbar ist das unter anderem an dem – für ein entwickeltes Industrieland bislang einmaligen  – Absinken der Lebenserwartung unter den Männern

Dies spricht dafür, noch stärker zwischen Rechtspopulisten und Linkspopulisten zu unterscheiden und sich in der Forschung auf Erstere zu konzentrieren. Wenn der Fokus allerdings nur auf den Rechtspopulisten liegt (wie etwa bei Jan Werner Müller), stellt sich die Frage, ob man diese mit diesem Begriff analysiert (der wie angedeutet im Englischen und im Spanischen etwas anders verwendet und verstanden wird als im Deutschen), oder ob man nicht gleich das Kernelement ihrer Ideologie, den exklusiven (Neo)Nationalismus, hervorheben sollte.

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mittleren Alters der Mehrheitsgesellschaft.15 Diese sozialen und politischen Folgen von Liberalisierung und Deregulierung belegen den strukturellen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus auch jenseits von Europa, wenngleich man wie erwähnt vorsichtig sein sollte, eine direkte Verbindung im Sinne von Ursache und Wirkung zu konstruieren. Doch gibt es offenbar ein breites Reservoir an Wählern, das sich durch die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen seit den achtziger Jahren bedroht fühlt oder tatsächlich darunter gelitten hat und daher diesen Schutz- und Sicherheitsversprechen auf den Leim geht. Bei näherer Betrachtung sind diese kaum haltbar, wie der Zickzackkurs der britischen Premierministerin Theresa May seit dem Brexit zeigt, zugleich legen ihre Rhetorik und ihr Regierungshandeln die Vermutung nahe, dass die größte Gefahr vielleicht darin liegt, dass die Xenophobie und der Nationalismus der Rechtspopulisten im politischen Mainstream ankommen. Das kann man seit der Nationalratswahl im Herbst 2017 auch in Österreich beobachten. Die in der Form unterschiedliche, im Inhalt jedoch ähnliche Rhetorik der ÖVP und der FPÖ gegenüber Flüchtlingen, anderen Migranten und den sogenannten EU-Ausländern (bis vor einigen Jahren war bei ihnen noch von EU-Bürgern die Rede – allein diese begriffliche Verlagerung im politischen Diskurs spricht Bände) wirft jedoch indirekt die Frage auf, inwieweit der Begriff Rechtspopulismus überhaupt noch trennscharf angewandt werden kann. Eine häufig vorgebrachte und systemrelevante Forderung populistischer Parteien liegt in der nach mehr Volksabstimmungen bzw. stärkeren Elementen einer direkten Demokratie. Die dahinter stehende Kritik an der parlamentarischen Demokratie sollte man weder einfach ignorieren noch per se als antidemokratisch abtun. Offenbar ist in den vergangenen Jahrzehnten zumindest bei einem Teil der Bevölkerung ein Legitimationsdefizit entstanden. Allerdings ist diese Forderung nach mehr Demokratie zumindest auf Seiten der Rechtspopulisten damit gepaart, den abstimmungsberechtigten Demos bzw. das Volk neu zu definieren. Ausländer gehören nicht dazu, und dabei geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um EU-Bürger, die aus dieser Perspektive aufgrund ihrer Zahl das viel größere Problem sind. Deshalb und nicht nur wegen der ständigen Polemiken gegen Brüssel bzw. die EU ist der Rechtspopulismus tatsächlich eine Gefahr für die europäische Integration und weit mehr als eine Rückbesinnung auf ein Europa der Vaterländer, das

Vgl. dazu Sabrina Tavernise: Disparity in Life Spans of the Rich and the Poor is Growing, in: The New York Times, 12.2.2016, URL: http://www.nytimes.com/2016/02/13/health/ disparity-in-life-spans-of-the-rich-and-the-poor-is-growing.html?_r=0 [25.6.2016].

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Europäische Transformationen 253

die Gründungsväter der EWG vielleicht tatsächlich eher im Auge hatten als eine immer tiefer integrierte EU. Dass der populistische Ruf nach mehr direkter Demokratie eine Schwächung des Parlamentarismus und der etablierten Parteien mit sich bringt, kann man am Beispiel des Brexit erkennen. Das britische Parlament wurde gleich doppelt geschwächt, erst durch das Plebiszit selbst und dann durch die Weigerung der konservativen Regierung, das Parlament über das eigentlich nicht rechtsverbindliche Plebiszit abstimmen zu lassen. Hätte das Parlament entschieden, dann hätte man vermutlich das erreichen können, was den Parlamentarismus auszeichnet: einen guten Kompromiss. Den kann man in der direkten Demokratie schwerer erreichen; da wird einmal entschieden und dann sind die Würfel gefallen. Viktor Orbán hatte im Oktober 2016 ebenfalls ein Plebiszit zur EU inszeniert, formell ging es um die Verteilung der Flüchtlinge. Hier kann man erkennen, wie die direkte, populistische Demokratie in der Praxis funktioniert. Das Referendum verfehlte zwar bei weitem das erforderliche Quorum von 50 Prozent, aber Orban inszenierte sich einmal mehr als Retter der Nation und Vollstrecker ihres Willens und kündigte eine Verfassungsänderung im Sinne des Plebiszits an. Historikern ist dieses Szenario bekannt: Im 19. Jahrhundert nannte man es Bonapartismus.

5. Wie neoliberal ist der Liberalismus?

Nun die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Wie dargestellt liegt eine der wesentlichen Ursachen des Aufschwungs populistischer Bewegungen in der großen Krise von 2008/2009. Sie hat die gesamte westliche Ordnung in Frage gestellt, spätestens diese Krise brachte das Ende des von Francis Fukuyamas 1989 proklamierten „Endes der Geschichte“.16 Damit wären wir wieder im Jahr 1989 angelangt, als Fukuyama vollmundig erklärte, dass es eigentlich keine Alternative zur Marktwirtschaft und zur liberalen Demokratie mehr gebe. Wie die Beispiele Chinas, Vietnams und, eingeschränkt, Russlands unter Putin zeigen, kann der Kapitalismus offenbar ohne Demokratie florieren, aber es würde zu weit führen, das jetzt näher zu vertiefen.17 Francis Fukuyama: The End of History, in: The National Interest, Summer 1989, S. 1–18; Ders.: The End of History and the Last Man, New York 1992. 17 Vgl. zu diesem Problem Jürgen Kocka / Wolfgang Merkel: Kapitalismus und Demokratie. Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch, in: Wolfgang Merkel (Hrsg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 307–337. 16

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Es wäre allzu leicht, alle Schuld auf den Neoliberalismus und dessen Radikalisierung in den Nullerjahren zu schieben, denn bestimmte Elemente des Neoliberalismus gehen auf den klassischen Laissez-Faire-Liberalismus zurück. Ähnlich verhält es sich in der Ökonomie: die Chicago School weist wesentliche Gemeinsamkeiten mit der neoklassischen Wirtschaftslehre und mit älteren, liberalen Traditionen ökonomischen Denkens auf. Die Idealisierung von Märkten findet sich bereits bei den Liberalen des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber bei Adam Smith, dessen Begriff der „hidden hand“ dem Markt metaphysische Weihen verlieh und ihn als letzte Entscheidungsinstanz für alle möglichen menschlichen Austauschbeziehungen positionierte  – jedenfalls wenn man Smith so interpretiert wie die Chicago School.18 Hinzu kam eine Idealisierung des physischen Marktplatzes, die bei Friedman und Thatcher aus lebensweltlichen Prägungen hervorging. Beide wuchsen als Kinder von kleinen Ladenbesitzern auf und lernten somit den freien Austausch von Gütern von klein auf kennen. Bereits in den 1980er Jahren war diese Idealisierung angesichts von Shopping Malls und globalen Handelskonzernen überholt, aber sie findet sich vor allem in der Bildsprache von Friedman und dessen Fernsehsendungen „Free to Choose“, mit denen er 1980 und dann in einem Remake 1990 seine Lehren popularisierte.19 Eine zweite Kontinuität zum Liberalismus und der mit ihm verbundenen neoklassischen Ökonomie liegt in der Annahme, dass sich Marktteilnehmer überwiegend rational verhalten. Hierbei dienten die „rational choice“-Theorien der 1980er Jahre als philosophischer Unterbau. Die Überhöhung des Privateigentums ist älter und hat im Liberalismus des 19. Jahrhunderts seinen Ursprung, in der neoliberalen Lehre kam dann die Fixierung auf Privatisierungen hinzu. Und schließlich ist das Konzept der Modernisierung durch Reformen von oben,

Dass diese Rezeption von Adam Smith verkürzt ist, steht außer Frage, doch das ändert nichts daran, wie sehr diese Lesart bzw. Invention of Tradition von der Chicago School und Milton Friedman betrieben wurde. Vgl. zu Adam Smith insbesondere Andreas Wirsching: Gehören Markt und Moral zusammen? Über ein historisches Dilemma des Liberalismus, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus im 20. Jahrhunderts, S. 35–53, hier S. 36 f. Vgl. zur Rezeption von Smith bei Friedman dessen fünfteilige Fernsehdokumentation „Free to Choose“, hier speziell die von Ronald Reagan eingeleitete dritte Folge, online verfügbar unter URL: http://www.youtube.com/watch?v=l2h5OR1QX3Y [20.8.2017]. Es gibt davon auch eine Buchversion, vgl. Milton Friedman / Rose Friedman: Free to Choose. A Personal Statement, New York 1980. 19 Vgl. zu beiden Serien Sören Brandes: „Free to Choose.“ Die Popularisierung des Neoliberalismus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90), in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), H. 3, online unter URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2015/id=5284 [14.2.2018], Druckausgabe S. 526–533. 18

Europäische Transformationen 255

die in den Schwellenländern und allen Staaten, die sich als rückständig empfanden, eine zentrale Rolle spielte, eine alte liberale Idee.20 Worin liegt also die Substanz der Vorsilbe „neo“, wenn wir Neoliberalismus und Liberalismus gegenüberstellen? Ich möchte abschließend versuchen, den Unterschied anhand der zitierten Schlüsseldokumente des Jahres  1989 festzumachen. Nach meiner Auffassung war es die Kombination von Austerität, Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und Freihandel im globalen Kontext, die den Unterschied zu früheren liberalen Reformrezepten ausmachte. Spezifisch neoliberal ist außerdem die Forcierung von Foreign Direct Investments, wie sie der Washington Consensus empfohlen hat. Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte, die zur Finanzkrise von 2009 führte, war in diesem „Konsens“ bereits angelegt. Kühn – und vielleicht spezifisch neoliberal  – war zudem die Idee, dass man ein und die gleichen Reformrezepte von Land zu Land, sogar von Erdteil zu Erdteil übertragen könne. Dies markiert einen Unterschied zum Liberalismus: Der Neoliberalismus war in hohem Maße eine Expertenkultur und wurde in diesem globalen Milieu verbreitet, der Liberalismus war dagegen zumindest im 19. Jahrhundert eine bürgerliche, stark in den jeweiligen Nationalkulturen verwurzelte soziale Bewegung.21 Außerdem war der Liberalismus von der Freude am Debattieren geprägt, während der Neoliberalismus Diskussionen eher meidet. Diesen Dogmatismus und die Feindschaft gegenüber dem Räsonieren und Diskutieren haben nun die Populisten übernommen, die in dieser Hinsicht vom Neoliberalismus geprägt wurden, denn die Formel „there is no alternative“ bedeutet im Grunde eine Verweigerung von Diskussionen oder jedenfalls eine antipolitische Grundhaltung. Die Unterschiede zwischen Liberalismus und Neoliberalismus treten auch stärker zutage, wenn man bei letzterem zwischen verschiedenen Phasen differenziert und die neunziger und die Nullerjahre gegenüberstellt. In der zweiten Welle des Neoliberalismus wurde die Privatisierung und Deregulierung nochmals zugespitzt, die Einführung von Flat-Tax-Systemen und die Privatisierung staatlicher Kernkompetenzen fallen überwiegend in diese Periode. Läuft das nun auf eine Gegenüberstellung zwischen einem „guten“ Neoliberalismus und einem schlechten und dann in den Nullerjahren selbstzerstörerischen Neoliberalismus hinaus? So wie man früher einen guten frühen Vgl. zum östlichen Europa die komparativ angelegten Kapitel in Maciej Janowski: Polish Liberal Thought before 1918, Budapest 2004. 21 Vgl. zu dieser älteren Geschichte des Liberalismus (v. a. in Deutschland) Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; James Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983; Lothar Gall (Hg.): Liberalismus, Königstein 1985. 20

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und einen schlechten späteren Nationalismus unterschieden hat? So einfach liegen die Dinge sicher nicht. Dies soll nicht noch einmal an Milton Friedman demonstriert werden, sondern an zwei europäischen Liberalen, nämlich an Ralf Dahrendorf und Timothy Garton Ash und deren Position zu den Revolutionen von 1989. Letztere kann man, wenn man Hannah Arendts Revolutionsbegriff zu Grunde legt,22 als liberale Revolutionen einordnen, denen Dahrendorf und Ash ähnliche Sympathien entgegenbrachten wie Friedman. Zunächst zu einigen zentralen Forderungen und Begriffen der Revolutionen von 1989. Sie lauteten Freiheit, Menschenwürde und Solidarität. Die wirtschaftspolitische Ausrichtung auf die Marktwirtschaft war anfangs noch nicht klar, über die Demokratisierung bestand mehr Konsens. Es ist hier nicht der Ort, um diese fünf Begriffe und ihren Wandel in den damaligen Diskursen nachzuzeichnen, aber bei der Diskussion der Freiheit fällt auf, dass es bereits im Sommer 1990 zu einer Ökonomisierung des Freiheitsbegriffs kam. In Polen und der Tschechoslowakei ging es in den folgenden Jahren fast nur noch um die Freiheit des Marktes, in der Bundesrepublik war dies bereits in den frühen 1980er Jahren im Kontext der Rhetorik der „geistig-moralischen Wende“ ein zentraler Topos der konservativ-liberalen Koalition. Den Begriff der Freiheit, der in der politischen Philosophie seit der Antike diskutiert und insbesondere von Theoretikern des klassischen Liberalismus von John Stuart Mill bis Dahrendorf keineswegs nur auf dem Feld der Ökonomie entfaltet wurde, haben die neoliberalen Diskurse des späten 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf ein ökonomisches Nutzenkalkül verkürzt. Menschenwürde, ein weiterer zentraler Begriff der Revolutionen von 1989, ist ein weiter gefasster Begriff als jener der Menschenrechte; mit dem Fokus auf human rights wurde der Diskurs verrechtlicht. Ich will jetzt nicht die Kritik und Dekonstruktion der Menschenrechte replizieren, die in den vergangenen Jahren die historische Debatte geprägt hat. Doch Menschenrechte mögen vor Menschenrechtsverletzungen schützen, sie helfen indes weniger, um Menschen vor Armut zu bewahren, und sie ermöglichten es den postkommunistischen Gesellschaften nur begrenzt, an den Chancen der neuen Ordnung teilzuhaben. Der Begriff der Solidarität wurde von westlichen Beobachtern kaum aufgenommen, aber er ging auch in Ostmitteleuropa verloren, je mehr sich dort die solidarischen Bürgerbewegungen in konkurrierende Parteien zerlegten und sich neue Eliten, ein meist schmales Bürgertum sowie Unterschichten ausformten.

Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965 (amerikanische Ausgabe New York 1963).

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Nun zur Demokratisierung: das war eine zentrale Forderung der Revolution, und es gab insbesondere in der Tschechoslowakei eine demokratischrevolutionäre Praxis, an den Universitäten, in Teilen der Staatsverwaltung und in Betrieben. Wie reagierten die westlichen Liberalen auf diese östliche Version des „mehr Demokratie wagen“? Timothy Garton Ash warnte im Frühjahr und Sommer vor einer „Überdemokratisierung“.23 Diesen Standpunkt kann man aus der damaligen Zeit heraus verstehen, die Tschechoslowakei stand trotz einer relativ guten Ausgangsbasis vor massiven makroökonomischen Problemen und hatte die ersten Wahlen hinter sich, zu viele Debatten oder gar plebiszitäre Elemente hätten das Land womöglich destabilisiert. Dennoch überrascht aus heutiger Sicht die Skepsis gegenüber zu viel Demokratie und die Abkehr von Willy Brandts Leitspruch „mehr Demokratie wagen“ (was auch bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglich gewesen wäre, verfassungsrechtlich blieb es bei einer bloßen Erweiterung der alten Bundesrepublik). Ralf Dahrendorf ging noch einen Schritt weiter:24 Er zweifelte grundsätzlich, ob eine Demokratisierung sich mit der Etablierung einer Marktwirtschaft und den alternativlosen Reformen in Einklang bringen lassen und eröffnete ganz andere Szenarien. Er verwies auf die Entwicklungsdiktaturen Ostasiens, die erst den Wohlstand und dann mehr Demokratie gebracht hätten.25 In diesem Gedanken, auch wenn es sich um ein Gedankenspiel gehandelt haben mag, steckt eine zeitliche Dynamik, erst der Markt, dann die Demokratie. Dagegen thematisiert Dahrendorf kaum, dass sich das von ihm so bewunderte Wirtschaftswunder im Kontext einer stark regulierten globalen Wirtschaftsordnung ereignete. Die Kapitalmärkte sowie die Wechselkurse waren eben nicht ganz frei, sondern im System von Bretton Woods reguliert. Auch der deutsche Binnenmarkt war durch zahlreiche Regularien geprägt, unter anderem deshalb spricht man von einer sozialen Marktwirtschaft bzw. dem Ordoliberalismus. Dieses Entwicklungsszenario hätte man in den 90er Jahren nicht duplizieren können, aber es wurde in den postkommunistischen

Vgl. Timothy Garton Ash: »Apres le deluge, nous«, in: Transit. Europäische Revue  1 (1990), S. 11–34. Zu seiner Verteidigung kann man ergänzen, dass die Stabilisierung der ostmitteleuropäischen Demokratien und Volkswirtschaften im Sommer und Herbst 1990 zu Recht Priorität hatte bzw. sich die damaligen Reformdebatten darauf konzentrieren. 24 Zu Dahrendorfs Position gegenüber dem Neoliberalismus vgl. den Beitrag von Thomas Hertfelder in diesem Band. 25 Vgl. Ralf Dahrendorf: Übergänge: Politik, Wirtschaft und Freiheit, in: Transit 1 (1990), S. 35–47, vgl. hier zu Ostasien S. 36 f. Ausführlicher dazu Ralf Dahrendorf: Betrachtungen über die Revolution in Europa. In einem Brief, der an einen Herrn in Warschau gerichtet ist, Stuttgart 1990. 23

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Ländern Europas wegen der Hegemonie neoliberaler Reformkonzepte und der hohen Kosten für einen Sozialstaat nach westeuropäischem Modell auch kaum in Betracht gezogen. Wie gerade das Beispiel der ehemaligen DDR belegt, waren die postkommunistischen Ökonomien der westlichen Konkurrenz nicht gewachsen. Nun ist schwer abzustreiten, dass der freie Kapitalverkehr den neuen EU-Staaten Investitionen und andere Vorteile gebracht hat. Aber es fließen auch sehr hohe Renditen und Gewinne in den Westen zurück, in Polen machen diese derzeit mehr als fünf Prozent des BIP bzw. in etwa den Umfang der Transferleistungen der EU aus. Genau hier setzen die polnischen Populisten an. So gesehen ist der neue Illiberalismus nicht nur eine politische, sondern eine ökonomische Revolte. Unter anderen Vorzeichen kann man diese auch in Südeuropa beobachten. Ich habe seit dem Erscheinen meines genannten Buches im Herbst 2014 die Erfahrung machen müssen, dass sämtliche Schwächen der neoliberalen Ordnung, die ich damals markiert habe, sich zu Bruchstellen entwickelten und jeweils das schlechteste Szenario eintrat, das gilt für die politischen Entwicklungen in Ostmitteleuropa, den Brexit und die Wahl von Donald Trump. Erleben wir gerade einen Umschwung vom Neoliberalismus zum Illiberalismus? Ich befürchte es. Umso nötiger wäre es wieder neu zu diskutieren, was liberal heute eigentlich bedeuten kann.

Linksliberale Ikonen

Thomas herTFelder

Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Ralf Dahrendorfs soziologische Zeitdiagnostik im späten 20. Jahrhundert

1. Liberalismus und Neoliberalismus im späten 20. Jahrhundert

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er den Wandlungen des Liberalismus in den westlichen Industrienationen des späten 20. Jahrhunderts nachspürt, stößt rasch auf eine ebenso plausible wie gängige These: Was „nach dem Boom“ kam, war der „Neoliberalismus“. Vorgedacht in den zwanziger und dreißiger Jahren von einigen Wirtschaftstheoretikern der österreichischen Schule der Nationalökonomie, ausgearbeitet, systematisiert und popularisiert von den Vertretern der Chicago School und den durch sie inspirierten Denkfabriken, umgesetzt im Zeichen der stagflatorischen Krisen der 1970er Jahre durch charismatische Regierungschefs wie Ronald Reagan in den USA und Margret Thatcher in Großbritannien trat der Neoliberalismus seinen Siegeszug an, um sich alsbald nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in den 1990er und frühen 2000er Jahren ganz Europa zu unterwerfen: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent ist neoliberal.1 Gewiss, eine solche Zusammenfassung gängiger Meinungen vereinfacht grob, und sie trägt Züge der Karikatur. Doch wer wollte schon bestreiten, dass das wohlfahrtsstaatliche Arrangement jenes consensus liberalism,2 der in den Boomjahren dem Staat die Aufgabe der Steuerung ökonomischer und sozialer Entwicklung zugewiesen hatte, seit den 1970er Jahren unter Druck geraten war und sukzessive von einem neuen Ordnungsmodell abgelöst wurVgl. Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014. 2 Dass der Begriff ein unscharfes, ja problematisches Konstrukt ist, zeigt Ariane Leendertz: Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 65 (2017), S. 191–217. 1

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de? Und trug dieses Ordnungsmodell nicht die Züge eines Heilsversprechens, das den Ausweg aus der Krise in einer Politik der Deregulierung und Privatisierung, des Um- und Rückbaus traditioneller Wohlfahrtsstaatlichkeit und in der Individualisierung sozialer Risiken suchte?3 Diese These ist mit Blick auf bestimmte Akteure, auf Periodisierungsfragen, auf einzelne Dimensionen des Sozialen, auf unterschiedliche nationale Entwicklungspfade, auf die oftmals nur halbherzige Implementierung des neuen Ordnungsmodells und auf Resilienzen, Widerstände und Gegenbewegungen vielfach diskutiert worden.4 Aus der hier interessierenden Perspektive einer Geschichte der Wandlungsprozesse des Liberalismus wird eine solche Erzählung allerdings dann problematisch, wenn sie die unterschiedlichen Spielarten des Liberalismus im späten 20.  Jahrhundert  – vom Sozialen Liberalismus über den Bürgerrechtsliberalismus bis hin zur Debatte über die civil society – entweder unterschlägt oder sie in teleologischer Manier im Neoliberalismus und seiner oft unbekümmert unterstellten Hegemonie aufgehen lässt.5 Was in einer solchen Erzählung vom Liberalismus am Ende des 20. Jahrhunderts alleine bleibt, ist der Neoliberalismus. Der vorliegende Beitrag möchte dieser teleologischen Engführung widerstehen und dafür plädieren, die Differenz zwischen Liberalismus und Neoliberalismus offen zu halten.6 Er vertritt die These, dass im späten 20. Jahrhundert erstens andere Varianten des Liberalismus vom Neoliberalismus

Vgl. beispielhaft Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: VfZ 62 (2014), S. 321–348, hier S. 341–348. 4 Vgl. z. B. bereits Martin Werding: Gab es eine neoliberale Wende? Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ab Mitte der 1970er Jahre, in: VfZ 56 (2008), S. 303–321; Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe. Hayek, Friedman and the Birth of Neo-liberal Politics, Princeton 2012; Peter A. Hall / Michèle Lamont (Hg.): Social Resilience in the Neoliberal Era, Cambridge (Mass.)/New York 2013; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 5 Dazu neigen insbesondere Studien in der Tradition Foucaults. Vgl. etwa Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt 2006, S. 251 f, in Bezug auf den Rechtsstaat; andere Autoren in der Tradition Foucaults, z. B. Thomas Biebricher, Neoliberalismus, S. 132–137, zählen die Theorie und Praxis der Zivilgesellschaft, die in den neunziger und frühen 2000er Jahren vorangetrieben wurden, zur „Roll out“-Phase des Neoliberalismus. Auch Ther, Ordnung, neigt dazu, den Liberalismus im späten 20. Jahrhundert auf seine neoliberale Spielart einzuengen. 6 Vgl. hierzu und zu dem nicht eliminierbaren Minimum, das liberale Positionen kennzeichnet, Michael Freeden: Europäische Liberalismen, in: Merkur 65 (2011), S. 1028–1046. 3

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keineswegs einfach verdrängt wurden, sondern vielfach modifizert fortlebten;7 dass zweitens diese Spielarten, etwa der klassische Linksliberalismus, der (davon zu unterscheidende) Sozialliberalismus sowie die Protagonisten der Zivilgesellschaftsdebatte in mancher Hinsicht zwar ähnlich argumentierten wie die Neoliberalen, sich aber drittens gleichwohl von diesen in ihrer Zielsetzung und ideologischen Rahmung grundlegend unterschieden. Diese These möchte ich im Folgenden am Beispiel der soziologischen Zeitdiagnostik des deutsch-britischen Intellektuellen Ralf Dahrendorf entfalten. Anhand von Dahrendorfs Zeitdiagnostik lässt sich das Spannungsfeld von Liberalismus und Neoliberalismus auf einer konzeptionellen Ebene vermessen. Dabei würde es nicht schwer fallen, im Sinne des oben kritisierten Narrativs einzelne Topoi und Argumente der Dahrendorfschen Analysen umstandslos einem neoliberalen „Diskurs“ zuzuschlagen. Ein solches Verfahren wäre jedoch, so das Argument, irreführend, da sich der ideologische Rahmen von Dahrendorfs Zeitdiagnostik signifikant von dem der Neoliberalen unterscheidet, die den Versuch unternommen hatten, den klassischen politischen Liberalismus bis zur Unkenntlichkeit mit marktökonomischen Kategorien zu überschreiben.8

2. Das symbolische Kapital des Intellektuellen

Der öffentliche wie auch politische Einfluss Ralf Dahrendorfs war erheblich. Wie kein anderer deutscher Intellektueller seiner Zeit wechselte der Soziologe zwischen dem akademischen, dem publizistischen und dem politischen Feld mehrfach hin und her.9 Seine hohe Reputation als Sozialwissenschaftler,

Hierin liegt eine Pointe des Buches von Tony Judt / Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert, München 2013. 8 Vgl. hierzu vor allem Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Frankfurt 2015; Philipp Ther: Der Neoliberalismus, Version 1.0, in: Dokupedia Zeitgeschichte, http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.647.v1 [02.02.2017]. 9 Vgl. hierzu jetzt Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017; ferner zu Dahrendorf vgl. Jens Alber: Der Soziologe als Hofnarr. Zur politischen Aktualität des Denkens von Ralf Dahrendorf, in: Leviathan 38 (2010), S.  23–30; Laura Bobone: The Problem of Freedom in Contemporary German Sociology, in: Sociological Theory 3 (1985), S. 76–85; Gilbert A. Gratzel: Freiheit, Konflikt und Wandel. Bemerkungen zum LiberalismusVerständnis bei Ralf Dahrendorf, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2 (1990), S. 11–45; Matthias Hansl: Dahrendorfs Spuren. Annotationen eines liberalen Missionars, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 9 (2015), S. 105–116; Helmut Marcon / Günter Randecker (Hg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren, Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 678–699 (Teilbibliographie der Publika7

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die bereits in den späten 1960er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte, ließ ihn zeitlebens nicht nur zum gefragten Gastautor linksliberaler Leitmedien, sondern auch zum Berater einer Reihe hochrangiger Institutionen werden – angefangen von der baden-württembergischen Landesregierung unter Kurt Georg Kiesinger über die OECD bis hin zum britischen House of Lords, für das er in maßgeblichen Ausschüssen mitwirkte.10 Franziska Meifort hat die Faktoren, die Dahrendorfs exzeptionelles Profil als Intellektueller der Bundesrepublik begründen, eindringlich herausgearbeitet: Sein frühes Renommee als Shooting Star der deutschen Nachkriegssoziologie, seine vielfachen Wechsel zwischen akademischem, publizistischem und politischem Feld im Sinne einer „eskalatorischen Strategie der Einflussnahme“, seine damit zusammenhängende mediale Omnipräsenz, seine außergewöhnlich gute internationale Vernetzung.11 Seit seiner Berufung auf den Direktorenposten der London School of Economics and Political Science 1974 gründete Dahrendorfs Einfluss auf dem gleich dreifachen symbolischen Kapital des deutschen Professors, des Direktor einer traditionsreichen Hochschule mit internationaler Ausstrahlung und schließlich vor allem des Propheten im Exil, der als Angehöriger der britischen Elite den Deutschen Deutschland und als deutscher Intellektueller den Briten England erklärte. Den globalen Eliten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, so das Urteil seines früheren Assistenten Jens Alber, ist wohl kaum ein deutscher Sozialwissenschaftler so nahe gekommen wie er.12 Hinzu kommt schließlich jenes „Alleinstellungsmerk-

tionen Dahrendorfs); Jens Hacke: Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers. Ralf Dahrendorf und die FDP, in: Thomas Kroll / Tilman Reitz (Hg.): Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, S. 123–137; Gangolf Hübinger: Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Zwei Varianten der europäischen Aufklärung, jetzt in: Ders.: Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, Göttingen 2016, S. 215–232; Jürgen Kocka: Ralf Dahrendorf in historischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S.  346– 352; Franziska Meifort: Der Nachlass Ralf Dahrendorfs im Bundesarchiv. Vermächtnis eines öffentlichen Intellektuellen, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 27 (2015), S. 301–314; Dies.: Der Wunsch nach Wirkung. Ralf Dahrendorf als intellektueller Grenzgänger zwischen Bundesrepublik und Großbritannien 1964–1984, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 196–216; ferner die Beiträge in Hansgert Peisert / Wolfgang Zapf (Hg.): Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift für Ralf Dahrendorf, Stuttgart 1994. 10 Vgl. hierzu Meifort, Dahrendorf, S. 141–145 sowie 263–270. 11 Meifort, Dahrendorf, Zit. S. 306. 12 Jens Alber: In memoriam Ralf Dahrendorf (1.5.1929–17.6.2009) – ein persönlicher Rückblick, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 4 (2009), S. 465–475, hier S. 468; kritisch zu dem daraus erwachsenen Habitus Jens Hacke: Rezension zu Ralf Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, Mün-

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mal“ (Jens Hacke), auf das es im vorliegenden Zusammenhang besonders ankommt: Dahrendorf war der einzige bedeutende Intellektuelle der Bundesrepublik, der sich offensiv (d. h. nicht erst auf Nachfrage) und exklusiv (d. h. ohne relativierenden Bindestrich) zum politischen Liberalismus bekannte. In einer posttotalitären Gesellschaft, die um kaum etwas anderes so mühsam gerungen hat wie um ihre Liberalität, war dies von besonderem Gewicht. Dahrendorfs Einfluss auf die Politik der liberalen Parteien in der Bundesrepublik und in Großbritannien lässt sich schwer ermessen. Sein politisches Intermezzo an der Wende der sechziger zu den siebziger Jahren ist vielfach beschrieben und oft als Scheitern bezeichnet worden.13 Nach seinem überraschenden Eintritt in die FDP im Oktober 1967 avancierte Dahrendorf rasch zum Stichwortgeber, Programmatiker und intellektuellen Aushängeschild der Partei, an deren Linksruck er in den folgenden Jahren als Wahlredner, als Parlamentarier, als Mitglied des Bundesvorstands und für wenige Monate auch als Parlamentarischer Staatssekretär im ersten Kabinett Brandt/Scheel maßgeblich mitwirkte. Dahrendorfs Wechsel nach Brüssel als EG-Kommissar und schließlich 1974 auf den Direktorenposten der LSE hatte zwar seine Anhänger insbesondere in den Reihen der Parteijugend enttäuscht, führte jedoch eher zu einer Entspannung seines Verhältnisses zur Parteiführung, die ihn weiterhin gerne als Redner einlud und 1982 kurzzeitig sogar als Nachfolger Hans-Dietrich Genschers in Erwägung zog. Obwohl Dahrendorf den Koalitionswechsel seiner Partei 1982 begrüßte, betätigte er sich in den folgenden Jahren gerne als deren öffentlicher Kritiker, bis er im Frühjahr 1988 aus ihr austrat. Bereits während der 1980er Jahre beriet Dahrendorf die britischen Liberal Democrats, deren Vorsitzender Paddy Ashdown 1993 seine Erhebung zum Life peer im House of Lords initiierte. Wiewohl er im House of Lords zunächst der Fraktion der Liberal Democrats angehörte, wurde er nie Mitglied jener jungen Partei, die 1988 aus einer Fusion der Liberals mit den Social Democrats hervorgegangen war. Seinen politischen Einfluss in Großbritannien entfaltete er vor allem als Mitglied und Vorsitzender einer Reihe von Ausschüssen des Oberhauses sowie über persönliche Beziehungen zum politischen Establishment nicht nur der Liberaldemokraten.14

chen 2004, in: H-Soz-Kult 11.10.2004, URL: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-4063 [01.06.2017]. 13 Z. B. Arnulf Bahring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 293–295; Matthias Micus: Ralf Dahrendorf. Scheitern eines Experiments, in: Robert Lorenz  / Matthias Micus (Hg.): Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren, Wiesbaden 2009, S. 31–60; Hacke, Scheitern; dagegen F. Meifort, Dahrendorf, S. 197–199. 14 Zu Dahrendorf auf dem politischen Parkett vgl. jetzt vor allem Meifort, Dahrendorf, S. 247–300.

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In immer neuen Anläufen hat Dahrendorf den Versuch unternommen, einen den jeweiligen Zeitläuften adäquaten, „neuen“ Liberalismus zu formulieren, der die Verteidigung der offenen Gesellschaft und der individuellen Freiheit im Rahmen der repräsentativen Demokratie und des rule of law auf seine Fahnen schrieb; als soziologischer Konflikttheoretiker wurde er nicht müde, an der deutschen Gesellschaft deren seiner Meinung nach fatale Neigung zum Konsens, die er etwa in großen Koalitionen, korporatistischen Strukturen und bürokratischen Prozeduren ausmachte, zu kritisieren. Dabei lässt sich Dahrendorfs Position als Liberaler auf keinen einfachen Nenner bringen. Methodologisch durchgehend dem Kritischen Rationalismus seines Lehrers Karl Popper verpflichtet, verband Dahrendorfs Liberalismus in je eigentümlichen Mischungen libertäre mit sozialliberalen, kontraktualistische mit klassisch republikanischen Ansätzen. Dahrendorfs Zeitdiagnostik, die sich in einer schier unglaublichen Zahl an Büchern, Aufsätzen, Rundfunkund Fernsehauftritten sowie Konferenzbeiträgen niederschlug, zeichnete sich zudem und vor allem durch eine eminent normative Grundierung aus, die dem Orientierungsbedürfnis einer ohnehin deutungshungrigen Öffentlichkeit entgegenkam. Bereits in den frühen 1970er Jahren hatte sich Dahrendorf von der akademischen Soziologie und ihren Debatten weitgehend verabschiedet  – in dem sicheren Wissen, dass sein hohes Renommee als Sozialwissenschaftler seinen Wortmeldungen weiterhin Gewicht verleihen würde. Seine öffentlichen Stellungnahmen operierten folglich mit einem für ihn charakteristischen, zweifachen System von Verweisen. Mit dem einen System verortete er sich weiterhin in einer internationalen Elite von Sozialwissenschaftlern, die er zum großen Teil persönlich kannte und in seinen Publikationen neben den Klassikern seines Faches von Karl Marx bis Jürgen Habermas auf oftmals eher vage Weise aufrief. Mit dem anderen System bezog er seine Analysen auf aktuelle politische, ökonomische oder soziale Entwicklungen der Zeit, die er mit eigenen Beobachtungen und Impressionen unterfütterte, um sie sodann in lockerer Manier entlang gängiger oder von ihm neu vorgeschlagener Kategorien der Sozialstrukturanalyse einzuordnen. Mit einem Minimum an Fachjargon wandte er sich in geschmeidig-eleganter Diktion eher an ein politisch waches Publikum einschließlich der politischen Entscheidungsträger als an die academic community. Indem er seine Positionen in griffige Formeln und Narrative – „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965), die These vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (1982), vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (1983) oder zuletzt die vom „Pumpkapitalismus“ (2009) – zu gießen wusste, gerieten einige seiner Thesen zu jederzeit abrufbaren Topoi der öffentlichen

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Debatte;15 zudem bediente sich Dahrendorf bewährter semantischer Strategien, etwa der Krisensemantik oder der Dichotomie von „alt“ und „neu“, um die Evidenz seiner Deutungen zu stützen.16 Auch aus diesen Gründen scheint es geboten, seine Publizistik dem ebenso traditions- wie einflussreichen Genre der soziologischen Zeitdiagnostik zuzuordnen.17

3. Die These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“

„Die Kräfte der aufgeklärten Rationalität scheinen sich gegen ihre besten Zwecke zu wenden. Die Gerechtigkeit der sozialen Institution wird […] bedroht durch die unkontrollierbare Macht von Organisationen, Unternehmen und Bürokratien, durch entmutigende Gleichheit und ohnmächtige Teilhabe. Auch die Kräfte mündigen Staatsbürgertums scheinen sich gegen ihre besten Zwecke zu richten“.18 Diese Sätze stammen nicht von Max Horkheimer, sie bilden vielmehr die Kernthese der von der BBC übertragenen Reith-Lectures, die Dahrendorf 1974 als frisch berufener Direktor der London School of Economics vor einem britischem Millionenpublikum gehalten hat. Aus der Herausforderung der schockartigen Verwerfungen der Weltwirtschaft und dem Einbrechen des ökonomischen Wachstums zog Dahrendorf zwei Folgerungen. Zum einen entwickelte er im Licht der Berichte des Club of Rome die Vision einer „Meliorationsgesellschaft“, in der Lebensqualität statt des bloßen more of the same in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Entwicklung treten sollte. So kritisierte der LSE-Direktor einen „unsinnig starren Begriff der Vollbeschäftigung“ sowie unter Rekurs auf Karl Marx und Friedrich Engels die „Versteinerung einer verfehlten Arbeitsteilung“. Notwendig seien stattdes-

So wird z. B. berichtet, dass Angela Merkel auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in den USA auf dem Höhepunkt der Bankenkrise im Juni 2009 Dahrendorfs Aufsatz über den Pumpkapitalismus (Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? Sechs Anmerkungen, in: Merkur 5 (2009), S.  373–381) aus der Tasche gezogen und vor verblüfften Journalisten daraus referiert habe, vgl. Nikolaus Blome: Angela Merkel – die Zauderkünstlerin, München 2013, S. 24. 16 Vgl. z. B. Ralf Dahrendorf: Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, Frankfurt 1980; Ders.: Fragmente eines neuen Liberalismus, Stuttgart 1987; Ders.: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, München 2003; Ders.: Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983. 17 Vgl. Armin Steil: Krisensemantik. Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem Topos moderner Zeiterfahrung, Opladen 1993, sowie jetzt Oliver Dimbath: Soziologische Zeitdiagnosen. Generation – Gesellschaft – Prozess, Konstanz/München 2016. 18 Dahrendorf, Freiheit, S. 87. 15

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sen die „Schleifung der Wälle zwischen Bildung, Arbeit und Freizeit“ sowie eine „Ökonomie des Haushaltens“, in der gegenüber blinder ökonomischer Expansion der Primat demokratisch legitimierter Politik herrschen soll.19 Die Bürger sollten „neben ihrem ersten Beruf noch einen zweiten haben“, allerdings nicht etwa deshalb, um der Armutsfalle eines noch nicht existierenden Niedriglohnsektors zu entkommen, sondern um im Sinne des frühen Marx die Logik arbeitsteiliger Entfremdung zu überwinden: „Warum nicht morgens jagen, nachmittags fischen oder, in weniger ländlichen Beispielen, morgens Steuern einziehen und nachmittags einigen Steuerzahlern die Autos reparieren, morgens Fernsehapparate montieren und mittags ein Technikum besuchen?“20 Bereits hier klingt jener Abgesang auf die fordistische Arbeitsgesellschaft an, den Dahrendorf 18 Jahre später auf dem Bamberger Soziologentag anstimmen sollte. Die zweite Folgerung, die der Soziologe aus der ökonomischen Misere der Stagflation zieht, ist ebenso weitreichend: Der weit ausgebaute, korporativ verfasste Wohlfahrtsstaat, dessen eigentlicher Zweck der mündige Bürger war, habe sich in neues Gehäuse der Hörigkeit verwandelt, das von organisierten Vetospielern und einer übermächtigen „Dienstklasse“ aus Bürokraten beherrscht werde.21 Für dieses System fand Dahrendorf wenige Jahre später einen Namen: Der sozialdemokratische Konsensus, der mit dem „wohlwollenden Staat“ eine Versteinerung der Verhältnisse hervorgebracht habe.22 Nicht ohne Ironie skizziert Dahrendorf die Elemente des sozialdemokratischen Konsensus als „Marktwirtschaft mit etwas Globalsteuerung und sanfter Einkommenspolitik, Wohlfahrtsstaat mit etwas Selbstbeteiligung und einem Bereich privater Vorsorge, politische Teilhabe am Geschäft des ‚wohlwollenden Staates‘“ sowie eine „durchweg vernünftige Einstellung zu allen Fragen.“23 Was ist gegen ein solches System einzuwenden? Dahrendorfs Kritik am Sozialdemokratischen Konsensus, die er erstmals in seinem Buch „Lebenschancen“ (1979) entwickelt hat, lässt sich in drei Argumenten zusammenfassen. Das normative Argument besagt, dass der konsensuale Wohlfahrtsstaat

Ebd., S. 51, 94, 103. Dahrendorf, Freiheit, S. 96 f. 21 Ebd., S.  38–42 sowie 52–56; statt von „Korporatismus“ spricht Dahrendorf von „Proporzpluralismus“, vgl. ders., Chancen, S. 49–51. 22 Vgl. Ralf Dahrendorf: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt am Main 1979, Kap. 5; Ders., Chancen, S.  16–25 („Am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“); Ders.: Das Elend der Sozialdemokratie, in: Merkur 41 (1987), S. 1021–1038. 23 Ralf Dahrendorf: Der Liberalismus und Europa. Fragen von Vincenzo Ferrari, München 1980 [1979], S. 8. 19 20

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nicht mehr der Erweiterung der Lebenschancen dient, weil er die Akteure des Sozialstaats in Bürokratie ertrinken lasse und Anspruchsberechtigte demütigenden Erfahrungen aussetze.24 Das sozialökonomische Argument sieht im wohlfahrtsstaatlichen Regime eine sozialprotektionistische Verteilungskoalition am Werk, in der sich die einstigen Antagonisten Kapital und Arbeit verbündet haben, um ihre Besitzstände und mithin die Aufrechterhaltung des Status Quo auf Kosten Dritter erfolgreich zu zementieren. So produziere der Konsensus systematisch den Ausschluss ganzer Gruppen, etwa der Arbeitslosen, der Minderheiten oder der Drogenabhängigen, die nicht in der Lage sind, ihr Interesse kollektiv zur Geltung zu bringen.25 Das dritte, schon in den Reith-Lectures entwickelte demokratietheoretische Argument sieht nichts Geringeres als die demokratische Legitimität in Gefahr: Mächtige Bürokratien würden sich zwischen die Bürger und ihre gewählten Repräsentanten schieben, um zuerst beide voneinander zu trennen und sie dann gemeinsam zu entmachten. Das Ergebnis: „Führung ohne Relevanz“ und ein „neuer Autoritarismus im Gewand der Demokratie.“26 Dahrendorf hat seine mit Ironie und Polemik gespickte Kritik am sozialdemokratischen Konsensus über zwei Jahrzehnte hin in vielfachen Varianten vorgetragen und dabei auf Deutungsmuster zurückgegriffen, die sich im Rückblick ohne weiteres als „neoliberal“ bezeichnen ließen: • Da ist zum einen jene fundamentale Staatsskepsis, mit der Dahrendorf im Licht der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht nur dem sozialdemokratischen Verständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern auch der spezifisch etatistischen Spur des deutschen Liberalismus begegnet: Seine These, allen staatlichen Instanzen wohne „ein Hang zur Totalität inne“, hätte Friedrich August von Hayek jederzeit unterschrieben.27 In seinem Antietatismus nahm Dahrendorf Helmut Kohls Wenderhetorik eine Spur zu genau beim Wort, als er eine mögliche Bedeutung des Koali-

Prägnant in: Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, München 1994 [1992], S. 196 f; vgl. auch Ders.: The Future Task of Liberalism – a political agenda [1988], hg. v. Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin 2011, S. 15: „Corporatism strengthens bureaucracy and weakens liberty.“ 25 Vgl. Dahrendorf, Fragmente, S. 57–78; diese Deutung findet sich auch bei Jürgen Habermas: Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt 1990, S. 200 f, sowie in ganz anderer, nämlich ordoliberaler Akzentuierung beim damaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf, vgl. Lars Tschirschwitz: Kampf um Konsens. Intellektuelle in den Volksparteien der Bundesrepublik, Bonn 2017, S. 120. 26 Dahrendorf, Freiheit, S. 54 f; Ders., Neue Freiheit, S. 64. 27 Dahrendorf, Konflikt, S. 72. 24

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tionswechsels von 1982 darin vermutete, „dass er das Ende des staatlichen Monopolanspruchs auf Lösung sozialer Probleme markiert.“28 Seine Staatsskepsis konkretisierte Dahrendorf in seiner Kritik des Sozialstaats. In mehreren Varianten trug er in den 1980er Jahren seine  – damals bereits von dem SPD-Theoretiker Johano Strasser entwickelte und später von Sozialstaatshistorikern erneuerte – These vor, dass der Sozialstaat nicht nur Probleme löse, sondern vor allem auch neue Probleme erzeuge:29 Seine unbegrenzte Ausgabendynamik, sein subsumierender Zugriff auf individuelle Problemlagen, die mit ihm einhergehende „beängstigende Bürokratisierung des modernen Lebens“.30 Als Konsequenz fordert der Soziologe eine Verlagerung der Problemlösungen vom Staat weg in die Gesellschaft hinein, die als „Sozialgesellschaft“ eine Solidarität entfaltet, „die nicht verordnet wird und die gerade deshalb im Einzelfall wirksamer ist als jede staatliche Regelung“.31 Eine Konkretisierung dieser vagen Idee, die in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren auch von anderen diskutiert wurde,32 blieb Dahrendorf schuldig. Mit Argumenten des klassischen Liberalismus zieht der Soziologe bereits in den Reith-Lectures (1974) gegen einen „falschen Egalitarismus“ zu Felde, der nicht mehr die Gleichheit der Chancen, sondern die etwa durch Proporz- oder Umverteilungspolitik erstrebte Gleichheit der Ergebnisse meine. Der Egalitarismus schaffe damit nicht nur neue, weniger sichtbare Ungleichheiten, sondern zerstöre auch eine wichtige Triebfeder gesellschaftlichen Wandels.33 In der Optik des Konflikttheoretikers öffnen soziale Ungleichheiten auf der Basis gleicher Bürgerrechte überhaupt erst den Raum für ungleiche Wahlentscheidungen auf Grundlage gleicher Wahlmöglichkeiten, für individuelle (Aufstiegs-)Hoffnungen sowie vor allem für den sozialen Konflikt, den Dahrendorf als Motor gesellschaftlicher Veränderung bestimmt. Mit Blick auf das letzte Drittel des 20. Jahr-

Dahrendorf, Chancen, S. 66. Vgl. Johano Strasser: Grenzen des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der Wachstumskrise, Frankfurt/Köln 1979; Hans-Günther Hockerts: Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3–29; Dahrendorf: Law and Order. The Hamlyn Lectures, London 1985, S. 94. 30 Dahrendorf, Chancen, S. 103–111; Ders., Fragmente, S. 140, 142. 31 Dahrendorf, Chancen, S. 106. 32 Vgl. Franz Xaver Kaufmann: Der Begriff Sozialpolitik und seine wissenschaftliche Deutung, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 1: Grundlagen der Sozialpolitik, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialforschung und Bundesarchiv, Baden-Baden 2001, S. 3–101, hier S. 91 f. 33 Dahrendorf, Neue Freiheit, S. 55–67; Ders.: Liberalismus heute – wofür und wogegen?, in: Merkur 29 (1975), S. 795–802, hier S. 798. 28 29

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hunderts formulierte Dahrendorf 1979 programmatisch: „In der säkularen Dialektik von Freiheit und Gleichheit ist die Stunde der Freiheit, nämlich die ihrer Bedrohung durch falschen Egalitarismus, gekommen. Die Allianz von Liberalismus und Sozialismus hat insoweit ihren Sinn erschöpft.“34 Mit Dahrendorfs Staatsskepsis korrespondiert seine zunehmend schärfer werdende Kritik neokorporativer Strukturen, die für ihn – zunächst mit Blick auf Großbritannien – zu Beginn der 1970er Jahre jenes kritische Stadium erreicht haben, „in dem die legitime Regierung nahezu paralysiert werden kann durch ein Chaos von sich überlagernden Pressionen durch ‚autonome Gruppen‘.“35 Kaum eine Metapher und kaum ein Weber-Zitat scheint ihm stark genug, um diese dunkle Seite der Modernisierung in ein dramatisches Licht zu rücken.36 Ist die offene Gesellschaft erst einmal von mächtigen „Dienstklassen“, Verbänden und Großorganisationen durchherrscht, droht die „Versteinerung der Wirklichkeit“ und mithin die Unfähigkeit, neuen Herausforderungen auf dem Weg von Reformen adäquat zu begegnen.37 Dies aber betrifft, so Dahrendorf, die klassische Partei der Reform, die Sozialdemokratie in besonderer Weise, da ihre soziologisch heterogene Klientel – zum einen die längst von Abstiegsängsten gebeutelte Arbeiterschaft, zum andern die bereits auf Schutz ihrer Privilegien bedachten „Dienstklassen“ – gleichermaßen an der Zementierung der Verhältnisse interessiert seien. In seinem furiosen programmatischen Aufsatz „Das Elend der Sozialdemokratie“ bringt Dahrendorf diese Seite seiner Diagnose 1987 wie folgt auf den Punkt: „Der Geist der frühen Arbeiterbewegung ist geronnen, die Reformkraft erlahmt. Es bleibt ein überwältigendes protektionistisches Interesse, also ein Interesse am Status Quo.“38

Auf den ersten Blick liest sich Dahrendorfs These wie ein Kapitel aus dem Lehrbuch des Ordoliberalismus, der gerade in den 1970er und 1980er Jahren

Dahrendorf, Lebenschancen, S. 167–193, Zit. S. 140. Dahrendorf, neue Freiheit, S. 42. 36 So spricht Dahrendorf in diesem Zusammenhang etwa von einer „neuen Welle des Illiberalismus“, von „neuer Hörigkeit“, von „neuem Feudalismus“, „Sklerose“ sowie der „Versteinerung“ oder „Verharzung“ des Gemeinwesens, vgl. Dahrendorf, Neue Freiheit, S. 45, 48; Ders., Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt 1979, S. 141. 37 Dahrendorf, Neue Freiheit, S. 62; Ders.: Die Arbeitsgesellschaft in der Krise, in: liberal. Debatten zur Freiheit 28 (1986), S. 59–64, hier S. 59: „Ein Kartell von Interessengruppen hat den Kuchen immer schon verteilt, bevor er gebacken ist; Neues entsteht so nicht.“ 38 Ralf Dahrendorf: Das Elend der Sozialdemokratie, in: Merkur 41 (1987), S. 1021–1038, hier S. 1033. 34 35

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seine traditionell scharfe Kritik am „Verbändestaat“ erneuert hat.39 Doch im Unterschied zu den meisten Ordo- und Neoliberalen ging es Dahrendorf weder um ökonomischen Wettbewerb und Produktivität, noch um einen starken Staat, sondern um die herrschaftssoziologische Frage, wie gesellschaftlicher Wandel demokratisch gestaltetet werden kann, und zwar gegen den Widerstand organisierter Interessen. Aus einigem Abstand erinnert Dahrendorfs These zudem an prominente Krisendiagnosen jener Zeit, etwa an Jürgen Habermas’ Analyse der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973), an die besonders von Wilhelm Hennis vorgetragene Unregierbarkeitsthese (1977/79), an Mancur Olsons Theorie der Herausbildung innovationsfeindlicher Verteilungskoalitionen (1982) sowie an Peter Glotz’ These von der Zweidrittelgesellschaft (1984).40 Gegenüber diesen Positionen liegt Dahrendorfs Pointe darin, dass er seine These historisch als Ausfaltung des spezifisch modernen Widerspruchs zwischen Freiheit und Gleichheit begreift, sie normativ auf den Leitwert der Freiheit bzw. der „Lebenschancen“ bezieht, semantisch an eine politische Partei, nämlich die Sozialdemokratie, adressiert und durch dieses provokante Labelling beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit generiert hat41 – auch wenn er gerne betonte, seine These meine keineswegs nur eine Partei. Mit seiner These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts exponierte sich Dahrendorf als scharfer Kritiker jenes keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Regimes, das Hobsbawms „Golden Age“ aus heutiger Sicht

Vgl. hierzu die Beiträge in Otmar Issing (Hg.): Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981; die Kritik am Verbändestaat hat in den 1970er und 1980er Jahren besonders prominent der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf vorgetragen, vgl. hierzu jetzt Tschirschwitz, Kampf, S. 51–57 sowie 118–145. 40 Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973; Wilhelm Hennis / Peter Graf Kielmansegg / Ulrich Matz (Hg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, 2 Bde., Stuttgart 1977/1979; Mancur Olson: The Rise and Decline of Nations, New Haven/London 1982; Peter Glotz: Die Arbeit der Zuspitzung. Über die Organisation einer regierungsfähigen Linken, Berlin 1984. Vor allem auf Olson, dessen Diagnose, nicht aber Therapie er teilte, hat sich Dahrendorf immer wieder bezogen. Zu den bundesdeutschen Krisendiagnosen der 70er Jahre vgl. Jens Hacke: Der Staat in Gefahr. Die Bundesrepublik der 1970er Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit, in: Dominik Geppert / Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 188–206. 41 So sieht Helga Grebing in Dahrendorfs These einen „Evergreen“, der seit seiner Erfindung (die Grebing irrtümlich auf 1987 datiert) „durch die intellektuellen Diskurse geistert“, vgl. Helga Grebing: Ideengeschichte des Sozialismus Teil 2, in: Dies. (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Ethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 22005, S. 335–598, hier S. 552. 39

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vor allem auszeichnet.42 Dabei legt er gegenüber dem wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskonsens ein eigentümliches double bind an den Tag, wenn er 1979 aller Kritik zum Trotz wiederholt beteuert, der sozialdemokratische Konsens sei einstweilen „das Beste, was wir haben“; oder 1987: „noch in ihrem Elend“ sei die Sozialdemokratie „eine Garantie anständiger Politik in einer zivilisierten Gesellschaft“, doch sei deren Zeit mit dem Ende der Boomperiode eben abgelaufen.43 Auf der Suche nach Kräften, die den Konsensus aufzubrechen vermögen, setzt Dahrendorf 1974 in sehr vagen Formulierungen auf den „Aufstand des Individuums“ und eine kritische Öffentlichkeit, die sich gegen den „Autoritarismus“ der Organisationen auflehnt,44 später auf die Zurückdrängung des Staates und vor allem die Stärkung der sich formierenden Zivilgesellschaft.45 Er beschwört dabei zwar auch die Kreativität des Unternehmertums, setzt jedoch nicht auf ökonomische Standort-Rhetorik und ein kapitalistisches rat race entfesselter Marktkräfte.46 Dass mehr ökonomisches Wachstum die Probleme der Sozialstruktur, insbesondere deren „Sklerose“, nicht zu lösen vermag, erweist sich als eine Konstante seiner Kritik am sozialdemokratischen Konsensus,47 die er wenige Jahre später ebenso gegen die entsprechenden neoliberalen Wachstumsphantasien wenden wird. In seiner Analyse stehen vielmehr – dies unterscheidet ihn von neoliberalen Positionen – stets politische Kategorien im Vordergrund: Noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre lauten sie Demokratisierung, Dezentralisierung, Mitbestimmung und akzentuieren den Primat der Politik;48 hinzu tritt immer deutlicher die Forde-

Eric Hobsbawm: The Age of Extreme. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994, Part Two: The Golden Age (S. 225–402); vgl. aus wirtschaftshistorischer Sicht Ivan T. Berend: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 157–197. 43 Ralf Dahrendorf: „Englands Anarchie und Solidarität“, Der Spiegel Nr. 20 (1979), S. 175; Ders., Elend, S. 1038. 44 Dahrendorf, neue Freiheit, S. 43 f. 45 Zur „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik vgl. den Beitrag von Thomas Handschuhmacher in diesem Band. 46 Vgl. Dahrendorf, Lebenschancen, S. 138; Ders., Fragmente, S. 239, in Abgrenzung zu den „neoliberalen Gralssuchern“; zur Standort-Rhetorik vgl. Wencke Meteling: Internationale Konkurrenz als nationale Bedrohung. Zur politischen Maxime der „Standortsicherung“ in den neunziger Jahren, in: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt/New York 2014, S. 289–316. 47 Vgl. z. B. Ralf Dahrendorf: Die Arbeitsgesellschaft in der Krise, in: Liberal. Debatten zur Freiheit 28 (1986), S. 50–64, hier S. 59 f: Das Wachstum würde die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht beseitigen, sondern würde zudem „auf Pump“ erkauft. 48 Dahrendorf, Liberalismus heute, S. 795–802, hier S. 797; Ders., Lebenschancen, S. 138 f. 42

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rung nach Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sein Interesse zeitweise auch auf die sozialen Experimente des alternativen Milieus lenken.49 Überhaupt treibt der Direktor der LSE bei der Formulierung seiner Vision einer „Meliorationsgesellschaft“, die die strukturell versteinerte Expansionsgesellschaft ablösen soll, ein sehr eigentümliches Gedankenspiel mit Formulierungen des jungen Marx und der Idee von der „Einheit des menschlichen Lebens“, das über die charakteristischen Trennungen, die die fordistische Arbeitsgesellschaft erzwingt, hinausweist und im Rückblick nicht zuletzt an die Ganzheitsutopien der sich formierenden Alternativmilieus erinnert.50 Dieser Flirt mit der Utopie, der an die in Dahrendorfs Frühschrift „Homo Sociologicus“ entwickelte Entfremdungskritik anknüpft,51 findet jedoch mit den sozialen Verwerfungen der 1980er und 1990er Jahre ein rasches Ende und lenkt das Interesse des Soziologen auf die neuen Problemlagen zunächst einer sich vermeintlich auflösenden Arbeitsgesellschaft, sodann der „Revolution von 1989“ sowie schließlich der Globalisierung und der durch sie bedingten Probleme.

4. Optionen und Ligaturen: Dahrendorfs Anläufe zu einer Gesellschaftstheorie

Seinem ambivalenten Urteil über den sozialdemokratischen Konsensus entsprechen Dahrendorfs Prognosen und Empfehlungen, zu deren Einordnung ein genauerer Blick auf einige Kategorien seiner Gesellschaftsanalyse nötig ist. Denn einerseits bläst Dahrendorf – wohl auch unter dem Eindruck eines vierjährigen Aufenthalts in Deutschland52 – zum „Kampf gegen alle Privilegien des Öffentlichen Dienstes“; er singt dazu das hohe Lied des Unternehmertums im Sinne Schumpeters und warnt zugleich vor makroökonomischen Dahrendorf, Lebenschancen, S. 156 f; Ders.: Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Joachim Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt/New York 1983, S. 25–37, hier S. 35; zu den Grünen: Ders., Liberalismus und Europa, S. 91. 50 Dahrendorf, Freiheit, S. 94–97. 51 Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln/Opladen 1958. Insofern wäre Jens Hackes Urteil, dass diese Frühschrift Dahrendorfs auf seine späteren Analysen keinen Einfluss gehabt hätte, zu überprüfen, Jens Hacke: „Mehr Demokratie wagen“. Karriere einer Zauberformel, in: Mittelweg 36/3 (2016), S. 5–28, hier S. 11. 52 Dahrendorf war von 1984 bis 1988 auf seinen Konstanzer Lehrstuhl zurückgekehrt, vgl. Meifort, Dahrendorf, S. 242–246; dazu Dahrendorf: Im Land der sanften Bürokraten. Wo die Vorschriften starr sind und die Beamten kichern, in: Die Zeit, 14.12.1984. 49

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Illusionen sowie vor einem Rückfall in jene alte Politik der Großplanung, an der er in den 1960er Jahren selbst mitgewirkt hatte.53 Im Prinzip stünden die Chancen für die Freiheit so schlecht nicht, da sich die Vielfalt der materiellen und immateriellen Güter und damit die der Optionen des Einzelnen in den 1980er Jahren beträchtlich erweitert habe. Die 1980er Jahre stellen sich für Dahrendorf 1987 daher als ein „Jahrzehnt der Angebotsseite menschlicher Lebenschancen“54 dar. Dieser Seite der Diagnose hätte vermutlich jeder neoliberale Ökonom zugestimmt. Zur selben Zeit gewinnt in Dahrendorfs Analyse jedoch andererseits eine Kategorie an Gewicht, die sich dem damals vorherrschenden ökonomischen Diskurs der Zeit entzieht: Da eine zunehmende Zahl an Bürgern an dieser erweiterten Angebotswelt nicht teilhaben könne, stelle sich mit Dringlichkeit eine neue soziale Frage, und zwar als Frage von „Anrechten“55. In solchen Formulierungen greift Dahrendorf auf seine 1979 noch als Direktor der LSE entwickelte, in den späten 1980er Jahren modifizierte Theorie der „Lebenschancen“ zurück. 1979 hatte Dahrendorf die Kategorie der Lebenschancen bestimmt als eine Funktion aus Wahlmöglichkeiten („Optionen“) und Bindungen („Ligaturen“). Optionen sind die in soziale Strukturen eingelagerten möglichen Handlungsalternativen des Individuums; in ihrer Ausweitung sieht Dahrendorf ein wesentliches Indiz für die Fortschritte der Modernität.56 Unter Ligaturen versteht Dahrendorf soziale Bezüge und Bindungen, die dem individuellen Wählen und Handeln Sinn verleihen: „Optionen sind leere Wahlchancen, wenn die Koordinaten fehlen, die ihnen Sinn geben. Die Koordinaten aber bestehen aus tiefen Bindungen, die ich Ligaturen nenne.“57 Das zentrale Problem einer weberianisch gedeuteten Moderne sieht Dahrendorf darin, dass Ligaturen sich im Kontext der modernen Gesellschaft nicht ohne weiteres stiften lassen und mithin auch für ihn Sinn zu einer knappen Ressource geworden ist.58 Unter dem Eindruck der Arbeiten Amartya Sens,59 wohl aber auch im Licht der britischen Erfahrungen der

Dahrendorf, Elend, S.  1035–1037; vgl. auch ders., Chancen, S.  83: „Wirtschaftspolitik muss heute eine pragmatische Mischung von Methoden sein, oder sie wird zu einer Quelle der Enttäuschung […] Lassen wir die großen Vorkabeln und mehr noch die großen Programme.“ 54 Dahrendorf, Elend, S. 1036. 55 Ebd., S. 1036. 56 Vgl. Ralf Dahrendorf: Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung. Eine notwendige Abgrenzung, in: Habermas, Stichworte, Bd. 1, S. 213–228, hier S. 224. 57 Dahrendorf, Chancen, 125 f. 58 Vgl. die klassische Formulierung bei Habermas, Legitimationsprobleme, S. 104. 59 Amartya Sen: Poverty and Famines, Oxford 1981; Ders.: Food, Economics and Entitlements, Helsinki 1986 (Working Paper Nr.1 des World Institute for Development Eco53

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Thatcher-Jahre, erweiterte Dahrendorf Ende der 1980er Jahre sein Modell der „Lebenschancen“ um ein zentrales Argument, indem er den Begriff der „Optionen“ nun präziser fasst und in zwei Unterkategorien differenziert: Optionen sind spezifische Kombinationen von Anrechten und Angeboten. „Menschen brauchen Zugang zu Märkten, politischen Entscheidungsprozessen und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten […]. Keine Gesellschaft, die nicht beides besitzt, kann ernstlich zivilisiert genannt werden.“60 Unter Berufung auf Thomas Humphrey Marshall, seinen soziologischen Doktorvater an der LSE, beharrt Dahrendorf darauf, dass Anrechte – entitlements – als Ausdruck von citizenship unbedingt, unveräußerbar und unverhandelbar und damit jenseits aller Marktprozesse angesiedelt seien.61 Mit der politischen Kategorie der Anrechte, die sich sowohl auf materielle (z. B. eine soziale Grundabsicherung) wie auf immaterielle Güter (z. B. das Recht auf Bildung und Teilhabe) beziehen, gewinnt Dahrendorf ein spezifisch liberales Instrument der Kritik, das er in den 1970er und 1980er Jahren zunächst gegen den sozialdemokratischen Konsens und die ihm eigenen Mechanismen des Ausschlusses richtet, wenn er einmal mehr  – mit einem reichlich diffusen Begriff62 – die „Mehrheitsklasse“ für ihre sozialprotektionistische Politik des Ausschlusses geißelt.63 Die systematische Vernachlässigung der Anrechtsdimension von Lebenschancen kennzeichnet jedoch nicht nur die sozialprotektionistische Spätphase des sozialdemokratischen Konsenses, sondern bald auch dessen rasch an Bedeutung gewinnenden Widerpart, der in Gestalt des neoliberalen Ökonomismus der Ära Reagan/Thatcher die Bühne betreten und das von der Soziologie neu entdeckte Phänomen der underclass hervorgebracht hatte.64 Fortan und verstärkt in den 1990er sowie 2000er

nomics Research, February 1986), https://www.wider.unu.edu/sites/default/files/WP1.pdf [23.03.2017]. 60 Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, München 1994 [1988/1992], S. 22–45, hier S. 40. 61 Vgl. Dahrendorf, Konflikt, S. 55 f; Ders., Fragmente, S. 33 f, 132; Thomas H. Marshall: Citizenship and Social Class, in: Ders. / Tom Bottomore: Citizenship and Social Class, London/Concord 1992 [Erstpublikation 1950], S.  1–51, hier S.  40: „Rights are not a proper matter for bargaining“. Zur deutschen Übersetzung s. Ders.: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Ders.: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, hg. v. Elmar Rieger, Frankfurt/New York 1992, S. 33–94. 62 Vgl. auch Alber, Soziologe, S. 26 f. 63 Dahrendorf, Konflikt, S. 227 f, hier S. 228. 64 Als einer ihrer (Wieder-)Entdecker gilt der von Dahrendorf zuweilen zitierte amerikanische Soziologe William Julius Wilson: The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy, Chicago 1987; Ders.: The Ghetto Underclass. Social Science Perspectives, Newbury Park 1993.

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Jahren wird Dahrendorf den Anrechtsbegriff daher vor allem gegen den neoliberalen Ökonomismus der Zeit wenden.

5. Die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft

In den frühen 1980er Jahren gehörte Dahrendorf zu den prominentesten Vertretern der damals viel diskutierten These vom Ende der Arbeitsgesellschaft.65 Schon als mit der ersten Ölkrise die Arbeitslosigkeit in den meisten OECD-Staaten rasant in die Höhe schoss, hatte er in den Reith-Lectures den „unsinnig starren Begriff der Vollbeschäftigung“, der in der „Expansionsgesellschaft“ gepflegt werde, kritisiert. An einer Garantie der Vollbeschäftigung, wie sie von manchen Keynesianern gepredigt wurde, hielt er zu diesem Zeitpunkt noch fest und forderte zu deren Umsetzung nur eine andere Wahl der Mittel: Statt falscher Besitzstandsgarantien sei eine „Mischung von Maßnahmen sozialer Sicherheit und Anreizen zur Mobilität von Arbeitskräften“ erforderlich.66 Mit der weiter zunehmenden Arbeitslosigkeit in den folgenden zehn Jahren  – 1983 lag die offizielle Arbeitslosenquote in Westeuropa bei 10,6 Prozent67 – verabschiedete sich Dahrendorf ganz vom Ziel einer Vollbeschäftigung, um die ihr zu Grunde liegenden Kategorien „Wachstum“ und „Arbeit“ grundsätzlich in Frage zu stellen. Ein zentraler Strang seiner Kritik galt der Vorstellung, im ökonomischen Wachstum liege der alleinige Schlüssel für die Lösung gesellschaftlicher Probleme. So kritisierte er 1979, dass eine „Ökonomie der besinnungslosen Expansion“ den Blick verstelle für notwendige Prozesse der Demokratisierung, Dezentralisierung und Rückgewinnung des Primats der Politik.68 Drei Jahre später lieferte er jene Diagnose, zu der die meisten Wirtschaftshistoriker heute neigen: Die Wachstumsstockungen der 70er und 80er Jahre seien historisch nur die Kehrseite der beiden Jahrzehnte des Booms zuvor, strukturell aber die Folge steigender Kosten, schrumpfender Märkte und des Wegbrechens eines internationalen Regelwerks69; Rationalisierungsschübe und technischer Fortschritt würden nicht per se, sondern nur auf Grund ihres Kostenvorteils

Er hat sie seit 1982 in Varianten und mit unterschiedlich starkem Nachdruck vertreten. Zu den Diskussionen um das Ende der Arbeitsgesellschaft vgl. auch Hanne Weisensee: Demokratie, Staat und Globalisierung, Baden-Baden 2005, S. 182–223. 66 Dahrendorf, Freiheit, S. 51. 67 Vgl. Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik 1982–1989/90, München 2006, S. 15. 68 Dahrendorf, Lebenschancen, S. 138 f. 69 Vgl. Dahrendorf: Chancen, S. 72; Ders., Wenn der Arbeitsgesellschaft, S. 27. 65

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Arbeitsplätze vernichten.70 Ende der siebziger Jahre ging Dahrendorf so weit, seiner Kritik an der Expansionsgesellschaft eine universalhistorische Wendung zu geben, indem er mit dem Ende des Wachstumsparadigmas das Ende der Moderne überhaupt heraufziehen sah: „Wir stehen möglicherweise an der Schwelle eines neuen Zeitalters.“71 Einen wesentlichen Aspekt des Neuen sah Dahrendorf schon damals in der Beobachtung, dass rasante Produktivitätssteigerungen und damit einhergehende steigende Löhne dafür sorgten, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe. Damit aber komme den modernen Gesellschaften nicht nur ein wesentliches Moment ihrer Strukturierung, sondern auch ein für sie charakteristisches Herrschaftsmittel abhanden.72 Seine These vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ hat Dahrendorf am prägnantesten 1982 in seinem Eröffnungsvortrag zum Deutschen Soziologentag in Bamberg entwickelt und dabei Hannah Arendt und Karl Marx als Gewährsleute aufgerufen.73 Als Folge von Rationalisierungsprozessen, die der industriellen, kapitalistischen Gesellschaft immanent sind, sei die Arbeitslosigkeit in der OECD-Welt endemisch geworden, damit der entscheidende soziale Kitt, der in der Arbeit selbst liegt, erodiert und die Arbeitsgesellschaft in eine tiefe, möglicherweise finale Krise geraten, so lautet der Ausgangsbefund. Weder die neue, angebotsorientierte ökonomische Lehre noch die im Rückzug begriffene Politik der Stimulation von Nachfrage zeigten sich geeignet, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Vielmehr herrsche eine Verkehrung der Fronten im Klassenkampf um Arbeit: „Die, die früher nicht arbeiten mussten, sind nun zu denen geworden, die noch arbeiten dürfen, während die, die früher arbeiten mussten, nicht mehr arbeiten können.“74 Der Weg zurück in die Arbeitsgesellschaft sei verbaut, weil diese sich selbst in ihrem zentralen Merkmal – der strukturbildenden Kraft der Arbeit – aufgehoben hat. Denn zum einen erzwängen hohe Reallöhne jene Rationalisierungsmaßnahmen, die zu immer neuer Arbeitslosigkeit führten; dabei erscheint der hohe Preis der Arbeit in Dahrendorfs Argumentation nicht einfach als Folge gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht, sondern auch als Ausweis der Wirksamkeit von citizenship.75 Hayeks Argument, die Löhne könnten sich – die Entmach-

Vgl. Ebd., S. 29. Dahrendorf, Liberalismus und Europa, S. 77. 72 Vgl. Ralf Dahrendorf: Die Arbeitsgesellschaft ist am Ende, in: Die Zeit Nr. 48 (1982), URL: http://www.zeit.de/1982/48/die-arbeitgesellschaft-ist-am-ende [27.04.2017]. 73 Dahrendorf, Wenn der Arbeitsgesellschaft, S. 30–32. 74 Dahrendorf, Wenn der Arbeitsgesellschaft, S. 32–34, Zit. S. 34. 75 Hier folgt Dahrendorf einmal mehr T. H. Marshall, Citizenship; vgl. dazu Dahrendorf, Konflikt, S. 60–67; Andreas Fahrmeir: Die moderne Staatsbürgergesellschaft und ihre Grenzen. Anmerkungen zu T. H. Marshalls „citizenship“-Konzept, in: Historische Zeit70 71

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tung der Gewerkschaften vorausgesetzt  – zu einem Marktwert einpendeln, der alle wieder in Lohn und Brot bringt,76 bezeichnet Dahrendorf daher als utopisch und „in einer Gesellschaft von Staatsbürgern, die auch soziale Rechte haben, schwer erträglich“;77 auch später sollte Dahrendorf unter Verweis auf die US-amerikanischen working poor Lohnsenkungen ablehnen.78 Zweitens hätten sich die Sphären von Freizeit, Bildung und Ruhestand immer weiter auf Kosten der Arbeit entfaltet und dabei bis zu jenem Punkt verselbständigt, an dem die Arbeitsgesellschaft ihre strukturierende Kraft zu verlieren beginnt. In Dahrendorfs Interpretation scheint eine Rückkehr zur Arbeitsgesellschaft drittens aber auch deshalb ausgeschlossen, weil deren Grundlage, die Wachstumsökonomie, erodiert ist und auch das wenige verbleibende Wachstum eher Arbeitsplätze zerstört als schafft: „Wer immer verspricht, ein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit zu haben, sagt die Unwahrheit.“79 So weit in etwa der Gedankengang, in dem ökonomische, herrschaftssoziologische und sozialliberale Argumente zusammenlaufen. Als Alternative zur Arbeitsgesellschaft sieht Dahrendorf am Horizont die Vision einer Tätigkeitsgesellschaft heraufziehen, in der die Marxsche Dichotomie der beiden Reiche der Freiheit und Notwendigkeit im Sinne zunehmender Autonomie aufgehoben ist.80 Vorboten dafür sieht der Soziologe in neuen industriellen Arbeitsformen wie der seit 1972 bei Volvo praktizierten Gruppenarbeit (die in den 1990er Jahren einem neuen Regime von lean production und Auslagerung von Fertigungsprozessen Platz machte), in der Etablierung kleiner sozialer Netze, in Selbsthilfegruppen, in neuen Formen der Alternativökonomie und in den längst habitualisierten Formen der Schwarzarbeit.81 Damit die Vision einer Gesellschaft selbstbestimmt arbeitender Menschen

schrift (HZ) 86 (2008), S. 641–655; Ders.: Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven/London 2007. 76 Vgl. Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 42005, S. 370– 385. 77 Dahrendorf, Wenn der Arbeitsgesellschaft, S. 28. 78 Vgl. z. B. Dahrendorf, Future Tasks, S. 17. 79 Dahrendorf, Arbeitsgesellschaft, S. 29; vgl. auch ders., Chancen, S. 79–87; Ders., Law and Order, S. 101. 80 „Allerorten ist die abhängige, belastende, unwürdige, heteronome Arbeit zugunsten selbstgewählter, eigener Talente und Hoffnungen entfaltender, autonomer Tätigkeit zurückgedrängt worden“, formulierte Dahrendorf in einer Parteitagsrede 1986, Ralf Dahrendorf: Die Krise der Arbeitsgesellschaft, in: Liberal. Debatten zur Freiheit 28 (1986), S.  59–64; Ders., Arbeitsgesellschaft, S. 35. 81 Zu Dahrendorfs Sympathien für Schwarzarbeit vgl. seinen Diskussionsbeitrag in: Freiheit statt Korporatismus? Ein Streit darüber, welche Rolle der Markt, die Tarifparteien und der Staat beim Kampf um neue Arbeitsplätze spielen sollen, in: Die Zeit Nr. 26 v. 24.6.1999.

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Gestalt gewinnt, bedarf es also zum einen der Entwicklung jener rasch expandierenden Sphären jenseits der klassischen Arbeitswelt, zum andern aber auch der Reform der Arbeit selbst. Um einen Keil der Autonomie in die heteronome Arbeitswelt hineinzutreiben, empfiehlt Dahrendorf daher 1985 als Vorsitzender einer Sachverständigenkommission der OECD die Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Erleichterung von Teilzeitarbeit, von beruflicher Mobilität und die Einführung von Jahresarbeitszeit-Konten sowie umfassende berufsbegleitende Bildung.82 Während der von mehreren Autoren verfasste OECD-Bericht hinsichtlich der erwarteten Effekte dieser Instrumente für den Arbeitsmarkt durchaus zweideutig bleibt, wird die „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsqualität“ etwa im Sinn eines Gewinns von Zeitautonomie klar herausgestellt.83 In solchen Passagen werden Dahrendorfs Handschrift und seine libertäre Utopie einer Tätigkeitsgesellschaft erneut greifbar. Aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts, das die Probleme entgrenzter Marktprozesse zur Genüge erfahren hat, offenbart sich die eigentümliche Ambivalenz jener Flexibilisierungsrezepte, als deren Anwalt Dahrendorf in den 1970er und 1980er Jahren aufgetreten war. Sein Argument, die Flexibilisierung der Arbeitswelt bedeute zuallererst einen Zugewinn an individueller Autonomie gegenüber den rigiden Zwängen einer entfremdeten industriellen Arbeitswelt, zehrte erkennbar noch vom emanzipatorischen Pathos der sechziger und frühen siebziger Jahre. Im Rückblick erscheinen die in der Agenda-Politik Gerhard Schröders aufgipfelnden Schübe der Flexibilisierung kaum noch in solch verheißungsvollem Licht; viel eher erscheinen sie uns heute als Stationen auf dem Weg zu jenem „unternehmerischen“ (Ulrich Bröckling) und am Ende „erschöpften“ (Alain Ehrenberg) Selbst, das mittlerweile als Subjektivierungsform des neoliberalen Regimes allenthalben der Kritik verfallen ist.84 In der Diskussion um das Ende der Arbeitsgesellschaft hat der Soziologe von Beginn an der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eine strategische Bedeutung beigemessen.85 Damit machte er sich zum prominen-

Vgl. Arbeitsmarktflexibilität. Bericht der hochrangigen Sachverständigengruppe an den Generalsekretär der OECD, Paris 1986. 83 Ebd., S. 24 f. 84 Vgl. Ulrich Bröcklin: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007; Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt 2004. 85 Vgl. Dahrendorf, Chancen, S.  88–100; Ders., Fragmente, S.  240; Ders., Future Tasks, S. 19 f; Ders.: Ein garantiertes Mindesteinkommen als konstitutionelles Anrecht, Berlin 1986; Ders., Konflikt, S. 266 f. 82

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ten Fürsprecher einer ziemlich bunten sozialpolitischen Tradition, die von William Beveridge (1942)86 über Milton Friedman (1962)87 bis zu den Grünen reicht.88 Seine Überlegungen liegen ganz auf der Linie der bisher vorgestellten Argumentation: Da der Verfall der Arbeitsgesellschaft in vollem Gange ist, gilt es aus der Not eine Tugend zu machen, die paradigmatische Bedeutung der beruflichen Arbeit für alle anderen Bereiche der Gesellschaft zu verabschieden und stattdessen beherzte Schritte in Richtung jener „Tätigkeitsgesellschaft“ zu unternehmen, in der Dahrendorf die „bewegende Kraft der Zukunft“ sieht. Neben allerlei anderen Vorschlägen zur Beförderung der „Tätigkeitsgesellschaft“ wie der Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeit, der Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, der Einführung eines allgemeinen Sozialdienstes, der Besteuerung von Produktion und Konsum legt Dahrendorf der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens besonderes Gewicht bei, ohne sie allerdings im Einzelnen genauer zu erläutern.89 Großen Wert hingegen legt er auf die richtige Begründung. So wendet er sich gegen Versuche, mit Hilfe eines garantierten Mindesteinkommens Arbeit und Einkommen grundsätzlich zu entkoppeln, da Arbeit für die Wohlfahrtschancen einer Gesellschaft, für das Selbstbewusstsein der Menschen und für die Strukturierung des individuellen Zeithaushalts weiterhin bestimmend bleibe. Man sieht: einer völligen Verabschiedung des Arbeitsbegriffs

Der Beveridge-Plan hat einen einheitlichen, von der Höhe des Einkommens unabhängigen „Unterstützungssatz“ vorgesehen, der in nahezu allen Fällen des Aufhörens von Arbeit greifen sollte; diese Leistung sollte dazu dienen, „ohne weitere Hilfsquellen das zum Lebensunterhalt in allen normalen Fällen benötigte Mindesteinkommen zu verschaffen“, vgl. Der Beveridgeplan. Sozialversicherung und verwandte Leistungen. Bericht von Sir William Beveridge, Zürich/New York 1943 (englisch London 1942), S. 188 f, Zit. S. 189. Im Unterschied zum bedingungslosen Grundeinkommen sollte der Unterstützungssatz auf dem Versicherungsprinzip und entsprechenden Zwangsbeiträgen beruhen. 87 Milton Friedman: Capitalism and Freedom, Chicago/London 21982, S.  190–195. In Andeutungen hatte auch Friedrich August von Hayek, Verfassung der Freiheit, S.  353, ein bedingungsloses Grundeinkommen im Sinn; dies wird von Stefan Kolev: Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Stuttgart 2013, S. 266 f, mit dünnen Belegen m. E. überbewertet. 88 Vgl. Grüne Blätter. Mitgliederzeitschrift von Bündnis 90 / Die Grünen, Landesverband Baden-Württemberg 2007/06: Sozialstaat reloaded. Grundsicherung oder Grundeinkommen? Der Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens hat sich bei den Grünen auf Bundesebene nicht durchgesetzt. Vgl. auch die Beiträge in Thomas Schmid: Befreiung von falscher Arbeit. Thesen zum garantierten Mindesteinkommen, Berlin 1984, 21986; Sascha Liebermann (Hg.): Aus dem Geist der Demokratie: Bedingungsloses Grundeinkommen, Frankfurt 2015 (mit einer Kritik von Dahrendorfs Konzeption auf S. 20–25); aus soziologischer Perspektive Stefan Lessenich: Das Grundeinkommen in der gesellschaftspolitischen Debatte, Bonn 2009; vgl. auch den Beitrag von Dierk Hoffmann in diesem Band, S.  140 f. 89 Dahrendorf, Chancen, S. 88–100, Zit. S. 96. 86

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hat Dahrendorf keineswegs das Wort geredet. Auch das Effizienzargument des Kronberger Kreises, der sich von einer negativen Einkommenssteuer die Beseitigung von trägen Wohlfahrtsbürokratien erhoffte, setzt für Dahrendorf an einer falschen, nämlich ökonomischen Stelle an. Das Argument, das Dahrendorf diesen beiden Begründungen entgegensetzt, knüpft dem gegenüber an seine These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts an: Indem das Arbeitsangebot auf der einen Seite immer knapper zu werden droht, Arbeit auf der anderen Seite aber nach wie vor das entscheidende Merkmal gesellschaftlicher Zugehörigkeit abgibt, werde eine immer größer werdende Gruppe von Menschen als „Unterklasse der Nichtdazugehörigen“ aus der Gesellschaft hinausdefiniert,90 die ihrerseits von einer Mehrheitsklasse der noch Arbeitenden beherrscht werde. Die Legitimität der Rechts- und Sozialordnung gerate damit unter Druck, der Gesellschaftsvertrag stehe in Frage. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bringt Dahrendorf das garantierte Mindesteinkommen im Sinne eines konstitutionellen Anrechts in Anschlag: „In die Verfassung im weiteren Sinne gehört auch das Mindesteinkommen. Es muss als Grundbestand der Staatsbürgerrechte Anerkennung finden, weil sein Sinn darin liegt, eine Ausgangsposition zu bestimmen, hinter die niemand zurückfallen darf.“91 Demnach sei ein mäßiger, aber unbedingt garantierbarer Betrag angemessen. Dahrendorfs Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen liegt eine spezifisch liberale Sozialstaatskonzeption zu Grunde, der es zwar auch um die unbürokratische Sicherung eines Grundniveaus zu tun ist, vor allem aber darum, dass die soziale Grundsicherung als konstitutionelles Anrecht sowohl der Ökonomisierung als auch der Moralisierung entzogen wird. Indem Dahrendorf das Mindesteinkommen der ökonomischen Sphäre des Marktes, den Imperativen der industriellen Arbeitsgesellschaft und ihrer Arbeitsethik entziehen und es statt dessen als Staatsbürgerrecht der politischen Sphäre des Gesellschaftsvertrags zuschlagen möchte, gewinnt das Mindesteinkommen den Status eines unverhandelbaren, eben konstitutionell garantierten Rechts. Damit stellte sich Dahrendorf einmal mehr in die Tradition des Bürgerrechtsliberalismus, der in den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts seinen Ausgang genommen hat. Seine Begründung des Grundeinkommens ist zudem erneut der Citizenship-These Thomas Humphrey Marshalls verpflichtet.92

Dahrendorf, Mindesteinkommen, S. 133; vgl. auch ders., Law and Order, S. 98. Dahrendorf, Mindesteinkommen, S. 136. 92 Marshall, Citizenship, S. 40; vgl. auch Dahrendorf, Law and Order, S. 85: „One cannot praise too often or too high T. H. Marshall’s analysis of this process in his Citizenship and Social Class“. 90 91

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Stärker als Marshall legt Dahrendorf den Akzent auf die grundsätzlich inklusive Qualität von Anrechten, die durch einen fiktiven Gesellschaftsvertrag gesichert und somit unwiderruflich sind. In seiner Sicht soll ein niedriges, aber stets garantiertes und von Arbeitsleistung oder Bedürftigkeit unabhängiges Mindesteinkommen allen Bürgerinnen und Bürgern nicht nur ein zivilisiertes Leben, sondern jederzeit auch die Chance der gesellschaftlichen Teilhabe sicherstellen. Damit würde die Position jener gestärkt, die in seiner Analyse zu den notorischen Verlierern des sozialdemokratischen Konsenses wie auch der neoliberalen Entgrenzung des Marktes gehören. Die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft schien in den neunziger und frühen zweitausender Jahren sozialwissenschaftlich ad acta gelegt.93 Dafür gibt es zumindest im Fall der Bundesrepublik mancherlei gute Gründe: Die pfadbedingte Abhängigkeit der sozialen Sicherungssysteme von klassischen Beschäftigungsverhältnissen, die Integration der DDR als „Arbeitsgesellschaft par excellence“,94 der demographische Wandel und schließlich auch die massive ideologische Aufwertung von Arbeit (Stichwort „workfare“) in den diversen Varianten des „Dritten Wegs“, wie sie zwischen Großbritannien, den USA und der Bundesrepublik erprobt wurden. Statistisch gesehen standen in der Bundesrepublik seit 1990 noch nie so viele Menschen in einem Arbeitsverhältnis wie heute,95 die Arbeit ist gesellschaftlich wie biographisch ebenso strukturprägend geblieben wie umgekehrt die Arbeitslosigkeit ein Stigma. Mit dem ihm eigenen Gespür hat Dahrendorf die Krise des fordistischen Produktions- und Sozialmodells bereits frühzeitig diagnostiziert und ihr in seiner Vision einer Tätigkeitsgesellschaft in klassisch liberaler Manier eine optimistische Wendung gegeben. Manches davon ist in den 1990er Jahren unter anderem Label wieder aufgetaucht, etwa in der Idee der „Bürgerarbeit“, wie sie Ulrich Beck als Mitglied der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1996/97) vorgeschlagen hatte und in ModellverVgl. Gert Schmidt: Kein Ende der Arbeitsgesellschaft. Arbeit, Gesellschaft und Subjekt im Globalisierungsprozeß, Berlin 1999; Dieter Sauer: Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, in: VfZ 2 (2007), S. 309–328; Peter Hübner: Arbeitsgesellschaft in der Krise? Eine Anmerkung zur Sozialgeschichte der Industriearbeit im ausgehenden 20. Jahrhundert, in: Zeitgeschichte online, Januar 2010, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/arbeitsgesellschaft-derkrise [21.2.2018]. Dahrendorf hat dies nicht angefochten: 2001/2002 hat er die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft in seinen am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen gehaltenen Krupp-Vorlesungen erneut vorgetragen. vgl. Dahrendorf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, München 2003, S. 56–80. 94 Lessenich, Grundeinkommen, S. 6. 95 Laut Statistischem Bundesamt stieg die Anzahl der Erwerbstätigen 2016 auf den Rekordwert von 43,4 Millionen; URL: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Presse mitteilungen/2017/01/PD17_001_13321.html [09.05.2017]. 93

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suchen erprobt wurde.96 Insgesamt aber bleibt zu resümieren, dass die von Dahrendorf festgestellten Umbrüche keineswegs aus dem Arbeitsparadigma herausgeführt, sondern es unter den Vorzeichen von lean production, Flexibilisierung und Verdichtung von Arbeit, Leiharbeit und Niedriglohnsektor, weiter verschärft haben. Manche Aspekte von Dahrendorfs Tätigkeitsgesellschaft – etwa die Konstruktion des Lebens als eine Tätigkeit, in der die Trennung zwischen Freizeit und Arbeit aufgehoben ist  – könnte man etwa auf die expandierende Kreativwirtschaft und new economy beziehen, wären nicht gerade diese Branchen einem besonders scharfen Wettbewerb ausgesetzt, der dem autonomen Tun faktisch enge Grenzen setzt. Mit Blick auf solche Phänomene gewinnt die neuere These von der „Subjektivierung der Arbeit“ gegenüber Dahrendorfs älterer These vom Ende der Arbeitsgesellschaft sehr an Plausibilität,97 und im Rückblick erscheint sie sogar wie eine böse Antwort auf Dahrendorfs einst so verheißungsvolle Frage nach einer „Tätigkeitsgesellschaft“ autonomer Subjekte.98

6. Von der Quadratur des Kreises zur Kritik des Dritten Weges

Wer Dahrendorfs scharfe Kritik an den korporativen Strukturen des Wohlfahrtsstaates noch im Ohr hat, mag überrascht sein, wie harsch der Direktor der London School of Economics mit dem Kurs der britischen Regierungschefin Margret Thatcher ins Gericht gegangen ist. Konnte man Thatchers Politik nicht als praktische Nutzanwendung der These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts verstehen?99 Thatcher sei „die erste Regierungschefin in der OECD-Welt, die mit einem Programm zur Verteidigung der

Vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen, Maßnahmen. Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, URL: https://www.bayern.de/wp-content/ uploads/2014/09/Bericht-der-Kommission-für-Zukunftsfragen-der-Freistaaten-Bayern-undSachsen-Teil-3.pdf [11.05. 2017]. Das entsprechende Kapitel des Berichts (S.  148–170) hat Beck ausschließlich verantwortet. 97 Vgl. z. B. Hans J. Pongratz / G. Günther Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; Dieter Sauer: Arbeit im Übergang. Zeitdiagnosen, Hamburg 2005; Ders., Zukunft, S. 327. 98 Ein Revival der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft zeichnet sich erst jüngst in einer politischen Philosophie der Arbeit ab, die mit ähnlichen Argumenten wie Dahrendorf gegen die vorherrschende Apologie der Arbeitsgesellschaft zu Felde zieht, vgl. Michael Hirsch: Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit, Berlin 2015. 99 Zu Thatcher vgl. auch die Beiträge von Frank Bösch und Wencke Meteling in diesem Band. 96

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Interessen der neuen Privilegierten angetreten ist“, lautete Dahrendorfs Urteil in einem Spiegel-Essay unmittelbar nach Thatchers Wahl.100 Ihre Angebotsrevolution, so Dahrendorf 1988, habe statt des erhofften „Trickle-down-Effekts“ nur neue Anrechts-Barrieren errichtet. Zudem zerstöre die Eiserne Lady mit den britischen Institutionen auch die Freiheitsgarantien des britischen SelfGovernment. Thatchers These, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen und Familien, komme einer „philosopy of social darwinism“ gleich und bedeute überdies einen Angriff auf die civil society.101 Als Dahrendorf 1995 als Vorsitzender einer britischen Expertenkommission den „Report on Wealth Creation and Social Cohesion“ vorlegte, las sich dessen Bestandsaufnahme wie eine Abrechnung mit der Ära Thatcher.102 So hatte sich der Liberale das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts nicht vorgestellt. Die Thatcher-Revolution und die durch sie ausgelösten Verwerfungen schärften Dahrendorfs Blick für eine Reihe markanter Veränderungen in der gesamten OECD-Welt und führten ihn zu der folgenden düsteren Bilanz: • eine wachsende neue Unterklasse (William Julius Wilson), die keinen „Einsatz im Spiel der Gesellschaft“ hat, werde weder vom politischen noch vom ökonomischen System integriert;103 • die Individualisierung des sozialen Konflikts zeige sich in ausufernden Verbrechensbilanzen, eruptiven Krawallen und nachlassender Verbindlichkeit des Rechts, in Zuständen also, die Dahrendorf mit Emile Durkheim als Ausdruck von „Anomie“ interpretierte;104 • Niedriglohnsektoren sowie überzogene Anforderungen an die Flexibilität und Mobilität der Menschen gefährdeten die soziale Kohäsion;105 • öffentliche Räume erodierten und öffentliche Dienste kollabierten als Folge eines „amok laufenden Ökonomismus“;106

Dahrendorf, Englands Anarchie, S. 175. Ralf Dahrendorf: Changing Social Values under Mrs. Thatcher, in: Robert Skidelski (Hg.): Thatcherism, Oxford 1988, S. 191–202, Zitat S. 197; Ders., Konflikt, S. 259–261; Ders.: Die gefährdete Civil Society, in: Krzystof Michalsky: Europa und die Civil Society, Stuttgart 1992, S. 247–263, hier S. 248. 102 Ralf Dahrendorf / Frank Field / Carolyn Hayman u. a.: Report on Wealth Creation and Social Cohesion in a Free Society, London 1995, zur trickle down-These S. 26. 103 Dahrendorf, Fragmente, S. 100; Ders., Konflikt, S. 221–227; Ders.: Die Quadratur des Kreises, in: Transit. Europäische Revue 12 (1996), S. 5–28, hier S. 16–19; Ders. u. a. Report, S. 15; Ders., Suche, S. 88–91; zur underclass: Wilson, Disadvantaged. 104 Dahrendorf, Law and Order, S.  1–40 (Diskussion von Durkheims Anomie-Begriff); Ders.: After 1989. Morals, Revolution and Civil Society, Basingstoke/London 1997, S. 54; Ders., Konflikt, S. 240–244. 105 Vgl. Dahrendorf, Quadratur, S. 13–19; Ders. u. a., Report, S. 12–22. 106 Dahrendorf, Quadratur, S. 19; Dahrendorf u. a., Report, S. 27 f. 100 101

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eine neue „globale Klasse“ bringe als „neue Produktivkraft“ zwar neue Teilhabechancen für Millionen hervor, berge auf Grund ihrer Selbstabschottung in einer Parallelwelt, ihrer Neigung, sich den demokratischen Institutionen und staatsbürgerlichen Pflichten zu entziehen, und wegen ihres informellen Einflusses auf die Politik aber ein gewaltiges Risiko für die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt: „Während die globale Klasse sich im Internet vergnügt, am Telefon hängt und sich damit noch die Bankkonten füllt, leben andere ein unbeabsichtigtes Portefeuille-Leben aus Gelegenheitsjobs, Gelegenheitsverbrechen und Gelegenheitsvergnügungen.“107

Die notwendige „Quadratur des Kreises“ sieht Dahrendorf nun darin, Wohlstand, gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sicherung der Freiheit unter den Bedingungen der heraufziehenden Globalisierung miteinander zu verbinden.108 Seine Rezepte zur Lösung dieser zumindest geometrisch unlösbaren Aufgabe hat Dahrendorf 1994/95 als Vorsitzender der Commision in Wealth Creation and Social Cohesion in a free Society entwickelt.109 Bei dessen Lektüre fällt vor allem ins Auge, dass die Kommission ihren britischen Landsleuten eine Abkehr vom krassen Ökonomismus der Thatcher-Jahre und stattdessen die Orientierung an Elementen des deutschen Modells empfiehlt. So betont die Kommission die enormen sozialen Kosten der britischen Shareholder-Economy und schlägt deren Ergänzung durch kräftige Elemente des Stakeholding vor, etwa durch die Einführung betrieblicher Mitbestimmung, die Einbeziehung von Banken in Investitionsentscheidungen und die Einbindung von Betrieben in die Verantwortung für ihr lokales Umfeld.110 Auch die empfohlene Einführung einer golden rule für öffentliche Schuldenaufnahme,111 die gezielte steuerliche Förderung kleinerer und mittlerer Betriebe112, die Stärkung der beruflichen Bildung, die Wiederaufrichtung und Stärkung des maroden öffentlichen Sektors113, eine Aufwertung der Einkommenssteuer,114 schließ-

Dahrendorf, Wiederbeginn, S.  235–265, Zit. 261; Ders.: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch, München 2002, S. 21–26. 108 Vgl. Dahrendorf, Quadratur; Ders., Suche, S.  103–131; vgl. zu Dahrendorfs Ansatz auch Weisensee, Demokratie, S. 265–282. 109 Dahrendorf u. a., Report. Vgl. dazu Ruth Levitas: The Inclusive Society? Social Exclusion and New Labour, Basingstoke 22005, S. 43–48. 110 Vgl. Dahrendorf u. a., Report, S. 36 f. 111 Vgl. Ebd., S. 57. 112 Vgl. Ebd., S. 60, 62 f. 113 Vgl. Ebd., S. 18, 39 f. 114 Vgl. Ebd., S. 41 f. 107

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lich und vor allem die Stärkung kommunaler Autonomie,115 die in der Ära Thatcher ausgehöhlt wurde, folgen erkennbar dem deutschem Modell.116 Dieses soll dem britischen aber nicht übergestülpt werden. Denn lange bevor das Referenzwerk von Peter Hall und David Soskice erschienen war, zeigte sich Dahrendorf als überzeugter Verfechter der These von den Varieties of Capitalism:117 „Es gibt so viele Modelle wie Länder“.118 Diese These stand auch Pate, als der Soziologe bereits 1995 in einem Spiegel-Interview die in Maastricht vereinbarte europäische Währungsunion scharf kritisierte, weil sie den unterschiedlichen Wirtschaftskulturen nicht gerecht und Europa spalten werde.119 Als 1997 Tony Blair in die Downing Street 10 einzog und seine Reformagenda als „Dritten Weg“ empfahl, griff der neue Premier in seinem Regierungsprogramm Vorschläge aus dem Dahrendorf-Report auf.120 Dessen Autor dankte es ihm – mit Kritik. Schon terminologisch stehe der „Dritte Weg“ in der illiberalen Tradition Hegels, so Dahrendorf in einem offenen Brief an Blair.121 War Dahrendorfs sterile Begriffskritik Ausdruck seiner Enttäuschung darüber, dass der neue Premier nicht ihn, sondern Anthony Giddens zum Vordenker des „Blair Project“ erkoren hatte?122 Diese Deutung übersieht den entscheidenden Differenzpunkt. Denn Dahrendorf vermisste an Blairs und Giddens’ Konzeption den nachdrücklichen Akzent auf der Freiheit, und zwar

Vgl. Ebd., S. 17 passim. Mit diesen Vorschlägen lag die Dahrendorf-Kommission etwa auf der Linie der heute von z. B. von Lutz Raphael vertretenen These, dass sich die besondere „Resilienz“ der Bundesrepublik sowohl im Strukturwandel der siebziger und achtziger Jahre als auch im Zeitalter der Globalisierung aus spezifischen institutionellen Arrangements des deutschen Entwicklungspfades erklären lässt, vgl. Lutz Raphael: Industriearbeit(er) nach dem Boom. Bundesrepublikanische Entwicklungen im westeuropäischen Vergleich, in: Sonja Levsen  / Cornelius Torp (Hg.): Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen 2016, S. 207–231. 117 Peter Hall / David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001. 118 Ralf Dahrendorf: Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 63; vgl. auch ders., After 1989, S. 68–79. 119 „Alle Eier in einen Korb“, in: Der Spiegel Nr. 50 v. 11.12.1995, S. 27–33, S. 28: „Die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet“. 120 Dahrendorf, Wiederbeginn, S. 199 f, hat selbst auf diese Gemeinsamkeiten hingewiesen; vgl. auch F. Meifort, Dahrendorf, S. 277. 121 Ralf Dahrendorf: Ditch the Third Way, and Try the 101st, in: The New Statesman Nr. 127 v. 29.05.1998, S. 21 f. 122 Vgl. Anthony Giddens: The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge u. a. 1998; Meifort, Dahrendorf, S. 270–278. 115 116

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nicht nur terminologisch, sondern auch im Konkreten: Dahrendorf zufolge ist die Arbeitsideologie des Dritten Weges mit ihrer Parole „work, work, work“ vor allem auf soziale Kontrolle aus – hier greift der Soziologe seine bereits in den frühen 1980er Jahren vertretene Ansicht von der Arbeit als Herrschaftsinstrument auf.123 Zudem stelle Giddens’ und Blairs Beharren auf der Reziprozität von Rechten und Pflichten das Prinzip der Citizenship in Frage – etwa durch die Ankündigung, Arbeitslose und Alleinerziehende unter Androhung des Entzugs von Sozialleistungen zum Arbeiten zu zwingen.124 „Das Recht, nicht zu arbeiten, ist […] ein liberales Prinzip […] “, hielt Dahrendorf dagegen, und der Auffassung Gerhard Schröders, es gebe kein Recht auf Faulheit, widersprach er ausdrücklich.125 Bürgerrechte, so erneut der Kerngedanke von Citizenship, sind auch dann nicht verhandelbar, wenn eine ökonomische Räson oder eine Mehrheitsmoral eben dies verlangen zu müssen meint. In der Ideologie des workfare, die unter allen Umständen alle in Arbeit bringen möchte, sieht Dahrendorf nicht nur die unerwünschte Renaissance der von ihm verabschiedeten Arbeitsgesellschaft, sondern das Momentum eines neuen Autoritarismus.126 Ideologie und Instrumente des workfare sind für ihn ebenso wenig mit der Freiheit vereinbar wie die von Giddens vorgeschlagenen plebiszitären Verfahren, die für Dahrendorf am Ende nur auf die Delegitimation parlamentarischer Strukturen hinauslaufen.127 In einer Nebenbemerkung charakterisierte er die Politik des Dritten Weges sogar als ein interessengeleitetes Projekt der globalen Klasse.128 Überhaupt war Dahrendorfs Blick auf den Zustand der westlichen Demokratien um die Jahrtausendwende ausgesprochen skeptisch: Auf Grund der schleichenden Entmachtung der Parlamente, der Auslagerung zentraler Entscheidungen in internationale Institutionen und Gremien und der damals bereits aufkommenden Welle des Populismus sah er die parlamentarische Demokratie in der Ära des Dritten Weges in einer tiefen Krise.129

Z. B. Dahrendorf, Arbeitsgesellschaft, S. 26. Vgl. auch Levitas, Exclusion, S. 138–142. 125 Dahrendorf, Wiederbeginn, S.  155. Schon 1990 sprach Dahrendorf, Betrachtungen, S. 100, in Bezug auf die workfare von „Zwangsarbeit durch die Hintertür“; Dahrendorf, Krisen, S. 63 f (gegen Schröder). 126 Vgl. Ralf Dahrendorf: The Third Way and Liberty. An Authoritarian Streak in Europe’s New Center, in: Foreign Affairs 78 Nr.  5 (1999), S.  13–17; Ders.: Ein neuer Dritter Weg? Reformpolitik am Ende des 20.  Jahrhunderts, Tübingen 1999, S.  24; Ders., Wiederbeginn, S. 203. 127 Vgl. Ebd., S. 203. 128 Vgl. Dahrendorf, Krisen, S. 24. 129 Vgl. dazu insgesamt Dahrendorf, Krisen. 123 124

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Man mag sich wundern, warum Blairs Dritter Weg, der sich doch als Ausweg zwischen der Skylla des sozialdemokratischem Konsenses und der Charybdis des Neoliberalismus verstanden hat, bei Dahrendorf so wenig Anklang fand. Der entscheidende Punkt ist wohl die ideologische Rahmung, also jene für Blair und Schröder charakteristische Verbindung aus Social Engineering und Populismus, die dem liberalen Zentralwert der individuellen Freiheit wenig Raum lässt. Das Kriterium der Freiheit, und nicht das Konzept irgendeiner sozialen Gerechtigkeit, bildet denn auch den entscheidenden Maßstab der Kritik am Dritten Weg.

7. Apologie der Bürgergesellschaft

„In one sense“, so Dahrendorf 1992 in einer Vorlesung an der LSE, „[…] democracy and market economy are desireable precisely because they are cold projects which do not make any claims on the souls of women and men. But […] this is not enough. […] People need ligatures […], and ligatures require the variety of autonomous associations which we call civil society.“130

Nur in aller Kürze lässt sich hier andeuten, dass Dahrendorf während der 1990er Jahre zu den entschiedensten Verfechtern der Bürgergesellschaft gehörte, also jenes soziopolitischen Konzepts, das in jenen Jahren europaweit intensiv diskutiert wurde.131 Den Anlass dafür bot zum einen der Zusammenbruch des Realsozialismus, zum andern jene oben zitierte Diagnose, dass es den „kalten Projekten“ Marktwirtschaft und Demokratie an Bindungskräften und Sinnressourcen mangelt. Unter Bürgergesellschaft versteht Dahrendorf einen autonomen, intermediären Bereich zwischen Staat, Markt und Individuum, der auf den Prinzipien der Selbstorganisation, der Pluralität, der

Dahrendorf, After 1989, S. 48. Vgl. Arno Waschkuhn: Demokratien. Politiktheoretische und ideengeschichtliche Grundzüge, München/Wien 1998, S.  505, sieht in Dahrendorf sogar den entscheidenden Stichwortgeber in der Diskussion um die Zivilgesellschaft. Vgl. zu diesem Thema z. B. auch Klaus von Beyme: Zivilgesellschaft – von der vorbürgerlichen zur nachbürgerlichen Gesellschaft?, in: Wolfgang Merkel (Hg.): Systemwechsel 5 – Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen 2000, S.  51–70; die Beiträge in Manfred Hildermeier  / Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt 2000; Frank Adloff: Zivilgesellschaft: Theorie und politische Praxis, Frankfurt am Main 2005; Saskia Richter: Zivilgesellschaft  – Überlegungen zu einem interdisziplinären Konzept, Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 8.3.2016, URL: https://www.docupedia.de/zg/ Zivilgesellschaft#cite_note-9 [23.05.2017].

130 131

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Subsidiarität, der Zivilität und der Vernetzung beruht; ihre Träger sind Bürger „mit den Chancen des allgemeinen Bürgerstatus“, der durch Anrechte definiert wird:132 „Ohne Bürgerrechte kann es keine civil society geben.“133 Funktional leistet das „schöpferische Chaos“ der Bürgergesellschaft dreierlei: Sie sorgt für soziale Kohäsion und stiftet Ligaturen unter den Bedingungen der Freiheit134, sie bildet ein Bollwerk gegen autoritäre, totalitäre und fundamentalistische Tendenzen135 und sie erweist sich als Quelle der Moralität, indem sie Zivilcourage, Toleranz und Höflichkeit befördert136 – eher formale Tugenden also. Dahrendorf sieht die Bürgergesellschaft nicht nur gefährdet durch autoritäre und totalitäre staatliche Ansprüche, sondern auch durch jene korporative Durchdringung der Gesellschaft, die die Bürgergesellschaft auf dem Weg der Kartellierung von Interessen aus sich selbst hervortreibt und zu Strukturen führt, die die Ära des „sozialdemokratischen Konsenses“ charakterisierten. Doch auch dessen Negation in Gestalt des Thatcherismus, der sich die Zerstörung autonomer sozialer Institutionen auf die Fahnen geschrieben hatte, erweist sich als Feind der Bürgergesellschaft: Wer nur Individuen kenne und keine Gesellschaft, werde die Civil Society zerstören.137 Man sieht: Dahrendorf vertritt zweifelsohne ein normatives Konzept von Zivilgesellschaft, mit dem er sich in eine Tradition zwischen klassischem Republikanismus und Liberalismus stellt, die etwa durch Namen wie John Locke, James Madison und Alexis de Tocqueville markiert ist;138 neben Demokratie und Marktwirtschaft bildet sie für ihn sogar die „entscheidende Säule der Freiheit“.139 Die Zivilgesellschaft ist in diesem Modell jedenfalls kein subsidiäres Konzept, das einen überforderten Staat von einigen seiner Aufgaben entlastet, sondern ein nicht auf den Staat bezogener, soziopolitischer Raum sui generis. Die gängige Kritik an der Zivilgesellschaft – ihr fehlendes demokratisches Mandat, ihr schichtspezifischer Charakter, ihre Neigung, so-

Dahrendorf, Konflikt, S.  67–73; Ders., Betrachtungen, S.  95–101; Ders., After 1989, S. 56; Ders., Wiederbeginn, S. 65; Ders.: Moralität, Institutionen und die Bürgergesellschaft, in: Merkur 46 (1992), S. 557–568; Ders., Civil Society; Ders., Die Zukunft der Bürgergesellschaft, in: Bernd Guggenberger / Klaus Hansen (Hg.): Die Mitte. Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1992, S. 75–83, Zit. S. 77; Dahrendorf: Über den Bürgerstatus, in: Bert van den Brink / Willem van Reijen (Hg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt 1995, S. 29–43. 133 Dahrendorf, Civil Society, S. 263; vgl. auch Ders., Zukunft, S. 77. 134 Vgl. Dahrendorf, After 1989, S. 48; Ders., Zukunft, S. 80–83. 135 Vgl. Ebd., S. 78 f. 136 Vgl. Dahrendorf, After 1989, S. 49–60; Ders., Konflikt, S. 70. 137 Vgl. Dahrendorf, Zukunft, S. 81 f; Ders., Civil Society, S. 248 f. 138 Vgl. hierzu auch Münkler, Grundlagen. 139 Dahrendorf, Zukunft, S. 83; Ders., After 1989, S. 77. 132

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ziale Ungleichheit zu zementieren – ficht Dahrendorf nicht an, zumal diese Kritik in den 1990er Jahren noch weitgehend im Schatten jener Hoffnungen stand, die sich damals mit dem Begriff verbunden haben. Anders als Anthony Giddens kommt Dahrendorf ganz ohne die Kategorie des Vertrauens aus;140 im Unterschied zum Verfassungspatriotismus à la Habermas setzt das Konzept nicht auf die Loyalität zu abstrakten Normen, sondern auf soziale Strukturen und den in sie eingelagerten Sinn. Gegenüber dem Kommunitarismus besteht sein Vorzug darin, dass es keine vorgängige Gemeinschaft kennt, vielmehr die offene Gesellschaft voraussetzt und auf formale statt materiale Tugenden rekurriert.

8. Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Einige Schlussfolgerungen

1. Dahrendorfs Diagnosen der 1970er Jahre erinnern uns eindrücklich an den Schock, den Inflationsraten von 24 Prozent in Großbritannien (1975) oder auch nur 7 Prozent in der Bundesrepublik (1973) in Verbindung mit einem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit auslösten. Vor dem Hintergrund dieser zeitgenössischen Perzeption verlieren ideengeschichtlich operierende Erklärungen des Neoliberalismus, die unermüdlich die Ökonomen der Chicago School herbeizitieren und zuweilen hart an Verschwörungstheorien grenzen, an Plausibilität. Erst das harte Scheitern des real existierenden Keynesianismus im Krisenszenario der 1970er Jahre verlieh den neoliberalen Rezepturen ihre Konjunktur. 2. Dahrendorfs Visionen einer „Meliorationsgesellschaft“ oder einer „Tätigkeitsgesellschaft“ verweisen auf jenen fortschrittsorientierten linksliberalen Erwartungshorizont, der aus den sechziger Jahren bis weit in die siebziger Jahre hineinreichte und im Strukturbruch anfangs noch die Eröffnung neuer Chancen suchte. Wie rasch sich dieser Horizont wieder geschlossen hat, lässt sich ebenfalls an der zunehmend düsteren, durch den Umbruch von 1989 nur kurzzeitig aufgehellten Zeitdiagnostik des liberalen Intellektuellen ablesen. 3. Dahrendorfs Kritik am sozialdemokratischen Konsensus lässt sich als Reflex auf eine charakteristische Paradoxie lesen, die sich bereits während der späten sechziger und frühen siebziger Jahre in der eigentümlichen Kombination von social engineering und Demokratisierung, von Planung und Partizipation, von Globalsteuerung und „Mehr Demokratie wagen“

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Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt 1996.

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abzeichnete:141 Die in den soziokulturellen Wandlungsprozessen der beiden Nachkriegsjahrzehnte in Gang gekommene, durch den Imperativ der „Demokratisierung“ weiter beförderte Differenzierung, Pluralisierung und Liberalisierung der Gesellschaft hat sich den hybriden Planungs- und Steuerungskompetenzen des Staates und der ihn tragenden „Dienstklasse“ nicht nur entzogen, sondern diese geradezu systematisch überfordert. Auch deshalb – und nicht nur wegen der ökonomischen Malaise – war für Dahrendorf „die Zeit der Verwalter vorbei und die der Initiatoren, der Unternehmer, Erfinder und Neuerer“ gekommen.142 Mit seinem Eintreten für subsidiäre statt Makrostrukturen lag er im Trend einer Zeit, die aus denselben Gründen neben einem neuen Pragmatismus in der Politik auch neoliberalen Konzeptionen von Ökonomie und Staatlichkeit zum Durchbruch verholfen hat.143 4. Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel sehen in den zeitgenössischen Debatten und Semantiken einen Schlüssel für den Erfolg neoliberaler Argumente und Sichtweisen.144 In der Tat erinnern Dahrendorfs Begrifflichkeit und Argumente in manchem an das Vokabular der roll back-Phase des Neoliberalismus (Arbeitszeitflexibilisierung, Zurückdrängen von Staatlichkeit usw.).145 Doch der normative Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation, die Erweiterung von Lebenschancen, eröffnet einen ganz anderen Kontext als der Ökonomismus der Neoliberalen, den Dahrendorf dezidiert ablehnte. Andere Schlüsselbegriffe des neoliberalen Diskurses sucht man bei ihm vergebens, etwa den des „Wirtschaftsstandorts“, den des „Vertrauens“, die Idee der Reziprozität von Rechten und Pflichten oder gar das Gerede vom Humankapital.

Vgl. hierzu noch immer Dieter Rucht: Planung und Partizipation. Bürgerinitiativen als Reaktion und Herausforderung politisch-administrativer Planung, München 1982; ferner Paul Nolte: Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006, S. 27–46; Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007; Wolther von Kieseritzky: Tendenzwende(n). Legitimationsprobleme der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre, in: Ewald Grothe / Ulrich Sieg (Hg.): Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014, S. 271–295; zu Kontext und Bedeutung von Brandts Diktum vgl. jetzt Hacke, „mehr Demokratie wagen“. 142 Dahrendorf, Elend, S. 1035. 143 Vgl. hierzu den Beitrag von Frank Bösch in diesem Band. 144 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, in: Dies.  / Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte, S. 19. Vgl. auch Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt 2016. 145 Vgl. hierzu Biebricher, Neoliberalismus, S. 124 f. 141

Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? 293

5. Die von Dahrendorf befürwortete Flexibilisierung etwa der Arbeitszeiten hat, wie Dietmar Süß betont, nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner hervorgebracht, die Teilzeitarbeit in wachsende Zeitautonomie und Verwirklichung eigener Lebenspläne umzumünzen wussten.146 Dieser sozialhistorische Befund korrespondiert mit Dahrendorfs Vision der „Tätigkeitsgesellschaft“ und er verweist zudem auf die grundsätzliche Ambivalenz des neuen Paradigmas, das man weder intentional noch in seinen Effekten als lineare Verfallsgeschichte des Golden Age lesen sollte.147 6. Wenn sich Dahrendorf von der Bürgergesellschaft die Stärkung sozialer Bindekräfte erhofft, so entspricht dies weitgehend dem Programm der zweiten, der Roll-Out-Phase des Neoliberalismus, die vor allem in den Regierungen von Bill Clinton und Tony Blair an Gestalt gewann. Andererseits hat Dahrendorf die beiden zentralen Elemente dieses Roll-OutNeoliberalismus, die Deregulierung der Finanzmärkte und die Ideologie des workfare, von Beginn an kritisiert und stattdessen die stakeholding-society propagiert. Anders als manche Autoren würde ich daher zögern, die Bürgergesellschaft umstandslos der neoliberalen Agenda zuzuschlagen;148 eher wirkt sie als Gegengewicht, wenn nicht (wie Colin Crouch hofft) als Gegenmacht gegen neoliberale Transformationsdynamiken.149 Die Civil Society markierte bereits seit dem 18. Jahrhundert ein zentrales Projekt des bürgerlichen Liberalismus, dessen utopische Energien zwar verblasst, aber selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht völlig verbraucht sind.150

Vgl. Dietmar Süß: Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer, Vorgeschichte, S. 109–127. 147 Darin liegt ein wesentlicher heuristischer Fortschritt des Sammelbandes von DoeringManteuffel/Raphael/Schlemmer, Vorgeschichte, gegenüber der Pilotstudie Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom. 148 Vgl. etwa Biebricher, Neoliberalismus, S. 132–137; Frank Nullmeier: Vergesst die Bürgergesellschaft!, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 15 (2002), S. 13–19; Wolf Dieter Narr: Wieviel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie ertragen? Am Exempel: Zivilgesellschaft, in: Das Argument 206, Juli-Oktober 1994, S. 587–597; Joachim Hirsch: Von der „Zivil“- zur „Bürgergesellschaft“. Etappen eines anscheinend unaufhaltsamen Abstiegs, in: links 1996, Nr. 5/6, S. 54; Lothar Böhnisch / Wolfgang Schröer: Bürgergesellschaft und Sozialpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14 (2004), S. 16–22. 149 Vgl. Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Frankfurt 2011, S. 212–224 sowie 240–247. 150 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Die Zielutopie der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und die „Zivilgesellschaft“ heute, in: Peter Lundgreen (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000, S. 85–92; Richter, Zivilgesellschaft. 146

294 Thomas Hertfelder

7. Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Dahrendorf hat seine Version des Liberalismus gerne als „neuen Liberalismus“ bezeichnet und damit auf jene bewährte semantische Strategie gesetzt, wie sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg Liberale wie Friedrich Naumann, Theodor Barth und Leonard T. Hobhouse oder später die Gründerväter des Ordoliberalismus betrieben haben.151 In historischer Perspektive erweist sich kein einzelnes Element des Dahrendorfschen Liberalismus als gänzlich neu. Neu sind vielmehr spezifische Akzentuierungen und Kombinationen, die sich als Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel seit den 1970er Jahren lesen lassen. So ist der starke Akzent, den Dahrendorf auf die Bürgergesellschaft legte, als Reflex sowohl auf die Krise des Wohlfahrtsstaates als auch auf die Erosion traditionaler Ressourcen von Sinn zu interpretieren, während die zunehmende Betonung unverhandelbarer Anrechte eines jeden Einzelnen immerhin eine liberale Antwort auf die autoritären Züge in den Sozialpolitiken Thatchers und später auch Blairs und Schröders bedeutete. Sein Insistieren auf dem Primat des Politischen gegenüber ökonomischen Imperativen, auf der legitimen Vielfalt ökonomischer Ordnungen, auf sozio-kultureller Diversität und Partikularität lassen sich schwerlich einer neoliberalen Agenda zuordnen. Insofern kann man am Beispiel des liberalen Intellektuellen Dahrendorf Wandlungen des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert aufzeigen, die nicht im Neoliberalismus aufgehen, sondern kritisch über diesen hinausweisen.152

Zu ersteren vgl. Michael Freeden: The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; Stefan-Georg Schnorr: Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse. Baden-Baden 1990; zum Ordoliberalismus als „neuem Liberalismus“ vgl. Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 165–174. 152 Zur Kritik einer ökonomischen Verengung des Liberalismus vgl. auch Freeden, Liberalismen. 151

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Eine linksliberale „Ikone“ Hildegard Hamm-Brücher und der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert

„Sie war die große alte Dame des deutschen Liberalismus. Über ein halbes Jahrhundert war Hildegard Hamm-Brücher Mahnerin, Querdenkerin, moralische Instanz, eine freie Demokratin in der Tradition von liberalen Ikonen wie Theodor Heuss, Thomas Dehler und Karl-Hermann Flach. Am Ende ihres Lebens war sie selbst zu einer Ikone geworden.“1 Nicht nur „Der Spiegel“ würdigte auf diese Weise die am 7. Dezember 2016 in München verstorbene Politikerin in einem Nachruf. Michael Stürmer galt sie in der „Welt“ als „Gesicht“ und „Stimme“ des Linksliberalismus, der „Zeit“ als „große Liberale“ und der „tageszeitung“ als Verkörperung des „sozialen Liberalismus“ in der Bundesrepublik.2 Obwohl sie 2002 aus Protest gegen – so Hamm-Brücher in einem Brief an den Parteivorsitzenden Guido Westerwelle – „die andauernde rechtspolitische, antiisraelische und tendenziell Antisemitismus schürende Agitation“ Jürgen Möllemanns aus der FDP ausgetreten war3 und sich seitKarl-Ludwig Günsche: „Die unverbesserliche Liberale,“ in: Spiegel Online, 9.12.2016, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/hildegard-hamm-bruecher-ist-tot-die-unver besserliche-liberale-a-1125154.html [21.09.2017]. 2 Michael Stürmer: „Diese Liberale verstand Politik als moralische Übung“, in: Welt Online, 9.12.2016, URL: https://www.welt.de/politik/deutschland/article160149886/Diese-Liberaleverstand-Politik-als-moralische-Uebung.html [21.09.2017]; Margrit Gerste: „Die freischaffende Liberale“, in: ZEIT Online, 9.12.2016, URL: http://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2016–12/hildegard-hamm-bruecher-tod-nachruf/komplettansicht [21.09.2017]; „Hildegard Hamm-Brücher ist tot“, in: taz.de, 9.12.2016, URL: http://www.taz.de/Ehemalige-FDPPolitikerin/!5364482/ [21.09.2017]. 3 Hamm-Brüchers Brief an Guido Westerwelle vom 22.9.2002 ist abgedruckt in: Hildegard Hamm-Brücher: Und dennoch … Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft, München 2011, S. 133 f. 1

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dem eine „freischaffende Liberale“ nannte4, blieb sie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen und auch der Nachwelt mit der FDP und dem organisierten Liberalismus verbunden. In der Rückschau auf ein langes Leben und eine politische Karriere, die in den späten vierziger Jahren im Münchner Stadtrat begonnen hatte, erschien im Winter 2016 den meisten Kommentatoren anlässlich ihres Todes jener 1. Oktober 1982 als der zentrale Wendepunkt in der Laufbahn HammBrüchers. An diesem Tag hatte sie sich im Bundestag gegen die Entscheidung ihrer eigenen Fraktion gestellt, Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler zu wählen. Kein Zweifel kann jedenfalls daran bestehen, dass die charismatische und eloquente Bildungs- und Gesellschaftspolitikerin und amtierende Staatsministerin im Auswärtigen Amt spätestens durch die Ablehnung des Koalitionswechsels ihrer Partei, welche sie mit Hinweisen auf Tugenden wie „persönliche und politische Verantwortung, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit“ rechtfertigte5, sehr große Prominenz erlangte. In den folgenden Jahren wurde sie in bestimmten Teilen der Presse und Öffentlichkeit zu einer der wichtigsten Identifikationsfiguren für im weiteren Sinne liberale bzw. linksliberale Normen und Verhaltensweisen sowie zum Vorbild für zivilgesellschaftliches Engagement oder den Einsatz für Bürger- und Frauenrechte.6 Bereits in den achtziger Jahren nannte die Presse sie eine „loyale Dissidentin“, „Vorkämpferin“, „liberale Lady“ oder „Hildegard Löwenherz“, sie galt bis über ihren Tod hinaus als die „unbequeme“ „Grande Dame“ der FDP oder gar gleich der „deutschen Politik“7 – und als die vielleicht „beste Bundespräsidentin, die Deutschland nie hatte“.8 Hamm-Brücher hatte einer Kohorte Liberaler angehört, die in den sechziger Jahren die teils noch in der Weimarer Republik geprägten führenden Liberalen in Schlüsselstellen der FDP ersetzt und damit begonnen hatte, neue  Antworten auf die Kernfragen der liberalen Tradition zu formulie-

Detlef Esslinger: „Bundespräsidentin h. c.“, in: Süddeutsche Zeitung, 10.12.2016. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 118. Sitzung vom 1.10.1982, S. 7195. 6 Zur Geschichte des Sozial- bzw. Linksliberalismus in der Bundesrepublik vgl. Thomas Hertfelder: Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013; Klaus Weber: Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969. Konjunktur und Profile, Frankfurt a. M. 2012. 7 Vgl. z. B. „Hildegard Hamm-Brücher. Die liberale Lady geht“, in: Bild Zeitung, 20.09.1989; Ada Brandes: „Die unbequeme Grande Dame der FDP nimmt ihren Abschied“, in: Stuttgarter Zeitung, 20.09.1989; „‚Grande Dame‘ der FDP auf dem Rückzug“, in: Westfälische Nachrichten, 20.9.1989. 8 Esslinger, „Bundespräsidentin h. c.“ Vgl. auch Carola Wedel: Hildegard Hamm-Brücher. Eine Präsidentin für alle, München 1994. 4 5

Eine linksliberale „Ikone“ 297

ren.9 Diese unterschieden sich nicht nur politisch, sondern auch generationell von den führenden Köpfen der „Partei der Alten“ der frühen Bundesrepublik.10 Zum Kreis der liberalen Reformer zählten vor allem der Jurist und spätere Bundesinnenminister Werner Maihofer, der Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf, der Journalist und Politiker Karl-Hermann Flach und auch Hamm-Brücher.11 Bereits aus der Opposition während der Zeit der Großen Koalition in Bonn hatten diese, so Oskar Anweiler, eine „entschiedene bildungspolitische Reformprogrammatik“ vertreten und „Forderungen nach einem Umbau des Bildungssystems mit einem liberalen Gesellschaftsbild“ verknüpft.12 Für diese Liberalen standen nun der „mündige […] Bürger“ und die „Demokratisierung“ der Gesellschaft im Mittelpunkt der politischen Forderungen.13 Die „marktwirtschaftliche Ordnung“ stellte man nicht infrage, befürwortete aber eine „liberale Reform des Kapitalismus“ im Sinne der Stärkung der wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen.14 Diese Bemühungen gipfelten in den sogenannten „Freiburger Thesen“ der FDP von 1971, die man als Schlüsseldokument eines an Reformen orientierten sozialen Liberalismus ansehen kann.15 In den späten sechziger und in den siebziger Jahren hatte Hamm-Brücher als Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium (1967–1969), Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (1969–1972) und Staatsministerin im Auswärtigen Amt (1976–1982) eine Reihe hochrangiger Posten bekleidet. Ihr realpolitischer Einfluss – und auch die programmatische Schnittmenge mit der FDP – waren hingegen nach dem Koalitions-

Vgl. z. B. Weber, Linksliberalismus; Lothar Albertin: Die koalitionspolitische Herausforderung der FDP 1966–1969: Fall oder Modell?, in: ders. (Hg.): Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik, Göttingen 1980, S. 211–221. 10 Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 291. 11 Weber, Linksliberalismus; zu Maihofer s. auch Hans Günter Hockerts: Vom Ethos und Pathos der Freiheit. Werner Maihofer, in: Bastian Hein / Manfred Kittel / Horst Möller (Hg.): Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 239–262, sowie den Beitrag von Gabriele Metzler in diesem Band; zu Dahrendorf s. den Beitrag von Thomas Hertfelder in diesem Band. 12 Oskar Anweiler: Bildungspolitik, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd.  5: Bundesrepublik 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2006, S. 711–753, hier S. 717. 13 Hertfelder, Naumann, S. 62. 14 So zusammengefasst in ebd., S. 62 f. 15 Karl-Hermann Flach / Werner Maihofer / Walter Scheel: Die Freiburger Thesen der Liberalen, Hamburg 1972. Vgl. dazu auch Hans Vorländer: Der Soziale Liberalismus der F. D. P. Verlauf, Profil und Scheitern eines soziopolitischen Modernisierungsprozesses, in: Karl Holl / Günter Trautmann / ders. (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190–226. 9

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wechsel 1982 marginal.16 In einer FDP, die sich in den achtziger Jahren und nach dem Ende der sozial-liberalen Ära als Partei der Unternehmer und der Wirtschaft wiedererfand, zählte sie, so „Der Spiegel“ 1984, bald zu den „Gesellschaftsreformer[n] von gestern“ und galt als „Prunkstück einer vergangenen FDP“.17 Wenn auch in der Forschung bislang umstritten ist, ob man auch bei den westdeutschen Liberalen von einer Partei des „Neoliberalismus“ sprechen kann18, so markierte das Jahr 1982 doch eine Wasserscheide für die FDP.19 Zwar kam es, obgleich prominente Parteimitglieder wie Ingrid Matthäus-Maier oder Günter Verheugen zur SPD übertraten, zu keiner Spaltung.20 Aber die FDP stand nicht nur unter dem Druck, sich nach dem Ende der Koalition mit den Sozialdemokraten programmatisch neu zu definieren. Sondern sie musste auch die Gegner der Koalition mit der Union integrieren sowie ein neues Profil entwickeln, mit dem sie sich in zentralen Punkten vom bürgerlichen Koalitionspartner CDU/CSU abgrenzen konnte. Die Frage, was den politischen Liberalismus ausmachte, worin seine politischen Ziele lagen, ja was überhaupt als „liberal“ zu gelten hatte, stellte sich nun nicht zum ersten Mal – aber dennoch mit Nachdruck.21 Auch wenn Hamm-Brücher 1984 wieder in den Bundesvorstand der Partei gewählt wurde, dem sie bereits von 1963 bis 1976 angehört hatte, spiel-

16 Keine Erwähnung findet sie in einschlägigen Studien, z. B. Udo Leuschner: Die Geschichte der FDP. Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, liberal und neokonservativ, Münster 2010, S. 123–176; Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 22010, S.  56, geht nur knapp auf ihre Rolle als Kritikerin des Koalitionswechsels ein. 17 „Platz frei“, in: Der Spiegel 1 (1985), 31.12.1984, S. 31 f, hier S. 31. 18 Vgl. u. a. Lutz Raphael: Schlusskommentar, in: Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.): Liberalismus im 20.  Jahrhundert, Stuttgart 2015, S.  333–339, hier S.  336; Philipp Ther: Neoliberalismus, in: docupedia zeitgeschichte, 5.07.2016, www.docupedia.de/zg/ Ther_neoliberalismus_v1_de_2016 [21.09.2017]. 19 Vgl. hierzu u. a. Leuschner: FDP, S. 123–127; Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 154–171. 20 Es erfolgte aber im November 1982 bzw. offiziell im Januar 1983 die Anerkennung der „Jungen Liberalen“ (JuLis) als Jugendverband der FDP, nachdem sich die linksliberalen „Deutschen Jungdemokraten“ (Judos) immer weiter von der Partei entfernt hatten. Vgl. hierzu Dittberner, Die FDP, S. 191. 21 Vgl. hierzu Hans Vorländer: Hat sich der Liberalismus totgesiegt? Deutungen seines historischen Niedergangs, in: ders. (Hg.): Verfall oder Renaissance des Liberalismus? Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, München 1987, S. 9–34, hier S. 2; Raphael, Schlusskommentar, S. 333–339, der auf die „Heterogenität“ des Liberalismus im 20. Jahrhundert hinweist. Vgl. dazu auch: Ralf Dahrendorf: Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983.

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te sie in der Programmdiskussion der Partei kaum mehr eine Rolle.22 Es ist sicher übertrieben, von politischer „Isolationshaft“ zu sprechen23, aber die Aussicht auf hohe (Partei-)Ämter bestand für sie nach dem im Bundestag offen zur Schau gestellten Dissens mit der Parteiführung unter Hans-Dietrich Genscher nicht mehr.24 Dies zeigte beispielsweise ihre gescheiterte Kandidatur für einen der Stellvertreterposten des Bundestagspräsidenten, den die FDP im Jahr 1984 zu besetzen hatte. Erst 1994, vier Jahre nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag und der aktiven Politik, nominierte die FDP sie als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten – eine symbolische Kandidatur, ohne die Aussicht, gewählt zu werden. Wie kann eine Betrachtung Hamm-Brüchers dann überhaupt eine Antwort auf die Frage des vorliegenden Bandes geben, was den „Liberalismus“ im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts ausmachte?25 Folgt man der Feststellung Dieter Langewiesches, wonach liberale Leitbilder und der Parteiliberalismus im 20.  Jahrhundert nicht deckungsgleich waren26, wird man diese Frage am besten beantworten können, wenn man fragt, wie Hamm-Brücher selbst liberale Politik definierte und umsetzte, aber auch, wie und warum sie als „Liberale“ – über ihre Mitgliedschaft in der FDP hinaus – wahrgenommen wurde. Hamm-Brücher in diesem Sinne auch – und vielleicht vor allem – als Projektionsfigur zu sehen, erscheint hinsichtlich des Untersuchungszeitraums dringend geboten, da sie liberale Politik nur bis in die siebziger Jahre, höchstens noch bis 1982, mitgestaltete.27 Nach der Wende wurde für Hamm-Brücher die Vermittlung einer Auslegung des „Liberalismus als politische Handlungsnorm und als soziales Leitbild“28 – das, was sie selbst in Anlehnung an Theodor Heuss als „freie Bürgergesinnung“ bezeichnete29 –

Dittberner, Die FDP, S. 56. Gerste, „Die freischaffende Liberale.“ 24 Dittberner, Die FDP, S. 212 f. 25 Siehe die Einleitung von Frank Bösch, Thomas Hertfelder und Gabriele Metzler zu diesem Band. 26 Dieter Langewiesche: Liberalismus heute – historisch gesehen, in: Friedrich Lenger (Hg.): Liberalismus und Sozialismus. Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen, Bonn 2003, S. 206–231, hier S. 226. 27 Obwohl sie als Staatsministerin im Auswärtigen Amt die Stellvertreterin Hans-Dietrich Genschers war, hatte sie keinen nennenswerten Einfluss auf die Gestaltung der bundesrepublikanischen Außenpolitik. Vgl. z. B. Frank Trommler, Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2014, S. 710 f. 28 Langewiesche, Liberalismus heute, S. 226. 29 Hildegard Hamm-Brücher: Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Theodor Heuss und die deutsche Demokratie, München 1984, S. 78. 22 23

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an eine breite Öffentlichkeit zur eigentlichen Aufgabe. Um sie in diesem doppelten Sinne – als liberale Politikerin und liberale Projektionsfigur – zu fassen, wird Hamm-Brücher zunächst in der Tradition linksliberaler Gesellschaftspolitik verortet; in einem zweiten Schritt wird nach ihrem Verhältnis zu liberalen Vorbildfiguren und ihrer eignen Rolle als liberale Projektionsfigur gefragt; schließlich wird die zunehmend (auto-)biographisch legitimierte Vermittlung „liberaler“ Handlungsnormen in den Blick genommen.

1. Hildegard Hamm-Brücher und linksliberale Gesellschaftspolitik

Blickt man auf die liberalen Parteien und Organisationen in der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, wird deutlich, dass sich der organisierte Liberalismus vor allem durch seine national- und wirtschaftspolitischen Gestaltungsansprüche auszeichnete.30 Über seine gesellschaftspolitischen Ambitionen hat er sich im letzten Jahrhundert nur phasenweise definiert und war als solcher in parteipolitischer Perspektive weit weniger erfolgreich. Dies gilt trotz der Tatsache, dass seit den fünfziger Jahren eine breite (Links-)Liberalisierung der gesamten westdeutschen Gesellschaft, der Medien und der Hochschulen zu beobachten ist.31 Dennoch gab es im organisierten Liberalismus immer auch einen Flügel, für den die Gesellschaftspolitik eine weit wichtigere Rolle einnahm als wirtschaftliche oder außenpolitische Fragen: auf einen einheitlichen Begriff lassen sich diese kaum reduzieren, aber man kommt einer Definition am nächsten, wenn man diese als Linksliberale, soziale oder „eher linke […]“ Liberale bezeichnet, so Gerhart Baum rückblickend.32 Fraglich ist  freilich, ob Hamm-Brücher tatsächlich eine linksliberale Politikerin war. Sie selbst sah sich jedenfalls einfach nur als „liberal“ ohne modifizierenden Zusatz.33 Es waren eher ihre Gegner in der FDP, die sie als „links“ bezeichneten –, und das meistens im Gestus der Abwertung oder Ablehnung.34 Egal wie man sie nun nennt – diese Liberalen stellten sich beim „Dilemma“ des Libe-

Vgl. z. B. Weber, Linksliberalismus; Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 22003. 32 Interview mit Gerhart Baum, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte des Arbeitskreises Menschenrechte im 20.  Jahrhundert, 27.11.14, URL: http://www.geschichtemenschenrechte.de/uploads/tx_ebook/Gerhart_Baum.pdf [21.09.2017]. 33 Vgl. Weber, Linksliberalismus, S. 181. 34 Vgl. Jacob S. Eder: Liberale Flügelkämpfe. Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 2 (2016), S. 291–325, hier S. 311. 30 31

Eine linksliberale „Ikone“ 301

ralismus zwischen Markt und Moral gegen die uneingeschränkte Wirtschaftsfreiheit35, bejahten „das sozialregulative Eingreifen des Staates“, tendierten zu Allianzen mit der Sozialdemokratie und wollten im Sinne eines umfassenden Liberalismus die gesamte Gesellschaft formen.36 Damit unterschieden sie sich von denjenigen Liberalen, die auf die „Moralität des Marktes“ vertrauten und den Kapitalismus als „notwendige Voraussetzung für politische Freiheit“ (Milton Friedman) ansahen.37 Vor dem Hintergrund des Erstarkens eines wirtschaftsliberalen – wenn man so will: neoliberalen – Flügels in der FDP gerieten die Linksliberalen zunächst innerparteilich, aber dann auch in der Regierungskoalition schon in den siebziger Jahren in die Defensive. Die FDP definierte sich bald wieder vorwiegend über die Wirtschafts- und Außenpolitik. „Linksliberal“ löste sich in diesem Kontext jedoch – als Label für eine bestimmte Form der Politik sowie für eine gesellschaftspolitisch kritische Grundeinstellung – von der Partei, die sich immerhin als legitime Erbin des gesamten deutschen Liberalismus imaginierte.38 Die politische Laufbahn Hamm-Brüchers verdeutlicht die Transformation und Neuinterpretation liberaler Werte sowie einen Formenwandel liberaler Politik seit den sechziger Jahren. In dieser neuen „Epoche“ des deutschen Liberalismus im 20.  Jahrhundert wurden sozialer Liberalismus und Demokratisierung zum gesellschaftlichen „Ordnungsmodell“  – nicht nur in der Bundesrepublik.39 Auch wenn in Westdeutschland die wesentlichen Impulse und Reformen von der Sozialdemokratie ausgingen40, stellte sich die FDP nicht mehr dem gesellschaftlichen und politischen Wandel entgegen, sondern agierte auf der Höhe der Zeit: sei es in der Strafrechtsreform, in der Bildungsreform, in der Deutschland- und wohl vor allem in der Ostpolitik.41 „Liberale mit Emanzipationsideen“ erkannten neuen Gestaltungsraum gerade in der Bildungspolitik als  – so Hamm-Brücher  – „wichtigster Form der

Vgl. Andreas Wirsching: Gehören Markt und Moral zusammen? Über ein historisches Dilemma des Liberalismus, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 35–53. 36 Hans-Georg Fleck: Sozialliberalismus und Gesellschaftsreform seit der Reichsgründungszeit, in: Detlef Lehnert (Hg.): Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien u. a. 2012, S. 51–65, hier S. 63. 37 Wirsching, Markt, S. 38 u. 40. Friedman zit. nach ebd., S. 40. 38 Bösch/Hertfelder/Metzler, Neoliberale Herausforderung, S. 5. 39 Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard: Liberalismus im 20. Jahrhundert. Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: dies., Liberalismus, S. 13–32, S. 26. 40 Gabriele Metzler: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik. Politische Semantik und demokratischer Aufbruch, in: Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 157–180. 41 Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 298. 35

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Sozialpolitik“.42 Mit Georg Pichts Diagnose einer „Bildungskatastrophe“ und Dahrendorfs Forderung „Bildung ist Bürgerrecht“ verfügten sie zudem über öffentlichkeitswirksame Slogans.43 Während ihrer zweijährigen Amtszeit als Staatssekretärin im hessischen Bildungsministerium setzte sich Hamm-Brücher am Ende der sechziger Jahre für eine umfassende „Demokratisierung der Schule“ ein, die in Form der Gesamtschule „Chancengleichheit im Bildungswesen“ schaffen sollte.44 Sie war für die Koordinierung des Aufbaus der ersten hessischen Gesamtschulen zuständig, die 1969 eröffnet wurden. Im selben Jahr wechselte sie als Staatssekretärin ins Bundesbildungsministerium unter dem parteilosen Minister Hans Leussink. Dort war sie für den „Bildungsbericht 70“ verantwortlich, der die Bedeutung der Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik hervorhob. Auch hier wurden Demokratisierung und Chancengleichheit, aber auch mehr Geld für Bildung und die engere Kooperation zwischen Bund und Ländern eingefordert.45 Dieser Bildungsplan scheiterte aber letztlich an der Finanzierung, was auch zum Rücktritt Hamm-Brüchers führte.46 Die linksliberale Kultur- und Bildungspolitik sah sich in den sechziger Jahren nicht mehr als Gralshüterin eines elitären Bildungsbegriffs in der liberalen Tradition, wie dies noch ein Jahrzehnt zuvor der Fall gewesen war.47 Sie begriff sich nun vielmehr als Teil einer breiten gesellschaftlichen Emanzipations- und Aufbruchsbewegung. Dies verdeutlicht ein Beitrag, den HammBrücher für die Festschrift zu Ehren des Kulturwissenschaftlers, Pädagogen und FDP-Kulturpolitikers Paul Luchtenberg Mitte der sechziger Jahre verfasste. In diesem Text widmete sie sich der „Problematik politischer Erziehung und Bildung im demokratischen Gemeinwesen“.48 Aus ihrer Sicht sollte der Kultur- und Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik größte Bedeutung zukommen. Damit stellte sie sich zum einen in eine alte (sozial-)liberale Tradition, jedoch unterschieden sich ihre Positionen in mehreren Gesichtspunkten deutlich von denen der älteren liberalen Kulturpolitiker. Noch 1959 hatte

Anweiler, Bildungspolitik, S. 714; Hamm-Brücher zit. nach ebd., S. 719. Ebd., S. 719. 44 So Hamm-Brücher 1967, zit. nach Weber, Linksliberalismus, S. 185. 45 Ebd., S. 193. 46 Ebd., S. 195. 47 Vgl. z. B. Walter Erbe: Liberalismus in heutiger Zeit, in: ders. u. a. (Hg.): Die geistige und politische Freiheit in der Massendemokratie, Stuttgart 1960, S. 7–27. Vgl. hierzu auch Hertfelder, Naumann, S. 58 f. 48 Hildegard Hamm-Brücher: Politische Bildung. Lebenselement der Demokratie, in: Lore Reinmöller (Hg.): Kulturpolitik und Menschenbildung. Beiträge zur Situation der Gegenwart. Festschrift für Paul Luchtenberg, Neustadt/Aisch 1965, S. 71–79, hier S. 71. 42 43

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beispielsweise der erste Vorsitzende der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Walter Erbe, „die moderne Massendemokratie […] mit ihrem Streben nach genormter Gleichförmigkeit“ als besonders große „Drohung gegen die Freiheit“ gesehen.49 Für Erbe war es Aufgabe der Liberalen, die misstrauisch beäugten „Massen“ – der „Geisteshaltung“ nach seien sie „Proletarier“50 – zu liberalen Tugenden, zur Freiheit und Individualität zu erziehen. Die moderne demokratische Massengesellschaft, die auch Hamm-Brücher 1965 als Gegenstand und Herausforderung für liberale Politik benannte, hatte jedoch – nicht nur aus ihrer Sicht – das bedrohliche Potential verloren, sondern wurde im Grunde als „Zustand der modernen Gesellschaft“ anerkannt.51 Verallgemeinert wird man sagen können, dass beispielsweise die Skepsis gegenüber der Masse als ein „Phänomen der Unterschichten“ – Erbe hatte ja noch vor den Proletariern gewarnt – in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1960er Jahre, so Paul Nolte, „nicht mehr plausibel“ war.52 Kritik an bestimmten Ausprägungen wie am Massenkonsum oder an den Massenmedien gab es freilich weiterhin, aber auch immer mehr Stimmen, die die Massengesellschaft positiv bewerteten und die Möglichkeiten der Individualisierung betonten.53 Auch Hamm-Brücher erläuterte, worin sie die Chancen für die westdeutsche Gesellschaft sah. Die bundesrepublikanische Demokratie sei eine „theoretisch vorbildliche Ordnung“, die über die notwendigen Institutionen der politischen Bildung – Schulen, Universitäten, Akademien – längst verfüge.54 Allerdings genüge es nicht, politische Bildung als „Institutionenlehre“, als „Kunde […] wie z. B. Verkehrserziehung“ zu betreiben, sondern es müsse „demokratische Überzeugung“ vermittelt werden. Laut Hamm-Brücher fehlte der Bundesrepublik „ganz wesentlich […] der Anschauungsunterricht einer funktionierenden demokratischen Ordnung und mehr noch einer praktizierten Lebensform“. Die Mahnung zur Konfrontation mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erwuchs dabei zu einem Grundprinzip der politischen Argumentation Hamm-Brüchers. So war für sie der „durchaus freiwillige Weg der Mehrheit des deutschen Volkes in den Nationalsozialismus“ ein schlagkräftiges Argument dafür, „dass sich hierzulande das Demokratische eben nicht von selbst [verstehe], sondern, dass es zäh und geduldig gesät, gehegt

Erbe, Liberalismus, S. 10. Vgl. Hertfelder, Naumann, S. 58 f. Erbe, Liberalismus, S. 15. 51 Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 305. 52 Ebd., S. 305 u. 308. 53 Ebd., 310. 54 Hamm-Brücher, Politische Bildung, S. 72. Folgende Zitate ebd. S. 72–77. Teilw. Hervorheb. i. Orig. 49 50

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und gepflegt werden“ müsse. Neben einer Reihe von Überlegungen, wie beispielsweise Lehrer in den Schulen zu „Vorbildern“ oder die Universitäten „Modell demokratischer Ordnungs-, Arbeits- und Lebensprinzipien“ werden könnten, ist eine neue Perspektive auf die Medien zu beobachten. Politiker wie Hamm-Brücher sahen nun zum Beispiel die Massenmedien Funk und Fernsehen nicht mehr als Bedrohung für die Freiheit – wie dies Walter Erbe noch etwa ein Jahrzehnt zuvor ausgeführt hatte –, sondern als Chance, demokratische und liberale Werte in die Gesellschaft zu vermitteln. So schrieb sie: „Das Fernsehen liefert politische Bildung in ihrer nachdrücklichsten und buchstäblich anschaulichsten Form frei Haus und erreicht die Familie zu einer Zeit und Gelegenheit, in der sie als kleinste Gemeinschaft ansprechbar ist.“55 Wenn gleichzeitig also ein erzieherischer Anspruch in der liberalen Tradition weiterhin deutlich erkennbar ist, war die kulturkritische, bildungsbürgerliche Skepsis gegenüber der Massendemokratie und deren Medien einer Anerkennung der gesellschaftlichen und politischen Realitäten gewichen. Auch habituell fand ein Wandel statt: liberale Gesellschaftspolitiker und -politikerinnen wie Hamm-Brücher wollten keine Volkspädagogen sein, sondern Vorbilder. Dies zeigten Hamm-Brüchers Überlegungen zum Auftreten der bundesdeutschen Politiker und die Chancen, die sich aus der Medienprominenz derselben ergäben. Es sei, so Hamm-Brücher, an den Politikern, demokratische „Umgangsformen“ und „Benehmen“ vorzuleben, die sie als „Ausdrucksformen echter Bildung“ charakterisierte. Sie benannte explizit das „Ideal des ‚gentlemanlike‘“ als ein Distinktionsmerkmal liberaler Politik und verwies auf die amerikanische Mediendemokratie, von der man sich bei der Vermittlung bestimmter images inspirieren lassen könne.56 Unklar muss bleiben, ob sie sich bewusst war, dass sie auf diese Weise auch an eine Denkfigur des Republikdiskurses der Weimarer Republik anknüpfte, der es beispielsweise im Reichstag um die Abgrenzung von Kommunisten und Nationalsozialisten oder um „Redlichkeit“ als politische Tugend in der Öffentlichkeit gegangen war.57 Hamm-Brücher beließ es jedenfalls nicht bei diesen Überlegungen, sondern setzte sie zum Beispiel im Wahlkampf um. Gut 15 Jahre später, zum Ende der siebziger Jahre, lobte sie „Bürgerinitiativen und andere politisch aktive neue Gruppierungen“ als „ganz neue Möglichkeiten freiheitlicher Initiativen und Mitarbeit“ und betonte wiederum die Wichtigkeit des

Ebd., S. 78. Ebd. 57 Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Berlin 32012, S. 163–166 u. 362–385. Zit. S. 375. 55 56

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Vorlebens demokratischer Praktiken und Umgangsformen.58 An die Politik gerichtet schrieb sie: „Wenn wir davon selbst überzeugt sind, könnten wir damit die junge Generation anstecken.“59

2. Linksliberale Projektionsfiguren

Die Bedeutung Hamm-Brüchers für die Beantwortung der Frage, was den Liberalismus im späten 20. Jahrhundert ausmachte, geht nicht in ihrer Funktion als liberale Bildungs- bzw. Gesellschaftspolitikerin auf. Man wird auch nach ihrem Beitrag zur Interpretation liberaler Vorbilder und Projektionsfiguren sowie nach ihrer eigenen Rolle als ein „Gesicht“ des Liberalismus fragen müssen.60 Den Ausgangspunkt markierte dabei eine vornehmlich von Theodor Heuss begründete selektive Auslegung der Schriften Friedrich Naumanns, die bis in die siebziger Jahre ihre Spuren in der FDP hinterließ. So nahmen beispielsweise die Mitautoren der Freiburger Thesen, Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer, explizit Bezug auf eine durch Naumann begründete „Tradition“ des sozialen Liberalismus.61 Ausgeblendet wurden dabei dessen nationalistische Positionen („Mitteleuropa“), die in der Bundesrepublik ihre Vorbildfunktion eingebüßt hatten. Heuss seinerseits wurde nach seinem Tod zum Gegenstand einer ähnlichen Legendenbildung, an der Hamm-Brücher maßgeblich beteiligt war: durch die Mitbegründung der Stiftung TheodorHeuss-Preis, durch Buchpublikationen und auch mit der immer wieder erzählten Geschichte über den Beginn ihrer eigenen politischen Karriere, die  – so Hamm-Brücher  – auf eine Begegnung mit Heuss im Jahre  1946 zurückging.62 Hamm-Brücher mythisierte Heuss zur bürgerlichen Heldenfigur und zum „Demokratielehrer“ der Bundesrepublik.63 Die im Weimarer Linksliberalismus – auch bei Heuss – durchaus vorhandenen illiberalen und autoritären Elemente (z. B. Ansätze zur Eliten- und Führerdemokratie, die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz) wurden dagegen weitgehend ausge-

Hildegard Hamm-Brücher: Was bedeutet uns unsere Demokratie?, in: Norbert Schreiber (Hg.): Die Zukunft unserer Demokratie. Initiative, Verantwortung, Gemeinsamkeit, München 1979, S. 7–12, hier S. 11. 59 Ebd. 60 Zur selektiven Interpretation Friedrich Naumanns durch Flach und Maihofer vgl. Hertfelder, Naumann, S. 64. 61 Ebd., S. 58–65. 62 Dazu ihre Autobiographie: Hildegard Hamm-Brücher: Freiheit ist mehr als ein Wort. Eine Lebensbilanz 1921–1996, München 21999, S. 98 f. 63 Vgl. z. B. Hamm-Brücher, Gerechtigkeit. 58

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blendet.64 Diese Mythenbildung wirkt im Grunde bis in die Gegenwart fort, und die so konstruierten Traditionen und Narrative werden bisweilen als Kern eines „eigentlichen“ Liberalismus der Dominanz des „Neoliberalismus“ in der FDP entgegengestellt bzw. deren (phasenweiser) Niedergang auch mit der Abwesenheit eines so verstandenen linksliberalen Gegengewichts erklärt. Theodor Heuss diente Hamm-Brücher nicht nur als ein zentraler Referenzpunkt in der Bildungspolitik, sondern vor allem als Rollenmodell für liberale Verhaltensnormen. Sie verstand Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik und stellte sich damit bewusst in eine Tradition eines Liberalismus, der es um „sozio-moralische Grundlagen und die Erziehung zu Tugenden“ ging.65 Zum Slogan wurde hier Heuss’ Diktum von der „Demokratie als Lebensform.“66 Bildungspolitik war in diesem Kontext weiter gefasst als Schulpolitik und beinhaltete auch eine erwachsenenpädagogische Komponente und so etwas wie lebenslanges Lernen.67 Zentral war für Hamm-Brücher dabei die Forderung an ihren Berufsstand, Politik nicht nur entsprechend zu gestalten, sondern demokratische Werte und Ideale bewusst zu fördern und vorzuleben. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die von ihr mitbegründete Stiftung Theodor-Heuss-Preis zu verorten. Diese zielte darauf ab, so Hamm-Brücher, ein breites gesellschaftliches Bewusstsein zu fördern für die „Dinge und Probleme, um die sich auch Theodor Heuss gesorgt hat: Um die liberale Demokratie als Lebensform, um den individuellen Mut  – meist Zivilcourage genannt –, um Aussöhnung und Verständigung, um vernünftige Formen des Zusammenlebens, um die demokratische Bereitschaft junger Menschen“.68 Hamm-Brücher idealisierte dabei das „Leitbild“ des verantwortungsbewussten und mündigen Staatsbürgers, der sich  – befähigt durch entsprechende

Ebd., S. 50 f; vgl. zu Heuss Jürgen C. Heß: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973, sowie die neueren Heuss-Biographien von Ernst Wolfgang Becker: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011, S. 42–78; Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2014, S. 241–337; Joachim Radkau: Theodor Heuss, München 2013, S. 122–190. 65 Ernst Wolfgang Becker: Kommentar zu den Beiträgen von Tim B. Müller und Jacob S.  Eder, in: Heuss-Forum, Theodor-Heuss-Kolloquium 2015, URL: http://www.theodorheuss-haus.de/fileadmin/user_upload/pics/Unser_Programm/Heuss-Forum/THK_2015/ Becker_-_Kommentar.pdf [21.09.2017]. 66 So zitiert von Hamm-Brücher z. B. in: Hildegard Hamm-Brücher: Zur Stiftung des Theodor-Heuss-Preises, in: Ludwig Raiser u. a. (Hg.): Vom rechten Gebrauch der Freiheit, Tübingen 1965, S. 11–20, hier S. 14. 67 Weber, Linksliberalismus, S. 116 f. 68 Hamm-Brücher, Zur Stiftung des Theodor-Heuss-Preises, S. 14. 64

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Bildung – aktiv am politischen Leben beteiligen sollte.69 Dies sei eine Daueraufgabe, da die bundesrepublikanische Demokratie nicht „erkämpft“, sondern „‚von oben‘ empfangen“ worden sei.70 Noch 1979 attestierte sie der „älteren“ – also ihrer eigenen – Generation, dass diese keine „vorbehaltslose und unbefangene Identifikation mit dieser Staats-, Gesellschafts-, und Lebensform gefunden [habe], wie dies in gewachsenen Demokratien so selbstverständlich ist wie das daraus erwachsende nationale Zusammengehörigkeitsgefühl“.71 Bis weit in die siebziger Jahre erfüllte Hamm-Brücher zugleich eine wichtige wahltaktische und repräsentative Rolle als ein Gesicht der FDP. Dies tat sie, obwohl sie nicht nur politisch-programmatisch, sondern auch wegen ihres Auftretens und ihrer Persönlichkeit in der Partei umstritten war.72 Ihre repräsentative Funktion schlug sich zwar nur phasenweise in der innerparteilichen Machtstruktur nieder, jedoch wussten auch ihre Gegner in der FDP um die Wirkung Hamm-Brüchers auf die Öffentlichkeit. Durch gezielte Personifizierung ihrer politischen Ziele und geschickte Imagepolitik erweiterte sie den Wählerkreis der FDP über diejenigen Bevölkerungskreise hinaus, die der Mitgliederstruktur der Partei entsprachen. In Bayern erkannte die Parteiführung zum Beispiel schon Mitte der sechziger Jahre – als man Hamm-Brücher aufgrund ihrer öffentlichen Kritik an führenden bayerischen Liberalen am liebsten aus der Partei ausgeschlossen hätte –, dass man auf sie als Identifikationsfigur und Wahlkämpferin nicht verzichten konnte. Nur mit Hamm-Brücher als „Aushängeschild“ war es möglich, auch bildungsbürgerliche Wähler für die FDP zu gewinnen, für welche eine national-konservativ geprägte FDP ohne den Hamm-Brücher-Flügel nicht wählbar gewesen wäre.73 Offensichtlich enerviert schrieb der FDP-Landesparteivorsitzende Klaus Dehler Mitte der sechziger Jahre an seinen Onkel Thomas: „Unbestreitbar und auch unbestritten ist Hildegard eines der, wenn nicht das beste Pferd in unserem Stalle. Einem hohen Mass [sic!] persönlicher und politischer Gaben steht ein Minimum von Bereitschaft zur Gemeinsamkeit, Toleranz und Einordnung gegenüber – welch liberale Tragödie.“74

So Christine Friederich: Inge Aicher-Scholl, Beitrag zur Konferenz: „Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?“, Jena, 20.–22.10.2016. 70 Hildegard Hamm-Brücher: Was bedeutet uns unsere Demokratie?, in: Schreiber, Zukunft, S. 8 f. 71 Ebd., S. 9. 72 S. z. B. Eder, Flügelkämpfe, S. 310. 73 Ebd., S. 322. 74 Klaus Dehler an Thomas Dehler, 15.03.65. Archiv des Liberalismus, Bestand Thomas Dehler, N1–290, Bl. 78. So auch in: Eder, Flügelkämpfe, S. 322. 69

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Seit Ende der sechziger Jahre machte der wachsende Einfluss der Linksliberalen auf Bundesebene die Partei attraktiv für kritische „Bewusstseinswähler“ und es erfolgte eine Annäherung an die Studentenbewegung (beispielsweise über Ralf Dahrendorf).75 Es gelang den Linksliberalen aber nicht, dauerhaft ein starkes Gegengewicht zum Wirtschaftsflügel zu etablieren und effektiven Widerstand gegen die Entwicklung der FDP zu einer Partei des Marktliberalismus zu leisten. Für Hamm-Brüchers schwache Position im Machtgefüge der FDP war es geradezu bezeichnend, dass sie auch in den Jahren der sozialliberalen Koalition – obwohl sie durchaus als ministrabel galt – keinen Kabinettsposten erhielt.76 In dieser Phase wurde sie jedoch zunehmend zur Projektionsfigur für linksliberale und bürgerliche Verhaltensnormen und Werte. Spätestens seit Anfang der achtziger Jahre stand sie auch nicht mehr wegen ihrer bildungspolitischen Ziele im Blickpunkt der Öffentlichkeit, sondern sie avancierte beispielsweise in der „Süddeutschen Zeitung“ oder der „Zeit“, aber auch in zahlreichen Taschenbuchpublikationen in der „Serie Piper“, zum Musterbeispiel einer nur dem eigenen Gewissen verpflichteten und moralisch handelnden Parlamentarierin. Dies geschah vor dem Hintergrund des Koalitionswechsels der FDP, der „geistig-moralischen Wende“ sowie von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, beispielsweise im Kontext der Konfrontation mit der NS-Vergangenheit. Die Titel einer ganzen Reihe von Taschenbüchern, die seit den achtziger Jahren erschienen und entweder von Hamm-Brücher selbst oder von ihren politischen Weggefährten über sie verfasst wurden, zeigen diese Idealisierung Hamm-Brüchers: „Freiheit muss erkämpft werden“; „Die Zukunft der Demokratie“; „Der Politiker und sein Gewissen: Eine Streitschrift für mehr Freiheit“; „Wider die Selbstgerechtigkeit“; „Kämpfen für eine demokratische Kultur“.77 Hamm-Brücher selbst stellte in einem solchen Band ihr Verständnis liberaler Verhaltensnormen explizit in die Tradition des Erbes von Theodor Heuss. In dem 1984 aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Heuss erschienenen Buch „Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Theodor Heuss und die deutsche Demokratie“ beschrieb sie den ersten Bundespräsidenten als „Leitbild“ für die bundesrepublikanische Demokratie und argumentierte, dass sein Vermächt-

Vorländer, Hat sich der Liberalismus totgesiegt, S. 28. Vgl. u. a. Weber, Linksliberalismus, S. 190–192. 77 Paul Noack (Hg.): Freiheit muß erkämpft werden. Hildegard Hamm-Brücher. Profil einer Politikerin, München 1991; Schreiber, Zukunft; Hildegard Hamm-Brücher: Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit, München 1983; dies.: Kämpfen für eine demokratische Kultur. Texte aus vier Jahrzehnten, München 1986; dies.: Wider die Selbstgerechtigkeit. Nachdenken über Sein und Schein der Westdeutschen, München 1991. 75 76

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nis auch in den achtziger Jahren keineswegs an Bedeutung verloren hätte.78 Ihr ging es dabei vor allem um die Festigung dessen, was Heuss 1952 als „freie Bürgergesinnung“ bezeichnet hatte: darunter verstand Hamm-Brücher, wie es auch in der Beschreibung des Theodor-Heuss-Preises hieß, „demokratisches Engagement, Zivilcourage, vorbildlichen Einsatz für das Allgemeinwohl“.79 So konnte auch die Frage, was liberale Bürgerlichkeit in den achtziger Jahren vor dem Hintergrund einer „bürgerlichen“ Bundesregierung bedeutete, anhand einer Prominentenfigur wie Hamm-Brücher bzw. ihren Publikationen über Heuss thematisiert werden. Während Hamm-Brücher zum Vorbild für eine bestimmte Auslegung des Liberalismus avancierte, fand zeitgleich ein Erosionsprozess des Linksliberalismus in der FDP sowie die Aufnahme linksliberaler Ideen durch andere politische und zivilgesellschaftliche Gruppen statt. In der FDP selbst, in der nun wieder vor allem außen- und wirtschaftspolitische Themen die Hauptrolle einnahmen und neben Genscher vor allem der Wirtschaftspolitiker Otto Graf Lambsdorff tonangebend war, wurde sozial-liberalen Politikfeldern keine größere Bedeutung mehr beigemessen. Daher suchten sich Linksliberale andere Foren der Öffentlichkeit, und ihre politischen Positionen wurden zunehmend außerhalb der FDP rezipiert, übernommen und transformiert. So nahmen etwa die Neuen Sozialen Bewegungen, vor allem die Grünen, wichtige Elemente eines linksliberalen Erbes auf.80 Eine Annäherung zwischen den Grünen und Hamm-Brücher konnte man schon in den achtziger Jahren im Bundestag beobachten. Beispielsweise kritisierte Hamm-Brücher den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler in der Bundestagsdebatte vom 15. Juni 1983 über den NATO-Doppelbeschluss heftig.81 Geißler hatte in Reaktion auf ein „Spiegel“-Interview mit den beiden Grünen-Politikern Otto Schily und Joschka Fischer, in welchem Schily vor einem europäischen Atomkrieg als atomares „Auschwitz“ gewarnt hatte82, im Parlament argumentiert, der „Pazifismus der 30er Jahre“ habe „Auschwitz erst möglich gemacht“.83 Zwar gab es deutliche politische sowie habituelle Differenzen zwischen Hamm-Brücher und den Grünen, und auch Schilys

Hamm-Brücher, Gerechtigkeit, S. 7. Ebd., S. 78 f. 80 Bösch/Hertfelder/Metzler, Neoliberale Herausforderung, S. 5. 81 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 13. Sitzung vom 15.6.1983, S. 759, 772, 810 f. 82 Spiegel Gespräch: „Wir sind ein schöner Unkrautgarten“, in: Der Spiegel 24 (1983), 13.06.1983, S. 23–27, hier S. 25. 83 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 13. Sitzung vom 15.6.1983, S. 755. 78 79

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Auschwitz-Vergleich hielt sie für „geschmacklos“.84 Dennoch ergriff sie nachdrücklich für die „pazifistische Gesinnung“ der Grünen Partei, was SPD und Grüne im Bundestag mit „lebhafte[m] Beifall“ begrüßten.85 So war es gewiss auch kein Zufall, dass Hamm-Brücher im Dezember 1984 bei den Nachwahlen eines Vizepräsidenten des Bundestags die Unterstützung der Fraktion der Grünen erhielt. Nach dem Ausscheiden des Bundestagsvizepräsidenten Richard Wurbs (FDP) aus dem Bundestag hatte die FDP-Fraktion den Unternehmer Dieter Julius Cronenberg nominiert, der sich in einer Abstimmung gegen Hamm-Brücher durchgesetzt hatte.86 Dies hielt die Fraktion der Grünen nicht davon ab, Hamm-Brücher dennoch für die Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten im Bundestag vorzuschlagen. In einer von Bundestagspräsident Philipp Jenninger verlesenen Erklärung lehnte Hamm-Brücher diese Nominierung jedoch ab: „Aus Gründen der Loyalität gegenüber der FDP-Fraktion vermag ich die von den drei Kolleginnen der Grünen vorgeschlagene Kandidatur zum Bundestagsvizepräsidenten nicht anzunehmen.“87 Im Laufe der folgenden Jahrzehnte und vor allem nach Hamm-Brüchers Austritt aus der FDP im Jahr 2002 wurden die Bindungen zwischen ihr und Bündnis 90/Die Grünen zunehmend enger. In ihrer Austrittserklärung hatte Hamm-Brücher an Westerwelle geschrieben, sie könne „in einer zur rechten Volkspartei à la Möllemann gestylten FDP keine Spuren eines Theodor Heuss, eines Thomas Dehler und Karl-Hermann Flach, eines Ignatz Bubis und vieler anderer aufrechter Liberaler mehr […] entdecken“.88 In der FDP habe sie daher ihre „politische Heimat“ verloren.89 Ihre Interpretation liberaler Werte und Verhaltensnormen meinte sie hingegen bei Bündnis 90/Die Grünen wiederzufinden. Auch wenn eine Mitgliedschaft für sie wahrscheinlich nicht zur Debatte stand, attestierte sie Bündnis 90/Die Grünen beispielsweise in einem Interview im Jahr 2011, die Partei habe „das Freiheitserbe des politischen Liberalismus angetreten“.90 Und auch Bündnis  90/Die Grünen beanspruchten den von ihr vertretenen Liberalismus nun für sich. So nominierte die Partei Hamm-Brücher als Wahlfrau für die Bundesversammlungen

Ebd., S. 811. Ebd., S. 811. 86 „Platz frei,“ in: Der Spiegel 1 (1985), 31.12.1984, S. 31 f. 87 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 112. Sitzung vom 14.12.1984, S. 8378. 88 Hamm-Brücher, Und dennoch …, S. 133 f. 89 Ebd., S. 134. 90 „Hamm-Brücher: FDP ‚eiert‘ heute wieder genauso herum. Hildegard Hamm-Brücher im Gespräch mit Liane von Billerbeck“, Deutschlandradio Kultur, 11.05.11, URL: http:// www.deutschlandradiokultur.de/hamm-bruecher-fdp-eiert-heute-wieder-genauso-herum.954. de.html?dram:article_id=146263 [21.09.2017]. 84 85

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2010 und 2012, und anlässlich ihres Todes würdigten die beiden Bundesvorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir sie als „Liberale im besten Sinne“ und als „Vorbild“.91

3. Liberale Verhaltensnormen und (auto-)biographische Legitimation

Einen nachhaltigen Akzent in der Diskussion, was „liberal“ und „liberal sein“ im späten 20. Jahrhundert bedeuten konnte, setzte Hamm-Brücher in der moralischen Aufladung ihrer Politik und Positionen. Michael Stürmer hatte sicher nicht Unrecht, wenn er in seinem Nachruf schrieb, für HammBrücher sei Politik eine „moralische Übung“ gewesen.92 Seit den achtziger Jahren bot die Thematisierung ihrer Lebensgeschichte in den Medien und einer wachsenden Zahl von Buchpublikationen zur politischen Kultur der Bundesrepublik zahlreiche Anknüpfungspunkte, Hamm-Brüchers „Haltung“ oder „Moral“ biographisch zu erklären. Hatte sie zu Beginn ihrer politischen Karriere als Hoffnungsträgerin für die Zukunft des Linksliberalismus gegolten93, so stand sie nun einige Jahrzehnte später für einen Gegenentwurf zum Marktliberalismus in der FDP und dem (befürchteten) Neokonservatismus der „Wende“ – ein Gegenentwurf, der nicht mehr nur auf Hamm-Brüchers Agenda als Bildungs- und Gesellschaftspolitikerin basierte, sondern zunehmend biographisch legitimiert wurde. Besonders deutlich wird dies nicht nur an Hamm-Brüchers Rolle als Meistererzählerin der sozial-liberalen Koalition, sondern auch am Wandel des öffentlichen Umgangs mit der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, deren Mitglieder teilweise zur gleichen Zeit wie Hamm-Brücher in München studiert hatten. Etwa seit den frühen achtziger Jahren veränderte sich die Erinnerung an den Widerstand der „Weißen Rose“ maßgeblich, eine Entwicklung, die im Kontext des „zweiten“ Kalten Kriegs und der Diskurse über die deutsche Geschichte, die NS-Vergangenheit, Holocaust, Erinnerung und „Identität“ seit den späten siebziger Jahren zu sehen ist.94 Zwischen 1980 und 1982 erschienen insgesamt vier Bücher und zwei Kinofilme über die „Weiße Rose“ und verschafften der Geschichte des studentischen Widerstands eine

Bündnis  90/Die Grünen: „Trauer um Hildegard Hamm-Brücher,“ 9.12.2016, URL: http://www.gruene.de/presse/2016/trauer-um-hildegard-hamm-bruecher.html [21.09.2017]. 92 Stürmer, „Diese Liberale verstand Politik als moralische Übung.“ 93 Eder, Flügelkämpfe. 94 Umfassend dazu: Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, München 2013. 91

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neue öffentliche Präsenz und Aktualität.95 Besonders hervorzuheben sind das 1980 erschienene Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ des Journalisten Hermann Vinke96 und der 1982 uraufgeführte Film „Die Weiße Rose“ von Michael Verhoeven. Im Rahmen der Nachrüstungsdebatten und der Friedensbewegung forderten beide zu Lehren für die Gegenwart aus der Beschäftigung mit dem Widerstand auf. So sah Verhoeven im Widerstand der „Weißen Rose“ ein historisches Lehrstück und eine Mahnung, sich für „die Lösung der großen Probleme der Gegenwart zu engagieren“.97 In diesen publikumswirksamen Neuinterpretationen wurden die Münchner Studierenden also zur vollkommenen Verkörperung von Zivilcourage und politischem Engagement umgedeutet und ihnen eine Vorbildfunktion für die bundesrepublikanische Jugend der achtziger Jahre zugeschrieben.98 Bereits in den siebziger Jahren hatte die biographische Bezugnahme auf den Widerstand der „Weißen Rose“ durch Hamm-Brücher selbst99, aber vor allem in der Beschreibung von außen deutlich zugenommen.100 In den achtziger Jahren etablierte sich dann ein Narrativ, das Hamm-Brücher immer näher an die „Weiße Rose“ rückte und ihr, teils implizit, teils explizit, eine Zugehörigkeit zum Widerstand zuschrieb. Neben dem Wandel der Erinnerung an die „Weiße Rose“ und auch einer sich verändernden öffentlichen Rolle von Zeitzeugen der NS-Zeit101, lag dies vor allem an Hamm-Brüchers Ablehnung des Koalitionswechsels der FDP von 1982. Am Tag des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt, das Helmut Kohl zum Kanzler machte, stellte sie sich nicht nur gegen die Abwahl Schmidts, sondern brachte auch ihren Dissens mit der FDP unter Genscher zum Ausdruck – was in der zeitgenössischen Wahrnehmung als Akt des Widerstands gedeutet wurde.102 Dies beförderte auch ihre Rolle als Stichwortgeberin, Interpretin und Zeit-

Ebd., S. 218–231. Hermann Vinke: Das kurze Leben der Sophie Scholl, Ravensburg 1980. 97 Hikel, Sophies Schwester, S. 227. 98 Ebd., S. 218–230. 99 Zum Beispiel in einem Vortrag über ihre „persönlichen Erinnerungen“ an die fünfziger Jahre an der Universität Mainz im Jahr 1976: Hildegard Hamm-Brücher: „Rückblick auf die Fünfziger Jahre“, 9.2.1976, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, ED 379, Bd. 72. 100 Vgl. z. B. Nicolas Pataky: Versuch einer Einleitung zur Person, in: Hildegard HammBrücher (Hg.): Vorkämpfer für Demokratie und Gerechtigkeit in Bayern und Bonn, Bonn 1974, S. 7–12. 101 Vgl. z. B. Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, in: ders. / Norbert Frei (Hg): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13–32. 102 Vgl. z. B. „‚Grande Dame‘ der FDP auf dem Rückzug“, in: Westfälische Nachrichten, 20.9.1989; Margit Gerste: „Sehr einsam und sehr zornig. Die liberale Politikerin wurde in Bonn zur Einzelkämpferin“, in: Die Zeit, 8.2.1985. 95 96

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zeugin des Widerstands im „Dritten Reich“, und sie galt nun bisweilen sogar selbst als Mitglied der „Weißen Rose“ (woran sie nicht ganz unbeteiligt war), welches deren geistiges Erbe nun in der Gegenwart vermitteln sowie biographisch und geschichtspolitisch zu legitimieren vermochte. Zum einen hatte sie seit den späten vierziger Jahren den Vorbildcharakter der Geschwister Scholl – einschließlich Inge Aicher-Scholls, der älteren Schwester von Hans und Sophie Scholl – für sich selbst wie auch für die bundesrepublikanische Gesellschaft im Allgemeinen betont und immer wieder gefordert, das „Vermächtnis“ der „Weißen Rose“ müsse Teil der deutschen „nationalen Identität“ werden.103 Zum anderen wurde ihr nun – gerade nach ihrem Auftritt im Bundestag im Oktober 1982 – die Rolle der widerständigen, eigenwilligen, nur dem eignen Gewissen verpflichteten, moralisch handelnden Bürgerin und Parlamentarierin zugeschrieben. „Die Zeit“ machte diesen Zusammenhang Mitte der achtziger Jahre explizit: „Aufgewachsen bei der jüdischen Großmutter in Dresden, erzogen in Salem – ‚eine sehr demokratische Schule mit geistig hochstehenden Menschen, die sich durch das Dritte Reich quälten‘ – Studium der Chemie in München unter Freunden, die zum Kreis der ‚Weißen Rose‘ gehörten und ermordet wurden: Daraus wuchsen ein inneres Koordinatensystem, ein sicheres Gespür, ein kräftiger Impuls, sich zu wehren und zu kämpfen. So ist auch ihre Entscheidung gegen Genschers Wende zu verstehen, die sie im Gehäuse der Macht alles bislang Erreichte kostete, ihr draußen aber Hochachtung und vielleicht mehr als eine Fußnote im Geschichtsbuch des politischen Liberalismus einbringt.“104

In den folgenden Jahren entstanden eine ganze Reihe von biographischen Portraits, die dieser Deutung folgten. So stellte Hamm-Brüchers Biografin Ursula Salentin sie in der 1987 erschienenen Biographie, die den Untertitel „Lebensweg einer eigenwilligen Demokratin“ trug, ganz bewusst in den Kontext des studentischen Widerstands in München. Salentin zitierte lange Passagen aus den Flugblättern der „Weißen Rose“ und bescheinigte HammBrücher eine „enge Bindung an […] den weiteren Kreis um die Geschwister Scholl“.105 In seiner „Wag zu sein wie Daniel“ [in der Löwengrube, Anm. d. Verf.] betitelten Hamm-Brücher-Biographie sah das der Journalist Helmuth von Schilling im selben Jahr ganz ähnlich, ebenso argumentierte die amerikanische Historikerin Rebecca Boehling in einem biographischen Aufsatz von

Vgl. z. B. Hamm-Brücher: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit.“ Die „Weiße Rose“ und unsere Zeit, Berlin 1997, S. 17; dies., Und dennoch …, S. 20. 104 Gerste, „Sehr einsam“. 105 Ursula Salentin: Hildegard Hamm-Brücher. Der Lebensweg einer eigenwilligen Demokratin, Freiburg i. Br. 1987, S. 22. 103

314 Jacob S. Eder

1990.106 Und ein Jahr später versah Inge Aicher-Scholl ihr ansonsten durchaus trennscharfes Portrait Hamm-Brüchers mit dem Titel „Widerstand als Grunderfahrung“ und erweckte somit den Eindruck einer engen Verbindung zwischen ihren 1943 hingerichteten Geschwistern und der Politikerin.107 In den achtziger Jahren verselbstständigte sich diese Lesart, die Hamm-Brücher nachträglich zu einem Mitglied des „weiteren“ Kreises um die „Weiße Rose“ machte, obgleich sie in keiner Weise in deren Aktivitäten oder Aktionen eingeweiht, geschweige denn daran beteiligt gewesen war.108 Nach dem Ausscheiden Hamm-Brüchers aus dem Bundestag 1990 widmete sie sich dann auch selbst intensiv der Reflexion über das eigene Leben und der Arbeit am eigenen Mythos. Zu nennen sind hier z. B. ihre Autobiographie „Freiheit ist mehr als ein Wort“ von 1996 oder ein passagenweise autobiographischer Band mit dem Titel „‚Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit‘: Die ‚Weiße Rose‘ und unsere Zeit“ von 1997.109 Hier deutete sie das Miterleben des Widerstands in München als politisches Schlüsselerlebnis und als Ausgangspunkt ihrer eigenen politischen Karriere und untermauerte so ihren Anspruch auf die Rolle als Zeitzeugin und Interpretin des „Vermächtnisses“ der „Weißen Rose“.

4. Fazit

Wie lässt sich Hildegard Hamm-Brücher in der Geschichte des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert verorten? Die Liberalismusforschung hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder betont, dass es – und dies gilt besonders für die Geschichte des 20. Jahrhunderts – nicht eine einzige Geschichte des Liberalismus geben kann.110 Man ginge fehl, wenn man vom Liberalismus als abgeschlossener Theorie oder Ideologie sprechen würde,

Helmuth von Schilling: Wag zu sein wie Daniel. Hildegard Hamm-Brücher: Eine Einzelkämpferin als Vorbild, Krefeld 1987; Rebecca Boehling: Symbols of Continuity and Change in Postwar German Liberalism. Wolfgang Haußmann and Hildegard Hamm-Brücher, in: Konrad H. Jarausch / Larry Eugene Jones (Hg.): In Search of a Liberal Germany. Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, New York/Oxford/München 1990, S. 361–387, hier S. 373. 107 Inge Aicher-Scholl: Widerstand als Grunderfahrung, in: Noack (Hg.): Freiheit, S. 15–27. 108 Keine einschlägige Studie zur „Weißen Rose“ erwähnt Hamm-Brücher. 109 Hamm-Brücher, Freiheit; dies., „Zerreißt den Mantel“. 110 So u. a. bei Michael Freeden: Liberal Languages. Ideological Imaginations and Twentieth-Century Progressive Thought, Princeton 2005; Philipp Müller: Kapitalismus der Vermittlung. Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 97–126, hier S. 100–102. 106

Eine linksliberale „Ikone“ 315

die eine eindeutige und unveränderliche moralische Position beinhaltete.111 Der Liberalismus hielt im 20. Jahrhundert – und erst recht nach 1918 – keine geschlossene Weltanschauung mehr bereit112, er ließ sich nicht mehr als „eine konsistente, selbständige und unterscheidbare politische Idee  […] isolieren“.113 Stattdessen muss man die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit des Liberalismus betonen, die man im Verlauf des letzten Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern im Grunde im gesamten transatlantischen Westen beobachten konnte.114 Um zu erklären, was den Liberalismus in seinem jeweiligen Zeitkontext ausmachte, hat Michael Freeden vorgeschlagen, die Fragen und Positionen von Individuen und Gruppen zu untersuchen, die sich selbst als „liberal“ bezeichneten oder von anderen so bezeichnet wurden.115 Folgt man diesem Vorschlag, unterstreicht dies (und wie eingangs bemerkt), dass liberale Leitbilder und der Parteiliberalismus nicht deckungsgleich waren.116 Dies zeigt auch die politische Biographie Hildegard Hamm-Brüchers: auch ohne Machtposition in der FDP war sie zum einen bemüht, einer bestimmten Interpretation des Liberalismus und dem, was sie als liberales Erbe (vor allem als das Erbe Heuss’) verstand, in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. So gab sie eine Antwort auf die Frage, was „Liberalismus“ bedeuten konnte. Zum anderen wurde sie zugleich zu einer Projektionsfigur für die Beantwortung eben dieser Frage. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen war Hamm-Brücher eine „Liberale“ – und blieb dies auch über ihren Austritt aus der FDP hinaus. Die Erfolgsbilanz Hamm-Brüchers als liberale Politikerin fällt demgegenüber eher mager aus: eine gescheiterte Schulreform in Bayern, die ebenfalls gescheiterten Bemühungen um eine Bildungsreform als Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium, ein wenig wirkungsvoller Versuch, die bundesrepublikanische Kulturaußenpolitik zu modernisieren, und schließlich der Anlauf zu einer Parlamentsreform in den achtziger Jahren, die sie selbst als das „demokratiepolitisch […] für mich bedeutsamste, aber auch erfolgloseste Engagement“ bezeichnete.117 Man muss dieser Bilanz aber nicht HammBrüchers Vorreiterrolle als Frau in der Politik der jungen Bundesrepublik, ihre

Freeden, Languages, S. 15 f u. 20. Jens Hacke: Die Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus? Überlegungen zum Erbe Weimars und zu liberalen Legitimitätsressourcen, in: Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 219–238. So auch: Müller, Kapitalismus, S. 100–102. 113 Hacke, Gründung, S. 235. 114 Vgl. Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 26. 115 Freeden, Languages, S. 20. Vgl. auch Raphael, Schlusskommentar, S. 333. 116 Langewiesche, Liberalismus heute, S. 226. 117 Hamm-Brücher, Und dennoch …, S. 94; vgl. auch Hamm-Brücher, Freiheit, S. 279. 111 112

316 Jacob S. Eder

Durchsetzungskraft in einer ihr oft kritisch gesinnten Partei, ihren Einsatz für die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit oder auch ihr beachtliches publizistisches Oeuvre entgegensetzen, um zu einem ausgewogeneren Urteil zu kommen. Denn die (partei-)politische Macht- und Erfolglosigkeit Hamm-Brüchers stand nicht im Widerspruch zu ihrer Popularität, sondern war vielmehr die Bedingung ihrer Wirkung als Projektionsfigur. Hildegard Hamm-Brücher konnte nur zur liberalen „Ikone“ werden, weil sie im späten 20. Jahrhundert offensiv einen anderen Liberalismus vertrat als diejenigen Politiker, die den Kurs der liberalen Partei FDP bestimmten. Für Hamm-Brücher blieb dabei das Individuum zentraler Bezugspunkt ihres politischen und publizistischen Handelns,118 nicht aber als, wie es der Neoliberalismus postulierte, „selbstverantwortlich handelnde Person […], als ökonomisch aktives, am Mehrwert orientiertes Subjekt“119, sondern als ein moralisch handelndes Mitglied einer bürgerlichen und demokratischen Gesellschaft. „Liberal“ im Sinne Hamm-Brüchers war nicht die Politik und Partei von Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Jürgen Möllemann und anderen, sondern es war eine Idealvorstellung, die ihre Wirkung als Mahnung und Opposition entfaltete.

Vgl. Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S.  29–32; Langewiesche, Liberalismus heute, S. 226. 119 So bei Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus, S. 29. 118

Sicherheit statt Freiheit? Herausforderungen des liberalen Rechtsstaats

GaBriele meTzler

„Im Zweifel für die Freiheit“? Innere Sicherheit und Rechtsstaat bei liberalen Innenministern

„Die Erneuerung der Bundesrepublik zu einem Staat der offenen Gesellschaft“ voranzutreiben, schrieb sich die FDP anlässlich der Bundestagswahl 1969 auf ihre Fahnen, und sie lud alle Bürger ausdrücklich ein, daran mitzuwirken.1 Wie ihr sozialdemokratischer Koalitionspartner, so hatten auch die Liberalen ein Programm der inneren Reformen im Vorfeld des Machtwechsels von 1969 erdacht, das sie in den folgenden Jahren weiter schärften. Höhepunkt liberaler Programmarbeit in liberalisierender Absicht waren sicherlich die Freiburger Thesen von 1971. Schon die erste These markierte „Menschenwürde durch Selbstbestimmung“ als Kern des Liberalismus, um „größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden politischen und sozialen Situation“ unmittelbar daran anzuschließen.2 In den Aufbruch zu „mehr Demokratie“ von 1969 fügte sich diese Position nahtlos. „Modernisierung“, „Demokratisierung“ und „Liberalisierung“ versprach die sozialliberale Koalition unter SPD-Kanzler Willy Brandt. Freilich setzten die dramatisch veränderten ökonomischen Bedingungen nach dem ersten Ölpreisschock 1973 der „Politik der inneren Reformen“ bald ebenso enge Grenzen wie die Gesellschaft selbst, die seit „1968“ einen Plu-

Praktische Politik für Deutschland – das Konzept der F. D. P., verabschiedet vom 20. Ordentlichen Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei am 25. Juni 1969 in Nürnberg, in: Günter Verheugen (Hg.): Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit in der F. D. P., Baden-Baden 21980, S. 15–32, hier S. 32. 2 Die Freiburger Thesen 1971, in: Verheugen, Programm, S. 43–122, hier S. 46. Zum sozialliberalen Profil der Freiburger Thesen vgl. auch Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 22010, S. 280 f. 1

320 Gabriele Metzler

ralisierungsschub erfuhr und geplanten Gesellschaftsentwürfen kaum mehr zugänglich war. Als in den 1970er Jahren „bleierne Zeiten“ aufzogen und politische Gewalt die politischen und rechtlichen Institutionen des Landes ganz fundamental herausforderte, fand sich freiheitliche Politik auf den Prüfstand gestellt. Nicht innere Reformen, sondern die neue Leitvokabel „Innere Sicherheit“ bestimmten fortan die innenpolitischen Debatten. Dadurch verschob sich die zentrale Spannungslinie von „Freiheit vs. Gleichheit“ zu „Freiheit vs. Sicherheit“. Es waren mit Hans-Dietrich Genscher, Werner Maihofer und Gerhart Baum drei liberale Innenminister, die das neue Politikfeld zu bestellen hatten (und im übrigen selbst mit ihren Familien ganz existentiell von den neuen Herausforderungen an die Sicherheit betroffen waren3). Sie taten dies durchaus in unterschiedlicher Weise, setzten unterschiedliche Akzente vor dem Hintergrund unterschiedlicher Problemwahrnehmung, definierten aber auch unterschiedliche Problemlagen, die sie unterschiedlich zu bearbeiten suchten. Was als Quintessenz des organisierten Liberalismus aus dieser reizvollen Konstellation herauszulesen ist, sei im Folgenden ausgeführt. Blieb bei allen Unterschieden ein liberaler Kern, und worin bestand er? Welchem Staats- und Politikverständnis folgten die drei, wie dachten sie das Verhältnis von Bürger und Staat? Welche Sprache fanden sie dafür, welche Geschichte erzählten sie darüber? In drei Schritten werde ich diese Fragen diskutieren. Beginnen möchte ich jedoch mit einer sehr knappen  – und daher notwendigerweise wenig differenzierten – Skizze, wie sich die Politik der Inneren Sicherheit in den 1970er Jahren entwickelte.

1. Alte und neue Feinde: Eine Periodisierung der Politik der Inneren Sicherheit

Mag auch der Begriff „Innere Sicherheit“ erst in den 1970er Jahren zu seiner notorischen Prominenz gelangt sein, so war der in ihm enthaltene Politikansatz der Sache nach nicht vollständig neu.4 Vielmehr gingen in der Inneren Sicherheit zentrale Elemente dessen auf, was seit seiner Gründung

Vgl. Maren Richter: Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970–1993), Frankfurt/New York 2014. 4 Einen Überblick über das Konzept der „Inneren Sicherheit“ in langer historischer Perspektive gibt Achim Saupe: Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2010), H. 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen. de/2–2010/id=4674 [3.1.2018], Druckausgabe: S. 170–187. 3

„Im Zweifel für die Freiheit“? 321

in die DNA des bundesdeutschen Staates eingeschrieben war: Konzeptionen „wehrhafter Demokratie“, Vorstellungen von inneren Feinden, deren Aktivitäten dem äußeren Feind in die Hände spielten, ein Vertrauen in allgemeine Wachsamkeit, in Ordnung und permanente Abwehrbereitschaft. Neu war, wie in der Forschung vor allem Klaus Weinhauer gezeigt hat, das Verständnis von Sicherheit als gleichsam sozialem Recht aller Bürger, in dieser Logik der sozialen Sicherheit durchaus ebenrangig an die Seite gestellt.5 Innere Sicherheit wurde zu einem Querschnittsthema, das die Felder innerer Ordnungspolitik, Sozial- und Bildungspolitik überwölbte und mit klassischer Polizeiarbeit genauso zu bearbeiten war wie mit kriminologischer Forschung, sozialpolitischer Intervention und bildungspolitischer Prävention. Wachsende Besorgnis richtete sich auf die allgemein steigenden Kriminalitätsraten, dann vor allem aber auf die anwachsende – quantitativ keineswegs ubiquitäre, aber medial verstärkte  – politisch motivierte Kriminalität. Hier galt die Aufmerksamkeit der politischen Akteure (bemerkenswerter Weise von der zeithistorischen Forschung bislang weitestgehend ignoriert6) zunächst vor allem der sogenannten „Ausländerkriminalität“: Politische Gruppen mit türkischem, jugoslawischem, palästinensischem oder arabischem Hintergrund wurden für einen „besorgniserregenden Anstieg“ bei „politisch motivierten Gewalttaten“ verantwortlich gemacht.7 Ein erster Höhepunkt wurde 1970 erreicht, als im Februar des Jahres arabische bzw. palästinensische Täter in kurzem zeitlichen Abstand zunächst einen Sprengstoffanschlag im Transitbereich des Münchener Flughafens und dann einen Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde ebenfalls in München verübten. Als im Sommer 1972 ein palästinensisches Terrorkommando in München ein Attentat auf die israelische Olympiamannschaft ausführte, war nicht mehr übersehbar, dass der transnationale Terrorismus die innere Sicherheit auch der Bundesrepublik massiv bedrohte – und dass der westdeutsche Staat auf seine Abwehr schlecht vorbereitet war.

Klaus Weinhauer: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre: Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 44 (2004), S. 219–242. 6 Einen Ausschnitt beleuchtet: Quinn Slobodian: The Borders of the Rechtsstaat in the Arab Autumn: Deportation and Law in West Germany, 1972/73, in: German History 31 (2013), S. 204–224. Zu diesem Thema arbeitet derzeit Matthias Thaden (Humboldt-Universität zu Berlin) an einer zeithistorischen Dissertation. 7 Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung, 28. Oktober 1970, Bundestags-Drucksache VI/1334, S. 5. Einen Überblick über die politische Gewalt durch Ausländer gibt Slobodian, Borders, S. 205–210. 5

322 Gabriele Metzler

Seit 1970 war zudem zunächst die Gewaltbereitschaft des linken Milieus ein Thema der Politik, dann rückten die zunehmenden Aktivitäten linker Terrorgruppen in den Fokus. Die Höhepunkte dieser Welle von Gewalt, die das staatliche Gewaltmonopol herausforderte, sind rasch markiert:8 zunächst um 1972, als die Rote Armee Fraktion in ihrer sogenannten „Mai-Offensive“ eine Serie von Bombenanschlägen verübte, bei der es mehrere Dutzende Verletzte gab und vier Menschen getötet wurden. Der nächste Höhepunkt folgte 1974/75, als erkennbar wurde, dass der Strafprozess gegen die sogenannte erste Generation der RAF von den Angeklagten und ihren Anwälten wiederholt boykottiert und hoch politisiert wurde und als weitere Anschläge, auch durch andere Terrorgruppen, folgten. Die Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günther von Drenkmann markierte den Auftakt zu einer neuen Welle der Gewalt. Die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm und die Ermordung zweier Botschaftsangehöriger folgten, während linke Täter vor Gericht standen und weitere verhaftet wurden. Als Nachgiebigkeit des Staates wurde weithin empfunden, dass 1975 inhaftierte Terroristen gegen den von der linken „Bewegung 2. Juni“ entführten Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz ausgetauscht wurden. Und dann folgte schließlich, alles Vorherige in den Schatten stellend, der Deutsche Herbst 1977 mit den Ermordungen des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und des Bankiers Jürgen Ponto, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und der zeitgleichen Entführung einer Lufthansa-Maschine durch ein palästinensisches Terrorkommando. Im Vergleich dazu wurde der rechten politischen Gewalt merklich weniger politische Bedeutung beigemessen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass die linken Gewalttäter von sich aus aktiv die Medien zu beeinflussen und den politischen Diskurs durch Bekennerschreiben u. a. zu prägen suchten,9 während die rechten Täter vergleichsweise „stumm“ blieben. Die Aufmerksamkeit der politischen Akteure jedenfalls war deutlich geringer als im Hinblick auf die linke Gewalt. Die Bundesminister des Inneren widmeten sich zunächst nur randständig diesem Thema, und der „Spiegel“ attestierte dem zuständigen Bundesamt für Verfassungsschutz bereits 1971 einen „Knick in der Verfassungsschützer-Optik“.10 Seit den späten 1970er Jahren nahm die Anzahl

Einen aktuellen Überblick geben die Beiträge in: Annette Schuhmann  / Jan-Hendrik Schulz (Hg.): Die RAF – vierzig Jahre danach. Der „Deutsche Herbst“ in der zeithistorischen Forschung, in: Zeitgeschichte-online, September 2017, URL: http://www.zeitgeschichte-online. de/thema/raf-40-jahre-danach [3.1.2018]. 9 Andreas Elter: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt/Main 2008. 10 Verfassungsschutz: Links vor rechts, in: Der Spiegel 24/1971, 7.6.1971, S. 26 f. 8

„Im Zweifel für die Freiheit“? 323

rechter politischer Gewalttaten jedoch merklich zu, den Höhepunkt dieser Welle stellte das Sprengstoffattentat auf das Münchener Oktoberfest Ende September 1980 mit zwölf Toten dar. Insgesamt kamen allein zwischen 1980 und 1982 über 30 Menschen durch neonazistische Anschläge ums Leben.11 Eva Oberloskamp hat die Gesamtzahl der Vorkommnisse in den 1970er Jahren wie folgt berechnet:12 300 250 200 150 100 50 0

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1992 Ausländischer Terrorismus (Mord-, Sprengstoff-, Brandanschläge, Geiselnahmen) Bundesdeutscher Linksterrorismus (Mord-, Sprengstoff-, Brandanschläge, Geiselnahmen, Raubüberfälle) Bundesdeutscher Rechtsterrorismus (Mord-, Brand-, Sprengstoffanschläge, Raubüberfälle) Terrorakte insgesamt

Nach Zahl der Taten betrachtet, kam dem Linksterrorismus bei weitem die größte Bedeutung zu, wenngleich 1976 Delikte aus dem Umfeld ausländischer Akteure quantitativ nahezu gleichauf lagen; rechtsextremistisch motivierte Taten waren dagegen ihrer Zahl nach bis Ende der 1970er Jahre eher zu vernachlässigen. Allerdings überstiegen sie 1981 zahlenmäßig jene von Ausländern. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass „Sicherheit“

Gedeon Botsch: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012, S. 81; vgl. auch Tobias Hof: Rechtsextremer Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Martin Löhnig / Mareike Preisner / Thomas Schlemmer (Hg.): Ordnung und Protest. Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte seit 1949, Tübingen 2015, S. 217–238. 12 Eva Oberloskamp: Codewort TREVI. Terrorismusbekämpfung und die Anfänge einer europäischen Innenpolitik in den 1970er Jahren, Berlin/Boston 2017, S. 17. 11

324 Gabriele Metzler

zum neuen Leitbegriff der 1970er Jahre wurde – im Übrigen ja nicht allein im Hinblick auf Kriminalität und (politisch motivierte) Gewalttaten, sondern auch auf die ökonomische und soziale Lage „nach dem Boom“ sowie, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, auf die internationale Politik.13

2. Was tun für die Innere Sicherheit?

Mit Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) trat im Oktober 1969 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein liberaler Innenminister sein Amt an. Nennenswerte personelle Umbrüche im Ministerium gab es gleichwohl nicht.14 Genscher war der erste der drei hier betrachteten Innenminister, der sich dem Politikfeld Innere Sicherheit zu stellen hatte, und er tat dies überaus beherzt. Bundeskanzler Willy Brandt kündigte schon in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969 ein „Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung“ an, das Genscher dann im November 1970 dem Bundestag vorlegte.15 Kennzeichnend für dieses Programm war sein starker institutioneller Zugriff, ging es hierin doch vor allem um den Ausbau der maßgeblichen Behörden: der Polizeien einschließlich und vor allem der Bundespolizei, des Bundesgrenzschutzes, des Verfassungsschutzes sowie des Bundeskriminalamts, die in der Ära Genscher erheblich an Ressourcen hinzugewannen. Den größten Zuwachs verbuchte das Bundeskriminalamt (BKA). Schon für 1970/71 sah das Sofortprogramm über 530 neue Planstellen allein für das BKA vor,16 das seinen Personalbestand bis 1980 schließlich fast verdreifachte. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz wuchs um zwei Drittel, der Bundesgrenzschutz um ein knappes Viertel des jeweiligen Stands von 1970.17 Großes Vertrauen legte Genscher an den Tag, wenn es um den

Mit Verweis auf Helmut Schmidts Primat der Sicherheit ab 1974: Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 466; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012. 14 Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 22013, S. 228. 15 Sofortprogramm der Bundesregierung zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung, Bundestags-Drucksache VI/1334. 16 Ebd., S. 7. 17 Klaus Weinhauer: Zwischen „Partisanenkampf “ und „Kommissar Computer“: Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: ders. / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt/New York 2006, S. 244–270, hier S. 246 (mit Berechnungen für BKA und Verfassungsschutz). 13

„Im Zweifel für die Freiheit“? 325

Einsatz elektronischer Datenverarbeitung zur Bekämpfung von Kriminalität ging. In größtem Einvernehmen mit Horst Herold, der 1971 an die Spitze des BKA trat, trieb der Innenminister den Ausbau der EDV voran; auch hierfür wurden im Rahmen des Sofortprogramms schon ab 1970 beträchtliche Mittel bereitgestellt.18 Das Sofortprogramm reflektierte weniger akute Sorgen um die Sicherheit, als dass es den Reformimpetus der sozialliberalen Koalition widerspiegelte. Der liberale Innenminister war hier durchaus ein typischer Protagonist dieser Reformallianz, und seine Konzentration auf die Institutionen wie auch sein technokratischer Ausbau der Datenverarbeitung in der Verwaltung entsprachen der Gesamtdisposition der Regierung Brandt.19 Der Zugewinn an Kompetenzen, den das BKA in der Ära Genscher erfuhr, fügte sich in den stärker unitarischen Zugriff der Regierung. Am Ende konnte sich das BKA als die zentrale Institution der Inneren Sicherheit etablieren. Mit der GSG-9 entstand zudem eine polizeiliche Spezialeinheit beim Bundesgrenzschutz, nachdem schon auf Länderebene die Gründung von speziellen Einsatzkräften vorausgegangen war.20 Auch durch die GSG-9 veränderte sich das föderale Gleichgewicht zugunsten des Bundes.21 Dass 1972 die maßgeblichen Akteure des Linksterrorismus, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, verhaftet werden konnten, verbuchte Genscher als Erfolg, der seinen Kurs in der Politik der Inneren Sicherheit bestätigte.22 Eine dem linken Terrorismus durchaus vergleichbare Herausforderung sah Genscher in der politischen Gewalt durch „Ausländer“. Nach den Münchener Anschlägen von 1970 intensivierte der Bundesinnenminister umgehend die Maßnahmen, um die „Ausländerkriminalität“ zu bekämpfen. Eine Arbeitsgruppe „Ausländer und Sicherheit“ sollte das weitere Vorgehen koordinieren,

Sofortprogramm, S. 7: für 1970/71 waren mehr als 15 Mio DM für Datenverarbeitungsanlagen vorgesehen. 19 Dazu ausführlich Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 351 ff; zum Sofortprogramm in dieser Perspektive auch Johannes Hürter: Anti-Terrorismus-Politik der sozialliberalen Bundesregierung, in: ders. / Gian Enrico Rusconi (Hg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982, München 2010, S. 9–20, hier S. 11. 20 Weinhauer, „Partisanenkampf “, S. 247. 21 Matthias Dahlke: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972–1975, München 2011, S. 102. 22 Hans-Dietrich Genscher, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 188. Sitzung vom 7.6.1972, S. 10979. 18

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für das Bundesverwaltungsamt, das das Ausländerzentralregister führte, wurde eine EDV-Anlage vorgesehen, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ebenso wie die internationale Kooperation sollten enger werden.23 Auf das Olympia-Attentat reagierten die zuständigen Behörden, indem sie das Ausländerrecht verschärften: Reisende aus dem arabischen Raum wurden nun an der Grenze streng kontrolliert, gut 2.400 Arabern wurde allein im Monat nach den Münchener Ereignissen die Einreise verweigert. Hunderte von legal in der Bundesrepublik lebende Araber wurden ausgewiesen, was Genscher mit der Gefahr weiterer palästinensischer Anschläge begründete. Zwei palästinensische Gruppen in der Bundesrepublik belegte er mit einem Verbot, damit, wie er ausführte, der Nahostkonflikt nicht weiterhin in die deutsche Innenpolitik hineingespült würde.24 Das Korrelat zum institutionellen Zugriff auf die Innere Sicherheit war in der Ära Genscher eine engagierte Beamtenpolitik. Rasch wurden die Laufbahnoptionen für Beamte erweitert und ihre Besoldung verbessert. Im Sofortprogramm von 1970 hatte Beamtenpolitik bereits einen prominenten Platz.25 Auch als der Innenminister im Sommer 1972 mit einem breiter angelegten Programm Innerer Sicherheit vor den Bundestag trat und darin die „umfassende gesellschaftspolitische Zielprojektion“ seiner Politik darlegte,26 standen die Beamten im Mittelpunkt. Denn Genscher konzentrierte sich „gesellschaftspolitisch“ im Wesentlichen darauf, die Bevölkerung zur Unterstützung der Polizeibeamten und der anderen Angehörigen der Sicherheitsorgane zu ermahnen. Im Gegenzug erwartete er, wie er bei jeder Gelegenheit deutlich machte, uneingeschränkte Loyalität der Beamten für den bundesdeutschen Staat. Der „Radikalenerlass“ der Innenministerkonferenz vom Januar  1972 sollte dafür eine Basis schaffen.27 Nach dem Rücktritt Willy Brandts, der Regierungsübernahme durch Helmut Schmidt und dem Wechsel Genschers ins Außenministerium – ein Amt, das er sehr viel wirkungsvoller gestaltete – folgte an der Spitze des Bundesministeriums im Mai 1974 Werner Maihofer (1918–2009), der bereits seit 1972 als Minister ohne Geschäftsbereich fungierte.28 Der Juraprofessor war ein klas-

Erklärung Hans-Dietrich Genschers vor der Presse, 24.2.1972, in: Bulletin der Bundesregierung, 26.2.1972, S. 268 f. 24 Slobodian, Borders, S. 212. 25 Sofortprogramm, S. 8 ff. 26 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 188. Sitzung vom 7.6.1972, S. 10975. 27 Rigoll, Staatsschutz, S. 340 ff. 28 Vgl. die biographische Skizze von Hans Günter Hockerts: Vom Ethos und Pathos der Freiheit  – Werner Maihofer (1918–2009), in: Bastian Hein  / Manfred Kittel  / Horst Möl23

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sischer Seiteneinsteiger in der Politik, der FDP war er erst 1969 beigetreten, und nun war er eigentlich für das Justizministerium prädestiniert, das er auch selbst bevorzugt hätte.29 Doch die Gestaltungsansprüche seiner Partei führten ihn schließlich ins Innenressort.30 Dort knüpfte er im Hinblick auf die Sorge für die Apparaturen der Inneren Sicherheit an den Kurs seines Vorgängers an. Nachdem der Linksterrorismus mit der Ermordung Günter von Drenkmanns, der Botschaftsbesetzung in Stockholm und der Lorenz-Entführung sowie der damit verbundenen Freipressung inhaftierter Terroristen 1975 einen neuen Aufschwung genommen hatte, stand für Maihofer außer Frage, dass nicht die allgemeine Kriminalität vorrangig zu bearbeiten war, sondern oberste Priorität die „Bekämpfung des Terrorismus“ haben musste.31 Entsprechend waren weitere Kompetenzen beim BKA zu konzentrieren. Alle polizeilichen Informationen über den Terrorismus sollten fortan dort zusammenlaufen, alle polizeilichen Aktionen in diesem Kontext von dort gesteuert werden. Dafür wurde beim BKA die Abteilung „Terrorismus“ mit 200 Mitarbeitern neu eingerichtet.32 Damit führte Maihofer den institutionenfixierten Ansatz Genschers zunächst bruchlos fort. Anders als Genscher gab er sich indes nicht einem nachgerade blinden Vertrauen auf die EDV-gestützte Fahndung hin, sondern setzte stärker auf kriminalistische und sozialwissenschaftliche Forschung zum Zwecke der Prä-

ler (Hg.): Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 245–268. 29 Ebd., S. 255, 258, 260. 30 Frauke Schulz: Werner Maihofer – im Zweifel für die Freiheit, in: Robert Lorenz / Matthias Micus (Hg.): Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 61–80, hier S. 76. 31 Siehe die Akzentverschiebung zwischen seinen beiden Reden im BKA: Werner Maihofer: Verbrechensbekämpfung im Wandel. Rede im BKA am 15. Juli 1974, in: ders.: Reden, Ansprachen 17. Mai 1974–31. Dez. 1975, Bonn 1976, S. 44–48, hier S. 44; Werner Maihofer: 25 Jahre Bundeskriminalamt. Rede im BKA am 18. März 1976, in: ders.: Reden, Ansprachen 1976, Bonn 1977, S. 75–86, hier S. 81. Dazu auch: Andreas Anter: Werner Maihofer zwischen Freiburger Thesen und Bonner Amtsführung. Rechtspolitik im Konflikt von Freiheit und Sicherheit, in: Stephan Kirste / Gerhard Sprenger (Hg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags, Berlin 2010, S. 137–151, hier S. 146 Fn. 37. Die Bedeutung des Jahres 1975 als Wendepunkt in der Anti-Terror-Politik betont auch Dahlke, Staat, S. 158 ff. 32 Klaus Weinhauer: Staatsmacht ohne Grenzen? Innere Sicherheit, „Terrorismus“-Bekämpfung und die bundesdeutsche Gesellschaft der 1970er Jahre, in: Susanne Krasmann / Jürgen Martschukat (Hg.): Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 215–238, hier S. 224.

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vention.33 Und während Genscher dem technokratischen Ansatz der Regierung Brandt gehuldigt hatte, beschwor sein Nachfolger wieder und wieder den „Konsens aller Demokraten“.34 Maihofers Vertrauen in die Vernunft der Institutionen war sein  – im Vergleich zu Genscher –liberalerer Umgang mit dem Extremistenbeschluss geschuldet. Nicht jeder, der Mitglied in einer als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation war, sollte automatisch vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen sein, argumentierte er. Praktisches Handeln gegen die Verfassung musste erst nachgewiesen werden, und insoweit sei allein eine Einzelfallprüfung anstelle eines Generalverdachts angemessen.35 Obendrein zeichne es den demokratischen Staat ja gerade aus, wenn er kritikfähig und nicht abhängig von willfährigen Staatsdienern sei: „Unser demokratischer Staat ist gefestigt genug, daß er nicht zuletzt um der Wahrhaftigkeit seines Selbstverständnisses wegen politisch inkonforme, aber verfassungstreue Mitarbeiter nicht von sich fernzuhalten braucht.“36 Man mag es folgerichtig, ironisch oder paradox nennen: In der Ära Maihofer traten besonders die zentralen Änderungen in der (Strafrechts-)Gesetzgebung hervor, die zeitgenössisch wie rückblickend als besonders illiberal wahrgenommen wurden. Um der Probleme Herr zu werden, reichten institutionelle Korrekturen offensichtlich nicht aus, wie Maihofer argumentierte: Zwar seien terroristische Organisationen durch Fahndungserfolge erheblich geschwächt worden, doch sei nach wie vor „mit weiteren terroristischen Aktionen [zu rechnen]“.37 Der zunehmend international operierende Terrorismus mache entsprechende Koordination zwischen den Staaten notwendig, und auch innerstaatlich müsse der Gesetzgeber nachjustieren. Damit begab sich Maihofer auf eine für einen Liberalen überaus prekäre Gratwanderung, forderten doch die Hardliner der CDU/CSU-Fraktion, die Strafgesetze deutlich zu verschärfen. Die innenpolitische Situation polarisierte sich auch dadurch weiter. In die Bundestagswahlen 1976 ging die Union mit dem Slogan

Maihofer, 25 Jahre, S. 84 f. Aus diesem Impuls hervorgegangen sind die bis heute lesenswerten vier Bände (in fünf) der „Analysen zum Terrorismus“, hg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1981–84; siehe dazu auch: Hürter, Anti-Terrorismus-Politik, S. 16 Fn. 15. 34 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 130. Sitzung vom 13.11.1974, S. 8797; 132. Sitzung vom 15.11.1974, S. 8964. 35 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 132. Sitzung vom 15.11.1974, S. 8959–8964. 36 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 132. Sitzung vom 15.11.1974, S. 8960. 37 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 213. Sitzung vom 16.1.1976, S. 14754. 33

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„Freiheit statt Sozialismus“, was Maihofer dazu veranlasste, den Christdemokraten in scharfen Worten vorzuwerfen, sie hätten den „Konsens der Demokraten […] mutwillig und grundlos“ aufgekündigt.38 Ganz unverkennbar verschärfte sich nun das innenpolitische Klima, die Polarisierung nahm zu, und die  – nach drei Wahlniederlagen frustrierte  – Opposition begann die sozialliberale Regierung in Sachen Innere Sicherheit vor sich her zu treiben. Ein wahres Feuerwerk an Gesetzgebung folgte. Federführend hierbei war das Justizministerium unter der Ägide des Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel, den Maihofer als Innenminister jedoch stets flankierte. Mochten Linksliberale sich auch bei der Abstimmung über einzelne Gesetze enthalten39  – der Bundesinnenminister stand loyal zu den legislativen Vorhaben seines Kabinettskollegen.40 Das Strafrecht wurde verschärft, indem neue Straftatbestände „terroristische Vereinigung“ (§ 129a StGB) und „Anleitung zu Straftaten“ (§ 130a StGB) ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurden. Verteidiger konnten nun von Strafverfahren ausgeschlossen werden (§§ 138a ff StPO), Mehrfachverteidigung wurde untersagt (§ 146 StPO), der freie Verteidigerverkehr wurde eingeschränkt (§ 148 StPO). Auf die massive Politisierung des Stammheimer Prozesses reagierte der Gesetzgeber, indem er verfügte, dass Verfahren auch in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführt werden konnten (§§ 231a, 231b StPO). Grundgesetzliche Rechte (u. a. Demonstrationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung) wurden beschnitten.41 Besonders umstritten war die Erweiterung des § 129 StGB, der die Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen unter Strafe stellte. Maihofer sprach sich explizit dafür aus, diesen Paragraphen zu ergänzen. Während in der historischen Forschung der § 129a StGB, der den Straftatbestand der „terroristischen Vereinigung“ einführte, heute als besonders prominente Chiffre dafür gilt, „Terroristen“ vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen, damit also einer binären Logik und scharfen Grenzziehung zwischen „denen“ und „uns“ sowie einem zugespitzten Zwang zum Bekenntnis zur einen oder anderen Seite

Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 241. Sitzung vom 12.5.1976, S. 16950. 39 So etwa Helga Schuchardt, Ingrid Matthäus-Maier und andere beim Kontaktsperregesetz: siehe Helga Schuchardt, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 44. Sitzung vom 5.10.1977, S. 3380 f. 40 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 178. Sitzung vom 12.6.1975, S. 12459–12461; Stephan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik während der 1970er Jahre, Paderborn 2010, S. 376. 41 Hürter, Anti-Terrorismus-Politik, S. 14. 38

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zu Recht zu verhelfen,42 war Maihofers Hauptargument anders gelagert: Dadurch würde eine klare Linie zwischen „gewöhnlicher“ und „terroristischer“ Kriminalität gezogen, was verhindere, dass normale Straftäter vom härteren Strafrecht gegen Terroristen mit betroffen wären. Faktisch war es ihm um eine Sonderregelung für Terroristen zu tun, deren Anwendung für andere Straftäter „überzogen“ wäre.43 Die Überwachung des schriftlichen Verteidigerverkehrs in Terroristenprozessen billigte Maihofer als „für jeden rechtsstaatlich Denkenden [als] zwar bittere Notwendigkeit, aber doch Notwendigkeit“.44 Unverkennbar stellte die besondere Situation des Deutschen Herbstes liberale Politik vor eine Zerreißprobe. Nie zuvor zeigte der liberale bundesdeutsche Rechtsstaat so viel Schwäche und so viel Härte zugleich. Werner Maihofers Amtszeit als Bundesinnenminister ging „auf Raten“ zu Ende.45 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ leitete seinen Abstieg ein, als es im Februar 1977 die Abhöraffäre um den Atomphysiker Klaus Traube enthüllte.46 Anfang März 1977 mutmaßte der „Spiegel“, der zuständige Bundesinnenminister habe erst spät darüber Kenntnis erhalten, also die zuständigen Behörden (vor allem das Bundesamt für Verfassungsschutz) nicht im Griff.47 Trotz der Krise blieb Maihofer noch über ein Jahr lang im Amt, ehe er im Juni 1978 schließlich seine Demission einreichte: Für die durch den Höcherl-Bericht zutage getretenen Pannen bei der Fahndung nach den Entführern Hanns-Martin Schleyers übernahm der Minister die Verantwortung.48 Am Ende galt Maihofer als Minister ohne Fortune. Der „Spiegel“ gab ihm zum Abschied das Zeugnis mit, Maihofer sei an der Law-and-Order-Prägung des Innenministeriums gescheitert, habe entgegen seinen ursprünglichen Intentionen die Freiheitsrechte der Bürger beschränkt und den Machtspielen zwischen Ministerium und Sicherheitsbehörden nicht nur nichts entgegenzusetzen gehabt, sondern habe vollkommen die Kontrolle über seinen Bereich

Scheiper, Sicherheit, S.  377; zugespitzt von mir weiter ausgeführt: Gabriele Metzler: Konfrontation und Kommunikation. Demokratischer Staat und linke Gewalt in der Bundesrepublik und den USA in den 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 249–277, hier S. 270. 43 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 213. Sitzung vom 16.1.1976, S. 14756. 44 Ebd., S. 14757. 45 Hockerts, Maihofer, S. 262–267. 46 Siehe die Titelstory: Lauschangriff auf Bürger T., in: Der Spiegel 10/1977, 28.2.1977. 47 Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel 11/1977, 7.3.1977, S. 19–30. 48 Zum Bericht des Bundesministers a. D. Hermann Höcherl über die Fahndungspannen im Fall Schleyer: [Unterrichtung durch die Bundesregierung, 7.6.1978] Bundestags-Drucksache 8/1881. 42

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verloren.49 Seine linksliberalen Unterstützer, die seine Anti-Terror-Politik schon kritisch gesehen hatten, versagten ihm angesichts der Traube-Affäre vollends die Unterstützung.50 Gerhart Baum (Jg. 1932) löste Maihofer ab. Ganz gewiss war er für diese Amtsübernahme prädestiniert, hatte er doch schon seit 1972 als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium gewirkt, mochten vor ihm 1978 auch noch andere Namen gehandelt worden sein. Baum hatte Maihofers Innenpolitik als Staatssekretär zwar mitgestaltet, doch nun schlug er im Hinblick auf den Linksterrorismus einen gänzlich anderen Kurs ein. Anstatt Gesetze zu verschärfen, den Druck auf das linke Milieu zu erhöhen und den Apparat der Inneren Sicherheit weiter auszubauen, setzte er auf Entdramatisierung und Entspannung. Nicht unbeeindruckt von den Teilen der Parteibasis, die nach dem Deutschen Herbst für eine Revision der harten Anti-TerrorGesetze plädierten,51 aber auch angesichts wachsender gesellschaftlicher Kritik,52 setzte er sich dafür ein, „aus den Schützengräben herauszukommen“, wie er in seinem berühmten „Spiegel“-Gespräch mit Horst Mahler vom Dezember 1979 forderte.53 Die von seinem Vorgänger noch unterstützten Strafrechtsparagraphen 88 und 130 nahm er zurück, weil sie in der justiziellen Praxis nicht konstruktiv anwendbar waren.54 Baum kam sicher zugute, dass linksterroristische Gruppen vorerst keine neue Attentatswelle starteten. Die Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz Herbert Karry im Mai 1981 durch die Revolutionären Zellen blieb der einzige vollendete linke Mordanschlag in Baums Amtszeit. Allerdings hatte er sich nun mit dem rechten Terror auseinanderzusetzen und ging gegen ihn entschlossener vor als seine Amtsvorgänger. Im Januar 1980 verfügte er ein Verbot der „Wehrsportgruppe Hoffmann“.55 Das Attentat auf dem Münchener Oktoberfest fiel in die Endphase des Bundestagswahlkampfs 1980 und wurde daher im Parlament nicht eingehend thematisiert. Im Wahlkampf spielte es indes durchaus eine Rolle, warf der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Franz-Josef Strauß, Baum doch vor, aufgrund seiner übermäßig liberalen Anti-Terror-Politik für

Maihofer: Abgang gesucht, in: Der Spiegel 23/1978, 5.6.1978, S. 21–25. Schulz, Maihofer, S. 76 f. 51 Verlorenes Profil, in: Der Spiegel 25/1979, 18.6.1979, S. 27 f. 52 Weinhauer, Staatsmacht, S. 226 ff. 53 „Wir müssen raus aus den Schützengräben“. Bundesinnenminister Gerhart Baum und Ex-Terrorist Horst Mahler über das Phänomen Terrorismus, in: Der Spiegel 53/1979, 31.12.1979, S. 36–49. 54 Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 8. Sitzung vom 28.11.1980, S. 249. 55 Der Spiegel 6/1980, 4.2.1980, S. 57 f. 49 50

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das Attentat mitverantwortlich zu sein.56 Das war zweifelsohne wahltaktisch motiviert. Und doch kommt man nicht umhin, allen Innenministern der 1970er Jahre zu bescheinigen, dass sie die rechtsextreme Gewalt erheblich unterschätzt und entsprechend zu nachlässig bearbeitet haben – der bayerischen Staatsregierung freilich erst recht.57 Indem er sich gesprächsbereit gegenüber der linken politischen Gewalt zeigte, suchte Baum das Profil der Liberalen als Bürgerrechtspartei wieder zu schärfen. Dafür scheute er auch vor einem harten Konflikt mit BKA-Chef Horst Herold nicht zurück. In der aufkommenden Datenschutzdebatte profilierte sich Baum als Minister, der die informationelle Selbstermächtigung von BKA und Verfassungsschutz einzuhegen suchte. Dass die „moderne Informationstechnologie“ für die Innere Sicherheit unverzichtbar war, gleichzeitig aber immer darauf zu achten sei, dass sie den „Bürger, der in Freiheit leben will, nicht überrollt“, war für Baum grundlegend.58 Auch mit der Abschaffung der Regelanfrage für Bewerber auf Beamtenstellen des Bundes Anfang 1979 wollte er „ein Zeichen für die Liberalität dieses Staates“ setzen.59 In der Regelanfrage sah Baum den „Ausdruck eines Mißtrauens des Staates gegenüber seinen jungen Bürgern; eines Mißtrauens, das zu Anpassung und Duckmäuserei führen kann und geführt hat.“60 Übergeordnetes Ziel war auch hier, auf dem „Weg in den Präventionsstaat“ innezuhalten.61 In der Frage der „Ausländerkriminalität“ strebte Baum gleichermaßen nach Entdramatisierung. Ohne die Straftaten ausländischer Täter bagatellisieren zu wollen, suchte er das Thema von der sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verschärfenden Diskussion um Ausländerzuzug und Asylrecht entkoppelt zu halten; stattdessen sei eher das Problem der wachsenden Ausländerfeindlichkeit und des schleichenden Übergangs zum Rechtsradikalismus zu bearbeiten.62

Ulrich Chaussy: Oktoberfest – das Attentat: Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, Berlin 22015, S. 130–135, 295. 57 Ebd.; so auch Gerhart Baum: Meine Wut ist jung. Bilanz eines politischen Lebens, München 2012, S. 17. 58 Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 8. Sitzung vom 28.11.1980, S. 248. 59 Wird schon laufen, in: Der Spiegel 9/1979, 26.2.1979, S. 32 f, hier S. 32. Siehe dazu auch den Beitrag von Larry Frohman in diesem Band. 60 Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 8. Sitzung vom 28.11.1980, S. 248. 61 Baum, Wut, S. 16. 62 Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 83. Sitzung vom 4.2.1982, S. 4908 f. Siehe auch die „Spiegel“-Titelstory: „Raus mit dem Volk“. Bomben und 56

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3. Was heißt „liberal“ in der Inneren Sicherheit der 1970er Jahre?

Kaum ein Jahrzehnt in der Geschichte der Bundesrepublik warf grundsätzlichere Fragen dahingehend auf, was „liberal“ überhaupt bedeuten konnte, als die 1970er Jahre. Selbst die zeithistorische Forschung oszilliert zwischen Deutungen der 70er Jahre als „sozialdemokratisches“ bzw. als „schwarzes Jahrzehnt“63 und verweigert kohärente Befunde. Auch im Rahmen des Paradigmas „Nach dem Boom“ sind differenzierte Befunde für die Fortentwicklung des Liberalismus  – jenseits neoliberaler Dominanzzuschreibungen  – nicht erhoben worden. Die Liberalen selbst mussten freilich dadurch, dass sie seit 1969 an der Regierung beteiligt waren, substantielle Antworten auf diese Frage geben. Diese fielen, blickt man auf ihre Positionierung hinsichtlich der Inneren Sicherheit, durchaus unterschiedlich aus, was man getrost auch wechselhaftem Abschneiden bei Landtagswahlen und innerparteilichen Machtkämpfen zuschreiben darf. Aber es waren eben auch liberale Innenminister, die mit ihrer Politik das liberale Profil entscheidend mitgestalteten. Der Liberalismus Genscher’scher Prägung ist in dieser Beziehung am blassesten. Starke programmatische Äußerungen tätigte er vor allem im Hinblick auf die Beamten, die er in ihre Pflicht als Staatsdiener nahm, ihnen aber zugleich zu besserer Stellung und Versorgung verhalf. Das Besoldungsrecht bildete beispielsweise den Schwerpunkt seiner Parteitagsrede von 1970, in der er sich erst in einer späten Passage zu den liberalen Werten der Bürgerrechte des Einzelnen und der Rechte der Minderheiten bekannte, daran aber sogleich wieder einen Verweis auf die notwendige „Funktionsfähigkeit des Staates“ knüpfte.64 Diese hing seiner Meinung nach, so auch in späteren Ausführungen, nicht nur von den Staatsbediensteten selbst ab, sondern maßgeblich auch davon, dass sich die Bürger zum Staat und zur demokratischen Ordnung bekannten. „Wir brauchen“, führte er 1971 in einer Rede vor dem

Hetzparolen – in der Bundesrepublik wächst der Haß gegen die Ausländer, in: Der Spiegel 38/1980, 15.9.1980, S. 19–26, zur statistischen Verzerrung der Ausländerkriminalität S. 25. 63 Massimiliano Livi / Daniel Schmidt / Michael März (Hg.): Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt/Main 2010; Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: AfS 44 (2004), S. 449–479; Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011. 64 Hans-Dietrich Genscher: Aufgabe und Verantwortung der Freien Demokraten. Rede auf dem 21. Ordentlichen Bundesparteitag der F. D. P. am 24. Juni 1970 in der Bonner Beethovenhalle, Bonn 1970, S. 7.

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Bundesgrenzschutz aus, „nicht nur den ‚nutznießenden‘ Demokraten, sondern den ‚bekennenden‘ Demokraten; den Bürger, der sich offen zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung als seiner Ordnung bekennt, zu diesem Staat als seinem Staat, zu seiner Polizei, seinem Bundesgrenzschutz, seiner Bundeswehr. […] Aber täuschen wir uns nicht, der Bürger bestimmt sein Verhältnis zum Staat ganz wesentlich danach, wieweit der Staat ihn zu schützen weiß, deshalb haben die Fragen der inneren Sicherheit einen so hohen Stellenwert im öffentlichen Interesse.“65 Der Staat war ihm Garant der Freiheit, weshalb auch jeder Staatsbeamte darauf zu verpflichten sei: „Unser demokratischer Staat“, so Genscher, „kann seine freiheitssichernde und freiheitsfördernde Funktion nur erfüllen, wenn er selbst freibleibt von den Feinden der Freiheit.“66 Ohne institutionell gerahmt und rechtsstaatlich abgesichert zu sein, war für Genscher demokratisches Engagement nicht vorstellbar. So sehr Genscher auf die staatlichen Institutionen vertraute, denen die Wahrung der Inneren Sicherheit oblag, so sehr betonte er freilich auch immer, dass sie gesetzlich und verfassungsmäßig eingehegt waren – und verpflichtet auf die demokratischen Werte des Grundgesetzes. Dass Verfassungsschutz und Polizeien getrennt voneinander waren, hatte in der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik einen hohen Wert und durfte nicht angetastet werden.67 Ebenso schloss aus Genschers Sicht das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im Inneren kategorisch und irreversibel aus.68 Unverkennbar – und durchaus erstaunlich, betrachtet man sein späteres Wirken als Außenminister – war Genschers Perspektive als Innenminister mindestens bis 1972 auf den arrondierten Nationalstaat als politischen Handlungsraum bezogen. Der nationale Staat war ihm „Container der Politik“, aus dem äußere Einflüsse fernzuhalten waren.69 Erst nach dem Olympia-Attentat fand er sich in grenzüberscheitende Überlegungen und entsprechende politische Strategien ein.70 Genuin liberale Werte wie „Freiheit“ akzentuierte er erst gegen Ende seiner Amtszeit als Innenminister stärker. „Freiheit“ politisierte er auch dann erst in parteipolitischem Sinne. Im Februar 1974 entgegnete er einem Antrag

Rede Genschers, 31.8.1971, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 126, 2.9.1971, S. 1350 f. 66 Rede Genschers, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 188. Sitzung vom 7.6.1972, S. 10978. 67 Hans-Dietrich Genscher, Rede zum 20jährigen Bestehen des Bundesamts für Verfassungsschutz, 28.9.1970, in: Bulletin der Bundesregierung, 30.9.1970, S. 1359–1362, hier S. 1360. 68 Hans-Dietrich Genscher, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 33. Sitzung vom 17.5.1973, S. 1790. 69 Slobodian, Borders, S. 212; zur Ausländerpolitik und den Ausweisungen ebd., S. 211 f. 70 Oberloskamp, Codename TREVI, S. 49 ff; deutlich relativierend: Dahlke, Staat, S. 127 f. 65

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der CDU/CSU auf „Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung“, in der harte Töne angeschlagen worden waren, mit einem Bekenntnis zur Freiheit: „Im Zweifelsfall immer für die Freiheit; diesen Satz legt unser Grundgesetz uns nahe.“ Und diese Freiheit sei nicht nur von den Gegnern des Staates bedroht; sondern „ebenso müßten auf Dauer diejenigen scheitern, die sich nur auf die Handhabung der Instrumente der Freiheitsbewahrung beschränken wollten, ohne Staat und Gesellschaft im Gebiete der Verfassung zu gestalten und zu entwickeln“.71 Damit baute Genscher eine argumentative Brücke zu seinem Nachfolger Maihofer. Maihofer, „der Philosoph unter den Innenministern“,72 war unter den drei hier betrachteten Innenministern derjenige, der am stärksten nach dem intellektuell fundierten, elaborierten Argument suchte, und derjenige, der die am breitesten angelegte Vision eines zeitgemäßen Liberalismus entfaltete. Von Haus aus Jurist, freilich anders als die beiden ebenfalls juristisch ausgebildeten, dann jedoch als Rechtsanwälte tätigen Vor- und Nachfolger, in der Wissenschaft tätig, setzte er auf die Überzeugungskraft des rationalen Arguments wie der historischen Einordnung. Als einziger der drei entwickelte er eine große Erzählung von Herkunft und Zukunft des Liberalismus, der, so schon sein Beitrag zu den Freiburger Thesen, in den demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts wurzelte. Der Gedanke der Freiheit des Individuums von staatlicher Bevormundung und Kontrolle verbindet sich bei Maihofer mit den Prinzipien der Gewaltenteilung und Bindung aller Politik an das Recht. Diese Leitideen ordnete er dem klassischen Liberalismus oder „Altliberalismus“ zu. Nun aber, in der Gegenwart, bedürfe es, so Maihofer, der Ergänzung durch einen „sozialen Liberalismus“, dessen Tradition er auf Friedrich Naumann zurückführte,73 dann aber zeitgemäß füllte. So schrieb er in seinem Beitrag zu den Freiburger Thesen: „Nicht auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chance in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es [diesem zeitgemäßen Liberalismus] an.“ Den „freiheitlichen Sozialstaat“

Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 79. Sitzung vom 14.2.1974, S.  5052– 5058 (5053); Antrag der CDU/CSU betr. Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, Bundestags-Drucksache VII/1481. Siehe auch Genschers Rede auf dem Kieler Parteitag der FDP, 6.11.1977, wiederabgedr. u. d. T.: Ausbau der Freiheit durch Reform, in: Peter Juling (Hg.): Was heißt heute liberal?, Gerlingen 1978, S. 195–205. 72 Anter, Maihofer, S. 137. 73 Vgl. Thomas Hertfelder: Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013, S. 58–65. 71

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kennzeichne es, den Bürgern die Chance zur Teilhabe an Eigentum und Vermögen zu eröffnen.74 Mit diesem Akzent auf dem Sozialliberalismus begründete Maihofer die Koalition mit den Sozialdemokraten, die er als großen historischen Kompromiss und die Vollendung dessen pries, was in der „demokratischen Revolution“ von 1848 nicht hatte vollendet werden können. „Demokratisierung der Gesellschaft“ und „Reform des Kapitalismus“ gingen hier Hand in Hand, wie der Minister auf dem Dreikönigstreffen der Liberalen 1974 pathetisch ausführte.75 Von „Sicherheit“ war in diesen frühen Texten Maihofers als Innenminister nichts zu lesen; „Freiheit“ im eben skizzierten sozialliberalen Verständnis war das klare Leitmotiv. Dies änderte sich in den folgenden Jahren durchaus. Es wäre falsch zu glauben, die jahrelangen, teils hart und erbittert geführten Auseinandersetzungen mit der CDU/CSU-Opposition, der „konservativen Gegenreformation“,76 die stets für eine Verschärfung der Gangart staatlichen Handelns eintrat, hätten keine Wirkung auf Maihofer gehabt; auch hatte er manchen Konflikt mit den Sicherheitsbehörden auszufechten. Wie Sicherheit und Freiheit gut auszutarieren seien, wurde zur zentralen Frage seiner Beiträge in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit. Allzu schlichten Antworten verweigerte sich der Rechtswissenschaftler Maihofer strikt und wählte im Zweifel den Modus des juristischen Kollegs, um Antworten zu geben: „Daß der freiheitliche Rechtsstaat“, führte er etwa 1976 in einem Aufsatz in der Zeitschrift „liberal“ aus, „nicht irgendeine Freiheit, sondern die größtmögliche Freiheit des einzelnen zum Ziele hat, und zugleich die erforderliche Sicherheit der anderen vor der Verletzung ihrer Rechtsgüter durch einen Mißbrauch der Freiheit des einzelnen, zeigt, daß der Rechtsstaat nicht aus einem einzigen obersten Ziel (auch nicht dem der Freiheit) angemessen begriffen werden kann, sondern nur als Austrag und Lösung eines Zielkonflikts zwischen den widerstreitenden Zielen (oder heteronomen Prinzipien) der Freiheit und Sicherheit, deren richtige Mitte wir in jedem Konflikt zwischen ihnen zu finden haben.“

Um es seinen Lesern leichter zu machen, fasste er sein Anliegen dann doch in eine einfache Botschaft: „‚Soviel Freiheit wie möglich, soviel Sicherheit

Werner Maihofer: Demokratischer und Sozialer Liberalismus, in: liberal 13 (1971), Aug./ Sept. 1971, S. 561–565, hier S. 562 f. 75 Werner Maihofer: Liberalismus 1974, in: liberal 16 (1974), Feb. 1974, S.  85–99, hier S. 92, 98. 76 Werner Maihofer, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 241. Sitzung vom 12.5.1976, S. 16958. 74

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wie nötig!‘, und nicht umgekehrt.“77 Zum Leitgedanken des „soviel Sicherheit wie nötig“ rechnete er in der Praxis die Strafrechtsänderungen, für die er von den Linken scharf kritisiert wurde. Aber nur, so Maihofers Argument, wenn einzelne terroristische Delikte getrennt vom übrigen Strafrecht ausgewiesen würden, konnte die notwendige Differenzierung zwischen „normalen“ und politisch motivierten Straftätern erfolgen und verhindert werden, dass erstere unnötig hart bestraft wurden.78 Maihofer vertraute auf die Vernunft aller am politischen Prozess Beteiligten, daraus leitete sich sein stetes Plädoyer für den „Konsens aller Demokraten“ ab. Sogar mit seinen innenpolitischen Widersachern von der CDU/ CSU erkannte er gemeinsame Grundwerte, auf denen sich Kooperation aufbauen ließe: die „Grundwerte der Freiheit, der Gleichheit oder Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit oder Solidarität“.79 Allerdings lässt sich daraus nicht schließen, dass er diese Werte der Gesellschaft verbindlich hätte vorgeben wollen.80 Sie mussten im „Konsens aller Demokraten“ erst aufgerufen und aktualisiert werden, um wirksam gesellschaftliche Integration und Sicherheit zu gewährleisten. Freilich fällt Maihofers Bilanz ambivalent aus. Denn es gelang ihm nicht, den harten, sozialliberal geprägten Kern seiner Politik zu behaupten. Seinem Versuch, von der Rechtspolitik im engeren Sinne einen Bogen zur engagierten Zivilgesellschaft zu schlagen, blieb ebenso ein durchschlagender Erfolg versagt wie den Bemühungen um eine gesellschaftspolitische Fundierung bürgerschaftlich-demokratischen Engagements, wie es dem sozialen Liberalen Maihofer vorgeschwebt hatte. Sein Nachfolger Baum setzte schließlich an einem ganz entschiedenen Bürgerrechtsliberalismus an. Die Freiheit des Bürgers vor unnötigen staatlichen Eingriffen zu schützen, bildete dessen Kern, und hierzu gehörte es unabdingbar, den Kontroll- und Disziplinierungsambitionen der Sicherheitsbehörden möglichst wieder enge Grenzen zu ziehen. BKA, Verfassungsschutz und der übrige Sicherheitsapparat waren, so Baums Einschätzung, mit ihren Strategien und Maßnahmen zur Inneren Sicherheit zu weit gegangen, sie hatten das Vertrauen der Bürger verloren, zumindest aber aufs Spiel gesetzt – das Vertrauen der Bürger, die sich nun vor einem Orwellschen Über-

Werner Maihofer: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in: liberal 18 (1976), Aug./Sept. 1976, S. 606–616, hier S. 613 [=Vortrag bei der Katholischen Akademie Hamburg, 20.6.1976]. 78 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 213. Sitzung vom 16.1.1976, S. 14753– 14757. 79 Maihofer, Freiheit, S. 607. 80 Vgl. Hockerts, Ethos, S. 251. 77

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wachungsstaat fürchteten. Um dem entgegenzuwirken und das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, musste der Sicherheitsapparat zurückgeschnitten werden. Erwiesen sich Anti-Terror-Gesetze als „entbehrlich“ und hatten sich „‚Einbuße[n] an Liberalität‘ damit verbunden“, so konnte man sie auch wieder aufheben.81 Aus den Protokollen der einschlägigen Bundestagsdebatten gewinnt man den Eindruck, die Abgeordneten hätten unmittelbar vor dem Übergang zur offenen Saalschlacht gestanden, so aufgeheizt und polarisiert war die Atmosphäre. Baum freilich war nicht zu beirren: Gegen harte Positionen der CDU/ CSU beharrte er auch auf der Abkehr von der Regelanfrage beim Extremistenbeschluss, auf Kontrolle der Sicherheitsbehörden, auf verbesserten Datenschutz. Nur so war eine freie Gesellschaft zu motivieren, für den liberalen Rechtsstaat einzutreten und sich gegen dessen Feinde zu behaupten. Dazu gehörte für Baum auch eine kritische Beamtenschaft, seien doch „Anpassung und Desinteresse […] im Verlaufe unserer jüngsten Geschichte wesentliche Ursachen für das Unheil, nicht die Rebellion“ gewesen.82 Zur freien Bürgergesellschaft zählte für Baum der freie Zugang zu Information und Bildung; doch schwächte sich der sozialliberale Impetus, wie ihn Maihofer ausgezeichnet hatte, bei ihm erkennbar ab. Sozialer Liberalismus konnte im Angesicht komplexer ökonomischer Krisen nicht für mehr als eine Grundsicherung jener stehen, die sich selbst nicht zu helfen vermochten und auch auf keine privaten Sicherungsnetze zurückfallen konnten. Auf diese Weise würden scharfe soziale Konflikte, zwischen denen, so Baum, auch „der demokratische Verfassungsstaat aufgerieben werden“ könnte,83 entschärft und beherrschbar gemacht. Mehr als das zu leisten, würde freilich den Staat überfordern – und die Bürger in ihrem Recht auf und in ihrer Chance zur Selbstbestimmung womöglich unterfordern. Auch für Baum galt das individuelle Leistungsprinzip, vielleicht nicht in der gleichen Zuspitzung wie für die Protagonisten einer konsequent neoliberalen Wirtschaftspolitik; aber die Aufgabe der Politik, die materiellen Möglichkeiten zur Wahrnehmung individueller Freiheitsrechte zu sichern, nahm in dieser Spielart des Liberalismus keine oberste Priorität ein, „Eigenverantwortung“ wurde hier stattdessen zum Schlüsselwort.84

So konkret zu den §§ 80 und 130a StGB: Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 8. Sitzung vom 28.11.1980, S. 249. Innenzitat BGH. 82 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 132. Sitzung vom 25.1.1979, S. 10412– 10420, hier S. 10416. 83 Gerhart Baum: Liberale Perspektive, in: liberal 19 (1977), Juni 1977, S.  412–417, hier S. 413. 84 Ebd. 81

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Mochte auch das Gewicht des Staates und seiner Institutionen bei den drei hier behandelten Innenministern unterschiedlich ausfallen, so einte sie doch unverkennbar ein gemeinsamer Politikbegriff. Keiner von ihnen suchte nach einfachen Antworten, keiner bestritt die Komplexität der anliegenden Probleme, keiner verweigerte sich Kompromissen. Als Negativfolie dienten linke Extremisten und Neonazis, denen Baum den „Glaube[n] an natürliche Ordnung, an einfache Lösungen, die Neigung, dem anderen die Schuld für die eigenen Probleme zu geben, die bornierte Intoleranz, die Unfähigkeit zum Interessenausgleich […]“85 zuschrieb. Im Umkehrschluss ließ sich auch daraus eine Definition des Liberalismus ableiten, eines Liberalismus, der mit all jenen im Gespräch bleiben wollte, die den Verfassungskonsens mittrugen. Was ließe sich also abschließend als Kern des Liberalismus im Hinblick auf die Innere Sicherheit identifizieren? Dazu zählte ganz sicherlich das Beharren auf Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Rechtsbindung und Einhegung allen staatlichen Handelns. Die alte Frage Wilhelm von Humboldts nach den „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ wurde stets aufgerufen, wenn auch nicht ganz einheitlich beantwortet. Die Rechte des Einzelnen durften nur so weit wie nötig beschränkt werden, sie zählten zur liberalen Grundausstattung, ja zum liberalen „Lebensgefühl“, wie Baum es in einem Beitrag 1983 ausbuchstabierte.86 Selbst dem Verfassungsschutzbericht stellte er ein Bekenntnis zu zentralen „Werte[n] wie Selbstverwirklichung, Selbsthilfe und Solidarität“ voran.87 Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit wurde stets kritisch abgewogen und „im Zweifel“, wie es immer wieder hieß, hatte die Freiheit den Vorrang zu haben. Unverhandelbar war auch ein deliberativer Politikbegriff, dessen Kern der freie öffentliche Diskurs bildete. Variabler und weitaus abhängiger vom Kontext und den Konjunkturen der Zeit war hingegen die soziale Ausrichtung des Liberalismus. Dass Grundrechte unbedingt einer sozialen Sicherung bedurften, erwies sich als disponibler Programmpunkt, was am Ende den Bürgerrechtsliberalismus mit dem Wirtschaftsliberalismus auch als vereinbar erscheinen ließ. In den Kieler Thesen der FDP von 1977 deutete sich dies schon an.88 In ihnen nahm die Innere Sicherheit bloß einen

Gerhart Baum, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 80. Sitzung vom 21.1.1982, S. 4813. 86 Gerhart Baum, Perspektiven für die liberale Partei, in: liberal 25 (1983), November 1983, S. 801–803 (801). 87 Gerhart Baum: Zum Verfassungsschutzbericht 1980, in: Bundesminister des Innern (Hg.): betrifft: Verfassungsschutz 1980, Bonn 1981, S. 3–6 (5). 88 Kieler Thesen 1977, in: Verheugen, Programm, S. 288–327. Vgl. auch Falk Heunemann: „Eine Wende ist notwendig“. Der Koalitionswechsel 1982, in: Stefan Schwarzkopf (Hg.): Die 85

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der hinteren Ränge ein, andere Themen wie Wirtschaft und Beschäftigung, Energie und Umwelt hatten Priorität, und „Freiheit“ war nun vor allem auf die Freiheit des wirtschaftenden Individuums bezogen.

Anatomie des Machtwechsels. Die sozialdemokratischen Regierungsübernahmen 1969 und 1998, Leipzig 2002, S. 80–111, hier S. 90 f; Dittberner, FDP, S. 282 f.

larry Frohman

Über die Schwierigkeit, im Informationszeitalter liberal zu sein Datenschutz, Datenzugang und die Grenzen der Sicherheit

A

uch wenn das Datenschutz- und Informationsrecht keineswegs nur den Liberalen am Herzen lag, wurde es in den 1970er und 1980er Jahren zu einem zentralen Problemfeld für eine Reihe liberaler Innenminister  – von Hans-Dietrich Genscher (Amtszeit 1969–74) über Werner Maihofer (1974– 78) bis Gerhart Baum (1978–82). Diese sahen sich sukzessiv mit der Herausforderung konfrontiert, zwischen dem Schutz der Privatheit und anderen, genauso liberalen Gütern einen richtigen, politisch annehmbaren Ausgleich zu finden – Gütern, deren Verwirklichung nicht von dem Schutz personenbezogener Daten, sondern von leichterem, erweitertem Zugang zu Daten und Informationen abhing. Auf diese Herausforderung gab es keine leichte Antwort – vor allem, weil sie eine Abwägung miteinander konkurrierender liberaler Werte verlangte – und infolgedessen hat die FDP auf diesem Gebiet nie mit einer einzigen Stimme gesprochen. Obendrein wurde die Abwägung dieser Werte dadurch verkompliziert, dass gerade zu dieser Zeit sozialer Verkehr und soziale Macht in beispiellosem Ausmaß durch den computervermittelten Austausch personenbezogener Daten bestimmt wurden. Um ihren Weg auf diesem Felde zu finden, mussten die Liberalen entscheiden, ob – in je wechselnden Zusammenhängen – die Erhebung und der freie Austausch solcher Daten vor dem Schutz individueller Privatheitsrechte den Vorrang genießen sollten. Gerade diese Probleme, die in der Geschichte des Liberalismus nie so thematisiert worden waren, haben Datenschutz- und Informationsrecht in einer völlig unerwarteten Weise zu einem zentralen Faktor bei der Neubestimmung des Liberalismus im Informationszeitalter gemacht. In den ersten Teilen dieses Aufsatzes werde ich zeigen, dass die praktische Umsetzung der neuen Auffassung der Privatheit als informationelle Selbstbestimmung im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) den Konflikt zwischen

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Datenzugangs- und Datenschutzrechten eher institutionalisiert als gelöst hat, und dass die anschließenden Versuche, das BDSG zu novellieren, die Prinzipienunterschiede, die bei der Verabschiedung des Gesetzes durch politische Kompromisse überdeckt worden waren, an die Oberfläche gefördert und sogar noch verschärft haben. 1982 hatte die FDP mit der SPD gebrochen, um in eine Regierungskoalition mit den konservativen Unionsparteien einzutreten. Dieser politische Wechsel ging hauptsächlich auf unterschiedliche Auffassungen zur Wirtschaftspolitik zurück. In beiden Konstellationen stimmten jedoch liberale Ideen über das Verhältnis zwischen Datenschutz und innerer Sicherheit nicht mit denen der jeweiligen Koalitionspartner überein. In den letzten Teilen meines Beitrags werde ich anhand der Sicherheitsgesetze, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durch den Bundestag beraten wurden, liberale und konservative Ansichten über die richtige Beziehung zwischen Datenschutz und innerer Sicherheit einander gegenüberstellen. Obwohl die FDP die konservativen Parteien gezwungen hat, die Gesetzentwürfe in verschiedenen Hinsichten zu ändern, gelang es weder ihr noch den Datenschutzbeauftragten, die Hobbes’sche Logik, die dem konservativen Denken in Sicherheitsfragen zugrunde lag, zu ändern und die informationelle Tätigkeit des Staates auf diesem Gebiet zu begrenzen.

1. Auf der Suche nach einem liberalen Datenschutzrecht

Das Recht auf Privatheit und das Recht auf Information verhalten sich spiegelbildlich zueinander: Das Recht der Bürger, der Unternehmen und des Staates, personenbezogene Daten zu erheben, zu verarbeiten, zu nutzen und anderen zu übermitteln, steht gegen das Recht der Datensubjekte, sich gegen solch eine Verwendung ihrer Daten zu wehren. Beide Rechte sowie der bleibende Konflikt zwischen ihnen sind wesentliche Merkmale aller liberalen Gesellschaften. Jedoch haben in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe von Entwicklungen die Normen unterlaufen, die die soziale Kommunikation im „bürgerlichen Zeitalter“ geregelt hatten. Zusammen mit der Begeisterung für Sozialplanung haben der Ausbau und die Vertiefung des Sozialstaats einen scheinbar unersättlichen Durst nach empirischen Daten über die Bevölkerung mit sich gebracht. Störend wirkte dabei die Sorge, dass die Verwendung dieser Daten, um Individuen, die Bevölkerung und soziale Prozesse zu steuern, die gesellschaftlichen Machtbeziehungen auf eine Weise verändern würde, für die noch nicht einmal die notwendigen Begriffe vorhanden waren. Doch nicht nur der Staat, auch der private Bereich veränderte sich markant, indem die Konsumgesellschaft ein ganz ähnliches Bedürfnis nach personenbezogenen Daten zum Zweck etwa des Marketing und der Gewährung

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von Konsumentenkrediten hervorbrachte. Verschärft wurde die Problematik durch technische Neuerungen wie die Einführung von Großrechnern in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sowie die Entwicklung der ersten Personalinformationssysteme. So sprach man bald von einer Disziplinar- und Kontrollwirkung der neuen Daten- und Informationstechnologien. David Lyon, der Altmeister der surveillance studies, prägte den Begriff des social sorting, um die neue diskriminierende Macht zu beschreiben.1 Um 1970 hat sich somit eine neue, spezifisch postindustrielle soziale Frage herauskristallisiert, die – ausgerechnet – Horst Herold, 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamts, später als die „Informationsfrage“ bezeichnet hat.2 Die Informationsfrage hat wiederum eine neue Form der Sozialpolitik hervorgebracht, die ich die Politik personenbezogener Daten nenne. Neue Datenschutzdiskurse verfolgten das Ziel, die Probleme, die durch den Ausbau der Datenverarbeitungs- und Überwachungskapazität von Staat und Privatsektor verursacht worden waren, zu analysieren. Ohne hier weiter darauf eingehen zu können, möchte ich die These formulieren, dass die Datenschutzgesetzgebung der 1970er und 1980er Jahre der Versuch einer Antwort auf die „Informationsfrage“ war. Diese Gesetzgebung verfolgte das Ziel, neue Parameter für den sozialadäquaten Informationsaustausch personenbezogener Daten politisch auszuhandeln und in eine neue Form zu gießen, die den gewandelten Bedürfnissen des expandierenden Sozialstaates und der aufkommenden Informationsgesellschaft besser entsprechen würde. Die Trennung von Staat und Gesellschaft, Öffentlichkeit und Privatsphäre, war konstitutiv für den modernen Liberalismus. In seiner Elfes-Entscheidung von 1957 hat das Bundesverfassungsgericht die Existenz einer „Sphäre privater Lebensgestaltung, […] ein[es] letzte[n] unantastbare[n] Bereich[s] menschlicher Freiheit“ bestätigt, „der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“.3 Demnach wurde die Privatsphäre als vorsozialer Bereich begriffen, in den sich das Individuum zurückziehen könne, um Ruhe, Einsamkeit und Zuflucht von den Entfremdungen des öffentlichen Lebens zu finden und von dem aus es dann unter selbstgewählten Bedingungen wieder in den gesellschaftlichen Verkehr mit anderen eintreten können sollte. Wie das Gericht später in seinem Mikrozensusurteil von 1969 ausführte, war die-

David Lyon (Hg.): Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk, and Digital Discrimination, London 2003; ders.: Identifying Citizens. ID Cards as Surveillance, Cambridge 2009. 2 Interview mit Horst Herold: Die Polizei als gesellschaftliches Diagnoseinstrument, in: CILIP: Bürgerrechte und Polizei, 16, Nr. 3 (1983), nachgedruckt in: Roland Appel u. a. (Hg.): Die neue Sicherheit. Vom Notstand zur sozialen Kontrolle, Köln 1988, S. 89. 3 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 32 ff, hier S. 41. – Künftig zit.: BVerfGE, folgen Bandangabe und Seitenzahl. 1

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ser „Innenraum“ gerade deswegen würdig, als grundrechtsrelevant geschützt zu werden, weil er die Vorbedingung der „freien und selbstverantwortlichen Entfaltung [der] Persönlichkeit“ bildet, die seit seiner Entstehung der Polarstern im Wertehimmel des Liberalismus gewesen war.4 Jedoch sind ab 1970 fast alle, die sich mit dem Problem auf wissenschaftlicher Ebene befassten, zu dem Schluss gekommen, dass der Begriff der Privatsphäre jene Schlüsselrolle, die er im klassischen Liberalismus innehatte, nicht mehr erfüllen könne. Einerseits schienen Versuche, die Reichweite und den Inhalt der Privatsphäre zu bestimmen, eher die theoretische Inkohärenz des Begriffs zu beweisen, indem sie zur Erfindung von Geheim-, Intim-, Sozialund weiteren Sphären führten und den entsprechenden Daten unterschiedliche Arten und Grade des Schutzes angedeihen lassen wollten; diese konnten aber weder miteinander noch mit der Erfahrung auf befriedigende Weise in Einklang gebracht werden.5 Andererseits – und dies finde ich noch interessanter – hat eine Reihe soziologischer und juristischer Arbeiten gezeigt, dass solche räumlichen Auffassungen der Privatsphäre nicht in der Lage waren, die Probleme zu lösen, die durch die routinemäßige Erhebung personenbezogener Daten durch bürokratische Großorganisationen aufgeworfen wurden. Zum Beispiel vertrat 1971 der Frankfurter Rechtswissenschaftler und spätere hessische Datenschutzbeauftragte Spiros Simitis die Auffassung, dass im modernen Sozialstaat die wachsende Abhängigkeit der Bürger von der Leistungsverwaltung zur informationellen Auflösung der Privatsphäre führe. „Immer dichter,“ so Simitis, „knüpft sich das Netz der Leistungserwartungen des Einzelnen, immer geringer wird aber auch die Zahl der Bürger, die nicht auf einen permanenten Kontakt mit der Verwaltung angewiesen sind. Jede dieser Leistungen entprivatisiert zugleich den einzelnen, verwandelt seine Person in eine Summe sorgfältiger registrierter Details. Leistungsverwaltung und der Drang zur totalen Information lassen sich nicht voneinander trennen, die Registrierung des Einzelnen ist vielmehr Funktionsvoraussetzung einer weitgehend vom Staat administrierten Gesellschaft.“

BVerfGE, 27, 1, (6): „[…] dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ‚Innenraum‘ verbleiben muss, in dem er ‚sich selbst besitzt‘ und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt‘.“ Das Innenzitat stammt aus Josef Wintrich: Die Problematik der Grundrechte, Köln 1957, S. 15 f. Wintrich war ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Zum Einfluss des dahinterstehenden Persönlichkeitsbegriffs auf den Datenschutz siehe die Dissertation von Simon Garnett (Passau, in Vorbereitung). 5 Ulrich Amelung: Der Schutz der Privatheit im Zivilrecht, Tübingen 2002. 4

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Die aufkommende Konsumgesellschaft wurde durch ähnliche Tendenzen gekennzeichnet, und am Ende kam Simitis zu dem ebenso schlichten wie dunklen Schluss, dass „die spätindustrielle Gesellschaft keine Privatheit mehr“ kenne.6 Angesichts solcher Befunde war es daher keine Überraschung, dass 1971 eine Studie, die vom Bundesministerium des Innern in Auftrag gegeben worden war, um die möglichen rechtlichen Grundlagen für ein Datenschutzgesetz zu erkunden, zu dem Schluss kam, dass der Begriff der Privatsphäre „ausgedient“ habe und unbrauchbar geworden sei.7 Solche Überlegungen wirkten aber nicht nur destruktiv. Sie arbeiteten auch die Grundzüge einer neuen, dem Informationszeitalter zeitgemäßeren Theorie der Privatheit heraus, die die Richtung angab, wie das Innenministerium unter Genscher ein Datenschutzgesetz angehen konnte. Diese neue Theorie der informationellen Selbstbestimmung verschob den Schwerpunkt vom vermeintlichen Geheim- oder Intimcharakter gewisser Datentypen auf deren Verwendungszusammenhang. Statt die Sammlung und Speicherung aller Daten, die keinen besonderen Schutz genossen, zu dulden, ging diese neue Theorie davon aus, dass je nach Verwendungszusammenhang die Sammlung personenbezogener Daten die „schutzwürdigen Belange“ des Individuums verletzen könnte. Darauf bauend kam sie zu dem Schluss, dass solche Daten durch Dritte nur mit Einwilligung oder aufgrund gesetzlicher Ermächtigung benutzt werden dürften.8 Dieser Gedankengang lief aber dem allgemeinen Informationszugangsrecht zuwider, das in Art. 5 GG enthalten war und das der Öffentlichkeit das Recht verbürgte, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Es stand auch im Gegensatz zu einem zentralen Prinzip des Liberalismus. Nicht nur hat der Informationszugang den Rang eines Grundrechts, weil er die freie Meinungsäußerung schützt, sondern auch, weil ein solcher Zugang für das Funktionieren des Markts erforderlich war. Zudem war er auch Vorbedingung für den von Innenminister Genscher beförderten Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in der Bundesverwaltung. Genschers Begeisterung für die elektronische Datenverarbeitung war praktisch ohne Grenzen. Nicht nur glaubte er, dass die EDV die routinisierten Verwaltungstätigkeiten der Massengesellschaft beschleunigen, deren Genauig-

Spiros Simitis: Chancen und Gefahren der elektronischen Datenverarbeitung, in: Neue juristische Wochenschrift 24/16 (20.4.1971), S. 673–682, hier S. 675. 7 Wilhelm Steinmüller u. a.: Grundfragen des Datenschutzes (Juli 1971), Bundestags-Drs. 6/3826, S. 48. 8 Man könnte hier von einem Informationsfreiheitsrecht sprechen, wenn der Begriff nicht schon mit anderem Inhalt besetzt wäre. Um der Klarheit willen finde ich es daher besser, von einem Informationszugangsrecht zu sprechen. 6

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keit erhöhen und deren Kosten senken würde. Er war darüber hinaus auch überzeugt, die multidimensionale Verbindung der Daten, die durch die Automatisierung dieser diskreten Tätigkeiten entstanden, würde zu einer qualitativen Verbesserung der Entscheidungen in der Wirtschaft wie in der Politik führen. Dazu würden integrierte Datenverarbeitungssysteme es den Bürgern künftig ersparen, bei jeder Begegnung mit der öffentlichen Verwaltung dieselben Grunddaten angeben zu müssen, sowie gleichzeitig dafür sorgen, dass sie alle sozialen Leistungen tatsächlich genössen, auf die sie einen Rechtsanspruch hatten. Jedoch hingen aus Genschers Sicht alle potenziellen Gewinne von der Einführung der automationsgerechten Rechts- und Verwaltungsvorschriften und des geplanten Personenkennzeichens ab. Sie allein boten die Voraussetzung für einen reibungslosen, rationellen und effizienten Austausch personenbezogener Daten nicht nur innerhalb der gesamten öffentlichen Verwaltung, sondern auch zwischen ihr und Unternehmen in jenen Wirtschaftszweigen (Banken, Versicherungen, Adressbuchverlage, Versandhäuser), deren effizienter Betrieb auf richtige, aktuelle Bevölkerungsdaten angewiesen war. „Gerade im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Verwaltung wäre es unerträglich“, erklärte Genscher 1971, „wenn bei Anwendung der modernsten Rationalisierungsmittel unrationelle Doppelerfassungen von Daten nicht vermieden würden.“9 Es war auch Genscher, der Herold zum Präsidenten des Bundeskriminalamtes ernannte, um das Amt ins digitale Zeitalter zu führen.10 Das Gegenstück zu Genschers Datenverarbeitungseuphorie war aber seine begrenzte Auffassung des Datenschutzes. Obwohl Genscher, der nur unter politischem Druck seitens des Bundestags dem Einbringen eines besonderen Datenschutzgesetzes zugestimmt hatte, behauptete, ein solches Gesetz würde den Einsatz der EDV zum allgemeinen Wohl den Weg ebnen sowie die durch das Gesetz zu definierenden Privatheitsrechte schützen, hat er selbst nie versucht, diese inhaltlich auszufüllen. Sie blieben bei ihm nicht mehr als Platzhalter oder Chiffre.

Hans-Dietrich Genscher: Elektronische Datenverarbeitung in Verwaltung und Wirtschaft, in: Bulletin der Bundesregierung, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1971), S. 1597–1600, hier S. 1600; Hans-Dietrich Genscher: Die öffentliche Verwaltung im Kräftefeld der Datenverarbeitung, in: Öffentliche Verwaltung und Datenverarbeitung (1971), 0 [Nullnummer], S. 4–5, zitiert nach Hans Brinckmann / Stefan Kuhlmann: Computerbürokratie. Ergebnisse von 30 Jahren öffentlicher Verwaltung mit Informationstechnik, Opladen 1990, S. 20–21. 10 Dieter Schenk: Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998. Zur polizeilichen Datenverarbeitung siehe jetzt: Hannes Mangold: Fahndung nach dem Raster. Informationsverarbeitung bei der bundesdeutschen Kriminalpolizei 1965–84, Zürich 2017. 9

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Zu den großen Mythen, die das BDSG umgeben, gehört die Annahme, dass es als ein Privatheitsgesetz gedacht worden sei. Genscher hingegen erklärte den Teilnehmern der ersten Verbandsanhörung, die im Zusammenhang mit dem Datenschutzgesetz stattfand, dass Informationszugangsrechte Datenschutzrechten vorgehen müssten: „Ausgangspunkt aller Überlegungen“, so führte er aus, „sollte dabei ein Bekenntnis zur Informationsfreiheit sein, die nur im Interesse des Individuums eingeschränkt werden sollte. Den entgegengesetzten Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Informationsrestriktion mit Erlaubnisvorbehalt lehne ich ab.“11 Trotz dieser Festlegung des Ministers auf Informationszugangsrechte vertrat der zuständige Abteilungsleiter im Innenministerium die gegenteilige Auffassung, wonach angesichts der Unmöglichkeit, die oben angesprochenen Probleme zu überwinden und dadurch die Privatsphäre mit der juristisch gebotenen Genauigkeit zu definieren, das anvisierte Datenschutzgesetz nur auf die Theorie der informationellen Selbstbestimmung gestützt werden könne.12 Deshalb war das BDSG von Anfang an charakterisiert durch einen Widerspruch zwischen dem von Genscher angegebenen liberalen Ziel, den freien Informationszugang zu fördern, dem genauso liberalen Ziel, die schutzwürdigen Belange des Individuums zu schützen, und der informationellen Selbstbestimmung, die zur Vermittlung zwischen diesen Zielen eingesetzt wurde, deren Logik aber dem freien Informationszugang sowie der engen Begrenzung dieser schutzwürdigen Belange diametral entgegenlief. Dieser Widerspruch wurde in den wechselnden Formulierungen des Gesetzeszweckes selbst reflektiert. Der Referentenentwurf vom August 1972 definierte Datenschutz schwerfällig als „alle Maßnahmen, die geeignet sind, einer Beeinträchtigung schutzwürdiger persönlicher Belange bei der Datenverarbeitung personenbezogener Daten entgegenzutreten, die in Dateien gespeichert sind“.13 Diese Formulierung legte es nahe, dass alle Datenverarbeitung erlaubt wäre – mit Ausnahme jener Fälle, in denen sie einen jeweils genau umschriebenen Schaden bei identifizierbaren Individuen verursachte. Im Gegensatz dazu wurde in der um die Jahreswende 1976/77 verabschiedeten Fassung der Zweck des Datenschutzes darin gesehen, „[…] durch den Schutz personenbezogener Daten vor Missbrauch […] der Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange der Betroffenen entgegenzuwirken“, und in seinem 3. Artikel sprach

Ministerium des Innern (Hg.): Dokumentation einer Anhörung zum Referentenentwurf eines Bundes-Datenschutzgesetzes vom 7. bis 9. November 1972, Bonn 1973, S. 4. 12 Herbert Auernhammer: Vermerk Betr.: Vorbereitung eines Bundesgesetzes zum Schutz der Privatsphäre (7.1. 1971), Bundesarchiv (BA) B 106, Nr. 96305. 13 Ministerium des Innern (Hg.), Dokumentation, Anhang Nr. 1, § 1, und Drs. 7/1027, § 1. 11

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das BDSG genau jenes Verarbeitungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt klar aus, das Genscher ursprünglich abgelehnt hatte.14 In den Bundestagsdebatten versuchten die Parteien, diesem Widerspruch auf zweierlei Weise zu entkommen: einerseits durch eine klare Unterscheidung zwischen personen- und sachbezogenen Daten, und andererseits durch die Behauptung, es bestehe in bestimmten Zusammenhängen ein vorrangiges öffentliches Interesse an dem Zugang zu (oder an dem Schutz von) bestimmten Datenarten. Es erwies sich jedoch als unmöglich, hier eine Einigung zu erreichen. In der vergeblichen Hoffnung, dadurch bestehenden Formen sozialadäquater Kommunikation nachträglich eine gesetzliche Grundlage zu unterlegen, verließ sich der Bundestag auf eine „wahre Kaskade von Generalklauseln“ – um Simitis noch einmal zu zitieren – und am Ende hat der Gesetzgeber diesen Widerspruch weniger gelöst als verschlimmert.15 Alle Parteien haben von vornherein anerkannt, dass das BDSG nur ein erster Schritt auf unbekanntes gesetzgeberisches Terrain war, dass das Gesetz nur durch sorgfältig ausgearbeitete Kompromisse zusammengehalten wurde, die langfristig nicht haltbar waren, und dass es einer baldigen Novellierung bedürfen würde, um diese Konstruktionsfehler zu beheben und dabei die ersten Erfahrungen mit dem Gesetz einzuarbeiten. Den wichtigsten Beitrag zur Debatte um die Novellierung des Ende 1976 verabschiedeten Datenschutzgesetzes bildete ein Aufsatz von Rudolf Schomerus, der ausführte, dass das BDSG unter einer „begrifflichen Unsicherheit“ litt.16 Laut Schomerus zwang die strategische Entscheidung, die schutzwürdigen Belange des Individuums – die im ganzen Gesetzestext nicht ein einziges Mal mit dem Begriff „privat“ bezeichnet wurden – indirekt durch die Regelung der Verarbeitung personenbezogener Daten zu schützen, dazu, auf eine Reihe von Ersatzkriterien auszuweichen, die regeln sollten, ob die Verarbeitung von Daten im jeweiligen Fall erlaubt wäre oder einen unzulässigen Eingriff darstellte. Aber ohne eine vorläufige Definition dessen, was die „schutzwürdigen Belange“ sein sollten, blieb es auch unter Einbeziehung dieser Ersatzkriterien unmöglich, diese Frage definitiv zu beantworten. Schomerus zufolge gab es nur zwei Auswege. Der eine, den Schomerus selbst befürwortete, bestand darin, zu einer echt liberalen Auffassung des Datenschutzes zurückzukehren, wonach nur solche Nutzungen von Daten, die gesetzlich als Missbräuche eingestuft Bundesgesetzblatt 1977, S. 201, § 1.1. Die Formulierung in Drs. 7/1027, S. 5 ist mit der Endfassung inhaltlich identisch. 15 Stenographisches Protokoll über die öffentliche Informationssitzung des Innenausschusses (6.05.1974), BA B 106, Nr. 96319, S. 62–64. 16 Rudolf Schomerus: Datenschutz oder Datenverkehrsordnung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 14/12 (1981), S. 291–294. 14

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waren, verboten werden sollten; alle andere Nutzungen sollten grundsätzlich erlaubt sein. Diese Strategie aber hätte die Aufgabe oder zumindest die systematische Hintanstellung des Prinzips der informationellen Selbstbestimmung mit sich gebracht. Der einzige andere logisch konsistente Ausweg hätte darin bestanden, auf eine umfassende Verrechtlichung der informationellen Beziehungen zu drängen und das aufzubauen, was Schomerus eher abschätzig eine „Datenverkehrsordung“ nannte. Als Schomerus diese Polemik lancierte, mit der er liberale und sozialdemokratische Datenschutzauffassungen voneinander klar unterscheiden wollte, war er Ministerialrat beim Bundesdatenschutzbeauftragten, und seine Spitze war klar gegen seinen Chef, den Sozialdemokraten Hans Peter Bull, gerichtet.17 Jedoch reicht die Bedeutung von Schomerus’ Ausführungen weit über die Tagespolitik hinaus, denn sie haben das Kernproblem aller deutschen Datenschutzgesetzgebung getroffen. Der Widerspruch zwischen der Logik der Informationsfreiheit und der der informationellen Selbstbestimmung wurde nie aufgelöst. Gerade daher hat seit jetzt gut 40 Jahren der Einsatz von solchen formalen Ersatzkriterien wie Verhältnismäßigkeit, Normenklarheit und Gesetzesvorbehalt – immer in Verbindung mit Kernbereichsschutz –, im Ergebnis zu äußerst komplizierten und schwerverständlichen Gesetzen geführt. Das gilt besonders für jene heiklen Bereiche, für die der Gesetzgeber keinen Konsens erreichen konnte.

2. Ein Recht auf Datenschutz?

Ein zweiter Fragenkomplex, der bei der Beratung des BDSG angesprochen wurde und der bei seiner Novellierung erneut aufkam, betraf den Stellenwert des Datenschutzes und den Vorschlag, ein Grundrecht auf Datenschutz ins Grundgesetz aufzunehmen. Seit 1976 war der Hauptverfechter dieses Vorhabens Burkhard Hirsch (Innenminister Nordrhein-Westfalen, 1975–80; MdB 1972–75 und 1980–98), der – neben Gerhart Baum – einer der führen-

Hans Peter Bull: Ziele und Mittel des Datenschutzes. Forderungen zur Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes, Königstein 1981, S.  24 f. In diesem Aufsatz bleibt die soziale Dimension des Datenschutzes unterbeleuchtet. Der Hinweis auf ein „rechts- und sozialstaatliches Informationsrecht“ stammt aus Hans Peter Bull: Verfassungsrechtlicher Datenschutz, in: Das Europa der zweiten Generation. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Kehl am Rhein 1981, Bd. II, S. 869–887, besonders S. 870. An einer anderen Stelle hat Bull vier Gefahrenarten identifiziert, wogegen Datenschutzgesetze schützen sollten. Siehe Hans Peter Bull: Datenschutz als Informationsrecht und Gefahrenabwehr, in: ders.: Datenschutz, Informationsrecht und Rechtspolitik. Gesammelte Aufsätze, Berlin 2005, S. 115–128.

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den Bürgerrechtler in der FDP war.18 Die Frage hier ist, was lehrt uns dieses Vorhaben über Natur und Stellenwert liberaler Grundgedanken an der Wende zu den 1980er Jahren? Obschon das Freiburger Programm der FDP von 1971 sich für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft aussprach, forderte es in seinem vierten und am wenigsten kommentierten Teil auch die Novellierung des Art. 2 GG, der das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit enthielt, und seine Erweiterung um ein „Recht auf eine menschenwürdige Umwelt“.19 Diese Forderung, die Genscher schon im Dezember 1970 vor dem Bundestag vorgetragen hatte, ging über den Schutz der Grundrechte gegen den Staat hinaus und stellte einen Versuch dar, die materiellen Voraussetzungen für die Entfaltung der Persönlichkeitsrechte dadurch zu sichern, dass es die bisher übersehenen oder heruntergespielten Externalitäten des technisch-industriellen Fortschritts zum Objekt legitimer politischer Kontrolle durch die Gemeinschaft machte. Der spätere Ruf nach einem Grundrecht auf Datenschutz führte diesen Gedankengang weiter und erweiterte ihn auf die Gefahren, die den neuen Informationstechnologien innewohnten, die aber zur Zeit des Freiburger Programms weniger sichtbar waren und weniger bedrohlich erschienen. Wie Hirsch 1978 auf einer Tagung der betrieblichen Datenschutzbeauftragten erklärte, da das Aufkommen der EDV die echte Revolution des 20. Jahrhunderts darstellte, sei die Hauptfrage, vor der sie stünden, „ob wir mit mehr Informationen, mehr Planung, mehr Perfektionismus das Objekt unserer Bemühungen, den Menschen, glücklicher machen oder ihn wehrlos

Hartwig Suhrbier: Hirsch fordert Grundrecht auf Schutz der persönlichen Daten, in: Frankfurter Rundschau, 17.5.1976; Bruderzwist in der FDP, in: Wirtschaftswoche, 28.5.1976. Obwohl Auernhammer und Baum zugaben, dass die Vorschläge von Hirsch wunde Punkte trafen, hatten sie schon vorher gewarnt, dass jeder Versuch, diese Mängel zu beheben, die vielen Kompromisse gefährden würde, wovon die Verabschiedung des Gesetzes abhing. Siehe Baum an Hirsch, 13.5,1976; Auernhammer an Baum, Betr.: Äusserung von Innenminister Dr. Hirsch, 11.5.1976; und Auernhammer, Stellungnahme zu den Vorschlägen des Innenministers NRW Dr. Hirsch, 11.5.1976, alle in BA B 106, Nr. 96327, Bd. 66. Im Bundestagsinnenausschuss hatten die Konservativen vorgeschlagen, dem Gesetz einen Katalog individueller Datenschutzrechte anzuhängen. Kurzprotokoll der 107. Sitzung des Innenausschusses, 7.4.1976, BA B 106, Nr. 96324, Bd. 54. 19 Freiburger Thesen der F. D. P. zur Gesellschaftspolitik, Bonn 1971, S. 72. Auf diese Weise, fuhr das Programm fort, würde der Schutz individueller Freiheit „zu einem sozialen Gestaltungsrecht weiterentwickelt.“ Für das frühe umweltpolitische Engagement der FDP siehe Edda Müller: Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik  – (Ohn)macht durch Organisation?, Opladen 1986. 18

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unserer Fürsorge ausliefern“.20 Das legt den Schluss nahe, dass, auch wenn sich die FDP von ihrem früheren sozialen Liberalismus auf gewissen Gebieten zurückzog, sie doch die soziale Dimension des liberalen Gedankenguts auf anderen Gebieten weiterentwickelte, sodass es besser bzw. genauer wäre, von der unebenen oder ‚klumpigen‘ („lumpy“) Entwicklung des sozialen Liberalismus in den 1970er Jahren zu sprechen als von seinem Untergang.21 Wie beim BDSG selbst war das Haupthindernis zu der angesprochenen Novellierung des Grundgesetzes die Schwierigkeit genau zu bestimmen, wogegen solch ein Recht zu schützen hätte. Liberale wie Hirsch setzten sich für ein Grundrecht auf Datenschutz ein, weil sie es zur Durchsetzung der damals neuartigen Behauptung für nötig hielten, dass die Erhebung und Übermittlung personenbezogener Daten einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Bürgers ausmachten, die der ausdrücklichen gesetzgeberischen Genehmigung bedürften, und dass sie nicht mehr als grundrechtsirrelevantes ‚schlichthoheitliches Handeln‘ angesehen werden dürften. Die Gegner behaupteten indes, die schutzwürdigen Belange des Individuums seien durch das Grundgesetz schon ausreichend geschützt, und sie fürchteten, der symbolische Wert des Grundgesetzes würde gemindert, wenn als Antwort auf jedes neue soziale Problem neue Grundrechte geschaffen wurden.22 Obwohl der Grundsatz der

Burkhard Hirsch, Rede vor dem DSB-Kongress ’78, 8.5.1978, Landesarchiv NordrheinWestfalen NW 595, Nr. 83. Die Humanistische Union unterstützte die Idee eines Grundrechts auf Datenschutz, bestand aber darauf, dass dieses Recht mit einem Informationsfreiheitsgesetz gekoppelt werden müsste, um dadurch zu verhindern, dass die informationelle Asymmetrie zwischen Staat und Großfirmen einerseits und dem Publikum andererseits noch größer würde. Siehe die Absichtserklärung der HU, 23.7.1976, BA B 106, Nr. 96329, Bd. 71. 21 Peter Baldwin: Beyond Weak and Strong: Rethinking the State in Comparative Policy History, in: Journal of Policy History 17/1 (2005), S. 12–33. Der Sieg des Wirtschaftsflügels der FDP während der 1970er Jahre im Richtungskampf zwischen Ökonomie und Ökologie sowie die Unterstützung der Partei für die Kernkraft hat seine Anziehungskraft für gerade jene Wähler begrenzt, die später ihre umweltpolitischen und ihre bürgerrechtlichen Anliegen bei den Grünen vereinigt fanden. Siehe Peter Lösche / Franz Walter: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 104. Jedoch schuf der Volkszählungsboykott von 1983 neuen Raum für die streckenweise Zusammenarbeit der Liberalen und der Alternativen. Siehe Larry Frohman: ‚Only Sheep Let Themselves Be Counted‘: Privacy, Political Culture, and the 1983/87 West German Census Boycotts, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 335–378. 22 Betr.: Grundrecht auf Datenschutz (o. D., aber um 1979/80), und Regierungsprogramm 1980–1984 (Stand: 10.9.1980), beide in Archiv der Sozialen Demokratie 1/HJVA100978, Walter Gensior an Hirsch, Betr.: Datenschutz, 30.4.1976, NRW NW 595, Nr. 83; Grundsätze für einen besseren Datenschutz, in: Politik. Aktuelle Informationen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Juli 1980), Archiv der Sozialen Demokratie, Bestand Martin Hirsch, Nr. 1/MHAC00461; Hans Peter Bull, Verfassungsrechtlicher Datenschutz, in: ders.: Daten20

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Amtshilfe den Dreh- und Angelpunkt aller Debatten über Datenübermittlung innerhalb der öffentlichen Verwaltung bildete, vermochten die Befürworter eines Datenschutzgrundrechts nie offen zu klären, ob das neu zu schaffende Recht Vorrang vor der grundgesetzlichen Verpflichtung zur Amtshilfe haben sollte. Wenn ja, dann käme es der Statuierung eines absoluten, subjektiven Rechts zur Selbstdarstellung und zur Kontrolle über die eigenen Daten gleich; wenn nicht, dann ginge das neue Recht nicht über die Abwägung hinaus, die der Bundestag bei der Verabschiedung des BDSG schon unternommen hatte. Ende 1978 verabschiedete der Landtag Nordrhein-Westfalens eine Novellierung der Landesverfassung, die einen individuellen „Anspruch auf Schutz seiner personenbezogenen Daten“ statuierte, der nur „in überwiegendem Interesse der Allgemeinheit auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden dürfte.23 Jedoch konnte die FDP nie die politische Unterstützung finden, die nötig war, um eine vergleichbare Novellierung des Grundgesetzes durch den Bundestag zu bringen. In diesem Kontext sollte man abschließend bemerken, dass in den 1970er und 1980er Jahren die Entwicklung des Datenschutzrechts quer, wenn nicht gegenläufig, zu Neoliberalismus und Deregulierung lief. Sie war durch ein Bündel von technologischen, administrativen und politischen Faktoren bestimmt, die einer Logik und einer Temporalität folgten, die ganz anders waren, als die, welche den Strukturwandel der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik in diesen Jahren vorantrieben. Dementsprechend waren diese Jahre nicht durch die Deregulierung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gekennzeichnet, sondern durch die rapide Entwicklung des neuen Bereichs des Datenschutz- und Informationsrechts. Ich würde den Schluss wagen, dass es eher die Regulierung als die Deregulierung war, welche der rapiden Einführung der neuen Technologien den Weg ebneten.

schutz, Informationsrecht und Rechtspolitik, Berlin 2005, S. 145–162, hier S. 159 ff, der behauptet, dass konkrete Auseinandersetzungen über die Reichweite der Datenschutzrechte nur selten auf der Ebene des Verfassungsrechts gelöst werden können. 23 Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, 18.12.1978, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen, Nr. 75 (22.12.1978), S. 632. Für die neuesten Bemühungen um den Einschub eines Grundrechts auf Datenschutz in das Grundgesetz siehe Michael Kloepfer / Florian Schärdel: Grundrechte für die Informationsgesellschaft – Datenschutz und Informationszugangsfreiheit ins Grundgesetz?, in: Juristenzeitung 64/9 (2009), S. 453–462; Jürgen Roth: Datenschutz in das Grundgesetz. Eine angemessene Festgabe zu dessen sechzigstem Geburtstag, in: Vorgänge, 4/2008, S. 30–38.

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3. Datenschutz und die Bestimmung der Sicherheit

Wie Genscher vor ihm unterstützte Werner Maihofer als Bundesminister des Innern den Ausbau und die Modernisierung des Bundeskriminalamtes.24 Maihofer hatte aber das Unglück, als Innenminister auf dem Höhepunkt des Linksterrorismus zu dienen, und seine ununterbrochene persönliche Beteiligung an der Terrorismusbekämpfung hielt ihn davon ab, ebenso intensiv an der Ausarbeitung des BDSG teilzuhaben.25 Zwar warnte Maihofer vor den tendenziell totalitären Konsequenzen des Suchens nach totaler Prävention sowie nach totaler Repression.26 Doch seine eigene Verwicklung in mehrere Überwachungsskandale im Zusammenhang mit dem schrumpfenden Einfluss des linken Flügels der FDP zwangen ihn im Sommer 1978 zum Rücktritt. Maihofers Nachfolger im Amt, Gerhart Baum, war sensibler für Datenschutzbelange. Als eine seiner ersten Handlungen als Innenminister setzte er eine Prüfungskommission ein, die sicherstellen sollte, dass das polizeiliche Informationssystem INPOL und die anderen Datensammlungen des Bundeskriminalamtes die Vorschriften des BDSG einhielten. Obwohl Baum und Staatssekretär Andreas von Schoeler (FDP, später SPD) die fortlaufende Verrechtlichung der informationellen Tätigkeit der Polizei übersahen, führte dieser Prozess häufiger zur Legalisierung bestehender polizeilicher Praxis als zu ihrer Zurückdrängung. Aber die öffentliche Debatte über Datenschutz und innere Sicherheit spitzte sich erst in den 1980er Jahren zu. Bei der Neubildung der Bundesregierung im Oktober 1982 wurde Baum durch den erzkonservativen Friedrich Zimmermann (CSU) abgelöst. Im Dezember 1983 erging das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kodifizierte. Diese Entscheidung zwang die Regierung dazu, jedes Gesetz, das die Benutzung personenbezogener Daten in der Bundesverwaltung regelte, zu novellieren.

Frauke Schulz: „Im Zweifel für die Freiheit“: Aufstieg und Fall des Seiteneinsteigers Werner Maihofer in der FDP, Hannover 2011; Klaus Weber: Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969. Konjunktur und Profile, Frankfurt/Main 2012; Stefan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre, Paderborn 2010. 25 Zu Maihofers Politik der „Inneren Sicherheit“ s. den Beitrag von Gabriele Metzler in diesem Band. 26 Werner Maihofer: Eröffnungsansprache, in: Polizei und Prävention. Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes, Wiesbaden 1975, S. 7–9, hier S. 9: „So wie die Verbrechensbekämpfung durch gleichsam totale Repression ad absurdum geführt werden könnte, darf Prävention nicht etwa als Folge antizipierten Mißtrauens gegenüber jedermann zu totaler Lenkung und Kontrolle durch den Staat führen.“ 24

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Betroffen waren – unter anderem – die Melde-, Personalausweis- und Passgesetze, die Statistik-, Volkszählungs-, Mikrozensus- und Archivgesetze, sämtliche Polizei- und Nachrichtendienstgesetze, die Strafprozessordnung und das Verwaltungsverfahrensgesetz – sowie das BDSG selbst. Das Gericht überließ es jedoch dem Bundestag, ein angemessenes Verhältnis zwischen Datenschutz und Freiheitsrechten einerseits und Sicherheit und Wirtschaftlichkeit andererseits zu finden. Diese Aufgabe bestimmte weitgehend die innenpolitische Agenda der Regierung in den 1980er Jahren. Als die Konservativen an die Macht kamen, hielten sie nur noch an einer äußerst ausgedünnten Auffassung des Datenschutzes fest. Zimmermann wollte gewisse personenbezogene Daten gegen „Missbrauch“ schützen. Jedoch erkannte er die Legitimität des Datenschutzes nur insoweit, als dieser Schutz keine wesentlichen Begrenzungen der Erhebung, Nutzung und Übermittlung von personenbezogenen Daten durch die Verwaltung mit sich brachte. Genau dies hatte er im Sinn, als er von einem „vernünftige[n], ausgewogene[n] Verhältnis“ der „Datenschutzinteressen zu anderen berechtigten Interessen des Bürgers, insbesondere auch zu seinem Sicherheitsinteresse“ sprach.27 Diese Ideen wurden mit aller wünschbaren Klarheit von Generalbundesanwalt Kurt Rebmann zum Ausdruck gebracht, der 1985 der Öffentlichkeit die Lektion „Sicherheit geht vor Datenschutz – nicht umgekehrt“ erteilte.28 „Es wäre (aber) eine irrige Auffassung“, führte er an einer anderen Stelle aus, „etwa annehmen zu wollen, die Kontrolle staatlichen Handelns sei wichtiger als das staatliche Handeln selbst. Gerade im sogenannten Sicherheitsbereich geht es um – auch dem Datenschutz weit überlegene – vitale Gemeinschaftsinteressen.“29 Insgesamt machte der Glaube, dass Sicherheit die „unabdingbare Voraussetzung für Freiheit und Entfaltung der Bürger“ sei, die Konservativen schwerhörig für die Argumente der Datenschutzverfechter, denen sie nur vorwerfen konnten, dass sie die Bevölkerung böswillig gegen die Polizei aufwiegelten.30 Der Eckstein des Datenschutzes war das Zweckbestimmungsprinzip, wonach Daten nur für den spezifischen Zweck benutzt werden dürften, für den sie ursprünglich erhoben worden waren. Die Konservativen lehnten dieses Prinzip jedoch bei jeder Gelegenheit rundweg ab. Zudem wehrten sie sich

Ansprache vor dem Bundestags-Innenausschuss (8.6.1983), BA B 106, Nr. 83849, Bd. 9. Horst Bieber: Droht der Schnüffelstaat? Die Koalition will das Volkszählungsurteil aus den Angeln heben, in: Die Zeit, 27.9.1985. Siehe auch Friedrich Zimmermann: Grundgedanken zu Fragen der Inneren Sicherheit für 1989, in: Die Polizei 80:1 (Januar 1989), S. 1–4. 29 Horst Bieber: Krach mit dem Kontrolleur. Zur Attacke des Generalbundesanwalts: Wieviel Freiraum für staatliches Handeln? in: Die Zeit, 4.6.1982. 30 So der CDU-Abgeordnete Paul Laufs, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 202. Sitzung vom 28.2.1986, S. 15526. 27 28

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gegen jeden Versuch, die informationelle Tätigkeit der Sicherheitsbehörden gesetzlich zu regeln, weil sie glaubten, dass kein noch so perfektes Gesetz der vollen Komplexität der Herausforderungen gerecht werden könnte, mit denen die Polizei ständig konfrontiert wird (Stichworte: Verrechtlichung, Normenflut, Datenverkehrsordnung). Dabei wurden sie theoretisch von Rupert Scholz und Rainer Pitschas unterstützt, die in ihrem 1984 erschienenen Buch „Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsvorsorge“ versuchten, das Volkszählungsurteil auf den Kopf zu stellen und aus dem neuen Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht nur ein fast unbegrenztes Informationsvorsorgerecht abzuleiten, sondern auch eine staatliche Erhebungs- und Nutzungspflicht.31 Um die Auffassung der FDP zu Datenschutz und Sicherheit herauszuarbeiten und zu verstehen, wie sich die Partei auf diesem Gebiet gegenüber ihrem Koalitionspartner positionierte, möchte ich mich nun zwei Gesetzeskomplexen zuwenden: zum einen dem Personalausweisgesetz und zum anderen dem Entwurf eines Gesetzes, das den Informationsaustausch innerhalb des Sicherheitsbereichs regeln sollte. Das Hauptanliegen des 1968 initiierten Bundesmeldegesetzes war es, die Automation der lokalen Melderegister und ihre anschließende Vernetzung voranzutreiben, um sie dann als Knoten für ein bundesweites Bevölkerungsinformationssystem zu benutzen – ein Vorhaben, das für die Polizei immer wichtiger wurde. Eine zentrale Bestimmung des Meldegesetzes war die Einführung eines Personenkennzeichens als unique identifier. Aus Sorge, dass das Personenkennzeichen das BDSG unterlaufen würde, wurde das Meldegesetz im Mai 1976 durch den Rechtsausschuss des Bundestages gekippt.32 Am Ende brachte das Melderechtsrahmengesetz, das an Stelle des ursprünglichen Entwurfs im Mai 1980 verabschiedet wurde, den Meldebehörden nur die Aufgabe ein, die Daten der in ihrem Zuständigkeitsbereich wohnhaften Einwohner für den eng gefassten Zweck zu registrieren, ihre Identität und Wohnung feststellen sowie dies nachweisen zu können.33 Jedoch gab es mehrere Hintertüren, wodurch diese enge Zweckbestimmung völlig unterlaufen werden konnte.

Rupert Scholz  / Rainer Pitschas: Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsvorsorge, Berlin 1984. Scholz/Pitschas beriefen sich wiederum auf Josef Isensee: Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983. 32 Protokoll: 97. Sitzung des Rechtsausschusses, 5.5.1976, BA B 141, Nr. 60025; Auernhammer, Vermerk, Betr.: Sitzung des Rechtsausschusses, 5.5.1976, BA B 106, Nr.  96326; Kurzprotokoll. 111. Sitzung des Innenausschusses, 19.5.1976, BA B 106, Nr.  96325; Die große Nummer wird nicht gemacht, in: Vorwärts, 27.5.1976. 33 Bundesgesetzblatt, 1980, S. 1429–1436. 31

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Wichtig daran für die folgenden Ausführungen ist vor allem die Entscheidung der Datenschutzbeauftragten, die konsequente Anwendung aller Datenschutzprinzipien auf das Ausweiswesen  – ein Gebiet, das als Brücke zwischen Zivilverwaltung und Sicherheitsbereich diente  – zu fordern und insbesondere für das Personalausweisregister eine ähnlich enge Zweckbestimmung zu verlangen, wie sie im Meldegesetz  – theoretisch  – enthalten war. Dabei wurden sie von der FDP unterstützt, die, um ihre Anliegen durchzusetzen, ihrer Zustimmung zur Novellierung des Personalausweisgesetzes von der gleichzeitigen Novellierung des BDSG und der Sicherheitsgesetze, die infolge des Volkszählungsurteils notwendig geworden war, abhängig machte. In der Bundestagsdebatte um den neuen fälschungssicheren maschinenlesbaren Personalausweis gab Baum zwar zu, dass Automation die Effizienz der öffentlichen Verwaltung gesteigert habe. Jedoch war er darüber besorgt, dass die immerwährende Suche nach immer perfekteren Daten die Sphäre bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung immer weiter einschränken würde. Im Gegensatz zum konservativen Glauben an Freiheit durch Sicherheit sah er in einer Begrenzung der staatlichen Datensammlung den Preis, der bezahlt werden müsse, um die Freiheit des Individuums zu sichern. Der Ausgangspunkt der Debatte um die Sicherheitsgesetze, erklärte Baum, „ist nicht die innere Sicherheit, nicht die Sorge um die innere Sicherheit und das Funktionieren der Sicherheitsorgane, sondern die Sorge um den Schutz der Privatheit, die Freiheit des einzelnen, den konkretisierten Grundrechtsschutz“. Der Staat, fuhr er fort, „muß eine Unvollständigkeit ihrer Information in Kauf nehmen und ihren Aufgaben auch in Kenntnis von Informationsgrenzen nachgehen. Die Effektivität staatlichen Handelns ist sicher wichtig. Aber Effektivität muß sich im Rechtsstaat auch an der Gewährleistung der Grundrechte orientieren.“34 Der Datenschutzteil des Programms, das anlässlich des Parteitags der FDP im Mai 1986 angenommen wurde, führte diese Gedanken weiter. Nach dem Programm war Datenschutz eine „ureigene liberale Aufgabe“, die dazu diente, „die Grenzen der Staatstätigkeit [d. h. dessen informationelle Tätigkeit] auf[zu]zeigen.“ „Der Staat muß nicht alles wissen“, erklärte das Programm bündig. Er „muß auch den Mut zur Lücke haben“. Indem das Programm die liberale Überzeugung hervorhob, dass „die Wahrung der Persönlichkeitsrechte […] staatliche Aufgabe [ist], nicht Sicherheitsrisiko“, und dass jedermann

Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 202. Sitzung vom 28.2.1986, S. 15530 f. Baum hatte sich schon früher ähnlich ausgedrückt, als er die Versuchung des Staates, „ständig restlos informiert zu sein“, als Gefahr für die individuelle Freiheit bezeichnet hatte. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 160. Sitzung vom 20.6.1979, S. 12767.

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sich daher „frei und unüberwacht bewegen können“ sollte, versuchte sich die FDP von den Konservativen auf diesem Gebiet zu distanzieren.35

4. ‚Informationeller Gruppensex im Einverständnis mit der Puffmutter‘: Die liberale Kritik der konservativen Sicherheitspolitik

Im Januar 1986 brachte die Regierung – als Verwirklichung des von der FDP hergestellten Junktims  – ein Artikelgesetz ein, das das BDSG, das Verwaltungsverfahrensgesetz, das Verfassungsschutzgesetz und das Strassenverkehrsgesetz gleichzeitig novellieren sollte. In April kam ein weiteres Gesetz hinzu, das die informationelle Zusammenarbeit der – d. h. aller – Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften auf Bundes- und Länderebene regeln sollte.36 Im Hinblick auf den Entwurf des Verfassungsschutzgesetzes suchten die Konservativen der FDP (sowie den Bundes- und Länderdatenschutzbeauftragten) eine ganze Reihe von angeblichem Versagen im Sicherheitsbereich anzulasten, die bis in Baums Zeit als Innenminister zurückreichte. Sie hielten Baum persönlich dafür verantwortlich, dass zum einen die Weiterentwicklung des Nachrichtendienstlichen Informationssystems, das von den Bundes- und Landesämtern für Verfassungsschutz gemeinsam unterhalten wurde, von einem bloßen Aktenhinweissystem zu einem vollwertigen Informationssystem vergleichbar mit dem Kriminalinformationssystem INPOL blockiert, zum anderen die Entwicklung einer einheitlichen Straftaten-/Straftäterdatei verhindert wurde; zudem habe Baum dafür gesorgt, dass die Zusammenarbeit des Grenzkontrolldienstes mit dem Verfassungsschutz eingegrenzt und der frühere Datenverbund zwischen INPOL und dem Verfassungsschutz unterbrochen wurde.37 Die FDP war sehr kritisch gegenüber einzelnen Aspekten des Verfassungsschutzgesetz-Entwurfs, das Zusammenarbeitsgesetz hielt sie für eine Abscheulichkeit, die dem „liberalen Verständnis von Sicherheitswahrung und Bürgerrechten widerspricht“ und die „die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, eine für den Bürger verständliche und seine Belange wahrende

FDP-Programm zum Datenschutz, in: Datenschutz und Datensicherheit 10/6 (1986), S. 376–377, Kopie im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) MInn Nr. 97094; Beschluss des Bundesvorstandes der FDP vom 23.3.1985, BA B 106, Nr. 122706. 36 Drs. 10/4737, 10/5343 (eine leicht überarbeitete Fassung des originalen Artikelgesetzes), und 10/5344. 37 Koalitionsvereinbarungen  … Datenschutzgesetze im Sicherheitsbereich  …, 1986–87; Honnacker/I C 2 to I F 1 (ohne Titel und Datum); Zu TOP des Jour fixe vom 15.12.1986, alle in BayHStA MInn 97094. 35

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Rechtsgrundlage im Datenschutz zu schaffen, in ihr Gegenteil verkehrt“.38 In dem Volkszählungsurteil hatte das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass der Verwendungszweck der Daten, die durch den Staat erhoben wurden, „bereichsspezifisch und präzise“ begrenzt sein müsse und dass ein „amtshilfefester Schutz“ gegen deren Zweckentfremdung erforderlich war.39 Der Entwurf des Zusammenarbeitsgesetzes aber verordnete, dass das Bundeskriminalamt, die Grenzpolizei, die Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst, der Bundesnachrichtendienst und die Staatsanwaltschaften – auf eigene Initiative – einander alle Informationen übermitteln mussten, soweit es Anhaltspunkte dafür gab, dass diese Daten für die Informationspartner relevant sein könnten. Umgekehrt hätten diese Stellen solche Daten ohne erkennbare Einschränkungen voneinander anfordern dürfen. Darüber hinaus hätten die weitreichenden, systematischen Datenübermittlungen, die durch das Gesetz autorisiert worden wären, den Geist, wenn nicht auch den Buchstaben, des Trennungsgebots zwischen Polizei und Verfassungsschutz, das von den Alliierten als Bedingung für die Anerkennung des bundesdeutschen Staates auferlegt wurde, unterlaufen. In einem unvergesslichen Gleichnis bezeichnete Hirsch die so vorgestellten, promiskuitiven Datenübermittlungen als eine Art „informationelle[n] Gruppensex im Einverständnis mit der Puffmutter“.40 Ähnliche Unterschiede zwischen der FDP und den Unionsparteien traten in Verbindung mit der Reform des Polizeirechts zutage. Das Bundesinnenministerium war für den Datenschutz sowie die innere Sicherheit gleichermaßen verantwortlich.41 Obwohl das nicht unproblematisch war, zwang diese Lage die Liberalen, über die Beziehung zwischen Datenschutz und Sicherheit nachzudenken.42 Bis in die 1970er Jahre hinein hatten liberale Gesetze die informationelle Tätigkeit der Polizei dadurch begrenzt, dass sie deren Tätigwerden von der Existenz einer konkreten Gefahr oder einem wohlbegründeten Einzelverdacht abhängig machten. Seitdem behaupteten die Sicherheitsbehörden

FDP-Programm zum Datenschutz. BVerfGE 65, 1 (48, 46). 40 Zitiert nach: Falsche Richtung, in: Der Spiegel, Nr. 4/1988, S. 18. 41 Dies ist der Hintergrund für den neuen Vorschlag, die Verantwortlichkeit für den Datenschutz dem Bundesinnenministerium abzunehmen und sie auf das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz zu übertragen. Siehe https://netzpolitik.org/2016/spd-willdatenschutz-beim-justizministerium-ansiedeln/ [3.1.2018]. 42 Obwohl Genscher (Elektronische Datenverarbeitung in Verwaltung und Wirtschaft, S. 1598) das als eine „glückliche Konstellation“ bezeichnet hat, war Baum viel sensibler als Genscher und Maihofer für den Prinzipienkonflikt zwischen diesen Gütern. 38 39

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jedoch zunehmend, diese Restriktionen behinderten den Kampf gegen neue Formen der Kriminalität, vor allem Terrorismus und organisierte Kriminalität, übermäßig. Um 1974/75 gelangte die Polizei zu der Einsicht, dass die Logistiknetzwerke, die es den Linksterroristen erlaubten, ihr Leben im Untergrund aufrechtzuerhalten, nur durch „systematisches mapping“ des radikalen Milieus an der Wurzel bekämpft werden könnten, und zu diesem Zweck entwickelte sie eine Reihe neuer Überwachungspraktiken. Zu diesen zählten Häftlingsüberwachung, die heimliche, rechnergestützte Überwachung von Tatverdächtigen und deren Kontaktpersonen (beobachtende bzw. polizeiliche Fahndung), die Rasterfahndung sowie die neuen polizeilichen Informationssysteme INPOL und PIOS. Diesen neuen Überwachungspraktiken war gemeinsam, dass sie Daten über Menschen präventiv sammelten, die unter geltendem Recht nicht als verdächtig angesehen wurden und daher nicht zu Objekten polizeilicher Informationstätigkeit hätten werden dürfen. Diese präventive Überwachung war dann nicht gegen konkrete, sondern gegen abstrakte Gefahren gerichtet und drang tief in das Vorfeld antizipierten Verbrechens hinein. Das Problem liegt darin  – wie Erhard Denninger kürzlich geschrieben hat  – dass, losgelöst von seinen rechtstaatlichen Bindungen, dieses Vorfeld „begrifflich keine Schranken mehr [kennt], weder hinsichtlich der Bestimmung des Kreises risikoträchtiger Personen noch hinsichtlich der einzusetzenden Erkenntnis- und Abwehrmittel noch hinsichtlich der Zielsetzungen der im Interesse der Sicherheit zu treffenden Maßnahmen.“43 Um „unknown unknowns“ aber zuvorzukommen, müsste die informationelle Arbeit der Polizei das unbestimmte und unbestimmbare Feld abstrakter Gefahren völlig einschließen. Mit anderen Worten müsste die Polizei das Recht haben, konjekturale, kontextgebundene Entscheidungen über die Daten, die sie sammelt, die Arbeitsmethoden, die dazu eingesetzt werden, sowie deren eventuellen Nutzen eigenmächtig zu fällen. Solche Räume der Exzeptionalität widersetzen sich aber jedem Versuch, die informationelle Tätigkeit der Polizei gesetzlich zu normieren, ohne dabei den Erfolg dieser Tätigkeit im Voraus zu gewährleisten. Diejenigen, die diese Entwicklung unterstützen, gehen ein Wagnis ein, indem sie sich darauf verlassen, dass der Blankoscheck, der den Sicherheitsbehörden dabei ausgestellt wird, in einer permanent hinausgeschobenen Zukunft proportional in der Währung der Freiheit zurückgezahlt werden wird. Seit Mitte der 70er Jahre bis in die neueste Gegenwart hinein hat der Datenschutz aber als Hauptmittel

Erhard Denninger: Der Präventions-Staat, in: Kritische Justiz 1 (1988), S.  1–15; ders.: Prävention und Freiheit. Von der Ordnung der Freiheit, in: Stefan Huster / Karsten Rudolph (Hg.): Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, Frankfurt/Main 2008, S. 85–106, hier S. 94 f.

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gedient, um die vielfältigen Probleme, die durch das Aufkommen der präventiven Überwachung aufgeworfen wurden, zu theoretisieren; dabei hat seine politische Bedeutung darin bestanden, die Prinzipien des liberalen Rechtsstaates sowie die Ökonomie informationeller Sparsamkeit gegen die transgressive Logik des Präventionsstaates zu verteidigen. Um diese Überwachungsmethoden rechtlich abzusichern, wurde die langwierige Novellierung der Polizeigesetze in Gang gesetzt. Den Ausgangspunkt hierzu bildet der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes für Bund und Länder, der 1975/76 von der Innenministerkonferenz genehmigt wurde.44 Der Musterentwurf sprach jedoch die informationellen Befugnisse, die die Sicherheitsbehörden noch als durch den Generalauftrag der Polizei für gedeckt hielten, nicht direkt an. Doch nach dem Volkszählungsurteil mussten Bund und Länder ihre jeweiligen Polizeigesetze durchgehend novellieren und die Voraussetzungen, unter denen die verschiedenen Überwachungspraktiken eingesetzt werden konnten, um gewisse Daten zu erheben, die Bedingungen, unter welchen diese Daten anderen Sicherheitsbehörden übermittelt werden durften, sowie die Zwecke, wozu diese Behörden die so erhobenen Daten nutzen durften, gesetzlich festschreiben. Der Kern des „Vorentwurfs zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes“ war die Genehmigung des breiten Einsatzes der neuen Überwachungspraktiken zum Zweck der Bekämpfung abstrakter Gefahren. Nach § 1 des Vorentwurfs war es Aufgabe der Polizei, „für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sowie Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können (Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr)“.45 Die FDP rügte die Preisgabe des Begriffs der konkreten Gefahr scharf. Da es ohne dieses Prinzip unmöglich wäre, den Präventionsauftrag der Polizei irgendwie zu begrenzen, verstoße der Vorentwurf, so die Liberalen, gegen die Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Normenklarheit und Transparenz. Dementsprechend hielt das von der FDP entworfene alternative Polizeigesetz an dem Begriff der konkreten Gefahr fest und erlaubte Ausnahmen nur unter eng begrenzten Voraussetzungen. Aber schon

Gerd Heise / Reinhard Riegel: Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes mit Begründungen und Anmerkungen, Stuttgart 21978; Larry Frohman: Datenschutz, the Defense of Law, and the Debate Over Precautionary Surveillance: The Reform of Police Law and the Changing Parameters of State Action in West Germany, in: German Studies Review 38/2 (Mai 2015), S. 305–325. 45 Michael Kniesel / Jürgen Vahle: VE ME PolG. Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes in der Fassung des Vorentwurfs zur Änderung des ME PolG. Text und amtliche Begründung, Berlin 1990. 44

Über die Schwierigkeit, im Informationszeitalter liberal zu sein 361

vor dem Vorliegen des Alternativentwurfs der FDP konnten SPD und die Unionsparteien sich nicht auf eine gemeinsame Formulierung des Vorentwurfs einigen und mussten sich mit mehreren Alternativen abfinden. Dieses Auseinandergehen der SPD- und Unionsregierten Länder in der Polizeirechtsreform markiert das endgültige Scheitern der langgehegten Hoffnung, die Polizeigesetze der Länder völlig miteinander zu harmonisieren.46 In den 1980er Jahren hat diese Unfähigkeit, sich auf einheitliche Polizeigesetze zu verständigen, zu weiteren Konflikten zwischen der FDP und ihren Koalitionspartnern um die informationelle Tätigkeit der Polizei geführt. Das Volkszählungsurteil hatte auch die Novellierung der Strafprozessordnung unvermeidbar gemacht, und die Konservativen wollten die Gelegenheit nutzen, um die engen Datenerhebungs- und -übermittlungsbestimmungen der Strafprozessordnung den weiterreichenden Bestimmungen des Vorentwurfs anzupassen. Das Bundesjustizministerium, das unter der Leitung von Hans A. Engelhard (FDP) stand, kritisierte jedoch den Vorentwurf aus denselben Gründen wie die FDP und die Datenschutzbeauftragten;47 und die informationellen Befugnisse, die der 1986 vom Justizministerium erarbeitete Entwurf für eine Novellierung der Strafprozessordnung enthielt, waren bei Weitem nicht so umfangreich wie jene im Vorentwurf. Am Ende zwangen die Konservativen Engelhard dazu, den Entwurf zurückzuziehen; sie nutzten auch die Zurückhaltung der FDP bezüglich des Artikelgesetzes als Gelegenheit, die Hauptstreitpunkte wieder aufzurollen in der Hoffnung, dass sie die Liberalen zu neuen Kompromissen zu günstigeren Konditionen zwingen könnten.48 Der Hauptzweck des FDP-Datenschutzprogramms bestand darin, die Sphäre individueller Selbstbestimmung durch die doppelte Auflage, dass jede informationelle Tätigkeit der Polizei eine explizite gesetzliche Grundlage haben und die dadurch erhobenen Daten engen Zweckbindungen unterliegen müssten, zu erweitern. Die konservative Politik folgte aber einer entgegengesetzten Logik und suchte stattdessen, durch die Beseitigung genau jener Begrenzungen, die von den Liberalen gefordert wurden, die Effizienz und Wirk-

Vorlage des Entwurfs der Arbeitsgruppe Polizeirecht des Bundesfachausschusses Innen und Recht der FDP zur Änderung des Musterentwurfs  … (8.4.1988); Entwurf der Arbeitsgruppe Polizeirecht des Bundesfachausschusses Innen und Recht der FDP zur Änderung des … Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz des Bundes und der Länder (Stand: 8.4.1988); und Zwischenbericht des ad hoc-Ausschusses „Recht der Polizei“ des AK II  … (o. D.), alle BA B 106, Nr. 122710. 47 Bundesministerium der Justiz, Erste Stellungnahme zum Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes … (August 1986), BA B 106, Nr. 122708. 48 I C 5/Honnacker, Informationsgespräch mit dem BDK (29. Dezember 1986); Datenschutzgesetze im Sicherheitsbereich, beide BayHStA MInn Nr. 97094. 46

362 Larry Frohman

samkeit der Sicherheitsbehörden zu steigern. Die Konservativen versuchten, diese Maßnahmen dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Bedeutung und Reichweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung herunterspielten („Datenschutz bedeutet nicht grenzenlose Herrschaft über die eigenen Daten“) und die schädlichen Auswirkungen der systematischen Regulierung der informationellen Tätigkeit der Polizei aufbauschten („Eine normative Festlegung sämtlicher Informationsbeziehungen und eine Übersteigerung des Zweckbindungsgrundsatzes würde eine Vorschriftenflut mit sich bringen“).49 Diese gegenseitigen Beschuldigungen legen grundsätzliche Unterschiede zwischen den Liberalen und den Konservativen auf dem Gebiet des Datenschutzes und der inneren Sicherheit offen. Wie bereits erwähnt, sah die FDP den Datenschutz als Hauptmittel an, um die informationelle Tätigkeit des Staates – und der Polizei im Besonderen – zu begrenzen. In einer handschriftlichen Randbemerkung zum FDP-Datenschutzprogramm hat ein bayerischer Ministerialbeamter – wahrscheinlich Heinz Honnacker, Polizeirechtsreferent im bayerischen Innenministerium, Kommentator zum Polizeirecht und späterer Bundesverwaltungsrichter – ausgeführt, dass die Liberalen den Datenschutzhebel am falschen Ort angesetzt und dass sie sich in Widersprüche verwickelt hätten, indem sie an den traditionellen Staatsaufgaben festhielten und stattdessen die Mittel, die dazu eingesetzt werden könnten, zu begrenzen suchten: „Die Grenzen der Staatstätigkeit müssen durch die Aufgaben fixiert werden, nicht durch die Behinderung an der Aufgabenerfüllung.“50 Eines der neuen Motive in der verfassungsrechtlichen Debatte um die polizeiliche Überwachung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war die Idee eines Grundrechts auf Sicherheit, welches durch die Konservativen als Voraussetzung der Freiheit betrachtet wurde und nicht als seinen Gegensatz. Die Souveränität ist jedoch unteilbar, und die Formulierung Honnackers ist bezeichnend, weil er in aller Wahrscheinlichkeit nie zugestimmt hätte, dass diese Staatsaufgabe je hätte eingegrenzt werden können ohne gleichzeitig die Hobbessche Auffassung des Staates als Sicherheitsanstalt aufzugeben. Das bedeutet aber, dass er keine Datenschutzregeln auf diesem Gebiet anerkannt hätte, soweit diese eine wesentliche Begrenzung der Staatsmacht mit sich brachten. Genau an dieser Stelle lag der unüberbrückbare Unterschied zwischen der FDP und ihren Koalitionspartnern hinsichtlich des Datenschutzes im Sicherheitsbereich. Obwohl der Parteivorsitzende Otto Graf Lambsdorff nicht willens war, über die Köpfe von Bürgerrechtlern wie Baum und Hirsch der FDP einen Kompromiss aufzuzwingen, muss man daran erinnern, dass Baum und

49 50

Themen für Koalitionsgespräch: Datenschutz, BayHStA MInn 97094. Randbemerkungen zu FDP-Programm zum Datenschutz, BayHStA MInn 97094.

Über die Schwierigkeit, im Informationszeitalter liberal zu sein 363

Hirsch nur das eine Ende des Meinungsspektrums in ihrer Partei vertraten. Mit aller Vorsicht lässt sich wohl sagen, dass die FDP bereit war, die Grenzen der informationellen Tätigkeit der Sicherheitsbehörden pragmatisch und im Einzelfall in Richtung der präventiven Überwachung zu verschieben  – zum Teil, weil die Parteimitglieder glaubten, dass die neuen Befugnisse nötig seien, um den Terrorismus und die organisierte Kriminalität erfolgreich zu bekämpfen, zum Teil aber auch als Preis, der bezahlt werden müsse, um an der Regierungsmacht teilzuhaben. Jedoch hielt zumindest die Parteilinke an der begrenzenden Informationsökonomie des Datenschutzes fest. Sie war nie bereit, sich einer Logik der staatlichen Informationsvorsorge zu verschreiben, die die Privatsphäre und die Freiheitsrechte gegen den Staat einem vermeintlichen Grundrecht auf Sicherheit durch den Staat völlig untergeordnet hätte. Bei der lang andauernden Debatte über Datenschutz und staatliche Überwachung, über Bürgerrechte und Sicherheit, die sich von dem Volkszählungsurteil bis zum Vorabend der Wiedervereinigung hinschleppte, lavierte die FDP aus prinzipiellen oder aus koalitionspolitischen Gründen zwischen Kompromissbereitschaft und Profilierungsversuchen. Obwohl die FDP viele Vorbehalte gegen diverse Regierungsentwürfe vorbrachte und dabei viele kleine Änderungen erzwang, ist es Baum und Hirsch nicht grundsätzlich gelungen, sich in der Partei oder gar in der Koalition durchzusetzen. Am Ende trugen diese Änderungen eher zur Komplexität, Schwerfälligkeit und mangelnden öffentlichen Legitimität der Polizei- und Datenschutzgesetze bei als zu einer merklichen Begrenzung der informationellen Tätigkeit der Sicherheitsbehörden. Resümierend lässt sich festhalten, dass die wichtigsten Datenschutz-, Verwaltungs- und Sicherheitsgesetze, die in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik verabschiedet wurden, eher die Prioritäten der Unionsparteien widerspiegelten als die der Liberalen oder der Datenschützer.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes Ralf Ahrens, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam Marc Buggeln, Dr. phil., Vertretung der Professur für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin Frank Bösch, Dr. phil., Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam Jacob S. Eder, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Sina Fabian, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin Larry Frohman, Ph.D., Associate Professor of History und Director of Social Studies Education an der State University New York Thomas Handschuhmacher, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln Thomas Hertfelder, Dr. phil., Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Stiftung-Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus

366 Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Dierk Hoffmann, Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam Wencke Meteling, Dr. phil., Habilitandin am Seminar für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg Gabriele Metzler, Dr. phil., Professorin für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt-Universität zu Berlin Philipp Ther, Dr. phil., Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien

Personenregister A Abelein, Manfred 205, 206 Abelshauser, Werner 28 Aicher-Scholl, Inge 313, 314 Alber, Jens 264 Althammer, Walter 198 Anweiler, Oskar 297 Apel, Hans 194, 198 Arendt, Hannah 256, 278 Ashdown, Paddy 265

B Baader, Andreas 325 Bahro, Rudolf 129 f Balcerowicz, Leszek 25, 244 Bangemann, Martin 214, 224, 228, 230, 232, 234 Barth, Theodor 294 Barzel, Rainer 196, 197 Baum, Gerhart 35, 47, 57, 300, 320, 331 f, 337–339, 341, 349, 353, 356–358, 362 f Beck, Ulrich 282 Beck-Oberdorf, Marieluise 132, 135, 141 Becker, Gary 244 Belushi, James 106 Benn, Tony 71 Beveridge, William 13, 18, 281 Biebricher, Thomas 181 Biedenkopf, Kurt 79, 138, 198, 269, 272 Bierich, Marcus 227

Biffen, John 80 Blair, Tony 26, 33, 180, 246, 287, 288 f, 293 f Blühm, Norbert 202, 208 Boehling, Rebecca 313 Boesky, Ivan 106 Brandt, Willy 188 f, 192, 197, 257, 319, 324–326, 328 Bone, Ian 109 Breuel, Birgit 234 Briefs, Uli 135 Brittan, Samuel 62, 73, 84 Brown, Wendy 182 Bröckling, Ulrich 280 Buback, Siegfried 322 Bubis, Ignatz 310 Bull, Hans Peter 349 Bush, George W. 180 Bütikofer, Reinhard 141

C Cairncross, Frances 82 Callaghan, James 69, 76 Carson, Rachel 45 Carter, Jimmy 51 Churchill, Caryl 108 Clinton, Bill 26, 180, 293 Cronenberg, Dieter Julius 310 Crouch, Colin 246, 293

368 Personenregister

D

G

Dahrendorf, Ralf 18, 33 f, 75, 256 f, 263–297, 302, 308 Dehler, Klaus 307 Dehler, Thomas 295, 310 Deligöz, Ekin 143 Denninger, Erhard 359 Ditfurth, Jutta 57, 129, 136 Doering-Manteuffel, Anselm 186 f, 292 Dohnanyi, Klaus von 129 Dollinger, Werner 157 Douglas, Michael 106 Drenkmann, Günther von 322, 327 Duménil, Gérard 184 Durkheim, Emile 285 Dückert, Thea 143

Garton Ash, Timothy 256 f Geißler, Heiner 202, 208, 309 Genscher, Hans-Dietrich 27, 35, 36, 46, 57, 187, 200, 265, 299, 312, 316, 320, 324–328, 333–335, 341, 345–348, 350, 353, 358 Geppert, Dominik 100 Giddens, Anthony 287 f, 291 Gilder, George 99 Glistrup, Mogens 194 f Glotz, Peter 272 Gocht, Rolf 218 Göring-Eckhardt, Katrin 143 Greene, Bob 95 Gruhl, Herbert 57 Grünbeck, Josef 138 Grüner, Martin 224, 229, 231–233

E Ebermann, Thomas 136 Ehrenberg, Alain 280 Engelhard, Hans A. 361 Engels, Friedrich 267 Engels, Wolfram 153 f Ensslin, Gudrun 325 Erbe, Walter 303 f Erdmenger, Christoph 145 Erhard, Ludwig 171, 218 Eucken, Walter 29

F Fischer, Andrea 142 f Fischer, Joschka 40, 142, 309 Flach, Karl-Hermann 295, 297, 305, 310 Foot, Michael 91 Forsthoff, Ernst 173 Foucault, Michel 23, 94, 183 f, 210 Fox, Michael J. 117 Fredersdorf, Hermann 195 Freeden, Michael 315 Friderichs, Hans 213 f, 219–222, 225, 234 Friedman, Milton 24, 41, 45, 65, 85, 90, 99, 182, 241, 247, 254, 256, 281, 301 Friedmann, Bernhard 173 Fry, Stephen 105 Fukuyama, Francis 253 Funcke, Liselotte 196

H Habermas, Jürgen 267, 272, 291 Hacke, Jens 265 Hall, Peter 287 Hamm, Walter 159, 160, 166 Hamm-Brücher, Hildegard 34, 57, 196, 295–316 Hart, Gary 95 f, 100 f Harvey, David 184, 210 Haubrichs, Wilhelm 156, 195 Haussmann, Helmut 230, 232 Hayek, Friedrich August von 22, 29 f, 65, 164 f, 167, 183, 240, 269, 278 Heath, Edward 72 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 287 Hennis, Wilhelm 272 Herold, Horst 325, 332, 343, 346 Herrhausen, Alfred 227, 231, 233 Hertzberg, Hendrik 98 f Heuss, Theodor 295, 299, 305 f, 308–310, 315 Heyne, Kristin 144 Hirsch, Burkhard 349–351, 358, 362 f Hobhouse, Leonard T. 294 Hobsbawm, Eric 272 Höcherl, Hermann 330 Hogan, Paul 93 Honnacker, Heinz 362

Personenregister 369

Horkheimer, Max 267 Hort, Peter 169 Howe, Geoffrey 71 f, 75–78, 81, 84, 87 f Humboldt, Wilhelm von 339

I

Leussink, Hans 302 Lévy, Dominique 184 Locke, John 290 Lorenz, Peter 322 Luchtenberg, Paul 302 Lyon, David 343

Ingham, Bernhard 84

J Jays, Peter 62 Jenkins, Peter 71 Jenninger, Philipp 310 Johnson, Lyndon B. 241 Johnston, Deborah 184

K Karry, Heinz Herbert 331 Keegan, William 62, 88 Keith, Joseph 75, 80 Kelly, Petra 40, 51, 57 Kemp, Jack 99 Keynes, John Maynard 17, 186, 241 Kienbaum, Gerhard 191 Kiesinger, Kurt Georg 264 Kleinert, Hubert 135 Knauss, Fritz 172 Kohl, Helmut 27, 29, 36, 40, 52–54, 115, 125, 143, 149, 158, 161, 171, 179, 197, 199, 201 f, 204 f, 208–210, 269, 296, 312 Köppinger, Peter 171 Kretschmann, Winfried 121 Kreutz, Daniel 141

L Laclau, Ernesto 183 Laffer, Arthur B. 205 Lafontaine, Oskar 134 f Lambsdorff, Otto Graf 30, 53, 59, 157, 162, 167, 187, 196, 200 f, 214, 220 f, 223, 226–229, 232, 235, 309, 316, 362 Langewiesche, Dieter 299 Laufs, Paul 354 Laurie, Hugh 105 Laux, Manfred 144 Lazar, David 110, 111 Le Pen, Marine 249 Leisler Kiep, Walther 53

M Madison, James 290 Mahler, Horst 331 Maihofer, Werner 35, 297, 305, 320, 326– 329, 330 f, 335–338, 341, 353, 358 Maren-Grisebach, Manon 127 Marshall, Thomas Humphrey 276, 282 Marx, Karl 266–268, 274, 278 Matthäus-Maier, Ingrid 298 Matthöfer, Hans 199 May, Theresa 252 Meifort, Franziska 264 Meinhof, Ulrike 325 Merkel, Angela 58, 181, 246 f, 267 Merz, Friedrich 247 Metzger, Oswald 137 Miegel, Meinhard 198 Mill, John Stuart 65, 183, 256 Mischk, Leonhard 162 Mischnick, Wolfgang 189 Mondale, Walter 96 Monti, Mario 249 Mouffe, Chantal 183 Möllemann, Jürgen 295, 310, 316 Möller, Alex 189, 192, 196 Murdoch, Rupert 62 Müller, Jan Werner 250 Müller, Joachim 127, 132 Müller, Klaus 144 Müller-Hermann, Ernst 197

N Nader, Ralph 45, 99 Naumann, Friedrich 13, 294, 305, 335 Nickels, Christina 126 Niehans, Jürg 82, 85 Nixon, Richard 51, 186 Nolte, Paul 303

370 Personenregister

O Oberloskamp, Eva 323 Oettle, Karl 153 f Olson, Mancur 272 Opielka, Michael 141 Orbán, Viktor 248, 253 Orenstein, Mitchell 247 Özdemir, Cem 311

P Parkinson, Cecil 103 Peck, Jamie 25 Peter, Simone 311 Picht, Georg 302 Pieroth, Elmar 153 Pinochet, Augusto 25, 182, 241 Pohle, Wolfgang 158 Ponto, Jürgen 221, 322 Popper, Karl 266 Poujade, Pierre 195 Ptak, Ralf 185 f Putin, Wladimir 253

R Raffelhüschen, Bernd 142 Raphael, Lutz 292 Reagan, Ronald 14, 26, 45, 51, 53, 66, 70, 79, 92, 100, 115, 171, 179, 180, 204 f, 207, 210, 236, 241, 261, 276 Reents, Jürgen 136 Richardson, Gordon 81 f Riedl, Erich 173 f, 232 Riester, Walter 144 Röpke, Wilhelm 160, 233 Rubins, Jerry 95 Rudolph, Jochen 70, 74 Rüstow, Alexander 233

S Saad-Filho, Alfredo 184 Salentin, Ursula 313 Sander, Horst 158 Scheel, Christine 136 Schick, Gerhard 146 Schiller, Karl 189, 192, 213, 217, 219, 221 Schilling, Helmuth von 313 Schily, Otto 309

Schlecht, Otto 160, 162, 166, 218 Schleyer, Hanns-Martin 322, 330 Schmidt, Helmut 26, 57, 192, 194, 200 f, 209, 213, 226, 312, 324, 326 Schmücker, Kurt 218 Schoeler, Andreas von 353 Scholl, Hans 313 Scholl, Sophie 313 Schomerus, Rudolf 348, 349 Schröder, Gerhard 25 f, 142, 181, 245 f, 280, 288 f, 294 Schwarz, Hans-Peter 205 Schwörer, Hermann 207 Sellin, Peter 141 Sens, Amartya 275 Šik, Ota 125, 128 Simitis, Spiros 344 f, 348 Singer, Otto 145 Smith, Adam 65, 254 Soénius, Heinz 171 Soskice, David 287 Sperling, Dietrich 138 Stoltenberg, Gerhard 115, 167–169, 172 f, 202, 206, 232 Strasser, Johano 270 Stratmann, Eckhard 132, 135, 138 Strauß, Franz Josef 52, 53, 79, 171, 189, 195, 197 f, 202, 331 Streeck, Wolfgang 234 Stürmer, Michael 295, 311 Süß, Dietmar 293

T Tatge, Willi 132 Thatcher, Margaret 14, 24–31, 33, 39–43, 45 f, 51–58, 61 f, 65–72, 75–92, 95, 101, 103 f, 106–109, 111 f, 115, 117, 171, 179, 180, 204 f, 210, 236, 239, 241, 254, 261, 276, 284–287, 294 Tocqueville, Alexis de 290 Trampert, Rainer 125, 127, 136 Traube, Klaus 331 Treanor, Paul 182 Trump, Donald 250, 251

U Uhlmann, Reinhard 169

Personenregister 371

V Verheugen, Günther 57, 298 Verhoeven, Michael 312 Vinke, Hermann 312 Vogel, Hans-Jochen 329 Vogelsang, Günter 227 Volcker, Paul A. 75

W Walter, Franz 50 Walters, Alan A. 82 Watrin, Christian 160, 162

Weinhauer, Klaus 321 Welter, Erich 24 Westerwelle, Guido 40, 56, 295, 310 Westphal, Heinz 204 Wiese, Leopold von 165 Wilson, William Julius 285 Wirsching, Andreas 153 Wurbs, Richard 310 Wüstenhagen, Hans-Helmuth 47

Z Zander, Margherita 140 f

zeithistorische impulse



wissenschaftliche reihe

d e r s t i f t u ng b u n d e s p r ä s i d e n t - t h e o d o r - h e u s s - h au s

Die Bände 1–6 sind bei der Deutschen Verlagsanstalt (München) erschienen. Bis einschließlich Band 12 erschien die Reihe unter: Stiftung Bundespräsident-TheodorHeuss-Haus – Wissenschaftliche Reihe

Franz Steiner Verlag

ISSN 2511-2228

7.

Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hg.) Geschichte für Leser Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert 2005. 408 S., 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08755-1

10. Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum (Hg.) Liberalismus und Emanzipation In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2010. 224 S., geb. ISBN 978-3-515-09319-4

8.

Frieder Günther Heuss auf Reisen Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten 2006. 178 S., 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08819-0

11.

Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.) Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik 2012. 231 S., 5 Abb., 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10142-4

9.

Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.) Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft 2008. 330 S., geb. ISBN 978-3-515-09110-7

12.

Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.) Liberalismus im 20. Jahrhundert 2015. 347 S., geb. ISBN 978-3-515-11072-3

Der Liberalismus veränderte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts rasant: Neoliberale Positionen gewannen mit ihrer Forderung nach einem Rückzug des Staates und einer verstärkten Marktorientierung von Ökonomie und Gesellschaft an Gewicht. Doch in dieser marktliberalen Verengung ging der Wandel des Liberalismus nicht auf. Denn zur selben Zeit erlebte auch der Linksliberalismus gerade in Deutschland eine erstaunliche Konjunktur, die weit über den organisierten Liberalismus hinausging. Zudem kam es unter liberalen Innenministern zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit im Zeichen einer neuen Politik der „Inneren Sicherheit“, die auf terroristische Anschläge reagierte. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen diese vielfältigen Wandlungprozesse des Liberalismus erstmals im Zusammenhang dar. Warum erreichte der Neoliberalismus die Bundesrepublik erst spät und in moderater Form? Und wie interagierte er mit anderen liberalen Strömungen? Die Beiträge zeigen, dass der Neoliberalismus Teil eines generellen Wandels des Politischen war – und sie benennen die Grenzen, die seiner Durchsetzung in der Bundesrepublik gesetzt waren.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12085-2

9

78 3 5 15 1 20 8 5 2