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German Pages 225 [228] Year 2000
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 79
Friedemann Spicker
Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spicker, Friedemann: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert / Friedemann Spicker. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 79) ISBN 3-484-35079-2
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
1. Einleitung
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2. Der expressionistische Aphorismus
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2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Quellenlage Einflüsse Formen Themen Ergebnisse
3. Der deutsche Aphorismus in der Zeit des Nationalsozialismus
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3.1. Wegbereitendes 55 3.2. Die nationalsozialistische Literaturwissenschaft und der Aphorismus 61 3.3. Vorläufer 69 3.4. Der nationalsozialistische Aphorismus 75 3.5. Ernst Bertram 80 3.6. Trivialaphoristik 90 3.7. Der Aphorismus neben dem und gegen den Nationalsozialismus . . . 93 3.8. Ergebnisse 107 4. Lyrik und Aphorismus Texte an den Gattungsgrenzen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.
Theoretische Vorüberlegungen Literaturhistorische Anknüpfungspunkte Bertolt Brecht als Ausgangspunkt In der Brecht-Nachfolge Aphoristische Lyrik, lyrischer Aphorismus Ergebnisse
110 110 125 133 141 158 177
5. Quellen
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6. Forschungsliteratur
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7. Personenregister
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8. Begriffsregister
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1. Einleitung
Die Aphorismusforschung hat in den achtziger und neunziger Jahren in eindeutig nicht-linearem Maße Fortschritte gemacht. Als relativer Ginschnitt kann das Jahr 1984 gelten, als Giulia Cantaruttis Forschungsbericht in der deutschen Übersetzung 1 und Harald Frickes systematisch-historischer Überblick2 erschienen. Von zwei Zusammenhängen her ist sie seither bedeutend vorangetrieben worden. Gefördert wurde sie zum einen durch die Erweiterung des Literaturbegriffs über die klassische Trias hinaus. Wo Niggl etwa 1981 noch eigens für sie plädieren mußte, da ist die Gattung heute als Teil einer nichtfiktionalen Kunstprosa, als eine literarische Zweckform,3 eine offene Form,4 einerseits, als eine der bedeutendsten literarischen Kleinformen andererseits selbstverständlich Gegenstand der Literaturwissenschaft. Zum andern ist die Forschung in Verbindung mit Gattungsfragen vorangetrieben worden, vor allem durch die Arbeiten Frickes, der seine Überlegungen aus den frühen achtziger Jahren5 bis heute weitergeführt6 und erprobt7 hat. Seine äußerst scharfsinnige Definition mit notwendigen und fakultativ-alternativen
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Giulia Cantarutti: Aphorismusforschung im deutschen Sprachraum. (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte 5) Frankfurt u. a.: Lang 1984. Er wurde seitdem fortgeschrieben: Giulia Cantarutti: Zehn Jahre Aphorismusforschung (1980-1990). In: Lichtenberg-Jahrbuch 1990, S. 197-224. - Verf.: Skizze zum gegenwärtigen Stand der Aphorismus-Forschung. Zu Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus. In: Zs. f. dt. Philologie 112 (1993), S. 271-283. Harald Fricke: Aphorismus. 1984. Günther Niggl: Probleme literarischer Zweckformen. In: Internat. Archiv f. Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 1-18. Bernd Bräutigam, Burghard Damerau (Hg.): Offene Formen. Beiträge zur Literatur, Philosophie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte 22) Frankfurt u. a.: Lang 1997. Harald Fricke: Norm und Abweichung. 1981. - Derselbe: Sprachabweichungen und Gattungsnormen. Zur Theorie literarischer Textsorten am Beispiel des Aphorismus. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. 4. 1979. Berlin: Schmidt 1983, S. 262-280. Derselbe: Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart: Metzler 1990, S. 26-39. - Derselbe: Aphorismus. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 1992, Sp. 773-790. - Derselbe: Aphorismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 1997, S. 104—106. Johann Wolfgang von Goethe: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke. (Goethe: Sämtliche Werke. Band 13) Frankfurt: Dt. KlassikerVerlag 1993.
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Merkmalen ist, wenn auch vielfach eingeschränkt und mit Skepsis betrachtet, zumindest Orientierungspunkt für die seither erschienenen größeren Studien. Dieser Fortschritt zeigt sich allerdings weniger in literarhistorischen als in literaturtheoretischen Arbeiten und in Einzelstudien. Frickes Buch von 1984 enthält zwar zahlreiche Hinweise auf moderne Modifikationen der Gattung und ist auch mit der These ihrer Wandlung zu einer Mischform >Minimal-Prosa< anregend, der schmale Band hat aber hier keinen Schwerpunkt. Von den gattungstypologisch orientierten Arbeiten hat Fedler8 das meiste Interesse auf sich gezogen. Sein glücklich gewählter Leitbegriff »Begriffsspiel« verklammert in sich philosophisches und poetisches Sprachverfahren. Daneben steht Febels kontrastive Studie vom Spiel als Textstruktur9 her auf entschieden schmalerer Grundlage. Welsers implizite Argumentation10 mit ihrem Akzent auf der Bildlogik, die sich zu sehr im Detail verstrickt, ist nicht recht zur Wirkung gekommen. Stölzels11 Studie zur Wirkungsweise von Aphorismen sucht Fedlers Ansatz rezeptionsästhetisch weiterzuführen. Montandon hat sich aus französischer Perspektive an einer Synopse der literarischen Kurzformen versucht,12 wie sie in Deutschland bisher nur im Rahmen größerer Lexikonartikel vorliegt.13 Sieht man sich weiter in Bezug auf das 20. Jahrhundert um, so ist festzustellen, daß die Forschung daneben auch hier zu einzelnen großen Aphoristikern bedeutende Erkenntnisfortschritte gebracht hat. Ich greife exemplarisch nur einige größere Arbeiten zu Franz Kafka und Robert Musil für die zwanziger und dreißiger Jahre, zu Elias Canetti und Elazar Benyoetz für die Nachkriegszeit heraus, denn einen Forschungsbericht kann diese Einleitung nicht ersetzen. Sie will die Forschungssituation zum Aphorismus im 20. Jahrhundert nur soweit skizzieren, daß sie die Einordnung der folgenden drei Studien erlaubt. Unter dem Blickwinkel der Gattungsgeschichte gibt Grays14 breit angelegte Studie zu Kafka noch die besten Informationen. Sie bietet zu den Zusammenhängen von Sprachskepsis, Sprachkrise und aphoristisch-fragmentarischer Ausdrucksform um die Jahrhundertwende eine ausgezeichnete Vorarbeit. Ähnlich wertvolle Grundlagen für die dreißiger Jahre erstellt Pfeiffers15 Untersuchung von Aphorismus und Roman8 9
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Stephan Fedler: Der Aphorismus. 1992. Gisela Febel: Aphorismus in Frankreich und Deutschland. Zum Spiel als Textstruktur (Europäische Hochschulschriften 18, 3o) Frankfurt, Bern: Lang 1985 (Phil. Diss. Stuttgart 1983). Klaus von Weiser: Die Sprache des Aphorismus. 1986. Thomas Stölzel: Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. (Rombach Wissenschaften: Reihe Cultura 1) Freiburg: Rombach 1998 (Phil. Diss. Freiburg 1997). Alain Montandon: Les formes brèves. 1992. Rüdiger Zymner: Aphorismus/ Literarische Kleinformen. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Literatur Lexikon. 1996, S. 80-106. - Verf.: Literarische Kleinformen: In: Horst Brunner, Rainer Moritz (Hg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. 1997, S. 189-194. Richard T. Gray: Constructive Deconstruction. Kafka's Aphorisms: Literary Tradition and Literary Transformation. (Studien zur deutschen Literatur 91) Tübingen: Niemeyer 1987. Peter C. Pfeiffer: Aphorismus und Romanstruktur. Zu Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 46) Bonn: Bouvier 1990.
struktur bei Musil, obgleich ihre Basis schmaler bleibt und bleiben muß. Auch wenn sie mit ihrer polaren Auffassung einer positiven Neuorientierung ab 1933 Skepsis weckt, ist ihre These von der Hinwendung zum Aphorismus als ästhetische Reaktion auf den Nationalsozialismus prinzipiell anregend. Die wenigen Studien, die sich auf Aphoristiker nach dem Zweiten Weltkrieg beziehen, bleiben vollends in engen monographischen Grenzen. Canettis Aufzeichnungen haben die meiste literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen: neben einer gattungstheoretisch orientierten16 und einer motivgeschichtlichen Untersuchung17 eine Analyse im Hinblick auf ihre Sprachform und Sprachdeutung18 (um nur die selbständigen spezialisierten Arbeiten zu zitieren). Zahlreich sind dabei die Verbindungslinien, die in die Vergangenheit hinein gezogen werden. Gleichwohl steht der Aphoristiker Canetti in ihnen in seiner eigenen Zeit zusammenhanglos da. Für die jüngere Aphoristik ist Grubitz für Benyoetz exemplarisch, der dankbar zu rezipierende Zusammenhänge ins Hebräische hinein aufzeigt, im übergreifend Definitorisch-Historischen hingegen deutliche Defizite erkennen läßt.19 Für die Gattungsgeschichte zumal der zweiten Jahrhunderthälfte hat die Forschung damit noch erst isolierte Bausteine beizusteuern vermocht. So wichtig diese Vorarbeiten sind: über den Aphorismus des Expressionismus oder der Weimarer Republik, in der bundesrepublikanischen Restauration oder den politisierten siebziger Jahren wissen wir damit nach wie vor nichts. Auch primär historisch ausgerichtete Arbeiten sind indessen in den letzten Jahren nicht ausgeblieben. Sie konzentrieren sich auf zwei Gebiete: traditionell auf die österreichische Jahrhundertwende und Österreich überhaupt, dazu neuerdings auf den (post-)modernen Fragmentarismus. Den zahlreichen älteren Versuchen, einen offensichtlichen österreichischen Sonderweg zu erklären, schließen sich in jüngerer Zeit Fieguth20 und vor allem Kaszynski21 an (der im übrigen mit Arbeiten unter anderem zu Altenberg, Kafka, 16
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Thomas Lappe: Elias Canettis Aufzeichnungen 1942-1985. Modell und Dialog als Konstituenten einer pragmatischen Utopie. Aachen: Alano 1988 (Magisterarbeit Paderborn 1988). Christiane Altvater: »Die moralische Quadratur des Zirkels«. Zur Problematik der Macht in Canettis Aphorismensammlung Die Provinz des Menschen. (Eur. Hochschulschriften I, 1183) Frankfurt u. a.: Lang 1990 (Phil. Diss. Düsseldorf 1990). Susanna Engelmann: Babel - Bibel - Bibliothek. Canettis Aphorismen zur Sprache. (Epistemata 191) Würzburg: Königshausen und Neumann 1997 (Phil. Diss. Freiburg 1997). Christoph Grubitz: Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoetz. (Conditio Judaica 8) Tübingen: Niemeyer 1994 (Phil. Diss. Fribourg 1993). Gerhard Fieguth: Möglichkeiten der Aphoristik: Grillpaizer - Hofmannsthal - Kraus. In: Donald G. Daviau, Herbert Arlt (Hg.): Geschichte der österreichischen Literatur. 1. Teil. St. Ingbert: Röhrig 1996, S. 285-295. Stefan H. Kaszynski: Der modernistische österreichische Aphorismus. In: Hans-Ulrich Lindken (Hg.): Das magische Dreieck. 1992, S. 233-242. - Derselbe: Modelle des österreichischen Aphorismus im 20. Jahrhundert. In: Stefan H. Kaszynski: Österreich und Mitteleuropa. Kritische Seitenblicke auf die neuere österreichische Literatur. Poznan 1995, S. 79-92. - Die Aufsätze sind jetzt zusammengefaßt in: Stefan H. Kaszynski: Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus. (Edition Patmos 2) Tübingen, Basel: Francke 1999. 3
Kraus, Doderer, Canetti und Handke zu einer künftigen Geschichte des Aphorismus im 20. Jahrhundert beigetragen hat). Er geht von drei Modellen aus, die für drei Phasen der modernen österreichischen Aphorismusgeschichte charakteristisch seien: die Illumination (Altenberg u. a.) für die Jahrhundertwende, die Deduktion (Kraus) für die Zwischenkriegszeit, die intellektuelle Konstruktion (Canetti) für die Gegenwart. Die These läßt sich aber schwerlich generalisieren. Sie wird Schnitzler (illuminativ? deduktiv?) und Hofmannsthal genausowenig gerecht wie Eisenreich oder Handke (intellektuelle Konstruktion?) für die Gegenwart und lehrt eigentlich nur die Vorsicht vor schneller, griffiger Typologie. Greiner-Kemptner untersucht »aphoristische Strukturen« als Textpraxis in der (Post-)Moderne,21 erschwert aber die Rezeption durch einen überdehnten, unspezifischen >Aphorismusbegreifenden Gattung. Neben dem Begriff des Fragments ist es der der Aufzeichnung, 26 der intensiv bedacht sein will, auch wenn er mir bisher mehr Probleme zu fördern scheint, als er löst. Von eben den letztgenannten Begriffsproblemen geht meine Vorstudie zu einer Geschichte des deutschen Aphorismus aus, die bis 1912 reicht und für den letzten Zeitraum mehr und mehr den Charakter eines ersten gattungshistorischen Versuches annimmt.27 Sie sieht nach der Prägung des Gattungsbewußtseins durch Eb22
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Ulrike Greiner-Kemptner: Subjekt und Fragment. Textpraxis in der (Post-)Moderne. Aphoristische Strukturen in Texten von Peter Handke, Botho Strauß, Jürgen Becker, Thomas Bernhard, Wolfgang Hildesheimer, Felix Ph. Ingold und André Heiz. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Salzburger Beiträge 20) Stuttgart: Heinz 1990 (Phil. Diss. Salzburg 1990). Rüdiger Bubner: Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne. In: Merkur 47 (1993), S. 290-299. Friedrich Strack: Romantische Fragmentkunst und modernes Fragmentbewußtsein. In: Bernd Bräutigam, Burghard Damerau (Hg.): Offene Formen. Beiträge zur Literatur, Philosophie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte 22) Frankfurt u. a.: Lang 1997, S. 322-351. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1428) Frankfurt: Suhrkamp 1999. Thomas Lappe: Die Aufzeichnung. Typologie einer literarischen Kurzform im 20. Jahrhundert. Aachen: Alano 1991 (Phil. Diss. Paderborn 1990/91). - Hugo Dittberner: Arche nova. Aufzeichnungen als literarische Leitform. Göttingen: Wallstein 1997. - Susanne Niemuth-Engelmann: Alltag und Aufzeichnung. Untersuchungen zu Canetti, Bender, Handke und Schnurre. (Epistemata 253) Würzburg: Königshausen und Neumann 1998. Verf.: Der Aphorismus. 1997. Mit Bezug auf das 20. Jahrhundert weiterführend und
ner-Eschenbach und vor allem durch Nietzsche und dessen Rezeption diese >Gründungsphase< als abgeschlossen an: in der Literaturwissenschaft vor allem mit Leitzmann, der der Gattung unter dem Namen >Aphorismus< in Lichtenberg ihren Gründungsvater voranstellt, in der Literatur mit der >GedankensplitterAls Expressionismus gelte hier, was im Index Expressionismus stehtHaushalt< zwischen 1910 und 1920 war durch vieles andere stärker geprägt als durch den >ExpressionismusEpoche< und einer zweifelhaften >Gattung< nicht zu Aussagen über ein expressionistisches Genre >Aphorismus< kommen können. Welchen heuristischen Wert hätten sie, würde man nicht die Aphorismenbände von Autoren der Aktion wie Alois Essigmann 17 oder Salomo Friedländer 18 oder der Weißen Blätter (Oscar Levy 19 ) hinzunehmen, auch wenn Essigmanns epigonaler Aphoristik absolut nichts Avantgardistisches eignet und die Friedländers eine philosophisch orientierte Sonderrolle spielt? Wie wollte man den Brenner, der Georg Trakl veröffentlicht, für ein bedeutendes Organ des Expressionismus halten, den Brenner der Sämereien Carl Dallagos und damit sein aus den Vorabdrucken dort entstandenes Buch der Unsicherheiten20 mit seinen kulturkritischen, naturphilosophischen Reflexionen aber als unzugehörig ausscheiden? Andererseits: Was bliebe den Aussagen an Tragfähigkeit, wollte man Altenbergs /Vöt/rowoi-Nachträge 21 oder Friedells Aphorismen Über die Weiber22 einbeziehen? Die Bibliographie im Anhang versucht insofern den hier angemessenen Kompromiß, als sie einige Autoren, die mit einem kleinen Teil ihres aphoristischen Werkes gewissermaßen in die expressionistischen Zeitschriften hineinragen, am Rande mitverzeichnet. Zwei Gravitationszentren des expressionistischen Aphorismus lassen sich erkennen, die von einer Gruppenbildung im weitesten Sinne zu sprechen erlauben, ein politisch und ein regional bestimmtes. Da ist zum einen der Aktivismus um die Freunde Kurt Hiller und Rudolf Leonhard, der sich bis zur Mitgliedschaft beider am Politischen Rat geistiger Arbeiter 1918 konkretisiert. Hiller publiziert in den beiden Bänden seiner kämpferischen Zeit- und Streitschrift gegen die Literatur der Jahrhundertwende Die Weisheit der Langenweile von 1913 zwischen Essays, Aufsätzen, Porträts, Polemiken und Glossen immer wieder Aphorismen, etwa zur Denkkultur; das Inhaltsverzeichnis hebt sie einzeln heraus. Vorabdrucke finden sich in den wichtigsten expressionistischen Zeitschriften, im Sturm, in der Aktion, auch in den Herderblättern und im Pan. Konsequenter noch finden seine 284 durchnumerierten Sätze in Der Aufbruch zum Paradies (1922) in »Aphorismus« oder »These« die adäquate Form für den von ihm propagierten »Aktivismus«. Wo Litterat und Tat (Nr. 1-67) in neu 16 17 18 19 20 21 22
Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, S. XV. Alois Essigmann: Gott, Mensch und Menschheit. Aphorismen. Berlin 1916. Salomo Friedländer: Aphorismen: In: S. F.: Schöpferische Indifferenz, S. 319-474. Oscar Levy: Kriegsaphorismen. Bern, Biel, Zürich 1918. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. In: C. D.: Das Buch der Unsicherheiten. Streifzüge eines Einsamen, S. 131-190. Peter Altenberg: Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum 1 (1914), S. 84-97; Nachtrag zu meinem Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum I (1914/15), S. 223-224. Egon Friedeil: Über die Weiber. In: Der Ruf 1 (1912/13), H. 1, S. 4 M 2 . 11
und differenziert kalkuliertem Gebrauch der Ratio (Nr. 68-179) zueinander finden, da kann der Außruch zum Paradies (Nr. 180-284) nicht mehr fern sein. Leonhard, der sich vom Kriegsfreiwilligen 1914 zum aktivistischen Pazifisten und Revolutionsteilnehmer 1918 entwickelt und als Sozialist Individualist zu sein beansprucht, ist zweifellos der wichtigste Aphoristiker des Expressionismus. Nach Vorabdrucken in den Kriegsjahrgängen der pazifistisch-aktivistischen Zeitschriften Das Forum und Die Weißen Blätter erscheinen die beiden Bände Äonen des Fegefeuers 1917, mit der schärfsten Distanzierung von einer ersten Fassung Tanz auf der seidenen Leiter im Vorwort, und Alles und nichts! 1920, »Kurt Hiller, dem Kameraden im Glauben ans Ziel und Freunde auf dem Wege gewidmet«. Sie umkreisen, von Pathos und Paradoxie geprägt und durchsetzt von dialogischen Parabeln und Denkbildern, unter einem präzisen philosophisch-politischen Horizont in locker zusammenhängenden Gruppen die verschiedensten Themen, Ästhetik und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Religiosität, Staat, Politik und Geschichte, daneben auch Aspekte klassischer Moralistik wie Freundschaft, Liebe und Eros, Leid und Tod. Ihre unpointiert-aphoristische Erörterung schreitet einen weiten gedanklichen Raum aus, der in Pazifismus und revolutionärem Republikanismus seine Mitte hat und bei aller Wiederaufnahme im jüngeren Band stärkeren Manifest-Charakter annimmt. In engstem politischen Zusammenhang zu Hiller und Leonhard stehen Oskar Kanehls Aphorismen23 (1913) und Kurt Eisners Kriegsgedanken24 (1920) in der Aktion, desgleichen der Versuch zur geistigen Mobilisierung, als der sich Oscar Levys Kriegsaphorismen25 verstehen. Den anderen lockeren Zusammenhang bildet der allgemein besonders ausgeprägte österreichische Expressionismus. Auffallend häufig sind Aphorismen in der kurzlebigen Wiener Zeitschrift Der Friede vertreten, verfaßt unter anderem von Albert Ehrenstein, Paul Hatvani, Paul Baudisch, Johannes Urzidil, Alfred Grünewald und Hermann Kesser. Carl Dallago veröffentlicht als Sämereien vom Gebirge her im Innsbrucker Brenner ab 1910 die aphoristischen Reflexionen eines Bergwanderers, der eine in institutionalisiertem Materialismus erstarrte Menschheit auf seinen Weg einer naturorientierten, buddhistisch beeinflußten Spiritualität führen möchte, wobei er sich anfänglich stark an Nietzsches Kulturkritik, dann auch an der von Karl Kraus orientiert. Nach ihrer Buchfassung (Das Buch der Unsicherheiten, 1911) fuhrt er diesen Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit in der Zeitschrift noch bis 1913/14 weiter. Auch sonst ist sie der Gattung in besonderer Weise zugetan; Franz Janowitz' Aphorismen aus dem Nachlaß gelangen noch 1926 auf Kraus' Vermittlung hin in den Brenner.16 Wenn Klettenhammer als sein Charakteristikum »das Ne23 24 25
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Oskar Kanehl: Aphorismen. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 890-891. Kurt Eisner: Allerlei Kriegsgedanken. In: Die Aktion 10 (1920), Sp. 386-388. Oscar Levy: Kriegsaphorismen für Europäer. In: Die Weißen Blätter 5, III (1918), S. 5 2 54. Franz Janowitz: Der Glaube und die Kunst (Aphorismen aus dem Nachlaß). In: Der Brenner 10 (1926), S. 88-100. Vgl. Gerold Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 70.
beneinander von retardierenden Elementen und radikaler Innovation« 27 bezeichnet, dann ist bei den hier abgedruckten Aphorismen, zum Beispiel Hugo Neugebauers »Carl Dallago zugeeigneten« Einblicken,28 Ludwig Erik Tesars Gedanken29 und Oskar Vonwillers Bemerkungen,30 die Innovation so schwer auszumachen, wie die Retardation augenscheinlich ist. Die Ergebnisse Alfred Grünewalds 31 sind erst vor kurzem überhaupt wieder ins Bewußtsein gerückt worden. Für Hiller war er noch in der späten Autobiographie wie selbstverständlich als der »hinter Karl Kraus stärkste Aphoristiker« 32 präsent. Weniger formaler Innovationen als ihrer gewissermaßen klassischen Gestaltung wegen sind diese Aphorismen eines einzelgängerischen Lyrikers hervorzuheben, wesentliche Nebenprodukte eines ebenso sprachbewußten wie kritisch geschärften Beobachters. Diejenigen Alois Essigmanns, eines Beiträgers der Aktion,33 bleiben dahinter stark zurück; unter dem wahrlich ausgreifenden Titel Gott, Mensch und Menschheit34 werden sie 1916 bei Axel Juncker gedruckt, in dessen Verlag unter anderem Max Brod und Else Lasker-Schüler publizieren und Werfeis Der Weltfreund (1911) erscheint. Auch Paul Hatvani, in den zwanziger Jahren literarisch verstummt und 1939 nach Australien emigriert, ist erst spät wieder entdeckt worden. 35 In einem Aufsatz von 1920, der eine neue, zeitgemäße Form von Prosa sucht, weist er dem Aphorismus als dem »letzten Schlupfwinkel« vergangener Sprachkraft eine Schlüsselrolle zu: »Hat sich im Laufe der Entwicklung epische Form von der balladesken Prägnanz bis schließlich zur epischen Breite verflacht..., so ist, - etwa im letzten Schlupfwinkel des Aphorismus - irgendwo noch ein Rest unabhängiger Sprachform vegetierend erhalten geblieben«. 36 Der Ansatz ist allerdings nicht ausgeführt; es bleibt bei programmatischem Getöse und ebenso groß angelegter wie offener Definition: »Prosa sei Abstraktion«; »Prosa ist Revolution«. 37 Sein Versuch über 27
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Sieglinde Klettenhammer: »Der Scirocco ist kein Tiroler Kind und was uns im Brenner vorgesetzt, ist alles eher als Tiroler Art.« In: Klaus Amann / Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 296. Hugo Neugebauer: Einblicke. Carl Dallago zugeeignet. In: Der Brenner 3 (1912/13), S. 129-134. - Zu Neugebauer vgl. Gerald Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 44. Ludwig Erik Tesar: Gedanken. In: Der Brenner 3 (1912/13), S. 801-811; Gedanken. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 130-133, 320-328, 444-457. - Zu Tesar, der anfänglich Mitarbeiter der Fackel war, vgl. Gerald Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 289-292. Oskar Vonwiller: Bemerkungen. In: Der Brenner 2(1911/12), S. 864. Alfred Grünewald: Ergebnisse. Aphorismen. Hürth 1996. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. Band 1: Logos, S. 221. Alois Essigmann: Aphorismen. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 586-587. Alois Essigmann: Gott, Mensch und Menschheit. Aphorismen. Berlin 1916. Wilhelm Haefs: »Der Expressionismus ist tot... . Es lebe der Expressionismus.« In: Klaus Amann / Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 453-485. Paul Hatvani: Prosaisches Weltbild. In: Die Neue Schaubühne 2 (1920), H. 2, S. 33-35. Wiederabdruck in: Paul Pörtner (Hg.): Literaturrevolution 1910-1925. Bd. 1, S. 301303. Hier S. 302. Ebd., S. 303. 13
den Expressionismus aus der Aktion von 19 1 7 38 ist deutlich auf kursiv gesetzte Thesen hin konzipiert (»Der Expressionismus macht die Welt bewußt«39). Hatvani hat bis etwa 1921 in expressionistischen Zeitschriften Österreichs wie Deutschlands publiziert, vor allem als Theoretiker, der sich selbst als Typ des Wiener Kaffeehausliteraten folgendermaßen charakterisiert: Wir sind Theoretiker. Zwischen Aphorismus und Zigarettenrauch ist das Inventar unseres geistigen Alphabets enthalten; eine Stunde an Kaffeehaustischen, ein ekstatischer Gang mit fremden Freunden durch die Nacht, der Händedruck eines lieben Mädchens, ein Wortspiel, Verzückung oder Verachtung vor einem Bild ... und wir haben das Gefühl, die Welträtsel gelöst zu haben. 40
Die den Essays zu musikalischen und literarischen Themen, unter anderem zu Lichtenberg, und den Skizzen in Salto morale von 1913 angegliederten Aphorismen sind kunsttheoretisch orientiert, ohne Wortspiel und (deshalb?) erwartungsgemäß, ohne auch nur irgendein Welträtsel zu lösen. Als Einzelgestalten neben diesen beiden Zentren sind der Maler Franz Marc und zwei Philosophen eigener Art: Salomo Friedländer und Oskar Schirmer hervorzuheben. Marcs Aphorismen aus den ersten Kriegsmonaten werden 1920 zu ungefähr einem Viertel veröffentlicht41 und vollständig erst 1978 bekannt.42 Sie haben, so sein Biograph Lankheit, zusammen mit den Briefen »eine Breitenwirkung erzeugt wie keine andere Schrift eines deutschen Malers der Epoche«.43 Der dachende Philosoph< Friedländer, der als Mynona seine Grotesken veröffentlicht, faßt seine aphoristisch formulierte Lehre von der Polarität nach Vorabdrucken in Sturm und Aktion 1913 in seinem Buch Schöpferische Indifferenz44 zusammen. Schirmer, »Verf. philosoph. Dichtungen« (als der er im Deutschen LiteraturLexikon verzeichnet ist), schreibt sein Opus metaphysicum, eine Religion des Lebens, in Sätzen, die selbstreferentiell originell verkünden: »Ich nagle den Mantel des Unbekannten sorgfältig mit Aphorismen fest«.45 Schließlich sind noch die Aufzeichnungen des Lyrikers Ernst Lissauer zu nennen, klassisch-moralistische Blicke in Menschen46 (»Einem wesenhaften Menschen wird alles Wesen«;47 »Der scharfsinnige Dummkopf versucht das Unwägbare zu wiegen«48) und kurze kon38
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Paul Hatvani: Versuch über den Expressionismus. In: Die Aktion 7 (1917), Nr. 11/12, Sp. 146-150. Wiederabdruck in: Otto F. Best (Hg.): Theorie des Expressionismus, S. 68-73. Auch in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Hg. von Thomas Anz und Michael Stark, S. 38-42. Paul Hatvani: Versuch über den Expressionismus. In: Expressionismus. Manifeste und Dokumente, S. 41. Paul Hatvani: Betrachtungen. In: Der Friede 3 (1919), S. 552. Franz Marc: Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen. 1. Band, S. 126-131. Franz Marc: Die 100 Aphorismen »Das zweite Gesicht«. In: F. M.: Schriften, S. 185213. Klaus Lankheit: Franz Marc. Sein Leben und seine Kunst, S. 146. Salomo Friedländer: Aphorismen: In: S. F.: Schöpferische Indifferenz, S. 319—474. Schirmer: Sätze, S. 17. Emst Lissauer: Festlicher Werktag, S. 79-102. Ebd., S. 82. Ebd., S. 95.
ventionelle Notizen über das Schöpfertum (»Sendung ist Schickung«49; »Auch große Naturen sind große Natur«50). Wenn wir auch nicht von einer expressionistischen Epoche ausgehen (können) und konventionelle Aphorismus-Autoren ohne jeden Bezug zur expressionistischen Bewegung wie MUnzer oder Hohenemser in unserem Zusammenhang außer acht lassen, so wollen wir, an potentiellen formalen Innovationen orientiert, doch auch etwaige aphoristische Texte des Surrealismus und Dadaismus einschließen. Pabst kommt in seiner Untersuchung der Formen avantgardistischer Sprachspiele als AntiAphoristik und Paradoxie auf deutsche Autoren nicht zu sprechen.51 »Affinitäten der Surrealisten zur gnomischen Tradition«,52 wie sie Helmich mit einer eindrucksvollen Liste von Breton und Eluard über Picabia und Marcel Duchamp bis zu Entdeckungen wie Benjamin Péret, Jacques Rigaut, Robert Desnos u. a. für Frankreich feststellt, lassen sich für Deutschland nicht nachweisen. Aphorismen von einer neuartigen Paradoxie wie Picabias »Wer mit mir ist, ist gegen mich«53 oder »Die Ehre ist der Feind des Ruhms«,54 Innovationen wie Max Jacobs Le Cornet à Dés (1917; dt. Der Würfelbecher) sucht man hier im wesentlichen vergeblich. Das französische poème en prose hat in dem deutschen Prosagedicht, wie es Fülleborn zu entwickeln versucht hat,55 keine Parallele, die entsprechend aphoristische Strukturen einschlösse. Bei Jacob reicht es in diesem Umfeld von der Parodie der aphoristischen Definition, die innovative Bilder evoziert (»Eine Feuersbrunst ist eine Rose auf dem aufgeschlagenen Pfauenschweif«;56 »Ein fahlblauer Dornstrauch - es ist ein Kirchturm im Mondlicht«57) bis zur surrealen Für-Wahrnehmung und zur Reflexion über die eigene Existenz: »Zwischen den Vorhängen bildet der Fenstersturz eine Gleitbahn für den Rauch! Nein! Für die tanzenden blauen Engel«;58 »Im Gegenlicht betrachtet oder auch anders, gibt es mich nicht, und doch bin ich ein Baum«.59 Für den deutschen
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Ebd., S. 137. Ebd., S. 145. Walter Pabst: Anti-Aphoristik und Paradoxie. Formen avantgardistischer Sprachspiele. In: Hans Dieter Bork / Arthur Greive / Dieter Woll (Hg.): Romanica europaea et americana, S. 410-425. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 105. Vgl. auch Marie-Paule Berranger: Dépaysement de l'aphorisme. Paris: Corti 1988.. Francis Picabia: Schriften. Bd. 1. Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt. Hamburg: Edition Nautilus 1981, S. 43. Ebd., S. 56. Ulrich Fülleborn: Das deutsche Prosagedicht. 1970. - Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts. Eine Textsammlung. 1976. Hier ist Serner vertreten. Fülleborn gibt mit der Bemerkung, die Prosalyrik ziele auf »die Eingrenzung der rein ästhetischen Wirkungskomponente und eine entsprechende Stärkung der Erkenntnisfunktion der Dichtung« (S. 40), einen interessanten Hinweis, ohne aber leider das Verhältnis von Prosagedicht und Aphorismus zu diskutieren. Max Jacob: Der Würfelbecher. Gedichte in Prosa (Deutsch von Friedhelm Kemp). (Bibl. Suhrkamp 220) Frankfurt: Suhrkamp 1968, S. 28. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34.
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Sprachraum sind hier zunächst Die acht Weltsätze60 des »Oberdada« Johannes Baader zu nennen (»Die Menschen sind Engel und leben im Himmel«61), auch vereinzelte Unsinnssprüche Johannes Theodor Baargelds (etwa »Die axt im haus erspart den bräutigam« oder »Nieder mit der kompakten majorität der damenschneider«62). Otto Flakes Thesen als Einleitung zu der kurzlebigen, von Flake, Serner und Tzara herausgegebenen Dada-Zeitschrift Der Zeltweg, die ihren Anspruch dokumentieren, indem sie an Luther anknüpfen (»Keine Kirchentür ist nötig wie jenem Mönch, und man kann sich kürzer fassen«63), formulieren hingegen dadaistische Programmatik (»Die Kunst stirbt, wie die Religion gestorben ist«64), ohne selbst im geringsten dadaistischen Geistes zu sein, vergleicht man sie etwa mit Aphorismen des holländischen Dadaisten Rinsema: »Der Mensch ist von Natur aus eckig«-, »Die meisten Menschen werden von Freunden beerdigt«.65 Walter Serners Manifest dada Letzte Lockerung, ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen (192066), dessen erster Teil in 81 numerierten »Fragmenten«67 nach Vorfassungen seit 191568 1918 in der Schweiz entsteht, läßt sich als zynische Zerstörung alles Maximenhaften und >Regelrechten< interpretieren,69 besonderen Aspekten des Aphorismus durch seine Geschichte hindurch, auch wenn sein Monograph Backes-Haase diesem Formaspekt keine Aufmerksamkeit widmet. 70 Mit dem zweiten Teil von 1927 kehrt Serner zwar formal stärker zur traditionellen Form des Aphorismus als Regel zurück, kann insgesamt aber, eher in Serie variierend, das literarische Niveau des ersten Teils nicht halten. Die Form des Leitfadens in kurzen selbständigen Abschnitten, seine Formreflexion zu Regel und System, seine vielfältigen sprachspielerischen Versuche, sein wilder Gestus der Totalzertrümmerung verbinden sich mit höchst kontrolliertem Hinarbeiten auf eine Reihe von Thesen als Abschluß eines Kapitels, die als Definition verkleidet ein assoziatives Feuerwerk entfachen: »Venusblicke sind das einzig Sichere. Dämonie ist ein Rindslendenstück. Bettgeisttrompeten sind Barbaraien. Die Seele ist kein Brückengeländer. Die Liebe eine Schwanerei«.71 Mit sol60
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Johannes Baader: Die acht Weltsätze. In: »BZ am Mittag«, 30. Juli 1918. Wiederabdruck in: J. B.: Oberdada. Hg. von Hanne Bergius, Norbert Miller, Karl Riha. Gießen 1977, S. 43. - J. B.: Die acht Weltsätze des Meisters J. B. über die Ordnung der Menschheit im Himmel nebst Erklärungen desselben. Mühlheim 1919. Johannes Baader: [Aphorismen]. In: der Komet 1 (Januar 1919), Blatt 4. Johannes Theodor Baargeld: (Sprüche). In: 113 Dada Gedichte, S. 158. Vgl. auch Raoul Hausmanns Nachzügler Dadaradatsch (1965). Otto Flake: Thesen. In: Der Zeltweg 1 (1919), S. 1. Ebd. Doesburg, Schwitters u. a.: Holland ist Dada. Ein Feldzug, S. 54. Walter Serner: Letzte Lockerung. 1964. Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 11. Auch am Schluß des zweiten Teils: »672 Fragmente«. In: Der Mistral; vgl. Alfons Backes-Haase: Kunst und Wirklichkeit, S. 47. Der Vergleich, den einer seiner Rezensenten zieht (»heutiger als Gracians Handorakel«), ist in diesem Sinne gar nicht abwegig (Serner: Das gesamte Werk. Bd. 8, S. 154). Alfons Backes-Haase: »Über topographische Anatomie, psychischen Luftwechsel und Verwandtes«. 1989. - Derselbe: Kunst und Wirklichkeit, S. 47-53. Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 38.
chen Elementen ist das Handbrevier als Zeugnis dadaistischer Aphoristik durchaus mit heranzuziehen. 72 Zwei große Namen verdienen schließlich eine j e eigene Bemerkung. Karl Kraus müßte unter Epochengesichtspunkten (Sprüche und Widersprüche, 1909; Pro domo et mundo, 1912; Nachts, 1919) den hervorragenden Rang überhaupt einnehmen. Er hat sich aber bei aller zeitweiligen Nähe und trotz der vehementen Förderung einzelner Autoren wie Trakl, Werfel, Lasker-Schüler schon ab 1914 vom Expressionismus als einer Literaturbewegung abgewandt. Eine halbe Generation älter als die Expressionisten und von größter Wirkung auf sie, ist er hier eher als eine Vorbildfigur von Bedeutung. Das generelle Problem, ob und inwieweit man das Werk Franz Kafkas dem Expressionismus zu- und einordnen könne, stellt sich auch in der gattungstypologischen Verengung. Nicht nur von der Rezeption her 73 sind auch seine Aphorismen freilich als eine so eigene Größe zu werten, daß sie bei der Spurensuche nach expressionistischer Aphoristik unberücksichtigt bleiben sollten. Solche Spurensuche in dem hier entfalteten Material hat sich an einigen grundlegenden Fragen zu orientieren. Wo greifen die Aphorismen die expressionistischen Themen auf? Erschöpfen sie sich thematisch darin? Wo - gattungsgeschichtlich aufschlußreicher - können sie als Ausdruck expressionistischen Formwillens verstanden werden? Wo und wie also führen sie formal über die von der Aphoristik der Jahrhundertwende breit zurecht gelegten Muster hinaus? 74 Und dem vorangehend natürlich auch: Sind in einem Spektrum zwischen Serner und Dallago überhaupt Gemeinsamkeiten zu entdecken? Diese Leitfragen als Ausdruck eines notwendig zirkulären Einstiegs sind geeignet, Entscheidungen über >Zentrales< und >Peripheres< zu treffen und möglicherweise zu Merkmalen eines genuin expressionistischen Aphorismus zu gelangen. Angesichts der im ganzen doch relativ leicht überschaubaren Quellen darf man sich freilich trotz der auch kritisch gefiltert noch imponierenden Liste des Index zu einer überproportionalen Gewichtung dabei nicht (ver)fiihren lassen.
2.2. Einflüsse Wenn auch schon aus diesen knappen Bemerkungen zur Quellenlage ersichtlich wird, daß der Akzent weniger auf der Einheitlichkeit als auf der Darstellung von Kreisen um Zeitschriften wie dem Brenner und der Aktion liegen muß, so ist doch mindestens ein gemeinsames Element deutlich: die explizite Berufung auf Nietz72
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Während Fülleborn es der von ihm entwickelten Gattung der Prosalyrik zuordnet (Ulrich Fülleborn [Hg.]: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, S. 105), ordnet es Gilgen wie selbstverständlich der Gattung des Aphorismus ein (Peter Gilgen: Lockere Sprüche. In: VerLockerungen, S. 9). Zuletzt Richard T. Gray: Constructive Deconstruction. 1987. Weitere Literatur: Verf.: Der Aphorismus. 1997, Bibliographie. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 235-261. 17
sehe. Die Spannweite wird dabei durch die Namen Serner und Dallago angedeutet. Zu unterscheiden sind dabei der Eindruck der Persönlichkeit, die oberflächliche Rezeption seiner Grundideen und eine spezifisch aphoristische Beeinflussung. Auch wo es um ein Plädoyer für die Gattung geht, ist Nietzsche der entscheidende Gewährsmann. Dallago stilisiert sich in seinen Sämereien vom Gebirge her als Wanderer in der Höhe auf Nietzsche, freilich vermittelt mit der Ganymed-Pose (»Zuletzt liege ich da, wie ein Fluß, der lautlos dahinfließt und wellenlos, ganz eingefügt der Landschaft um mich«75) und so um dessen einseitige Größe gebracht. Er versucht, »die Gedanken festzuhalten, um sie säen zu können als ein Gewachsenes von den Bergen her«:76 Das gedankliche Heil kommt noch einmal aus der einsamen Höhe in die Niederungen der Menschen. Dabei läuft er schon stilistisch weit hinter dem Vorbild her: »Auf meinen Wanderungen geht wieder zumeist eine Menge von Einfallen mit mir«.77 Wo seine in diesem Gestus gehaltenen Aphorismen explizit auf »Nietzsche, den großen Wissenden um den Kern der Dinge«,78 zu sprechen kommen, bringen sie eine ambivalente Haltung zum Ausdruck, eine Verehrung, die Vorbehalte sucht: »Nietzsches Ecce homo (aus der Ferne skizzenhaft wahrgenommen): ein Bekenntnisbuch, das dem großen Schaffenden die Dornenkrone des Dulders aufsetzt und die Glorienkrone eines Zeitenherrschers. Zwischendurch, blitzartig schimmernd, die bunte Flitterkrone König Lears«.79 Dallago stutzt ihn auf seine Verhältnisse zurecht und interpretiert ihn von der eigenen Verwurzelung her: »Meiner Einsamkeit scheint Nietzsche ein Baum, der seine Kräfte übermäßig ausdehnt, der nur empor will; nicht empor, um zu herrschen - nur empor, um zu schauen, so weit zu schauen, wie noch keiner geschaut hat. Dabei vernachlässigte er sein Erdreich. Und so wurde er plötzlich entwurzelt«.80 Zweifel und Ablehnung werden im Buch der Unsicherheiten deutlicher artikuliert: »Mein Empfinden verhält sich gegen den Gedanken des Übermenschen ablehnend«.81 Dallagos Kunstglaube, seine Kultur- und Gesellschaftskritik, sein Elitarismus und seine ErlebensEmphase verbinden ihn mit Nietzsche. Von diesen Gemeinsamkeiten her versucht er zu integrieren, was sich nicht integrieren läßt: »Ohne Übermenschen zu Nietzsche zurückkehrend, glaube ich trotzdem gegen das eigentliche Wesen des großen Pfadfinders der Menschheit nicht verstoßen zu haben«.82 Tatsächlich aber revidiert er »den Ueberwinder«83 für sich total: »Glaube, Vertrauen, auch Liebe sind so gut
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Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. III. In: Der Brenner 1 (1910), S. 154; C. D.: Das Buch der Unsicherheiten, S. 132. Ebd. Carl Dallago: Das Buch der Unsicherheiten, S. 210. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. III. In: Der Brenner 1 (1910), S. 237; C. D.: Das Buch der Unsicherheiten, S. 151. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. IV. In: Der Brenner 1 (1910), S. 272. Carl Dallago: Meine Einsamkeit redet. In: Der Brenner 3 (1912/13), S. 452. Carl Dallago: Das Buch der Unsicherheiten, S. 211. Ebd., S. 212. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. IV. In: Der Brenner 1 (1910), S. 269.
Realitäten wie ein Haus, ein Berg, eine Waldung«.84 Im Epilog seines Buches gerät Dallago immer stärker in den Sog der Grundideen des Vorbildes, die aber gewaltsam mit einer glaubensgewissen Religiosität zusammengespannt werden, bis alle Unsicherheiten in der »Lösung« aufgehen: »Gott ist das Antwortlose«. 8 5 Dallago nimmt den Zeitkritiker Nietzsche für ein »Reich der Verinnerlichung« dergestalt in Anspruch, daß für ihn »die Worte Jesu und Nietzsches innig Hand in Hand« 86 gehen: »Die lautersten Menschen waren immer zugleich die kraftvollsten und mächtigsten Menschen. Dafür höchste Begriffe: Jesus, uns näher gelegen: Walt Whitman, Nietzsche, Segantini«.87 Ebenso und mit ebendemselben Vergleich geht Hiller von der Faszination durch die Persönlichkeit aus: »Die beiden größten Menschen der mittelländischen Rasse seit den Griechen: Christus und Nietzsche (merkwürdig: ein Jude und ein, nicht unslawischer, Deutscher!) zwingen uns, Schöpfer einer Kugel zu werden, deren Pole sie sind«.88 Auch er adaptiert darüber hinaus einzelne Kategorien wie Wille oder Erlebnis, die Nietzsche vorgibt und die die wissenschaftlich-essayistische Nietzsche-Rezeption akzentuiert herausgearbeitet hat: »Wille! Lautet die Weisheit der Langenweile«.89 Der kraftvolle Gestus dieser Zeit- und Streitschrift (»Propagiert wenigstens euch selbst!«; »die Weisheit der Langenweile [...] erzeugt, hoffe ich, Krieger«90) ist im Ton und und in den Gedanken von Nietzsche entlehnt, und sein Aristokratismus des Geistes speist sich gleichfalls aus dieser Quelle. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist aber, daß Hiller sich gerade für die aphoristische Form seiner für Begriffsbildung wie Programmatik des Expressionismus höchst bedeutsamen Schrift Die Weisheit der Langenweile auf Nietzsche beruft. In einem Prolog geht er von dessen Polemik gegen die »kurzsichtige« Gleichsetzung einer vollendeten Einheit einzelner Stücke mit einem »Stückwerk« aus: »Gegen die K u r z s i c h t i g e n . - Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken giebt (und geben muss)?«91 Wenn Hiller seine formale Apologie direkt hier anschließt und in einer dem Vorbild ebenbürtigen Unbedingtheit argumentiert, hat er genau diesen einen »Besseren als ich« im Sinn: Brillen, und wollustvoll gerade linkere, werden dies Buch mit >Stiickwerk< anreden. Statt zu prüfen; statt die geheimen Ursachen nicht nur, sondern auch die Gründe zu erforschen, aus denen es die Form hat, die es hat, haben muß, - werden sie an ihm [...] zirka die bändigende Zucht und Wucht großen Gestaltens vermissen. Ich schreibe, wie ich denke. Wie von Menschen gedacht wird. Man denkt ... jawohl, man denkt in >Bruch-
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Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. I. In: Der Brenner 1 (1910), S. 159; C. D.: Das Buch der Unsicherheiten, S. 138. Carl Dallago: Das Buch der Unsicherheiten, S. 243. Ebd., S. 272. Ebd., S. 270; vgl. S. 305. Kurt Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 153 (aus Nr. 267). Hiller: Die Weisheit der Langenweile. 1. Band, S. 19. Ebd., S. 20. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 2, S. 432 (Menschliches, Allzumenschliches n , Vermischte Meinungen und Sprüche Nr. 128).
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stücken^ Bessere als ich dachten in Bruchstücken. Nicht fragmentarisch pflegen zu denken, die ... nicht denken. 92
Wenn er im weiteren gegen »ein syllogistisches Monstrum« polemisiert, »das zu seinem Erzeuger nur mehr mit einem Viertel in der Beziehung der Erlebnisnotwendigkeit«93 steht und dabei auf einen fälschlicherweise hochgeschätzten System-Begriff zielt: »In sogenannten Systemen ist der größere Teil durchgehends unanständig, unerlebt, stief und Schlacke«,94 dann gipfelt dieser Abschnitt seines Prologs in dem vielzitierten Nietzsche-Wort als einem unwiderlegbaren Beweis: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit«.95 Stärker als die Natürlichkeit, Hillers ebenso vage wie kraftvolle Waffe gegen den Stückwerk-Vorwurf, ist es die den System-Verteidigern abgesprochene Kategorie der »Erlebnisnotwendigkeit«, die hier in den Mittelpunkt gerückt ist und die unabhängig von ihrer Herkunft untersucht zu werden verdient.96 Und auch die Form von Hillers Der Aufbruch zum Paradies mit seinen abschnittsweise angeordneten numerierten Aphorismen und seinem kraftvoll unbedingten, wenn auch dabei sehr forcierten Ton kann das Vorbild nicht verleugnen. Die Berufung auf Nietzsche steht neben einer Diskussion von Marx und Engels, kritisch, aber in der Grundüberzeugung, daß »die kommunistischen Ziele kulturell notwendig bleiben«,97 und in synthetisierender Absicht (»Engels beargwöhnte den Willen zum System«98): Dieser schon bei Hiller zu beobachtende >Linksnietzscheanismus< läßt sich am deutlichsten in Oskar Levys Kriegsaphorismen eines Europäers und am nachhaltigsten bei Rudolf Leonhard nachweisen. Die redaktionelle Vorbemerkung zu den Kriegsaphorismen in den Weißen Blättern läßt an der Intention keinen Zweifel. »Um zu zeigen«: so beginnt sie; und sie sucht Nietzsche mit den Texten »eines authentischen Nietzscheaners« für sich, den »Sammelpunkt der Antikriegsliteratur«,99 und gegen die Kriegsverherrlicher nicht nur in Deutschland zu retten, die ihn instrumentalisieren und in fälschlich konkretisierender Interpretation ihren Zielen vorspannen, ein Vorspiel zur Inanspruchnahme Nietzsches für den Nationalsozialismus. »Um zu zeigen, wie zur Zeit der Feldausgaben von >Zarathustra< und dem >Willen zur Macht< ein authentischer Nietzscheaner, der Herausgeber der englischen Nietzsche-Ausgabe, über den Krieg dachte, eine kleine Auswahl aus Oskar Levys Kriegsaphorismen«.100 Bei 92
Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile. 1. Band, S. 13. Ebd., S. 14. 94 Ebd. 95 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 63 (Götzendämmerung Nr. 26).Vgl. Morgenröte Nr. 318 (Kritische Studienausgabe. Bd. 3, S. 228): »Vorsicht vor den Systematikern!« 96 Vgl. unten S. 48-50. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 75. 99 Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften 1910-1933. (Sammlung Metzler 24) Stuttgart: Metzler 1962, S. 12. 100 Oskar Levy: Kriegsaphorismen eines Europäers. In: Die Weißen Blätter 5, HI (1918), S. 52. 93
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Levy selbst heißt es dazu: »Als der Krieg ausbrach, war in den hervorragendsten Zeitungen, Wochen- und Monatsschriften Englands und Frankreichs zu lesen, daß Nietzsches Predigt vom Übermenschen den Deutschen die Köpfe verdreht und ihren größenwahnsinnigen Angriff auf Europa veranläßt hätte«.101 Seine Aphorismen sind schwache, von der richtigen Gesinnung getragene formale Nachahmungen: »Begeisterung. - Die Höhe der Begeisterung verrät mitunter die Tiefe des Unsinns, der damit verdeckt werden soll«.102 Bei Hillers Mitstreiter Leonhard ist die Integration im Sinne eines solchen Linksnietzscheanismus verdeckter. Ganz im Sinne von Nietzsches Umwertung und Umkehrung heißt es da in den Worten des ersten Hauptstückes Von den ersten und letzten Dingen von Menschliches, Allzumenschliches:m »Wir haben genug und zuviel von den letzten Dingen gesprochen. Laßt uns, in andern und denselben Tönen, nun einmal von den ersten Dingen reden - und wir werden finden: die letzten werden die ersten sein«.104 Es ist nicht nur dieses leitende Prinzip, es ist der Gestus der - zuweilen ironischen - Ansprache (»Ihr Horchenden, Ihr Fühlenden«;105 »O Ihr Seelenkenner!«106), es ist der pathetische Stil mit seinen Interjektionen und Ausrufezeichen, seinen Gedankenstrichen, die den Fluß des Nachdenkens stauen und umlenken wollen, den rhetorischen Fragen, es ist auch die Vertrautheit mit Bibel und biblischer Sprache bei grundsätzlicher Abwendung und Ablehnung, schließlich die unpointiert-gedankliche Grundstruktur der Aphorismen selbst, was in seiner Gesamtheit die gedanklich-stilistischen Beziehungen zwingend nahelegt. Auch die Beziehung des Gesamtwerks von Salomo Friedländer, eines der »Geistverwandten«107 Hillers, zu Nietzsche ist äußerst eng. Neben dem erdrückenden Einfluß Schopenhauers steht die produktive Beschäftigung mit Nietzsche {Friedrich Nietzsche. Eine intellektuelle Biographie, 1911). Ein Nietzsche-Motto geht seinen Grotesken Rosa, die schöne Schutzmannsfrau voraus. Von seiner >Erscheinung< geradezu ist Friedländer geprägt: »Das mag ein paar Jahrtausende so hingehen; jetzt aber ist Nietzsche erschienen«.108 Der »Wille« Nietzsches ist der Kernbegriff auch seiner Philosophie. In der Schöpferischen Indifferenz entwickelt er einen sehr eigenen »Schlüssel zum Erlebnis Nietzsche«,109 wenn er dessen »Bedeutung als Indifferentismus polarer Observanz«110 präzisiert; er inkorporiert ihn sich geistig im Prinzip ganz ähnlich wie Dallago.111 101
Ebd., S. 54. Ebd, S. 53. 103 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 2, S. 23-55. 104 Rudolf Leonhard: Alles und nichts, S. 12f. 105 Ebd., S. 31. 106 Ebd., S. 93. 107 Richard Hamann / Jost Hermand: Impressionismus. (Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart 3) München: Nymphenburger 1972, S. 85. 108 Salomo Friedländer: Schöpferische Indifferenz, S. 405. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Vgl. Lisbeth Exner: Fasching als Logik, S. 199-201. 102
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Solches gilt, ohne daß es hier detailliert zu untersuchen wäre, auch für Schirmers Sätze, die, mit einem »Geleitwort« Nietzsches voran, etwa lauten: »Es ist nicht genug, daß ein Gott gestorben ist, man muß ihn auch begraben«.112 Oder: »Der letzte Gott des Menschen ist der Mensch«.113 Etwas ähnlich unpartiell Elementares wie Hiller hat Essigmann dort im Sinn, wo er Nietzsche zitiert. Einer seiner Aphorismen in Gott, Mensch und Menschheit lautet: »Nietzsche sagt: >Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werdenaphoristisch< gibt, ist in der Regel Alltagserfahrung, Auszug aus der Alltagserfahrung, Witzwort«. Er schließt mit einem Pathos, das sich scheinbar an einem kleinen Leitfaden expressionistischer Literatur orientiert: »Abhandlung oder Aphorismus? Das Schicksal stellt euch die Frage.« Seine »Kritik am Systematiker« bleibt gedanklich ganz in dem Zusammenhang, der schon bei Hiller herzustellen war. Hier steht der Aphorismus geradezu im Rahmen eines Gruppenmanifestes. Mit Wir Systemlose baut sich Schwangart selbst als in einer exzellenten Nachfolge stehend auf, einer Gruppe von »Aphorismus-menschen« 131 eben, die um die »Gefahr für Systemmenschen weiß«. 132 »Nietzsche!« und seine »grosse, systemlose Entdeckung« 133 Der Wille zur Macht: Schwangarts Vermutungen in Der Einzige,134 die in der Art ihrer Überschriften (Deutsche Gefahr, Tiefe und Form, Vom geistigen Besitz) Nietzsches Aphorismus formal noch deutlicher nachahmen, schließen exakt hier an, sind Fortführung und Wiederholung des Vorbildes mit den typischen Formulierungen des Jüngers, der das sakrosankte Werk nicht nur auf jede neue Denklage anzuwenden weiß (»nach Nietzsche« 135 ), sondern auch Leben und Werk hypothetisch fortzuführen sich (allein) berechtigt hält (»Nietzsche hätte« 136 ). Das vage Erkenntnispathos eines selbsternannten Propheten ist geblieben. Er rechnet sich einer Gruppe der »Erkenner«, 137 der »Berufenen« 138 zu, denen in einem durchaus übersichtlichen Weltbild die »Systematiker in Reinkultur. Wesentlich Schulmeister. Gegenteil des Berufenen« 139 gegenüberstehen. Auch ansonsten erscheint Nietzsche in Der Einzige neben Stirner als die Leitfigur. Wenn Ernst Roy hier neben Aufsätzen zu Nietzsche (Aus Nietzsche's Leiden, 140 Über das Musikalische in Nietzsche141) Aphorismen142 veröffentlicht, dann ist das nur ein weiterer Beleg dafür, daß Nietzsche über solchen philosophischen Synkretismus hinaus auch bei der Wahl der Gattung als Patron, >ZiehvaterSchärfe< einmal - das ist schon an der durchschnittlichen Länge ablesbar - vornehmlich von der denkerischen Substanz, das andere Mal von der sprachlichen Gestalt gebildet wird, und es stellt sich die Frage, ob die Einflüsse von Nietzsche und Kraus auf den expressionistischen Aphorismus Elemente einer polaren Struktur haben, ob sie etwa konkurrierende Modelle bilden. Kraus' Einfluß ist ähnlich allgegenwärtig zu denken wie der Nietzsches, auch wenn er selbst sich vom Expressionismus als literarischer Bewegung seit Anfang des Krieges mehr und mehr abwendet. Werfel und Ehrenstein fördert er anfangs, Franz Janowitz ist mit ihm eng befreundet; dessen Aphorismen gelangen durch Kraus' Vermittlung in den Brenner.145 Ein früh gefallener, unbekannt gebliebener Aphoristiker wie Curt Frank, 1894 geboren, steht fast selbstverständlich unter seinem »entscheidenden Einfluß«. 146 Und dieser Einfluß reicht weit Uber Österreich hinaus; auch für ihn ist die Spannweite durch die Namen Serner und Dallago angedeutet. Selbst Serner bildet sich als Schriftsteller an niemand anderem als Kraus, der »ihm zumindest bis 1913 ein wichtiges Vorbild ist«, 147 solange er nämlich noch an die Wirkung journalistischer Arbeit glaubt. So resümiert Backes-Haase seine Analyse der Beziehung, die Zeitungsartikel Serners über Kraus zur Grundlage nehmen kann. Der »Sprachgewalt eines K. K.«, 148 auch wenn er ihn damit zu den »Bruchstückgenies« 149 zählt, kann sich auch ein Kurt Hiller nicht verschließen, wie verschieden ansonsten seine literarisch-politischen Ansichten sein mögen. Hiller macht ihn »als einen Führer der neu-moralischen Bewegung« 150 gewissermaßen zu einem Mitstreiter: »Auch der (große) Satiriker nämlich schafft aus sittlichem Furor und befeindet Seiendes«. 151 In den Vor-Worten zu einem Karl-Kraus-Abend, datiert London 1942, heißt es schlicht: »Kraus, so sardonisch ers selber bestritten
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Z. B. Die Fackel Nr. 324-325 v. 2. 6.1911, S. 55. Timms: Karl Kraus, S. 274. 145 Gerold Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 70. 146 Friedrich Munter: Curt Frank. In: Der Einzige 1 (1919), Nr. 23/24, S. 276. 147 Alfons Backes-Haase: »Über topographische Anatomie, psychischen Luftwechsel und Verwandtes«, S. 42. 148 Kurt Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 9. 149 Ebd. 150 Hiller: Die Weisheit der Langenweile. 1. Band, S. 94. 151 Ebd. 144
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hätte, war Aktivist«.152 Kurz ist der Weg von hier aus zu einer nicht-artistischen, >ethischen< Interpretation des aphoristischen Witzes als des zentralen gedanklichstilistischen Elementes: »Nur Witz als M i t t e l hat Wert (den allerhöchsten!); Witz als Kunstgriff, eine Erkenntnis oder ein Postulat plausibler, suggestiver, unvergeßlich zu machen; der Witz Voltaire's und Lichtenberg's, der Witz Nietzsche's, der Witz Kerr's und, wie ich glaube, malgré lui der Witz des großen Karl Kraus«.153 Hiller und Kraus mögen sich in ihrem auch stilistisch durchschlagenden Behauptungswillen nicht nur vergleichen, sondern auch in enge Verwandtschaft rücken lassen. Ein Wortspiel Hillers wie »>FachSchlupfwinkel des Aphorismusein Rest unabhängiger Sprachform vegetierend erhalten geblieben< sei«.165 Kraß verbinden sich Verehrung und formale Folgenlosigkeit bei Alois Essigmann: Daß er sich in pathetischer Hingabe den »Manchen« zuzählt: »Keiner kann behaupten: Karl Kraus ist unser! Aber mancher muss gestehen: Ich bin der Seine!«:166 für seine Aphoristik bleibt das ganz ohne Konsequenz. Er mag an dem verehrten Vorbild erkennen: »Ein Funken Witz, und aus dürren Worten schlagen weithinleuchtend die Flammen«;167 das religiöse Feuer, das ihn beseelen mag (»Inbrunst ist die Erfüllung des Gebetes«168), kann sprachlich jedenfalls nichts entfachen. Wieweit Kraus für den gesamten Brenner-Kieis und insbesondere auch für Dallago »Vorbild und Beispiel«169 ist, bedarf nach Stiegs differenzierter Studie keines Nachweises. Ab 1910 rezipiert ihn Dallago, sogleich mit Bewunderung. Er lernt ihn persönlich kennen; Kraus schickt ihm ein Exemplar von Pro domo et mundo, Dallago verfaßt einen Essay Karl Kraus, der Mensch,™ den Kraus wiederum in der Fackel breit zitiert: Er [Kraus] erinnert an N i e t z s c h e und ist doch völlig anders; er hat mehr Lokalfarbe, ist gedrängter und landschaftsloser. Er ist ein Reinemacher - ein Säuberer großen Stils [,] ist es auch stilistisch. So geschliffen und klar, so knapp und gedrängt zur Tiefe wurde das Deutsche noch nie geschrieben - so sonder Prunk selbst im Pathos. Es mag ihn zum Meister des Aphorismus von Natur aus ungemein geeignet machen, mehr als Nietzsche, der zu seinem Sichdartun ersichtlich mehr Raum - zu seiner Tiefe doch mehr Oberfläche benötigt. [...] Der Aphorismus ist am unansehnlichsten an der Oberfläche, er fließt glatt 162
Hatvani: Salto mortale. 1913. »Lichtenberg«: S. 48-52. Hier S. 50. Ebd., S. 51. 164 Wilhelm Haefs: »Der Expressionismus ist tot...Es lebe der Expressionismus.« In: Klaus Amann / Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 464; vgl. ebd., S. 476f. 165 Ebd., S. 469. 166 Alois Essigmann: Gott, Mensch und Menschheit, S. 26. 167 Ebd., S. 36. 168 Ebd., S. 9. 169 Gerald Stieg: Karl Kraus und Carl Dallago. In: G. St.: Der Brenner und die Fackel, S. 93-152. HierS. 142 170 Carl Dallago: Karl Kraus, der Mensch. In: Der Brenner 2 (1911/12), S. 871-894.
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und in engem Bette. Der oberflächliche Beschauer hält ihn für ein Wässerlein; er versteht ihn nicht, das erstemal nicht, später nicht, niemals, bevor er nicht selber in derartige Flut getaucht ist und ihre Tiefe an sich erfahren hat. 171
Gerade im Vergleich zu Nietzsche, der in der Gattung »als der Erste unter Deutschen Meister«172 zu sein beanspruchte, von Dallago zum neuen »Meister des Aphorismus« erklärt zu werden, übernimmt der Gepriesene mit wohlgefälliger Zustimmung. Darüber mag hingehen, daß sich der Essayist selbst ihm zur Seite stellt. Mit deutlichem Selbstbezug, wenn auch metaphorisch verspielt läßt Dallago durchblicken, daß er als idealer Rezipient »selber in derartige Flut getaucht ist und ihre Tiefe an sich erfahren hat.« Zu Recht hebt Stieg darauf ab, daß Dallago Kraus hier »als Spiegel seiner selbst sieht«.173 In den »Kleinen Sämereien« heißt es: »Was mich betrifft, so möchte ich lieber den Wenigen der Fackel [...] zugezählt werden als den Vielen dieser Lyrik aus Österreich«.174 Es ist aufschlußreich, daß in der Konsequenz seines künstlerischen Credos »Ein großer Künstler aber muß ein großer Mensch sein«175 wiederum Nietzsche und Kraus, wiederum mit einem Prä für den letzteren, in einem Atemzug genannt werden, so in der Interpretation des ironisch-distanzierenden »Herr«: »Nietzsche hat d i e s e s >Herr< wohl zuerst angewendet; Karl Kraus hat den Begriff verdeutlicht und zur Geltung gebracht«.176 Was die Form der Aphorismen Dallagos betrifft - und hier erst sind wir im aufschlußreichen Kerngebiet der Einflußuntersuchung - , so würde man allerdings fehlgehen, nach der Vorstellung konkurrierender Modelle hier nun etwa eine Kreuzung aus beiden Grundtypen suchen zu wollen. (Für Kraus ist das schon von der Chronologie her nicht möglich.) Wie er sich von dem Satiriker Kraus absetzt, so ist er in seinen Stilmitteln auch weit von dessen Aphoristik entfernt. (Im Verhältnis zur Sprache sieht schließlich auch Stieg jenseits aller Parallelen die eindringlichste »Divergenz«.177) Und auch von der prophetischen Selbstüberzeugtheit Nietzsches und ihren stilistischen Konsequenzen heben sich Dallagos »Unsicherheiten« ab, ein jeweils neu einsetzendes, reflektierendes Umkreisen von gedanklichen Komplexen ohne stilistischen Glanz. Eine wirklich substantielle literarische Beziehung ist hingegen - paradoxerweise, vielleicht - dort auszumachen, wo wir die Sphäre ausdrücklicher, im Aphorismus bekundeter Verehrung verlassen. Die Aphorismen des Wieners Alfred Grünewald lassen in Thematik, Haltung und Stil Parallelen erkennen, die den Schluß auf eine Beeinflussung durch Kraus nahelegen, auch wenn die Zusammenhänge zum einen weiter entfaltet werden müßten, zum andern aber nicht über den Unter171 172
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Ebd., S. 892. Zit. in: Die Fackel Nr. 351/352/353 v. 21. 6. 1912, S. 25f. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 6, S. 153 (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen Nr. 51). Gerald Stieg: Karl Kraus und Carl Dallago. In: G. St.: Der Brenner und die Fackel, S. 93-152. Hier S. 144. Carl Dallago: Kleine Sämereien. In: Der Brenner 2 (1911/12), S. 815. Ebd., S. 632. Ebd. Gerald Stieg: Karl Kraus und Carl Dallago. In: G. St.: Der Brenner und die Fackel, S. 150.
schied zwischen dem solipsistischen Lyriker und dem Gesellschafts- und Moralkritiker hinwegtäuschen können. Kraus hat 1907 eine Ballade Grünewalds, Hans Zwiesel, in Die Fackel aufgenommen;178 1916 druckt er die wenig schmeichelhafte Rezension einer Lesung Grünewalds mit dem Kommentar »Krieg ist Krieg«179 ab. Der Ausgangspunkt von beider Gedankenkunst ist die Untrennbarkeit von Wort und Gedanke, wie sie Grünewald in seinem Erlebnis des Gedankens,180 wie sie die Gedanken-Aphorismen Kraus' in Pro domo et mundo181 mehrfach formulieren: Grünewald: Gedanken in Worte kleiden? - Ich glaube, die echten kommen bereits angekleidet auf die Welt. (S. 16) Kraus: Die Form ist der Gedanke [...]. (S. 115) Weil ich den Gedanken beim Wort nehme, kommt er. (S. 236) Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens. (S. 235)
Wer die Aphorismen in den Abteilungen Antithesis des Künstlers182 bei Grünewald und Vom Künstler183 bei Kraus nebeneinander liest, erkennt schnell, daß im Mittelpunkt ihrer ästhetischen Reflexionen die Verehrung dieses GedankenWortes steht: Kraus: Effekt, sagt Wagner, ist Wirkung ohne Ursache. Kunst ist Ursache ohne Wirkung. (S. 239) Grünewald: Ungeschehenes geschehen machen - das Werk des Dichters. (S. 10)
Damit einher geht auf der einen Seite, daß sein genuiner Träger nicht nur höchste Schätzung erfährt, sondern auch ethischen Anforderungen unterworfen wird: Kraus: Der Künstler lasse sich nie durch Eitelkeit zur Selbstzufriedenheit hinreißen. (S. 231). Grünewald: Der Künstler, der hin und wieder sich selbst übertrifft, hüte sich vor Übermut. Es kommt vor allem darauf an, daß er sich erreicht. (S. 11)
Daraus erklärt sich auf der anderen Seite der unversöhnliche Kampf gegen die - im ästhetisch-moralischen Sinne - falschen Wort-Verwender, die »Poetaster«184 (Grünewald) oder die »Journalisten, Ästheten, Politiker, Psychologen, Dummköpfe und Gelehrten«185 (Kraus): 178
Alfred Grünewald: Hans Zwiesel. In: Die Fackel Nr. 239-40 v. 31. 12. 1907, S. 25-28. Der Nachlaß ist unergiebig; Auskunft der Wiener Stadt- und Landesbibliothek v. 20. 3. 1997. 179 Die Fackel Nr. 4 2 3 ^ 2 5 v. 5. 5.1916, S. 25. 180 Grünewald: Ergebnisse, S. 9-12. 181 Kraus: Schriften, S. 235-238. 182 Grünewald: Ergebnisse, S. 16-17. 183 Kraus: Schriften, S. 231-256. 184 Grünewald: Ergebnisse, S. 78-82. 185 Kraus: Schriften, S. 211-230.
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Kraus: Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können - das macht den Journalisten. (S. 212) Grünewald: Manch simpler Kopf hat es heutzutage schwer, sich unverständlich zu machen. (S. 80) Die Wertschätzung gilt für das Schreiben wie für das Reden: Kraus: Wenn ein Schwätzer einen Tag lang keinen Hörer hat, wird er heiser. (S. 359) Grünewald: Sein Schweigen überschwieg die Schreier. (S. 52) 186 In der daraus resultierenden Haltung eines mit abgrenzender Bosheit verbundenen geistigen Aristokratismus steht Grünewald Kraus um nichts nach: Grünewald: Es gibt einen Typus von glücklichen Besuchern, die niemals wissen, wie unwillkommen sie sind. (S. 34) Kraus: Ich möchte mein Dasein von ihrem Dabeisein sondern. (S. 268) Den Vorwurf elitärer Arroganz versteht Grunewald so gut wie Kraus als Vorzug: Grünewald: Als ich einmal in einer Gesellschaft einen Menschen keines Blickes würdigte, sagte er sonderbarerweise, ich täte so, als ob ich ihn nicht kennen würde. (S. 63) Kraus: Das ist doch der, der geglaubt hat, daß ich vergessen habe, daß ich ihn nicht kenne. (S. 207) Wendet man bei der Beobachtung dieser Absonderung seine Aufmerksamkeit vom Inhaltlichen auf die stilistische Umsetzung, so wird deutlich, was Grünewald bei Kraus gelernt hat: Grünewald: Ich kenne ein paar Menschen, die mir auf der Straße immer mit Gesichtern entgegenkommen, in denen sich das ganze Entzücken spiegelt, das sie bei mir als Folge ihres Erscheinens voraussetzen. (S. 74) Kraus: Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft! Oft ist einer so entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten, und ich muß, um ihm entgegenzukommen, mir eine Zigarette aus der Tasche holen. (S. 193) Grünewald: Mit allen Dingen zu zweit sein können, das ist das Glück der Einsamkeit. (S. 23) Kraus: Die Einsamkeit wäre ein idealer Zustand, wenn man sich die Menschen aussuchen könnte, die man meidet. (S. 68) Es ist vor allem die Figur der überraschenden (paradoxen) Umkehrung, die die Nähe beider Aphoristiker bezeugt:
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»Über Reden und Schweigen«, S. 50-52.
Kraus: Nicht grüßen genügt nicht. Man grüßt auch Leute nicht, die man nicht kennt. (S. 193) Grünewald: Wir sind doch unter uns, sage ich nicht einmal zu mir selber. (S. 35) Bei Kraus ist das unversehens eingeschobene »nicht«, das eine die Denkbewegung schlagartig öffnende Paradoxie formuliert, fast schon Manier: »Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen«. 187 Als witzloses Bekenntnis bleibt davon bei Grünewald hier die äußere Form übrig: »Ich bin bis zum Exzeß - nicht neugierig«.188 Diese Umkehrung zeigt sich in der Form der Übertragung von einer Person auf die andere: Grünewald: Neulich traf ich einen Menschen, der sich so verändert hatte, daß ich mich nicht wiedererkannte. (S. 54) Man kann es einem Menschen schwer vergessen, wenn man sich um seinetwillen in schlechter Erinnerung hat. (S. 54) Schutz vor Enttäuschungen: Ich nehme die Leute, wie ich bin. (S. 64) Kraus: Viele, die in meiner Entwicklung zurückgeblieben sind, können verständlicher aussprechen, was ich mir denke. (S. 285) Ich mische mich nicht gern in meine Privatangelegenheiten. (S. 293) Sie gestaltet sich als Umwendung von Redensarten und Sprichwörtern: Grünewald: Manche Gesichter werden im Zorn bis zur Kenntlichkeit entstellt. (S. 57) Wenn man mir die ganze Hand gibt, will ich gleich den kleinen Finger. (S. 32) Kraus: Wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein. (S. 57) Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt. (S. 95) Beider ästhetische Reflexion bedient sich dieses Mittels: Grünewald: Vom Lichte des Genies geblendet, öffnen wir die Augen. (S. 25) Kraus: Die wahren Wahrheiten sind die, welche man erfinden kann. (S. 298) Porträts gewinnen daraus ihre Schärfe: Grünewald: Ich kannte einen Schlau-Bescheidenen. Als sein Licht schon lange ausgebrannt war, stellte er es ostentativ unter den Scheffel. (S. 69) Kraus: Seine Überzeugung ging ihm über alles, sogar über das Leben. Doch er war opfermutig, und als es dazu kam, gab er gern seine Überzeugung für sein Leben hin. (S. 156) Die aphoristische Karikatur bezieht ihr Schlaglicht aus dieser Umkehrung vertrauter Vorstellungen oder Konstellationen:
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Kraus: Schriften, S. 119. Grünewald: Ergebnisse, S. 32. 31
Grünewald: Leerheit verdrängt Fülle. Lade dir keinen ins Haus, der deine Zimmer verödet. (S. 39) Die fixe Idee des Genies ist höchst mobil. (S. 26) Kraus: Welch sonderbarer Aufzug! Sie geht hinter ihm, wie eine Leiche hinter einem Leidtragenden. (S. 153) Er läßt sich seinen Ärger beim Essen durch keinen Appetit verderben. (S. 155)
Wenn Hiller 1969 Grünewald als den »hinter Karl Kraus stärksten Aphoristiker«189 bezeichnet und sein Herausgeber ihm darin folgt (indem er selbstverständlich die Liste um Hiller selbst erweitert190), dann dürfen wir als den richtigen Kern dieser Wertung das Verständnis für die ungewöhnliche und in der expressionistischen Aphoristik exzeptionelle Nähe Grünewalds zu Kraus entnehmen. Die Aphoristik der Jahrhundertwende, das neben Nietzsche und Kraus dritte Element, ist weniger unter Einflußgesichtspunkten zu sehen denn im Sinne der eingangs dargestellten Abgrenzungsprobleme als Weiterführung von älteren und dazu häufig trivialen literarischen Erscheinungen, die zu einem Bild des spezifisch expressionistischen Aphorismus nichts beitragen können. Von den verschiedenen Ausprägungen, die sich um 1900 beobachten lassen, sind die für humoristisch gehaltenen Gedankensplitter in der Art Peter Sirius' und die Herzensaphoristik einer ängstlich-defensiven Innerlichkeit, wie sie etwa Otto von Leixner vertritt, spätestens mit dem Ersten Weltkrieg literarisch überholt und finden so gut wie keinen Nachhall. Essigmanns treuherziger Glaube an die Tragfähigkeit seiner Aphoristik (»Keine Brücke trägt so viele Menschen als ein guter Spruch!«191) versteht sich zum Teil von daher, und Hans Davidsohn wortspielt noch »im Felde« mit wenig Ausgefallenen Einfällen.192 Hermann Bagusches Sonnenstiche193 fugen sich mit ihrem Titel den vielen satirisch-aggressiv gemeinten Splittern und Pfeilen und Stacheln an. Mit ihren blassen Kontrastierungen (»Je dunkler die Vergangenheit, desto sauberer die Leibwäsche«) und ihrem faden Kasinowortwitz, der aus immer denselben Träumen (»Am anziehendsten ist die Frau, wenn sie sich auszieht«) und Alpträumen (»Die Ehe ist ein Asyl für Lebensmüde«) lebt, verirren sie sich 1911 noch in den ersten Jahrgang des Saturn. Vornehmlich trivial-aphoristisch ist auch Otto Hinnerk (1870-1941) im 2. Jahrgang in seiner Antithetik orientiert: »Es gibt ein Jungbleiben, das so schlimm ist wie Altwerden«.194 »Dem guten Neuen wie Altem geöffnet«: 195 gerade in ihrem zweiten Aspekt finden wir Schlawes Erläuterung einer Zeitschrift zutreffend, die auch für das ungemein allgemein Menschliche der »Aphorismen« Karl Willy Straubs noch ein Plätzchen findet: »Es gibt nur
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Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. Band 1, S. 221. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. Band 2, S. 184. Alois Essigmann: Gott, Mensch und Menschheit, S. 26. Hans Davidsohn: Ausgefallene Einfälle im Felde. In: Die Aktion 8 (1918), Sp. 359-360. Hermann Bagusche: Sonnenstiche. In: Saturn 1 (1911), S. 4. Otto Hinnerk: Vom Wege. In: Saturn 2 (1912), S. 174. Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften 1910-1933. (Sammlung Metzler 24) Stuttgart: Metzler 1962, S. 26.
eine einzige Freiheit: die Emanzipation von menschlichen Vorurteilen«.196 In Der Einzige begegnen wir 13 Reflexionen Alfred Friedmanns, die thematisch wie formal exakt in dem Umkreis bleiben, wie ihn Otto Weiß' Aphorismen nach der Jahrhundertwende abgesteckt haben (Friedmann: »Es gibt Witwen, deren Männer leben«;197 Weiß: »Es gibt eine ganze Menge glücklicher Frauen, die getröstet sein wollen«;198 Friedmann: »Die Ehe ist eine Revanche«; Weiß: »Gestatten Sie mir die indiskrete Frage: >Seit wann sind Sie verheiratet? Und seit wann möchten Sie wieder ledig sein?«mystischDaß Du Mystiker und Rationalist in einem bist, jedes an seinem Platze und immer beides, das ist noch das mindeste, die Verbindung dieser beiden, das ich von Dir verlangegerettet< werden. So strebt denn bei Robert Schumann - Musik und bildende Kunst werden terminologisch großzügig einbezogen - »doch andererseits seine grunddeutsche Art gleich der Nietzsches immer wieder aus dem Aphorismus in das Phantastische und Monumentale«.7 Die Gattung und so etwas wie ein Volkscharakter oder ein nationales »Wesen« werden als fest verknüpft gedacht und mit starker Auf- und Abwertung verbunden: »Man wird nicht fehlgehen, wenn man die völlige Alleinherrschaft der kleinen feinen Form bei Chopin und Heine als etwas Undeutsches bezeichnet, undeutsch wenigstens im Gegensatz zur deutsch-aphoristischen Art Nietzsches und Schumanns«.8 Nicht nur das Denken in Stämmen und Landschaften weist dabei voraus: »Vielleicht ist es kein Zufall, daß Nietzsche sowohl wie Novalis in Obersachsen wurzeln«.9 Der Hinweis auf Heine läßt es erwarten: Auch das Antisemitische kommt unüberhörbar hinzu: »Dem scharf antithetischen Lapidarstil der Bibel kommen bezeichnenderweise am nächsten die Juden Heine und Börne und, in der knappen Klarheit wenigstens, auch die Aphorismen des Juden Rèe«,10 wie überhaupt »die jüdische Rasse den günstigen Boden für den biblischen Aphorismus«11 bilde. Eckertz lohnte diese ausführliche Betrachtung nicht, wenn sein Ansatz zu einer gattungsnationalistischen Betrachtungsweise schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht den frühen Ausgangspunkt darstellte für ein Interpretationsmuster, das im nationalkonservativen Umfeld angelegt ist, erst recht nach Versailles sprießt und in Praxis und Theorie des Aphorismus im Dritten Reich hineinführt. 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
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Ebd., Teil I, S. 381. Ebd. Ebd. Ebd., Teil II, S. 391. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Teil I, S. 381. Ebd.
Wenn der katholische Kritiker Johannes Mumbauer 1922 Aphorismen-Bücher bespricht, dann will er »von vornherein über einen grundlegenden Unterschied der deutschen von der französischen Aphorismen-Literatur«12 Klarheit. Nach allgemeinen kulturhistorischen Erwägungen und nicht ohne Selbstzweifel äußert er, wieder mit Bezug auf Nietzsche, die Hoffnung: »Wenn jene der Romanen einen Abschluß, also einen Abend bedeuten, so ist es vielleicht nicht zu optimistisch, unsere als einen Anstieg, eine Morgenröte zu bezeichnen.« Man könnte, um diese »Morgenröte« zu dokumentieren, Karl Kraus {Nachts, 1919), Rudolf Leonhard {Alles und nichts!, 1920), Franz Marc {Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen, 1920), Emanuel Wertheimer {Buch der Weisheit, zweite Auflage und neue Folge 1920), Alfred Grünewald {Ergebnisse, 1921) oder Friedrich Kayßler {Besinnungen, 1921) kritisch zur Kenntnis nehmen. Wo Mumbauer einige der »unseren« bespricht, für die die »gärende Art des Genres« bezeichnend sei, da stehen hingegen aus ideologischen Erwägungen Gustav Frenssen {Grübeleien, 1920) und Emanuele Meyer {Vom Amboß meiner Seele, 1921) an der Spitze. Aber es ist eben nicht nur die christlich-katholische Perspektive, die hier den Blick vorgibt. Die zwanzig Jahre alten »Grübeleien« Frenssens, des erfolgreichsten Vertreters von Heimatkunst und Kolonialbelletristik vor dem Ersten Weltkrieg, sind »vor allem ehrlich, so daß man ihnen seine Teilnahme nicht versagen kann - sie funkeln nicht so kalt wie die abstrakten Aperçus der Franzosen«.13 Was sie also empfiehlt, ist der rechte Stand»punkt«: »Sein fester Punkt ist die Verhaftung in das Naturmäßige und das Volkstümliche«.14 Mumbauer schließt mit der Frage: »Warum wohl aus so wenigen deutschen Menschen solche Funken herausfliegen? Haben wir deshalb so wenige deutsche Aphoristiker?«15 Frenssen läßt seinen »Grübeleien« noch bis 1937 Fortsetzungen folgen,16 die in den Nationalsozialismus hineinfuhren. Aphorismen von der Art: »Poesie ist gehobene und geordnete Wirklichkeit«17 oder: »Wenn der Mann zum Weibe geht, will er in einen Garten gehn und nicht zu einem Bücherbort«18 sind es nur ausnahmsweise. Es sind meist kleine Begebenheiten aus seiner seelsorgerischen Tätigkeit und kurze Erörterungen vom Standpunkt eines christlichen Sozialismus und Biologismus aus. 1937 verteidigt er sich gegen den »Vorwurf, daß ich der neuen Bewegung nicht schon früher geglaubt habe«.19 Er habe vierzig Jahre lang »als Phantasien und unerfüllbare Wünsche, biologische, rassische und nationalsoziale Gedanken und Forderungen ausgesprochen«.20 »Ich höre 12 13 14 15 16
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Mumbauer: Aphorismen-Bücher. In: Literarischer Handweiser 58, (1922), Sp. 57. Ebd., Sp. 59. Ebd.,Sp. 60. Ebd.,Sp. 64. Möwen und Mäuse. Grübeleien. Neue Folge (1928) und Vorland. Der Grübeleien dritter Band (1937); ein vierter Band ist unveröffentlicht. Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Frenssens Werk und die deutsche Literatur der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. In: Kay Dohnke / Dietrich Stein (Hg.): Gustav Frenssen in seinerzeit, S. 152-181. Hier S. 163. Gustav Frenssen: Möwen und Mäuse, S. 19. Ebd., S. 273. Gustav Frenssen: Vorland, S. 206. Ebd., S. 207.
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und sehe nur, daß noch in meiner Lebenszeit jenes ferngesehene Wunder Wirklichkeit wird«.21 Im protestantischen »Eckart« ist der »Zeitgeist« 1929 dann schon weitaus deutlicher:22 »Nein: Dich hören wir mauscheln; natürlich, das ist's. Jesus Sirach Kerrü Asphaltierte, vom Bazillus der Großstadt in prickelnde Gärung versetzte, jüdische Kaustik, das sind Kerr-Aphorismen«.23 Die »österreichischen Biologisten« Altenberg, Kerr, Polgar stellt Maurer hier, deutsch-national wie Mumbauer, niemand anderem als immer noch Frenssen zuallererst gegenüber. (Friedeil behandelt er als positiv beurteilte Ausnahme; Hillers Der Aufbruch zum Paradies, 1922, und Schnitzlers Buch der Sprüche und Bedenken, 1927, läßt er sich entgehen.) »Dem Vielgewandten und Vielgefältelten setzen wir den Einfachen entgegen«;24 neben und vor den als mystisch-anthroposophisch charakterisierten Schriftstellern Christian Morgenstern, Friedrich Kayßler und Wilhelm von Scholz gilt Frenssen als einer der »Zeitgenossen, bei denen n i c h t amerikanisierender Zeitmangel, Kinohaftigkeit, Entinnerlichung zum Stil aphoristischer Abgerissenheit gefuhrt hat, sondern die als Windharfen nur im Hauche des Geistes tönen«.25 Wo Frenssen in seinen schlichten Tagebuchaufzeichnungen aus dem täglichen (Gemeinde-)Leben bekennt: »Ich hole mir meinen religiösen und politischen Glauben nicht aus Zeitungen, Büchern oder Kirchen, sondern aus meinem Blut«,26 da akzentuiert sein Kritiker gerade »dies einfache, schlichte, unbemäntelte Ausgehen vom Volksmäßig-Bodenständigen, Natürlichen, Bluthaften«.27 Maurer vollzieht eine strikte Zweiteilung in Dazugehöriges: Volksmäßig-Bodenständiges und Auszugrenzendes: Jüdisch-Großstädtisch-Amerikanisches. Bei ihm bleibt sie noch gerade im Bereich literaturkritischer Polemik, wenige Jahre später wird sie physisch vollzogen werden: Kerr und Polgar emigieren, Friedeil nimmt sich 1938 beim Einmarsch der deutschen Truppen in Wien das Leben. Frenssen wird 1933 Mitglied der nationalgereinigten Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, erhält im Dritten Reich dafür, daß er Den Weg unseres Volkes (1938) literarisch unterstützt, hohe Ehrungen und kämpft noch im Alter mit der Feder gegen England (Recht [oder Unrecht] - mein Land, 1940). Die gattungsnationalistische Betrachtungsweise ist keineswegs auf vereinzelte Stimmen der Tageskritik wie Mumbauer oder Maurer beschränkt. Rudolf Alexander Schröder etwa, der 1914 den Deutschen Schwur getan hat: Heilig Vaterland In Gefahren, Deine Söhne stehn,
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Ebd. Otto Maurer: Kleinform und Zeitgeist. Bemerkungen zu einigen neueren Aphoristikern. In: Eckart 4 (1929), S. 200-215. Ebd., S. 209. Ebd. Ebd., S. 215. Gustav Frenssen: Grübeleien, S. 90. Maurer: Kleinform und Zeitgeist, S. 210.
Dich zu wahren. [...] Sieh uns all entbrannt, Sohn bei Söhnen stehn: Du sollst bleiben, Land! Wir vergehn, 28
bestellt dieses ideologisch-sprachpolitische Feld, wenn ihm 1929 im Nachwort zu Hofmannsthals Buch der Freunde mit einer impliziten Spitze gegen die Franzosen der sehr bewußte »Verzicht auf alles Zugespitzte, alles bloß Erstaunliche« »als ganz besonders deutsch« erscheint: »Diese Enthaltsamkeit, dieses Verschweigen, dieser sehr bewußte Verzicht auf alles Zugespitzte, alles bloß Erstaunliche will mir an unserm Büchlein in einem weiteren Sinne als ganz besonders deutsch, in einem engeren Sinne als ganz besonders hofmannsthalisch erscheinen«.29 Die Feindschaft gegen Frankreich ist »ein Grundelement des Glaubensbekenntnisses der Rechten« 30 in Weimar, und ihre Auswirkungen lassen sich bis in die Literaturwissenschaft hinein beobachten. Wenn Alice Rühle-Gerstel, eine Jugendfreundin Werfeis, 1922 Friedrich Schlegel und Chamfort31 vergleicht, dann tut sie das ebenfalls in den Kategorien von Nation, Natur und Blut: Was Schlegel außerhalb seiner Nation stellt, die absolute Unsentimentalität, die Zugespitztheit und Schärfe, und was ihm ebenso eine Last ist wie eine Gnade, eben weil es ihn hinaus und in Gegensatz stellt - das ist bei Chamfort Natur, Erbteil seiner Väter; bei ihm hat sich die Intellektualität in Blut verwandelt, wie bei Schlegel das Blut in Intellektualität. 32
Alle Klischees, »das Irrationale der deutschen Seele, alles Weiche, Fließende, niemals in einer Form völlig Gebannte«33 einerseits, andererseits »die innere Geformtheit, die er mit seiner Nation gemein hat«,34 werden zu einem Bild »ewiger wie zeitlicher Gegensätze«35 versammelt, in dem der Glaube an die westlichfranzösischer Zugespitztheit, Schärfe und Intellektualität überlegene »weiche« deutsche Seele durchscheint. Noch etwas anderes mag den konservativen Literarhistoriker der Weimarer Republik verschrecken und zu einer fast notwendig reservierten Einstellung gegenüber dem Aphorismus führen. Frankreich, das bedeutet auch das Land der Revolution, und wo man dem Aphorismus Revolutionäres attestiert, da ist das zwar wie stets von Nietzsche und seiner »Umwertung« her gedacht, aber mit Wertungen, die auch Abstand und Vorsicht signalisieren. BrUggemanns Wörterbuch-Artikel von 28
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Rudolf Alexander Schröder: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 1. Frankfurt: Suhrkamp 1952, S. 489f. Hofinannsthal: Buch der Freunde, S. 117. Walter L. Laqueur: Weimar. Die Kultur der Republik. Frankfurt u. a.: Ullstein 1977, S. 131. Alice Rühle-Gerstel: Friedrich Schlegel und Chamfort. In: Euphorion 24 (1922), S. 809860. Ebd., S. 814. Ebd., S. 817. Ebd., S. 818. Ebd.
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1930, der Schrötter36 verkürzt und in dieser Hinsicht verschärft, ist mit unüberhörbarer Reserve gegenüber dem bloß »Mutwilligen«, unberechenbar Temperamentvollen des Aphorismus versehen: »Er trägt das Kennzeichen revolutionären Geistes an sich, sofern er eine mutwillige Umwertung bisher unbezweifelter Werte wagt. Stets ist er damit mehr Zeugnis des Temperamentes der den Gedanken fassenden geistreichen Individualität, als daß er neue Erkenntnisse um ihrer selbst willen aussprechen will«.37 Nicht ohne Reiz ist es, zu sehen, welche Haltung der frühe Ernst Bertram, einer der Hauptvertreter des Spruches im Nationalsozialismus, hier einnimmt. In seinem Buch über Nietzsche (1918), das durch den Freund Ernst Glöckner ganz an Stefan George ausgerichtet ist und »bis in die Details hinein ein georgesches NietzscheBild«38 skizziert, und in seinem Lichtenberg-Vortrag (1919) läßt er genügend interessante Einblicke zu. Für Nietzsche geht Bertram mit einem entsprechenden Zitat von der Anekdote aus. Er ordnet den Aphorismus Nietzsches dem Anekdotischen als dem gültigen Prinzip unter, ohne das Verhältnis beider je zu reflektieren. Er spricht vielmehr von Nietzsches »romantisch-anekdotischer, seiner mosaizierenden Gedankennatur«39 und dem »in Zarathustras anekdotischer Bilderrede gipfelnden Aphorismus«.40 Bertram setzt damit einfach beides gleich,41 unterscheidet auch nicht zwischen der Dichtung Zarathustra und den Aphorismenbüchem und findet auf diese Weise überhaupt nicht zu einem gesicherten Formbegriff. Stattdessen geht er schnell, mit mächtiger Rhetorik, aber geringem Erkenntnisgehalt auf »Urformen« und »Urcharaktere« aus: »Sein Aphorismus, seine psychologische Anekdote erweist sich als eine musikalische Urform« 42 »Seinen Aphorismus als Notform und Notbehelf des Kranken und ahasverisch Wandernden auffassen konnte nur völliges Mißkennen seines geistigen Grundrisses. Vielmehr ist er eine seelische Urform« 43 Da für Bertram aber der »anekdotische Urcharakter alles Romantizismus«44 unbestreitbare Voraussetzung ist - vom romantischen Fragment und dem möglichen Verhältnis Nietzsches dazu ist keine Rede - , kann er dessen Aphorismus auf diese Weise von fremder Herkunft im wesentlichen fernhalten: »Seine sozusagen väterliche Herkunft aus dem Aphorismus der französischen Skepsis ist wesentlich nur formbestimmend; entschei36
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K. Schrötter: Aphorismus. In: Paul Merker / Wolfgang Stammler (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin: de Gruyter 1925-26, Sp. 81-85. Fritz Brüggemann: Aphorismus. In: Walther Hofstätter / Ulrich Peters (Hg.): Sachwörterbuch der Deutschkunde. Leipzig, Berlin: Teubner 1930, S. 56. Heinz Raschel: Ernst Bertrams »Nietzsche. Versuch einer Mythologie«. In: H. R.: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis, S. 134. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 234. Ebd., S. 235. Gerade das hatte Friedrich Gundolf in seiner kapitelweisen Detailkritik oder Zensur moniert: »Im Abschnitt >Anekdote< miisste >Anekdote< erst definiert werden - es verwirrt sich unter der Hand mit >AphorismusuntergeordnetEindeutschung< des ungeliebten Aphorismus, da er denn für Nietzsche schlechthin nicht vernachlässigt werden kann. Ganz ähnlich geht Bertram bei Lichtenberg vor. Wie der Aphorismus bei Nietzsche der Anekdote, so wird er, von dem in umgangssprachlich-unreflektierter Weise die Rede ist, hier der Satire (mit Rabener als vermeintlichem Vorgänger!) und dem Humor subsumiert; auch hier wird er kein Eigenes. Deutlicher erkennbar bestimmt eine nationalistische Ideologie die Perspektive, etwa bei Klischees wie der »französisch bösartigen Neugier«46 oder beim »echt französischen Mißtrauen«,47 die sich gelegentlich bei Lichtenberg finden ließen. Zur Verwirklichung seines humoristischen Stilideals können nicht die französischen Aphoristiker, sondern natürlich nur die Engländer (Swift) beitragen. Im weiteren sucht Bertram unter der Prämisse »Sein Verhältnis zum Deutschtum aber ist das denkbar deutscheste«48 nach der »deutschen Besonderheit Lichtenbergs«49 und der »Deutschheit«50 seiner Stilelemente.
3.2. Die nationalsozialistische Literaturwissenschaft und der Aphorismus Kann man das Verhältnis >der< Literaturwissenschaft des Nationalsozialismus zum Aphorismus bestimmen? An Bertrams Nietzsche-Buch von 1918 läßt sich da zunächst das Werk des Nietzsche-Herausgebers Alfred Baeumler unmittelbar anschließen, der im Sommersemester 1933 einen Lehrstuhl für Politische Pädagogik an der Berliner Universität übernimmt, als Mitarbeiter Alfred Rosenbergs Leiter des Amtes Wissenschaft des Beauftragten des Führers für die geistige Schulung und Erziehung der NSDAP ist und mit diesen Funktionen eine der wissenschaftspolitischen Führungspositionen im Dritten Reich besetzt. Aber weder in Nietzsche der Philosoph und Politiker,51 wo »Aphorismus« nur gelegentlich zur Stellenbezeichnung dient, noch in den Nietzsche-Aufsätzen seiner Studien zur deutschen Geistesgeschichte52 ist vom Aphoristiker Nietzsche die Rede. Unter seinen verschiedenen Nachworten53 ist allein das zur Morgenröte ergiebig, in dem Baeumler 45 46 47 48 49 50 51
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Ebd., S. 228. Ernst Bertram: Georg Christoph Lichtenberg. Adalbert Stifter. Zwei Vorträge, S. 20. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 34. Ebd. Alfred Baeumler: Nietzsche der Philosoph und Politiker. 3. Aufl. Leipzig: Reclam o. J. (1. Auflage 1931). Alfred Baeumler: Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Berlin: Juncker und Dünnhaupt 1937. Z. B. zu: Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, S. 333-341.
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über den Grund des aphoristischen Stils bei Nietzsche reflektiert. Nicht von den Franzosen habe er ihn übernommen, nicht ein äußerliches Motiv wie die beginnende Augenschwäche sei bestimmend gewesen. Nicht eine einzige der zahlreichen Gattungsreflexionen zur Sentenz zieht Baeumler als Beleg heran, geschweige denn die Vorrede zur Genealogie der Moral oder den Aphorismus Nr. 51 der Götzendämmerung, die die spätere Summe von Nietzsches Gattungsreflexion darstellen.54 Er bezieht sich allein auf den Aphorismus Nr. 203 von Menschliches, Allzumenschliches, in dem Nietzsche über lateinischen und deutschen Stil spricht. So löst Baeumler ihn, der sich »>notgedrungen< zu den älteren Franzosen in die Schule«55 schicke, aus der Tradition der französischen Moralisten und muß gleichzeitig über einen deutschen Aphorismus kein Wort verlieren. Den »tiefen und versteckten Ursprung«56 für die aphoristische Form findet er positiv vielmehr darin, daß sie ein »leiseres Ausdrucksmittel« sei und der Vereinsamung des Philosophen entspreche. Damit ist der Aphorismus für den deutschen Stil Nietzsches gerettet.57 Das Muster der Vernachlässigung und >deutschen< Umwidmung, das wir an Baeumler ablesen können, läßt sich in den Literaturgeschichten verfolgen und tatsächlich zu so etwas wie einem >Verhältnis< ausweiten. Und mit dem Muster zieht sich für den späteren Interpreten auch die Crux durch, Schlüsse ex silentio ziehen zu müssen. Den Bogen von den antisemitisch-gattungsnationalistischen Tendenzen bei Eckertz zur nationalsozialistischen Literaturgeschichtsschreibung schlägt man mit Adolf Bartels am besten, der die Werte von Blut und Boden, Volk und Rasse schon in der Heimatkunst der Jahrhundertwende fanatisch vertritt und mit einem militanten Antisemitismus verbindet. Nietzsche ist ihm in seiner Literaturgeschichte von 1928 Dichter, Ebner-Eschenbach Erzählerin. Bei ihm steht der Zarathustra im Mittelpunkt, von Sprüchen58 oder Aphorismen59 ist nur nebenher die Rede; zu ihren Aphorismen weiß Bartels auf sechs Seiten nur: »wiederum prägt sie scharfe Aphorismen«. 60 »Karl Kraus, Jude« findet 1921 knappe Erwähnung, ohne daß die drei Aphorismenbände auch nur genannt würden.61 Nicht anders verfahrt Josef Nadler in seiner großen, vierbändigen Literaturgeschichte mit dem »böhmischen Juden Karl Kraus«,62 nicht anders auch zu Nietz-
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Vgl. Verf.: Der Aphorismus. 1997, S. 200-202. Alfred Baeumler: Nachwort zu: Friedrich Nietzsche: Morgenröte, S. 330 (Erstauflage 1930). Ebd. Eine geistesgeschichtliche Einordnung Baeumlers von Nietzsche her und in Abgrenzung zu Thomas Mann nimmt Erwin Rotermund vor: Viktor Zmegaö (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band III/l: 1918-1945. Königstein: Athenäum 1984, S. 282. Adolf Bartels; Geschichte der Deutschen Literatur. 3. Band: Neueste Zeit, S. 484. Ebd., S. 487. Ebd., S. 339. Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig: Haessel 1921, S. 167f. Josef Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4, S. 198.
sehe und Ebner-Eschenbach. Auf einer ganzen Seite erzählt er von der »Erzählerin«, um dann ihre Aphorismen kurz zu erwähnen;63 eher nebenher - »Blut« und »deutsche Bestimmung«64 stehen im Mittelpunkt - ist von den »Prosasprüchen«65 der Morgenröte die Rede oder davon, »eine neue Form, der Aphorismus, Denkspäne, von dem einen und gleichen Stück gefeilt und um einen Gedankenpol magnetisch geordnet«,66 sei zu beobachten. Das vermeintlich »Einheitliche« dabei ist wichtig, ganz wie Baeumler den »einheitlichen Ton«67 herausgehoben hatte. Wie das Pointierte, so ist auch jeder Eindruck des Vereinzelten, des Zerrissenen strengstens zu vermeiden. So auch bei Lichtenberg, der als »außergewöhnlicher Formkünstler«68 vorgestellt wird und von dem es im übrigen mit Leitzmanns Begriffsprägung heißt: »In seinen Aphorismen baute er aus tausend Steinen und Splittern ein ganzes einheitliches Gebäude [Hervorhebung von mir, F.S.] seiner Gedankenwelt auf, in dem es behaglich leuchtete und verderblich blitzte«.69 Zu den Fragmenten des Athenäum als Fragmenten: kein Wort. Fechters Geschichte der deutschen Literatur dürfen wir in diesem Sinne als die konsequente Weiterfuhrung Nadlers lesen. Lichtenberg, Friedrich Schlegel, Novalis, Schopenhauer, Ebner-Eschenbach, Nietzsche, Morgenstern: »Aphorismen« oder etwas dergleichen haben sie bei Fechter allesamt nicht geschrieben, während es zum romantischen Fragment allgemein, da man es schlecht übergehen kann, abwertend heißt: »Die eigentliche Romantik, die des Jenaer Kreises, hat im wesentlichen Fragmente hinterlassen, Aphorismen, Feststellungen, die nichts Festes mehr haben und haben sollten«.70 Wenn Lichtenbergs Sudelbücher einfach unterschlagen werden, dann ist auch keine Bezeichnung nötig. Stattdessen stellt Fechter nationalistische: deutsch-französisch-englische Erwägungen an, wie wir sie bei Bertram fanden: »Es war etwas Französisches in Lichtenberg, die Freude an der Klarheit, an der sprachlich zwingenden knappen Formel«.71 »Zugleich aber lebte in ihm eine durchaus unfranzösische Seele, waren in ihm alle deutschen Tiefen und Untiefen, die man immer dieser Nation vorgeworfen hat«.72 »Er kam sprachlichgeistig von den Franzosen her; er war im Wesen dem Englischen erheblich näher«,73 so daß ihm Fechter immerhin noch »die Verbundenheit mit dem gemeinsamen germanischen Wesen, mit den tragenden Volksgründen«, bescheinigen kann. Ähnlich konstatiert er bei dem von Wagner her interpretierten Nietzsche den Übergang von den Unzeitgemäßen Betrachtungen zu Menschliches, Allzumensch63 64 65 66 67 68
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Ebd., S. 165. Ebd., Bd. 3, S. 557. Ebd. Ebd., S. 556. Baeumler: Nachwort zu: Friedrich Nietzsche: Morgenröte, S. 329. Josef Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 2, S. 169. Ebd. Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, S. 372. Ebd., S. 258. Ebd. Ebd. 63
liches, der damit zur »westlichen Skepsis hinab«steige,74 als »die Wendung vom Germanischen zum Französischen«.75 Zarathustra, die »Selbstbefreiung eines im Grunde wagnerischen Menschen von der Selbstvergewaltigung vom Willen her«,76 zeige schließlich, »wie widernatürlich das Jahrzehnt intellektueller Haltung zum Leben und seinen Problemen gewesen war«.77 Nichts anderes als Nietzsches Aphorismenbücher sind natürlich hier verdeckt verurteilt, und das Ergebnis im ganzen ist eindeutig: Der Aphorismus wird (als französischen Geistes) bei diesem Repräsentanten nationalsozialistischer Literaturgeschichtsschreibung vernachlässigt, verschwiegen, abgewertet. Kleinere Literaturgeschichten bestätigen dieses Bild nur. Weder Koch noch Linden kennen Lichtenberg oder die Aphorismen Schopenhauers und EbnerEschenbachs. Zum Fragment äußern sich beide gleich abwertend. Koch schreibt: »Der kritische Essay, das Fragment, der Aphorismus sind die ersten Äußerungsformen der Romantik, und schon diese Formen kritischer oder schon Gesagtes nur neu formender Übung verraten, daß sich hier nicht etwas grundlegend Neues vorbereitete, keine selbstschöpferische Generation das Wort ergriff«.78 Und für Linden verkörpert Friedrich Schlegel, der »das Kunstwerk im >FragmentAphorismusArabeske«kalten< Verstandesform ist es für uns weitgehend vernachlässigbar, daß Maier »bei aller Sinn-Nähe auch zwischen Aphorismus und Fragment gewichtige Trennungen« 92 sehen will. Schücking, der 1942 über Gattungen der Prosa93 informiert und dabei bis zur Skizze, zum Witz, zur Plauderei, zum Essay, auch schon zur Kurzgeschichte ausholt, kennt den Aphorismus nicht. Wenn man genauer erkennen will, was ihm die nationalsozialistische Literaturwissenschaft außer seiner Herkunft meist unausgesprochen vorwirft, ist es von Nutzen, einen Blick auf den größeren Bruder gewissermaßen zu werfen. Vietta, der sich in seinem Beitrag über den Essay 94 - 1934/35 noch nicht gleichgeschaltet unter anderem auf Kierkegaard und Haecker bezieht, bleibt, auch in seinen Bemerkungen zur Abgrenzung beider Gattungen, in dieser Hinsicht noch erfreulich unergiebig. Dovifat dagegen beklagt in seinem Handbuchartikel von 1940 für den Essay: »Die zu wenig entschiedene, allzu subjektiv-individuelle Haltung machen den E[ssay] ungeeignet für all die Zeitungstypen, denen geschlossene Massenführung oder entschiedener Kampfwille innewohnt«. 95 Weiter heißt es: »Der Deutsche geht den Dingen zu gründlich und vor allem auch zu systematisch zu Leibe, als daß ihn das Unvollendete des E[ssay]s verlocken könnte«. 96 Und schließlich: »Dem von entschiedenem Kampfwillen, in fester Gesinnungsbindung geschlossen geführten nat.-soz. Schrifttum widerstrebt die letztlich doch skeptische und kampfferne Haltung des E[ssay]s.« 97 Damit stellt Dovifat die Anklagepunkte, die wie gegen den Essay so auch gegen den Aphorismus sprechen, klar zusammen. Das Individualistische, das Unsystematische, das Skeptisch-Unentschiedene passen absolut nicht in den geistigen Haushalt einer Volksgemeinschaft, die in einem Kampfverband einen klaren Weg marschiert. 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Wilhelm Hammond-Norden: Warum werden keine Epigramme mehr geschrieben? In: Die Literatur 41 (1938/39), S. 728. Hansgeorg Maier: Anmerkungen zum Wesen des Fragments. In: Die Literatur 38 (1935/36), S. 555. Ebd., S. 556. Ebd., S. 555. Julius Lothar Schücking: Über Gattungen der Prosa. In: Die Literatur 44 (1942), S. 14-18. Egon Vietta: Der Essay. In: Die Literatur 37 (1934/35), S. 484-486. Emil Dovifat: Essay. In: Handbuch der Zeitungswissenschaft. Bd. 1, Sp. 937. Ebd., Sp. 939. Ebd. 65
Das Verhältnis >der< Literaturwissenschaft des Nationalsozialismus zum Aphorismus wäre also ein Nicht-Verhältnis? Aber es sind doch nicht wenige literaturwissenschaftliche Arbeiten über den Aphorismus nach 1933 in Deutschland erschienen! Gerade zeitgleich mit der Herrschaft des Nationalsozialismus setzt die Forschung ja mit Schalk und Mautner vehement ein. Die Arbeiten Finks, Kleins, Bessers, Höfts, Rochs, Sauers, Wehes, die in der Tat eine nach der anderen zwischen 1934 und 1939 erscheinen, können die These nicht per se erschüttern; sie sind vielmehr in der gleichen Weise auf >ZeitgemäßesM.< und die deutschen, romantischen: >Frg.phrase< und ihren Wohlklang«.102 »Der französische Satz ist an feste, formale Regeln gebunden, ist gleichsam militärisch organisiert, während der Satz der m i litaristischem Deutschen freiesten, individuellen Spielraum läßt«:103 Ist es nur willkürlich-böswillige Kombination, wenn man feststellt, daß diese Verbindung von syntaktischer Analyse und (un-)militärischer Vorwärtsverteidigung in dasselbe Jahr fallt, in dem sich Deutschland von den Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages lossagt und die allgemeine Wehrpflicht einführt? Jedenfalls bleibt die Studie dem nationaltypologischen Ansatz, allerdings ohne einseitige Abwertung, geradezu zwanghaft verbunden: »Der Romane beleuchtet meist zwei harmonischer oder disharmonischer gespannte, korrelative Stellen [...]. Der Germane beleuchtet vorzugsweise nur e i n e dunkle Stelle«.104 Klein will 1934 Wesen und Bau des deutschen Aphorismus untersuchen. Es wäre absurd, allein deshalb schon den Vorwurf eines Gattungsnationalismus zu erhe98
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Arthur-Hermann Fink: Maxime und Fragment. Grenzmöglichkeiten einer Kunstform, S. 10.
Ebd., S. 92. Ebd., S. 96f. 101 Ebd., S. 95. 102 Ebd., S. 96. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 99. 100
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ben, weil hier eine Gattung in nationaler Begrenzung untersucht wird. Auf die Kontrastierung unter ausschließlich nationalen Gesichtspunkten kommt es an, auf Lichtenbergs Aphorismen als die eines einsamen Menschen: »Dieser Unterschied zum französischen Aphorismus ist wichtig!«,105 auf das Unabgeschlossene der Romantik: »neuer Unterschied zum französischen Aphorismus!«106 »Daß der typische deutsche Aphoristiker [Klein kennt einen solchen!] auch die Welt in ähnlichen Grundlinien sieht«,107 überlagert jede historische Differenz zwischen Lichtenberg und Nietzsche, verstellt jedes Verständnis fiir Ubernational gleichzeitige Gattungsveränderungen völlig. Höfts, Seidlers108 und Sauers109 Arbeiten zu Novalis, Lichtenberg und Fontane sind, wie auch Grenzmanns Aphorismus-Exkurs in seinem Lichtenberg-Buch von 1939,110 von solchen Aspekten weitgehend frei. Über die »Verwirklichung des weltanschaulichen und ästhetischen Programms des Führers«111 erschrickt man vielleicht etwas weniger, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Friedrich Schlegel zuvor als »Führer der Bewegung«112 bezeichnet worden ist. Bei Besser hingegen ist die ideologisch motivierte Abneigung, die hier bis zur Bekämpfung fuhrt, am genauesten zu beobachten. »Subjektivistische Verstrikkung« 113 wird den Aphoristikern durchweg attestiert, zu Lichtenberg heißt es im Ton am schärfsten: »Vor den Romantikern und vor Nietzsche erlebt Lichtenberg die Krankheit der lähmenden Reflexion, der geistigen Selbstzersetzung«.114 Nachdem Besser den Gegensatz des deutschen zum französischen Aphorismus variantenreich dargelegt hat, stellt er zusammenfassend fest: »Die Problematik der aphoristischen Form, ihre Ambivalenz, ihre Verführung zu Wortspiel, Metapher und Subjektivismus wird mehr oder weniger von den betreffenden Autoren erkannt [,] und, trotz starker Abneigung gegen schematische Systematik, wird Uber den Aphorismus hinausgestrebt«.115 Besser wird, je länger er schreibt, desto kritischer: »Die Unfähigkeit zum großen Bau, zum Gestalten des großen Zusammenhanges droht damit auch zur Unfähigkeit im Mitteilen, selbst in aphoristischer Form, zu werden«. 116 Aus der »Problematik« wird »Unfähigkeit«, aus der »Unfähigkeit« eine Gefahr: der Aphorismus sei »eine gefährliche geistesgeschichtliche Erscheinung;
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Johannes Klein: Wesen und Bau des deutschen Aphorismus, dargestellt am Aphorismus Nietzsches. In: Germ.-rom. Monatsschrift 22 (1934), S. 359. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 367. 108 Georg Seidler: Versuch über die Bemerkungen Lichtenbergs. 1937. 109 Karl Adolf Sauer: Das aphoristische Element bei Theodor Fontane. 1935. 110 Wilhelm Grenzmann: Georg Christoph Lichtenberg. Salzburg, Leipzig: Pustet 1939. 111 Albert Höft: Novalis als Künstler des Fragments. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Aphorismus, S. 3. 112 Ebd., S. 2. 113 Kurt Besser: Die Problematik der aphoristischen Form bei Lichtenberg, Fr. Schlegel, Novalis und Nietzsche, S. 106. 114 Ebd., S. 32. 115 Ebd., S. 131. 116 Ebd., S. 132.
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sie kritisch untersuchen und würdigen heißt eine Fehlerquelle des menschlichen Denkens und Schaffens sondieren«.117 Das Gefährliche daran wird sogleich nicht nur konkretisiert, sondern auch aus dem nationalsozialistischen Denken rigoros ausgeschlossen; hier erklärt sich, warum Nadler oder Baeumler auf Einheitlichkeit beharren: »Eine solche Überwindung des atomisierten und individualisierten Denkens ist heute offenbar schon wirksam; denn auch im Geistigen sind heute Blick, Wille und Tat auf Ganzheit und Gesamtheit gerichtet«.118 Wer den Aphorismus von Dovifats gemeinschaftspolitischer Verurteilung des Essays noch ausnehmen wollte: hier wird er eines anderen, wenn auch nicht besseren belehrt. Bezeichnend ist es zudem, daß die Rezensenten genau diese Tendenz selektiv verstärken. Nur Mautner geht in seiner Rezension sachlich-kritisch über solche >Aktualisierung< hinweg.119 Für Kainz »vermittelt der Vergleich zwischen dem deutschen und franz. Aphorismus bedeutsame nationalstilistische Einsichten«,120 Paul zitiert die »gefährliche geistesgeschichtliche Erscheinung«, die »Fehlerquelle« Aphorismus zustimmend.121 Mann will »Form« durch »Haltung« ersetzen und beginnt mit »dem Fragwürdigen des aphoristischen Verhaltens«, das Besser zeige, »ohne in die Tiefe des geschichtlichen und individuellen Schicksals hinabzutauchen, aus dem der deutsche Aphorismus geboren wird«. An seinen Appell »Das Aphoristische soll überwunden werden« schließt er seinerseits beipflichtend Bessere zustimmungsfreudiges Bekenntnis, »auch« im Geistigen seien heute Blick, Wille und Tat auf Ganzheit und Gesamtheit gerichtet.122 Ohne diese Linie zu verlassen, gehen Wehe und Roch einen anderen Weg, den der kämpferischen Umdeutung, die den Aphorismus für die Ideologie des Dritten Reiches retten soll. Das Kämpferische ist 1935 für Roch im Deutschen Volkstum das Klischee schlechthin. Das Eindringlich-Gewaltsame ist ja seit jeher im Bildvorrat des Begriffes vorhanden,123 vom Pfeil bis zur Panzerfaust. Überraschend konkret ist es hier die moderne Schnellfeuerpistole, die die geistige Waffe veranschaulicht. Vom »kämpferischen Zweck des klassischen Aphorismus« und seinen »Blütezeiten in kämpferischen Epochen«, von seiner »Durchschlagskraft«124 ist die Rede. Bei Goethe verliere er »seine kämpferische Note«, Heinse habe ihn »als Waffe im politischen Kampf« gebraucht.125 Wehe entwickelt Geist und Form des deutschen Aphorismus nicht nur nach gängigem Muster aus seinem Gegensatz zum französischen: »Im übrigen ist der deutsche Aphorismus häufiger als der französische das Gefäß für Einsichten, Einfälle, Beobachtungen und Forderungen einsamer
117
Ebd., S. 135. Ebd., S. 136. 119 Franz H. Mautner: Rez. Besser. In: Zs. f. Ästhetik 32 (1938), S. 94-96. 120 Friedrich Kainz: Rez. Besser. In: Literaturblatt f. german. u. rom. Philologie 58 (1937), S. 246. 121 Adolf Paul: Rez. Besser. In: Zs. f. dt. Philologie 64 (1939), S. 105. 122 Otto Mann: Rez. Besser. In: Blätter für deutsche Philosophie 11 (1937/38), S. 101. 123 V g l Verf.: Der Aphorismus, S. 368-370. 124 Herbert Roch: Über den Aphorismus. In: Deutsches Volkstum 17 (1935), S. 515. 125 Ebd., S. 516. 118
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Denker«. 126 Er weiß am Beispiel Nietzsches auch genauer als bisher, über Bertrams >seelische Urform< hinaus, was das Besondere des deutschen Aphorismus ausmacht: »der Mut zum Gefährlichen, das kämpferische Ethos« nämlich. »Zu dieser seelischen Bereitschaft und geistigen Spannung kommt bei Nietzsche ein ausgesprochen künstlerisches Sprachempfinden, und diese drei Voraussetzungen mußten ihn zum deutschen Aphoristiker par excellence werden lassen, wobei >deutsch< noch stärker zu betonen ist als >Aphoristikerzum Einsatz bringenkalter< Intellektualität, Großstadt, französischem Geist assoziierten »Aphorismus« etwas im Ursprung Germanisches entgegenzusetzen und an den hochmittelalterlichen Sangspruch und den Reimspruch des Spätmittelalters anzuknüpfen; die Grenze zwischen Lyrik und Prosa ist dabei folgerichtig verwischt.129 »Als prosaische Sp[ruchdichtung] kann der Aphorismus gelten«,130 heißt es lapidar von Seiten der zeitgenössischen Philologie dazu, in dem 1930 erschienen Sachwörterbuch der Deutschkunde. Das gilt nicht nur für die betont nationalsozialistische Literatur. Auch eine Zeitschrift wie Das Innere Reich bestätigt diesen Befund. Kleinformen insgesamt kommen hier nur selten vor. Das übliche ununterschiedene Miteinander von Zitat, Aphorismus, Reimspruch, Sprichwort druckt Erich Brock, der viel später mit eige126
Walter Wehe: Geist und Form des deutschen Aphorismus. In: Die Neue Rundschau 50 (1939), S. 403. 127 Ebd., S. 408. 128 Biographische Schicksale sind hier nur eine Fußnote: Berendsohn wird 1933 von den Nationalsozialisten vertrieben und ist auch nach 1945 nicht rehabilitiert worden (erst 1983 wird er Ehrendoktor), Mautner emigriert 1938 von Wien aus in die USA. 129 Gereimte »Sprüche« zum Beispiel bei Ernst Bertram (Gedichte und Sprüche, 1951. - Die Sprüche von den Edlen Steinen, 1951), Hans Friedrich Blunck (Mahnsprüche, 1937), Rudolf Alexander Schröder (Corona 5 [1934/35], S. 677-695). - Auch bei Edgar Dacquis »Spruchbuch« (Deutsches Literatur-Lexikon) »Das Bildnis Gottes« (1939) handelt es sich um gereimte Zweizeiler. 130 Albert Ludwig: Spruchdichtung. In: Hofstätter / Peters (Hg.): Sachwörterbuch der Deutschkunde, S. 1138.
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nen Aphorismen hervorgetreten ist,131 hier als Deutsche Sinnsprüche.132 Das Denken in Stämmen und Landsmannschaften wird mit Baltischen Sinnsprüchen133 bedient. Die unter aphoristischem Blickwinkel herausragenden Autoren Bertram und Bindung erscheinen hier mit Worten,134 Aufzeichnungen, Nachlaß,135 Aphorismen anderer Autoren werden als Bemerkungen,136 Sprüche137 oder Gedankenm publiziert; Aphorismen als solche gibt es in all den Jahren überhaupt nur zweimal: außer pädagogischen 1942 139 solche eines unbekannten Adolf Pickert. Die Deutsche Rundschau, die der geistigen Opposition zuzurechnen ist, druckt in ihrer Rubrik Lebendige Vergangenheit zwischen 1936 und 1942 auch Zeugnisse aus der Geschichte des Aphorismus, unter anderem von Graciän, Montesquieu, Chamfort, Rivarol, Bacon, Swift und Lichtenberg; jeder Bezug auf Begriff und Gattung freilich fehlt dabei. Nicht anders ist es in den erbaulichen Gedanken des protestantischen »Eckart«. Wenn man bei selbständigen Publikationen bleiben will: Eine Reihe wie Paul Emsts Gedichte und Sprüche (1935), Ernst Bertrams Sprüche aus dem Buch Arja (1938) und Hrabanus. Sprüche in Prosa (1939), Erich Limpachs Gedichte und Sprüche in mehreren Bänden, Johannes W. Hofmanns Spruchworte, auch Friedrich Bluncks Buch der Sprüche (1953) stellt sich nicht von ungefähr her. Um eine monokausale Betrachtungsweise kann es dabei nicht gehen. Der Einfluß des George-Kreises ist bei dieser Vorliebe für den Spruch immer auch mitzubedenken; Bertram und Pannwitz kommen von George her. Der Vorbildcharakter der anonym in den Blättern für die Kunst erschienenen Merksprüche140 Georges, Gundolfs oder Wolfskehls, normativer Lehrsätze, die möglicherweise ihrerseits mit dem Zarathustra zusammenhängen, aber auch der von Georges
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Blick in den Menschen, 1958. Sätze und Gegensätze, 1970. Des Lebens Linien, 1975. Erich Brock (Hg.): Deutsche Sinnsprüche. In: Das Innere Reich 6 (1939/40), S. 8-18 und 7(1940/41), S. 430-431. 133 Herbert Petersen: Baltische Sinnsprüche. In: Das Innere Reich 6 (1939/40), S. 592-597 und 8 (1941/42), S. 650-651. 134 Ernst Bertram: Worte in einer Werkstatt. In: Das Innere Reich 4 (1937/38), S. 641-648. - Worte aus dem Buch Aija. In: Das Innere Reich 4 (1937/38), S. 999-1001. - Weitere Vorabdrucke in: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 241-246; Nr. 7 (1940/41), S. 422427; Nr. 9 (1942/43), S. 612-615. 135 Rudolf G. Binding: Ad se ipsum. Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 2-10. - Unveröffentlichtes aus dem Nachlaß. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 725-729, 1151-1158. 136 Karl Graucob: Bemerkungen eines Erziehers. In: Das Innere Reich 2 (1935/36), S. 391. 137 Johann Benjamin Godron: Sprüche. In: Das Innere Reich 2 (1935/36), S. 998. 138 Hans Marcard: Gedanken eines Frontsoldaten. In: Das Innere Reich 7 (1940/41), S. 183. - Jean Paul: Gedanken. In: Das Innere Reich 3 (1936/37), S. 66-69. 139 Marie-Luise Seeger: Aphorismen über Kindererziehung. In: Das Innere Reich 9 (1942/43), S. 122-127. 140 Einleitungen und Merksprüche. In: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892-1898. 4. Folge, I.—II. Band. Berlin: Bondi 1899, S. 10-26. - Einleitungen. In: Blätter für die Kunst. 4. Folge, 1. Band, 1897, S. 1-4; 5. Folge, 1. Band, 1900/01, S. 1 4; 7. Folge, 1. Band, 1904, S. 1-11 u.ö. (Autorschaft nicht durchweg gesichert). 132
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gereimten Sprüchen an die Lebenden und der Sprüche an die Totenm ist daneben also nicht auszuschließen. Vorläufer in dieser Reihe sind, auf sehr unterschiedlichem Niveau, Paul Ernst mit seinem Weltbild in Sprüchen von 1931142 und Karl Böschs Sprüche und Gedanken (1920), die 1930 in dritter Auflage erscheinen. Von niemandem anderen als Paul Ernst geht Langenbucher aus, wenn er die volkhafte Dichtung der Zeit untersuchen will: Die große, entscheidende Tat, die im dichterischen Räume selbst vollbracht werden mußte, um der auf das Leben des Volkes bezogenen, aus ihm sich nährenden undfíires schaffenden Dichtung den Durchbruch zu ermöglichen, wenn die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen waren, hat der Dichter Paul Ernst mit seiner umfassenden Lebensarbeit getan.143 Für Fechter ist er ein »Führer des Volks«, 144 Mackensen gibt ihm unter dem Titel »Aufruf, Forderung und Verpflichtung zum kommenden Reich« ein eigenes Kapitel. 145 Sein Biograph von 1959 urteilt allerdings, der 1933 verstorbene Ernst sei vom Nationalsozialismus »vereinzelt politisch mißbraucht« 146 worden. Von dem Vorläufer in der Reihe der spezifisch nationalsozialistischen SpruchBücher auf einen nationalsozialistischen Vorläufer zu schließen, wäre also kurzschlüssig. Die Anthologie löst Sprüche und »Kernworte« 147 aus dem Werk, ist also nur bedingt und unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt den »Aphorismen« zuzurechnen. Sie schließt dabei an niemand Geringeren als Goethe (in falscher Entgegensetzung) an. Ernst habe, heißt es eingangs zur Begründung des Vorhabens, anders als Goethe mit seinen Maximen und Reflexionen, »kein besonderes Spruchbuch« 148 geschrieben. Wesentliches wird in diesen Exzerpten aus einer konservativ-elitären, geistesaristokratischen Haltung heraus schlicht konstatiert. Sie sind, in Kapitel wie Der göttliche Weltplan, Der wesentliche Mensch oder Ewige Forderungen geordnet, als letzter Ausdruck einer bildungsfrommen Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts von unerschüttertem Glauben an Selbsterziehung, einsame Größe, erhebende Kunst geprägt und wirken damit so epigonal wie trivial: »Wer herrschen will, der muß sich zuerst selber beherrschen«; 149 »Ein jeder große Mensch ist einsam und unverstanden«; 150 »In der Kunst gilt nur das Erhebende, das uns nach oben führt«. 151 Die Nähe zum konservativen Stammtischspruch ist bisweilen nahezu unterschiedslos: »Wenn wir nicht an 141
Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. 3. Auflage. Düsseldorf, München: Küpper 1976, S. 442-460 (aus: Das neue Reich, 1928). 142 Der Denker Paul Ernst. Ein Weltbild in Sprüchen aus seinen Werken. Gesammelt von Max Wachler. 1931. 143 Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit, S. 29. 144 Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, S. 733. 145 Lutz Mackensen: Die Dichter und das Reich, S. 208-233. 146 Wolfgang Heilmann: Paul Ernst. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 630. 147 Der Denker Paul Ernst. Ein Weltbild in Sprüchen aus seinen Werken, S. 6. 148 Ebd., S.5. 149 Ebd., S. 63. 150 Ebd., S. 19. 151 Ebd., S. 33. 71
Gott glaubten, dann vermöchten wir das Leben nicht zu ertragen«;152 »Jeder soll sein Leben so einrichten, daß er einmal mit reinem Herzen und reinen Händen vor Gott treten kann«. 153 Gott, Volk und - deutsches - Vaterland bilden ein einheitliches Gesinnungsfundament: »Wenn kein Volksleben mehr ist, dann denkt Jeder nur an sich und seinen Vorteil«;154 »Im Staat muß sich der Geist eines Volkes ausdrücken«; 155 »Wenn überhaupt in Europa noch ein geistiges Leben möglich ist und die Geschichte der Menschheit nicht nach Asien zurückwandert, dann ist es nur in Deutschland möglich«.156 Das Kronzeugnis für den Vorläufer des nationalsozialistischen Spruches, Karl Boschs (1880-1945) Vom Adel,151 ist extrem, aber von symptomatischer Bedeutung für einen großen Teil des national-konservativen Bürgertums. Bosch (1880— 1945) lebte nach einem Studium der Germanistik seit 1906 als Gymnasiallehrer in Frankfurt/ Oder. Prophetische Kraft kann man seinen Aphorismen nicht absprechen, wenn sie schon 1920 »die d e u t s c h e F ü h r e r s e e l e « 1 5 8 suchen: »Schafft dem Staatsmann der Zukunft ein geschultes und gereiftes Volk: und er wird mit ihm die ganze Welt dem deutschen Geist erobern«.159 Sie reden einem neuen Adel »unter allen Ständen« das Wort: »Was ist Demokratie anders als das Fehlen und das Versagen eines Adels!«160 Idealistischer Elitarismus und Rasse- und FührerGedanken vereinigen sich auf der Basis absoluter Zeit- und Demokratiekritik mit Vorstellungen von Zucht und Glück des Dienens. Die Ingredienzen dieses Denkens im Detail zusammenzustellen, genügt es, schlicht den thematisch geordneten Kapiteln zu folgen. Ausgangspunkt ist ein Bild Vom Menschen,161 das von Idealismus geprägt ist: »Es gehört zum Wesen der Freiheit, ja es ist das Wesen eines innerlich wahrhaft freien Menschen, daß er sich von einer großen Idee beherrschen lassen kann«.162 Diese Idee wird im folgenden spezifiziert: »Wenn wir vom deutschen Wesen als von etwas Hohem und Heiligem sprechen, so meinen wir die Idee des Deutschen, nicht, was wir vor Augen sehen. Es liegt eine tiefe Kluft zwischen beiden, tiefer als in irgendeinem Volk, eben weil die Idee >deutsch< so hoch ist«.163 Es ist dies eine deutsche Sendung: »Wenn der Deutsche zu einer höheren Aufgabe berufen ist, so ist es die, daß er inmitten einer seelenlos und gleich machenden Zeit das Königtum eines freien, adligen, nur sich selbst gleichen, lebendigen Men152
Ebd., S. 11. Ebd., S. 25. 154 Ebd., S. 77. 155 Ebd., S. 89. 156 Ebd., S. 93. 157 Karl Bosch: Vom Adel. Sprüche und Gedanken. 1920. Das Vorwort ist »November 1918« datiert. Ich zitiere in der Regel nach der 3. Auflage von 1930, die erweitert und in der Anordnung verändert ist. 158 Bosch: Vom Adel. 1920, S. 35. 159 Ebd., S. 58. 160 Bösch: Adel. 1930, S. 71. 161 Ebd., S. 9-32. 162 Ebd., S. 17. 163 Ebd., S. 40. 153
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schentums aufrichtet«.164 Konkretisiert und angereichert wird die Idee mit den Elementen der nationalsozialistischen Ideologie. Mit Deutschkirche (so nennt sich die Reihe, in der das Buch in dritter Auflage erscheint) ist alles gesagt: Es geht um die nationale Sakralisierung (»Wahre Liebe zu Volk und Vaterland ist auch Religion«165) in der Verbindung von Rasse (»Rasse ist der Zustand abgeschlossener, inniger, bewährter und wetterfester Verschmelzung urverwandter Elemente«166), Auserwähltheit (»Wie kann ein Volk werden, wie kann aus einem Volk etwas werden, wenn es sich nicht für >auserwählt< hält!«167) und Volk mit Blut und Führertum (»Sache einer nach Blut und Art erwählten, unter sich verschworenen Führerschaft, ihr Volk in Überwindung und Erhöhung seines naturgegebenen Wesens in die Form zu zwingen«168). Aus dieser Mitte erwächst eine komplette Weltanschauung. Das Geschichts- und Politikverständnis fordert den »Glauben«169 an die Geschichte so energisch, wie es den Kompromiß als »das Wesen der Politik«170 ablehnt. Es setzt sich aus kämpferischem Konservatismus, Anti-Demokratismus und Anti-Parlamentarismus zusammen: Konservativ sein heißt kämpfen für den d e u t s c h e n Kern in Blut, Recht und Sitte. 171 Was bemühen wir uns, die Demokratie zu widerlegen! Es kommt nur noch darauf an, sie zu entlarven. 172 Keinem Volke ist die demokratische >Kultur< des Scheins und der Masse so gefährlich, und keinem hat sie schon so tief an dem innersten Kern genagt wie dem deutschen [...]. 173 Was ist es? Der Tummelplatz der Mittelmäßigkeit, das Paradies der Rede, der Kirchhof der Tat. Es ist der Parlamentarismus. 174 '
Denn: »Politik ist Krieg, der einem Volk Raum und Leben schafft«. 175 Alles und jedes wird vom Volkhaften her interpretiert: Hier wurzeln Sprache wie Religion: Die Sprache ist recht eigentlich das Element der Seele eines Volkes [...]. 1 7 6 Die Sprache ist eines Volkes reinster Spiegel und reinster Besitz [.. ,]. 177 Religion ist nicht nur mein Verhältnis zu Gott, zu meinem Gott, sondern auch das Verhältnis meines Volkes, von dem ich ein Teil bin, zu seinem Gott und Genius. Also ist auch Vaterlandsliebe Frömmigkeit, und der Dienst an ihm Gottesdienst. 178 164
Ebd., Ebd., Ebd., 167 Ebd., 168 Ebd., 169 Ebd., 170 Ebd., 171 Ebd., 172 Ebd., 173 Ebd., 174 Ebd., 175 Ebd., 176 Ebd., 177 Ebd., 178 Ebd., 165
166
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
48. 46. 36. 38. 44. 53. 55. 60. 69. 65. 67. 64. 100. 101. 162.
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Wie das politische Konzept dieses in der Gegenwart Heimatlosen, aber von Zuversicht Geprägten (»Wir sind Fremdlinge in der Gegenwart, aber wir haben eine sonnige Heimat, sie heißt Vergangenheit, sie heißt >Zukunftmacht< keine Gedichte, man empfängt sie. 182 Jedes wahre Gedicht ist ein Stück gerahmter Unendlichkeit. 183 Im Anfang war der Glaube. 184 Wer reinigt das Wort Dichter von den Spuren der Zeit und der Gasse; und wer gibt ihm seinen alten v o l l e n Klang wieder, nämlich den Dreiklang: Seher, Deuter, Sichter? 185
Instinkt und Persönlichkeit sollen an ihre Stelle treten: Auf die schwach gewordenen Augen unseres Instinktes, des sichersten Führers im Wirrsal des Lebens, setzen wir die Brille unserer Ideen. 186 Es gibt eine höhere philosophische Einheit als ein System: die Einheit einer Persönlichkeit. 187
In der Konsequenz dieser Ideologie für das Aphorismusverständnis offenbart sich eine doppelte trügerische Nähe. Es tradiert nicht nur in trivialer Form den Topos des 19. Jahrhunderts von Edelstein und Fassung (»Ein schön geformter Gedanke ist wie ein goldgefaßter Edelstein, den man entzückt immer wieder in der Hand herumdreht und gegen das Licht hält«188). Es schließt auch an zwei wesentliche Merkmale des Aphorismus-Begriffes an. »Aphorismen sind Steine über einen Bach, keine Brücke. Man muß springen können«:189 So variiert Bösch den Gedanken von der geradezu existentiellen Bedeutung der aphoristischen Rezeption.190 Und erst recht gelegen kommt diesem Anti-Rationalismus in falsch verstandener Parteigängerschaft die Anti-Systematik des Aphorismus: »Widersprüche sind das Leben selbst; System vermauerte Wahrheiten«.191 179
Ebd., S. 79. Ebd., S. 131. 181 Ebd., S. 147. 182 Ebd., S. 121. 183 Ebd., S. 115. 184 Ebd., S. 151. 185 Ebd., S. 127. 186 Ebd., S. 145. 187 Ebd., S. 147. 188 Ebd., S. 104. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 369. 189 Ebd., S. 105. 190 V g l Verf.: Der Aphorismus, S. 371-380. 191 Ebd., S. 149. 180
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3.4. Der nationalsozialistische Aphorismus Verkündung eines mythisch-germanischen Heldentums, von Kriegsverherrlichung und soldatischem Dienen als »deutschen Manneseigenschaften«:192 Das ist, vom Weltkriegserleben geprägt, das gemeinsame Zentrum im Denken und Schreiben von zwei ansonsten sehr unterschiedlichen nationalsozialistischen Aphoristikern, von Rudolf G. Binding und Richard Euringer. Binding (1867-1938) ist damit sogleich eine dichterische Leitfigur des Nationalsozialismus. Während der eine Generation jüngere Euringer die Elemente der nationalsozialistischen Ideologie im einzelnen zusammenstellt, liefert Binding in der ideologiekonformen Definition großer Begriffe wie Freiheit und Gleichheit, Wahrheit, Größe und Tragik den Überbau dazu. Von einem »Amt«193 des Dichters sind beide gleichermaßen überzeugt. 1938 werden in Das Innere Reich Aufzeichnungen aus einem Notizbuch Ad se ipsum abgedruckt, nach seinem Tode im gleichen Jahr weitere unveröffentlichte Texte aus den Tagebüchern. Zum Teil werden sie in den Band von 1940 aufgenommen, »als Aphorismen je auf einer Seite weiträumig schön gedruckt«.194 Für Lennartz offenbaren sich hier 1941 »bekenntnishafte Aphorismen des seiner Zeit und der Erde zugewandten Dichters und Menschen, der entschlossen ist, ganz zu sterben«195 ( eine Aussage, der für die Gattungszuordnung sicherlich mehr Gewicht zukommt als in dem Hinweis auf die Entschlossenheit zu nicht nur teilweisem Sterben). Es handelt sich tatsächlich, manchmal mit dem Datum versehen, um Auszüge aus seinem Tagebuch, mit denen Binding formal in der dicht besetzten Tradition der Tagebuchaphoristik von Hebbel, Emerson, Leopardi oder Renard steht,196 in Kapiteln geordnet zu Volk und Gemeinschaft (»Im Sturm zu stehen macht ein Volk stark, f...]« 197 ), zu Gott und Welt mit dem Versuch zu einem Minimalkonsens (»Der Mensch muß glauben - ob Gott ist oder nicht«198), zu einer Weisheit des Lebens wie der: »Die Tragik des Mannes liegt darin, daß die Dinge im reiferen Alter nicht mehr so dringend erscheinen, daß man sein Leben dafür gibt«199 oder der anderen: »Wenn du das Leid kelterst - wird es süß«200 und end-
192
Rudolf G. Binding: Ad se ipsum. Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 2. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 10. 193 Rudolf G. Binding: Ad se ipsum. Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 10. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 94. So auch Richard Euringer: Aphorismen, Nr. 21. 194 Karl A. Kutzbach: Rez. Binding, Ad se ipsum. In: Die Neue Literatur 42 (1941), S. 297. 195 Franz Lennartz: Die Dichter unserer Zeit, S. 45. 196 Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 333. 197 Rudolf Binding: Unveröffentlichtes aus dem Nachlaß. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 726. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 9. 198 Rudolf Binding: Unveröffentlichtes aus dem Nachlaß. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 727. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 38. 199 Rudolf G. Binding: Ad se ipsum. Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 6. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 62. 200 Rudolf Binding: Unveröffentlichtes aus dem Nachlaß. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 727. In der Buchfassung: Ad se ipsum, S. 72.
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lieh zu Kunst, Dichtung, Genie mit einer stereotypen, hochpathetischen Wahrheitsrhetorik: »Wo ich auch nur mit einem einzigen Wort der Wahrheit vergäße, da will ich mit meinem ganzen Werk gerichtet sein«.201 In einem prinzipiellen - allzu leicht fehlzuleitenden und fehlgeleiteten, mißbrauchbaren und mißbrauchten Idealismus202 heißt es bei Binding: »Wenn der Mensch für nichts mehr wird sterben dürfen, dann wird alle menschliche Größe von ihm genommen sein«.203 Das Problem (positiv gewendet), wie denn dieses »etwas« gefüllt ist, die entscheidende Frage - wem sie sich denn Uberhaupt auftut - nach der Priorität von Leben und Idee in jedem einzelnen Fall ist für Binding immer schon entschieden. In dieser Rigorosität ist sein Aphorismus das schreckliche Diktum einer absoluten Glaubensgewißheit, wie es etwa in der Gegenwart im islamischen Fundamentalismus seine Konsequenzen offenbart; damit liefert Bindings Aphoristik das geistige Rüstzeug für Hitlers willige Krieger. Richard Euringer (1891-1953) wird von Lennartz 1941 ganz zu Recht als »dichterischer Vorkämpfer und Künder des neuen Reiches«204 apostrophiert. Hillesheim führt ihn als einen »der fanatischsten und rückhaltlosesten HitlerVerehrer« ein, einen der »bekanntesten und berüchtigsten [!] Dichter und Barden des Regimes«.205 Euringer gibt nach der Erprobung sämtlicher Gattungen, Thingspiele eingeschlossen, 1943 auch Aphorismen heraus, »die er während der Jahre seiner schriftstellerischen Tätigkeit geschrieben und gesammelt hatte und und jetzt in einem Band vereinigte. Auch hier handelt es sich also vornehmlich um ältere Texte«.206 Mehr weiß Hillesheim darüber nicht zu sagen. Die nicht weniger als 456 numerierten und von drei Wörtern bis zu zwei Seiten langen Texte sind insofern als beinahe paradox bemerkenswert, als sie wider Erwarten unter dem zumindest an den Rand gedrängten Gattungsbegriff als Titel die - darf man sagen? - klassische Ausprägung des nationalsozialistischen Aphorismus darstellen. Wie versteht ein Repräsentant des Nationalsozialismus die Gattung, wenn er sie mit dem eingebürgerten Namen bezeichnet? In zwei einander folgenden gattungsreflektierenden Aphorismen nimmt Euringer dazu Stellung, und einen scheinbaren Umweg mitzugehen ist erst recht erhellend: Die pointierte >Kurzgeschichteaus älteren Handschriftenblinden< Eifer (»Der Teufel liebt die Eiferer«265) überraschend Neues entdecken, an dem Gedanken sowenig wie an seiner Gestaltung, und auch eine der (seltenen) paradoxen Formulierungen wird er nicht hinreißend einsichtsvoll finden: »Wer hinweggeht, bleibt übrig«.266 Das durchsichtig Schwache, schöne Musik (»Musik ist ein innerer Sternenhimmel«267) und glückliche Kinderaugen (»Kinderaugen strahlen vom Geheimnis«268), macht dann vollends skeptisch gegenüber dem rätselhaften Aufputz der »weißen Pferde« und des »Kristalls«. Die programmatische Beschwörung des Irrationalen (»Dunkle Rede leuchtet am längsten«;269 »Das Schauen überweiß das Wissen«270) kann darin um so weniger irremachen, als sich auf der anderen Seite Aphorismen finden, die ganz unrätselhaft direkt Elemente der nationalsozialistischen Ideologie, das Kämpferische, das Völkische, propagieren. »Kein echter Glaube ist zerstörbar, es sei denn durch seine Priester«:271 das mag man noch als Kritik von innen lesen, die allgemein anwendbar ist. Wo aber in dem mythischen »Buch Arja« Sprüche stehen wie: »Ein Volk, das sich nicht im Herzen [Grunde?] seines Herzens für das höchste 258
Auszugsweise Vorabdrucke - in völlig anderer Reihenfolge, aber mit seltenen Texteingriffen: Unterwegs am Brunnen. In: Corona 6 (1936/37), S. 367-367. - Brücke und Wagen. Worte aus dem Buch Aija. In: Corona 7 (1937/38), S. 304-309. - Worte aus dem Buch Arja. In: Das Innere Reich 4 (1937/38), S. 999-1001. 259 Ernst Bertram: Sprüche aus dem Buch Arja, S. 9. 260 Ebd., S. 20. 261 Ebd., S. 43. 262 Ebd., S. 42. 263 Ebd., S. 37. 264 Ebd., S. 41. 265 Ebd., S. 34. 266 Ebd., S. 52. 267 Ebd., S. 44. 268 Ebd., S. 50. 269 Ebd., S. 41. 270 Ebd., S. 42. 271 Ebd., S. 28. 83
Volk der Welt hält, das ist kein Volk«;272 »Die Grenzen eines Reichs sind sein kostbarster Boden«, 273 da ist plötzlich gar keine hehre Geistigkeit mehr, sondern eindeutig Handgreiflichkeit und mehr als das, eine bezeichnende Nähe nicht nur zum allmächtigen Volksbezug Böschs, sondern auch zu Bindings Kriegerethos und Todesbereitschaft: »Der Kampf ist wahrer als die Versöhnungen«;274 »Das höchste Leben liebt den höchsten Tod«.275 Eine andere programmatische Äußerung hingegen hebt Bertram nicht nur gegenüber diesen beiden heraus. »Wer noch aufzeichnet, glaubt noch an die Welt. Verzweiflung verstummt«.276 Dieser Aphorismus bezeichnet nicht nur die letzte Rückzugsposition eines abgrundtiefen Pessimismus, er macht auch deutlich, wie ernst dieses Werk insgesamt genommen werden will, nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch. Wie das »Buch Arja« in Kapitel einer gewollt archaischen Symbolik (Wagen und Horn, Speer und Harfe) gegliedert ist, so ist Hrabanus. Aus der Michaelsberger Handschrift schon in seinen Abschnitten mit derselben Wucht des wie beschworenen Einzelwortes (Berg, Schrift, Amt, Schuld, Buch, Weg, Stern) christlichsymbolisch schier überfrachtet.277 Böhme-, Paracelsus-, Hamann-Motti zeigen, in welcher literarischen Verwandtschaft die fiktive Mönchsfigur hier aphoristisch reflektiert und meditiert. Weitabgewandten und asketischen Geistes (»Den steilsten Wallfahrtsberg trägt jeder in sich«278) und aus dem Verlangen nach der unio mystica eines religiösen Liebestodes heraus (»Die tiefsten Hochzeitsgesänge singen vom Tode«279) umkreist Hrabanus in vielen rhetorischen Fragen Gott, Schöpfung und Offenbarung, ist hingegeben an Kunst und Musik (»Spiele deine Orgel und stirb getrost«280), an die Natur im allgemeinen (»Sie suchen nach Gottesbeweisen und gehen blind durch den Frühling«281) und den Gartenbau im besonderen (»Einen kleinen Garten zu betreuen, schützt vor Verzweiflung. / Die Rosen sind dankbarer als die Menschen«282), in seinem Pessimismus gegenüber Welt und Menschen (»Unsre Bilder von der Welt sind schon unser Jüngstes Gericht«283) allein von seiner Erziehungsaufgabe gehalten: »Kinderaugen machen gläubig«.284 Wieder verbindet sich der Glaube an den mythisch-irrationalen Urgrund im Menschen mit dem nationalen Element:
272
Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. 274 Ebd., S. 17. 275 Ebd., S. 20. 276 Ebd., S. 38. 277 Die Sprüche stehen in innerem Zusammenhang mit den Texten, die Bertram in »Michaelsberg« (1935) »aus der Handschrift des Hrabanus« zitiert (S. 38-43, 74-79 und 114117). 278 Ernst Bertram: Hrabanus. Aus der Michaelsberger Handschrift, S. 9. 279 Ebd, S. 12. 280 Ebd. 281 Ebd., S. 10. 282 Ebd, S. 11. 283 Ebd, S. 30. 284 Ebd, S. 36. 273
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Es gibt Kräfte in uns, die sind älter als der sechste Schöpfungstag.285 Der höchste Schatz ist immer im eigenen Land vergraben.286
Moralistische Skepsis leuchtet dagegen nur gelegentlich auf: Wußte der Schöpfer wohl, daß es ihn reuen werde, die Menschen geschaffen zu haben?287 Zweifel ist der frömmste Pilger.288
Auch in den Worten in einer Werkstatt ebenso wie in den Sprüchen Von Wesen und Zukunft unsres Gedichts verbinden sich höchster irrationaler Kunstanspruch mit einer ebenso konkreten wie illusionären Bindung an das »Volk«: Das Kunstwerk vereinige das Unvereinbare: es sei wissende Schönheit.289. Der Dichter braucht sein Volk nicht zu nennen - er ist es. Wo hörst du die Stimme des Volkes? In unsrem wahren Gedicht.290
Kommt der Kunstglaube von der klassisch-romantischen Ästhetik in der Ausformung des George-Kreises her - Goethe-, Jean Paul- und Novalis-Motti beschützen die Sprüche - , so hat der Volksglaube seinen Patron mit Herder zwar ebenfalls dort, darf sich vor allem aber der aktuelleren und konkreteren Nachbarschaft etwa Boschs erfreuen. Beide Sammlungen sind imperativisch geprägt; ein wissender Meister verkündet in einer stilisierten Sprache zum Teil sehr konkrete Lehren: Du mußt lernen, das Unsichtbare zu malen.291 Stelle dir das Gesetz und gehorch ihm. Folge der Eingebung, aber beherrsche sie. 292
Auf Malerei wie Dichtung bezogen geht Bertram dabei von einem widerspruchsresistenten Schauen der Wahrheit aus: »Der Künstler sieht die Sterne am Tage. Aber dazu muß er in seinen tiefen Brunnen steigen«.293 Nicht verwunderlich, daß er hier das ihm nächststehende Beispiel künstlerischer Kreativität adaptiert, den Dichter Thomas Mann, mit dem Beginn von Joseph und seine Brüder. Anders als mit den Sprüchen aus dem Buch Arja und diesen poetologischen Worten steht es mit den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge, bezeichnenderweise, was die Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie betrifft, ebenso wie in dem vorherrschenden Ton. Der Widerspruch von Macht und Geist ist ihr Thema, tiefe Ironie ihr Grundzug. Der diaristisch-aphoristisch reflektierende, La Rochefoucauld und Vauvenargues zitierende Herzog zieht sich nach der Eroberung sei-
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 78. 287 Ebd., S. 21. 288 Ebd., S. 74. 289 Ernst Bertram: Worte in einer Werkstatt. Von Wesen und Zukunft unsres Gedichts, S. 30. Vorabdruck: Alte Tabulatur für einen jungen Singer. In: Corona 8 (1938/39), S. 372377. 290 Ebd., S. 26. 291 Ebd., S. 7. 292 Ebd., S. 32. 293 Ebd., S. 10. 286
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nes Staates durch die Republikaner - die Französische Revolution hat er naturgemäß scharf verurteilt - tief resigniert und voller Todesgedanken in ein ehemaliges Benediktinerkloster »in der Höhe« zurück: »In der Höhe wachsen auch die Gedanken anders als in den Gärten der Tiefe. Die geistigen Klimate streiten hier miteinander«.294 Der Grundgedanke wird vielfach variiert: Heuchelei, Willfährigkeit und Opportunismus der Untertanen gehen mit der Blindheit der Oberen einher. Wenn Jappes Behauptung vom »Widerstandsschrifttum« überhaupt etwas Richtiges trifft, dann vereinzelt vielleicht hier. An die Problematik einer »Inneren Emigration« ist dabei zu erinnern, die für so verschiedene Fälle wie Ernst Wiechert oder Ernst Jünger in Anspruch genommen wurde und eben eine sehr genaue Einzelbeurteilung erfordert. Im besonderen ist an die Nachbarschaft zu den historischen Romanen dieser Jahre und andere Versuche, sich verdeckt auszudrücken, an Werner Bergengruen oder Jochen Klepper, zu denken, und auch dies noch mit aller Vorsicht; die Aufzeichnungen sind immerhin 1950, nicht 1940 veröffentlicht worden.295 Übertragungsmöglichkeiten in diesem Sinne bieten sich nicht nur im allgemeinen an, bei der Quisling-Figur Mancafede, bei der staatlichen Druckerlaubnis oder der Wucherung der Bürokratie, bei Anspielungen auf »unser wachsendes Gefängnis«. 296 Im neuen Palast sieht man die meisten alten Wappenschilder. 297 Es ist immer der Nachbar, der zum Kriege rüstet. 298 Der Sieger nennt es Gottesgericht:299
Die historische Modellhaftigkeit ist doch sehr deutlich, ob sie schillernd und in der Stoßrichtung uneindeutig ist (»Barbarisch nennen wir das, was vielleicht bestimmt ist, uns zu erneuen«300), ob sie in der ständigen Reflexion des Verhältnisses von Geist und Macht unmißverständlich von scharfer (Selbst-)Kritik ist: Die Mächtigen verstehen immer viel von den Wissenschaften: die Gelehrten selber bezeugen es. 301 Unser Fürst liebt die Freiheit des Denkens - und ihren maßvollen Gebrauch. 302 Gelehrte bei Hofe erscheinen leicht so, als wären sie nicht mutig. 303
294
Ernst Bertram: Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge, S. 51. Vorabdruck: Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge. In: Corona 9 (1939/40), S. 199-206. 296 Ernst Bertram: Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge, S. 43. Vorabdruck S. 5-12: Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge. In: Corona 9 (1939/40), S. 199-206. 297 Ebd., S. 10 = Corona 9 (1939/40), S. 203. 298 Ebd., S. 15. 299 Ebd., S. 7 = Corona 9 (1939/40), S. 201. 300 Ebd., S. 25. 301 Ebd., S. 6 = Corona 9 (1939/40), S. 200. 302 Ebd., S. 7 = Corona 9 (1939/40), S. 200. 303 Ebd., S. 19. Zum Zeitbezug und zur Entstehung der einzelnen Teile im Detail Jappe: Bertram, S. 237f. mit Anmerkung 32 und 33. 295
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Spätestens, wenn man »Einen verwachsenen Herrscher hat das Volk am meisten zu fiirchten«304 als konkrete Anspielung auf Goebbels lesen möchte, beginnt die Spekulation, der solche Art von Literatur im nachhinein Tür und Tor öffnet. Wie auch immer: Die ironische Abstandswahrung (»Die Welt wird einfach. Schwarzweiß tritt nun an die Stelle all der verwirrenden Farben und farbigen Halbschatten«305) und die schmerzliche Paradoxie (»Wer der Lust entsagt, der entsagt doch nicht der Lust des Entsagens. Wir kommen immer zum Vorschein«306), die sich in den Aufzeichnungen entwickeln, sind von der selbstgewissen S]prwcA-Sicherheit weit entfernt. Der um 1940 entstandene, aber selbständig in erweiterter Fassung erst 1954 gedruckte Band Moselvilla wählt gleichfalls eine Spätzeit, eine Epoche des Nieder-, vielleicht des Untergangs. Die verschiedenen literarischen Formen, Brieffragmente, exzerpt-ähnliche Notiz oder Tagebuch-Aufzeichnung, im zweiten Teil auch Distichen, dazwischen immer wieder, die Überzahl gewinnend, wenn der historische Rahmen erst hergestellt ist, echte (Rollen)-Aphorismen, sind gleichfalls von Pessimismus, von Altersresignation und Melancholie zusammengehalten, einer Geisteshaltung, aus der die Aphoristiker von Chamfort bis Gómez Dávila bevorzugt die Funken tiefer Einsicht geschlagen haben und die auch bei Bertram-Flavus aus einer für die fiktive Figur realen, für den Autor im metaphorischen Sinne besonders günstigen Beobachtungs- und Reflexionsposition heraus (»[...] Rand und Klarheit, das gehört wohl zusammen«307) mitunter lang Bedenkenswertes in oft ambivalenten Formen bietet: Die innigsten Feste werden am Rande des Niewieder gefeiert. 308 Wen die Götter unselig machen wollen, dem flüstern sie eines ihrer Geheimnisse zu. 309
Es sind Überlegungen und Bekenntnisse zu einem »Reich« - mit Elementen eines originär eigenen, eines »neuen« (George), eines »Dritten« - und einem »Zeitalter«, die der Leser ohne weiteres in die Zeit des Autors überträgt: Wir haben an das Goldene Zeitalter geglaubt, das eine Mal hinter uns, das andre Mal vor uns. Nun wissen wir, daß uns die Götter nur eiserne Zeitalter gönnen. 310 Ein Weltreich zittere vor dem letzten Siege! 311 Wenn ein Reich sich zum Fall neigt, arbeiten auch die Retter mit am Falle des Reiches. 312
Der Glaube an die eigene Person ist in seiner zirkulären Struktur eine zweifelhafte letzte Bastion: »Wenn wir auch von den Göttern verlassen sind, mein Freund, so 304
Ebd., Ebd., 306 Ebd., 307 Ernst 308 Ebd., 309 Ebd., 310 Ebd., 311 Ebd., 312 Ebd., 305
S. 20. S. 39. S. 20. Bertram: Moselvilla, S. 10. S. 11. S. 13. S. 12. S. 17. S. 18.
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doch nicht von uns«.313 Nicht zufällig denkt Bertram, wo es um nicht weniger als Wahrheit oder Irrtum eines Lebenskonzeptes geht, vage und in der Figur der Paradoxie: »Aber laß uns den Mut zu unseren Irrtümern bewahren, Freund. Vielleicht sind unsre ersten Irrtümer immer noch weit fruchtbarer als unsere letzten Wahrheiten«.314 Nicht zufällig geht er damit auf Nietzsche zurück: »Letzte S k e p s i s . - Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? - Es sind die u n w i d e r l e g b a r e n Irrthümer des Menschen«.315 Wo Bertram in der historischen Rolle die Verunsicherung zuläßt, da eröffnet sich gegen jedes schnelle Vorurteil und ungeachtet der offensichtlichen Abhängigkeit die Möglichkeit zu einer formal und inhaltlich immer noch gültigen Aphoristik in eben dem Maße, wie sie sich dort von vorneherein versperrt, wo er in einer Künderpose erstarrt. Der Wanderer von Milet und Das Zedernzimmer reichen anders als die übrigen in den fünfziger Jahren publizierten Bände Bertrams nicht erkennbar in die Zeit des Nationalsozialismus zurück. Weil es aber das Werk eines wichtigen, eines besonderen deutschen Aphoristikers abrundet, ist ein abschließender kurzer Blick darauf dennoch angebracht. Im Zedernzimmer sind in Briefform Weimarer Erinnerungen einer Marie Ravit (?) wiedergegeben, in die sie, wie bei Bertram üblich, nach einer Einleitung wie »Er sagte damals«316 oder »Ich hörte ihn sagen, damals«317 Aufzeichnungen Goethe'scher Worte aus Gesprächen einfügt, »die ich mir vor langer Zeit in meinem Zedernzimmer aufzuschreiben versuchte, immer bald nachdem ich sie gehört«.318 Themen sind im wesentlichen die Kunst, eigene und fremde Dichtungen und einzelne Dichter. Im Wanderer von Milet halten die Aufzeichnungen seines Schülers die Gedanken Hekataios' von Milet zu Geschichtsschreibung und Mythologie und die ErFahrungen seiner Weltreise fest, die ihn bis nach Ägypten und Indien fiihrt. Die Stilisierung auf einen weisen Wandernden und Fragenden ist deutlich. Wie in Moselvilla finden sich zwischen den in zweiter Person direkt an einen Schüler gerichteten Fragmenten häufig auch echte Aphorismen, oft als Reflexion des Vorigen, von der Warnung vor der Hybris abgeleitet beispielsweise: »Die Kinder, die am meisten fragen, werden die klügsten, solange sie die Hybris vermeiden«.319 Wo er sich der verlorenen Heimat erinnert, da ist die Identifikation des Autors mit Händen zu greifen: »Nicht zu sehr trauern sollst du um Milet, weil es vor den Persern in Flammen aufging. Auch du bist Milet. [...] Milet wandert mit uns und unsern Enkeln«.320 Wo er die Verstrickung des Philosophen in die Macht durch die Anmaßung einer Rolle reflektiert - man denkt natürlich sofort an Heidegger - , ar-
313 314 315
316 317 318 319 320
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Ebd., S. 19. Ebd., S. 22. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, S. 518 (Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 265). Ernst Bertram: Das Zedernzimmer, S. 79. Ebd., S. 56. Ebd. Ernst Bertram: Der Wanderer von Milet, S. 9. Ebd., S. 67.
beitet er möglicherweise auch die eigene Lebenserfahrung auf: »Die Philosophen möchten zu gern weithin Herren und Herrscher werden. Aber die wahre Weisheit ist eine Mutter im Verborgenen«.321 Eine Aphoristik, die sich auch zwischen Sprechen und Schweigen bewegt (»Auch die Worte sind Söhne. Aber das Schweigen ist ihre Mutter«322), kann in der Ehrfurcht vor der Überlieferung (»Wir haben die heranzuziehen, die würdig sind, uns zu vergessen«323) wie in ihrem quasireligiösen »Schrift«-Verständnis (»Alle Schrift bleibt Geheimnis, hätten wir auch lesen gelernt. Ja, geheimnisvoller wird jedes Wort, je mehr wir zu lesen lernten«324) ihre Quellen aus Mystik und Romantik nicht verleugnen, weist aber darin und das ist der interessantere, weil unerwartete Zusammenhänge aufschließende Aspekt - gleichzeitig auch voraus, auf Peter Handke und seine Jowrwa/-Aphoristik, die diesen Glauben an das Geheimnis der Schrift-Kunst ausgesprochen wie unausgesprochen in der Art ihrer Notate regelmäßig bezeugt. Die Zeit- und Zivilisationskritik Bertrams kann man ohne weiteres mit der von Botho Strauß in einen Zusammenhang bringen: »Die größten Heroen und Könige starben durch sich selber. So wird auch der Mensch sterben und seine Erde - durch ihn selber«,325 die brüderliche Liebe zum Tier dabei erinnert durchaus an Canetti: »Sollten wir einmal den ganzen Erdkreis beherrschen, so werden unsre älteren Brüder, die Tiere, vor Entsetzen sterben und die Blüten vor Grauen welken«.326 Das ist gewiß eine selektive Lektüre, und im ganzen ist eher der Zusammenhang mit dem hehren Ton der anderen stark stilisierten Denkspruch-Dichter gewahrt, aber die Hinweise sind doch geeignet, feste Kategorien der zuordnenden Abwertung durch erkenntnisfördernde Differenzierung abzulösen, wie es bei einem Aphoristiker allein angemessen ist, der den Nationalsozialismus begrüßt, ihm freudig dient und ihm in vielen Aspekten seines Werks zuzuordnen ist, der aber bei aller Nähe durch seine geistige Eigenständigkeit auch Distanz vermittelt und schließlich vielleicht fast so etwas wie Tragik fllr sich beanspruchen könnte. Ein klarer, scharfer Schnitt verletzte hier gewiß die verwickelten biographischen wie literarhistorischen Befunde. Die Haltung Thomas Manns darf da als beispielhaft gelten, der sich nach Jahren der schmerzhaft empfundenen Distanz bei unerschütterlich klarem Urteil nach dem Krieg nicht erkenntnisverschüttenden Gefühlen der Schadenfreude oder gar der Rache anheimgibt, sondern in anrührender Weise mit Versöhnungsbereitschaft Verständnis verbindet.
321
Ebd., S. 23. Ebd., S. 58. 323 Ebd., S. 69. 324 Ebd., S. 11. 325 Ebd., S. 16. 326 Ebd., S. 15. 322
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3.6. Trivialaphoristik Auch auf der Ebene aphoristischer Trivialliteratur ist die Durchdringung mit nationalsozialistischem Gefühlsgut nachweisbar. Ewald Sator-Buron (geb.1910), Verlagsleiter und Schriftsteller in Wien, zeigt zwar in Der Seele Ruf (1932) bei viel deutscher Verinnerlichung (wie ein Kapitel heißt) eine im Kern undemokratische Einstellung, die der nationalkonservativen Weimar-Skepsis entspricht (»Volksherrschaft ist die Mutter des Volksbetruges«;327 »In der Überparteilichkeit allein liegt die Einheit«328), die Aphorismen in Melodie Mensch (1936) lassen aber keine Anzeichen nationalsozialistischer Wandlung erkennen: »Nationalismus ist der Mörder der Nationen. Richtig verstandenes Nationalgefühl aber führt ins Göttliche«.329 Sie stehen vielmehr in einer Wiener Tradition etwa auf der Linie Alois Essigmanns, geprägt von angestrengt metaphorischen Definitionen (»Die Mode ist der Schimmel der Kultur«330) und trivialen Antithesen (»Der Irrtum ist ein Privileg der vielen, die Wahrheit eine ewige Einsiedlerin«331). Das Mißverhältnis zwischen Wollen und Können, zwischen dem thematischen Anspruch, der niemals auf Geringeres als Menschheit und Sein, Geist und Kunst, Schicksal und Ewigkeit zielt, und der geistig-formalen Bewältigung ist prägnant. Der österreichische Diplomat, Übersetzer und Essayist Paul Thun-Hohenstein (1884-1963) erweist sich in seinen Aphorismen von 1935 als der übliche fromme, zeitlos langweilige Idealist von braver Gesinnung. Die Stichworte gibt er selbst: Noblesse (»die schönste Geste edlen Tuns«332), »Liebenswürdigkeit«,333 »Takt«334 und »Güte«.335 Er hält sich formal, meist unter Verzicht auf Pointe und aufdringliche Stilmittel, an schlichte aphoristische Satzmuster wie: »Manche...«; »Es gibt...«; »Wer..., der...«. »Ein guter Aphorismus dankt seine Knappheit dem Verstände, seinen Gehalt dem Herzen. So kann es nicht fehlen, daß in ihm die ganze Welt enthalten sei«:336 Wo aphoristische Gedrängtheit und Bündigkeit im ewigen Appell an den Herzens-Gehalt mit Kürze an sich verwechselt wird, da ist statt eines inspiriert-inspirierenden Konzentrates nur Frömmigkeit und guter Wille zu erwarten, dazu Ordnungsliebe: »Ordnung ist das höchste, ewig unerreichbare Ideal alles Menschenlebens auf Erden. Könnte es anders sein, wäre Gott ein Phantom und sein Himmel ein Unding«.337 In diesem Sinne >ordentlich< zu sein, ist für den Aphorismus, der seine Kraft darin gewinnt, daß er eine je individuelle GegenOrdnung erprobt, schlechthin unzuträglich. Und was die VerfÜhrbarkeit des Kon327
Ewald Sator-Buron: Der Seele Ruf, S. 42. Ebd. 329 Ewald Sator-Buron: Melodie Mensch, S. 61. 330 Ebd., S. 52. 33 'Ebd., S. 48. 332 Paul Thun-Hohenstein: Aphorismen, S. 22. 333 Ebd., S. 25. 334 Ebd., S. 28. 335 Ebd., S. 33. 336 Ebd., S. 23. 337 Ebd., S. 29. 328
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servativen betrifft, so heißt es im Literaturlexikon, das ihm einige Zeilen widmet, »durch seine christlich-konservative Lebenshaltung sei er resistent gegenüber Zeitgeist und Massenbewegungen - ein trügerischer Irrtum, wie sich nur ein Jahr später zeigte«.338 Erich Limpach (1899-1965), ein oberfränkischer Bezirkszollkommissar, begeht als Lyriker und Verfasser von Skizzen die typische Metamorphose vom Fronterleben (1939; so in Kürschners Deutschem Literaturkalender aus demselben Jahr) während des Dritten Reiches zum Beseelten Sein in den fünfziger Jahren (1942; so im Kürschner 1952): von Deutschland erwache! (1924), Die Front im Spiegel der Seele (1927) und Gestalter Krieg (1935; im Kürschner 1939) zu Wunder am Wege (1941) und Die Weihenacht ist kommen (1941; im Kürschner 1952). Eine größere Anthologie aus den siebziger Jahren kennt ihn wie selbstverständlich als »dt. Aphoristiker«.339 Das ist vor dem Hintergrund eines zumindest quantitativ reichen aphoristischen Werkes, wie es die Quellen im Anhang dokumentieren, auch verständlich: Sprüche von 1933 bis 1938, Aphorismen und Epigramme - er hat auch begrifflich sehr schnell die Zeichen der Zeit erkannt - von 1948 bis 1962. In einer biographischen Notiz zu einem Band mit Epigrammen und Aphorismen von 1962 heißt es kurioserweise gar: »Heute gehört Erich Limpach zu den meistgelesenen deutschen Dichtern«.340 Die repräsentativen literaturhistorischen Werke des Nationalsozialismus nehmen allerdings keine Notiz von ihm. Seine Gedichte, Sprüche und Worte Vom neuen Werden sind Cäsar Flaischlen in den Nationalsozialismus weitergeführt, meist richtig gereimt: »Wer Großem nie sich hingegeben, / der ging vorbei am wahren Leben«.341 Die wenigen aphoristischen Sprüche preisen etwa den Wert der »Kameradschaft« oder solche Revolutionen, die »aus Hunger der Seele«342 entstehen, und es heißt mit entleertem, kleinen Pathos: »Für die Freiheit zu leben ist oft schwerer als dafür zu sterben«.343 Die Aphorismen in Nimmer ruhen die Gedanken stehen unter dem unbestreitbaren Motto »Das Gute im Menschen ist das Beste auf der Welt«344 zwischen Zwei- und Vierzeilern im Stammbuch- und Wilhelm-Busch-Ton, die in trivialer Form trivialste Lebensweisheit plakatieren und die scheinbar unkorrumpierbaren Werte der deutschen Innerlichkeit, Andacht, Traum und Einsamkeit, Güte, Freude und Seligkeit, preisen. Vor allem Herz und Seele werden unzählige Male variiert, immer noch im Sinne der Herzensaphoristik eines Georg von Oertzen oder Otto von Leixner im 19. Jahrhundert;345 »Führer« - daran kann niemand Anstoß nehmen - ist in der zweiten Aufla338
Gerald Leitner: Paul Graf von Thun-Hohenstein. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Bd. 11. Gütersloh: Bertelsmann 1991, S. 355. 339 Lothar Schmidt: Schlagfertige Definitionen. Von Aberglaube bis Zynismus. 5000 geschliffene Begriffsbeschreibungen für Rede, Gespräch, Diskussion, Referat, Artikel oder Brief, (rororo 6186) Reinbek: Rowohlt 1976. 340 Erich Limpach: Felsen im Strom, S. 159. 341 Erich Limpach: Von neuem Werden, S. 38. 342 Ebd., S. 58. 343 Ebd. 344 Erich Limpach: Nimmer ruhen die Gedanken. 2. Aufl. 1948. 345 Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 156f. und 244f.
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ge von 1948 wieder nur noch das »Herz«,346 schöpferisch wie die Seele: »Echte Dichtung ist mit der Seele geschautes Leben«.347 Ganz im Sinne der deutschnationalen Kritiker aus der Weimarer Republik geht die stereotype Abwertung des Intellekts damit einher. Die Verbindung mit Nationalklischees allerdings verbietet sich für den Augenblick. Die überlebte Ideologie ist nur noch in Sedimenten vorhanden: »Die seelische Haltung eines Volkes bestimmt sein Leben und seine Zukunft«. 348 Ganz nach dem Vorbild Bluncks (»Kunst ist Rechtfertigung eines Volkes vor Gott«) rührt Limpach immer noch Kunst und Kultur mit Gott und Volk zusammen: »Kultur ist der lebendigste Ausdruck des Gotterlebens eines Volkes«. 349 Statt Gestalter Krieg und Fronterlebnis heißt es jetzt treuherzig-vergeßlich: »Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als den im Militarismus zum Selbstzweck entarteten Wehrgedanken«.350 Die Aphoristik Limpachs in den fünfziger Jahren setzt auf altbewährte Lebensweisheiten und bleibt den Trivialwerten von Humor, Güte und herzlicher Innerlichkeit verbunden, mit denen sie trotz unfreiwilliger Komik gegen jede Zeitenwende resistent ist: »Wer mit dem Herzen sieht, sieht mehr«.351 An die nationalsozialistischen Anfänge erinnert sie, etwa wenn sie »eine Armee ohne völkische Ideale«352 bemängelt, nur selten (»Wo die Kunst den Boden des Volkstums verläßt, entartet sie«353), aber durchaus kräftig: »Die Vermassung führt über die Entrassung zum Seelentod der Völker«.354 Unbekümmert um die tödliche Pervertierung dieses Gedankens, von der bei Bindung die Rede war, formuliert sie weiterhin apodiktisch: »Alles Gültige erwächst aus der Hingabe«.355 Zur Vergangenheitsbewältigung trägt sie mit dem Aphorismus »Die beste Bewältigung unserer Vergangenheit ist die sinnvolle Gestaltung unserer Zukunft« 356 nicht bei; diese höchst anfechtbare These ist ja nichts als der Appell, an die jüngst vergangenen Ungeschicklichkeiten nicht mehr zu rühren. Schließlich ist auf kleinere Zeitschriftenbeiträge zu verweisen, auf Hans Marcard, der »Gedanken eines Frontsoldaten«357 zu Führer und Gefolgschaft notiert, auf Adolf Pickert, dessen »Aphorismen« in »Das Innere Reich« erscheinen (»Auch Sprachpflege ist Gemeinschaftsdienst«358), aber auch auf einen älteren Autor wie 346
Erich Limpach: Nimmer ruhen die Gedanken, S. 15. Ebd., S. 22. 348 Ebd., S. 36. 349 Ebd., S. 19. 350 Ebd., S. 41. Wenn es dann obendrein heißt: »Unser Erinnerungsvermögen vermag unsere bösen Taten schärfer zu ahnden - als alle Gesetze der menschlichen Gesellschaft« (S. 62), dann darf man wohl von anmerkungswerter Chuzpe sprechen. 351 Erich Limpach: Der Weg ins Wesentliche, S. 108. 352 Erich Limpach: Felsen im Strom, S. 144. Vgl. Limpach: Der Weg ins Wesentliche, S. 129. 353 Erich Limpach: Der Weg ins Wesentliche, S. 129. Vgl. ebd. S. 131. 354 Erich Limpach: Felsen im Strom, S. 143. 355 Erich Limpach: Der Weg ins Wesentliche, S. 128. 356 Erich Limpach: Felsen im Strom, S. 145. 357 Hans Marcard: Gedanken eines Frontsoldaten. In: Das Innere Reich 7 (1940/41), S. 183. 358 Adolf Pickert: Aphorismen. In: Das Innere Reich 8 (1941/42), S. 138-141. 347
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Johannes Schlaf, dem Will Vespers »Neue Literatur« mit »Aphorismen über das Wesen der Kunst« eine kleine Hommage zum 75. Geburtstag bietet und dessen religiöse Kunstdeutung wie erwartet in die neue Religion einmündet: »Sind aber die Grundmöglichkeiten hierfür [für eine religiöse Weltanschauung] irgend gegeben, so in dem Geiste und Auftrieb deutscher Rasseseele, wie er jetzt durch den Führer so glorreich geweckt worden ist!«359
3.7. Aphorismen neben dem und gegen den Nationalsozialismus Das Bild des deutschen Aphorismus zur Zeit des Nationalsozialismus wäre nach den Eingangsbemerkungen unvollständig, wollte man es nicht durch die Autoren ergänzen, die während dieser Zeit in einem Spektrum von stiller Sympathie, bürgerlich-konservativer Reserve, Gleichgültigkeit und (unzulässiger) Arglosigkeit, Widerwillen und verdecktem aktiven Widerstand veröffentlicht werden oder (im Fall Haeckers) schreiben. In einzelnen Aspekten haben wir dieses Feld ja bei Bertram bereits betreten. Wenn eingangs optimistisch von sichtbar werdenden Zusammenhängen die Rede war, so gilt, ohne das irgend einzuschränken, doch auch, daß sich hier die Grenzen einer so kleinschrittig zäsurienden Betrachtung zeigen. Ernst Jüngers Beiträge in dieser Zeit sind vornehmlich in ein sich über 60 Jahre erstreckendes aphoristisches Lebenswerk einzuordnen, Theodor Haeckers aphoristisches Tagebuch aus der Kriegszeit ist in dem denkerischen Kontext zu sehen, der sich bis zu seiner Konversion 1921 und darüber hinaus zurückverfolgen läßt. Nicht nur ein Trivialautor wie Erich Limpach kann den Großteil seines inhaltlichformalen Repertoires ungebrochen weiterführen, auch Ernst Wilhelm Eschmann, Otto Heuscheie, Martin Kessel veröffentlichen in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren Aphorismenbände, die im engsten Zusammenhang zu ihrem Werk aus den 30er und 40er Jahren stehen. Was es für jeden dieser Autoren bedeutet, im Nationalsozialismus gewissermaßen am Rande der Bewegung zu publizieren, läßt sich nur jeweils einzeln darlegen; nicht Differenzierungen, klare Differenzen sind unter diesem Gesichtspunkt zwischen Heuscheie und Haecker zu machen. So dienen diese abschließenden aphoristischen Porträts zur Ergänzung, indem sie den Akzent auf Punkte legen, an denen die Autoren den Reflex auf den Totalitarismus erkennen lassen, im Zugeständnis wie in der heimlich aufgezeichneten Auseinandersetzung, bis hinein in die Nachkriegspublikationen. An Otto Heuscheie (geb. 1900) läßt sich die Kompromißbereitschaft, die spezifische Flexibilität, unfreundlich offen: die Anpassungsbereitschaft des konservativen Autors gut exemplifizieren. Die Aphorismen in seinem Buch des Dankes an die Freunde (1930) lassen erkennen, daß ihr Autor in Teilbereichen durchaus für die in naher Zukunft herrschende Ideologie prädisponiert ist. Neben ihren klassischen Grundvorstellungen von Ordnung, Verwandlung, Gestalt, von Größe, See359
Johannes Schlaf: Aphorismen über das Wesen der Kunst. In: Die Neue Literatur 38 (1937), S. 329.
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len-Adel und begnadetem Künstlertum, die vornehmlich an Goethe und in der Gegenwart an Hofmannsthal orientiert sind, ist die Idee eines auf Glaube und Gefolgschaft beruhenden »Führertums«360 ausgebreitet. Die Überzeugung, »der größte schöpferische Mensch« könne »seine schöpferische Kraft nur aus dem Volke speisen«,361 wird er problemlos ins Dritte Reich hinübergetragen haben können. Sein Verständnis von Kritik würde bei Euringer so wenig wie bei Goebbels auf Kritik stoßen: »Niemals kam aus Verneinung und Kritik Heil und Hilfe, allein aus Glauben und Kraft der Schau auch über Verfall und Untergang hinweg«.362 Heuscheies Fragmente über das Dichtertum, den Dichter und das Dichterische363 von 1937 sind gewiß nicht dem Nationalsozialismus zuzuordnen, allerdings ist es noch gewisser, daß bei ihnen von keinerlei verstecktem >Widerstand< die Rede sein kann. Sie vertreten vielmehr mit Begriffen wie Gnade, Amt, Adel, Lebenshilfe gleichfalls einen klassischen Begriff von der Dichtung wie vom Dichter, bei der die Berufung auf der einen der Erbauung auf der anderen Seite entspricht. Ein bißchen Reserve gegenüber der Zeit kann ihm dabei niemand seiner Zeitgenossen übelnehmen, führt er damit doch lediglich einen literaturkritischen Topos seit der Jahrhundertwende weiter: »Was die Zeit von der Dichtung fordert, wird sie aber nur selten völlig erfüllen können«,364 zumal er andererseits auch ein bißchen Zeitkolorit hinzugibt: »Es ist die Aufgabe der Dichtung, mit zu arbeiten an der Bildung einer Nation und die schon gewordene Nation zu erhalten«.365 Was aber »die Stellung des Dichters im Volke« betrifft, da ist Klarheit geboten und von der alten Vorstellung des einsamen Sehers im Elfenbeinturm weiter Abstand zu nehmen, da ist der Ansatz von 1930 kräftig zu akzentuieren: Nur wenige wissen, daß der wirkliche Dichter, und von ihm sprechen wir hier nur, in der Gemeinschaft des Volkes so wichtig ist wie der Arzt und der Seelsorger, der Offizier und der Beamte. Sein Amt ist ein Hüter- und Wächteramt der Sprache und damit der Seele und des Herzens. Er wacht über dem kostbarsten Gut eines Volkes, über der Sprache. 366
Wo Heuscheie mit großen Worten von der Verantwortung »vor dem ewigen, aber das Höchste fordernden Genius der Poesie« spricht, wirkt es da nicht wie dem Zeitgeist zuliebe angehängt: »und dem Gewissen der Nation«;367 und wo er unbeirrt durch eine auch literarisch säkularisierte Zeit (fast) endet: »Der Dichter spricht im Auftrag Gottes«, ist da der Kompromiß nicht geradezu stilistisch zu spüren im nachklappernden: »und seines Volkes«?368 Die Fragmente sind denn auch wieder-
360 361 362 363
364 365 366 367 368
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Otto Heuscheie: Buch des Dankes an die Freunde, S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 52. Otto Heuscheie: Fragmente über das Dichtertum, den Dichter und das Dichterische. In: Die neue Literatur 38 (1937), S. 541-548. Ebd., S. 547. Ebd., S. 543. Ebd., S. 542. Ebd., S. 545. Ebd.
abgedruckt in der Dankesgabe des Europäischen Schrifttums an Hans Friedrich Blunck,369 einen der »führenden« nationalsozialistischen Dichter. »Echter Geist ist unzerstörbar«:370 So kann Heuscheie über die Zeiten hinweg noch Ende der siebziger Jahre in gleichem Sinne vom »Amt« und von der »Gemeinschaft« sprechen; das »Volk« ist inopportun, das Führertum zu »geistiger Führung«371 geworden: »Das Amt des Dichters ist eines der höchsten in der Gemeinschaft. Daraus mag geschlossen werden, wieviel Verantwortung er auf sich zu nehmen hat«.372 In seiner Sammlung Augenblicke des Lebens von 1968 finden sich die Fragmente allerdings nicht, auch wenn diese Aphorismen laut Nachbemerkung an Aufweichungen anschließen, »die im Jahre 1930 in dem >Buch des Dankes an die Freunde< erschienen«.373 Der Band vertritt das Konzept von 1930, ohne die damalige Verankerung in Volk und Nation explizit zu machen, geht aber im Grunde mit seinem antizivilisatorischen Affekt, der sich gegen Großstadt und Maschine, Technik und Bürokratie wendet, noch weiter zurück: Heimatkunst, Neuromantik, Jugendbewegung sind seine Quellen. Heuscheie verteidigt eine ewige »Menschlichkeit« gegen jede Art von Moderne, von Kunststoff und Atombombe bis zu moderner Dichtung als Sprachzerstörung: »Der Mensch ist heute in Gefahr, unmerklich seine Menschlichkeit zu verlieren.f.. ,]«.374 Der Glaube an die »Wahrheit, das Gute, das Schöne«375 und der »Sinn für Rang, Maß und Form«376 herrschen ungebrochen; die Leitvorstellungen sind zeitenthoben-ewig und durch keinerlei historischen Prozeß korrumpierbar: Größe und Elite, Gnade und Opfer: »[...] Kultur lebt nur durch Opfer«.377 Mit auch ganz konkreten - ethisch-moralischen Forderungen hält er die »die Maßstäbe reinen Menschentums«378 hoch, gut gemeint und ehrenwert und in immer derselben tückischen Antithese: indem er die »Kraft unseres Herzens«379 gegen den Geist ausspielt: »Nicht aller Geist ist gleichen Ranges. Es ist das Herz, von dem der Geist seinen Rang empfängt«.380 Von geistesaristokratischem Zuschnitt nicht anders als Heuscheie (»Jede große Kunst ist aristokratisch«381) erscheint Ernst Wilhelm Eschmann (1905-1987). Er ist nach 1930 Mitglied des antiliberalistischen und antidemokratischen Tatkreises um Hans Zehrer, der den Nazis trotz kritischer Distanz geistig objektiv zuarbeitet;
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In: Demut vor Gott. Ehre dem Reich. Hochzeit der Künste. Eine Dankesgabe des europäischen Schrifttums an Hans Friedrich Blunck, S. 22-29. Auch separat gedruckt: 2. Auflage. Burg Giebichenstein: Werkstätten der Stadt Halle 1941. 370 Otto Heuscheie: Signale, S. 22. 371 Ebd., S. 38. 372 Ebd., S. 43. 373 Otto Heuscheie: Augenblicke des Lebens, S. 96. 374 Ebd., S. 17. 375 Ebd., S. 24. 376 Ebd., S. 10. 377 Ebd., S. 71. 378 Ebd., S. 60. 379 Ebd., S. 45. 380 Ebd., S. 93. 381 Otto Heuscheie: Buch des Dankes an die Freunde, S. 13.
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ab 1936 ist er neben Giselher Wirsing Mitherausgeber der Tat, der in diesen Jahren »ein radikal nazistisches Programm«382 bescheinigt wird. Er ist als Soziologe an Alfred Weber orientiert, ab 1943 außerordentlicher Professor, später Philosophieprofessor in Münster und vergleichender Religionswissenschaftler, ein vielseitiger Autor, der sich auf allen literarischen Feldern von der Lyrik bis zum politischen Sachbuch versucht hat. Seine Aphorismen Aus dem Punktbuch aus dem Jahre 1942 bewegen sich im Dreieck von Religion, Wissenschaft und Literatur, dabei durchweg angesiedelt in den ambivalenten Zwischenräumen von Nacht und Tag (S. 21), Frage und Antwort (S. 18), Wahrheit und Irrtum (S. 21), Wissen und Nichtwissen (S. 34), Wirklichkeit und Unwirklichkeit (S. 20), Subjektivität und Objektivität (S. 36). Die Gottes-Reflexion zieht sich durch, geprägt von der Forderung nach einer Zusammenschau aller Religionen und mit umkreisenden Definitionsversuchen bis in die Umkehrung hinein: »Gott ist die beliebteste Maske des Teufels«.383 Formal sind diese Aphorismen nicht einheitlich. Neben unpointierten Reflexionen zu Büchern oder Bildern bis hin zu einzelnen Zitaten finden sich psychologische Einsichten (»Wir beschuldigen die anderen meistens der Fehler, von denen wir im Augenblick der Anklage gerade selbst besessen sind«384), die an die klassische Moralistik erinnern, auch in der an den Franzosen geschulten Form: »Wo man nicht lieben kann, da soll man auch nicht hassen«.385 Wenn das auch nicht besonders originell anmutet, so bietet Eschmann aber andererseits auch manchen bedenkenswerten Ansatz und Anstoß: »Was wir leben, ist Rückkehr«;386 »Die Antworten sind vor den Fragen da. Sie bringen diese erst hervor«.387 Wie weit die späten Einträge im Raum (1967) davon zeugen, daß er seine Maxime »Das Denken muß sich immer wieder von seinen eigenen Krusten befreien«388 stets auf sein eigenes Denken angewandt hat, steht dahin. Sie sind jedenfalls unverändert theologisch konzentriert und greifen zum Teil auf die Texte von 1942 überarbeitend zurück. Ernst Jüngers (1895-1998) Verhältnis zum Nationalsozialismus ist oft und kontrovers diskutiert worden; Wegbereiter ist er den einen, Widerstandsschriftsteller den anderen gewesen. So nahe er verschiedenen Ideen des Nationalsozialismus in den zwanziger Jahren steht, so wenig hat er sich nach 1933 von ihm vereinnahmen lassen; gegen Ende des Krieges gerät er durch seine Nähe zum militärischen Widerstand in konkrete Gefahr. Seine Aphoristik der 30er und 40er Jahre dokumentiert sich vor allem in dem Anhang zu Blätter und Steine von 1934; in den Tagebüchern 1939 bis 1945 ist eine Reihe von Aphorismen wie die unter dem 23. November 1941 verzeichnete die Ausnahme. 389 Den Anhang nennt er unbeküm382
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Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften. Teil II: 1910-1933. (Sammlung Metzler 24) Stuttgart: Metzler 1962, S. 83. Ernst Wilhelm Eschmann: Aus dem Punktbuch, S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ernst Wilhelm Eschmann: Einträge im Raum, S. 10. Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Erste Abteilung: Tagebücher. Band 2: Tagebücher II (Strahlungen I). Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 276.
mert um die Frage der Versgliederung »epigrammatisch«, er sammelt gleichwohl formal einheitliche Aphorismen. Sein Plädoyer für »geschliffene Dunkelheit« als »Kennzeichen höchsten Stils« 390 ist durchaus selbstbezüglich zu lesen. Auch nimmt er eine Leitmetapher der aphoristischen Poetologie auf: »In einer Prosa, die auf Konklusionen verzichtet, müssen die Sätze wie Samenkörner sein«. 391 Zu den Themenkreisen Gott und Tod treten Literatur und Sprache, Lektüreerfahrungen sowie auf die eigene schriftstellerische Arbeit bezogene Sprachreflexion: »Wer Begriffe züchtet, muß wissen, was apportiert werden soll«; 392 »Wer Systeme begründet, indem er die Worte kastriert, pflanzt taube Nüsse ein«. 393 Man faßt in diesem Anhang Mosaikstücke der Weltanschauung Jüngers. Da ist zunächst das antidemokratisch Elitäre. Immer wieder werden der Abstand vom »Pöbel« (»Der Pöbel speichelt seine Beute durch Lobsprüche ein« 394 ) und der grundsätzliche Zweifel an der Demokratie artikuliert (»Die Demokratie erstrebt einen Zustand, in der jeder jedem eine Frage stellen darf« 395 ). Sie sind grundiert von grundsätzlicher Staatstreue: »Der Staat ist Vaterland, die Heimat Mutterland«. 396 Daneben offenbaren die Aphorismen die Vorliebe ihres Autors für die große Geste, denkerisch wie existentiell: »Wenn der Zweifel seine letzten Triumphe errungen hat, tritt der Schmerz in die Arena ein«. 397 Sie enden: »In Stürmen gereift«. 398 Jünger denkt sich mit Vorliebe in die Extremsituation, in die Gefahr, in den »Gang auf Leben und Tod«, 399 in Duell, Selbstmord, Verbrechen, das Heroische, den Nihilismus. Seine Aphorismen erkunden das Trans-Logische, das Archaische, die Bereiche jenseits des Willens. Martin Kessel (1901-1990) veröffentlicht nach Romanen, Novellen und Essays schon seit 1938 auch Aphorismen. Was sich später zu einem besonders wichtigen Teil seiner literarischen Tätigkeit entwickelt hat (Aphorismen, 1948, Gegengabe, 1960), bildet hier noch nur »einen aphoristischen Anhang« zu den Essays seiner Romantischen Miniaturen. Zwei Zentren sind miteinander verknüpft: Romantik (Das romantische Beispiel) und poetische Reflexion. Als »Moralisch-Romantisches« versteht er die aphoristische Arbeit an der Begrenztheit der wörtlichem Wahrheit. Die Aphorismen sind inhaltlich und formal von einer Kreisstruktur geprägt: Wie Kessel am Ende in dem Kapitel Rings um den Leser wieder auf das Märchen zurückkommt, das in den einleitenden Reflexionen zum Romantischen in der Gegenwart eine Leitidee darstellt (wie der Irrweg oder »das Ungefähr«), so kehrt er hier zu der Form des Anfangs zurück, die an der Grenze zum Kürzestessay steht. In den mittleren Teilen erprobt er sich hingegen in den klassischen Formen 390
Ernst Jünger: Sämtliche Werke, Bd. 12, Essays VI, S. 512. Ebd., S. 507. 392 Ebd., S. 509. 393 Ebd., S. 512. 394 Ebd., S. 510. 395 Ebd. 396 Ebd. 397 Ebd., S. 512. 398 Ebd., S. 514 399 Ebd., S. 512. 391
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an den klassischen Themen: an Kunst und Künstler, an der Frauenschelte (»Von einem schreibenden Weibe: eine Fuhre Mist, im Fingerhut dargereicht«400), am pointierten Porträt in den Charakteren, für das La Bruyère Pate steht: »Er benahm sich wie ein genialer Klavierspieler, ohne zu bedenken, daß ein genialer Klavierspieler sich nicht so benommen hätte«.401 Seine Ketzereien stehen in der satirischen Tradition der Gattung: »Es ist die romantische Tragikomödie des Intellektuellen, j a seine Erbschleicherei, daß er immer wieder versucht, mit Worten in den Arsch der Taten zu kriechen«.402 Wo er in Deutschen Wahrheiten vereinzelt nationale Kategorien bemüht, etwa das deutsche Märchen dem französischen Roman entgegenhält, und auf eigene Weise, aber doch in Konformität gelegentlich allzu zeitgemäß Deutsches formuliert, da ändert er es 1960 ab.403 Viel hat er indessen nicht zu redigieren; seine aphoristische Summe, die Gegengabe, enthält sehr viele der älteren Texte unverändert. Was für ihre formale Bandbreite gilt, das gilt für ihre Qualität. Gelegentlich stellen sie nicht mehr als die Variation eines altbekannten Gedankens dar: »Der hat Freiheit, wer die richtige Wahl seiner Grenzen zu treffen versteht«.404 Dann wieder treten sie als zwar treffende, aber nur >hübschedas< System voraussetzt«.451 Haecker akzentuiert sein Tagebuchschreiben aphoristisch, anders als beispielsweise Friedrich Reck-Malleczewen (Tagebuch eines Verzweifelten, 1947), Ruth Andreas-Friedrich (Der Schattenmann, 1947), Ernst Jünger {Strahlungen, 1949), Jochen Klepper (Unter dem Schatten deiner Flügel, 1956), Victor Klemperer {Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, 1995), mit deren Tagebüchern das seine ansonsten in einer Reihe steht. Niemand anderer als Karl Kraus ist sein stilistischer Lehrmeister. Kraus hat auf den Brenner-Kreis, auch auf Carl Dallago und Ferdinand Ebner,452 trotz mancher Distanzierungsversuche stark eingewirkt, und Haecker sagt von sich selbst - Stieg zitiert es - : »Ich bin ohne Karl Kraus nicht denkbar«.453 In den Tag- und Nachtbüchern aber heißt es: Ich halte Karl Kraus für einen großen Schriftsteller, aber ich möchte doch die Fackel nicht geschrieben haben. Es geht eben um mehr als um Schriftstellerei. [...] Um was? Nun ich kann es einigermaßen durch die folgende Bemerkung klarer machen: Ich halte
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Haecker: Tag- und Nachtbücher 1939-1945, S. 168 (Nr. 749). Ebd., S. 139 (Nr. 657). Siefken: The Diarist Theodor Haecker. 1939-1945. In: Oxford German Studies 18 (1988), S. 125. So aus dem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach zit. von Siefken: The Diarist Theodor Haecker. 1939-1945. In: Oxford German Studies 18 (1988), S. 126. Ebd., S. 127. Gerald Stieg: Der Brenner und die Fackel. 1976. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 318-319. Gerald Stieg: Karl Kraus und Theodor Haecker. In: G. S.: Der Brenner und die Fackel, S. 153.
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Hilty für keinen großen Schriftsteller und für keinen großen Philosophen - aber ich möchte viele seiner Sachen geschrieben haben, denn er war ein Freund Gottes. 454
Der Aphorismus in seinem Tagebuch ist nicht von Kraus her zu verstehen. Zur Pointe bemerkt Haecker, mit eigenwilliger Begründung und letztlich doch halbherzig: »Es gibt Schriftsteller, die immer pointiert schreiben, auch wenn sie von Dingen schreiben, die gar keine Pointe haben; und das ist vom Übel und recht eigentlich unnatürlich. Die Welt ist rund, sie ist nicht spitz. Aber vielleicht sagt einer: das ist ja auch eine Pointe!«455 Daß er seine Aphorismen mitten in der Nacht, »nicht vorher und nicht nachher«, schreibe, begründet er: »Vorher bist du eins mit dem Lärmenden des Tages und danach mit dem Schlafenden der Nacht. Seiende Mitte löst und trennt dich. Und erlöst dich in einem glücklichen Wort der Zeit. Und du ahnst, daß das Wort der Ewigkeit die Erlösung selber ist«.456 Für Haecker, der sich das Polemisch-Satirische seiner Frühzeit verboten hat, weil es verletzen könnte,457 steht eindeutig höher als literarische Qualität die richtige: die christlich-religiöse Orientierung, >Gottesfreundschaft< und »Erlösung«, eben »>das< System«, das er voraussetze. Die Eigenart seines aphoristisch-diaristischen Schreibens zeigt sich in der Zusammenführung des politischen und des religiösen Themenstranges als Argumentation gegen die falsche »deutsche Herrgott-Religion«;458 der Krieg ist ein »Religionskrieg«,459 ein Gottesgericht, an dessen Ausgang deshalb kein Zweifel ist: Die Deutschen werden »von Gott selber besiegt werden«.460 Ein Aphorismus ohne diesen doppelten Bezugspunkt fällt absolut heraus: »Was ich erklären kann, dessen Herr bin ich«.461 Das Spezifische artikuliert sich in Passagen Ad se ipsum, in Dialogen (Replik) und in Selbstgesprächen mit der eigenen Stimme des Gewissens, die der moralischen Selbstvergewisserung dienen und sich der rationalen Analyse entziehen: »So schwarz war alles in meinem Leben und Gott hat es gelichtet. Vergiß es nicht o mein Herz. Vergiß es nicht!«462 In solchem Geiste und ebendieser prophetischen Sprache kommentiert und reflektiert das Tagebuch die Tagesereignisse in Aphorismen, die existentielle Kategorien wie die Schuld, das Böse, Angst, Leiden und Verzweiflung, die Liebe bemühen (»Die Stunde des Bösen, das ist die Stunde, da der Teufel mehr >Wunder< tut, als Gott«463) und übergangslos zur Gebetsanrufung werden. In solchem Geiste
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Haecker: Tag- und Nachtbiicher, S. 124 (Nr. 594). Ebd., S. 176 (Nr. 774). Zit. nach Siefken: The Diarist Theodor Haecker. 1939-1945. In: Oxford German Studies 18 (1988), S. 126. 457 »Meine Angst vor der Satire«: Haecker: Tag- und Nachtbticher, S. 59 (Nr. 227); vgl. S. 26 (Nr. 36). 458 Ebd., S. 39 (Nr. 112). 459 Ebd., S. 58 (Nr. 224). 460 Ebd., S. 52 (Nr. 191). 461 Ebd., S. 183 (Nr. 816). 462 Ebd., S. 50 (Nr. 180). 463 Ebd., S. 76 (Nr. 319). 455
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pflegt es seine Sprachkritik (etwa »Hakenkreuzzug«;464 zu Stereotypen wie »planmäßig« und »einmalig«), in dieser Hinsicht der »lingua tertii imperii« Klemperers nicht fern. Haecker mythisiert und typisiert auf einen Kampf ewiger Mächte hin, ohne das Zeithistorische zu verdünnen und zu verflüchtigen. Kierkegaard ist ihm selbstverständlich die Leitfigur dabei, Nietzsche der Urheber des Bösen: »Nietzsche, R. Wagner und H. St. Chamberlain sind in der Tat die hauptsächlichsten Verursacher des heutigen deutschen Geisteszustandes. Sie sind die Beweger der Täter und Untäter«.465 »In dieser Sphäre ist nicht zu diskutieren«.466 Zumindest in formaler Abgrenzung ist hier auch auf das Werk des Theologen, Philosophen und Professors für mathematische Logik Heinrich Scholz (18841956) vor und nach 1945 zu verweisen. Es sind weniger Aphorismen als Fragmente in einer locker zusammenhängenden Form, die der konnexionsloser Aphorismen ähnelt. In gewisser Weise erinnern sie formal an den älteren wissenschaftlichen Aphorismus-Begriff. Wie Adolph von Knigge etwa Über den Umgang mit Menschen im Zusammenhang der Lebensphilosophie des 18. Jahrhunderts »kein vollständiges System, aber Bruchstücke«467 gibt, so heißt es bei Scholz: »Der Philosoph braucht nicht ein System zu haben. [...] Es gibt Bruchstücke, aus denen man zurückschließen kann auf die Existenz eines Ganzen, dem sie angehören. Es scheint mir, daß die folgenden Fragmente Bruchstücke sind von dieser Art«.468 Der Gedanke vom inneren Zusammenhang des äußerlich Unverbundenen zieht sich im übrigen durch die Geschichte der Gattung.469 Die Fragmente eines Platonikers (1940) reflektieren in dieser Form Fragen zur Stellung des Philosophen »im Gefüge der Welt«, »Zur Signatur des Philosophen« sowie explizit die eigene Position, die Religiosität sowie »Mut« und »Haltung« eines hohen Lehrer-Ethos mit logischer Klarheit verbindet. »Die meisten NichtMathematiker halten die Mathematik für eine Art von Magie. Sie irren sich sehr«:470 Mit den Fragmenten zur Logik und Mathematik darin scheint Scholz (gegen die Chronologie) auf Eschmann zu antworten: »Die Mathematik ist die am weitesten getriebene Magie«.471 Unter dem Titel Der Forscher legt er zwei Jahre später aphoristische Erörterungen zu Grundbegriffen der Wissenschaft vor, streng logisch, wie es ihm ansteht, von Definitionen zu Aussage, Problem, Erkenntnis, Wissenschaft ausgehend und 464
Ebd., S. 35 (Nr. 87). Ebd., S. 28 (Nr. 54). 466 Ebd., S. 43 (Nr. 129). 467 Adolph von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hg. von Karl-Heinz Göttert. (RUB 1138) Stuttgart: Reclam 1991, S. 15. - Vgl. Werner Helmich: Fiktionale Aphoristik in der italienischen, französischen und spanischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. In: Sybille Groß / Axel Schönberger (Hg.): Dulce et decorum est philologiam colere. Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag. Berlin: Domus Editoria Europaea 1999, S. 1593-1614. 468 Heinrich Scholz: Fragmente eines Platonikers, S. 7. 469 vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 352-361. 470 Heinrich Scholz: Fragmente eines Platonikers, S. 51. 471 Ernst Wilhelm Eschmann: Aus dem Punktbuch, S. 40. 465
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den Umkreis von Frage, Methode, Hypothese abschreitend. Auch Grundfragen, die den Aphorismus selbst in seiner Stellung zwischen Literatur und Wissenschaft berühren, kommen dabei abgrenzend in den Blick, zur Sprache etwa oder zum Aperfuhaften: »Je weniger ein Forscher von sich verlangt, um so schneller ist er bereit, aus einem Apper?u eine Theorie zu machen«.472 Dem schlicht wie selbstverständlich anmutenden Ausgangspunkt, »daß es eine Wissenschaft, die aus Vorschriften besteht, nicht gibt«,473 darf und muß man zur Zeit einer weitestgehend vorschriftsmäßigem Wissenschaft eine konkret politische Bedeutung durchaus zumessen. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems erörtert Scholz Zwischen den Zeiten (1946), im zeitangemessenen Pathos und mit dem Tenor der Wahrheitsliebe, wie Karl Jaspers, C. G. Jung und andere die kollektive Verantwortlichkeit der Deutschen: »Wir haften alle für dieses Unheil; denn es konnte vorausgesehen werden. Dies genügt«.474 Der Forderung: »Wir werden den Popanz um N i e t z s c h e abbauen müssen bis auf den Grund«,475 genügt er selbst zwei Jahre später mit einer gleichfalls quasiaphoristisch konzipierten Schrift Begegnung mit Nietzsche. Nietzsche erscheint hier in der Interpretation, mit der ihn das Dritte Reich sich dienstbar gemacht hat, als ein heillos exzentrischer Übermensch, der den Krieg, die Euthanasie, überhaupt jede Brutalität vorab rechtfertigte. Mit diesem falschen Erzieher rechnet Scholz von dem Protestantismus eines Karl Barth her mit einem hohen Maß an Emphase, aber nicht undifferenziert ab. »Man höre stattdessen Kierkegaard«:476 Wenn diese explizite Ablösung auch in ihrem Kern weit aus unserem gattungsbegrenzten Ausschnitt hinausweist, so scheint doch deutlich, daß der jahrzehntelang richtungweisende Einfluß Nietzsches auch in der Gattungsgeschichte durch seine nationalsozialistische Pervertierung gebrochen ist. Geistige Selbstvergewisserung und Neubesinnung auf Werte wie Größe und Standfestigkeit leiten Scholz auch in dem Band Von großen Menschen und Dingen. Die »Fragmentenfolge«, in der er abgefaßt ist, entspricht auf weite Strecken durchaus einem gängigen Aphorismus-Verständnis: »Alles Große ist groß für den, der es fühlt. Es existiert für die, die emporsehen zu ihm«;477 »Das Dämonische ist die Korrektur jeder Metaphysik, die das Böse in den Strahlen des Guten verschwinden läßt«.478 Ganz ähnlich wie einige Jahre zuvor erläutert die Vorrede: »Man rechne daher nicht auf Paradoxien und erst recht nicht auf irgend etwas, was blenden soll. Man rechne auch nicht auf Dunkelheiten, die einen Tiefsinn vorspie472
Heinrich Scholz: Der Forscher. In: Archiv f. Rechts- und Sozial-Philosophie 35 (1942), S. 22. 473 Ebd., S. 2. Vgl. auch Carl August Emges Aphorismen »Diesseits und jenseits des Unrechts« in derselben Lichtenbergs 200. Geburtstag gewidmeten Nummer der Zeitschrift, S. 184-564. 474 Heinrich Scholz: Zwischen den Zeiten, S. 9. 475 Ebd., S. 18. 476 Heinrich Scholz: Begegnung mit Nietzsche, S. 39. 477 Heinrich Scholz: Von großen Menschen und Dingen. S. 9. 478 Ebd., S. 26.
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geln sollen, wo nichts als ein Mangel an Deutlichkeit vorliegt«.479 Von Kahlschlag-Aphorismus zu reden, wäre nichts als eine hübsche Analogie. Aber es ist doch auch im Gattungssinne deutlich die Zeit der Nüchternheit. >Geblendet< worden sind die Menschen mehr als hinreichend, >Tiefsinn vorgespiegelt haben sie auch genug bekommen. So erklärt sich, daß diesem Aphorismus jeder formale Glanz, der sich exemplarisch im Paradoxon ausdrückte, ausgetrieben werden soll. Zweierlei macht der Band deutlich: literarhistorisch die Relativität eines Nullpunktes 1945, gattungsgeschichtlich die Relativität eines trennscharfen Schnittes zwischen (unzugehörigem) wissenschaftlichen und die Gattung bildenden literarischen Aphorismus. Der Lyriker und Essayist Fritz Usinger (1895-1982) darf schließlich nicht unerwähnt bleiben. Er verfaßt zwar erst ab 1950 Aufzeichnungen (Merkbücher 1950-1975, 1976) und hat bis 1945 keine eigenen Aphorismen veröffentlicht, schafft aber doch mit seiner Anthologie Erfüllung und Grenze (1942) ein sehr eigenes Werk. Sie hat nicht nur »unzweifelhafte therapeutische Absicht«,480 diese Worte der Weisung sammelt auch ein Therapeut mit Autoritätsanspruch. Sie sind den End-Gültigkeiten eines Bertram'schen Spruches weit näher als den Bedenklichkeiten etwa Artur Schnitzlers in dessen Buch der Sprüche und Bedenken von 1927. Nicht im Geiste der Skepsis und des Zweifels sind sie zusammengestellt, sie sind Ausdruck existentieller Gewißheiten; nicht um Form und Gattung des Aphorismus ist es Usinger zu tun, sondern um >passende< Zitate. Nachdem das Vorwort von der »irdischen Existenz« und den Schauern des Ewigen aus einem bedrohlichen Abgrund gesprochen hat, erläutert es den Titel der Sammlung abschließend: »Unter diesen Ur-Schauern dennoch den Sinn unserer winzigen Existenz zu wahren, das ist die Aufgabe des Geistes. Seine Erfüllung ist seine Grenze, aber seine Grenze ist auch seine Erfüllung«.481 Eindeutig christlich-existenzialistisch ist denn auch die Anthologie orientiert. Kierkegaard steht ganz betont im Mittelpunkt, umgeben von Jakob Böhme, Pascal, Hamann und Schelling; Goethe darf, in diesem Geiste gelesen, nicht fehlen. Dagegen ist für Autoren wie Lichtenberg, Hebbel, Kraus in einer solchen Sammlung kein Platz; Nietzsche ist (nicht nur quantitativ) auf ein Zwanzigstel der Bedeutung von Kierkegaard geschrumpft. Unter den Zeitgenossen dominieren Kassner und Pannwitz, dazu Hofmannsthal und Ernst Jünger. Gerade im Vergleich zu dem Brevier deutscher Aphoristik, das Laurenz Wiedner 1944 in Zürich veröffentlicht und das zwischen Lessing und Kraus, Novalis und Nestroy, Lichtenberg und Nietzsche um eine breite Repräsentation bemüht ist, werden sorgfaltige Komposition wie ideologische Ausrichtung der Usinger'sehen Sammlung deutlich, die unter relativ totalitären Bedingungen ihr Weltbild gegen die allmächtige militaristisch-materialistische Immanenz bewahren will (und dafür auch noch einen öffentlichen Platz am Rande eingeräumt bekommt). Sie weist noch im Dritten Reich auf eine dominierende geistig-literarische Tendenz der frü-
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Ebd., S. 5. Fritz Usinger (Hg.): Erfüllung und Grenze, S. 6. Ebd.
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hen fünfziger Jahre voraus, angedeutet mit den Namen Edzard Schaper, Rudolf Hagelstange, Stefan Andres, Reinhold Schneider, Ina Seidel oder Ernst Wiechert, die an eine christlich orientierte innere Opposition gegen den Nationalsozialismus, nicht aber an die Exilliteratur anknüpft.
3.8. Ergebnisse Die Frage eines tatsächlichen oder vermeintlichen Nullpunktes ist oft thematisiert worden. Das Jahr 1945 stellt literarhistorisch - auch - in seinem aphoristischen Segment nur sehr bedingt einen Einschnitt dar, einen Nullpunkt hat es zumal für die in Deutschland gebliebenen Autoren nicht gegeben. So gilt für diese Zäsur nicht anders als für Einschnitte, die man ohne solch spektakuläre Assistenz durch die politische Geschichte vornimmt: Sie ist sinnvoll, aber sie darf absolut nicht absolut genommen werden. Dementsprechend waren bei den Autoren von Limpach bis Kessel Kontinuitäten anzudeuten: bei Bertram, Heuscheie und Eschmann in kurzen Ausblicken, bei Benz, dessen Aphorismen von 1943 nach 1945 in weiteren Auflagen herauskommen, bei Scholz' Werk, das vor wie nach Kriegsende eine Einheit bildet. Haecker, dessen Tagebücher erst 1947 erscheinen können, ist als Prototyp aphoristischen inneren Widerstandes selbstverständlich einbezogen; sein Werk ist mit dem Jahr 1945 abgeschlossen. Gottfried Benn {Ausdruckswelt, 1949), auch wenn er seine Gedankengänge selbst im Vorwort auf 1940 bis 1945 datiert, Friedrich Georg Jünger (Gedanken und Merkzeichen, 1949) oder Wilhelm von Scholz (Irrtum und Wahrheit, 1950) gehören hingegen eher zur Geschichte des Aphorismus der frühen Bundesrepublik. Die Analyse der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Aphorismus in den 30er und 40er Jahren ergibt eindeutig, daß er zurückgedrängt und um- oder eingedeutet und aufs ganze gesehen argwöhnisch betrachtet wird, und zwar aus drei Gründen: Er ist individualistisch, er ist un-systematisch, er ist skeptisch-unentschieden. Die Beobachtungen zur Form der aphoristischen Praxis im Nationalsozialismus fügen sich dem nun in einer Weise ein, die zu generalisierenden Aussagen berechtigt. Auf zweierlei Weise sucht der Aphoristiker in dieser Zeit das Individualistische, das unverbindlich Individuelle zu überwinden, durch Selbsterhöhung und durch Anbindung an ein größeres Ganzes. Bei Blunck und Binding stilisiert er sich zum weisen Lehrer. Binding, Euringer, Heuscheie sprechen gleichermaßen von einem »Amt«, das der Dichter innehabe, und beanspruchen diese Amtsautorität in ihren Sprüchen. Wo prophetische Texte eines Erziehers und Führers bei Pannwitz tatsächlich einen Herrschaftsgestus begründen wollen, da setzt Bertram in der Fiktion das mythisierende Künden des Dichter-Priesters, die geliehene Autorität des Meisters, des gelehrten Mönchs, des großen Geschichtsschreibers oder Staatsmannes ein. Unter diesem Aspekt sind der durch sich selbst autorisierte Sprecher seiner Weltanschauung Euringer und der Autorität beanspruchende Therapeut Usinger vergleichbar. Für die Rezeption bedeutet das in all diesen Fällen, daß sie eher als 107
ein dankbares Empfangen gedacht ist denn als Weiterführung oder auch kritische Gegenführung. Das größere Ganze, das das unverbindlich Individuelle aufheben soll, ist natürlich nichts anderes als das Volk. Volksverbundenheit in verschiedenen Aspekten charakterisiert demgemäß diese Aphoristik: in ideeller Form bei Paul Ernst (auch Blunck ist das zu konzedieren), in trivialer Repetition bei Limpach, platt ideologisch bei Bosch und Euringer, militaristisch instrumentalisiert bei Binding, mythisch und in literarhistorischem Gewand bei Bertram, in offensichtlicher Anpassung akzentuiert bei Heuscheie. Dem Unsystematischen im Aphorismus begegnen schon Bertram und Nadler, wenn sie einseitig das Einheitliche bei Nietzsche betonen. So wie Euringer in seinen Aphorismen »Baublöcke einer Weltanschauung« schichtet, so setzt Haecker »das System« eines glaubensgewissen Urgrundes voraus, Bertram begegnet der vermeintlichen Gefahr der Zerstreuung durch fiktionale Rahmen. Ein nationalreligiöser Zusammenhang ist schon bei den geistigen Vorläufern des Nationalsozialismus, bei des Pastors Frenssen völkisch-religiösen Grübeleien oder der extremen nationalen Sakralisierung in Böschs Deutschkirche auszumachen, für den auch Vaterlandsliebe Gottesdienst ist. Die Sakralisierungstendenz der nationalsozialistischen Sprache kommt dem entgegen, auch wenn für Euringer »der deutsche Gott« 482 nur ein unzureichender Vorgänger des Führers ist. (Nebenbei macht diese religiöse Adaption auch möglich, daß Euringer nach dem Krieg im katholischen Herder-Verlag weiterpubliziert.) Die Einbettung in eine >systematisch< zusammenhängende Weltanschauungslehre macht nicht an den Grenzen der herrschenden Ideologie halt. Ist bei Pannwitz ein aus religiös-literarischen Elementen zusammengesetztes individuelles System zu erkennen, so erscheint die Religion überhaupt als der Ausweichort. Auffällig häufig sind j a die Autoren christlich-religiös orientiert. Das reicht von Haecker, der die politisch-ideologische Auseinandersetzung als eine religiöse interpretiert, über Eschmanns und Jüngers Gottes-Reflexionen und Usingers christlichen Existenzialismus bis Thun-Hohensteins treuherziger Frömmigkeit und Schlafs religiöser Kunstdeutung. Damit geht einher, daß die Rolle einer weltanschaulichen Leitfigur vom - zum Beispiel bei Euringer - nationalsozialistisch okkupierten Nietzsche auf Kierkegaard übergeht, wie es Scholz (in seiner abrechnenden Begegnung mit Nietzsche), Haecker, Usinger, auch Eschmann unwiderleglich dokumentieren. Nicht zufallig kommen diese Autoren auch vielfach (wie Benz, Usinger, Ernst Jünger, Eschmann) vom gescholtenen Essay (Dovifat) her. Für das Skeptische zumal ist im Kampf der Ideologien kein Raum. Es herrschen wo immer das Spruchhafte als das Gewisse, das unbedingte Geltung Beanspruchende. Dafür steht allein die erhöhte Figur des Aphoristikers. Als unerschütterter Glaube an Gott, Volk und Vaterland manifestiert es sich für Paul Ernst, bei Binding als Glaubensgewißheit bis in den Tod. Da ersetzen »Seele« oder Herz den Intellekt (bei Limpach wie bei Heuscheie), Ahnung steht für Erkenntnis, »Instinkt« 482
Euringer: Aphorismen, Nr. 434.
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(bei Bosch und Euringer) für Problemorientierung und Kritik, »westliche Skepsis« 483 eben, eine >gesunde< Gewißheit nimmt den Platz krankmachender und ankränkelnder skeptischer Unsicherheit ein. Theoretisch wie praktisch ist die »Krankheit der lähmenden Reflexion« (so Besser zu Lichtenberg) geheilt: »Kritisieren ist eine Krankheit«, heißt es bei Euringer. Wenn Bertram in seinen frühen literarhistorischen Arbeiten den französisch-skeptisch-rationalen Anteil des Aphorismus weginterpretiert, so betont er später konsequent den mythisch-irrationalen Urgrund in der eigenen Aphoristik. Usingers Auswahl akzentuiert das Arationale in gleichem Sinne, und diese Tendenz ist bis in die Niederungen der Herzaphoristik bei Limpach oder Thun-Hohenstein zu verfolgen. Von unvergleichbarer Qualität, ansonsten aber durchaus nicht im Widerspruch dazu steht die heroisch-elitäre Aphoristik Jüngers, wo sie die translogischen Bereiche erkundet. Hingegen sind bei Scholz das ambivalente Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit seiner Fragmente, bei Benz das Hypothetisch-Experimentelle zumindest in der aphoristischen Selbstreflexion gewahrt; die klare Abgrenzung, die die Nationalsozialisten vornehmen, ist so auch von daher gerechtfertigt. Der alle drei Gegengründe: das Individuelle, das Unsystematische, das Skeptische überwölbende Begriff ist der der (mangelnden) Verbindlichkeit. Es geht in diesem literarisch-ideologischen Kampf um Bindung im umfassendsten Sinne. Eine Differenzierung zwischen (äußerer) Verbindungslosigkeit und (innerer) Zusammenhanglosigkeit, 484 wie sie der aphoristischen Reflexion angemessen wäre, kann in einer Zeit polarisierender Ideologisierung nicht vorgenommen werden. Daß der Zusammenhang des unverbunden Vielperspektivischen in einem aphoristischen Ich mit seinen Widersprüchen und Selbsterprobungen zu suchen sein könnte, muß ihr fremd bleiben. Um darin etwas anderes und mehr als einfach subjektive Unverbindlichkeit zu sehen, dazu scheint sie durchgreifend zu sehr in überindividuellen Systemen befangen und einem ambivalenten Denken damit unzugänglich. Von Euringer bis Haecker ist in dieser ideologisch bestimmten Zeit auch für das Pointierte, Leichte, Witzig-Unverbindliche kein Raum. Im schmucklosschweren, autoritätsgeladenen Spruch sucht man einerseits Sicherheit, wie man andererseits darin lehrhaft-verbindliche Sicherheiten zu geben sucht; Euringer wuchtet »Baublöcke« aufeinander, Haecker spricht sich letztlich gegen Kraus aus und argumentiert expressis verbis gegen die Pointe, Scholz weist mit der Paradoxie alles sprachlich Blendende von sich. Insoweit werden Tendenzen des Expressionismus weitergeführt, der in These und »Satz« eine ethische Erneuerung der vorangehenden Aphoristik mit ihrem unverbindlich Sprachspielerischen erstrebt. 485 Von Euringer bis Haecker werden aber auch anders als dort Verbindlichkeiten außerhalb gesucht, sei es in der »Weltanschauung« Euringers, sei es in der Gottesfreundschaft Haeckers. Damit kann aber keine große Aphoristik entstehen.
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Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, S. 583. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 358-361. 485 Vgl. oben S. 35^0. 484
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4. Lyrik und Aphorismus Texte an den Gattungsgrenzen in der deutschsprachigen Literaturnach 1945
4.1. Theoretische Vorüberlegungen Grenzbetrachtungen sind dem vertraut, der sich mit Aphorismen befaßt. Nicht nur, daß die Gattung1 selbst gewöhnlich von ihrer Grenzstellung gegenüber Literatur und Philosophie her definiert wird, sie wird auch immer wieder von den Grenzen zu benachbarten Literarischen Kleinformen her bestimmt.2 Vor allem Epigramm, Essay und Sprichwort sind hier bedacht worden, dann die interferierenden Maxime, Fragment, Sentenz und These, aber auch Rätsel, Anekdote, Witz, Apophthegma und neuerdings die Aufzeichnung. Die Erörterung der Lyrik wurde dabei in aller Regel vernachlässigt, zu Unrecht, wie man sagen muß, wenn man die zahlreichen Texte an den Gattungsgrenzen in der deutschen Literatur nach 1945 beobachtet. Wenn der Aphoristiker Benz den Aphoristiker als »Gedanken-Lyriker«3 beschreibt, wenn der Aphoristiker und Naturwissenschaftler Chargaff Aphorismen als »die Lyrik der Vernunft«, 4 der Aphoristiker und Aphorismus-Theoretiker Margolius sie als »die Lyrik der Philosophie«5 bezeichnet und der Mediziner und Aphoristiker Uhlenbruck sekundiert: »Gebrauchslyrik in einem Satz«,6 so sind das zunächst nur Zuspitzungen, über deren besondere Verbindlichkeit oder besondere Unverbindlichkeit als selbstreferentielle Erklärungen man mit Fug und Recht und ohne Ergebnis wird streiten können.
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Beim Gebrauch dieses vieldiskutierten Fachterminus schließe ich mich Lamping an, der ihn zunächst als unspezifischen Oberbegriff benutzt und im näheren zwischen einer s y stematischen« und einer >historischen< Gattung unterscheidet. Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 15. Vgl. auch Dieter Lamping: Gattungstheorie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar. Bd. I. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 658-661. So zuletzt von Zymner: Aphorismus/ Literarische Kleinformen, S. 80-106; Verf.: Literarische Kleinformen, S. 189-192. Richard Benz: Stufen und Wandlungen. Das Buch der Reden und Aphorismen. 2. Auflage. Hamburg: Wegner 1947, S. 233. Erwin Chargaff: Bemerkungen. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 142. Hans Margolius: Werte und Wege. Aphorismen zur Ethik. Zürich: Strom 1977, S. 36. Gerhard Uhlenbruck: Frust-Rationen. Aphorismen. Aachen: Stippak 1980, S 6.
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Und die Wissenschaft? Mautner belegt seine These »Durch Gestalt wird der Aphorismus zur Poesie des Gedankens«7 1968 nur durch einige Beispiele. Schneider befaßt sich 1991 auch mit Genres proches de l'aphorisme: Aphorismes et poésie. Nach der Feststellung »Les vers sont relativement proches de la maxime et de l'aphorisme« 8 zitiert er »aphorismes en vers« unter anderem von EbnerEschenbach und Morgenstern, dann maximenhafte Verse unter anderem von Racine, des weiteren Sprüche, zu denen er gleicherweise feststellt: »Les >Sprüche< en vers sont un genre proche de l'aphorisme«. 9 Als Vorbereitung zu eigenen Beispielen wendet er sich schließlich insbesondere dem japanischen Haiku zu, »le genre le plus proche de l'aphorisme«, 10 das er kurzerhand zum »aphorisme japonais« erklärt: »L'aphorisme, comme le Haikou, se garde de tout dire, quand il est réussi, il invite à penser et à sentir pour le propre compte«.11 Ein systematisch gesichertes und ausreichend breites Bild kann in dieser lockeren Betrachtung nicht entstehen, ist wohl auch damit nicht intendiert. Im Jahr darauf hat Montandon in einer Studie von umfassendem Anspruch über Les formes brèves auch Poésie et brièveté12 untersucht. Er stellt verschiedenste Formen kürzester Poesie an der Grenze zu Epigramm und Aphorismus von Menander bis Char und Michaux vor, so Triolett, Limerick, Haiku, Greguería. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der französischen Tradition, aber auch Jean Pauls Streckvers findet gebührende Beachtung. Der Überblick ist literaturhistorisch orientiert und erörtert einen lyrisch-aphoristischen Zwischenbereich nicht näher. Literaturwissenschaftler, die sich von der Lyrik her dem Grenzgebiet nähern, gebrauchen zur Beschreibung solcher Zwischentexte nur selten und dann in distanzierenden Anführungsstrichen unmißverständlich gattungsorientierte Zwischenbegriffe; Koepke spricht im Zusammenhang mit Kunze von »> lyrischen Aphorismen^, 1 3 von Bormann fur Fried grundsätzlicher vom »(aphoristischen Gedicht«< als einer eigenen Gattung.14 Einen Nachbaraspekt greifen mit sprichwörtlicher Lyrik Mieder15 und, wiederum mit Bezug auf Fried, Möller-Sahling16 auf. Wer sich in einem Grenzraum bewegt, der vergleicht; wer vergleicht, muß einen klaren Begriff des zu Vergleichenden haben, und er muß dieselbe Größenord7
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Franz H. Mautner: Der Aphorismus als Literatur. In: F. H. M.: Wort und Wesen. Kleinere Schriften zur Literatur und Sprache. Frankfurt: Insel 1974, S. 279-299. Hier S. 291. Schneider: L'aphorisme et les aphoristes, S. 152. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 157. Montandon: Les formes brèves, S. 135—160. Wulf Koepke: Reiner Kunze. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Die deutsche Lyrik 1945— 1975, S. 377. Alexander von Bormann: »Ein Dichter, den Worte zusammenfügen«. In: text und kritik Heft Nr. 91, S. 6. Wolfgang Mieder: Moderne deutsche Sprichwortgedichte. In: Fabula 21 (1980), S. 247260. Derselbe (Hg.): »Kommt Zeit - kommt Rat!?«. Moderne Sprichwortgedichte von Erich Fried bis Ulla Hahn. 1990. Folke-Christine Möller-Sahling: »Tierischer Ernst«: Zu Erich Frieds sprichwörtlicher Lyrik. In: Proverbium 13 (1996), S. 267-280.
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nungsebene wählen (oder anders das Schiefe reflektieren). Am banalen Beispiel: Er muß wissen, was »Pflaume«, »Banane«, »Steinobst«, auch die benachbarte Einheit »Kernobst« »ist« oder die Begriffe seinerseits definieren, und er muß vermeiden, »Steinobst« statt »Pflaume« mit »Banane« zu vergleichen. Suchen wir also zunächst die Grenznachbarn zu bestimmen. Haben wir es bei dem einen mit der Lyrik, dem Gedicht oder etwa dem lyrischen Gedicht zu tun? Wollen wir uns nicht in eine ufer- und hoffnungslose Diskussion über Lyrik und das Lyrische verlieren, scheint es angezeigt, hier nur einen Teilbegriff ins Auge fassen. Und auch schon aus Gründen eben der gleichen Größenordnung ist dem Aphorismus nicht die literarische Grundform Lyrik, die eine in der traditionellen umfassenden Gattungstrias, gegenüberzustellen, sondern als Grenzbegriff bietet sich zunächst der der »Gedankenlyrik« an. Wenn Cysarz allerdings schon 1958 zu »dem immer seltener werdenden Namen« bemerkt, daß er »seine Geltung verloren« habe,17 so stellt Weimar 1997 endgültig fest, der ein Jahrhundert lang, von Moriz Carriere bis Herbert Seidler, reflektierte Begriff befinde sich »nicht mehr im aktuellen literaturwissenschaftlichen Gebrauch«, denn »die Verbannung alles Lehrhaften aus dem Heiligtum der Poesie« sei obsolet geworden.18 Auch wenn sie also einen eigenen Begriff nicht mehr nötig hat: die Sache wird uns beschäftigen müssen, nicht nur in der Brecht-Nachfolge bei Erich Fried, Günter Kunert oder Reiner Kunze, sondern auch bei einem philosophierenden Lyriker wie Ernst Meister. Kunze schreibt keinen Aphorismus: »Nach einer Leninehrung. - Selbst wenn sein Wille es gewesen wäre, so geehrt zu werden, ihm geschähe unrecht«, sondern ein Gedicht: NACH EINER LENINEHRUNG
Selbst wenn sein wille es gewesen wäre so geehrt zu werden, ihm geschähe unrecht. 19
Meister schreibt nicht nur gedankliche Gedichte: Mutter der Dinge: Ahnin aus lauter Zukunft
sondern auch bildliche Aphorismen: Etüde. - Durchs Fenster schick ich die dunkle Vernunft, mit der Gegend zu reden.
Gedankliche Gedichte und bildliche Aphorismen schreibt er in der Tat, aber diese beiden Texte sind in dieser Form nicht von ihm. Die eigenmächtige Veränderung mag erlaubt sein, um schon hier zu zeigen, daß ein Blick auf das teilweise Neben-
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Cysarz: Gedankenlyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Sp. 526, 528. Weimar: Gedankenlyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 668. Kunze: Zimmerlautstärke, S. 48.
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und vielleicht auch Mit- und Ineinander von Lyrik und Aphorismus lohnt. Bei Meister heißen sie: Mutter der Dinge: Ahnin aus lauter Zukunft. 20 ETÜDE
Durchs Fenster schick ich die dunkle Vernunft, mit der Gegend zu reden. 21
Ist also vielleicht doch der umfassende und konkrete Grenzbegriff brauchbarer, das Gedicht? Befragen wir dieselbe definitorische Autorität, das Reallexikon, zumal sie, bei historischen Begriffen wichtig, aktuell ist, so stellen wir fest, daß das Gedicht als »Text in Versen« nicht notwendig lyrisch, sondern auch dramatisch oder episch strukturiert sein kann22 und damit eher von größerem Bedeutungsumfang als der Begriff »Lyrik« ist. Das überrascht nicht wirklich; nicht-lyrische Versgattungen wie Epigramm und Spruch werden ja traditionell auch in Abgrenzung vom Aphorismus verstanden. Die Frage, wieweit ihre modernen Adaptionen hier einzubeziehen sind, ist nur auf der Grundlage eines historischen Exkurses zu den Nahtstellen angemessen zu beantworten. Das Epigramm als Inschrift in Versform ist schon von seiner Etymologie her genuin schriftlichen Charakters und damit bei aller Differenz 23 nicht nur in Kürze, Konzision und Pointierung dem Aphorismus, im Englischen bisweilen »prose epigram« genannt,24 näher als dem aus mündlicher Tradition erwachsenden Spruch, mit dem es sich begrifflich im übrigen vielfältig überschneidet. Ob sein Niedergang um 1800 mit der Entwicklung des literarischen Aphorismus zu derselben Zeit in Wechselbeziehung steht, ist offen; Indizien dafür gibt es.25 Das 19. Jahrhundert hindurch sind beide terminologisch nicht hinreichend getrennt, bei Jean Paul, im Biedermeier, bei Hebbel so gut wie in der Literaturwissenschaft der Zeit. Diese Vermischung läßt in dem Maße nach, in dem sich der Aphorismus als Gattungsbegriff durchsetzt. Die Aphoristiker und Epigrammatiker der Jahrhundertwende wie Oscar Blumenthal, Moritz Goldschmidt, Robert Gersuny differenzieren ebenso genau wie Morgenstern, Kraus, Kästner oder theoretisch Musil zwischen dem metrisch gebundenen Vers-Epigramm und dem Prosa-Aphorismus. Genau diese Differenz aber wird mit dem freien Vers in der Lyrik nach 1945 eingeebnet. Schon bei Brecht, der darin für den deutschen Sprachraum als Vorbild zu gelten hat, finden sich konsequenterweise beide Formen.26 Heimito von Doderers epigrammatische 20 21 22 23 24
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Meister: Gedanken eines Jahres, S. 164 (Nr. 131). Meister: Ausgewählte Gedichte, S. 80. Lamping: Gedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 669. Besonders klar dargelegt bei Neumann (Hg.): Der Aphorismus, S. 2-3. Vgl. Peter Erlebach: Formgeschichte des englischen Epigramms von der Renaissance bis zur Romantik. Heidelberg: Winter 1979, S. 58-60. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 330-332. Vgl. unten S. 136-137.
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Verse,27 H. C. Artmanns historisierende Epigramme,28 aber auch Volker Brauns Epigramme29 und Berlinische Epigramme30 in Distichen, um drei ganz verschiedene Beispiele herauszugreifen, gehören zu der klar abzugrenzenden Versgattung, Brauns Fotogramme31 schließen direkt an die klassischen Epigramme von Brechts Kriegsfibel an. Die Terminologie ist nicht eindeutig; dafür sprechen nicht nur Doderers Liber epigrammaticus,32 sondern auch Ernst Jüngers Epigramme, die Aphorismen, die ursprünglich den Anhang zu Blätter und Steine bilden.33 Aus einer ganzen Reihe zeitgenössischer Autoren, die gleichzeitig Aphorismen und Epigramme verfassen, sei Ulrich Erckenbrecht herausgehoben, der sich auch theoretisch über seine Arbeit Rechenschaft gegeben hat.34 Er trennt für sich ganz klar zwischen beiden Gattungen, weiß aber auch: »Viele moderne Epigramme sind nur versifizierte Aphorismen«.35 Genau das trifft für Arnfrid Astel zu, der 1978 Alle Epigramme sammelt. Ihre formale Spannweite schließt die äußerste Nähe zum Aphorismus ein. Von dem Aphorismus »Die Kunst ist eine Leihgabe der Deutschen Bank« bis zu dem »Epigramm«: LEIHGABE
Die Kunst ist eine Leihgabe der Deutschen Bank. 36
ist kein weiter Weg; genau auch diese Spanne wird uns beschäftigen, notwendig also unter Einbeziehung solcher modernen Anverwandlungen des Epigramms. Mit dem Gattungsbegriff des Epigramms bleibt Astel zur Bezeichnung seiner »prosaischen Verse« im Bereich der Lyrik im weiteren Sinne. Wenn er damit also einerseits die Grenze zur Prosa, mithin zum Aphorismus, nicht überschreitet, so nimmt er andererseits in Kauf, daß seine Gedichte nicht nur eine Nähe zu Texten signali27
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Heimito von Doderer: Epigrammatische Verse, in: H. v. D.: Ein Weg im Dunklen. Gedichte und epigrammatische Verse. München: Biederstein 1957, S. 31-54. H. C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire. Gedichte aus 21 Jahren. Hg. von Gerald Bisinger. Frankfurt: Suhrkamp 1978, S. 239-246 und 502-503. Volker Braun: Epigramme. In: V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1992, Bd. 3, S. 100-104. Volker Braun: Berlinische Epigramme. In: V. B.: Langsamer knirschender Morgen. Gedichte. Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 67-87. Wiederabdruck in: V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 8, S. 91-122. Volker Braun: KriegsErklärung. In: V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 2, S. 105-157. So nennt er die Kapitel XI bis XIII aus den Jahren 1946 bis 1948 in seinem Tagebuch »Tangenten«: H. v. D.: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers. 1940-1950. München. Biederstein 1964, S. 487-605. Ernst Jünger: Epigramme. In: E. J.: Sämtliche Werke. 2. Abteilung: Essays. Bd. 12. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 505-514. Ulrich Erckenbrecht: Das Epigramm heute. In: U. E.: Katzenköppe. Aphorismen / Epigramme. Göttingen: Muri 1995, S. 135-143. Daneben verfassen beispielsweise Wolfgang Funke, Manfred Bosch, Helmut Lamprecht, Liselotte Rauner und Werner Schneyder gleichzeitig Aphorismen und Epigramme. Ebd., S. 142. Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 33.
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sieren, die von der Sache her viel weniger gegeben ist, sondern daß sie mit ihnen sogar eine gattungsmäßige Einheit bilden. Der Spruch steht zwar im eigentlich verengten Sinne für eine Gattung älterer lyrisch-didaktischer Texte,37 darüber hinaus aber ist er mit Merkmalen wie Bündigkeit, Prägnanz und Pointierung, Beziehung auf Normen und Appell an den Intellekt auch ein gattungsmäßig schwerlich zu fixierender lyrisch-prosaischer Oberbegriff, 38 der als solcher wie geschaffen ist für Texte im Grenzraum von Lyrik oder Gedicht und Aphorismus. Im 18. Jahrhundert nehmen Epigramm, Lehrgedicht und Gedankenlyrik die Rolle der Spruchdichtung ein. Goethes Sprüche in Prosa Maximen und Reflexionen hingegen markieren die begriffliche Verbindung überdeutlich, auch wenn Preisendanz die Aussage des Spruches von innen her anders begründet und motiviert sieht als die der Aphoristik. Insbesondere als (Prosa-)Denkspruch (wie in Gutzkows Baum der Erkenntnis, 1886) und als Sinnspruch ist die Nähe augenfällig. In der Tat interferiert der Spruch als Simplex wie in zahlreichen Komposita bis zu Nietzsche, Kraus, Schnitzler mit dem Aphorismus häufig.39 Besonders die Aphoristik des Dritten Reiches setzt mit dem lehrhaft-verbindlichen Sprechen im schmucklos-schweren, autoritätsgeladenen Spruch dem pointierten unverbindlich-witzigen Aphorismus etwas im Ursprung Germanisches entgegen, bei Ernst Bertram, Karl Bosch oder Friedrich Blunck folgerichtig mit verwischten Grenzen zwischen gebundener Sprache und Prosa.40 Aber auch Brechts Kurzgedichten wird ein spruchhafter Charakter attestiert, vereinzelt schon in der Hauspostille, verstärkt nach der Emigration. Auch hierin ist er die entscheidende Vorläufer-Figur für die deutschen Nachkriegslyriker. Erich Fried etwa schreibt keinen Aphorismus »Es muß einen Ausweg geben aus jenem Aberglauben, der immer meint, es muß einen Ausweg geben«, sondern einer seiner Sprüche und Widersprüche (in den Warngedichten, 1964) lautet: AUSWEG
Es muß einen Ausweg geben aus jenem Aberglauben der immer meint es muß einen Ausweg geben.41
Wenn Preisendanz zu Goethe das Herausstellen eines Befundes (im Aphorismus) und das immer einströmende innere Betroffensein durch diesen Befund (im Spruch) unterscheidet,42 so ist das Zeitgebundene, also für die spruchhafte Lyrik nach 1945 absolut Unpraktikable solcher Differenzierung schon jetzt ohne weiteres einzusehen. Damit öffnet sich aber genau hier ein anderer Grenzbereich, denn es ist eine absolute Aus37
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Sowinski: Der Spruch. In: Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, S. 378-384. Kanzog: Spruch. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, S. 151-160. Vgl. Verf.: Literarische Kleinformen, S. 190; Verf.: Der Aphorismus, S. 338-341. Vgl. oben S. 69-72. Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1, S. 338. Vgl. unten S. 145-151. Preisendanz: Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorgeschichte seit Opitz, S. 129f.
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nähme, wenn man diesem Spruch seine Reimversvergangenheit einmal deutlich ansieht. Dann nämlich ist er durch die gattungszitierende Überschrift herausgehoben: SPRUCH
Ich bin der Sieg mein Vater war der Krieg der Friede ist mein lieber Sohn der gleicht meinem Vater schon.43
Werner Dürrson veröffentlicht 1986 als Blochaden Sprüche und Zuspriiche, 1989 Abbreviaturen genannte Aphorismen. In den ersten Band gehört der Text: Selbst das Absurde ist vermutlich nicht grenzenlos
in den andern gehört: »Und wäre Denken die letzte Freiheit, so Hoffen die allerletzte«. Die Zuordnung wäre denkbar, wenn denn die beiden Texte hier formal korrekt wiedergegeben wären. Bei Dürrson hingegen ist es, formal konsequent, umgekehrt, denn sie mögen gleich lauten, aber sie heißen eben anders: Selbst das Absurde ist vermutlich nicht grenzenlos44 Und wäre Denken die letzte Freiheit, so Hoffen die allerletzte. 45
Solche Sprüche gehören - das macht schon das kleine Verwirrspiel klar - selbstverständlich an vorderster Stelle in den hier zu erörternden Bereich. Das Haiku macht einen weiteren Exkurs notwendig. Montandon und Schneider versäumen ja nicht zufällig nicht, im Zusammenhang von Lyrik und Aphorismus auf das japanische Kurzgedicht mit drei Versen zu fünf, sieben und fünf Silben hinzuweisen. Gewiß sind Parallelen nur mit äußerster Vorsicht zu ziehen. Es entspringt schließlich einer ganz anderen, eben ostasiatischen Auffassung von Poesie und künstlerischem Schaffen überhaupt. Es ist unbedingt an ein Naturerlebnis gebunden, von dem aus es einen Hintergrund eröffnet. Ein Jahreszeitenwort (kigo) als festes Signal ist verbindlich. Das Haiku ist im Zusammenhang mit dem ZenBuddhismus zu sehen, Satori (Erleuchtung) spielt bei seiner Abfassung eine wichtige Rolle. Wenn die Kenner davon sprechen, daß es knappste und sinnreiche Erfassung eines Naturgeschehens biete, sind bei allen grundsätzlichen Unterschieden der Herkunft und kulturellen Verankerung die Verwandtschaftsüberlegungen dennoch ohne weiteres verständlich; knapp und gleichzeitig sinnreich: das ist ja auch die auf aphoristische Lyrik zutreffende erste Beschreibung. Solche Nähe stellt sich nicht so sehr beim ehrfürchtig-strengen Kopieren dieser Gedichtform ein, sondern beim freien Adaptieren, selbständigen Anverwandeln oder bei unbewußter Nähe. Kersten weist zu Brechts Buckower Elegien auf »das 43 44 45
Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1, S. 564. Vgl. Bd. 4, S. 157. Dürrson: Abbreviaturen, S. 18. Dürrson: Blochaden, Nr. 36.
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Vorbild ostasiatischer Dichtung«46 hin; Krusche nimmt in dem Essay zu seiner Haiku-Anthologie auf den Radwechsel Bezug.47 Bei Astel, der mit Haiku-nahen Gedichten begonnen hat, sind Natur- und Gedankengedicht ineinander verwoben. Kunze beschäftigt sich mit dem japanischen Kurzgedicht, nachdem man dessen Einfluß auf seine Lyrik erkannt zu haben meint.48 Die Gleichklänge sind hier in der Tat frappant: IN BLAUEM FELD
Der bäum, ein schräges segel, wirft den schatten sich als boot 4 9
Ernst Meister ist mit Gert Meier befreundet, der als Jan Ulenbrook maßgeblich für die deutsche Übersetzung und Verbreitung des Haiku gewirkt hat; es verwundert nicht, daß er in diesem Zusammenhang auch notiert: Wir unterhielten uns »Uber das Schreiben von Aphorismen, das uns beide beschäftigte«.50 Es gibt Vergleichspunkte, das ist offensichtlich. Je mehr sich freilich ein westliches Haiku-nahes Gedicht dem fernöstlichen Vorbild annähert - das macht das eine Beispiel schon klar - , desto mehr entfernt es sich von dem Grenzbereich, den es hier zu erörtern gilt. Es ist nicht sonderlich hilfreich, bei der Suche nach Vermittelndem zwischen Aphorismus und Gedicht einen so vielfach gebrochenen Weg zu gehen. Gegenüber der »Lyrik« scheint also das »Gedicht« der von der Vergleichsebene her angemessene Grenzpartner. Mit dem Epigramm wie mit dem Spruch haben wir ja gerade den Bereich eines eingegrenzteren lyrischen Gedichts überschritten. Das sind aber Einzelfalle, die sich überdies nur dort scharf abgrenzen lassen, wo die Autoren ausdrücklich auf der Gattungstradition rekurrieren. In der Regel ist das »lyrische Gedicht« im Sinne Lampings51 der Nachbarbegriff für den Aphorismus, und sofern Lyrik als »Inbegriff aller lyrischen Gedichte, im Unterschied zu epischen und dramatischen«52 verstanden wird, bietet sich dann doch dieser Begriff wieder an, zumal er gelegentlich auch alternativ zu »Gedicht« verwendet wird. So unscharf war ja schon von spruchhafter Lyrik die Rede, und in diesem Sinne sprechen wir, schon im Titel, hier von Lyrik. Auch dann sind wir im strengen Sinne noch nicht auf derselben Größenordnungsebene (vergleichen also immer noch Steinobst und nicht Pflaume mit Banane). Es geht aber um das Sonett, Ode, Lied oder auch Haiku Gemeinsame im Gegensatz zum Aphorismus; im übrigen ist nicht auszuschließen, daß auch er Merkmale eines Sammelbegriffes trägt, unter den sich etwa Maxime und Fragment subsumieren lassen. Davon ist später zu reden, wenn der Vergleich in der Richtung vom Aphorismus zur Lyrik theoretisch vorzubereiten ist. 46 47
48 49 50 51 52
Kersten: Bertolt Brechts Epigramme, S. 70. Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung. Übersetzungen und ein Essay von Dietrich Krusche. Tübingen, Basel: Erdmann 1970, S. 135. Brief an den Verfasser vom 3.10. 98. Kunze: ein tag auf dieser erde, S. 12. Meister: Prosa 1931-1979, S. 352. Lamping: Das lyrische Gedicht. 1993. Lamping: Moderne Lyrik, S. 8.
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In der ersten Richtung, von der Lyrik zum Aphorismus, ist als Differenzkriterium bis jetzt der Vers übriggeblieben. Die Überschrift als äußeres Kriterium kann man leicht abtun: Es gibt sie auch beim Aphorismus, da genügt der Hinweis auf Nietzsche; beim Gedicht fehlt sie - wie bei Astel - häufig. Und Metrum und Rhythmus gehören zum Vers-Problem. Als Text oder »Rede in Versen«53 definiert Lamping in kürzester Form das Gedicht. Sehr hilfreich ist es, sich die weiteren Klärungen bewußt zu machen, wenn er von der »Semantik seiner Form« spricht: »Sie ist ein wesentliches Moment seiner Bedeutungsstruktur, das zur Bedeutung der Wörter hinzutritt und die Semantik des Textes verändert«.54 Das ist scharf und genau, aber noch nicht eigentlich überraschend formuliert. Unter einer Versrede aber versteht Lamping jede Rede, »die durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht«.S5 Der Vers ist für ihn also zunächst eine rhythmische Einheit. Er kann metrisch reguliert sein, muß es aber nicht. Damit steht der freie Vers, ein Vers ohne Versmaß, der sich der gesprochenen Sprache annähert, im Mittelpunkt der Betrachtung. Er kann »unter typologischem Aspekt nicht als die Grenz-, sondern als die Grundform des Verses angesehen werden«. 56 Konsequenterweise kommt Lamping weiter zu dem Schluß, daß ein Vers nicht von einer kurzen Prosazeile zu unterscheiden ist. Er zeigt das - nicht zufällig - am Vergleich eines Jandl-Gedichtes mit einem Aphorismus Lichtenbergs.57 Also ist auch formal erst ein Gedicht mit zwei Versen sicher von einem Aphorismus abzugrenzen. Genau in dieser Annäherung der Lyrik an die Prosa besteht das Problem. Wagenknecht versucht, unter den »Spielarten freier Versgestaltung« zu differenzieren und bezeichnet das am wenigsten Versgebundene als »Prosaische Lyrik«.58 Die entscheidende Frage ist die nach der Motivierung der Versgliederung. Nach genauer Einzelfallprüfung kann man vielleicht zu dem Schluß kommen, daß sie an dieser einen Stelle zu nichts anderem als künstlicher Bedeutungshebung dient, es ist aber nicht zulässig, hier generell Beliebigkeit anzunehmen.59 Eine ganze Reihe von Antworten ist denn auch erprobt worden, angefangen bei den Hinweisen auf die Pause am Versende im Verein mit dem Akzent und der exponierten Position an Versanfang und -ende, die allesamt zur Funktion der Gliederung, Hervorhebung beitragen, auch zur Pointierung, wie sie Wagenknecht schon ins Spiel bringt. So betont Knopf im Zusammenhang mit Brecht Pause und Akzentuierung;60 er bedient sich dabei Birkenhauers Ergebnissen, die eine »Eigenrhythmik« des freien Verses herausarbeiten.61 Die »symbolische Bedeutung« der Pause betont auch 53 54 55 56 57 58
59 60 61
Lamping: Das lyrische Gedicht, S. 23. Ebd., S. 52. Ebd., S. 24. Ebd., S. 27. Ebd., S. 30. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München: Beck 1981, S. lOlf. Fricke: Moderne Lyrik als Nonnabweichung, S. 179. Knopf: Brecht-Handbuch, S. 489. Birkenhauer: Die eigenrhythmische Lyrik Bertolt Brechts, bes. S. 65-70 und 82-87.
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Lamping. 62 Kaiser spricht am Beispiel von Bobrowskis Ebene von Entgrenzung: »Die Worte, dem normalen Zeilen- und Satzverbund mit anderen Wörtern entnommen und fiir sich gestellt, entgrenzen sich, verlieren sich an den Rändern.« 63 Ich möchte bei Bobrowskis extrem kurzer Zeile »See.«, erst recht bei der Zeile »so« in Kunzes Nach einer Leninehrung nicht so sehr Entgrenzung, als vielmehr gewichtiges Einhalten, Konzentration, äußerste Pointierung sehen. Weitaus genauer als diese Funktionsbestimmungen des freien Verses sind die Knopfs und Frikkes, wiederum zu Brecht. Sie sind durch ihre Präzision allerdings wohl auch in der Geltung eingeschränkter. Knopf erläutert die synkopierende Spannung zwischen Syntax und Vers: »Das Relativpronomen bekommt durch seine Isolierung (»einem Mann, der /«) gestischen Charakter, indem sprachlich mit dem Finger auf ihn gezeigt wird«. 64 Das halte zu einem Vergleich des Gesagten mit der Realität an. Frikke arbeitet seine Theorie der Nonnabweichung für die moderne Lyrik aus und analysiert als Funktion der segmentierenden Versschreibweise, etwa an zwei Versen, in denen »der Staat um Verständnis / schlägt«, die gesellschaftliche Dissonanz. Beide beziehen sich dabei natürlich auf niemand anderen als Brecht selbst, der nicht nur mit der Praxis seines freien Verses modellbildend für viele Schriftsteller nach 1945 wird, sondern auch schon früh Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen65 theoretisiert hat. Er erläutert die »gestische Formulierung«, 66 die ihm für den unregelmäßigen Rhythmus entscheidend scheint, im Zusammenspiel einer »Pause der Ratlosigkeit« und des »verblüffenden Rates« genau und spricht selbst in diesem Zusammenhang schon von »Pointierung«. 67 Und auch dort, wo er Gedanke und Emotion in eine enge Verbindung bringt, ist er nicht so weit von Vorstellungen entfernt, wie sie mit dem Aphorismus verbunden werden: »Bei unregelmäßigen Rhythmen bekamen die Gedanken eher die ihnen entsprechenden eigenen emotionellen Formen«. 68 Die trennscharf abgrenzende Definition eines »Textes in Versen« bietet nicht wenige Möglichkeiten, auch prosa-nahe Lyrik und Aphorismus mit Hilfe der Versmotivierung voneinander zu unterscheiden. Es ist möglich und nötig, konkret zu zeigen, was Lamping aus der Semantik der Form schließt: »daß ein und derselbe Satz nicht dieselbe Bedeutung hat, wenn er in Versen und wenn er in Prosa abgefaßt ist«,69 das heißt: wenn wir ihn prosaisch-aphoristisch oder aber vershaftlyrisch >formLakonismus< an Brecht an.248 Von Matt zählt Kunert als »denkenden Dichter« »zu den wenigen genuinen Epigrammatikern der Nachkriegszeit«.249 Dieser selbst bietet den Anlaß zu grundsätzlichen Grenzüberlegungen, wenn er gerade das Paradoxon als Prinzip seines Gedichts erörtert.250 Im Rahmen unseres Überblicks muß es beim exemplarischen 244 245 246 247 248
249
250
Kunze: eines jeden einziges leben, S. 91. Kunze: auf eigene hoffnung, S. 69. Kunze: ein tag auf dieser erde, S. 65. Ebd., S. 82. Knörrich: Die deutsche Lyrik seit 1945, S. 342, 352. Vgl. Otto Knörrich: »Rhetorik des Schweigens«. Zur Autorpoetik Reiner Kunzes. In: Mit dem wort am leben hängen, S. 29-38. Peter von Matt: Günter Kunert: denkender Dichter. In: Günter Kunert. Beiträge zu seinem Werk, S. 15. In: Ein Gedicht und sein Autor, S. 331-336.
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Detail bleiben. An seinem Gedicht Minus lassen sich in Bezug auf Lyrik und Aphorismus Nähe wie Differenz besonders gut erläutern: MINUS
Langsam verlieren wir das Bewußtsein von unseren Verlusten und so leiden wir an Knappheit keinen Mangel.251
Halten wir es einem gleichlautenden Aphorismus »Langsam verlieren wir das Bewußtsein von unseren Verlusten, und so leiden wir an Knappheit keinen Mangel« entgegen. Während der Aphorismus auf die sinnverkehrende Pointe in den Synonymen »Knappheit« und »Mangel« hindrängte, verstärkt das Gedicht im kurzen Vers das Prozeßhafte des Vorgangs. Ebenso langsam, wie »wir das Bewußtsein« verlieren, nehmen wir auf der Rezeptionsebene den Zusammenhang auf: in einem Dreischritt allgemeinster Bewegungsbeschreibung, umfassender Gegenstandsbestimmung und Einschränkung, die uns in den dialektischen Prozeß des Gedichtes hineinführt. Wo der Aphorismus ein Zentrum in der semantischen Variation von »verlieren« und »Verlust« fände, da akzentuieren sich durch Position wie durch Klangintensität im Gedicht »Bewußtsein« und »Verlust«. Im Aphorismus wäre das Leiden, ohne Versfuge und Pause, durch ein Negativum (»keinen«) intellektuell aufgehoben. Im Gedicht »leiden wir« ohne Einschränkung und ehe der Stauung am Versende die Pointe folgt; entschieden tritt damit hier zum Kognitiven das Affektive hinzu. Im Aphorismus wäre die intellektuelle Pointe in der Folgerung »so« angelegt: mangel-los, weil bewußt-los. Im Gedicht stehen hingegen Langsamkeit, Leiden, Verlust im Vordergrund; das Denken ist stärker von der Empfindung gestützt. »Die ganz kurzen, knappen Gedichte (oder gedichtähnlichen Gebilde) sind wohl eher der Versuch, einen Gedanken, eine Empfindung auf einen Punkt zu bringen«, 252 schreibt Kunert dazu, und die formale Unsicherheit, die er hier artikuliert (Gedichte oder gedichtähnliche Gebilde), ist so wenig zufällig und leichtfertig wie die Unentschiedenheit in Bezug auf Denken oder Empfinden; beide Vagheiten erläutern sich ja im Horizont unserer Überlegungen von selbst. »Auf einen Punkt bringen«, das ist nicht spezifisch die aphoristische Pointe, das ist die »Tendenz zur Pointe« allgemein, die Kunert an sich beobachtet. Es zielt auf das Treffende, das in der Spannung von Knappheit und Allgemeinheit steht, auf Konzentration überhaupt, die aphoristische Konzentration253 oder die lyrische: WENN AUCH SCHON
das Schweigen sich verstecken muß dann flüchtet es in die Reden 251 252 253
Kunert: Unterwegs nach Utopia, S. 11. Brief an den Verfasser vom 4. 10. 98. Vgl. Verf.: Der Aphorismus, S. 364-371.
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aus denen es laut von sich selber spricht.254 »Tendenz zur Pointe«: das meint eben auch: auf einen Vers bringen, erst recht, wenn der das genuine Mittel ist, die Pointe herauszustellen: Die doppelte Gegenbewegung zwischen »Schweigen« und »Reden«, eine Offenbarung in der Form der Flucht, wird ja durch die finale Einzelstellung von »spricht« gekrönt. Die »Verlegenheit«, aus der heraus Kunert seine Sprüche so betitelt hat,255 ist nicht in der Person, sondern durchaus in der Sache begründet, in der objektiven Schwierigkeit, Texten zwischen den Gattungen einen wie auch immer zutreffenden Namen zu geben: EMPFEHLUNG
sich nicht zu ducken: Das Schiff liefe nicht vorwärts stünde nicht aufrecht im Wind das Segel.256 Von zweierlei lebt dieser »aphoristisch formulierte« Spruch: vom Bild und seiner doppelten Übertragbarkeit (»aufrecht«, »im Wind«), von der durch Inversion final gestellten Pointe. Keine andere begriffliche Möglichkeit fallt Erich Fried in den Warngedichten 1964 ein; wenn er Sprüche und Widersprüche zusammenstellt, greift er darüber hinaus auf ein wohlfeiles Wortspiel zurück, das schon für Kraus titelgebend war. 257 In den vielen Gedichtbänden seither hat er das sprachreflexive Kurzgedicht an der Grenze zum Aphorismus wie kein anderer gepflegt. Nicht von ungefähr spricht Alexander von Bormann, wenn er die rhetorische Struktur von Frieds Lyrik analysiert, von »einer eigenen Gattung, dem aphoristischen Gedicht< [...], die Fried sehr bedeutsam weiterentwickelt hat«. 258 Eine scheinbare Einfachheit wie schon bei Brecht muß durch komplizierte Denkakte ergänzt werden: 254
Kunert: Abtötungsverfahren, S. 56. Brief an den Verfasser vom 4. 10. 98. - In: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München, Wien: Hanser 1997, S. 245 spricht er gleichfalls von »drei meiner kleinen Sprüche«. 256 Kunert: Vor der Sintflut, S. 39. 257 Auch Morgenstern hat es nach Michael Bauers Zeugnis für den Titel seiner »Stufen« erwogen: Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Bd. 5: Aphorismen. Hg. von R. Habelt. Stuttgart: Urachhaus 1987, S. 699. Beim sprachspielerischen modernen Aphorismus ist es immer wieder noch einmal neu beliebt, bei Heinz Pol (Ansatz und Widerspruch. Bad Hersfeld 1965), Markus Grossenbacher (Israel, Sprüche und Widersprüche. Berlin 1976), Ludwig Fienhold (Wider-Sprüche. 1978), Rudolf Rolfs (Fragen Sie August Pi! Ein Circus d'esprit mit 1444 Widersprüchen. Frankfurt 1980), Frieder Stöckle (Ätsch ich lebe noch. Sprüche - Widersprüche. Stuttgart 1982), Theodor Weißenborn (Alchimie. Sprüche und Wider-Sprüche. 1987), Werner Mitsch (Hin- und Widersprüche. 1988), Günther Hindel (Guter Rat ist teuer. Einfälle und Ausfälle - Sprüche und Widersprüche. 1995), auch bei Elazar Benyoetz (Wolfgang Mieder: »Des Spruches letzter Spruch ist der Widerspruch«. Zu den redensartlichen Aphorismen von Elazar Benyoetz. In: Modern Austrian Literature 31 [1998], S. 104-134). Man möchte hier definitiv den seinen anmelden! 258 Alexander von Bormann: »Ein Dichter, den Worte zusammenfügen«. Versöhnung von Rhetorik und Poesie bei Erich Fried. In: Text + Kritik. Heft 91, S. 6. 255
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AUSWEG
Es muß einen Ausweg geben aus jenem Aberglauben der immer meint es muß einen Ausweg geben.259
Der als Aberglaube bezeichnete Auswegsglaube wird auf sich selbst angewandt und dadurch gleichzeitig konterkariert und bestätigt, bestätigt dadurch, daß es einen Ausweg geben »muß«, konterkariert, indem gerade dies der nämliche Glaube an einen ständigen Ausweg ist. Die Rhythmisierung und die markante Wiederholung der Verse 1 und 4, das Gebetsmühlenartige des Spruches, möchte man sagen, stützen diese Aporie auf eigene: lyrische Weise. Der Konjunktiv I der indirekten Rede wäre in der letzten Zeile grammatisch deutlicher, formsemantisch nicht. Ein solcherart »einfaches« poetologisches Gedicht ist WIDERSPIEGELUNG
Wenn die Gedichte einfacher werden so zeigt das nicht immer an daß das Leben einfach geworden ist. 260
Ohne Überschrift und ohne seinen theoretischen Hintergrund gelesen, wirkte es trivial, keine Lebens-, auch keine Kunst-, eine Binsenweisheit. Das gedanklich schwächliche »nicht immer«, das sich allen Gegenmöglichkeiten offenhält, macht es nicht stärker. In seinen Kontext gestellt, muß man konzedieren, daß Frieds dialektisches Denken hier unorthodoxer- wie poetologisch stimmiger- und konsequenterweise vor der allzu planen Widerspiegelungstheorie nicht halt macht. Dieses Denken, das recht genau an Brechts Me-ti erinnert, bestimmt die Art seines lyrischen Definierens: VIELLEICHT
Erinnern das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual.261
In dem einen Teil ist sein Gegenteil enthalten, und flir beides gilt: »vielleicht«.
259 260 261
Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1, S. 338. Ebd., Gedichte 2, S. 511. Ebd., Gedichte 3, S. 11.
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Hier wirkt die Versifizierung in der parallelen Akzentuierung »vielleicht« - »vielleicht«, »Art« - »Art« überzeugender unabdingbar. Äußerste Einfachheit und scheinbares Wortspiel verbinden sich zu einer Frage ganz im Sinne Brechts: NICHTERFÜLLUNG DES KUNSTSOLLS
Was soll das wenn etwas nichts soll als einfach nichts sollen?262 Fried verteidigt die Autonomie der Kunst gegen ihre Indienstnahme für den jeweils richtigen Zweck, indem er scheinbar sichere Denkstrukturen aufbricht; er >verunsichertemsthafte Wortspiel«« des Soldaten in dem Roman »Ein Soldat und ein Mädchen« (Werke 4, S. 41). 263 Ebd., Gedichte 2, S. 277. 264 Ebd., Gedichte 2, S. 537. 147
man frei sein?«,265 da zielt Frieds Frage, nachdem die erste Strophe die triviale, allzeit verschobene Utopie freier Betätigung des eigenen Willens formuliert hat, durch Verdopplung des Modalverbs (wollen können) selbstkritisch und -zweifelnd nach innen und bringt dadurch in die nicht eben neue Erörterung, die der Mensch seiner »Willensfreiheit« gewidmet hat, doch einen neuen Aspekt. Eine andere Form von Frieds aphoristischer Lyrik schließt direkt an einen festen Typus innerhalb der Nachbargattung an, die relative Prägung: UNRECHT
Wer immer weiß zu welchem Gott er betet wird nie erhört. 266
In Abwandlungen wie »wer - der« oder »wenn - dann« oder »wie - so« hat sie ihren Ursprung im Sprichwort: »Wie man betet, so wird man erhört«.267 Ganz in der Art aphoristischer Produktion, die sich oft aus einer Mischung von Weiterführung und Widerspruch ergibt, schließt Fried an das Sprichwort an, allerdings über Brecht. 268 »Wer A sagt, muss auch B sagen«269 hat ja schon diesen zu einer fast zum Geflügelten Wort gewordenen Gegenführung in Der Jasager und Der Neinsager veranlaßt: »Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war«. 270 Fried variiert: POLITISCHE VERLEUMDUNG
Wer A sagt dem sagt man heut nach daß er auch B gesagt habe. 271
Im Sprichwort dient die Relativprägung einer Regel ohne Ausnahme. Und eben diese Regel ist im Umkreis von Axiom und Maxime eine der Quellen, aus denen sich der Aphorismus ursprünglich speist.272 Genau dieselben aphoristischen Regeln prägt Frieds Lyrik: STATUS QUO
Wer will daß die Welt 265
Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. München: Hanser 1987, S. 24. 266 Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1, S. 338. 267 Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Leipzig 1867. Bd. 1, S. 342 (Nr. 60). 268 Ygi. Barbara Allen Woods: The Function of Proverbs in Brecht. 269 Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Leipzig 1867. Bd. 1, S. 1 (Nr. 8). 270 Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 629. 271 Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 2, S. 486. 272 Verf.: Der Aphorismus, S. 334-336.
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so bleibt wie sie ist der will nicht daß sie bleibt. 273
Auch im aphoristischen Imperativ formuliert sie Lebensregeln, auch hier freilich ist sie Ausdruck dialektischen, nicht sprichwörtlich einschichtigen Denkens: ANGST UND ZWEIFEL
Zweifle nicht an dem der dir sagt er hat Angst aber hab Angst vor dem der dir sagt er kennt keinen Zweifel. 274
Umfassender Zweifel als Maxime läuft einem Denken nach festen sprichwörtlichen Regeln diametral entgegen. Das ist beileibe nicht neu, sondern der zweifelvollen Geschichte des Aphorismus geradezu inhärent. Schon Lichtenberg unterläuft die Regelstruktur inhaltlich, wenn er formuliert: »Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4«.275 Neu ist bei Fried die höchst kunstvolle Verschränkung von Angst und Zweifel, die seinen Text auch bei aller Nähe zum Aphorismus notwendig zum Gedicht werden läßt, weil sie von der Versgliederung lebt: die Kontrastierung in den umschließenden, die Parallelisierung in den umschlossenen Versen der beiden Strophen, die dartiberliegende chiastische Struktur (kein Zweifel als Folge von Angst, Angst als Folge von NichtZweifel). Auch oder erst recht in seinen schwächeren Texten läßt Fried die Nähe seiner Gedichte zum Aphorismus deutlich werden, weil sie, an Sprichwort oder Redensart angeschlossen, erkennbar nach Regeln hergestellt sind, die schon dort nur durchschnittliche Produkte hervorbringen. Frieds Abwandlung einer Redensart ist nicht mehr als eine kleine Kunstfertigkeit: TIERISCHER ERNST
Auch auf einem Weg der für die Katz ist kann man auf den Hund kommen wenn man nicht Schwein hat. 276
So hat Mieder zum Beispiel einige der Tausende von derartigen Sprüchen Werner Mitschs kommentiert, in denen es auch von den sprichwörtlichen Hunden und 273 274 275
276
Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 2, S. 523. Ebd., Gedichte 2, S. 202. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 2. Bd. München: Hanser 1971, S. 453 (K 303). Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 3, S. 186. Vgl. Folke-Christine Möller-Sahling: »Tierischer Ernst«: Zu Erich Frieds sprichwörtlicher Lyrik, S. 278.
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Katzen und Schweinen wimmelt.277 Das folgende Gedicht geht ebenfalls weder wirklich »nahe« noch führt es »weit«: SPRACHGEBRAUCH DER ERWACHSENEN
Wenn ihnen etwas zu nahe geht rufen sie Das geht zu weit! 278
Das andere der allzu gängigen Mittel, das Wortspiel, steht oft in Verbindung damit. Um die Jahrhundertwende wird es reichlich durchexerziert, bei Kraus hat es noch meist Substanz, aber den minderen modernen Aphorismus macht es, mechanistisch, unbekömmlich, und auch in Frieds Lyrik legt es sich eher den durchschnittlichen Beispielen nahe: DIE OHNE STIMME
was sich nicht herumsprechen durfte das haben sie mit der Zeit und gegen die Zeit herumgeschwiegen.279
Ein Neologismus wird erzeugt, indem eine Tätigkeit oder ein Objekt in die Form ihres Gegenteils (hier eines Kompositums) gegossen werden. Das ist durchsichtig, auch wenn die Verblüffung, ganz wie bei Brechts »kleinzügig«, eine Spur vergrößert wird, weil der Neologismus der ihn erklärenden Grundform weit vorausgeht: GRUNDLAGE
Die Untersterbenden sind nie mehr oberflächlich Sie sind der Grund auf den die Überlebenden treten.280
Der freie Vers mit seinen Funktionen, die ganz in dem an Brecht exemplifizierten Rahmen bleiben, hat die Grenze zwischen den Gattungen in all diesen Beispielen mehr oder minder deutlich markiert, mehr oder minder nach dem Maße, in dem er seinen eigenständigen Beitrag zur Semantik des Gedichtes leistet, zuweilen im eher 277
Wolfgang Mieder: »Wahrheiten: Phantasmen aus Logik und Alltag«. Zu den sprichwörtlichen Aphorismen von Werner Mitsch. In: Muttersprache 98 (1988), S. 121-132. 278 Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 3, S. 576. 279 Ebd., Gedichte 3, S. 349. 280 Ebd., Gedichte 1, S. 471.
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unauffälligen Zeilenstil (Tierischer Ernst), unmittelbar einsichtig in den Formen des Parallelismus (Angst und Zweifel), der gestischen Formulierung (»durfte« in Die ohne Stimme) oder auch der isolierten Einzelstellung: ENTHÜLLUNG
Was sich verkleidet als Neugier ist dann nackt nur die alte Gier.281 Während die extreme Kurzzeile erkennbar in »nackt / nur« die formale Unterstützung oder, beschreibend und nicht wertend gesagt: Vollendung leistet, scheint im andern Fall auch die extreme Streckung und Verlangsamung, die sie bewirkt, die kleine Wortpointe doch eher nicht zu größerer Bedeutung aufputzen zu können, noch keine »Laberlyrik«, 282 aber das Problem des freien Verses ist mit dieser respektlosen Bezeichnung getroffen: COPYRIGHT
Wieviel Jahre nach Gottes Tod erlöschen seine ausländischen und deutschen Urheberrechte.283 Wie gängig die Mittel geworden sind, die Aphorismus wie aphoristisch orientierter Kurzlyrik gleichermaßen zu Gebote stehen, das wäre bei einem Fried-Epigonen wie Bodo Rulf vielfach zu zeigen: Auch die alles wollen können zuviel kriegen.284 Während beim gleichlautenden Aphorismus der Chiasmus formal im Vordergrund wäre und der Akzent auf seinen Mittelgliedern, dem Gegensatz »alles« - »zuviel«, läge, hebt die Versgliederung beim Gedicht die Antithese von Wollen und Können heraus; das Bedeutungsganze wird dadurch aber kaum verändert. Gängig gewor281
Ebd., Gedichte 3, S. 105. So Roman Ritter, zit. bei Fricke: Moderne Lyrik als Normabweichung, S. 179. 283 Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 1, S. 623. Vgl. »Zweckdenken« S. 633. 284 Rulf: Fehlfarben oder Das Herz in der Hand, S. 21. 282
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den sind aber nicht nur die alten Mittel, die sich aus den Traditionen von Sprichwort und Aphorismus herleiten, sondern auch die neueren, etwa die Reflexion in der Form dialektischer Selbstbezüglichkeit. Beschranken wir uns auf ein Beispiel, das mit der ambivalenten Erörterung von Handeln und Leiden auch inhaltlich ganz in dem gedanklichen Umkreis Frieds bleibt: WER NICHT LEIDEN WILL muß handeln und wer nicht handeln will handelt mit der Illusion nicht handeln zu können. 285
Nicht selten ist die Versgliederung so schwach, daß sich die Grenze zwischen dem Gedicht, das formal gewollt ist, und dem darin verkleideten Aphorismus bis zur Ununterscheidbarkeit verwischt: Die Weisheit hätte vielen Erkenntnissen keine Taten folgen lassen. 286
In der Nachfolge des epigrammatisch-aphoristischen Kurzgedichts Brechts ragen außer den beiden (ursprünglich) in der DDR schreibenden Lyrikern Kunze und Kunert und dem Emigranten Fried zwei Vertreter der bundesrepublikanischen Literatur nach 68 heraus: Arnfrid Astel und Hugo Ernst Käufer. Daß Astel seine systemkritischen Kurzgedichte gleichfalls von Brecht her als Epigramme bezeichnet, ist zu offensichtlich, als daß es nötig wäre, sein Selbstbekenntnis zu bemühen, das dem Vorbild SCHWÄCHEN Du hattest keine Ich hatte eine: Ich liebte. 287
nur eben den Namen von dessen Verfasser hinzufügt und das zweifellos als Bekenntnis eher denn als Kunstprodukt zitiert zu werden verdient: SCHWÄCHEN (nach Brecht) Du hattest keine. Ich hatte eine: Ich liebte Brecht. 2 8 8
Inhaltlich sind diese Epigramme mit ihrer Widmung »für Dich / gegen den Polizeistaat« ganz ein Produkt der Jahre nach 1968 - die Sammlung Notstand aus diesem
285 286 287 288
Ebd., S. 57. Vgl. S. 58, 59, 76, 84,102, 107, 120, 121. Ebd., S. 207. Brecht: Gesammelte Werke. Band 8-10, S. 968. Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 25.
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Jahr steht übrigens unter einem Lichtenberg-Motto 289 - , formal reichen sie von der pointierten aphoristischen Definition: FEUILLETON:
Blatt vorm Kopf. 290 bis zu Formen, die dem klassischen Epigramm nahe sind: in freien Versen satirisch konzis und pointiert an (oder besser: gegen) eine Person oder ein Objekt gerichtet: FÜR PETER HANDKE
Die entzündeten Stellen belegst du mit Zellstoff aus sorgfältig verästelten Wortgruppen. Ständig wechselst du den entzündeten Wortverband. Du bist ein unheilbarer Schriftsteller.291 Auch daß Astel in den 50er Jahren mit Haiku-nahen »Stilleben-Gedichten« angefangen hat, 292 ist noch deutlich sichtbar: ICH sitze im Freien. Im Gedicht, das ich lese, kommt ein Baum vor. 293 EINE Kastanie
rollt mir vor die Füße. Meine Schuhe glänzen.294 Das
Spektrum reicht von >klassischer< moderner Lyrik in freien Versen mit Gretchen295) bis zur Kurzprosa (Dumm bleiben296), zu Reiseimpressionen (Römisches Biedermeier191) und zum Wellerismus: (FOTOMONTAGEN -
VERSPROCHEN
ist versprochen sagte der Intendant zum Sprecher.298 Die formale Breite der Gattung in den Zeiten des freien Verses war schon an Brecht deutlich zu machen. Astel erläutert die übertragene Bedeutung des Begriffes selbst:
289
»Er müßte vortrefflich kühlen, sagte ich, und meinte den Satz des Widerspruchs, ich hatte ihn ganz eßbar vor mir gesehen« (D 528, letzter Satz). 290 Ebd., S. 10. 291 Ebd., S. 23. 292 Michael Buselmeier: Arnfried Astel. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. München: text und kritik 1978ff., S. 3. Vgl. Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 493. 293 Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 714. 294 Ebd., S. 715. 295 Ebd., S. 11. 296 Ebd., S. 469. 297 Ebd., S. 207. 298 Ebd., S. 73.
153
EPIGRAMME
Strafzettel für den Rechtsstaat. 299
Die gesellschaftliche Dissonanz, von der Fricke in Bezug auf Brechts Versbrechungen spricht, ist hier deutlich nachvollziehbar; der »Strafzettel / « ist filr den gedacht, der ihn legitimerweise ausstellen läßt. Es ist das Kämpferisch-Satirische, das diese Epigramme noch mit dem klassischen Begriff verbindet. Und zum Unterschied von Prosa und Vers kann Astel nur noch sagen: Nach dem Unterschied zwischen Prosa und Vers befragt, will ich in prosaischen Versen antworten [...]. Wenn die Politiker Stabreimen in Frieden und Freiheit, gehen die Dichter freiwillig ins prosaische Exil. 300
In der Tat sind die meisten lyrischen Texte Asteis von ihrer Nähe zum Aphorismus her am besten zu verstehen. Sie kommen ihm nicht nur der inneren Form nach nahe, sie bedienen sich dazu auch dessen klassischer Mittel. Der Typus der Definition wird gerade in diesen Jahren zu politisch-satirischen Zwecken reichlich gebraucht. 301 Auch versifiziert bleiben Asteis Epigramme im Rahmen solcher Satire: VORGESETZT
Ein Vorgesetzter ist, was einem vorgesetzt wird, ohne daß man Appetit daraufhat. 3 0 2
Ein schwächliches Wortspiel zur Umkehrung im Dienste politischer Aufklärung, die vorzeitige Pointe sprachlich-gedanklich nachlässig nachgebessert: das bleibt allenfalls im literarischen Mittelmaß der political correctness jener Jahre. Hugo Ernst Käufers Texte Über das gesunde Volksempfinden und andere Anschläge (1983) sind in so unregelmäßig langen Zeilen gesetzt, daß man gar nicht mehr entscheiden kann, ob Verse gewollt waren (aber das ist auch nicht wichtig): Vorgesetzter. - Was vorgesetzt wird, ist nicht immer genießbar. 303
In anderen Fällen reicht der Typus bei Astel aber an die poetische Bilddefinition heran, wie sie an verschiedenen Vorformen von Hille bis Gömez de la Serna zu zeigen war: 299 300 301
302 303
Ebd., S. 91. Ebd., S. 768. Unter anderem: Ludwig Marcuse: Argumente und Rezepte. Ein Wörterbuch fiir Zeitgenossen, 1967; Gerd Wollschon: Sudel-Lexikon, 1977; Rudolf Rolfs: Schlag nach bei Rolfs, 3. Auflage 1976; Aurel Schmidt: Ketzer-Lexikon, in: Die angemeldeten Bedenken, 1977; Helmut Lamprecht: Definitionen, in: Die Hörner beim Stier gepackt, 1975. Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 817. Käufer: Über das gesunde Volksempfinden und andere Anschläge, S. 8.
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DER Gedanke ein Fisch im Wasser des Bewußtseins.304 Obwohl die Verse mit jeweils zwei Worten extrem kurz sind, entfaltet sich das Bild dem Leser etappenweise, die Versgrenze erhöht die Denkspannung. Wenn die überraschende Gleichsetzung am Ende der zweiten Zeile ihm noch jeden Anhaltspunkt zum Nachvollzug verweigert, so bleibt die dritte Zeile trivial im Bild, ohne damit etwas zur Lösung beizutragen. Der letzte Vers blendet von der Vergleichsebene auf die des zu Vergleichenden zurück. Erst mit dem Ende bietet sich die Möglichkeit zur Erschließung, schlagartig und als Denkaufgabe. Der Wille zu poetischer Originalität hält dem aufklärerischen Impetus die Waage; beides verschmilzt in einem Bildgedanken, einem Gedankenbild, in und auf das man sich nicht ohne Gewinn einläßt und das bei größter Nähe doch auch Formdistanz gegenüber einer aphoristischen Definition wahrt: VERBOTENE WÜNSCHE
Die Kinder erlaubter Gedanken.305 Die Nähe ist im übrigen auch dadurch gegeben, daß Asteis Rundfunkkollege Helmut Lamprecht, von dem dieser Aphorismus stammt, mit seinen Aphorismen Die Hörner beim Stier gepackt (1975) gegen dieselben aktuellen Notstände306 wie Astel anschreibt. Das Gedankenbild kann zu einer phantastischen Situation ausgeweitet werden, bei der die Überschrift in die geheimnisvolle Paradoxie dieses Vorstellungsraumes hineinführt und der Vers zu nicht viel mehr dient, als die syntaktische Gliederung zu unterstreichen: STRENG VERTRAULICH
Einer hat erfahren, daß er hingerichtet werden soll, plaudert das aus und wird dafür zum Tode verurteilt.307 Einerseits scheint der aphoristische Rahmen hier eindeutig Uberschritten, andererseits entspricht das Gedicht in der syntaktischen Form wie in seinem poetischen Vorgehen genau den Situationsbildern der imaginativen Aphorismen Canettis: »Einer wird dazu verurteilt, alle seine Briefe wiederzulesen. Bevor er weit kommt, trifft ihn der Schlag«. 308 Wo es sich verselbständigt, steht das Wortspiel hingegen auch bei Astel, wie bei Fried, unter einem unglücklichen poetischen Stern:
304
Ebd., S. 239. Helmut Lamprecht: Die Hörner beim Stier gepackt, S. 42. 306 Ebd., S. 15-22. 307 Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 458. 308 Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. München: Hanser 1987, S. 40. 305
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RECHT ZERSTREUT ( § & % % )
Auf der Suche nach dem Paragraphen auf meiner Schreibmaschine konnte ich nur die Prozente finden.309
Die Anspielung auf den Zusammenhang von Herrschaft und Kapital, symbolisiert in der Alliteration von »Paragraphen« und »Prozente«, findet im »Recht« der Überschrift, das zwischen Substantiv und Adverb schillert, ihr Zentrum. Auch die Versgliederung kann das intentional wie entstehungsgeschichtlich durchsichtige Gebilde nicht mit Bedeutung aufladen. Der Doppelsinn von »Rasen« und »Betreten« motiviert weder den literaturkritisch noch den politisch Herangehenden sonderlich: RASEN verboten.
Betretenes Schweigen.310
Weder in der einen noch in der anderen Richtung wird mit diesen Zeilen etwas überzeugend übertreten. Die Zeilenbrechung ist nichts als graphisch verdeutlichte Syntax. So auch in der zu Recht berühmt gewordenen LEKTION
Ich hatte schlechte Lehrer. Das war eine gute Schule.311
Sie erteilt die ihre in demonstrativer syntaktischer Subjekt-Prädikat-ObjektSimplizität. Oder hat sich nicht eher der Leser die seine denkend selbst zu erteilen? Jedenfalls erscheint ihm die Antithese »schlecht« und »gut« erst in dem Maße als nicht paradox, in dem ihm der tatsächliche Gegensatz des Ausdrucks >Lehrer haben< und der stehenden Wendung >Schule sein< aufgeht. Oft ist die Versgliederung darüber hinaus auch durch den Gegensatz motiviert: Du setzt mich ins Unrecht, aber ich nehme nicht Platz.312
Der Vers ist einheitsstiftend und setzt die Redensart gegen ihre wörtlich genommene Weiterführung ab. Einen konstituierenden Unterschied zwischen Gedicht und Aphorismus kann man aber daraus nicht ableiten. Es erreicht ja damit nur die Zäsur graphisch, die Lamprechts Aphorismus durch die prononcierte Interpunktion, wahrhaftig einen Interpunkt, erzielt: »Als ihm die Knie weich wurden, setzte er sich. Ins Unrecht«.313 Ein vollständiges Korpus aller Aphorismen dieser Jahre, die ihren spärlichen Witz aus den gegensätzlichen Wortfeldern Stehen und Liegen, aus Aufstand, Auf- und Niederlage beziehen, wäre ebenso lang wie langweilig. Asteis Gedicht
309 310 311 312 313
Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 92. Ebd., S. 443. Ebd., S. 652. Ebd., S. 465. Lamprecht: Die Hörner beim Stier gepackt, S. 29.
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NICHT in d e r Lage.
Aber auch außerstande. 314
gliedert sich ihm ohne weiteres ein. Und unter all den Aphorismen »zwischen zwei Stühlen« wäre sein Epigramm ebensowenig ein Fremdkörper: ZWISCHEN d e n Stühlen
sitzt der Liberale auf seinem Sessel. 315
Asteis Texte stehen und fallen oft mit ihrem Titel; das war mit Recht zerstreut im einen Fall wie mit Streng vertraulich im andern schon zu sehen. Soll man von einer umgekehrten Pointe sprechen, die am Anfang steht, aber gleichwohl erst vom Ende her aufblitzt, soll man es Perspektivierung nennen, was die Überschrift hier im guten Falle leistet? Jedenfalls ist sie in unserem vielfachen Abwägen von Nähe und Distanz ein überaus wichtiges Element, das zu seinen Epigrammen hinzutritt. Allerdings - neuer interpolierender Impuls - tritt es in diesen Gedichten nicht konsequent auf, und dem Aphorismus ist es nur in der Regel, nicht grundsätzlich fremd. NATURLYRIK
Das Gedicht geht über Leichen. Es handelt von Blumen. 316
Einer Redensart, aus einem völlig verfremdeten Kontext heraus (Vers 1) durch einen Vers zusammengehalten (Vers 2), folgt ein zweiter Satz, der, wiewohl lapidar parataktisch gereiht, dazu offensichtlich im Begründungszusammenhang steht. Die Begründung im Vollsinne freilich stellt sich erst im Horizont der Überschrift ein, die Naturlyrik als alles andere denn Naturlyrik ausweist, nämlich als ein Gedicht, das das durch idyllische Naturthemen existentiell wichtige Verdrängte und Verschwiegene einklagt und die Verfasser von Naturlyrik mit seiner auf impliziter Schuld beruhenden Argumentation auf seine Anklagebank setzt. Hier ist die lyrische Form durch Titel und Thema konstitutiv. Das gilt auch für DEMONSTRATION
Mit Schlagstöcken zeigt die Polizei auf die Köpfe der Nation. 317
Die Versbrechung zwischen »Schlagstöcken« und »zeigt« erfüllt die »gestische Formulierung« im Sinne Brechts geradezu mustergültig, und genau an dieser Zäsur setzt die Doppeldeutigkeit der Überschrift an. Auch Hugo Ernst Käufer, als Stadtbüchereidirektor von Gelsenkirchen Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, laviert ständig auf der Grenze 314
Astel: Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 905. Ebd., S. 446. 316 Ebd., S. 496. 317 Ebd., S. 583. 315
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von Lyrik und Aphorismus. Zu oft aber bieten seine Texte außer der richtigen, der sozialistischen Gesinnung nicht viel. Unter seinen vielen gattungsreflexiven Aphorismen findet sich ein Beitrag, der die Differenz von Lyriker und Aphoristiker beschreibt: »Unterschied. - Ein Lyriker dichtet für die Ewigkeit, ein Aphoristiker schreibt für den Tag«. 318 Aphoristik als Gebrauchslyrik also: mit der typisch aphoristischen Konzentration auf einen Aspekt, hier den der Geltungsdauer, ist noch nicht viel entwirrt. In Leute bei uns gibts Leute (1975) finden sich zwischen längeren Sozialismus-Gedichten, die nur noch historisch von Interesse sind, vereinzelt kürzere wie: Das neue Geschäft: die literarische Vermarktung der Arbeitswelt.319 In den Standortbestimmungen ist der Untertitel Fast Aphorismen interessant, der zeigt, wie genau Käufer selbst die gattungsmäßige Einordnung seiner Texte reflektiert hat. Diese selbst sind ziemlich platt: vielleicht politisch brauchbar gewesen. Ein Hauch von aphoristischer Pointe zeigt sich noch am ehesten hier: Zur Not, sagte er muß die Freiwilligkeit erzwungen werden.320 Todernster Klassenkampf läßt keinen Wortwitz zu, wenn aber doch, dann einen von der unsäglichen Art: Paradox: es übermannte sie.321 Für das blasse Bonmot bedeutet der Vers nichts: Seine Frau ist spannender als sein letzter Roman.322
4.5. Aphoristische Lyrik, lyrischer Aphorismus Wie weit der Einfluß Brechts auf die deutsche Nachkriegslyrik reicht, läßt sich also auch am Detail, dem aphorismus-nahen Kurzgedicht in freien Versen, von Kunze bis Käufer gut beobachten. Aber auch weit außerhalb seiner Einflußsphäre, in einer Literatur, die aus Wurzeln in Symbolismus und Surrealismus lebt, sind lyrisch-aphoristische Texte an den Gattungsgrenzen auszumachen. Von französischen Vorläufern wie Jacob, Char, Michaux war schon einleitend kurz die Rede. 318
Käufer: Kehrseiten, S . l l . Käufer: Leute bei uns gibts Leute, S. 52. 320 Käufer: Standortbestimmungen, S. 16. 321 Ebd., S. 37. 322 Ebd., S. 45. 319
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Paul Celans lyrische Aphorismen Gegenlicht323 von 1949 formulieren poetische Umkehrungen und schließen sich damit doch auch an die >klassische< aphoristische Umkehrung an, wie sie beispielweise Kraus in allen Varianten meisterhaft beherrscht 324 und wie man sie in Hans Kudszus' Dialektik der Sprichwörter325 gut beobachten kann. Die Sprichwortvariation dient aber hier nicht der oft banalen Gegenführung, sondern der poetischen Verrätselung: So lange geht der zerbrochene Krug zum Brunnen, bis dieser versiegt ist. 326 In derselben Tradition steht auch Canetti. Seine Aphorismen sind von allen wortspielerischen, gar mechanischen Verkehrungen frei und bilden stattdessen eine phantastische Gegenwelt. Sie sind damit Celans Imaginationen erstaunlich nahe. Man vergleiche diese mit den »Umkehrungen« in Canettis Provinz des Menschen. Ich greife dazu drei inhaltliche Aspekte heraus: Es war Frühling, und die Bäume flogen zu ihren Vögeln.327 (Celan) Der Hund nahm seinem Herrn den Maulkorb ab, behielt ihn aber an der Leine. 328 (Canetti) Der Tag des Gerichts war gekommen, und um die größte der Schandtaten zu suchen, wurde das Kreuz an Christus genagelt.329 (Celan) Gott tat die Rippe in Adams Seite zurück, blies ihm den Atem aus und verformte ihn wieder zu Lehm.330 (Canetti) Vergrabe die Blume und lege den Menschen auf dieses Grab.331 (Celan) Beim Begräbnis ging der Sarg verloren. Man schaufelte die Leidtragenden eilig ins Grab. Der Tote tauchte plötzlich aus dem Hinterhalt auf und warf jedem eine Handvoll Erde in sein Grab nach. 332 (Canetti) Auch Korrespondenzen zu den lyrisch-aphoristischen Texten René Chars, den Celan in den fünfziger Jahren Ubersetzt, stellen sich ein. Celans eigene Lyrik ist in aller Regel auch dort, w o sie betont kurz ist, nicht von einem Gedankenbild bestimmt, sondern von der Beziehung zwischen einem Ich und einem Du oder von der Chiffre. Dennoch mag es nicht ohne Ertrag sein, zwei Texte, die - in dieser Form - nicht von Celan sind: 323
Celan: Gegenlicht. In: P. C.: Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 163-165, zuerst veröffentlicht in »Die Tat« (Zürich), 12. 3. 1949. »Gegenlicht« heißt auch ein Teil von »Mohn und Gedächtnis«; Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 43-61. 324 Vgl. oben S. 31. 325 Hans Kudszus: Jaworte, Neinworte. Aphorismen. Mit einer Einführung von Dieter Hildebrandt. (Bibliothek Suhrkamp 252) Frankfurt: Suhrkamp 1970, S. 19-21. 326 Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 163. Vgl. etwa von Welsers Beispielreihe mit »Gegenformeln«: Klaus von Welser: Die Sprache des Aphorismus, S. 123 und 233ff. 327 Ebd. 328 Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972. München: Hanser 1973, S. 332. 329 Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 163. 330 Elias Canetti: Die Provinz des Menschen, S. 332. 331 Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 164. 332 Elias Canetti: Die Provinz des Menschen, S. 33lf.
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Du warst mein Tod: dich konnte ich halten, während mir alles entfiel. Das Herz blieb im Dunkel verborgen und hart, wie der Stein der Weisen.
mit Celans Gestaltung zu vergleichen: Du WARST mein Tod: dich konnte ich halten, während mir alles entfiel. 333 Das Herz blieb im Dunkel verborgen und hart, wie der Stein der Weisen. 334
Celans Gedicht verstärkt gegenüber einem gleichlautenden Aphorismus durch die Versfuge das im Doppelpunkt syntaktisch markierte Innehalten; auch das Kontrastive von >halten< vs. >entfallen< wird durch den Vers betont, in der Spitzenstellung von »dich« so gut wie mit dem verseinleitenden adversativen »während« (nicht anders als in Asteis von »aber« eingeleiteten Gegen-Satz-Versen). Celans Aphorismus verzichtet gegenüber einem gleichlautenden Gedicht auf die Akzentuierung von Statischem (»blieb«) zugunsten eines unmittelbareren, alliterierend betonten Zusammenhanges von »Herz« und »hart«; er verzichtet auf das Einheitsstiftende eines Verses, der das Geflügelte Wort vom »Stein der Weisen« zitierte, zugunsten größerer Nähe von Eigenschaft (Härte) und Vergleichsobjekt (Stein). Die zeitweilige Nähe beider Gattungen bei ihm läßt das kleine Formexperiment gleichwohl deutlich werden. Ernst Meister, oft mit Celan in einem Atemzug genannt, schreibt zur gleichen Zeit (1948) 570 Gedanken eines Jahres,335 die erst über vierzig Jahre später veröffentlicht werden. Was die Gestaltung dieser Gedanken betrifft, so spricht er in einem Satz von »Tagebuch« und von »Aphorismen«: »Man gestatte mir, diesen Begriff weiter zu nehmen als gewöhnlich«.336 An Karl Löwith, den Lehrer und Freund der Marburger Zeit, schreibt er Ostern 1949: »Ich habe mir jetzt in Aphorismen und Betrachtungen so manches vom Herzen herunterphilosophiert. Die Poesie stand natürlich Pate«.337 Zu seinem Selbstverständnis heißt es da weiter: »Ich hoffe, das einzige, was ich wurde, weil ich es war, zu bleiben: ein poeta, der philosophiert«. 338 Und am Ende seines Lebens sagt er im genau gleichen Sinne in einem Gespräch: »Ich muß Ihnen bekennen, daß bei mir Dichten identisch ist mit Denken«. 339 Für Wallmann sind die Gedanken »das Zeugnis einer existentiellen Krise, die Meister damals das Dichten verwehrte«, 340 und sie erinnern ihn an das romantische Fragment und an die Tagebuchaufzeichnung. 333
Celan: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 166. Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 163. 335 Meister: Gedanken eines Jahres. In: E. M.: Prosa 1931 bis 1979, S. 139-260. 336 Meister: Prosa 1931 bis 1979, S. 345. 337 Ebd., S. 346. 338 Ebd. 339 Jürgen P. Wallmann: Todesrechnung voller Klarheit. Der Lyriker Ernst Meister im Gespräch. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 4. 2. 1979. 340 Jürgen P. Wallmann: Wille zum Totum, S. 106. 334
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Thematisch sind sie weitgehend einheitlich; sie kreisen um Tod und Gott, Sein und Nichts und heben sich darin nicht von seiner Lyrik ab. Der inneren Form nach hingegen fächern sie ein ganzes Spektrum auf. Breiten Raum nehmen die aphoristische, dabei philosophie-nahe Definition, der existenzphilosophisch orientierte Aphorismus, die kurze Reflexion ein, auch ersichtlich in einer zusammengehörigen Folge. Anderes, etwa die biographische Episode mit anschließender Reflexion, bleibt quantitativ deutlich dahinter zurück; genuin aphoristische Pointierung (etwa in der Paradoxie) findet sich äußerst selten. Der Verknüpfungspunkt mit der Lyrik - darauf allein liegt hier der Akzent - ist in solchen aphoristisch-metaphorischen Formen zu suchen: Weil das Leben mit seinem Sauerteig, dem Tode [,] durchsetzt ist, deshalb ist es so gärend tätig. 341
Hier sind die Vergleiche noch intellektuell auflösbar: Der Punkt Gegenwart tanzt auf der Energie des Alls wie ein Ball auf einem Wasserstrahl.342 Das Sein ist Pflanze. Wir sollen seine Gärtner sein. 343
In anderen Aphorismen dagegen ist das rein intellektuell Nachvollziehbare des Bildes - nicht zu seinem Nachteil - überschritten. Genau damit stehen solche Gedanken vollends auf der Grenze zur Lyrik: Der Wind möchte schweifen und toben im Raum; doch bricht er sich seufzend an den Dingen. 344 Die Erde wächst allmählich in ihre Angeln. Aus ihrem Schöße springt eines Tages ihr Haupt. 345 Unser Grab: ein kleiner, ganz feiner Riß in der faltigen Hand unserer großen Mutter. 346
Den Zusammenhang von Lyrik und Aphoristik Ernst Meisters haben wir schon zu Beginn hergestellt in einem kleinen formproblematisierenden Verwirrspiel zwischen der Etüde und dem Aphorismus »Mutter der Dinge: Ahnin aus lauter Zukunft«.347 Das Spektrum reicht von einer Klärung, die vom Tod als dem das Leben durchsetzenden Sauerteig ausgeht, bis zur Anrede in Versen, die die Sterblichkeit der Vernunft mit ihrem geheimnisvollen Charakter als »des Traums / Seherin« in Verbindung bringt: NICHTS
dir so bekannt wie daß auch Vernunft
341
Meister: Prosa 1931 bis 1979, S. 152 (Nr. 74). Ebd., S. 148 (Nr. 46). Ebd., S. 218 (Nr. 356). 344 Ebd., S. 141 (Nr. 7). 345 Ebd., S. 142 (Nr. 8). 346 Ebd., S. 160 (Nr. 117). 347 Ebd., S. 164 (Nr. 131).Vgl. oben S. 112-113. 342 343
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sterblich sei. Sie, des Traums Seherin. 3 4 8 Dieser Weg vom - aphoristischen - Vergleich zur - lyrischen - Chiffre hat als seinen Angelpunkt den lyrischen Aphorismus: »Der Tod: den Brunnen der Schwermut von innen schließen.« 349 Eine solche graduelle Verschiebung nachzuvollziehen, scheint auch Meisters Werk zwischen Lyrik und Aphorismus eher gerecht zu werden als ein prinzipielles Setzen von Gattungsgrenzen. Auch Kurt Leonhards Zirkelschlüsse möchten als Merkverse zwischen Lyrik und Logik »Poesie als Fortsetzung von Philosophie mit anderen Mitteln versuchen dürfen«. 350 Man findet in dem schmalen, formal uneinheitlichen Bändchen die gewagte metaphorische Definition: Welt-Ei: Das Jetzt ist die Schale des Ich. Sie hüllt mich ein. Das Ich ist die Henne des Todes. Ich brüte ihn aus. Der Tod ist das Dotter des Jetzt. Er reift in mir. 351 Man findet das >philosophische< Gedicht etwa in der Art Meisters, das aber der Gefahr der anschauungslosen Begriffsgaukelei nicht entgeht: Von Augenblick zu Augenblick von Mir zu Mir von Tod zu Tod kurzkurz tieftief großgroß lernt das Sein sich als Nichts erkennen.352 Man findet Begriffsetüden: Gegenüber und Ineinander. Teilsein und Teilhabe. Einsame Spitze und gemeinsame Tiefe.353 Alles in allem überzeugt der Lyriker, Essayist und Übersetzer u. a. von Valéry, Michaux und Cioran mit diesen praktischen Versuchen auf den Gattungsgrenzen weniger als in der Theorie. Er erläutert diese Poesie nämlich so: Die Gedanken, die das Material dieser >Zirkelschlüsse< bilden, sollen keine Wahrheit im Sinne von Denknotwendigkeiten verkünden, sondern auf Denkmöglichkeiten hinweisen und Denkvorgänge einleiten, die einander oft genug zu widersprechen scheinen. Keine >Gedankenlyrik< im klassischen Stil. Keine Dichtung im Dienst von Denk-Ergebnissen, nein, bestenfalls Poesie als Spiel mit Denk-Erlebnissen.354
348
Meister: Ausgewählte Gedichte. 1977, S. 90 (aus: Zeichen um Zeichen, 1968). Meister: Prosa 1931 bis 1979, S. 235 (Nr. 425). 350 Leonhard: Zirkelschlüsse, Umschlaginnenseite. 351 Ebd., S. 6. 352 Ebd., S. 9. 353 Ebd., S. 13. 354 Ebd., Umschlaginnenseite. 349
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Mit dem Modus der Möglichkeit (gegen »Denknotwendigkeiten«), der aller fiktionalen Literatur eigen ist, begründet Leonhard die Selbstwidersprüchlichkeit, wie sie in der Gattungsreflexion der Aphoristiker vielfach bedacht und offensiv im Sinne von Lebendigkeit, Anti-systematik und Experiment verteidigt wird. Zwei Negativbestimmungen folgen, die die Autonomie der Dichtung betonen. Wenn er seine Lyrik schließlich als »Spiel mit Denk-Erlebnissen« bezeichnet, zielt er ins Zentrum unserer Grenzüberlegungen. Er ist dabei den Versuchen zur Umschreibung des Aphorismus bis zur UnUnterscheidbarkeit nahe im Begriff des Spiels, er ist ihnen nahe im Sinne nächster Nachbarschaft in seinem Begriff des DenkErlebnisses. Das Spiel nimmt, gewissermaßen von der anderen Seite her, Fedlers Begriff des »Begriffsspiels« auf, das Denk-Erlebnis wird als das lyrische Pendant zum Erlebnisdenken des Aphorismus355 zu erwägen sein. Günter Eichs Lyrik hingegen ist, wo sie eine Tendenz zu äußerster Knappheit erkennen läßt, kaum einmal von aphoristischem Gepräge. Eines seiner LANGEN GEDICHTE heißt: Vorsicht Die Kastanien blühn. Ich nehme es zur Kenntnis, äußere mich aber nicht dazu. 356
Zwei Sätze, die denkbar lapidare Feststellung eines Naturvorgangs und eine zwiegeteilte Stellungnahme dazu, werden von der Überschrift kommentiert und begründet. Das Gedicht ist eine einzige Praeteritio; der Sprecher äußert, sich nicht äußern zu wollen, womit er sich deutlich geäußert hat. Es entsteht so ein negatives Naturgedicht, das, durchaus im Sinne von Asteis »Naturlyrik«, aber ironischer und weniger doktrinär, das Problematische seiner Existenz gleich mitformuliert. Den Endpunkt dieser Entwicklung Eichs zur extremen Lapidarität stellen die FORMELN dar: Hoffnung, alte Wolfsfährte Gerüche aus Bildzeitungen Weh dir, daß du mit Wasser kochst! Lachreiz vor Säulen Dir, Scott, der zu spät kam! 357
Sie stehen als Uberraschend-assoziative Prägungen dann doch wieder auch in einer aphoristischen Tradition, die sich leicht mit ähnlichen Beispielen Lichtenbergs wie Canettis füllen läßt: Riechen wie viel Uhr es ist, eine besondere Uhr. 358 355
Vgl. die Formeln, die die Zwischen-Stellung des Aphorismus zu fassen suchen: Verf.: Der Aphorismus, S. 394. 356 Eich: Gesammelte Werke. Bd. 1, S. 173. 357 Ebd., S. 137: Formeln. Weitere Formeln S. 175 und 286f. 358 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 1. Bd. 2. Auflage. München: Hanser 1973, S. 722 (J 468). 163
Theorie der Falten in einem Kopfkissen.359 Der Todenkopf eine Weltkugel.360 Auch die Erinnerung wird ranzig. Beeil dich! 361 Die Reklamewunden vernarbt. 362 Das Schmachten der Zusammenhänge.363 Eich hat sich ja auf seine lyrische Weise sehr genau mit der Gattung auseinandergesetzt und die Schere, die sich in ihr zwischen spielerisch-oberflächlichem Putz und existentiellem Denken auftut, ins Bild überführt: D M APHORISMEN
mit Laubgrün schmücken, nein, aus dem Nabel denken.364 Dieter Fringeli denkt in seinen Gedichten gewiß in Eichs Sinne »aus dem Nabel«. Sein Werk ist exakt in einem Grenzraum von Lyrik, Aphorismus und Sprichwortvariation anzusiedeln. Meine Sprichwörter365
leben von Umkehrung:
Ins Fäustchen weinen366 Jungklug367 Zum schlechtesten geben 368 und Wortspiel: Stammbäume fällen Aus der zweiten Fassung fallen Es geht ihm an den Stehkragen.369 In sehr unterschiedlich geglückter Weise können sie dabei über das mechanische Verfahren hinaus neuen Denk- und Assoziationsraum öffnen. Sie ent-decken die klischeehaften Anteile des Sprichwortes und denken es weiter: Mit einem Pfund wuchern, das schon verschleudert ist 370
359
Ebd., S. 919 (L 476). Ebd., S. 870 (L 126). 361 Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. München: Hanser 1987, S. 69. 362 Ebd., S. 120. 363 Ebd., S. 133. 364 Eich: Gesammelte Werke. Bd. 1, S. 287. 365 Fringeli: Was auf der Hand lag, S. 48ff.; Das Wort reden, S. 59-61; Ohnmachtwechsel, S. 88-90. 366 Fringeli: Was auf der Hand lag, S. 50. 367 Ebd., S. 51. 368 Ebd., S. 48. 369 Fringeli: Das Wort reden, S. 59. 370 Fringeli: Was auf der Hand lag, S. 48. 360
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Weiß der Vogel, wie frei ein Vogel ist? 371 Kaltes Blut spenden. 372
Ganz ähnlich geht ein erheblicher Teil seiner Lyrik von Redensarten aus; die Versbrechung tritt in ihrer Funktion als Unterscheidungskriterium stark zurück. Seiner hommage für Lichtenberg bedürfte es nicht, um uns auf den aphoristischen Einschlag dieser Lyrik zu stoßen: HOMMAGE FÜR LICHTENBERG
schon mancher armleuchter hielt sich fiir ein kirchenlicht. 373
Wenn es einem in den Sprichwörtern >an den Kragen gehtder Boden unter den Füßen zu heißklassische< Traditionen der Gattung nehmen sie auf, etwa wenn sie aus dem Wechselspiel von »gut« und »schlecht«, Klugheit und Dummheit eine - hintersinnige und alles andere als einfache - Lebensweisheit ziehen: »Guter Rat an schlechte Schüler. Man wird klug, wenn man sich angewöhnt, die Dummheiten seiner Lehrer zu verteidigen«437 oder wenn sie selbstbewußt statuieren: »Leider oder Gottseidank? Die Literatur bildet, das ist alles.«438 Auch die melancholische Reflexion, so sehr sie sich in Leisegangs spezifischen Ton einpaßt, erfüllt durchaus die typischen Gattungserwartungen: »Fast alles im Leben kommt ein bißchen zu spät. (Der Roller, die Frau, der Erfolg hin und wieder sogar der Tod.) Aber das meiste kommt nie.«439 Hinter einer ganzen Reihe fiktiver Aussprüche mit Trägersatz scheint die Figur eines Weisen mit ausgefeilter Dialektik, ein Adorno-Sokrates-Keuner, auf. Diese Texte an der Grenze zur Apophthegmatik sind wohl Leisegangs stärkste Aphorismen: »Er sagte: >Was ich nicht verstehe, liebe ich. So rette ich mich vor ihm.««440 Der Autor verbindet aber auch, den Aphorismus damit >eigentlich< überdehnend, Situation und Reflexion, wie
432
Käufer: Standortbestimmungen, S. 47. Leisegang: Aus privaten Gründen, S. 9. 434 Hinterfragen. In: Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, S. 301 (Morgenröthe Nr. 523). 435 Leisegang: Unordentliche Gegend, S. 18. 436 Ebd., S. 22. 437 Ebd., S. 15. 438 Leisegang: Aus privaten Gründen, S. 86. 439 Leisegang: Unordentliche Gegend, S. 10. 440 Ebd., S. 29. 433
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das schon im Anschluß an Brechts »Radwechsel« zu demonstrieren war,441 oder er bleibt schlicht situativ: Ein Gelächter, abends, im Rücken, das fast umbringt. 442 Bad Ems. Im StraCencafé auf der Promenade. Mit Augen hinter den Augen. Hindurchsehenden. 443
Und genau hier ist der Punkt zu sehen, an den seine ganz anders gearteten, lyrischen Aphorismen anschließen, Texte, die von einer Art lyrischem Ich getragen sind, wie es schon in der Gegenüberstellung zu Beginn deutlich wurde: »Roßbreiten. Ich habe nur noch mich selbst. Soll ich mich über Bord werfen, damit mein Schiff schneller fahrt?« 444 Sie bleiben gegen jede Verallgemeinerung ganz entschieden in der Subjektivität: »Lebensziel. (Eine Villa in Baden-Baden oder die Weltrevolution zum Beispiel?) Nein, ein gewisser Blick aus gewissen Augen.« 445 Was die Texte Leisegangs jenseits aller Gattungsvorstellungen zusammenhält, ist die Stimmung, aus der sie sämtlich entstanden sind: ihre melancholische Todessehnsucht. Sie spricht sich am deutlichsten aus, wo die Nähe zum Tagebuch erkennbar wird und der Aphorismus die Gestalt diaristischer Reflexion annimmt: Was für eine Zeit! Selbst das Leid verweigert sich einem. 446 Meine Memoiren. Fast alles endete in widerlichem Kleinkram. Nun frage ich mich, wie der Gordische Knoten über Alexanders Schwert dachte. 447
Und den Leser, der um Leisegangs frühen Freitod weiß, berührt sie stark: Jeder muß wissen, wo er hingehört. Ich, zum Beispiel, gehöre eigentlich unter die Erde. 448
In Maria Erlenbergers Gedankensammlung Ich will schuld sein mag man »ein Konvolut aberwitziger Aphorismen«449 oder was immer sehen. Sie ist zunächst Leserbeschimpfung, die Verständigung ermöglichen soll, ein wahres Schneegestöber von solipsistischen Texten in Versen. Zwischen ihnen finden sich Reflexionen, beispielsweise in der Form der kryptisch-allgemein bleibenden Alternativfrage: Was ist schwerer Macht oder Hunger? 450
Sie sind bisweilen trivial paradox:
441 442 443 444 445 446 447 448 449
450
Vgl. oben S. 139. Ebd., S. 12. Ebd, S. 9. Ebd., S. 10. Leisegang: Aus privaten Gründen, S. 81. Ebd, S. 82. Ebd., S. 93. Ebd, S. 82. Franz Josef Görtz: Voyeur wider Willen. Maria Erlenbergers drittes Buch. In: FAZ 21.5. 1980, S. 24. Erlenberger: Ich will schuld sein, S. 21.
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Jemandes Schwächen sind auch seine Stärken.451
In anderen Fällen sind sie von einer Paradoxie, die sich in der Regel jedem Zugang in ihre Denkbewegung verweigert: Die Gier nach dem Leben ist die Sehnsucht es aufzulösen 452
und nur selten einen Ansatzpunkt dazu bietet: Was die Leere nicht offenläßt kann eine Kraft nicht füllen. 453
In jedem Fall aber kennzeichnet diese »Gedanken« ihr strikt axiomatischer Charakter: Keiner kann mehr als er will jeder will mehr als er kann. 454
Der Unbedingtheitsanspruch dieser Aphorismen, die als Texte in Versen zugleich Lampings strukturelle Minimaldefinition des Gedichts erfüllen, bleibt leerer Gestus auch dort, wo ihr Dichten-Denken selbstreflexiv wird: Wer dichten will ist ein betrogener Denker wer denken will ist ein betrügender Dichter. 455
4.6. Ergebnisse Die Analyse einiger Texte der deutschsprachigen Literatur nach 1945 zwischen Lyrik und Aphorismus ist eindeutig uneindeutig verlaufen. Man kann das am leichtesten erkennen, wenn man sich zunächst schlicht die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten vor Augen hält. Wir sind mit der jüngsten Lyriktheorie Lampings von Vers und Rhythmus als den einzigen Kriterien für ein Gedicht ausgegangen. Diese minimale Definition hat sich im Prinzip als höchst brauchbar erwiesen. Der im übrigen möglicherweise vorausgesetzte Bestand an Unterschieden ist drastisch zusammengeschmolzen. Praktisch waren der Ausgangspunkt einerseits metaphorische Gedichte, von Brechts Nebel verhüllt oder Was an dir Berg war, Kunzes Den Literaturbetrieb fliehend oder Kunerts Empfehlung, die in ihrer Entwicklung zu Aphorismen wie »Unser Grab: ein kleiner, ganz feiner Riß in der faltigen Hand unserer großen Mutter« (Meister) eine Erörterung von metaphorischem und aphoristischem Bild 451 452 453 454 455
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
30. 124. 132. 36. 73.
177
fordern. Andererseits war, von Brechts Die Oberen sagen oder Wer ist dein Feind? aus, anzuschließen an epigrammatische Texte wie Eichs Vorsicht, Dtlrrsons De mortuis nil oder Leisegangs Warum. Die spontane Skepsis dagegen, Preisendanz' an Goethe gewonnene Unterscheidung von Aphoristik und Spruchlyrik etwa Ubertragen zu können, hat sich vielfach bestätigt. Wer wollte ernsthaft ein »Betroffensein« in Asteis Epigramm Vorgesetzt, das doch wohl als Spruchlyrik gewertet werden müßte, dem rationalen »Befund« in Leisegangs Aphorismus Lebensziel gegenüberstellen? Überhaupt sind alle Unterscheidungsversuche zum Scheitern verurteilt, die unter welcher Terminologie auch immer eine feste Verbindung von Gefühl, Metapher und Lyrik einerseits, Intellekt, Begriff und Aphorismus andererseits gedanklich im Hintergrund haben, von einer klischierten emotional-rationalen Opposition also immer noch nicht lassen wollen. Der Begriff der Stimmung ist schon bei den Streckversen Jean Pauls oder Menzels, erst recht bei Hilles Aphorismen einer lyrischen Exklusivität entwunden; bei Aphorismen Celans und Meisters wie Fritz' und Dürrsons wäre er in gleicher Weise zu erproben. Kunzes vers zur jahrtausendwende, Frieds Ausweg, Asteis Demonstration oder Kellers Wäre kein Staub da haben mit Stimmung nichts zu tun. Reflektorische Lakonik andererseits ist keineswegs allein dem Aphorismus eigen. Knörrich faßt einen Strang der hier untersuchten kurzen Lyrik, von Brecht zu Kunze und Kunert, unter dem Stichwort >LakonismusTiteln< wie Lebensziel oder Roßbreiten ist da gewiß die Ausnahme. Wenn also die Unterschiede auch nicht trennscharf sind, so ist doch tendenziell Unterschiedliches erkennbar. Die Anlehnung an eine alte Trias zu den Funktionen von Sprache, das Organonmodell Bühlers, kann mit der abgrenzenden Akzentuierung von Ausdruck gegen Appell und Darstellung letztlich vielleicht doch ein Stück weit zur Orientierung dienen. Mit ihrer Hilfe läßt sich der lyrisch-aphoristische Appell Kellers: wenn du jetzt nicht den Mund hältst mußt du reden 462
von dem unterscheiden, was ein anderes seiner Gedichte >ausdrücktbedeutenden< Leistungen des Textes in Versen ebenso erkennbar wie die zeitweilige Nähe beider Gattungen. Die verwirrenden Formexperimente mit Texten Meisters und Dürrsons, die wir uns eingangs zur Problematisierung erlaubten, wurden von vielen Seiten her mit echten, bis zur Verwechslung ähnlichen Texten bis hin zu Fritz' »Die Phrasen [...]«- als Aphorismus - und »Die Worte« - als Gedicht - gestützt. Lamprechts Aphorismus suchte mit der markanten syntaktischen Zäsur zu erreichen, was die Zeilenbrechung in Asteis Gedicht bewirkt; beide gingen von derselben Redewendung »Ins Unrecht setzen« aus. Wenn die Kürze zur Bestimmung von Lyrik ausscheidet, so ist es ein gleich hoffnungsloses Unterfangen, sie für den Aphorismus zum Kriterium zu machen.464 Und doch ist sie in Form von Lakonismus und Konzentration bedenkenswert freilich nur als Näherungsmerkmal und für beide Gattungen. Konzentration ist für den Aphorismus gattungskonstitutiv.465 Ähnliches darf man für große Teile der modernen Lyrik annehmen. In Ezra Pounds Imagist Manifeste heißt es dazu: »Die meisten von uns glauben, daß Konzentration das eigentliche Wesen der Lyrik ist« 466 Es wäre müßig, in Kunerts Wenn auch schon eine lyrische von einer aphoristischen Konzentration unterscheiden zu wollen, da es um etwas so knapp wie allgemein Treffendes geht. Im Zusammenhang mit der Konzentration ist Pointierung ein wahrhaft treffliches Merkmal - und wiederum: keineswegs auf den Aphorismus beschränkt. Während sie hier ausschließlich durch innere Mittel erreicht wird, ist zu ihrer lyrischen Realisierung seit Brecht die Versfügung des freien Verses das gegebene graphische Mittel. Wenn Kunert von seiner »Tendenz zur Pointe« spricht, wenn Dürrson seine »zugespitzte Poesie« erläutert, bringen sie nur explizit zum Ausdruck, was an zahlreichen Beispielen immer wieder zu demonstrieren war. Am leichtesten läßt sich die lyrisch-aphoristische Nachbarschaft erkennen, wo beide Gattungen dieselben Verfahren zur Texterzeugung anwenden. An der Lyrik Kellers oder Frieds waren solche Typen in der Variantenbreite zu zeigen, wie es beim gängigen Aphorismus möglich ist. Das Sprichwort und seine Umkehrung stehen nicht nur in vielen lyrischen Texten Frieds, Fringelis oder Kellers im Hintergrund, auch Celans Aphorismen (nicht anders als manche bei Canetti) lassen sich auf diese Konvention noch zurückführen. Die sprichwörtliche Wendung war der Ausgangspunkt bei Kunze (den längeren Arm haben) wie bei Astel (über Leichen gehen; zwischen zwei Stühlen sitzen) oder Fringeli (auf großem Fuß leben). Das Wortspiel, als neologistische Variante, als Wörtlichnehmen, trug die aphoristischen Gedichte Frieds (herumschweigen; Untersterbende), Asteis (ins Unrecht setzen), Kellers (sich nichts vormachen; sich herablassen) bis hin zu Käufers Kalauer, dem »Paradox: / es übermannte sie«. Vergleich und aphoristische Frage, besonders 464
So schon Fricke. Aphorismus, S. 14f. Vgl. Thomas Stölzel: Rohe und polierte Gedanken. Studien zur Wirkungsweise aphoristischer Texte. Freiburg: Rombach 1998, S. 108ff., der mit guten Gründen statt von Kürze von Verkürzung spricht 465 V g ] V e r f . Der Aphorismus, S. 364-371. 466 Pound: Imagist Manifesto, zit. nach Michael Hamburger: Die Dialektik der modernen Lyrik, S. 252.
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aber die Antithetik sind freilich dann auch durch die Versfuge unterstützt, bei Brechts Wer ist dein Feind? so gut wie in Frieds Angst und Zweifel, bei Astel {Lektion) wie bei Dürrson {Sozial oder nicht). Wo etwaige Gemeinsamkeiten von Lyrik und Aphorismus erörtert werden, ist die Frage von Fiktionalität oder Nicht-Fiktionalität nicht auszuklammern, auch wenn es dabei nur bei einem Hinweis auf die Problematik bleiben kann. 467 Wenn Gedichte nicht grundsätzlich als nicht-fiktional betrachtet werden können,468 so folglich im Gegensatz zu Epik und Dramatik eben doch in sehr vielen Fällen. Für den Aphorismus ist Nicht-Fiktionalität logisch der Oberbegriff, der ihn bei Frikke469 gegen den Witz, aber auch gegen Brechts gattungsmäßig schwieriges Me-ti abhebt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung Seidlers, der aus Anlaß von Canettis Aufzeichnungen mimetische Gattungen (Epik und Dramatik) und nicht-mimetische (Lyrik, Aphoristik, Essayistik) gegenüberstellt und unsere Beobachtungen empirisch stützt: »Die vielen, die sich in zwei Gattungen hervorgetan haben, respektieren erstaunlich oft die genannte mimetisch/nichtmimetische Trennungslinie«.470 Bei diesem Hinweis ohne statistische Relevanz muß es bleiben, und auch eine andere Frage läßt sich hier nur soweit beantworten, wie eine Antwort schon mit der gestellten Frage gegeben scheint: Ist - umgekehrt - der Aphorismus tatsächlich per definitionem nicht-fiktional? Was geschieht dann mit dem Typus des Er-Aphorismus, der beobachtet-fingierte Verhaltens- und Einstellungsweisen pointiert, treffend-satirische Kürzestporträts bietet, Vergleichssubjekte vor dem äußeren oder dem inneren Auge sieht und sich in der Geschichte des Aphorismus von da aus zur Kleinstbühne für reine Vorstellungsfiguren entwikkelt?: Er ist nun aus den Oden-Jahren in die Psalm-Jahre gekommen 4 7 1 (Lichtenberg) Er riß sich sein Herz in Fetzen. Es war lauter Samt. 472 (Canetti)
Was geschieht erst recht mit dem imaginativen Aphorismus, besonders Canettis? Sein Aphorismus »Einer wird dazu verurteilt, alle seine Briefe wiederzulesen. Bevor er weit kommt, trifft ihn der Schlag« war ja in engster Nachbarschaft zu Asteis 467
Vgl. Gottfried Gabriel: Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3. völlig neubearbeitete Aufl. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und JanDirk Müller hg. von Klaus Weimar. 1. Band. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 594-598. Dazu jetzt Werner Helmich: Fiktionale Aphoristik in der italienischen, französischen und spanischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. In: Sybille Große / Axel Schönberger (Hg.): Dulce et decorum est philologiam colere. Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag. Berlin: Domus Editoria Europaea 1999, S. 1593-1614. 468 Dieter Lamping: Gedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, S. 670. 469 Von 1981 (Fricke: Norm und Abweichung, S. 147) bis zur zitierten Definition von 1997. 470 Ingo Seidler: »Bruchstücke einer großen Konfession«. Zur Bedeutung von Canettis >SudelbüchernDefinitionen< wie die von Jacob (»Eine Feuersbrunst ist eine Rose auf dem aufgeschlagenen Pfauenschweif«) und Gömez de la Serna (»Der Mond ist eine verkrachte Bank für Metaphern«). Bei Meister ist der Weg vom - aphoristischen Vergleich zur - lyrischen - Chiffre besonders gut zu beobachten, der seinen Angelpunkt im lyrischen Aphorismus hat: Der Tod: den Brunnen der Schwermut von innen schließen.
Von der Seite der aphoristischen Lyrik kommt ihm etwa Fried nahe, der in dialektischer Umwendung Erinnern definiert (Vielleicht). Das Emotionale überwiegt hier gar im Aphorismus, das Intellektuelle im Gedicht. Diese aphoristisch-lyrische Nähe liegt, um auf den zweiten Übergangsbereich zu kommen, im Bild begründet. Für den französischen Bildaphorismus ist Helmichs Entscheidung eindeutig: Die Tatsache freilich, daß das Bild sowohl in dem hier behandelten Aphorismentypus als auch in der Lyrik eine herausragende Rolle spielt und daß zudem einige Verfasser von Bildaphorismen auch als Lyriker hervorgetreten sind, darf nicht dazu verleiten, den Bildaphorismus aufgrund seines als vage >poetisch< empfundenen Charakters der Lyrik zuzuschlagen [...]. Der Bildaphorismus ist ungeachtet seiner Sondercharakteristika eine gnomische Form wie Maxime, Sentenz und ähnliches und gehört eindeutig zur aphoristischen Tradition. 479
Unter dem Aspekt der Definition war schon in fortschreitendem Maße von dem Bild die Rede. Produktionsästhetische Ansätze zur Beantwortung müssen fehlgehen; das 477
Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 2, S. 466 (Menschliches, Allzumenschliches n, Vermischte Meinungen und Sprüche Nr. 202) 478 Hans Kudszus: Jaworte, Neinworte. Aphorismen. Mit einer Einführung von Dieter Hildebrandt. (Bibliothek Suhrkamp 252) Frankfurt: Suhrkamp 1970, S. 69. 479 Werner Helmich: Der französische Aphorismus, S. 159.
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wurde mehrfach deutlich. Sind beide aber vielleicht funktional oder wirkungsästhetisch grundsätzlich zu unterscheiden? Ansatzweise hat sich schon Fieguth zu Jean Pauls Streckversen an einer Antwort versucht. Ihre Bildlichkeit scheint ihm »stark assoziierend im Gegensatz zu den witzigen Aphorismen, wo sie eher springend, willkürlich addierend ist«.480 Eben zwischen Witz und Assoziation haben wir uns schon unter dem Gesichtspunkt der Definition bewegt. Kann man lyrische Metaphorik von einer aphoristisch-definitorischen unterscheiden? Das aphoristische Bild steht gemeinsam mit dem überaus wichtigen Integrationsbegriff der Bildlogik in Welsers Untersuchung der Sprache des Aphorismus481 im Zentrum. »Die Leistung des aphoristischen Bildes ist also grundsätzlich nicht das Veranschaulichen von etwas Abstraktem oder das Illustrieren einer unbildlich vorgedachten Ansicht oder das beispielhafte Konkretisieren einer irgendwo tiefer liegenden Theorie, sondern das Denken selbst«,482 heißt es da. Rufen wir uns, bevor wir Welsers Argumentation weiter folgen, noch einmal ein Gedicht Kunzes ins Gedächtnis: IHRE FAHNEN
Ihre fahnen schlagen unsre ideale in den wind und wir heißen fahnenflüchtig weil wir den idealen treu geblieben sind.
Welsers Analyse des aphoristischen Bildes erscheint wie die Interpretation zu Kunzes Gedicht: »Die wesentliche Leistung des aphoristischen Bildes ist es, die Bildidee so objektiv zu machen, daß der Leser durch sein eigenes Sehen zum Denken gebracht wird«.483 Und konkreter: »Wenn der Leser die Meinung des Autors begreift, hat er die Bildidee bereits akzeptiert, weil das Bild so konstruiert ist, daß das Verstehen - noch diesseits von Zustimmung oder Ablehnung - einen Standortwechsel voraussetzt« 484 Daß die Analyse des aphoristischen Bildes sich derart genau an einem lyrischen Text verifizieren läßt, kann den nicht verwundern, der gleitende Übergänge mit ihren Uneindeutigkeiten statt eindeutig scharfer Grenzen beobachtet. So ist auch die Schiffs-Metapher in Kunerts Gedicht Empfehlung im poetischen Bild aphoristischer Denkanreiz. Kellers Bruchstücke sind geeignet, den Weg von der Bildlogik zum Bild exemplarisch zu zeigen. Vom aphoristischen Vergleich lebt dieser aggressiv appellative Text: mach's gut verschwinde - wie der Zucker im Tee,
ein anderer ist ganz poetischer Bildeindruck: der Tagmond steht im falschen Licht ganz verschimmelt,
ein dritter verwebt beides ineinander: 480 481 482 483 484
Gerhard Wolf Fieguth: Jean Paul als Aphoristiker. Meisenheim: Hain 1969, S. 160. Klaus von Welser: Die Sprache des Aphorismus, S. 139-187 und 209-232. Ebd., S. 186. Ebd., S. 178. Ebd.
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daß das Sturmtief sich herabließ ein Dach zu lüften.
Nicht anders ist es in Asteis Epigrammen. Dort, wo sie den Gedanken mit dem »Fisch / im Wasser / des Bewußtseins« vergleichen, bauen sie ganz auf die schlagartige Denkanregung, dort aber, wo sie in Streng vertraulich Gedankenbild oder Bildgedanke ausweiten, öffnen sie einen poetischen Vorstellungsraum. Er weist andererseits doch wieder eine frappante Nähe zum Aphorismus auf, dem Canettis nämlich, der eine Möglichkeitswelt imaginiert und formuliert. Das denkerisch-dichterische Oszillieren der Gattung ist nicht anders als paradox zu formulieren: »Der phantastische Aphorismus ist strenge Reflexion in Gestalt eines streng reflexionsfreien Textes«.485 Wer sich unter den zahlreichen Komposita, die das Zwittrige des Aphorismus zu fassen suchen, für den Begriff des Erlebnisdenkens entscheidet, der kann die Grenze von Aphorismus und Lyrik ein weiteres Mal zu beschreiben suchen, indem er Grund- und Bestimmungswort vertauscht und probeweise von einer gleitenden Skala zwischen Erlebnisdenken und Denkerlebnis ausgeht. Das ist äußerst vorsichtig formuliert, und in der Tat sind große Vorbehalte zu bedenken. Die Gefahr ist nicht nur, daß es sich dabei möglicherweise wenn auch nicht um ein »Begriffsspiel«, so doch um ein rein begriffliches Spiel handelt, ein solcher Versuch ist auch von beiden Seiten her anfechtbar. Von der Seite der Lyrik her darf der Anklang an die Erlebnislyrik nicht zu falschen Schlüssen verleiten;486 mit ihr hat diese >Gedankenlyrik< nichts zu tun. Auf Seiten des Aphorismus ist angesichts der terminologischen Nähe zu Kategorien wie Ausnahmedenken oder offenes Denken, die in der Nachfolge Requadts eine ganze Forschungsrichtung bestimmt haben, der »psychologistische Ansatz« zu meiden, den Fricke schon 1984 hinreichend kritisiert hat. 487 Viele Indizien und Hinweise führen dessenungeachtet zu einem integrativen Begriff wie Erlebnisdenken, in den das auslösende IndividuellAugenblickliche eingeht. Diese »Einheit von Erleben und Denken«488 ist das Fundament von Nietzsches Werk; Lou Andreas-Salomé spricht von seinem »Gedanken-Erlebnis«.489 Erlebnis ist - von Nietzsche wie von Dilthey her - die zentrale Kategorie im expressionistischen Aphorismus; wenn Alfred Grünewald vom »Erlebnis des Gedankens«490 spricht, macht er das nur besonders deutlich. Auch jüngere Aphoristiker lassen sich so vernehmen. Vom »Erlebnisgrund eines Gedan485
Peter von Matt: Der phantastische Aphorismus bei Elias Canetti. In: P. v. M.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München, Wien: Hanser 1994, S. 321-328. Hier S. 324. 486 Werner Hahl: Erlebnis; Marianne Wünsch: Erlebnislyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3. völlig neubearbeitete Aufl. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar. 1. Band. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 496-500. 487 Fricke: Aphorismus, S. 3. 488 Curt Paul Janz: Nietzsche. Biographie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981, Bd. 2, S. 247. 489 Zit. nach Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen, Basel: Francke 1993, S. 221. 490 Alfred Grünewald: Ergebnisse. Aphorismen. Mit einem Nachwort von Klaus Hansen. Hg. von Thomas B. Schumann. Hürth: Edition Memoria 1996, S. 16f.
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kens«491 spricht Richard Benz, Hans Margolius pflichtet ihm bei: »Die Philosophie des Aphorismus ist unmittelbares Ergebnis unserer Erlebnisse, unserer Erfahrungen - Lebensphilosophie«,492 und für Wolfgang Struve steht fest: »Echte Gedanken sind nicht nur selber Erlebnisse, sondern fllr ihren Urheber auch immer an ganz bestimmte Erlebnisse geknüpft«.493 Ganz in diesem Sinne nannte Leonhard ja seine lyrisch-aphoristischen Texte »Dichtung nicht im Dienst von Denkergebnissen, sondern Poesie als Spiel mit Denkerlebnissen«. Auch Heiss kommt von der Philosophie her, wenn er das aphoristische Denken als »den zweiten Gang des neuzeitlichen Denkens« beschreibt, schließlich auf das »Erlebbare«: »Als Wahrheit wird nicht das Allgemeine und Formale, das Objektive und Gegenständliche, sondern das Jeweilige und Inhaltliche, das Unbeweisbare und Erlebbare angeschaut«.494 Wo in Abgrenzung vom Intuitiven, Emotionalen, Individuellen des Aphorismus die Rede ist, steht meist auch die Vorstellung eines auslösenden Erlebnisses im Hintergrund. Kommen wir statt tiefgehenderer theoretischer Erörterung, wozu hier nicht der Platz ist, abschließend noch einmal auf je einen konkreten Aphorismus und je ein konkretes Gedicht dreier Autoren zurück. Wo wir Celans Gedicht: Du warst mein Tod: dich konnte ich halten, während mir alles entfiel.
und seinen Aphorismus: »Das Herz blieb im Dunkel verborgen und hart, wie der Stein der Weisen.« nach einem formvertauschenden Experiment in dieser Gestalt verglichen haben, hatte die Interpretation bisher weitgehend formal argumentiert. So mußte es bei einer neutralen Beschreibung dessen bleiben, was Celan im Fall des Gedichts akzentuiert, im andern zurückstellt. Unter dem Blickwinkel des Denkerlebnisses kann eine stärker inhaltlich orientierte Deutung nun eine begründete Vermutung dafür anfügen, warum das Gedicht in dieser Form erscheinen muß. Die personale Beteiligung kommt ja, schon durch die Anrede, ungleich stärker zum Ausdruck. Während das Adversative hier einzig dazu dient, die singulär-tragische Bedeutung des Angesprochenen herauszuheben, setzt im Aphorismus das Komparative (auch) in höherem Maße andere Produktions- wie Rezeptionskräfte voraus. Dort findet ein ebenso schwer zu entschlüsselndes intellektuelles Erlebnis,- das aber weiter von dem Sprecher-Ich weggehalten und insofern objektivierter scheint, im bedenken des Vergleichs seine Mitte. Der Formenwechsel der beiden Texte Werner Dürrsons, des Aphorismus: »Selbst das Absurde ist vermutlich nicht grenzenlos« und des Gedichts:
491
492
493 494
Richard Benz: Stufen und Wandlungen. Das Buch der Reden und Aphorismen. 2. Auflage. Hamburg: Wegner 1947, S. 125. Hans Margolius: System und Aphorismus. In: Schopenhauer-Jahrbuch 41 (1960), S. 117-124. Hier S. 121. Wolfgang Struve: Wir und Es. Gedankengruppen. Zürich: Hiehans 1957, S. 93. Robert Heiß: Der Gang des Geistes. Eine Geschichte des neuzeitlichen Denkens. Bern: Francke 1948, S. 101.
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Und wäre Denken die letzte Freiheit, so Hoffen die allerletzte,
wie wir ihn eingangs vorgenommen haben, ist nur solange denkbar, wie man den formentscheidenden inhaltlichen Unterschied zwischen beiden hintanstellt. Das Denkerlebnis in der Hoffnungslosigkeitsvorstellung dieses Gedichts besteht in der unbedingten Kraft, die, paradox dagegen gesetzt, das Hoffen durch die Übersteigerung »allerletzte« bekommt. Das Erlebnisdenken des Aphorismus manifestiert sich demgegenüber darin, daß das Absurde hier gerade nicht unbedingt, sondern nur »vermutlich« »nicht grenzenlos« ist und diese Vermutungen einen offenen Denkraum flir Autor wie Leser darstellen. Auch für Walter Helmut Fritz kann es sein Bewenden nicht dabei haben, formorientiert >neutral< zwei Texte als Gedicht und Aphorismus möglich erscheinen zu lassen. Bei ihm erscheinen sie in dieser Gestalt: SELTSAME MACHENSCHAFT
Dies wird unsichtbar, jenes. Es will hinab. Vergänglichkeit, seltsame Machenschaft.
Und: »Es war verborgen. Es strebte sogar fort. Und doch war es möglich, damit Umgang zu haben.« Fritz trifft die Wahl der Gattung mit dem Gespür dafür, daß sie ihm jeweils die gewünschten Akzentuierungen ermöglicht, wie wir sie durch die Positionierung von Denken und Erlebnis als Grund- oder als Bestimmungswort zu beschreiben suchen. Daß er dort den Aphorismus, hier das Gedicht wählt, erschließt sich aus dem ganzheitlichen Vergleich beider Texte zwingend. Im Aphorismus werden zwei Aussagen Uber ein rätselhaftes Es gemacht, die in einem Verhältnis grundsätzlicher Übereinstimmung zu stehen scheinen, das aber bei näherem Hindenken nicht ohne Rätsel bleibt (»sogar«). Er erwägt ein Nicht und ein Dennoch und zielt letztlich darauf, als ein Drittes zwischen Entfernung und Anwesenheit »Umgang« zu bedenken und die Möglichkeiten dazu zu reflektieren. Das Gedicht hingegen scheint von einem Denker/ei>/wi ausgelöst, das sich in seinem Titel Seltsame Machenschaft dunkel kundtut, denn seine Aussagen über ein gleichermaßen Unbestimmtes lassen keine Möglichkeit, keinerlei denkerischen Raum, der Entfernung in die Vergänglichkeit zu entgehen. Diese absolute Haltung wird in einem Attribut »Machenschaft« besiegelt, das von allen herkömmlichen semantischen Elementen entkernt ist. Und gerade in seiner rätselhaften Neufassung liegt das Denkerlebnis verborgen.
187
5. Quellen
Die in den Quellen und in der Forschungsliteratur verzeichneten Titel erscheinen in den Fußnoten in Kurzform. Adler, Karl - Von der Feindschaft. Von der Freundschaft. Von den Psychoanalytikern. In: Der Friede 1 (1918), S. 19-20. - Aphorismen zu den »Aphorismen vom Aphorismus«. In: Der Friede 1 (1918), S. 48. - Leitsätze. In: Der Friede 1 (1918), S. 95-96. Altenberg, Peter (1859-1919) - Prödrömös. 4. u. 5. Aufl. Berlin: Fischer 1919 (Zuerst 1906). - Bilderbögen des kleinen Lebens. 2. Aufl. Berlin: Reiss 1909. - Widmung. In: Der Ruf 1 (1912/13), H. 1, S. 61. - Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum 1 (1914), S. 84-97. - Nachtrag zu meinem Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum 1 (1914/15), S. 223-224. - Fechsung. Berlin: Fischer 1915. - Splitter. In: Sirius 1 (1915/16), S. 90-92. - Nachfechsung. Berlin: Fischer 1916. - Splitter. In: Der Friede 2 (1918/19), S. 71. - Vita ipsa. Berlin: Fischer 1919. - Splitter. In: Der Friede 3 (1919), H. 53, S. 22. - Der Nachlaß. Berlin: Fischer 1925. - Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus. Wien: Schroll 1932. - Rezept die Welt zu sehen. Kritische Essays, Briefe an Karl Kraus, Dokumente zur Rezeption, Titelregister der Bücher. Hg. von Andrew Barking und Leo A. Lensing. (Untersuchungen zur Österreich. Lit. des 20. Jh. 11) Wien: Braumüller 1995. Anonym - Fünfzehn Weibssprüchlein. Von einer Frau. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 598-599. - Aphorismen. Von fünf Autoren. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 237-238. - Aphorismen. Von zwanzig Autoren. In: Die Aktion 2(1912), Sp. 1325-1327. - Paradoxe des Gemeinplatzes. In: Der lose Vogel 1 (1912/13), S. 108-112. - Aphorismen. In: Der Friede 4 (1919), S. 672. Astel, Arnfrid (geb. 1933) - Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme. Frankfurt: Zweitausendeins 1978. Attenhofer, Adolf (1879-1950) - Allerlei Narrheiten. Gedichte und Aphorismen. München: Bonseis 1907. - [Aphorismus], In: Der Weg 1 (1919), H. 2, S. 6. Baader, Johannes (1875-1955) - Die acht Weltsätze. In: »BZ am Mittag«, 30. Juli 1918. Wiederabdruck in: J. B.: Oberdada. Schriften, Manifeste, Flugblätter, Billets, Werke und Taten. Hg. und mit einem Nachwort von Hanne Bergius, Norbert Miller und Karl Riha. Gießen: Anabas 1977, S. 43. 189
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[Aphorismen]. In: Der Komet 1 (Januar 1919), Blatt 4. Die acht Weltsätze des Meisters J. B. über die Ordnung der Menschheit im Himmel nebst Erklärungen desselben. Mühlheim/Donau 1919.
Baargeld, Johannes Theodor (1892-1927) - (Sprüche). In: 113 Dada Gedichte. Hg. von Karl Riha. (Wagenbachs Taschenbücherei 91) Berlin: Wagenbach 1982, S. 158. Ball, Hugo (1886-1927) - Aphorismen. In: Jugend 18 (1913), S. 363. - Die Flucht aus der Zeit. Luzern: Stocker 1966 (Zuerst 1926). Baudisch, Paul (1899-1977) - Worte in den Wind. In: Der Friede 3 (1919), S. 261-262, 502. - Gesetz und Abenteuer. In: Der Friede 4 (1919), S. 668. - Aphorismen. In: P. B.: Fragmente. Wien: Strache 1920, S. 59-71 (Wiederabdruck der Worte in den Wind). - Aphorismen. In: Initiale 1 (1921), H. 2, S. 13-15. Behl, Wilhelm (C. F. W.) (1889-1968) -
Aus dem Skizzenbuch. In: Der Kritiker 3 (1921), 2. Oktoberheft (H. 19), S. 6.
Benz, Richard (1884-1966) - Stufen und Wandlungen. Das Buch der Reden und Aphorismen. Hamburg: Wegner 1943. - 8.-16. Tsd. 1946, 18.-27. Tsd. 1947. Bertram, Ernst (1884-1957) - Orientalische Worte. In: Frankfurter Zeitung v. 22. 4. 1909, Abendblatt. - Michaelsberg. Leipzig: Insel 1935. - Unterwegs am Brunnen. In: Corona 6 (1936/37), S. 367-369. - Brücke und Wagen. Worte aus dem Buch Aija. In: Corona 7 (1937/38), S. 304-309. - Worte in einer Werkstatt. In: Das Innere Reich 4 (1937/38), S. 641-648. - Worte aus dem Buch Aija. In: Das Innere Reich 4 (1937/38), S. 999-1001. - Worte in einer Werkstatt. Von Wesen und Zukunft unsres Gedichts. Mainz: Albert Eggebrecht-Presse 1938. - Sprüche aus dem Buch Aija. Leipzig: Insel 1938. - Alte Tabulatur für einen jungen Singer. In: Corona 8 (1938/39), S. 372-377. - Hrabanus. Aus der Michaelsberger Handschrift. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 241-246. - Hrabanus. Aus der Michaelsberger Handschrift. Leipzig: Insel 1939. - Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge. In: Corona 9 (1939/40), S. 199— 206.
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Moselvilla. Flavus an Veranius. In: Das Innere Reich 7 (1940/41), S. 422-427. Der Atlant. In: Das Innere Reich 9 (1942/43), S. 612-615. Aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Malebolge. Aphorismen. Wiesbaden: Insel 1950. Moselvilla [Erweiterte Fassung]. Wiesbaden: Insel 1954. Der Wanderer von Milet. Wiesbaden: Insel 1956. Das Zedemzimmer. Weimarer Erinnerungen. Wiesbaden: Insel 1957. Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Bondi 1918. Georg Christoph Lichtenberg. Adalbert Stifter. Zwei Vorträge. Bonn: Cohen 1919.
Bigatko, Clemens - Mosaik (Auszug). In: Die junge Kunst 1 (1919), Nr. 11, S. 1. Binding, Rudolf G. (1867-1938) - Ad se ipsum. Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 2-10. Rez. Karl A. Kutzbach in »Die neue Literatur« 42 (1941), S. 297.
190
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Kiss, Ferdinand - Trivialitäten. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 483-485, 564. Klages, Victor (Ps. Waldemar Keller; geb. 1889) - Uber den Stil. In: Der Kritiker 1 (1919), Nr. 9, S. 13-14. Kr. (Benno Karpeles ?) - Aphorismen vom Aphorismus. In: Der Friede 1 (1918), S. 24. Kraus, Karl (1874-1936) - Aphorismen. In: Der Sturm 1 (1910/11), S. 44. - Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. Bd. 8: Aphorismen, (suhrkamp-taschenbuch 1318) Frankfurt: Suhrkamp 1986. Krzyzanowski, Ottfried (1891-1918) - Aphorismen. In: Der Friede 2 (1918/19), S. 384. Kunert, Günter (geb. 1929) - Im weiteren Fortgang. Gedichte. (Reihe Hanser 163) München: Hanser 1974. - Unterwegs nach Utopia. Gedichte. München, Wien: Hanser 1977. - Abtötungsverfahren. Gedichte. München, Wien: Hanser 1980. - Warnung vor Spiegeln. Unterwegs nach Utopia. Abtötungsverfahren. Gedichte, (dtv 10033) München. Deutscher Taschenbuch Verlag 1982 - [Ein poetisches Prinzip]. In: Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay. Hg. von Walter Höllerer. Berlin: Literarisches Colloquium 1967, S. 331-336. - Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen. München, Wien: Hanser 1985. Kunze, Reiner (geb. 1933) - Sensible Wege. Achtundvierzig Gedichte und ein Zyklus. Reinbek: Rowohlt 1969. - Zimmerlautstärke. Gedichte. Frankfurt: Fischer 1972. - Auf eigene Hoffnung. Gedichte. Frankfurt: Fischer 1981. - eines jeden einziges leben. Gedichte. Frankfurt: Fischer 1986. - Das weiße Gedicht. Essays. Frankfurt: Fischer 1989. - ein tag auf dieser erde. Gedichte. Frankfurt: Fischer 1998. Lamprecht, Helmut (geb. 1925) - Die Hörner beim Stier gepackt. Aphorismen, Epigramme, Gedichte. Stuttgart: Gebühr 1975. - Früher hat Lächerlichkeit getötet. 155 Bedenksätze. (Neue Reihe Atelier 1) Fischerhude: Atelier im Bauernhaus 1979. Landauer, Gustav (1870-1919) -
Thesen zur Wirklichkeit und Verwirklichung. In: Die Erhebung 2 (1920), S. 318-319.
Laurent, Walt -
Gedanken. In: Menschen 2 (1919), Nr. 5 (25), S. 3.
Leisegang, Dieter (1942-1973) - Unordentliche Gegend. Aphorismen. Gedichte. Übersetzungen. 1960-1970. Frankfurt: Heiderhoff 1971. - Bei Abwesenheit von Wolken. Aphorismen zur Landschaft, (eidos 31) Frankfurt: HeiderhofT1972. - Aus privaten Gründen. Gedichte und Aphorismen. Frankfurt: Heiderhoff 1973.
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Leonhard, Kurt (geb. 1910) -
Zirkelschlüsse. Merkverse zwischen Lyrik und Logik. Tübingen: Heliopolis 1988.
Leonhard, Rudolf (1889-1953) - Aphorismen. In: Die Weißen Blätter 2 (1915), S. 939-940. - Bemerkungen über Staat und Gesellschaft. In: Das Forum 2 (1915), S. 187-189. - Äonen des Fegefeuers. Aphorismen. Leipzig: Wolff 1917. - Glossen. In: Der silberne Spiegel 1 (1919), S. 10. - Alles und nichts! Aphorismen. Berlin: Rowohlt 1920. - Das Wort. Berlin: Graetz 1932. - Aphorismen. In: Otto F. Best (Hg.): Theorie des Expressionismus. Stuttgart: Reclam 1976, S. 96-98. Levy, Oscar (1867-1946) - Kriegsaphorismen. Für Europäer oder solche, die es werden wollen. Ein Versuch zur geistigen Mobilisierung. Bern, Biel, Zürich: Kuhn 1917. - Kriegsaphorismen eines Europäers. In: Die Weißen Blätter 5, III (1918), S. 52-54. Lewy, Walter - De amicitia. In: Der Kritiker 3 (1921), H. 20, S. 5-6. - Menschliches. In: Der Kritiker 3 (1921), H. 23, S. 7. Lichnowsky, Mechtilde (1879-1958) - Paradoxa zu dem Kapitel Pädagogik. In: Das junge Deutschland 2 (1919), S. 119-120. Limpach, Erich (1899-1965) - An der Wende. Gedichte und Sprüche. 6., unveränderte Aufl. Darmstadt: Pfeffer und Balzer 1939(1. Aufl. 1933). - Von neuem Werden. Gedichte, Sprüche und Worte. 2. Auflage. Darmstadt: Pfeffer und Balzer 1938. - Von Ringen und Rasten. Gedichte und Sprüche. München: Ludendorff 1936. - Beseeltes Sein. Gedichte, Sprüche und Gedanken. Lengerich: Bischof und Klein ca. 1940. - Nimmer ruhen die Gedanken. Aphorismen. 2. veränderte Aufl. Lengerich: Bischof und Klein 1948. - Immer ist der Mensch die Mitte. Epigramme und Aphorismen. Pähl: Hohe Warte 1954. - Der Weg ins Wesentliche. Erzählungen. Aphorismen. Gedichte. Pähl: Hohe Warte 1958. - Felsen im Strom. Epigramme und Aphorismen. München: Türmer 1962. Lissauer, Ernst (1882-1937) - Aufzeichnungen. In: Die Flöte 4 (1921/22), S. 59. -
Festlicher Werktag. Aufsätze und Aufzeichnungen. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1922.
Loos, Adolf (1870-1933) -
Regeln für den, der in den Bergen baut. In: Der Brenner 4 (1913/14), S. 40-41.
Marc, Franz (1880-1916) - Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen. 2 Bände. Berlin: Cassirer 1920. - Die 100 Aphorismen »Das zweite Gesicht«. In: F. M.: Schriften. Hg. von Klaus Lankheit. Köln: DuMont Marcard, Hans 1978, S. 185-213. -
Gedanken eines Frontsoldaten. In: Das Innere Reich 7 (1940/41), S. 183.
Mayer, Paul -
Aphorismen. In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 1454.
Ernsteines (1911-1979) -Meister, Gedanken Jahres. In: E. M.: Prosa 1931 bis 1979. Hg. und mit Erläuterungen ver-
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sehen von Andreas Lohr-Jaspemeite. Mit einem Vorwort von Beda Allemann. (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung) Heidelberg: Schneider 1989, S. 139-260. Menzel, Wolfgang (1798-1873) - Streckverse. Heidelberg: Winter 1823. Michaux, Henri (1899-1984) - Dichtungen, Schriften I. Aufgrund der von Henri Michaux unter Mitwirkung von Christoph Schwerin getroffenen Auswahl in Übertragungen von Kurt Leonhard und eigenen Übertragungen hg. von Paul Celan. Frankfurt: Fischer 1966. - Dichtungen, Schriften II. Aufgrund der von Henri Michaux unter Mitwirkung von Christoph Schwerin getroffenen Auswahl in Zusammenarbeit mit dem Autor Ubertragen von Kurt Leonhard. Frankfurt: Fischer 1971. Morgenstern, Christian (1871-1914) - Stufen. Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. München: Piper 1918. - Über Kunst und Literatur. In: Die Flöte 2 (1919/20), S. 85. - Werke und Briefe. Bd. 5: Aphorismen. Hg. von R. Habelt. Stuttgart: Urachhaus 1987. - Werke und Briefe. Bd. 6: Kritische Schriften. Hg. von Helmut Gumtau. Stuttgart: Urachhaus 1987. Mynona (s. Friedländer, Salomo) Nacht, Johannes (geb. 1901) - Pflugschar und Flugsame. Aphorismen und die Aphoristik. Der Neue Stil. Mit einer Vorrede »Von der Quelle des Aphorismus bis in die >Aphoristik