Exile im 20. Jahrhundert [Reprint 2021 ed.] 9783112422502, 9783112422496


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German Pages 290 [288] Year 2001

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Exile im 20. Jahrhundert [Reprint 2021 ed.]
 9783112422502, 9783112422496

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Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 18

EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 18 2000 EXILE IM 20. JAHRHUNDERT Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler und Wulf Koepke

edition text + kritik

Anschrift der Redaktion: Prof. Dr. Claus-Dieter Krohn Mansteinstr. 41 20253 Hamburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Exile im 20. Jahrhundert / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn ... München: edition text + kritik, 2000 (Exilforschung ; Bd. 18) ISBN 3-88377-645-9

Satz: Fotosatz Schwarzenböck, Hohenlinden Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlag-Entwurf: Thomas Scheer/Konzeption: Dieter Vollendorf © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag G m b H & Co, München 2000 ISBN 3-88377-645-9 Eine detaillierte Auflistung aller bisherigen Beiträge in den Jahrbüchern E X I L F O R S C H U N G sowie ausführliche Informationen über alle Bücher des Verlags im Internet unter: http://www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

Karl Schlögel

9

» R u ß l a n d jenseits der Grenzen«. Z u m Verhältnis von russischem Exil, alter und neuer H e i m a t

14

Exil und Galut. Z u m jüdischen Selbstverständnis nach 1933

37

Die politische und »rassische« Emigration aus d e m faschistischen Italien 1922 bis 1943

51

Tschechische politische Emigranten in den Jahren 1938, 1939, 1948 und 1968

77

Reiner Tosstorff

Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1939

88

Jean-Louis Cremieux-Brilhac

Freie Franzosen in London 1940 bis 1944

112

M a r e k Andrzejewski

Zur deutschsprachigen Emigration in Polen 1933 bis 1939

138

Die ungarische Emigration nach 1956. Ein subjektiver Bericht

157

Irmtrud W o j a k / Pedro Holz

Chilenische Exilanten in der Bundesrepublik Deutschland ( 1 9 7 3 - 1 9 8 9 )

168

Shi M i n g

» W e n n mir die H e i m a t g e n o m m e n ist, denke ich mir eine neue«. Ein Versuch z u m Bild der Exilanten aus C h i n a in den neunziger Jahren

191

M a r k u s Bauer

Alessandra Minerbi

Milos Trapl

Peter M e l e g h y

Wolfgang Stephan Kissel

Russisches Dichtergedenken im Exil ( 1 9 2 1 - 1 9 3 9 ) : Totenkult und kulturelles Gedächtnis

208

Brita Eckert

Goethe-Rezeption im Exil 1933 bis 1949

230

Elsbeth Wolffheim

Writers in Exile - ein neues Projekt des Internationalen P E N - C l u b

254

Exil und Asyl als Gegenstand universitärer Lehre. Erfahrungsbericht über ein Projekt an der Universität Bremen

262

Karl Holl

Rezensionen

270

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

278

Ernst Loewy zum 80. Geburtstag

Vorwort

Ein abgelaufenes Jahrhundert lädt zur Rückschau ein. Das Jahrbuch hat dies zum Anlaß einer Perspektivenerweiterung genommen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen nicht Forschungsbeiträge zur Flucht und Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland, sondern die Exile aus anderen Ländern. Der naheliegende Anspruch auf eine vergleichende analytische Perspektive würde allerdings zu hoch greifen; dafür ist die Informationsbasis derzeit noch zu vage. Gleichwohl bieten die Beiträge erste Anhaltspunkte zur Erweiterung des Blicks. Es gibt weder systematische Uberblicksdarstellungen noch Spezialuntersuchungen zu den zahllosen, bis heute sogar vielfach unbekannten Exilen in hinreichender Dichte und Genauigkeit. Daß beispielsweise Michael Marrus' schon 1985 erschienenes Standardwerk The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century erst jüngst in deutscher Ubersetzung erschien, ist dafür ein Indiz. So wichtig diese Übersicht ist, ihr Titel verrät bereits die Begrenzung auf die europäischenVerhältnisse, und auch die werden nur selektiv wahrgenommen. Die Massenvertreibungen auf dem Balkan zu Beginn des Jahrhunderts und die Millionenflucht aus Rußland in den zwanziger Jahren kommen darin nicht vor. In einem großen »Refugee Studies Programme« an der Universität Oxford werden zwar weitergehende Analysen vorbereitet, deren Ergebnisse stehen allerdings noch aus. Einstweilen unverzichtbar bleibt daher die ältere, auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise der dreißiger Jahre im Auftrag des Royal Institute of International Affairs in London entstandene, von der Rockefeiler Foundation in New York finanzierte und von John Hope Simpson herausgegebene Studie The Refugee Problem (London 1939), die in ihrer Breite und Materialfülle bisher ihresgleichen sucht. Über die Ursachen jener Forschungsdefizite mag spekuliert werden. Aus der Beschäftigung mit dem »anderen Deutschland« nach 1933 und seiner Historiographie kann abgeleitet werden, daß die Exilforschung zumindest bis vor kurzem eine Außenseiterforschung war und trotz ihrer mittlerweile vorliegenden Ergebnisse kaum zum Kanon der Mainstream-Wissenschaft gehört. Der Aufwand an kostenintensiver internationaler Recherche und die Notwendigkeit interdisziplinärer Analyse mit ihrem die nationalgeschichtlichen Denkmuster überschreitenden Zugriff haben sicher dazu beigetragen. Das Problem des Exils dann auch noch im globalen Maßstab anzugehen, kann die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten selbst großer Forschungsgruppen schnell übersteigen. Hinzu kommt, daß das analytische

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Vorwort

Instrumentarium mit wachsender Nähe zur Gegenwart abnimmt. In den heutigen Bürgerkriegen mit ihren Ausgrenzungen u n d Verfolgungen sind Täter und Opfer nicht immer klar zu definieren; die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zeigen das. Durch die neue Armutswanderung, die von der weltweiten Kommunikationstechnologie u n d verkehrstechnischen Vernetzung befördert wird, verschwimmen ebenfalls die Grenzen klarer Begriffe und Einordnungen, wie sie für die Abgrenzung von Exil, Emigration und Migration gegolten haben. Nicht zuletzt mögen die jüngsten weltweiten Wanderungsströme als Normalzustand der Gegenwart auch zur Veränderung des öffentlichen Interesses beigetragen haben. Erzwungene Migrationen, Fluchtbewegungen und Asylsuchende hat es zwar immer gegeben, jedoch betraf das zumeist nur begrenzte Personengruppen. Erst im 20. Jahrhundert begannen Massenverfolgungen, deren quantitativer Umfang und häufig auch qualitative Bedeutung den bisherigen Erfahrungshorizont überstiegen. O h n e Übertreibung kann man dieses Jahrhundert als das Jahrhundert der Flüchtlinge bezeichnen. Während die wissenschaftlich-technische Entwicklung immer größere Fortschritte machte, fällt die zivilisatorische und humanitäre Bilanz mager aus. Das gilt auch für die Entwicklung in Europa, wo nach den Erfahrungen von Kriegen, Revolutionen und Vertreibungen seit 1945 in unterschiedlichen Bündnissen, multinationalen Kooperationen und in friedlicher Koexistenz Lehren aus der Vergangenheit für eine friedliche Z u k u n f t gezogen werden sollten. Der Jugoslawien-Krieg seit 1992 mit seinen Flüchtlingen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Zugehörigkeit hat solche Erwartungen zur Illusion gemacht; er steht wie ein Menetekel am Ende des Jahrhunderts. Als Massenerscheinung gehören die aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen provozierten Vertreibungen augenscheinlich zu den Begleitumständen der modernen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse seit Ende des 19. Jahrhunderts, in denen die ökonomisch-sozialen u n d politischen Entwicklungen disparat verliefen. Der Niedergang der alten, im Selbstverständnis statischen Großreiche und die Nationalstaatsbildungen sind Indikatoren dieses dynamischen Wandels. Exemplarisch zeigen das die Fluchtbewegungen aus dem zaristischen Rußland. Die Pogrome im Zarenreich seit den 1880er Jahren gegen die jüdische Bevölkerung, aber auch die Verfolgungen anderer Minderheiten wie der Kasachen oder der neuen politischsozialen Dissidentenbewegungen aus der erst kleinen bürgerlichen Schicht markieren den Zerfall der vormodernen multiethnischen u n d multikulturellen großen Territorien. Ähnliche Tendenzen finden sich im Osmanischen Reich, wie nicht nur die Austreibung der Armenier in die syrische Wüste durch die jungtürkische Nationalbewegung im Ersten Weltkrieg erkennen läßt, die faktisch einem Völkermord an mehr als einer Million Menschen gleichkam. Schon zu Beginn des Jahrhunderts waren im Dauerkonflikt zwi-

Vorwort

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sehen Türken und Griechen, in den Balkankriegen und durch die Aggressionspotentiale des beginnenden serbischen und bulgarischen Nationalismus Hunderttausende Muslime, griechisch-orthodoxe Christen und jeweils andere Minderheiten vertrieben worden. Im griechisch-türkischen Krieg Anfang der zwanziger Jahre gipfelte diese Entwicklung in neuerlichen Vertreibungen von Millionen Menschen. Der Jugoslawien-Krieg wie auch die Unterdrückung der Kurden in der Türkei während der letzten Jahre folgen noch immer jenen Mustern vom Anfang des Jahrhunderts. Mit Beginn des ideologischen Zeitalters, der Entstehung von Bolschewismus und Faschismus nach Ende des Ersten Weltkriegs, die die Verwerfungen der Modernisierungsdynamik widerspiegeln, taten sich weitere Frontlinien auf. Jetzt wurden gesellschaftliche Gruppen zum Ziel von Verfolgungen und Vertreibungen, die nicht mehr nur aus namenlosen ethnischen und religiösen Minderheiten bestanden, sondern auch die gesellschaftlichen Eliten umfaßten. Durch ihre Flucht in die westlichen Metropolen, durch die von ihnen mitgebrachte Lebensweise, ihre Zeugnisse und Überlieferungen, die vielfach eine Bereicherung für die Kultur der Zufluchtsländer brachten, erfuhr die internationale Öffentlichkeit über ihre Exile sehr viel mehr als über die jener Namenlosen, die zudem mehrheitlich in benachbarte Regionen geflohen waren. Immerhin zeigt die Einrichtung der »High Commission for Refugees« unter dem Dach des auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 gegründeten Völkerbundes sowie des von ihrem Leiter initiierten und nach ihm benannten Nansen-Passes für staatenlose Flüchtlinge, daß das Schicksal auch der Namenlosen durchaus wahrgenommen wurde. Betreut wurden von der neuen Flüchtlingsorganisation neben den russischen vor allem Vertriebene aus den Regionen Kleinasiens, die weiße Flecken im Bewußtsein der westlichen Öffentlichkeit darstellten. Die Modernisierungsdiktatur der Bolschewiki wollte aus dem rückständigen agrarisch-feudalen Rußland unter Auslassung notwendiger Entwicklungsetappen den rational geplanten Zukunftsstaat gestalten. Das dabei zugrunde gelegte Modell des aus der Kritik der hochentwickelten westlichen Industriegesellschaft entstandenen postbürgerlichen Marxismus verkam bei der Umsetzung in die revolutionäre Praxis zur Legitimationsideologie für den traditionellen asiatischen Despotismus, der sich in Lenins Kadertheorie fortsetzte und im Stalinismus zur neuen totalitären Herrschaftstechnik wurde. Im nationalsozialistischen Deutschland dagegen gipfelte eine Entwicklung, die mit der Entstehung des mächtigen Industriestaates im semi-absolutistischen Gewände begonnen hatte. Die damit freigesetzten Modernisierungsängste wurden nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs seit 1918 von Konservativen, Völkischen und dann den Nationalsozialisten zunächst gegen die Weimarer Republik mobilisiert und nach 1933 zum diffusen Blut- und Boden-Mythos der »arischen Herrenrasse« transformiert.

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Vorwort

In allen Fällen bedeutete das eine mit wachsender Brutalität — bis hin zum Genozid — durchgeführte Zerstörung der vorhandenen vielschichtigen kulturellen, religiösen oder ethnischen Strukturen. Aus Minderheiten wurden Sündenböcke, die für Niedergang, Zerfall oder Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wurden. Die Logik der Ausgrenzung, Verfolgung,Vertreibung und Vernichtung berief sich auf die Logik der Volkssouveränität oder der Vorsehung, entweder mit dem Anspruch auf die klassenlose Gesellschaft oder im Namen ethnischer und kultureller Homogenität. Einfache Lösungsversprechen für die gesellschaftliche Ordnung gehörten so zu den Antworten auf die Komplexitätssteigerungen der modernen Gesellschaft. Typisch war, daß die ideologische Rechtfertigung und die verwaltungstechnische Durchführung der Verfolgungen totalitär angelegt waren. Nicht nur die zu inneren Feinden erklärten Minderheiten sollten gewaltsam verschwinden, sondern mit ihnen auch ihre Kultur, Religion und alles, was an sie erinnerte. Daß es allerdings Abstufungen im Verfolgungsdruck auf diesen neuen Flüchtlingstypus aus den totalitären Ländern gab, zeigen die Beispiele aus der Sowjetunion und Italien in diesem Band. Auf solche Ursachen und Grundmuster scheinen alle weiteren Vertreibungen des 20. Jahrhunderts zurückführbar zu sein. Man findet sie vor allem in ökonomisch rückständigen Staaten, die entweder mit erziehungsdiktatorischem Zwang den Anschluß an die industriewirtschaftliche Moderne suchen oder sich dem kapitalistischen Weltmarkt, heute spricht man von Globalisierung, widersetzen. China und der Religionsfundamentalismus vor allem in der islamischen Welt markieren gegenwärtig die Pole dieser Tendenzen. Sicher sind jene Konflikte in Asien und Afrika von den kolonialen Hinterlassenschaften der europäischen Mächte mit ihren künstlichen Grenzziehungen ebenso wie von der Systemkonfrontation des Kalten Krieges nach 1945 noch zusätzlich verstärkt worden. Hierbei spielen auch die USA, die als ehemalige Kolonie, klassisches Einwandererland und Zuflucht von Flüchtlingen nie ein homogenes Nationalstaatsverständnis formten und während der imperialistischen Mächterivalitäten seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Kolonialmacht wurden, eine verhängnisvolle Rolle. Mag man den Vietnam-Krieg noch als typisches Resultat des Kalten Krieges interpretieren, so zeigen ihre Lateinamerika-Interventionen, für die das in diesem Band vorgestellte Beispiel des Militärputsches in Chile nur eins unter vielen ist, kaum andere Züge. Dabei vermischten sich traditionelle antikoloniale vormoderne Herrschaftssicherung in der westlichen Hemisphäre seit den Tagen der Monroe-Doktrin und die mit Hilfe der abhängigen nationalen Herrschaftseliten jener Länder gewaltsam exekutierten ideologischen Vorgaben zur Sicherung der eigenen Macht- und Wirtschaftsinteressen. Naturgemäß können die in diesem Band aufgenommenen Beiträge nur einen kleinen Ausschnitt der zahlreichen Exile des vergangenen Jahrhunderts

Vorwort

13

zeigen. Vorgesehen waren weitere Analysen, so etwa zur ethnischenVertreibung aus Armenien und Kleinasien; die zugesagten Beiträge sind jedoch nicht rechtzeitig geliefert worden. Dafür bieten die Texte über Chile und China die Möglichkeit, den europäisch zentrierten Blick zu erweitern. Letzterer stammt ebenso wie der über Ungarn von einem Exilanten. Diese Tatsache dürfte nicht untypisch sein; die ersten Darstellungen über die Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich kamen ebenfalls von den Betroffenen. Die in den Beiträgen angesprochenen Selbstwahrnehmungen mit ihren Hinweisen auf die Binnenstruktur der verschiedenen Exile liefern erste Anhaltspunkte für die vergleichende Analyse. Erkennbar werden unterschiedliche Definitionen des eigenen Status, abweichende Loyalitätsverhältnisse zur alten Heimat und Bewertungen des Zufluchtslandes sowie daraus resultierende, jeweils andere Integrationsintensitäten. Diese Unterschiede legen etwas frei, was in der mittlerweile recht weit entwickelten und ausdifferenzierten Forschung über die Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in den Hintergrund zu geraten droht. Das an US-amerikanischen Verhältnissen orientierte und nicht von ungefähr dort entwickelte Akkulturationsmodell etwa geht der Frage nach, ob und welche Bereicherung die Flüchtlinge für die Zufluchtsländer im komplexen Prozeß der gegenseitigen Beeinflussung gebracht haben und wie sich das auf die Kulturen dort ausgewirkt hat. Demgegenüber gilt es auch, nicht aus dem Auge zu verlieren, welche Bedeutung Exilanten und Emigranten für die Bewahrung und Weitergabe der in ihrer Heimat unterdrückten, zerstörten oder mißbrauchten kulturellen Werte und Traditionen hatten. Auf diesen Aspekt wollen beispielsweise die Beiträge über die Puschkin- und die Goethe-Rezeption der russischen beziehungsweise deutschen Exilanten aufmerksam machen. Der Beitrag über das Projekt »Writers in Exile« des PEN-Club dokumentiert einmal mehr die Brutalität der Verfolgungen in der Gegenwart und die bescheidenen Mittel, die auch in der globalisierten Welt dagegen eingesetzt werden können. Das ergänzend dazu vorgestellte große Lehrprojekt der Universität Bremen über historische Exile mag als Empfehlung für ähnliche Vorhaben verstanden werden.

Karl Schlögel

»Rußland jenseits der Grenzen« Z u m Verhältnis von russischem Exil, alter und neuer H e i m a t

Emigration und Exil sind eine Begleiterscheinung der russischen Geschichte fast das ganze, angeblich so »kurze« 2 0 . Jahrhundert hindurch. W e n n man von »russischer Emigration« spricht, dann hat man meist jene große Fluchtund Exilbewegung im Anschluß an Revolution und Bürgerkrieg im Auge. Das ist nicht falsch, aber sie ist eben nur einer von mehreren Emigrationsschüben, eine Etappe innerhalb der russischen Diaspora, wenngleich die markanteste und produktivste. W i r haben es mindestens mit vier, ganz unterschiedlichen Phasen und Generationen von Emigrationen im 2 0 . J a h r h u n dert zu tun: der politischen Emigration im alten Zarenreich vor 1 9 1 7 , der Emigration nach Revolution und Bürgerkrieg Anfang der 1 9 2 0 e r Jahre, der Nichtheimkehr und Flucht im Anschluß an den G r o ß e n Vaterländischen Krieg und während des Kalten Krieges sowie der Emigration am Ende des Kalten Krieges. Das ist eine sehr grobe und provisorische Periodisierung. Zusammenhängende und vergleichende Forschungen zum G e s a m t k o m p l e x gibt es bisher nicht. Die Forschung ist ganz eindeutig auf die »Welle« nach 1 9 1 7 konzentriert, die je nach Standpunkt als die »erste« oder auch als die »zweite Welle« apostrophiert wird. 1 D e r Sinn der folgenden Ausführungen kann nur darin bestehen, darauf hinzuweisen, daß der Exil- und Emigrationskomplex zeitlich und inhaltlich außerordentlich umfassend und vielschichtig ist. U m das G e s a m t p r o b l e m in den Blick zu b e k o m m e n , scheint es angemessen, zunächst eine chronologisch angelegte Skizze vom Verlauf des russischen Exils zu geben. D a n n soll die Beziehung zwischen Exil und H e i m a t skizziert werden, die keineswegs in sich gleichbleibend und starr gewesen ist. Drittens soll — ebenfalls nur als Skizze — die Beziehung zwischen Emigration und Aufnahmeländern umrissen werden. A m E n d e steht eine Zusammenfassung unter der Frage, was auf lange Sicht das russische Exil für Rußland selbst, aber auch für die Aufnahmeländer »gebracht« hat. Viele Fragen werden angesichts der durch die Ö f f nung der russischen Archive radikal veränderten Quellenlage zügig beantwortet werden, andere werden neu gestellt werden. 2 Es ist ein Unglück, daß bislang die verschiedenen Exilforschungen ihren W e g eher nebeneinander her gegangen sind, als daß sie versucht hätten, die Exilerfahrung als europäisch-globale zu fassen. S o sehr das verständlich sein mag als logische

»Rußland jenseits der Grenzen«

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Folge arbeitsteilig-wissenschaftlicher Praxis, so wenig ist es von der Sache her geboten: dort zeigt sich mehr als einmal, wie Exilbewegungen zusammengehen und Exilanten verschiedenster Couleur in dem einen gemeinsamen Boot der Apatriden unterwegs waren. 3

I Die russische Emigration - eine Jahrhunderterfahrung Die russische Emigration reicht, was die kalendarische Zeitrechnung betrifft, vom 19. Jahrhundert in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinüber. Der Einfachheit halber werden im folgenden die meines Erachtens wichtigen Schübe benannt. Erstens: die Emigration im späten Zarenreich. Diese war vor allem eine politische Emigration, die fast alle Parteien links von der Mitte betraf und die mit prominenten Figuren in ganz Europa vertreten war. Plechanov, Lenin, Trotzki und viele andere, praktisch die gesamte nachrevolutionäre politische Elite war für längere Zeit im Exil, was an und für sich schon ein Symptom äußerster Anomalie ist, ein Zeichen für eklatante Diskontinuität. Die kommende nachrevolutionäre Elite verbrachte zum Teil mehr Zeit ihres bewußten politischen Lebens in Paris, Genf, München oder Wien als in der Heimat. Quantitativ gesehen handelte es sich bei der Politemigration um eine verschwindend kleine Gruppe, ganz anders als in den folgenden Jahrzehnten. Aber sie umfaßte einen politisch besonders energischen und ambitionierten Kader von Intelligenz, der unter normalen Verhältnissen im Lande Karriere gemacht und verantwortungsvolle Positionen übernommen hätte. Die Tatsache, daß sich praktisch alle politisch und kulturell oppositionellen Menschen ins Ausland absetzen mußten, ist eines der Hauptindizien für die Überlebtheit und Erstarrung des Zarenreiches in einer Phase höchster wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Dynamik. 4 Ich würde aber zögern, die Anwesenheit russischer Künstler, Musiker und Schriftsteller vor 1914 im europäischen Ausland der Emigration zuzurechnen, obwohl es gewiß Gründe im politischen und kulturellen System des Zarismus gab, die so bedeutende Künstler wie Sergej Djagilev, Leon Bakst oder Vasily Kandinsky ins Ausland gehen ließen. Ihre Abwanderung dürfte jedoch mehr mit der Globalisierung des Kulturbetriebes, mit dem Entstehen einer transnationalen bürgerlichen Boheme und mit beginnendem Gastspiel- und Starwesen im frühen 20. Jahrhundert zu tun gehabt haben. Zweitens: die Emigration nach 1917, die »eigentliche russische Emigration«. Sie gehört zu den großen Emigrationen, nicht nur im 20. Jahrhundert. Die Schätzungen der damit befaßten internationalen Institutionen, so des Flüchtlingskommissars des Völkerbundes, des Päpstlichen Hilfswerks oder der Ausländerbehörden in den betreffenden Ländern, aber auch die zeit-

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Karl Schlögel

geschichtliche Forschung geben für sie als Größenordnung zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen an. 5 Das ist eine sehr große Zahl, jedenfalls so groß, daß man bei dieser Emigrationswelle von einem Massenphänomen sprechen muß, das nicht nur eine oder mehrere kleine Gruppen betroffen hat. In der Regel waren die Flüchtlinge entschlossen, nach Rußland zurückzukehren, sobald die Revolution und der Bürgerkrieg beendet sein würden. Einige wenige mochten bereits im Augenblick der Unruhen ins Ausland ausgewichen sein, in der Regel wurden die Flucht und die Emigration aber zu einem definitiven und massenweise vollzogenen Schritt in dem Augenblick, als die Würfel in der militärischen Auseinandersetzung zwischen Revolution und Gegenrevolution, zwischen »Rot« und »Weiß« gefallen waren. Das war in Europäisch-Rußland im großen und ganzen in derzweiten Jahreshälfte 1920, und in jedem Falle nach der dramatischen Evakuierungsaktion der WrangelArmee von der Halbinsel Krim der Fall. In Fernost zogen sich die Kämpfe zwischen den Bürgerkriegsparteien länger hin, aber auch dort war 1922 die Fernost-Republik erledigt. Vom Herbst 1920 an ergoß sich ein Strom von Bürgerkriegsflüchtlingen in die an Sowjetrußland angrenzenden Staaten. 6 Das waren im Süden die Türkei und die Balkanstaaten, im Norden Finnland und die baltischen Staaten, die im übrigen große russische Gemeinden hatten, weil in Riga, Reval oder Kaunas seit alters her starke russischsprachige Gruppen existierten, die nun zu Minderheiten in den neuen Staaten geworden waren. 7 Und das waren die angrenzenden Staaten in Mitteleuropa: Polen, die Tschechoslowakei, das Deutsche Reich und dann auch Frankreich. Bemerkenswert ist weiterhin eine große russische Gemeinde in der Mandschurei. 8 Aber nicht nur in fast allen europäischen Staaten entstanden neue russische Gemeinden. Russische Flüchtlinge, ein Teil der Flotte und Matrosen, waren in Algerien und Bizerta gelandet und interniert. Russische Flüchtlinge finden wir in Damaskus, Alexandria, Kairo, aber auch in Australien, Paraguay und Uruguay. Freilich war ihre Zahl nicht überall gleich stark und auffällig, aber immerhin waren sie doch in der Lage, die russische Diaspora als internationale, über die ganze Welt verstreute Erscheinung zu etablieren. Sie war eine wahrhaft internationale Diaspora, nicht nur eine europäische. Man kann dies an den mehreren Dutzend Korrespondenten ablesen, die die großen Tageszeitungen der Emigration - wie Rui' in Berlin, Segodnja in Riga, Poslednie Novosti in Paris belieferten. 9 Diese Diaspora war in ständiger Bewegung, 'weil die Verhältnisse im Zwischenkriegseuropa außerordentlich unruhig und instabil waren und jede Erschütterung Folgen für sie hatte. Solche Erschütterungen waren Inflationen, Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit, andererseits aber auch Arbeitskräftebedarf im Wiederaufbau nach dem Krieg, weiterhin politische Krisen, Putsche und Bürgerkriegssituationen wie beispielsweise in Bulgarien und Deutschland.

»Rußland jenseits der Grenzen«

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Wenn es auch richtig ist, darauf zu insistieren, daß die russische Emigration eine Massenerscheinung war und praktisch alle Bevölkerungsschichten in ihr vertreten waren, wenn darauf aufmerksam zu machen ist, daß sie in ihrer konfessionellen und ethnischen Zusammensetzung eine recht genaue Abbildung der Reichsgesellschaft war — also multiethnisch und multikonfessionell - , so ist gleichzeitig richtig, auf den besonders hohen »Kulturkoeffizienten« der Emigration hinzuweisen - ein Terminus von Vladimir Nabokov. »Der ungeheure Strom von Intellektuellen, der einen so bedeutenden Teil des allgemeinen Exodus aus Sowjetrußland in den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution ausmachte«, schreibt Nabokov in seinem Roman Die Gabe, »erscheint heute wie die Wanderung irgendeines mythischen Stammes, dessen Vogelzeichen und Mondzeichen ich jetzt aus dem Wüstenstaub rette.« 10 Anders als in der mitteleuropäischen Emigration nach 1933 fanden sich auch Zehntausende von einfachen Leuten, Arbeitern, Bauern, die in den Reihen der Freiwilligen-Armeen auf Seiten der Weißen gekämpft hatten, unter den russischen Flüchtlingen, und eben nicht nur Angehörige der politischen und kulturellen Elite, wenngleich diese das Erscheinungsbild in den Gastländern entscheidend prägen sollten - sofern dort überhaupt Notiz von den >Hinterstuben-Flüchtlingen< genommen wurde. Auch dies kann hier nur summarisch benannt werden. Die russische Emigration hatte ihre Regierungen im Exil, sie hatte ihre evakuierten und exportierten Staatsapparate, Diplomaten, Angehörige des Außenministeriums und diverser anderer Ministerien; sie hatte ihre Intelligenz mit meistens hauptstädtischen Öffentlichkeiten, die Publizistik, das Verlagswesen; sie repräsentierte mehr oder weniger das komplette Spektrum der politischen Parteien, denen in Sowjetrußland der Boden entzogen worden war. Sie war der Rückzugsraum für die Angehörigen des Ancien régime: Minister, Staatssekretäre, Generäle, Polizeipräsidenten, aufgeflogene Spitzel, Generalstäbler, dazu zahlreiche Personen, an deren Händen seit dem Bürgerkrieg Blut klebte. Für wieder andere war sie eine Art Pompeji, in dem das alte Rußland zum Fossil erstarrt war. Was der Diplomat Wipert von Blücher für Berlin beobachtete, galt auch für die anderen Städte: »Das russische Emigrantentum in Berlin war eine Pyramide, von der nur die Spitze übriggeblieben war. Es fehlten die unteren und mittleren Volksschichten, die Arbeiter und Bauern, Handwerker und kleinen Kaufleute. Statt dessen waren Offiziere, Beamte, Künstler, Finanziers, Politiker und Mitglieder der alten Hofgesellschaft vertreten... So bildete sich allmählich in Berlin ein kleines Petersburg, das in schärfster Opposition zur offiziellen Sowjetbotschaft und ihrem Personal stand und sich aus den Trümmern der bürgerlichen Gesellschaft zusammensetzte.« 11 Die russische Diaspora umfaßte, weil sie einen Querschnitt durch die russländische Gesellschaft darstellte, alle Gruppen: die linken Parteien, deren

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Karl Schlögel

Vertreter schon einmal im Exil gewesen waren, ebenso die protofaschistischen Schwarzhunderter und die Liberalen. Besonders hoch war der Anteil dessen, was man recht hilfsweise als das »Dritte Element« bezeichnen könnte, jene in Rußland so kostbare und erst wenig ausgebildete Schicht der Intelligenz, der freien Berufe oder - allgemeiner — der Mittelklasse. Jedenfalls wäre es falsch zu meinen, in der Diaspora wäre nur die reiche Aristokratie gewesen. Es waren mehrheitlich Leute von bescheidenem bürgerlichen Wohlstand, die das Elend des Exils kennengelernt haben. Das unterscheidet diese Welle der Emigration von den anderen: von der des 19. Jahrhunderts, die die politische Opposition umfaßte und zahlenmäßig unvergleichlich kleiner war, aber auch von der im Gefolge des Zweiten Weltkriegs, die dagebliebene Zwangsarbeiter oder Rotarmisten umfaßte, welche nicht mehr zu den Angehörigen der alten vorrevolutionären Intelligenz und des Mittelstandes gehörten; sie unterscheidet sich auch von der Emigration der 1970er Jahre, die entweder die kleine Gruppe der politischen Dissidenten umfaßte oder bestimmte Volksgruppen wie Juden und Deutsche. Die russische Emigration hatte ihre wichtigsten Zentren in Berlin, Prag, Belgrad, Sofia, Riga, Harbin und Shanghai, später in Paris und noch später in New York und San Francisco. Es gab gewiß Tönungen und Unterschiede zwischen diesen Zentren, der gelehrten und akademischen Atmosphäre in Prag; dann Riga, eine Art Rußland jenseits der Grenzen; Harbin mit seiner stark konservativen, slavophilen Orientierung, die einen Anknüpfungspunkt auch für den russischen Faschismus bot 12 ; Berlin als blühende Transitstation 13 zum Westen, deren Qualität möglicherweise darin bestand, daß sich hier noch »Reine« und »Unreine« gemischt hatten, wie Ilja Ehrenburg es genannt hatte; schließlich Paris als das solide und andauernde Zentrum 14 , dem nicht einmal die Nazi-Okkupation etwas anhaben konnte; und New York, das eigentlich keine Stadt des Exils und der Emigration, sondern der Immigration war, in der aus russischen Flüchtlingen amerikanische Staatsbürger wurden. 15 Die Periode der Emigration, von der hier die Rede ist, ging mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zuende. Drittens: Danach folgte ein anderes Exil, das mit den vorangegangenen Exilen nicht einmal mehr den Namen gemein hatte, denn es verstand sich schon nicht mehr als Rußland jenseits der Grenzen, sondern als Emigration und Flucht aus der Sowjetunion. Diese Emigration umfaßte in erster Linie Sowjetbürger, die nach 1945 nicht mehr in die UdSSR zurückkehrten und im Westen geblieben sind. Es handelte sich um von den Nazis nach Deutschland verschleppte »Ostarbeiter«, KZ -Häftlinge, Angehörige der Roten Armee sowie jener militärischen und zivilen Formationen, die auf der Seite der Deutschen gekämpft hatten und denen für »Kollaboration mit dem Feind« Lager oder Tod gewiß waren. Die Koordinaten, in denen sich die Ex-Sowjetbürger wiederfanden, waren nun ganz andere. 16 Mit Beginn des Kalten Krieges,

»Rußland jenseits der Grenzen«

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der Teilung Deutschlands, Europas und schließlich der ganzen Welt vollzog sich eine Polarisierung, die nur noch ein E n t w e d e r - O d e r kannte. D i e Z e n tren der »nevozvrascency«, der N i c h t - H e i m k e h r e r und der wenigen Flüchtlinge, die noch über den schwer befestigten Eisernen Vorhang in »den Westen« gelangt waren, wurden nun zu Posten im Kalten Krieg. Diese Zentren antisowjetischen und antikommunistischen Exils

fielen

häufig zusammen mit den Instituten zur Erforschung Osteuropas, des K o m munismus (einschließlich Chinas und Kubas) sowie den Aufklärungs- und Propagandazentren des Westens, vor allem der U S A . Politische Braintrusts, Rundfunkstationen,

Forschungszentren

boten zahlreichen

Flüchtlingen

Arbeit und Brot, so daß sich eine neue Generation von Exilorten in die T o p o graphie der russischen Emigration einzeichnete wie zum Beispiel M ü n c h e n und Washington, während in den Zentren der Vorkriegsemigration wie Paris nach wie vor die alte Emigration und deren inzwischen groß gewordene K i n der den T o n angaben. D i e große Zeit der Kalten-Kriegs-Emigration, das heißt die Zeit ihrer größten intellektuellen Wirksamkeit und politischen Prominenz, verbunden mit bedeutenden Forschungsprojekten, lag wohl in den 1 9 5 0 e r Jahren. Aus ihren Quellen speiste sich wesentlich das Wissen des Westens über die Sowjetunion, entsprechend wurden diese »Stützpunkte des Antisowjetismus« auch von ihr bekämpft. Es gab Mordanschläge, Überwachung, gezielte Einschüchterung. In Deutschland fielen die ukrainischen Nationalisten Lev Rebet und Stepan Bandera 1 9 5 7 und 1 9 5 9 in M ü n c h e n Mordanschlägen des sowjetischen Agenten Bohdan Stasinski zum Opfer. 1 7 Viertens: In der Phase der »friedlichen Koexistenz«, in der die Auswüchse des Kalten Krieges überwunden wurden und damit auch die »totalitäre M o b i lisation« in der Sowjetunion zu E n d e ging, bildete sich innerhalb des Landes eine Art minoritäre, meist aus Intelligencija-Kreisen stammende G e g e n kultur heraus, die Dissidenten- und Samizdatbewegung. Starken Z u l a u f fand sie bekanntlich Ende der 1 9 6 0 e r Jahre, als eine erneute Verschärfung der innergesellschaftlichen Repression einsetzte. D i e Dissidentenbewegung war eine Sowjetunion- und Ostblock-interne Erscheinung von größter historischer Bedeutung. Sie war der A n l a u f zu einer zivilgesellschaftlichen Neubildung nach den Kahlschlägen in Revolution, Bürgerkrieg und Stalinismus, eine Art Neuanfang der »civil Society«. Auch das kann hier nicht weiter analysiert werden. Bedeutend in unserem Z u s a m m e n h a n g ist, daß sie eine neue Welle des Exils nach sich gezogen hat, mit allem, was dazugehörte: neuen Zentren- und Milieubildungen, eigenen Medien, anderen Gegenöffentlichkeiten und neuen Führungsgruppen, die Deutungsfunktionen übernahmen. Alle kennen die N a m e n der zum Teil Zwangsexilierten: Solschenizyn, Kopelev, Natalja Gorbanevskaja, Marija Rozanova, Andrej Amalrik, Andrej Sinjavskij, Mstislav Rostropovic und viele andere an O r t e n wie New York, L o n don, Paris, Kopenhagen. D e r Beitrag auch dieser Generation von Exilanten

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ist außerordentlich bedeutungsvoll, fast auf allen Gebieten von Wissenschaft und Kunst. 18 Im Schatten dieser großen Namen, die N a m e n von wenigen waren, vollzog sich ein anderer Exodus, der zwar nicht an die Größenordnung der Flüchtlingsbewegung nach dem Ende des Bürgerkriegs heranreichte, aber doch Massencharakter hatte. Ich meine den Exodus sowjetischer Juden meist nach Israel und von Sowjetdeutschen nach Westdeutschland. 1 9 Doch ob man dies als Emigration bezeichnen kann, ist unter den Betroffenen selbst mehr als strittig, wird er von ihnen - offiziell wenigstens - doch als Alijah, als Heimkehr in die historische Heimat, und als Repatriierung definiert. In diesen Fällen dominierte ganz klar der Aspekt der Immigration in die neuen Gemeinwesen, der geräuschlose Erwerb der neuen Staatsbürgerschaft und das möglichst rasche Aufgehen in ihren neuen Lebenswelten. Auch diese vierte Phase ist mit dem Ende des Kommunismus und der Auflösung der Sowjetunion zu einem Ende gekommen. Seither ist freilich nicht die Bewegung, die Migration zu Ende gekommen; im Gegenteil, nie ist so viel hin- und hergereist worden zwischen Rußland und Europa, zwischen Rußland und allen Erdteilen wie in den 1990er Jahren, aber es ist doch eher die Rückkehr zu den Formen der stummen, der normalen Migration, die heute durchaus eine massenförmige geworden ist. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre kann man, so glaube ich, von einem Ende der russischen Emigration sprechen. Es ist sogar verbunden mit einer Rückkehr einzelner, auch prominenter Emigranten und Exilanten, der Rückverlegung des Standorts wichtiger Verlage, Zeitungen, Archive und anderer Institute in die Heimat. Die Wiedervereinigung der gespaltenen russischen Kultur ist seit den späten achtziger Jahren wenn schon nicht eine vollendete, so doch eine im G a n g befindliche Tatsache. 20 Wenn wir diese vier Phasen ansehen, dann sticht bei allen Unterschieden eines ins Auge: Emigration, Exil, Exodus sind im russischen Kontext nicht eine einmalige, einzige, schockartige historische Erfahrung, sondern etwas, was sich fast über das ganze 20. Jahrhundert hinzieht, buchstäblich eine Jahrhunderterfahrung. Soweit zur allgemeinen Charakteristik. N u n zum zweiten, hier sicher mehr interessierenden Aspekt der Wechselbeziehung zwischen Exil und Heimat, vor allem in der Zwischenkriegszeit.

II Die Entwicklung des Verhältnisses von Exil und Heimat zwischen den Kriegen Die erste Phase des russischen Exils ging mit der demokratischen Revolution im Frühjahr 1917 zuende. Von überall her, soweit dies die Kriegslage erlaubte, kehrten die Politemigranten nach Rußland zurück, zum Teil auf den abenteuerlichsten Wegen. Im Grunde handelt es sich um eine grandio-

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se Normalisierungsaktion: Tausende von M ä n n e r n u n d Frauen, die das Zarenreich meist aus politischen oder religiösen Gründen hatten verlassen müssen, kehrten »nach Hause« zurück. Es war dies zugleich ein einzigartiger Transfer an hyperaktiver, weltläufiger und zum Teil hochkultivierter Intelligenz, die sich, kaum zurückgekehrt, anschickte, die vakant gewordenen Stellen des Ancien regime zu besetzen. Diese vorwiegend politische und politisierende Intelligencija, die im westlichen Europa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Urbild des »nihilistischen Revolutionärs« und Hinterstuben-Anarchisten genährt hatte, repräsentierte nun, zurückgekehrt, eine mit den europäischen Angelegenheiten intim vertraute, polyglotte Schicht. Sie prägte als Typ für ein gutes Jahrzehnt das Erscheinungsbild der politischen und kulturellen Klasse Sowjetrußlands, auch im Ausland. Dieser Typus des Emigranten-Intellektuellen verschwindet aus den führenden Positionen im G r u n d e erst mit der Stalinschen »Revolution von oben« in den Jahren 1928/1929. 2 1 Auf eine ganz andere Weise wirkte sich der Große Exodus nach 1917 aus. Die wichtigste Tatsache ist vielleicht die, daß sich die H o f f n u n g auf den Sturz oder Zusammenbruch der revolutionären Macht als trügerisch erwies und daß sich die Vorstellung, man sei ja nur vorübergehend im Ausland und man könne in absehbarer Zeit in die Heimat zurückkehren, zerschlug. In gewisser Weise war schon die militärische Niederlage der weißen Bewegung 1920 so etwas wie eine definitive Zäsur mit Folgen. Räterußland hatte sich behauptet u n d man mußte sich auf einen längeren Aufenthalt im »Rußland jenseits der Grenzen« einrichten. Dies war ein sehr wichtiger Einschnitt im Leben der Diaspora. Es kam zu Kontroversen über die künftige Haltung und Politik gegenüber der UdSSR - so hieß nun das einst als »Sowdepien« verhöhnte Land. Sollte man weiterhin auf bewaffnete Auseinandersetzung setzen oder brauchte man eine neue, eine andere Taktik, wie das die Liberalen u m Pavel Miljukov forderten? 22 Viele der Gastländer begannen zudem, ihre Haltung gegenüber Sowjetrußland zu überdenken und schritten zur diplomatischen Anerkennung des ursprünglichen Pariastaates. Das hatte Folgen für die Emigranten, die nun Staatenlose wurden. Aus Flüchtlingen für den Augenblick waren damit, wie es unzweideutig hieß, geduldete Ausländer geworden. Die anfängliche, politisch motivierte Gastfreundschaft schlug nicht zuletzt angesichts der internen Probleme der meisten Staaten der Zwischenkriegszeit um in Mißgunst, Ressentiment, Diskriminierung. Die H o f f n u n g e n auf eine erfolgreiche militärische Intervention u n d Restauration waren spätestens 1921 dahin, das Regime erwies sich nicht als das Provisorium, das es im Wunschdenken der Emigranten war. Man m u ß t e sich also längerfristig einrichten; man m u ß t e sich um die Erziehung der Kinder, um die erste Generation jenseits der Grenzen 2 3 , um Arbeit und Integration ins normale bürgerliche Leben k ü m m e r n , einen Paß oder

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eine Staatsbürgerschaft b e k o m m e n usf. In den meisten Ländern war das ziemlich schwer, wenn nicht gar aussichtlos. U n d wenn sich unerwartet und auf paradoxe Weise doch C h a n c e n einer Rückkehr ergaben, war nur eine kleine Minderheit bereit, sie auch wirklich zu ergreifen. So legte auch kaum j e m a n d Wert darauf, etwa im T r o ß der deutschen W e h r m a c h t oder der Einsatzkommandos, die am 2 2 . J u n i 1 9 4 1 die sowjetische Grenze überschritten, nach R u ß l a n d zurückzukehren. Einige wenige gab es immerhin, die sich aus ganz Europa in den Schulungslagern der W e h r m a c h t und des Propagandaministeriums einfanden, wobei sich wohl niemand hatte träumen lassen, auf diese Weise zurückzukehren. 2 4 In den zwei Jahrzehnten von 1 9 2 1 bis 1 9 4 1 hatten sich die Formen der Beziehungen zwischen den Emigranten und der alten H e i m a t erheblich gewandelt. Dies kann hier ebenfalls nur summarisch benannt werden, zumal dafür noch Forschungen im Einzelnen notwendig sind. Anfänglich war es eine Beziehung, die Züge des Bürgerkriegs trug, eine von äußerster Unversöhnlichkeit und Militanz, die erst durch eine Amnestie oder amnestieähnliche M a ß n a h m e n der Regierung 1 9 2 1 entschärft werden konnte. H u n derttausende kehrten damals aus dem nahen Ausland zurück, vor allem einfache Soldaten der evakuierten Armeen aus Bulgarien, der T ü r k e i oder Serbien. N o c h bis Mitte der zwanziger Jahre dauerten diese Repatriierungen an. M a n darf dabei nicht übersehen, daß die Beziehung zwischen D r i n n e n und D r a u ß e n , zwischen sowjetischer Regierung und Emigranten noch sehr im Fluß und unbestimmt war und während der zwanziger Jahre noch nichts gemein hatte mit der scharfen Trennung, wie wir sie aus der Zeit des H o c h stalinismus oder auch der späten Sowjetunion kennen. Es gab in den zwanziger Jahren Emigranten, die regelmäßig hin und herfuhren, die im Exil bei Institutionen des Sowjetstaates — der Botschaft oder Wirtschaftsmissionen angestellt waren oder für sowjetische Verlage arbeiteten. Andererseits gab es sowjetische Staatsbürger, die einen Auslandspaß hatten und von diesem Privileg ausgiebig Gebrauch machten und sich i m m e r wieder und zum Teil sehr lange im Ausland aufhielten. Dies führte dazu, daß m a n c h e O r t e des Exils wie Riga, Berlin, Prag und Paris exterritoriale Begegnungsstätten wurden: zwischen »Reinen« und »Unreinen«, zwischen »Weiß« und »Rot«, zwischen entschiedenen Propagandisten des sowjetischen Weges und eher zögerlichen zeitweiligen »poputciki«. 2 5 Dies galt wohl bis zum E n d e des Jahrzehnts, als in der U d S S R der W i n d der stalinistischen Mobilisierung zu wehen begann und Front gemacht wurde gegen die alte bürgerliche Intelligenz und die E m i gration. Es k a m zu den berüchtigten Prozessen - gegen die Schachty-Ingenieure, die Industriepartei, die Menschewiki - , in denen die Beziehungen nach draußen eine Rolle zu spielen begannen. Kontakte und Korrespondenzen

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mit der Diaspora, die in den zwanziger Jahren noch nichts Besonderes u n d nichts Straffälliges waren, w u r d e n nun z u n e h m e n d unmöglich, wenn man d e m Vorwurf, Agent zu sein, entgehen wollte. In den dreißiger Jahren war es dann vollends gefährlich geworden, mit der Emigration in Beziehung zu stehen. Dies änderte sich erst wieder nach d e m Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Es ging n u n darum, alle patriotischen Russen zusammenzuschließen - in und außerhalb der Sowjetunion. In den letzten Kriegsjahren kehrten zahlreiche Emigranten, auch sehr prominente, nach R u ß l a n d zurück oder faßten wenigstens ihre H e i m k e h r ins Auge. Darunter so bedeutende Repräsentanten der Diaspora wie Vasilij M a k l a k o v in Paris, Sergej Rachmaninov, Pitirim Sorokin, Pavel Miljukov oder Aleksandr Vertinskij. 2 6 Dies dauerte bis z u m Beginn des Kalten Krieges, als es wieder gefährlich wurde, mit ihnen in Verbindung zu treten. Ein solche Oszillation des politischen Klimas, die Verschärfung der Spaltung und ihre Relativierung sind von außerordentlicher Bedeutung für die Binnenverfassung der russischen Kultur. Denn solange die Grenze durchlässig war, gab es noch eine Art von gemeinsamer kultureller Erfahrung, die Teilnahme an bestimmten Strömungen, die grenzüberschreitend waren. M a n denke hier nur an jene Intellektuellen, die nun zur Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht aufriefen, wie die Führer der Smena-Vech-Bewegung (SmenaVech, d. h. Wechsel der Wegzeichen) und der Eurasier, einer Bewegung, die Rußlands Sonderstellung zwischen Europa und Asien zur Basis hatte. Beide Bewegungen hatten Anhänger diesseits und jenseits der Grenze. 2 7 Zur endgültigen Spaltung zwischen Exil und H e i m a t kam es in der Zeit des Kalten Krieges. Die russisch-sowjetische Emigration der vierziger und fünfziger Jahre war ganz und gar Teil eines großen Komplexes oder Syndroms der Heimat, die sich mit ihrer Einkreisungsfurcht, Selbstabschottung, in ihren Überlegenheitsphantasien und Minderwertigkeitskomplexen als ein mit seiner Weltmachtrolle überfordertes Land darstellte. Emigration war nun gleichbedeutend mit Antisowjetismus u n d vor allem Antipatriotismus u n d Vaterlandsverrat — »izmena rodiny«. Kurz, die Emigration war soviel wie die Agentur des Feindes. Auch auf die Emigration hat diese Polarisierung abgefärbt. Dort gab es ebenfalls eine Art b l i n d m a c h e n d e W u t , die dazu führte, d a ß bestimmte Entwicklungen in der Sowjetunion ignoriert oder nur im R a h m e n einer sehr engen u n d instrumenteilen politisch-taktischen Interpretation w a h r g e n o m m e n w u r d e n . Es gab so etwas w i e eine KalteKriegs-Schädigung, die dazu führte, d a ß Mißverständnisse zwischen der mittlerweile alt gewordenen Emigration und den neu d a z u g e k o m m e n e n sowjetischen Dissidenten ebenfalls unausbleiblich waren. Zu einer bedeutenden Metamorphose der Beziehung kam es im Zeitalter der Entspannung und im U m f e l d der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki 1975. M a n könnte sie als das Ende der

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rohen und simplen Opposition bezeichnen, als Auflösung der platten Dichotomie und als Übergang zu einem reicheren Spektrum an Denk- und Praxismöglichkeiten. Der neue Freiraum führte zu einer Auflösung der Enge und der Eindeutigkeit, man durfte nun auch anderer M e i n u n g sein, ohne gleich als Agent der einen oder anderen Seite zu gelten. Es bestand die Möglichkeit zur Differenzierung, der Herausbildung von Strömungen und Richtungen, der offenen Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Fraktionen, etwa zwischen den Slavophilen, den Liberalen westlicher Orientierung, den religiös Orientierten und den völlig Apolitischen. 2 8 In dieser Zeit wurde auch die Kommunikation zwischen drinnen und draußen, die vollständig abgerissen war, wieder a u f g e n o m m e n . Der Samizdat begann seine historische Zirkulation, es bildete sich ein Netzwerk von persönlichen, intellektuellen Beziehungen über die Grenzen hinweg, und die Wiedervereinigung von »Rossija I« und »Rossija II« setzte lange vor dem Fall der M a u er und vor d e m Ende der Sowjetunion ein. Das Ende der Emigration als sozialer, historischer und kultureller Prozeß kennzeichnet die Zeit, in der wir heute leben. Pointiert gesagt, es gibt eine immense Bewegung über die Grenze hinweg, aber es gibt keine Emigration mehr. Es bilden sich russische intellektuelle oder business communities, aber keine Diaspora mehr. Das heißt nicht, daß der »brain drain« als eine existenzielle Bedrohung für eine nationale Kultur aufgehört hätte. Noch i m m e r gibt es in R u ß l a n d ganz typische, von der Pathologie der Vergangenheit geprägte Züge, Wissenschaftler, die nur im Ausland überleben können, die Abhängigkeit von Stipendien und Publikationsmöglichkeiten, die Künstler zu Gastspielen und Gastreisen verurteilt usf. Aber die erste Voraussetzung für die Bildung der Diaspora, die Geschlossenheit des politischen Systems, ist hinfällig geworden. Das hat auch einschneidende Folgen, führte zu einem enormen Status- und Bedeutungsverlust für die bisherige Emigration. Diese verliert ihr Publikations- und Interpretationsmonopol in d e m Augenblick, da Informationen, Künste, Wissenschaften sich im Lande frei entfalten können. Oder noch schärfer gesagt: die wesentliche Arbeit, ob in der Geschichtsschreibung, in der Literatur oder sonst in den Künsten, kann nun endlich im Lande gemacht werden; der abnorme Zustand, d a ß die Auseinandersetzung mit den Quellen, historische Aufarbeitung u n d lebendiges Geschichtsbewußtsein jenseits der Grenzen stattfinden müssen, ist zu Ende. So haben w i r beides am Ende des Jahrhunderts, die Rückkehr der Kultur aus der Diaspora u n d die Integration der russischen Kultur in eine global gewordene Kultur und Kulturbetriebsamkeit. Nach dieser kurzen, gewiß nicht erschöpfenden Skizze soll zu der weitaus interessanteren Frage übergeleitet werden, wie sich die Grenze zwischen Drinnen und Draußen in die russische Kultur des 20. Jahrhunderts eingezeichnet hat. Auch dabei kann es nur u m eine Skizze gehen, wobei der Schwer-

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p u n k t auf der ersten großen Emigration nach Revolution und Bürgerkrieg liegen soll.

III Kultur der Diaspora und Sowjetkultur. Zur Typologie einer gespaltenen Kultur Wir alle wissen, daß Typologien auf Stilisierungen und Vereinfachungen basieren und daß Vereinfachungen brutal und problematisch sind. Aber wir k o m m e n ohne sie nicht aus, wenn wir im G e t ü m m e l der Erscheinungen einige bemerkenswerte und generelle Beobachtungen festhalten wollen. Die Frage lautet, wie sich das Exil auf die Kulturen in und außerhalb Rußlands ausgewirkt hat. Was bedeutete russische Kultur diesseits, und was jenseits der Grenzen? Ist es legitim, von einer übergeordneten »rossijskaja kultura« zu sprechen, der die sowjetische wie auch die Kultur im Exil gleichermaßen zugehören? Oder dominiert die Differenz? Gehört die sowjetische Kultur oder gar Zivilisation gar einem anderen, vielleicht sogar neuen Typus von Kultur an? Die Diskussion über diese Fragen ist nicht ganz so weit entfernt von der deutscher Flüchtlinge zwischen 1933 und 1945 und noch lange nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches: Was ist deutsche Kultur? War die wahre deutsche Kultur eher im Exil aufbewahrt, während sie zuhause, im Reich der Nazi-Barbaren verraten wurde? U n d wie sollte eine solche Analyse vorgenommen werden? Gibt es nicht Situationen und Ereignisse, an denen wie im Brennglas die Differenz sichtbar werden müßte? Vielleicht beim Begräbnis von Aleksandr Blok, dem literarisch-künstlerischen Uber-Ich der Welt des vorrevolutionären Symbolismus, im Jahre 1921? O d e r bei den Puschkin-Feiern 1937, bei denen sich sowohl die Diaspora wie die Sowjetunion Stalins im Jahr des Großen Terrors präsentierten? Ist es überhaupt sinnvoll, von einer integralen Kultur zu sprechen; wäre es nicht angemessener, die verschiedenen Kulturen, die Wissenskultur, die Musikkultur, die politische Kultur oder die Hochkultur und die Massenkultur in den Blick zu nehmen? Auf all diese Fragen kann hier keine Antwort gegeben werden, aber sie sind bei der folgenden Darstellung im Hinterkopf vorhanden. Im übrigen bin ich der Uberzeugung, daß die These oder Unterstellung einer abstrakten, überhistorischen, einer Art russischem Volksgeist inhärenten Bipolarität oder Binarität nicht weiterhilft. W i r müssen vielmehr den jeweiligen Stoff und die jeweilige Formenwelt studieren, um die Rätsel zu entziffern, die im Drama der Spaltung der russischen Kultur im 20. Jahrhundert stecken. Vielleicht ist es am einfachsten, einige klar ins Auge springende Züge und Differenzen hervorzuheben und dann ihre Komplementarität zu beachten.

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Erstens: Die russische Kultur der Emigration war ein Ort des Überlebens kultureller Traditionen, die in Rußland selbst zerstört wurden. Dies gilt zunächst in einem ganz elementaren, fast banalen Sinn. In der Emigration überlebten Familien, Angehörige von sozialen Schichten, die in der U d S S R keine Uberlebenschancen hatten. So wurde die emigrierte Kultur buchstäblich zu einem Reservoir oder Reservat einer im großen und ganzen zum Untergang verurteilten Kultur, ein Pompeji, wie es in der Selbstbeschreibung der Emigration nicht selten hieß. Sie schuf ihre Erinnerungsräume, ihre familiale Erzählung, ihre Bibliotheken, ihre Museen, während sie im Lande einfach von der Bildfläche verschwand oder wirklich Museum wurde. Freilich stellte sich irgendwann sehr bald die Frage der Vitalität dieser Kultur im Reservat, die Frage nach der Weitergabe der Tradition an die folgende, schon im Exil aufgewachsene Generation, die Frage nach der Bewahrung des Eigenen unter dem allgemeinen Akkulturationsdruck in den Gastländern. 29 Zweitens: Die russische Kultur der Emigration ist aus diesem Grunde eine konservierende und eine konservative Kultur — im Unterschied zur Kultur der Diskontinuität, des Traditionsbruchs, der Avantgarde, die in Sowjetrußland bis in die dreißiger Jahre hinein den Ton angab. Im Exil wurde eine Tradition weitergeführt, die wohl in sich heterogen war, die aber mehr oder weniger die Vielfalt der vorrevolutionären Kultur des Fin de siècle repräsentierte. Sie verschmolz häufig mit jener Kulturszene, die bereits vor dem Krieg in Europa ansässig geworden war und deren markanteste Vertreter die Repräsentanten der »Saisons Russes« - also Bakst, Djagilev, Strawinsky und andere - gewesen waren. Das Silberne Zeitalter, so könnte man überspitzt sagen, ging jenseits der Grenzen noch eine Weile weiter. Teilweise fand dieses Zeitalter Anschluß an die westliche bürgerliche Moderne, die ebenfalls von ihrem revolutionären Widerpart in vielerlei Gestalt - expressionistisch, funktionalistisch, konstruktivistisch, dadaistisch - herausgefordert wurde. Die Spaltung auf den großen Ausstellungen oder Konzerten in Paris oder Berlin verlief durchaus nicht entlang der Grenze Sowjetunion vs. Westen, wie man es sich im Nachkrieg zu denken angewöhnt hatte, sondern es standen sich konservativ-gemäßigte Moderne einerseits und revolutionäre Avantgarde andererseits gegenüber. Drittens: Für jeden Aspekt von »Kultur« muß man die Frage nach dem Verhältnis zwischen Exil und Heimat konkret stellen. In der politischen Kultur verlaufen die Grenzen anders als in der Musik oder in der Mode, in der Literatur anders als in der Chemie. Im Exil waren alle nicht-bolschewistischen oder antibolschewistischen Parteien, die im Lande selbst in die Illegalität gedrängt waren. Das bedeutete, daß ein ganzer Pol des politischen Kraftfeldes außer Landes verbannt war, eine absolute Anomalie für jedwedes gesellschaftliche Leben. Die Folgen für das Land selbst sind bekannt, Realitätsverlust der politischen Klasse und wachsende Konfliktunfähigkeit. Aber

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auch für die Emigration hatte die Tatsache, daß sie nicht mehr in lebendigem Kontakt mit einer sich dynamisch verändernden Wirklichkeit in der Sowjetunion stand, Folgen: W u n s c h d e n k e n anstelle von Realismus, Ideologiebildung statt Analytik, Retrospektivismus anstelle von Gegenwartsbezug, Flucht in i m m e r abstraktere historiosophische H ö h e n oder i m m e r tiefer in die historische Vergangenheit. G e w i ß gab es Branchen des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens, die weniger tangiert waren von dieser brutalen Spaltung, ich würde den Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften dazu rechnen, ebenso die Kinematographie oder die Architektur. Besonders schwer betroffen wurden die Geistes- und Kulturwissenschaften sowie die Künste, und zwar auf beiden Seiten. Was bedeutete es für die Philosophie als »Zeit in Gedanken gefaßt«, abgeschnitten zu sein von den gesellschaftlichen und geistigen U m b r ü c h e n ? M u ß t e es nicht unweigerlich zu einer Musealisierung und Versteinerung des D e n k e n s k o m m e n ? U n d was bedeutete umgekehrt die Zerstörung der geistigen Freiheit, diese Umwälzung zu denken? Im übrigen könnte es sein, daß weitaus gravierender die indirekten Verwüstungen waren, die nicht sofort und mit dem bloßen Auge zu erkennen waren: Veränderungen der inneren Spannung einer Kultur, des wissenschaftlichen und künstlerischen Taktes, des Tons, der die Musik macht, die schleichenden Veränderungen, welche Sprachregelungen innewohnen, Niveliierungen und Geschmacksverrohungen, die sich nicht sofort und vor allem nicht statistisch erfassen lassen. M a n könnte etwa die M o d e als anschauliches Beispiel nehmen, wenn man ihre Bedeutung im Sinne der S i m m e l - B e n j a m i n s c h e n Definition akzeptiert. In diesem Bereich ist die Spaltung der Kultur besonderes sinnfällig. 3 0 Schon i m m e r hat man geahnt, welch ungeheure Bedeutung der Transfer der aristokratisch verfeinerten Kultur aus Petersburg nach Berlin und Paris für die Entwicklung der Geschmackskultur gehabt hat. Inzwischen liegen dazu auch wissenschaftliche Untersuchungen vor. M a n kann sagen, daß »der Westen« außerordentlich profitiert hat von der »Schönheit in der Diaspora«, während der Verlust an Takt und Form ein Meilenstein bei der Vulgarisierung und Verrohung der sowjetischen Kultur gewesen ist a u f dem W e g von der »herrschaftlichen« zur »Genossenkultur«, von der Kultur gesellschaftlicher Distanz zur Kultur der k o m m u n a l e n Gemeinschaft. D i e Geschichte des Formverlusts, der Erosion der akkumulierten Kulturformen in der Sowjetunion ist bisher noch nicht geschrieben worden, ebensowenig die Geschichte ihres kryptischen Uberlebens. Uberflüssig zu sagen, daß es auch hier wiederum Erscheinungen gibt, die über die Grenze hinweggehen. W e r sähe nicht, daß Lilja B r i k weit eher eine Zeitgenossin jener russischen Schönheiten war, die in den Pariser Modehäusern gelandet sind, als die der sowjetischen Sportathletinnen. O d e r nehmen wir einen Bereich wie den der beginnenden Massen- und Unterhaltungskultur mit den Varietés, Chansons, der Estrade und

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der leichten Muse. Sie hatte im Petersburg der Vera Cholodnaja und anderer Stars gerade begonnen. Sie fand sich wieder in den Bars von Konstantinopel, Berlin, Paris - und später in den Aufnahmestudios von London oder Hollywood. 3 1 Viertens: Die Form der kulturellen Welt änderte sich fundamental von der vielfältigen Boheme der Vorkriegs- und Vorrevolutionszeit zum organisierten, institutionalisierten und später gleichgeschalteten Kollektiv der verdienten Volkskünstler einerseits u n d zur frei schwebenden Intelligenz und Künstlerschaft, die sich jenseits der Grenzen auf dem freien Markt behaupten mußten. Die Verschiedenheit des Betriebs implizierte auch einen unterschiedlichen Typus von Intelligenz oder Künstler. Sie führte auf lange Sicht zu verschiedenen künstlerischen Sprachen und verschiedenen Umgangsformen. Aber auch der umgekehrte Prozeß fand statt, der Aufstieg von Künstlern und Intellektuellen zu staatlich geförderten, hofierten, privilegierten Personen einerseits und die Marginalisierung von Künstlern und Intellektuellen, die ihren alten Status durch die Revolution und den Z u s a m m e n b r u c h der alten Gesellschaft eingebüßt hatten. Die Jahrzehnte nach 1917 sind voll von dramatischen Auf- und Abstiegsgeschichten, von Zusammenbrüchen und Korruptionen. 3 2 Fünftens: Es geht hierbei um etwas, das genau zu bezeichnen außerordentlich schwierig ist, auch deshalb, weil es nie Gegenstand spezieller Untersuchungen geworden ist. Man könnte sagen, es handelt sich um den inneren Tonus, um die Gestimmtheit oder Binnenspannung einer Kultur. Emigration, Exil, Exodus brachten eine Teilung und Spaltung der Kultur mit sich, die tiefer ging als die schärfste politische Lagerbildung in Links u n d Rechts. Es gab aber dennoch etwas in den beiden Segmenten der gespaltenen Kultur, das von der jeweils anderen Seite genau wahrgenommen wurde und das noch vor den Sujets und den inhaltlichen Aussagen liegt, gewissermaßen im Ton. Ich meine, daß die sowjetische Kultur in starkem Maße eine heroische, pathethische und unironische Kultur war, während in der Emigration eine von Niederlagen gezeichnete Subjektivität, eine tiefe Melancholie u n d auch Ironie zu finden ist, ich will nicht sagen: vorherrschte. Auf der einen Seite eine Kultur der Direktheit, des Verzichts auf Vermittlungen und Anspielungen, des Optimismus, des Heroismus, auf der anderem Seite eine der Skepsis, des Zweifels, der Ironie, der Brechung und Gebrochenheit. M a n m ü ß t e dies in materialen vergleichenden Analysen zeigen. Ein Beispiel wäre etwa die Kritik, die die sowjetische Seite an so populären Sängern im Exil wie Aleksander Vertinskij u n d Petr Lescenko geübt hat, welche trotz Verbots im eigenen Lande durch Plattenaufnahmen bekannt und beliebt waren. In den sowjetischen Verdikten gegen die Melancholie, Subjektivität, den Hedonismus u n d die kleinbürgerliche Ironie ihrer Lieder ist bereits das Wesentliche angesprochen. Auch dies hatte natürlich eine Kehrseite: Die Selbststilisie-

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rung der Emigration, ihr Snobismus, ihre Verachtung von Vulgarität und Banalität - »poslost'« war ein Zentralbegriff der kulturellen Differenz von Nabokov - machte sie auch blind für eine subtilere Wahrnehmung der sowjetischen Kultur, die keineswegs so primitiv und vulgär gewesen ist, wie Nabokov und andere Emigranten sie mitunter gezeichnet haben. 3 3 Sechstens: Das eminente Ergebnis der sowjetischen gesellschaftlichen Entwicklung seit den dreißiger Jahren ist nach meinem Dafürhalten das Entstehen einer weitgehend autarken, selbstreferentiellen und nach außen hin abgeschlossenen Kultur, die gleichwohl im Wettbewerb, ja im K a m p f mit dieser Gesellschaft stand. D a es aber keinen wirklichen Austausch mehr gab, koppelte sie sich zusehends ab, während umgekehrt die Kultur in der E m i gration keinen Kontakt mehr halten konnte zu den einheimischen kulturellen Prozessen. Die Folgen waren auf der einen Seite Provinzialisierung, auf der anderen Seite Anschluß an den und Aufgehen im westlichen Kulturbetrieb, in dem nicht »das Russische« und schon gar nicht »das Sowjetische« gefragt waren. Es sind noch eingehende Forschungen nötig, die den Prozeß der Entfremdung innerhalb der einen russischen Kultur nachzeichnen, zumal es immer, auch in den Zeiten des Verstummens und Verschwindens von Kommunikationsmöglichkeiten, irgendwelche Kontakte, wenn auch nur vereinzelt und persönlich, gegeben hat. Hierher gehört auch das Problem der »inneren Emigration«, die in ihrer möglicherweise konstitutiven Bedeutung für die Wahrung einer gewissen kulturellen Identität, für die Aufrechterhaltung des historischen Gedächtnisses und des Kontakts zur Weltkultur noch nicht erforscht ist. 34 Ich vermute, daß der Höhepunkt dieser Entfremdung, ja des Sich-Fremdwerdens und der Verfestigung der politischen Grenze zu einer zivilisatorischen und kulturellen Trennlinie zwischen den ausgehenden dreißiger und den frühen fünfziger Jahren liegt, und daß sie sich ausgeprägt hat in den Köpfen jener »vydvizency«, die in den dreißiger Jahren die ersten Stufen ihrer Karrieren genommen hatten und seit den fünfziger Jahren an die M a c h t kommen sollten, also die Generation Chruschtschows, Kaganovics, Molotovs und anderer. Diese Profiteure der dreißiger Jahre waren zugleich die ausgeprägtesten provinziellen Elemente, die nur wenig Kenntnis hatten von dem, was in der weiten Welt draußen und in der Kultur vor sich ging. Aus diesem Nichtwissen bezog die Sowjetkultur einerseits ihr Selbstbewußtsein, andererseits aber auch ihren Minderwertigkeitskomplex, der freilich erst später manifest werden sollte. Die große Inspiration der fünfziger Jahre war wohl nicht nur das Tauwetter, sondern die erneute Kontaktaufnahme mit der Welt draußen und damit auch zum »Rußland jenseits der Grenzen«. D i e Weltjugendfestspiele 1 9 5 7 können als kulturelle Zäsur größter Ordnung angesehen werden, ebenso die USA-Ausstellung in der Sowjetunion, der Besuch Chruschtschows in Arne-

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rika oder van Cliburns Auszeichnung im Tschaikowsky-Wettbewerb. Die Besuche Strawinskys und anderer in ihrer Heimat in den sechziger Jahren gehören ebenfalls zu dieser Wiederaufnahme der Verbindung. Damit begann die Reintegration. Die Dissidenten-Emigration einerseits und die sogenannte »Restalinisierung« der späten sechziger und frühen siebziger Jahre brachten den Gegensatz am klarsten zum Ausdruck. Aber dies war nicht mehr der Gegensatz von alter Emigrantenkultur und Sowjetkultur, sondern der von der Sowjetkultur selbst hervorgebrachten Konflikte, also von neuen Differenzen. Siebtem: Die Emigrationen, die in Rußland eine Spur des Verlusts hinterlassen haben, waren für die Aufnahmeländer in der Regel Gewinn und Bereicherung. In fast allen Ländern lassen sich bis heute ihre Wirkungen ausmachen. Es ist außerordentlich unbefriedigend, dieses Thema in der Form zu behandeln, die aus verständlichen Gründen lange vorherrschte: enzyklopädisch und patriotisch die Namen jener Exilanten zusammenzustellen, die es zu Weltruhm gebracht haben. 35 Die Fortschritte der Emigrationsforschung in den letzten Jahren haben viel über das dichte wissenschaftlich-kulturelle Netzwerk der Emigration zu Tage gefördert; sie hat sich jedoch noch nicht ganz von den herkömmlichen Tendenzen zum »name dropping« abgekoppelt. Angemessener wäre es, die osmotischen Prozesse der Übermittlung und Weitergabe von kulturellem Wissen, Traditionen, Werten zu rekonstruieren. Dazu gehören verschiedene Aspekte, die von der Akkulturationsforschung der letzten Jahre kaum thematisiert wurden. Ein sehr wichtiger wäre etwa die Abhängigkeit der Apatriden von ihren jeweiligen Aufnahmeländern. Darüber klagt Vladimir Nabokov: »Unsere völlige physische Abhängigkeit von dieser oder jener Nation, die uns kühl politisches Asyl gewährt hatte, wurde schmerzlich offenbar, wenn irgendein erbärmliches >VisumPersonalausweis< beantragt oder verlängert werden mußte, denn dann versuchte die bürokratische Hölle sich um den Bittsteller zu schließen, und er mochte alt und grau werden, während seine Akte in den Schreibtischen von Konsuln und Polizeibeamten mit Rattenbärten praller und praller anschwoll. Dokumenty, hat man gesagt, seien die Plazenta des Russen. Der Völkerbund rüstete Emigranten, die ihre russische Staatsangehörigkeit verloren hatten, mit dem sogenannten Nansenpaß aus, einem höchst minderwertigen Dokument von kränklicher grüner Farbe.« 36 Dazu gehört ferner, daß die Emigranten-Communities Bestandteil der jeweiligen Metropolen-Kultur geworden sind, zu einer Facette im Selbstbild der europäischen Metropolen, die zum Teil bis heute fortwirkt. Erwähnt seien beispielsweise die »russischen Anteile« an der künstlerischen Boheme in Paris, die persönlichen Beziehungen, die die Leitfiguren der Pariser Avantgarde wie Aragon, Picasso, André Breton zur russischen Szene hatten. Vieles, was man in Paris studieren kann, trifft aber auch auf Istanbul, Shanghai

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und Berlin zu. D i e russischen G e m e i n d e n sind Teil der Stadtkultur und Stadtgeschichte geworden. 3 7 Jedes Z e n t r u m der Diaspora hatte sein eigenes Gesicht: Sofia und Belgrad waren Städte der weißen Armee, Prag das »russische Oxford«, Paris die Stadt, von der viele, die als Flüchtlinge g e k o m m e n waren, unter anderen Umständen als dem O r t des Ruhestandes geträumt hatten, aber auch das industrielle Z e n t r u m , das Arbeitskräfte suchte. In Kopenhagen und in L o n d o n wurden die aristokratischen Familienbande der Vorkriegszeit stärker gepflegt als anderswo; in Riga und Reval war man fast »zuhause«, und man fuhr dorthin, wann i m m e r es möglich war, weil es dort Birken gab. Alle diese Flüchtlinge standen untereinander in Verbindung, denn trotz der unterschiedlichen Lage der verschiedenen Gastländer teilten sie eine gemeinsame Eigenschaft: sie waren Staatenlose. D i e russische Diaspora war nicht nur die Folge der russischen Revolution, sondern selbst Teil und Ferment einer Welt im U m b r u c h . In m a n c h e n Staaten wurden ihre Vertreter als die Angehörigen der alten Staats- und Herrennation angesehen, denen nun mit gleicher M ü n z e heimgezahlt werden sollte: mit sprachlicher und kultureller Überheblichkeit und bewußter Diskriminierung; in wiederum anderen Staaten wurden sie — in grober U n k e n n t nis der D i n g e - als »bolschewistische Agenten« verdächtigt und für die sozialen U n r u h e n verantwortlich gemacht. In fast allen Gastländern waren sie »Fremde«, die den eigenen Leuten Arbeit, W o h n u n g , Mittel der sozialen Fürsorge oder sogar den Schulplatz wegnahmen. Kurzum, sie waren in die inneren Widersprüche und Spannungen ihrer Aufnahmeländer weitaus m e h r involviert, als ihnen lieb sein konnte. D i e kulturelle W i r k u n g der russischen Emigration ist o h n e das eindrucksvolle Verlags- und Zeitungswesen, o h n e die »Gutenberg-Galaxis« (Marc R a e f f ) gar nicht denkbar, ja zu den imposantesten Leistungen der russischen Diaspora gehörte der Aufbau eines Verlagswesens. 3 8 Es war der materielle R a h m e n , in dem sich die Emigration verständigt, definiert, entwickelt hat. D i e Zeitungen waren es, die jener exterritorialen Gemeinschaft, die o h n e staatliche Infrastruktur auskommen mußte, ihren Zusammenhalt verschafften. Sie taten dies durch Analyse der Lage »daheim« und »jenseits der G r e n zen«, durch eine C h r o n i k des Emigrantenlebens, Veranstaltungskalender, Suchmeldungen, Emigrantenklatsch, Karikaturen und D e b a t t e n , die weltweit geführt wurden, von Paris bis Charbin. Alle intellektuellen und politischen Strömungen der Emigration schufen sich ihr eigenes O r g a n . 3 9 Innerhalb des Presse- und Zeitungswesens der russischen Emigration spielten aus vielerlei Gründen wiederum jüdische Verleger eine herausragende Rolle. 4 0 Die Diaspora-Gemeinden waren ferner Teil der europäischen und transatlantischen Kultur und Wissenschaftswelt geworden. 4 1 Für viele Bereiche ist dies inzwischen in zahlreichen Monographien dargestellt worden, für die Philosophie zu Kojeve, Berdjaev, Schestov, Frank, für die Mode, die Geschichts-

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Wissenschaften, die Ingenieur- und Naturwissenschaften, das Ballett, Bühnenbild u n d für den Bereich der Musik. 4 2 Uber die Rolle der politischen Parteien der Emigration innerhalb des europäischen und internationalen Spektrums politischer Parteien liegen inzwischen ebenfalls mehrere Untersuchungen vor. 4 3

IV W a s bedeutete die Spaltung der russischen Kultur und was geschieht jetzt, da sie zu Ende g e k o m m e n ist? Es gibt auch im nachhinein keinen Grund, der Geschichte, die sich ereignet hat, einen höheren Sinn zu geben, um wenigstens etwas vom katastrophischen 20. J a h r h u n d e r t zu retten. Die russische Revolution und die russische Emigration waren mit so entsetzlichen Kosten verbunden, daß es schwer fällt, eine Bilanz zu ziehen. Der W e g g a n g , die Vertreibung, die Zwangsexilierung fähiger Köpfe ist für jede Kultur ein unersetzlicher Verlust. Im einzelnen impliziert er eine Vera r m u n g , eine Reduktion von Komplexität, einen Verlust an kultureller Differenz u n d Reichtum, eine Verrohung und Brutalisierung von schon einmal erreichten Komplexitätsniveaus, entfalteten Strukturen und Potentialen. Die Emigration gehört eindeutig zu den großen Verlusten. Schwerer sind die indirekten Folgen zu messen, von denen sich das Land erst in dem M a ß e erholen wird, wie es in den Kreis einer halbwegs »normalen« Entwicklung eintritt. Normalität für R u ß l a n d wird das Kapitel der Emigration abschließen und hoffentlich zu einem T h e m a von nur noch historischem Interesse machen. Es gibt zuweilen auch ein Ende, über das man nicht traurig sein muß. Die heroische Zeit der Emigranten ist vorbei, und die Konfliktlinien werden nun vermutlich so verlaufen wie anderswo auch, zwischen Massenkultur u n d »Hochkultur«, zwischen internationalen Standards und einer Kultur, die dabei nicht mithalten kann. Ob »das Russische« in der Weltkultur reüssiert, hängt ganz davon ab, ob russische Künstler einen spezifischen Beitrag zur »Weltkultur« leisten werden - wie es in einer sehr bedeutenden, ja prägenden Weise im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen ist.

1 Der Forschungsstand spiegelt das wider; es geht fast nur um die erste Welle. Vgl. Leonid K. Skarenkov: Agonija beloj émigracii. Moskva 1981 ; Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919-1939. New York 1990; Vjaceslav Kostikov; Ne budem proklinat' izgnan'e... Puti i sud'by russkoj émigraciì. Moskva 1990; V. Belov: Beloe pochmei'e. Russkaja émigracija na rasput'e. Opyt issledovanija psichologii, nastroenij i bytovych uslovij rus-

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skoj émigracii v nase vremja. Moskva - Petrograd 1923; Karl Schlögel (Hg.): Der Große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941. München 1994; Michail Nazarov: Missija russkoj émigracii. torn I. Stavropol 1992; Bibliographie zum T h e m a vgl. Karl Schlögel (Hg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Berlin 1995, S. 485 - 504; Spravocnik iputevoditeipo Evrope. Red. S. N. Pilenko. Paris 1927. — 2 Zur Lage der Archive für die Emigrationsforschung vgl. Tatjana F. Pavlova: »Russkij zagranicnyj istoriceskij archiv v Prag«. In: Voprosy istorii 1990/11, S. 1 9 - 3 0 ; A. V. Popov: Russkoe Zarubez'e iarchivy. Dokumenty Rossijskoj émigracii v archivach Moskvy: problemy vyjavlenija, komplektovanija, opisanija, ispol'zovanija. Moskva 1998; Svodnyj katalogperiodiceskich iprodoliajuscichsja izdanij russkogo zarubez'ja v bibliotekach Moskvy (1917-1996gg.). Moskva 1999; Problemy zarubeznoj archivnoj rossiki. Sbornik statej. Moskva 1997; Russkoe zarubez'e 1917—1991. Katalog. Rossijskij mezdunarodnij fond kul'tury Dom, Mariny Cvetaevoj. Moskva 1992. — 3 Die Arbeit, die auf den Gesamtzusammenhang abzielt, verspricht mehr als sie hält: die russische Emigration kommt darin kaum vor; vgl. Michael Marrus: The Unwanted: European Refugees in the Twentieth Century. New York 1985. Avantgardistisch mutet immer noch an: Eugene M . Kulischer: Europe on the Move. War and Population Changes 1917-1947. New York 1948. Vorerst sind die Memoiren und Autobiographien die wichtigsten Zeugnisse, in denen die verschiedenen Stufen sichtbar werden: Roman Guh: Ja unes Rossiju. t. I: Rossija v Germanii. New York 1981 ; Nina Berberova: Ich komme aus St. Petersburg. Reinbek 1992; Vladimir Nabokov: Sprich, Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Reinbek 1984; losif Gessen: Gody izgnanija. Ziznennyj otcet. Paris 1979; Vladimir Gessen: B bor'be za zizn, Zapiski émigranta. New York 1974. — 4 Vgl. Russkaja emigracija do 1917goda — laboratorija liberal'noj i revoljucionnoj mysli. St. Petersburg 1997; Franco Venturi: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth-Century Russia. New York 1966. Zur Schweiz als klassisches Asylland vgl. Monika Bankowski/Peter Brang/Carsten Goehrke/Werner G. Z i m m e r m a n n : Asyl und Aufenthalt. Die Schweiz als Zuflucht und Wirkungsstätte von Slaven im 19. und 20. Jahrhundert. Basel - Frankfurt/M. 1994. Vgl. auch die umfangreiche Literatur zum »Silbernen Zeitalter« und dessen Repräsentanten. — 5 Hans von Rimscha: Der russische Bürgerkrieg und die russische Emigration 1917— 1921. Jena 1924; Ders.: Rußlandjenseits der Grenzen. Jena 1927; H.-E. Volkmann: Die Russische Emigration in Deutschland 1919—1929. Wiirzburg 1966; Essad Bey: Das weiße Rußland. Menschen ohne Heimat. Berlin 1932. — 6 Richard Luckett: The White Generals. An Account of the White Movement and the Russian Civil War. London - New York 1971. Vgl. auch Aleksandr Usakov: Istorija grazdanskoj vojny v issledovatel'skoj i memuarnoj literature russkogo zarubez'ja 1920—30chgg. Aftoreferat dissertacii. Jaroslavl' 1992; Rossijskaja émigracija v Turcii, Jugo-Vostocnoj i Central'noj Evrope 20-ch godov (grazdanskie bezency, armija, ucebnye zavedenija. Moskva 1994. — 7 Vgl. hierzu die Beiträge zu den verschiedenen Metropolen der Diaspora in Karl Schlögel: Der Große Exodus (s. Anm. 1). — 8 Olga Bakich: »Charbin: >Rußland jenseits der Grenzen< in Fernost«. In: Karl Schlögel; Der Große Exodus (s. Anm. 1), S. 3 0 4 - 3 2 8 ; Russkij Charbin. Moskva 1998. — 9 Zur Geschichte der Zeitungen und der Wechselbeziehungen vgl. Lazar Flejshman/Jurij Abyzov/ Boris Ravdin: Russkajapecat' v Rige: Iz istoriigazety >Segodnja< 1930-chgodov. 5 Bde. Stanford 1997; Claudia Weiss: Die russische Emigrantenpresse im Frankreich der 1920er Jahre und ihre Bedeutung für die Genese der »Zarubeznaja Rossija«. Dissertation Hamburg 1999; über die Berliner Zeitungen RuT, Novoe Slow, Nas vek, Dnivgl. die Beiträge von Mark R. Hatlie, Vladislav Moulis, Amory Burchard, Christian Hufen in Karl Schlögel: Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941 (s. Anm. 1); zur Situation in Estland vgl. Olga Figurnova (Söst.): Russkaja pecat' v Estonii 1918-1940. Bio-bibliograficeskie i spravocnye materialy k izuceniju kul'turnoj zizni russkoj émigracii. Moskva 1998. — 10 Vladimir Nabokov: Die Gabe. Gesammelte Werke. Bd. V. Reinbek 1993, S. 601. — 11 Wipert von Blücher: Deutschlands Weg nach Rapallo. Erinnerungen eines Mannes aus dem zweiten Glied. Wiesbaden 1951, S. 53, 15. — 12 Zu Charbin vgl. Anm. 8 sowie John J. Stephan: The Russian Fascists. Tragedy and Farce in Exile 1925-1945. New York 1978. — 13 Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre, Leben. Autobiographie. München 1962; Robert C. Williams: Culture in Exile. Russian Emigrés in Germany 1881-1941. Ithaca - London 1972; Fritz Mierau: Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Thea-

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ter, Film. Leipzig 1987; L. Flejshman/R. H u g h e s / O . Raevskaja-Hughes: Russkij Berlin 1921-1923. Paris 1983; Karl Schlögel: Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941 (s. Anm. 1); ders.: Berlin Ost bahnhofEuropas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin 1998; Karl Schlögel/Katharina Kucher/Bernhard Suchy/ Gregor T h u m : Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918—1941. Berlin 1999; Amory Burchard: Russisches literarisches Leben in Berlin 1918—1945. Literarische Institutionen im Exil. Dissertation Freie Universität Berlin 1998; zu München: Johannes Baur: Die russische Kolonie in München 1900—1945. Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1998. Uberaus reichhaltig zur sowjet-russischen Präsenz: Deutschland — Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit. Berlin 1966; Berliner Begegnungen. Ausländische Künstler in Berlin 1918 bis 1933. Berlin 1987; Günter Rosenfeld: Sowjetrußland und Deutschland, 1917-1922. Berlin 1960; Ders.: Sowjetunion und Deutschland, 1922-1933. Berlin 1984; Irina Antonowa/Jörn Merkert (Hg.): Berlin - Moskau. Ausstellungskatalog. München - New York 1995. — 14 Robert H. Johnston: New Mecca, New Babylon — Paris and the Russian Exiles 1920-1945. Montreal 1988; Claudia Weiss: Die russische Emigrantenpresse im Frankreich der 1920er Jahre und ihre Bedeutung für die Genese der »Zarubeznaja Rossija« (s. Anm. 9). — 15 Thomas R. Beyer Jr.: »New York: Russen in der Neuen Welt«. In: Karl Schlögel: Der Große Exodus (s. Anm. 1), S. 3 4 6 - 3 7 2 . Weiterführende Literatur betrifft hier also eher Leben und Werk von amerikanischen Staatsbürgern russischer oder sowjetischer Herkunft. — 16 Nicolas Bethell: Das letzte Geheimnis. Frankfurt/M. u.a. 1974; V. V. Komin: Belaja tmigracija i vtoraja mirovaja vojna, Ucebnoe posobie. Kalinin 1979; Günter Gorski: Die antisowjetische Emigration — Werkzeug und Handlanger der internationalen Monopolbourgeoisie. Dissertation Halle 1987. Da es bisher keine Untersuchung zu Ostarbeitern in Berlin gibt, vgl. die Angaben bei Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Bonn 1985; Pavel Poljan: ¿ertvy dvuch diktatur. Ostarbajtery i voennoplennye v tret'em rejche i ich repatriacija. Moskva 1996; aus persönlicher Perspektive in dem Roman von Jurij A. Treguboff: Berlin. Berlin - Frankfurt/M. 1973; über das Uberleben russischer Enklaven in Berlin-Buch vgl. Nikolaj VI. Timofeev-Resovskij: Ocerki. Vospominanija. Materialy. Moskva 1993; B. Prjanisnikov: Novopokolency. Silver Spring 1968, S. 80 ff. — 17 Die Bedeutung sowjetischer Flüchtlinge und Emigranten für die Herausbildung des Bildes von der Sowjetunion und vom Ostblock in der Zeit des Kalten Krieges ist gewiß sehr groß. Wie sehr sie auf einzelne Fächer wie Politische Wissenschaften, Geschichte, Kultur- und Literaturwissenschaften abgefärbt hat — »Sowjetologie« —, wird Gegenstand weitläufiger Forschung zur Nachkriegszeit werden. — 18 L. Alekseeva: Istorija inakomyslija v SSSR. Novejsij period. Benson /Vermont 1984; Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993, dort auch Bibliographie; Dietrich Beyrau / Wolfgang Eichwede (Hg.): Auf der Suche nach Autonomie. Kultur und Gesellschaft in Osteuropa. Bremen 1987; J. L. Curry (Hg.): Dissent in Eastern Europe. New York 1983; Edward Ambrose Corcoran: Dissension in the Soviet Union. The Group Basis and Dynamics of Internal Opposition. Ph. D. Columbia University, New York 1977; The political, social and religious thought of Russian »Samizdat«. An anthology. Belmont/Mass. 1977; J. P. Dunlop: The New Russian Revolutionaries. Belmont/Mass. 1976; R. L. Tökes (Hg.): Dissent in the USSR. Politics, Ideology and People. Baltimore 1976; Andrej Amalrik: Aufzeichnungen eines Revolutionärs. Berlin 1983; Borys Lewytzkyj: Politische Opposition in der Sowjetunion 1960—1972. Analyse und Dokumentation. München 1973; S. P. de B o e r / E . J . Driessen/H. L. Verhaar (Hg.): Biographical Dictionary of Dissidents in the Soviet Union, 1956-1975. The Hague - Boston - London 1982. — 19 D. Bland-Spitz: Die Lage der Juden und jüdischen Opposition in der Sowjetunion 1967-1977. Diessenhofen 1980; vgl. den entsprechenden Abschnitt in: Nora Levin: The Jews in the Soviet Union since 1917. Paradox of Survival. Vol. II. New York 1988, S. 691 ff. — 2 0 Seit Ende der 1980er Jahre haben zahlreiche, zum Teil außerordentlich große Kongresse und Symposien über die Emigration stattgefunden, auf denen es nicht nur um die wissenschaftliche Erforschung ging, sondern um Rückführung von Archiven, Gründung von Museen und dergleichen. Eine große Rolle spielten dabei die Zeitschrift Nase nasledie und einzelne Abteilungen und Persönlichkeiten der Rus-

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sischen Akademie der Wissenschaften. — 21 Der alte Typus des Revolutionärs ist verschiedentlich beschrieben worden, vgl. dazu D. Brower: Training the Nihilists. Education and Radicalism in Tsarist Russia. Ithaca/Col. 1985. In einem unübertroffenen Diagnose- und Selbstbeschreibungsversuch von 1909: Vechi. Wegzeichen. Essays zur Krise der russischen Intelligenz. Hg. und übers, von Karl Schlögel. Frankfurt/M. 1990. — 22 P. N. Miljukov: Emigracija na pereput'e. Paris 1926; aus der Perspektive der in Rußland gebliebenen: A. V. Pesechonov: Pocemu ja ne emigriroval?. Berlin 1923. — 23 Dieser Aspekt ist in der Studie von literatuMarc Raeff (s. Anm. 1) vorzüglich herausgearbeitet, auch bei: Gleb Struve: Russkaja ra v izgnanii. New York 1956. Die Existenz und Physiognomie dieser zweiten, weniger bekannten Generation, ist in den Memoiren ihrer Angehörigen behandelt, vgl. Vladimir S. Varsavskij: Nezamecennoe pokoloenie. New York 1956. — 2 4 Vgl. Bettina Dodenhoeft: »Laßt mich nach Rußland heim...«. Russische Emigranten in Deutschland von 1918 bis 1945. Frankfurt/M. - Berlin - Bern 1993; Rafail S. Ganelin: »Das Leben des Gregor SchwartzBostunitsch«. Teil 1; Michael Hagemeister: »Das Leben des Gregor Schwartz-Bostunitsch«. Teil 2. In: Karl Schlögel: Die russische Emigration in Deutschland 1918-1941 (s. Anm. 1), S. 201 - 2 0 8 , S. 2 0 9 - 2 1 9 ; Leonid K. Skarenkov: »Eine Chronik der russischen Emigration in Deutschland. Die Materialien des Generals Aleksej von Lampe«. In: ebd., S. 3 9 - 7 6 ; Bettina Dodenhoeft: »Vasilij von Biskupskij. Eine Emigrantenkarriere in Deutschland«. In: ebd., S. 219 —228; V.V. Komin: Belaja émigracija i vtoraja mirovaja vojna. Kalinin 1979. — 25 Uber diesen »exterritorialen Ort« informiert am besten: L. Flejshman/R. Hughes/O. Raevskaja-Hughes: Russkij Berlin 1921-1923 (s. Anm. 13); Fritz Mierau (Flg.): Russen in Berlin 1918-1933. Eine kulturelle Begegnung. Weinheim - Berlin 1988. — 26 M. G. Vandalkovskaja/P. N. Miljukov/A. A. Kizevetter: Istorija i politika. Moskva 1992; Anatolij Makarov/Aleksandr Vertinskij: Portret na fone vremeni. Moskva 1998; über das Schicksal der Prager Emigranten vgl. S. P. Postnikov: Politika, ideologija, byt i ucennye trudy russkoj émigracii (1918-1945). Iz kataloge biblioteki R. Z. I. Archiva v Prag, red. Sergej G. Blynov. t. 1 , 2 . New York 1993; Nicolas Bethell: Das letzte Geheimnis. Frankfurt/M. u.a. 1974; Nikolai Tolstoy: Die Verratenen von Jaita. Frankfurt/M. 1987. — 27 Michail Agurskij: Ideologija nacionalbol 'sevizma. Paris 1980; Otto Boss: Die Lehre der Eurasier. Wiesbaden 1961; Leonid Luks: Geschich»Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang«. In: Jahrbuchjiir te Ost-Europas 34 (1986), S. 3 7 4 - 3 9 5 ; Hilde Hardeman: Coming to Terms with the Soviet Regime. The »ChangingSignposts« Movement among Russian Emigrésin the Early 1920s. DeKalb 1994. — 28 Zu den Spektralfarben der Emigration, ihrer Dissidenz und ihren Zeitungen vgl. die in Anmerkung 18 angegebenen Arbeiten von Tökes, Beyrau und Dunlop. — 29 Zur Rolle der Kirche bei der Konservierung vgl. Georg Seide: Die russisch-orthodoxe Kirche im Ausland von der Gründung bis in die Gegenwart. Wiesbaden 1983. — 30 Eine Pionierarbeit hierzu liegt endlich vor von Aleksandr Vasil'ev: Krasota v izgnanii. Tvorcestvo russkich émigrantov pervoj volny: iskusstvo i moda. Moskva 1998. — 31 Aleksandr N. Vertinskij: Dorogoj dlinnoju... Moskva 1990; Ders.: Romansy ipesni. Moskva 1991; M. Iof'ev: Profili iskusstva. Moskva 1965; K. Rudnickij/Aleksandr Vertinskij: Estrada bezparada. Moskva 1991; B. Savcenko: Kumiry zabytoj éstrady. Moskva 1991; V. Gridin/A. Galjas: »Vozvrascenie Lescenko«. In: Muzykal'naja zizn' 1989, No. 18. Über Russen in den Filmstudios vgl. Oksana Bulgakova: »Russische Film-Emigration in Deutschland: Schicksale und Filme«. In: Karl Schlögel: Die russische Emigration in Deutschland(s. Anm. 1), S. 3 7 9 - 3 9 8 . — 32 Vgl. Karl Eimermacher (Hg.): Dokumente zur sowjetischen Literaturpolitik 1917-1932. Stuttgart 1972; Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. München 1998, S. 539 ff.; Juri Jelagin: Taming of the Arts. New York 1951; Sheila Fitzpatrick: Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921-1934. Cambridge - New York 1979. — 33 In der eindrucksvollen Biographie von Brian Boyd: Vladimir Nabokov. The Russian Years. Princeton 1990, kommt dieser beschränkte Zug in der Nabokovschen Polemik gegen die sowjetrussische Literatur nicht vor. — 34 Als Beispiel Witali Schentalinski: Das auferstanelene Wort. Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen. Aus den Archiven sowjetischer Geheimdienste. Bergisch-Gladbach 1996. — 35 Das ist das Verfahren der verdienstvollen Arbeit von P. Kovalevskij (Kovalevsky): Na'si dostizenija. Rol' russkoj émigracii v mirovoj nau-

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ke. München 1960; umfangreicher und vollständiger sind: Russkoe zarubez'e. Zolotaja kniga émigracii. Pervaja tret' XX veka. Encikbpediceskij biograficeskij slovar'. Moskva 1997, sowie Pisateli russkogo zarubezja. Litemturnaja enciklopedija russkogo zarubezja 1918-1940. Moskva 1997. — 36 Vladimir Nabokov: Sprich. Erinnerung{s. Anm. 3), S. 280. — 37 Es gibt meistens diese Archäologie der eigenen Städte noch nicht. Sie beginnt jetzt, häufig stimuliert durch das Heranwachsen neuer russischer Gemeinden. So in Istanbul, Berlin, Tallinn, Riga; es entstehen Topographien. Vgl. Russkij Charbin (s. Anm. 8); Jak Deleon: The White Russians in Istanbul. Cagaloglu - Istanbul 1995; O. A. Kaznina: Russkie v Anglii. Russkaja émigracija v kontekste russko-anglijskich literaturnych svjazej vpervojpolovine XX veka. Moskva 1997. — 38 Vgl. dazu den Abschnitt bei Marc Raeff: Russia abroad (s. Anm. 1). Eindrucksvoll, wenn auch unvollständig, ist die Übersicht über das russische Zeitungswesen in: S. P. Postnikov: Politika, ideologija, byti ucenye trudy russkojémigracii 1918—1945. Bibliografija iz kataloga i biblioteki R. Z. I. Archiva. 2 toma. New York 1993; Vojcech Zalevskij / Evgenij Gollerbach: Rasprostranenie russkoj pecati v mire 1918-1939 gg. Spravocnik. St. Petersburg 1998. — 39 Uber Zeitungen weltweit Zalevskij/Gollerbach, ebd. — 40 »Kniznoe delo i Periodika«. In: Evrei v kul'ture russkogo zarubezja. Sbornik statej, publikacij, memuarov i esse, vyp. 1, 1919-1939gg. Söst. Michail Parchomovskij. lerusalim 1992, S. 1 2 9 - 2 2 8 ; über den russischen Verlagsort Berlin zuetzt eindrucksvoll Gottfried Kratz: »Russische Verlage und Druckereien in Berlin«. In: Karl Schlögel u.a.: Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941 (s. Anm. 13), S. 501 - 5 7 0 . — 41 Hinweise in: P. Kovalevskij (Kovalevsky): Nasi dostizenija. Rol'russkoj émigracii v mirovoj nauke(s. Anm. 35); umfangreicher und vollständiger sind: Russkoe zarubez'e. Zolotaja kniga émigracii. Pervaja tret XX veka. Enciklopediceskij biograficeskij slovar' (s. Anm. 35), sowie: I'isateli russkogo zarubez'ja. Literaturnaja enciklopedija russkogo zarubezja 1918-1940. Moskva 1997. Die beste Ubersicht nach wie vor bei P. Kovalevsky: La Dispersion Russe à travers le Monde et son Role Culturel. Paris 1951 ; D. J. Severjuchin/O. L. Lejkind: Chudozniki russkoj émigracii (1917—194!). Biograficeskij slovar. St. Petersburg 1994. — 4 2 Zu den Historikern vgl. Istoriceskaja nauka rossijskoj émigracii 20—30-chgg. XX veka (Chronika). Moskva 1998; V. Pasuto: Russkie istoriki-émigranty v Evrope. Moskva 1992. Zur Geschichte des Russischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin vgl. Gabriele Camphausen: »Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung in Deutschland 1 8 9 2 - 1 9 3 3 « . In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte. Bd. 42. Wiesbaden 1989, S. 5 6 - 6 0 ; Gerd Voigt: Otto Hoetzsch ¡876—1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers. Berlin 1978. Zu den Schriftstellern und Literaten vgl. Gleb Struve: Russkaja literatura v izgnanii. New York 1956; zum Theater: Russkaja scena v Estonii. Tallinn 1998. Über den Werdegang der Militärs der Freiwilligenarmeen vgl. Russkaja voennaja émigracija 20-ch-40-chgodov. tom 1, II. Moskva 1998; über den Beitrag der Emigration zur europäischen Kunst und Literatur handelten an zentraler Stelle auch die beiden großen Ausstellungen »Paris - Moskau« und »Berlin — Moskau« und die dazu erschienenen Kataloge, hg. von Irina Antonowa/Jörn Markert, München - New York 1995. — 43 Walter Laqueur: Deutschland und Rußland. Berlin 1965; über die Berührung der russischen und deutschen Rechtsextremisten vgl. Rafail S. Ganelin: »Beloe dvizenie i >Protokoly zionskich mudrecovals ob< er es noch habe, >als ob< er morgen zurückkehren könne, als >ob er< nach wie vor ein geschlossenes Volk sei, das nur zur Strafe für unbestimmte Zeit habe in die Galut gehen müssen.« 2 0

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D i e Frage nach dem Erbe der Väter in einer säkularisierten Welt grundierte schon Kafkas Geschichten und stellte die Problematik einer Galutmetaphysik heraus, die den jüngeren Generationen im Westen nicht mehr zu vermitteln war. An Kafkas Prosa entzündete sich die Diskussion zwischen G e r shom Scholem und dem 1 9 3 3 emigrierten Geschichtsphilosophen Walter B e n j a m i n über den jüdisch-messianischen G r u n d t o n eines Exils, aus dem einen revolutionären Funken zu schlagen das Ziel von B e n j a m i n s melancholischen Grübeleien über das Exil des Kunstwerks in der M o d e r n e war 2 1 , während S c h o l e m in seinen abgründigen Forschungen die enge Verbindung von Messianismus und Kabbalah hervorhob. 2 2 D i e Vertreibung der Juden 1 4 9 2 aus Spanien - ein Vorgang mit apokalyptischen Zügen, unter anderem auch, weil in der Kabbalah dieses Jahr als »Erlösungsjahr« vorausgedeutet worden war - besaß in Scholems Sicht großen Einfluß a u f die Kabbalah Isaac Lurias ( 1 5 3 4 — 1 5 7 2 ) , die der Religionshistoriker als »eine mystische D e u tung des Exils und der Erlösung, ja wenn man will einen großen Mythos des Exils« verstand. 2 3 Von hier ergab sich für S c h o l e m ein folgerichtiger W e g zur Bewegung des Pseudomessias Sabbatai Zwi, dessen Auftritt und seinen Folgen Scholems Hauptinteresse in den vierziger Jahren galt. O h n e Zweifel stellte für den von der Realität des Zionismus in Palästina eher Enttäuschten die Geschichte der Galutmetaphysik und ihre messianische Reaktion im K o n text einer katastrophalen historischen Exilerfahrung eine Parallele zum eigenen zeitgenössischen Kontext dar. D i e Katastrophe der Vertreibung im Anbruch der europäischen Neuzeit fand einen jeden postulierten Humanismus annihilierenden Spiegel am E n d e einer Moderne, die sich mit der Vertreibung des J u d e n t u m s aus Deutschland zu beispiellosem Terror steigern sollte. W i e eine Vorahnung n i m m t sich unter den unserem T h e m a gewidmeten Texten die kleine Arbeit aus, die Jizchak Fritz Baer, ein bereits nach Palästina ausgewanderter Historiker aus Deutschland, 1 9 3 6 in der Bücherei des Schocken Verlags zur Geschichte der Galut veröffentlichte. A u f gemeinsamer Linie eines geistigen und spirituellen Zionismus mit S c h o l e m und auch Martin Buber läßt Baer in kaum verklausulierter Form durch seine historische Darstellung der Galut in Antike und Mittelalter die bitteren Erfahrungen der Verfolgungen, die sich wenig später zu den Novemberpogromen 1 9 3 8 steigern sollten, aus der Sicht des nach Palästina Geflüchteten durchscheinen. M i t aktuell genährter Verbitterung listet der Historiker das schiefe Verhältnis der Galut zur christlichen U m g e b u n g auf, in dem die Juden meist nur Geduldete, oft aber Beraubte und O p f e r waren. Vor der Vernichtung der Juden habe das C h r i s t e n t u m im Mittelalter nur zurückgescheut, da es von den Juden »bewußtermaßen das Beste seiner eigenen Lehre und Sendung ü b e r n o m m e n « habe. 2 4 Statt dessen habe es die Zerstreuung und das Elend der Juden umgedeutet zum Zeugnis für die Wahrheit der eigenen Religion. Das europäische C h r i s t e n t u m über-

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nahm, so Baer, viele seiner Denkkategorien und Vorstellungskomplexe von der jüdischen Tradition, wie die der civitas dei, die der jüdischen Galut entsprach, aber »die wahre Galut des jüdischen Volkes (...) ihres heilgeschichtlichen Sinnes beraubt und für alle Zeiten dem Gespött der Menge (preisgibt).«25 Auf der sozialen Ebene führten die christlichen Herrscher ein »stoßweises System von Zwangsbekehrungen und Vertreibungen der Juden (ein), das durch künstlich angezettelte Pogrome unterstützt wurde.« 26 Baers Erwähnung der mittelalterlichen Bußpoesien (Sselichot), in denen die Erinnerung an die Pogrome aufbewahrt wurde, verweist auf die Latenz ihrer modernen Varianten hin. In enger Verbindung mit der Katastrophe der europäischen Vertreibungen im Spätmittelalter und ihrem Höhepunkt in Spanien, wo bereits mit der Marranenfrage rassistische Motive im Antijudaismus auftauchen, sieht auch Baer die messianischen Impulse, die »nur denkbar (waren) auf dem Boden einer messianisch-katastrophal eingestellten Galutauffassung.« 27 Das Scheitern der messianischen Massenbewegung und später die Aufklärung ließen jene Differenz im Judentum auftreten, die bis in die Gegenwart die Mißverständnisse über die eigene Geschichte und die Rolle der Galut fortsetzten. Für Baer sind alle modernen Urteile über die Galut »unhistorisch, verwechseln Ursache und Wirkung, projizieren das Bild des neunzehnten Jahrhunderts in die Vergangenheit.«28 Die moderne Galutdeutung erkenne nicht mehr die ungeheure Tragik des Zustandes und die große religiöse Macht der früheren Ideen. Die »Galut ist zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Sie ist und bleibt, was sie immer war: politische Knechtschaft, die restlos aufgehoben werden muß.« Wie im 16. Jahrhundert Rabbi Jehuda Liwa ben Bezalel aus Prag den Messianismus aus der Störung der natürlichen Ordnung der Nationen durch die Galut gedeutet hatte, forderte Baer am Ende seines eindringlichen Textes dazu auf, »dem alten Glauben einen neuen Sinn zu geben.« Für Baer lag er in einer Haltung, die das alte Bewußtsein der eigenen Besonderheit als Bestandteil der religiösen Physiognomie des Judentums profiliert. Die Forderung nach Aufhebung der Galut als jüdische Erneuerung »kehrt zurück zu dem uralten jüdischen Nationalbewußtsein, das vor aller europäischen Geschichte da war und ohne dessen geheiligtes, geschichtsgesättigtes Vorbild kein nationaler Gedanke in Europa vorstellbar ist. (...) Die Frage ist, wie wir selber zu einem Gedanken stehen, dessen Grundpfeiler mehr als zweitausend Jahre unverrückt gestanden haben. Vielleicht trifft für uns doch die letzte Konsequenz des modernen kausalgeschichtlichen Denkens mit dem letzten Schluß der alten jüdischen Geschichtsauffassung zusammen, die uns ja nicht aus fremden Traditionen überkommen, sondern aus unserem eigenen ganzen Wesen gewachsen ist: > Unsere Augen haben es gesehen und kein Fremder; unsere Ohren haben es gehört und kein anderen.« Baer schloß seine Geschichtsdeutung mit der Ahnung der in Europa

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absehbaren Ereignisse, u m sie in das historisch-theologische Grundmuster einzuordnen. D e n n im Anschluß an das vorige Zitat fährt er abschließend fort: » W e n n wir heute, als sei die Geschichte das unablässige Abrollen eines in der Bibel angekündigten Prozesses, an verstaubten chronistischen Tabellen jedes neue Verhängnis des morgigen Tages abzulesen imstande sind, so soll daraus ein jeder Jude an jedem Orte der Diaspora erkennen, daß es eine M a c h t gibt, die das jüdische Volk über allen kausalgeschichtlichen Zusamm e n h a n g erhebt.« 2 9 »Das Verhängnis des morgigen Tages« war die Fortsetzung des 1933 begonnenen Terrors in Deutschland, 1938 das Novemberpogrom, während des Krieges dann die jeden Begriff von Pogromen überschreitende S u m m e der Massaker in Osteuropa (Babi Jar, Jassy, W i l n a u. a.) und die Vernichtungsmaschinerie der Todeslager u n d Sonderkommandos. Konnten die vorgestellten Autoren die Vertreibung aus Deutschland noch mit dem universalen R a u m der Galut in Einklang bringen und sachlich von der Prozedur der Auswanderung sprechen, um erst Worte der Klage in der Beschreibung der schon lange andauernden Galut zu finden, so wurde mit d e m Krieg und der Shoa aus der Galut ein ungewisses Niemandsland. Es fand seine literarische Darstellung in einem unbekannt gebliebenen Roman von Renée Brand. 3 0 In der Darstellung einer zwischen den Grenzen zweier Staaten vegetierenden Gruppe von aus Deutschland Vertriebenen wird die Situation des erniedrigten J u d e n t u m s durch die Figur eines früheren jüdischen Juristen pointiert, der auf die Frage nach seinem Namen nur mit dem Wort »Niemand« antwortet. Hier weichen die in Geschichte und Religion gezogenen Grenzen der Galut einem Zustand bedrohlicher Offenheit, in der alle zivilisatorischen Traditionen und Bindungen nur noch verblaßte Erinnerungen darstellen. Unter den historischen Umständen des Krieges und der völligen Entrechtung der Juden transzendierte die Galut in die Shoa, die die mittelalterlichen Verfolgungen und die neuzeitlichen Pogrome in ihrem Vernichtungsausmaß in einem sechs Jahre dauernden K o n t i n u u m von Einzelverfolgung, militärisch organisierten Massakern, Deportationen mit tödlichen Krankheiten und Verhungern sowie industriell strukturierten Massentötungen in den Vernichtungslagern imitierte und zugleich auf eine historisch einmalige Weise steigerte. War der R a u m des Exils, in das die deutschen u n d dann die Mehrzahl der europäischen Juden gezwungen wurden, zunächst durch die historischen Grenzen der Galut markiert worden, so erlebte der j üdische Gedächtnisraum Mitteleuropa mit der Shoah seinen Untergang. Der exilische R a u m der Galut wandelte sich in ein echoloses N i e m a n d s l a n d , dessen tonlos gewordene Zeugnisse den Lesenden der Gegenwart verwirrt zurücklassen.

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III Bereits unter den ersten Reaktionen auf die Etablierung des N S - R e g i m e s hatte die zionistische Stellungnahme den Blick a u f das seit einigen Jahrzehnten als nationale Heimstätte projektierte Palästina gelenkt. M i t den Ereignissen in Europa wuchs ihm die Rolle eines bevorzugten Fluchtlandes zu, die das britische Mandatsgebiet allerdings nur bedingt erfüllen konnte. In der Auseinandersetzung mit den ansässigen Arabern und der britischen Verwaltung hatte das zionistische Projekt mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, die durch den Ausbruch des Weltkriegs, in dessen Verlauf italienische Flugzeuge die Städte bombardierten und von Afrika her deutsche Truppen nahten, noch erhöht wurden. D i e Aufmerksamkeit für die europäischen Entwicklungen blieb durch die Flüchtlinge wach, konnte aber unter diesen Umständen nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung eingeschätzt werden. S c h o n 1 9 3 8 schrieb der Exilant Georg Landauer an einen Freund: »Die Nachrichten aus Deutschland haben uns hier alle furchtbar m i t g e n o m m e n , (doch) der Jischuw ist sehr stark auf die hiesigen Probleme konzentriert, aufdas politische Schicksal Palästinas, die jüdische Einwanderung, die Sicherheitsfragen. D i e Presse reagiert sehr scharf, aber eine grosse Bewegung im Publikum ist nicht festzustellen.« 3 ' W ä h r e n d des Krieges, als die Nachrichten über die Vorgänge an den osteuropäischen Fronten das kaum vorstellbare M a ß der Verbrechen erahnen ließen, geriet die Führung des Zionismus in einen Konflikt über die Priorität der Anstrengungen für den Jischuw oder die Rettung der von der Verfolgung Bedrohten. In dieser Situation blieben die lokalen Probleme von großer Bedeutung und die Frage der Galut fand in Israel ganz andere Antworten. In der Tendenz dienten sie der Rechtfertigung der Besiedlung und interpretierten die Rückkehr nach Erez Israel als Zeichen der beginnenden Erlösung. In einer dreibändigen Darstellung der Galut hatte Yehezkel Kaufmann Ende der 1 9 2 0 e r Jahre bereits eine soziologisch inspirierte D e u t u n g der jüdischen Geschichte geliefert 3 2 , der Abraham Isaak Kooks D e u t u n g der zionistischen Besiedlung Palästinas als »räumlichem Z e n t r u m der Heiligkeit in der Welt« 3 3 an die Seite zu stellen ist. Diese spirituellen Begründungen liefen auf die Anerkennung der zionistischen L a n d n a h m e und die G r ü n d u n g des Staates Israel hinaus, der sein Selbstverständnis insbesondere als Z e n t r u m des Judentums gegen die noch verbleibende Diaspora artikulierte. Gegen die Galut wurde in Palästina die aktive Seite der jüdischen Geschichte betont, M a k k a b ä e r t u m gegen als unterwürfig verachtete Assimilation, nationales Selbstbewußtsein gegen die exilische Abstinenz von den staatspolitischen Auseinandersetzungen. Galut war in Israel zu Ende, das J u d e n t u m in sein H e i m zurückgekehrt. Ist die Galutthematik mit der G r ü n d u n g des Staates Israel nach dem Zwei-

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ten Weltkrieg in die komplexe Geschichte des »Landes« und seines Selbstverständnisses verwoben, so hatten Shoa und Staatsgründung ihren bedeutenden Einfluß auf die andere große Ansiedlung des Judentums im 20. Jahrhundert - die USA. Dort hatte ein Großteil der aus Deutschland und dann aus ganz Europa Geflüchteten Asyl gefunden, und darüber hinaus waren die USA schon seit dem 19. Jahrhundert Ziel vieler jüdischer Auswanderer aus Mittel- und Osteuropa, so daß in zweiter, dritter oder vierter Generation ein kontinuierlich gewachsenes Judentum zum wichtigen Faktor für die gesamtjüdische Existenz geworden war. Auch hier lösten die Shoa, aber auch autochthone Problemstellungen die Reflexion auf das fundamentale Konzept der Galut aus, das für die Diaspora nach der Staatsgründung in Palästina neu begründet werden mußte. Dabei läßt sich beobachten, daß die Nachkriegsdiskussion, wie sie in den Beiträgen einer Konferenz der Zeitschrift midstream im Jahr 1963 ihre breiteste Resonanz fand 34 , vom spezifischen Kontext der US-Gesellschaft nicht zu lösen ist. Zwar hatte bereits während des Krieges Marie Syrkin angesichts der Greuel in Europa ein emphatisches Verständnis der Diaspora angemahnt 35 , aber die Frage »Are we in a condition of exile?« versah zehn Jahre später der Zionist Ben Halpern mit der vorbehaltlichen Antwort »Obviously not.« Dennoch konstatierte er: »We have lost the memory of who we are and the sense of why we are — and yet we are. May we hope that out of this strange Limbo in which we reside will come to us a new sense of Exile that will give purpose to our life?« 36 In der Frage klingt eine Auffassung der Galut an, die in der Dialektik von praktischem und metaphysisch-philosophischem Exil begründet liegt. Die weitgehende Aufhebung des exilischen Raums hinterläßt eine Leere, die mit der Klage über eine »transzendentale Obdachlosigkeit« (Georg Lukäcs) gefüllt werden soll. Daß gerade in den USA diese Entfernung von den Wurzeln des Golus eine gesamtgesellschaftliche Erfahrung der Nachkriegsgeneration darstellte, formulierte Daniel Bell 1946 in seinem Text A Parable of Alienation'1, der die Galut als eine Entfremdung analysierte, die nicht nur junge Juden affizierte, sondern zu den Merkmalen einer entzauberten Welt der Moderne gehörte. Diese generalisierende These fand ein starkes Echo auf dem midstreamSymposium, wo sie zum Teil eine Verschärfung in spätere Thesen der Studentenbewegung vorwegnehmenden Äußerungen fand (Nat Hentoff: »Galut as spiritual, social and physical exile< defines the condition of nearly all Americans«), oder zumindest auf das allgemeine existentialistische Klima bezogen wurde (Eisig Silberschlag: »The climate of intellectual opinion in Europe and to a certain extent in America is permeated with uncertainty and anxiety. Man feels alone and alien in the world. His prototype and his deepest fulfilment is the stranger of Albert Camus and the existentialist of Jean Paul Sartre. This is a new experience for mankind but an old experi-

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ence for Jewry.«). Wo die »fashionable idea« der Entfremdung als zu unspezifisch hinterfragt wurde (Eugene Goodheart: »Alienated from what?«), konnte die besondere Qualität der Galut in der jüdischen Mittelklasse der USA allerdings nur noch in abstrakter Form bestimmt werden. Die Mehrzahl der Autoren des Symposiums stimmte darin überein, daß es die Gründung des Staates Israel und die andauernde materielle Sicherheit der USA nicht mehr umstandslos möglich machten, am Konzept der Galut festzuhalten. 38 Die Freiheit der multikulturellen Gesellschaft bot nach Ansicht der meisten Autoren die Grundlage für eine weitgehende Erfüllung jüdischer Lebensweise. Selbst das messianische Element der Galut fand noch seinen Platz, als ein Autor entsprechend der pragmatischen Interpretation seine profane Bestätigung in »all freedom-generating achievements« wahrnahm, wie zum Beispiel der »Balfour Declaration and the establishment of the State of Israel, but also the victory over Hitler, the Nuremberg Trials, the decision of the West German government to offer reparation and restitution, the establishment of the United Nations, the Marshall Plan, the Peace Corps, etc.« 39 Aber hinter diesen »messianischen« Zeichen sahen andere Autoren die Leere einer Assimilation an die Wertvorstellungen der amerikanischen Mittelklasse, die Auflösung der jüdischen Eigenständigkeit, ein Verschwinden, das wieder auf die Galut verweist. Galut besteht nun in der Anstrengung, in einer auf vollständige Integration orientierten Gesellschaft die eigene »Jewishness« zu bewahren, die historisch-theologischen Schranken sinnvoll in einem aktuellen Judentum beizubehalten. Für Marie Syrkin und andere ist die Akzeptanz von Abstrichen am eigenen Judesein eine Art von »gewolltem Exil« von dem Ganzen der Möglichkeiten, die dem Judentum inhärent sind. Ganz anders als der osteuropäische Golus seien amerikanische Juden »free to share to their full capacity in the richness of American life.« Das große Problem stelle sich aber auf metaphysischer Ebene: »The more completely an American Jew is drawn into the pattern of American life the fainter becomes his Jewish identification. There is a price to be paid for ease in America: it is unease in Zion.« 40 Mit dieser Beschreibung läßt sich die revolutio des jahrtausendealten Konzepts des jüdischen Exils auf einen Punkt bringen, der keinen Ruhezustand bedeutet. Die Galut und das Exil wurden beendet und existieren auf andere Weise fort.

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1 Zur Galut vgl. Alexander Altmann: »>Exil< und >Rückkehr< in heutiger jüdischer Sicht«. In: Rudolf Mosis (Hg.): Exil - Diaspora - Rückkehr. Zum theologischen Gespräch zwischen Juden und Christen. Düsseldorf 1978 (= Schriften der kathol. akademie in bayern 81), S. 95 - 1 1 0 ; Paul Mendes-Flohr: »Zion und die Diaspora. Vom babylonischen Exil bis zur Gründung des Staates Israel«. In: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hg. von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Edward van Voolen. Berlin 1991, S. 2 5 7 - 2 8 4 ; Yosef Hayim Yerushalmi: »Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte«. In: Ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Berlin 1993, S. 21 - 3 8 ; Arnold M. Eisen: Galut. Modern Jewish Reflection on Homelessness andHomecoming. Bloomington/Indianapolis 1986 (= The Modern Jewish Expérience). — 2 Moritz Goldstein: »Deutsch-jüdischer Parnaß«. In: Der Kunstwart 25 (1912) H. 11, S. 281 - 2 9 4 . — 3 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Erw. Fassung. Frankfurt/M. 1994, S.32: »In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern, in denen dies Durcheinander einsetzte, Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum (...) und der großen »Bescherung« für die Dienstboten, Verwandte und Freunde. Es wurde behauptet, dies sei ein deutsches Volksfest, das wir nicht als Juden, sondern als Deutsche mitfeiern. (...) Als Kind ging mir das ein, aber 1911, als ich gerade begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, nahm ich das letztemal an diesem Fest teil. Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: weil du dich doch so für Zionismus interessierst, haben wir das Bild ausgesucht. Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus.« — 4Joseph Roth: »Juden auf Wanderschaft«. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Köln 1989, S. 838 f.: »Die Großväter kämpften noch verzweifelt mit Jehova, schlugen sich die Köpfe wund an den tristen Mauern des kleinen Bethauses, riefen nach Strafe für ihre Sünden und flehten um Vergebung. Die Enkel sind westlich geworden. Sie bedürfen der Orgel, um sich in Stimmung zu bringen, ihr Gott ist eine Art abstrakte Naturgewalt, ihr Gebet ist eine Formel. Und darauf sind sie stolz!« — 5 Vgl. auch die von Martin Buber herausgegebene Zeitschrift Der Jude von 1917—1920 mit mehreren Beiträgen. — 6 Max Dienemann: »Galut«. In: Der Morgen IV. Jg. (1928), H. 4, S.329. — 7 Ebd., S.330. — 8 Ebd., S.333. Rundschau« — 9 (Robert Weltsch): Ja-Sagen zum Judentum. Eine Aufsatzreihe der »Jüdischen zur Lage der deutschen Juden. Berlin 1933, S.43. — 10 Ebd., S. 39. — 11 Hans Joachim Schoeps: »Der deutsche Vortrupp - der Ort geschichtlicher Besinnung«. In: Wille und Weg deutschen Judentums. Berlin 1935 (= Deutschjüdischer Weg 2), S. 50. — 12 Ebd., S. 51 f. — 13 Ebd., S. 54. Vgl. auch Jochanan Bloch: Judentum in der Krise. Emanzipation, Sozialismus und Zionismus. Göttingen 1966, S.6. — 14 Simon Schwab: Heimkehr ins Judentum. Frankfurt/M. 1934, S. 17. — 15 Ebd., S. 97. — 16 Ebd. — 17 Vgl. etwa M. Eschelbachers Predigt in: Adolf Pollak (Hg.): Predigten an das Judentum von heute. Berlin 1935, S.26—33. — 18 Josef Kastein: Das Geschichtserlebnis des Juden. Wien - Jerusalem 1936, S. 17. Vgl. Abraham B. Jehoschua: Exil der Juden. Eine neurotische Lösung? St. Ingbert 1986, S. 25 ff- — 19 Josef Kastein: Jüdische Neuorientierung. Wien 1935, S.36. — 20 Ebd., S. 11. — 21 Vgl. Markus Bauer: »Imagination und Politik. Zum Begriff des Exils bei Walter Benjamin«. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Bd. 3. München 1999, S. 1 5 6 9 - 1 5 8 3 . — 22 Vgl.: Gershom Scholem: Zwischen den Disziplinen. Hg. von Gary Smith und Peter Schäfer. Frankfurt/M. 1995. — 23 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, S.269. — 24 Jizchak Fritz Baer: Galut. Berlin 1936 (= Bücherei des Schocken Verlags 61), S. 11. — 25 Ebd., S. 10. — 26 Ebd., S. 12. — 27 Ebd., S.91. Vgl. dazu Yosef Hayim Yerushalmi: »Assimilierung und rassischer Antisemitismus. Die iberischen und die deutschen Modelle«. In: Ders.: Ein Feld in Anatot (s. Anm. 1), S. 53 ff. — 28 Baer: Galut (s. Anm. 24), S. 100. — 29 Ebd., S. 103. — 30 Renée Brand: Niemandsland. Zürich 1940. Repr. Zürich 1995. Vgl. auch Markus Bauer: »Mythos und Sachlichkeit. Zur Grenze in der Exilliteratur«. In: Ders./Thomas Rahn (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, S. 2 0 7 - 2 3 3 . — 31 Georg Landauer an Martin Rosenblut am 17. Nov. 1938, zit. nach Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek 1995, S.91. — 3 2 Vgl. dazu die Darstellung bei Eisen: Galut (s. Anm. 1), S. 9 9 - 1 0 5 zu Yeheskel Kaufmanns Golah Ve-Nekhar: »The work is still little known, except among specialists, in part because its density, length, and loquaciousness have made translation difficult,

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in part because its allusions to other Zionist figures and schools of thought render it opaque even to the Hebrew reader«; vgl. auch Thomas Krapf: »Exil und Fremde. Ein Gedankenaustausch zwischen Jesekiel Kaufmann und Adolf Böhm in den dreißiger Jahren«. In: LB1 Bulletin S,7 (1990), S. 6 7 - 7 9 , und Janet Koffler O'Dea: »Israel With and Without Religion. An Appreciation of Kaufmanns Golah Ve-Nekhar«. In: Judaism, Winter 1976, S. 8 5 - 9 7 . — 3 3 Eisen: Galut(s. Anm. 1), S. 110. — 3 4 »The Meaning of Galut In America Today. A Symposium«. In: midstream, März 1963, S. 3—45. — 35 Marie Syrkin: »O Diaspora«. In: Jewish Frontier, April 1943, S. 2 0 - 2 2 . — 3 6 Ben Halpern: »Exile«. In: Jewish Frontier, April 1954, S . 6 - 9 . — 3 7 Daniel Bell: »A Parable of Alienation«. In: Jewish Frontier, November 1946, S. 1 2 - 1 9 und die Antworten von Mordechai M. Kaplan und Ben Halpern. In: Jewish Frontier, Dezember 1946, S. lOff. — 3 8 Vgl. die Äußerungen von Joel Carmichael, Rose Halprin, Eisig Silberschlag, Theodore Solotaroff, C. Bezalel Sherman in: The Meaning of Galut (s. Anm. 34); s. auch Dagmar Barnouw: »Der Jude als Paria. Hannah Arendt über die Unmündigkeit des Exils«. In: Exilforschung4 (1986), S. 51; sowie Eisen: Galut (s. Anm. 1), Kap. VII, und Mendes-Flohr: »Zion und die Diaspora« (s. Anm. 1), S. 276. — 3 9 Jacob B. Argus. In: »The Meaning of Galut« (s. Anm. 34), S. 8. — 4 0 Marie Syrkin, ebd., S. 44.

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Die politische und »rassische« Emigration aus dem faschistischen Italien 1922 bis 1943

I Die Emigration aus Italien in der Zeit des Faschismus war in erster Linie von der politisch motivierten Abwanderung, dem fuoriuscitismo geprägt, welcher sich in einen bereits bestehenden Emigrationsfluß eingliederte. Dieser war aus wirtschaftlichen Beweggründen entstanden u n d erstreckte sich über die gesamte Geschichte Italiens seit seiner politischen Einigung. Die im Ausland lebenden Italiener teilten sich in jeweils ganz unterschiedliche Gruppierungen auf. In Frankreich, und in geringerem Ausmaß auch in Belgien, war die italienische Emigration in den Jahren vor dem Faschismus konstant geblieben, jenseits des Atlantiks - vor allem in den USA und in Argentinien - hatte sie seit Beginn des Jahrhunderts stark abgenommen. 1 Die wirtschaftliche Emigration stellte einen wichtigen Bezugspunkt dar für diejenigen, die nach 1922 aus politischen Gründen ihr Land verließen. Hierbei handelte es sich nicht nur um die jeweiligen Führungsfiguren der Parteien, sondern um ein Massenphänomen, da wirtschaftliche und politische Motive oft ineinander verschmolzen. Die Entscheidung, Italien zu verlassen, wurde häufig dadurch vereinfacht, daß bereits Bezugs- und Kontaktnetze bestanden zu Verwandten, Bekannten und Freunden, die sich bereits im Ausland befanden. Die politische Massenemigration bildet so, zumindest im Falle Italiens, das Verbindungsglied zwischen wirtschaftlichem Exil und dem fuoriuscitismo der politischen Führungsgrößen. 2 Der Emigrant konnte sich auf den Schutz einer bereits existierenden italienischen Gemeinschaft verlassen, innerhalb derer es für ihn relativ einfach war, Beziehungen zu knüpfen und Kanäle u n d Wege zu finden, um sich in die neue Gesellschaft einzufügen. Die politische Affinität, die sich zwischen den neuen Emigranten und der lokalen Arbeiterschicht abzeichnete, wurde damit zur Ausdrucksform einer Solidarität, die sich nicht nur auf Politik, sondern auch auf Gesellschaftsklassen bezog. O h n e die enge Verbundenheit mit dem Ursprungsland auszulöschen, erzeugte so die Integration der italienischen Emigranten oft ein doppeltes Zugehörigkeitsgefühl. Auch im spezifischen Fall des antifaschistischen Exodus wurde die Ambivalenz deutlich, von der die Emigrantengemeinschaften gekennzeichnet waren: einerseits das Bestreben, die eigene nationale Integrität aufrechtzuerhalten, andererseits das Bedürfnis, sich so gut wie möglich in die neue nationale u n d soziale Realität einzufügen.

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Aus diesem Grund kann die politische Debatte innerhalb der Parteien und der ideologische Werdegang der Führungsgruppen nur einen Teil dessen widerspiegeln, was damals den italienischen fuoriuscitismo ausmachte. Überlegungen zum fuoriuscitismo können nicht darauf verzichten, die faschistische Strategie der politisch-propagandistischen Penetration italienischer Gemeinschaften im Ausland zu berücksichtigen, die in dem gleichen Maße zunahm, wie die Emigration ihre eigenen Strukturen aufzubauen suchte. Mit der Gründung der Direzione generale der Italiener im Ausland im April 1928 war jegliches Autonomiebestreben der faschistischen Auslandsorganisationen unterdrückt und waren spontane lokale Aktivitäten in eine streng zentralisierte Struktur eingebunden worden, die nicht nur sämtliche faschistische Aktionen vorgab, sondern auch die jeweiligen Verantwortlichen benannte. 3 Das Statut von 1928 legte fest, daß absoluter Gehorsam gegenüber dem »Duce« und den faschistischen Gesetzen im Privaten und öffentlichen Leben entscheidendes Kriterium für die Mitglieder darstellte. Des weiteren hatten sie die Aufgabe, »die Kolonien der im Ausland lebenden Italiener um das Liktorenbündel herum zu versammeln.« Von diesen faschistischen Organisationen im Ausland hingen demzufolge die Sektion Avanguardie, die Sektion Baliila und die weibliche Sektion ab, die unter der Emigrantenjugend jene propagandistischen und sportlich-paramilitärischen Organisationen aufbauen sollten, die sich bereits in der Heimat bewährt hatten. 1928 wurde auch die Opera fascista figli del littorio gegründet, deren Ziel es war, Kindergärten und Schulen für Waisen im Ausland zu organisieren, Stipendien an Jugendliche zu vergeben und kulturelle und soziale Einrichtungen zu finanzieren. Im Ausland bewegte man sich also in zwei unterschiedliche Richtungen; es wurde die Politisierung der traditionellen schulischen Einrichtungen durch muttersprachlichen Unterrricht für die Emigrantenkinder sowie die Expansion der Sommerkolonien unter faschistischer Leitung angestrebt. Als Bindeglied zwischen dem faschistischen Überbau und der gesellschaftlichen Basis fungierten sowohl die Verantwortlichen in den Botschaften und Konsulaten wie auch die zahlreichen kulturellen und sozialen Vereine und Einrichtungen, die sich in den verschiedenen Emigrationszentren seit Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts autonom gebildet hatten. In den ersten Jahren des neuen Regimes waren diese Theater-, Gesangs-, Sport- und Veteranenvereine der Rahmen, in dem der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Regimes ausgetragen wurde. Dank ihrer umfangreichen finanziellen Mittel konnten die faschistischen Organisationen das interne Gleichgewicht vieler dieser Vereine zersetzen und nach und nach so viel Raum einnehmen, daß sie auch eine klare politische Ausrichtung vorgeben konnten. Aufgrund dieser »Durchdringung« der traditionellen Vereine wurden nun auch die wenigen politi-

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sehen Gruppen der italienischen Emigranten von den Faschisten erfaßt, und ihre Loyalität erkaufte man sich durch Vergünstigungen und Zuschüsse. Das Regime versuchte, sich auf diese Weise eine Basis von treuen Anhängern und stets verfügbaren Aktivisten und Propagandisten zu schaffen. Gleichzeitig versuchte man natürlich auch, über den Bereich der Freizeit die »Masse« zu erreichen, deren Z u s t i m m u n g , und sei es nur über einen passiven und oberflächlichen Konsens, man bedurfte. Bildeten diese Auslandsorganisationen den einen elementaren Bestandteil der faschistischen Strategie, so bürgten die Diplomaten und Konsulate andererseits für das offizielle Ansehen des Regimes und gewährleisteten m a n c h m a l auch den Organisationen diplomatische Immunität, weil sie unter demselben Dach ihren Sitz hatten. Auch wenn die unterschiedliche Beschaffenheit dieser parallelen Institutionen gelegentlich zu Konflikten führte, so entstand doch bald eine produktive Zusammenarbeit zwischen faschistischen Organisationen, Botschaften und Konsulaten. Diese beinhaltete sowohl die Kontrolle antifaschistischer Kräfte durch Spionage als auch die Schaffung eines breiten Konsenses quer durch alle Emigrantenschichten. Es war Aufgabe der Diplomaten und Konsuln, die Mobilisierungsvorschläge der faschistischen Organisationen mit dem Deckmantel des Patriotismus und der »Italianität« zu versehen und ihre politischen Ziele als einfache Vaterlandsliebe und Nationalstolz zu verkleiden. Des weiteren bedienten sich die Konsularbehörden der wirksamsten Druck- und Einschüchterungsmittel, über die das Regime verfügte, u m die antifaschistische Opposition zu bekämpfen und zu isolieren: die Ausstellung oder Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung im Ausland, einer Arbeitserlaubnis, die Verlängerung von Reisepässen, die Ausstellung von Staatsbürgernachweisen oder deren Verweigerung. Alle diese Papiere waren grundlegende Voraussetzungen für den Aufenthalt und die Ausübung irgendeiner Tätigkeit im Ausland. Die »Tentakel« der faschistischen Polizei überwachten - wie eine neuere Untersuchung ergeben hat - jedes Individuum, das sich »unfaschistischer« Verhaltensweisen verdächtig machte. 4

II Die Studien zur Emigration verliefen, zumindest in ihrer Anfangsphase, parallel zur historiographischen Aufarbeitung des Faschismus. Verschiedene Faktoren haben die Ausrichtung der Antifaschismusstudien beeinflußt und demzufolge die A u f m e r k s a m k e i t auf spezifische Bereiche dieses T h e m a s gelenkt: das Bedürfnis, einen klaren Bruch zu vollziehen in bezug auf den faschistischen u n d präfaschistischen Staat und somit auch den konservativen und reaktionären Tendenzen der späteren Nachkriegszeit entgegenzuwirken; die Vormachtstellung der linken Parteien im Kampf gegen den

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Faschismus, die besonders ab 1947 mit dem Ende der Regierungen der nationalen Einheit betont wurde; die ständige Berufung auf die ideellen Werte des Antifaschismus und deren Aufrechterhaltung - eine Achse, um die sich Debatten und politische Auseinandersetzungen nicht nur in den Anfangsjahren der Republik drehten. Das Interesse galt von Beginn an in erster Linie den Jahren der Machtübernahme und noch mehr der Periode des Widerstands im Lande 5 , welcher als vitales Moment des Antifaschismus verstanden wurde, wohingegen die zwanzig Jahre des Kampfes gegen den Faschismus vom Ausland aus in einen mehr oder weniger hagiograpischen Randbereich verdrängt wurden, in dem die Opposition in Untergrund und Exil als heroisches Zeugnis einer Minderheit betrachtet wurde, die ihren Idealen treu geblieben war. Vom Standpunkt des Widerstandes aus erschien die Bilanz der antifaschistischen Miliz nach zwanzig Jahren Exil relativ mager, wenn nicht gar in ihrem Hauptziel gescheitert, war doch der Faschismus weder an den Antifaschisten gescheitert noch an einer von ihnen ausgelösten Volkserhebung, geschweige denn an einem internen Zersetzungsprozeß des Regimes, zu dem die Antifaschisten aber immerhin einen entscheidenden Beitrag geleistet hatten. Und stellte der Widerstand auch ihr größtes ideelles Ziel dar, so war er vor Ausbruch des Krieges doch kein Bestandteil ihrer Strategie/' Sieht man einmal ab von der wegbereitenden Untersuchung Aldo Garoscis, der selbst 1938 nach Erlaß der Rassengesetze ins Exil gegangen war und bei dem sich eine seriöse und ausführliche historiographische Rekonstruktion mit persönlicher biographischer Erfahrung vermischt, so fehlt bis heute eine umfassende Studie zur Geschichte des italienischen fuoriuscitismo? Die interessantesten Arbeiten, die seit Beginn der 1980er Jahre entstanden sind, betreffen die Geschiche einzelner politischer Parteien, innerhalb derer auch den Mitgliedsgruppen im Ausland ein gewisser Raum zugestanden wurde. Das gilt in erster Linie für die sozialistische Partei Italiens (PSI), deren Erfahrungen in den Jahren des Faschismus lange Zeit vernachlässigt worden waren, da der einzig geltende Bewertungsmaßstab eine aktive Beteiligung am Widerstand war. Doch auch die Frage, wie intensiv die Teilnahme an den Kämpfen im Untergrund und an der politischen Emigration war, ist — wie Leonardo Rapone 8 kürzlich hervorgehoben hat — von essentieller Bedeutung für die historische Beurteilung und Gewichtung dieser Periode des italienischen Sozialismus. Für die PSI waren die Jahre des Exils äußerst wichtig sowohl bei der Überwindung der parteiinternen Kluft zwischen Reformisten und Radikalen (Zusammenschluß 1930), als auch bei der Ausarbeitung einer Theorie, die einen Wendepunkt darstellte in bezug auf das Selbstbild und die Eigendefinition der italienischen Sozialisten. Die politische Kultur und die ideellen Werte vieler führender sozialistischer Persönlichkeiten der Nachkriegszeit waren in den Jahren der faschistischen Herrschaft geprägt worden,

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und dies nicht nur aufgrund theoretischer Überlegungen, sondern infolge von konkreten biographischen Kampferfahrungen im In- und Ausland, die tiefe Spuren hinterlassen hatten. 9 Im Laufe der achtziger Jahre sind analog dazu die ersten bedeutenden Untersuchungen über die im Ausland operierenden Gruppen nuclei repubblicani10 und Giustizia e Libertà" verfaßt worden. Hierbei wurde nun langsam das spezifische Wesen der Exilerfahrung herausgearbeitet. Sehr viel komplexer gestaltete sich die Historiographie der kommunistischen Partei {partito comunista d'Italia — PCI), die sich zwar auf eine extrem reichhaltige Memoiren-Produktion 12 berufen kann, der aber sonst - mit Ausnahme der vor einigen Jahren erschienenen Arbeit von Loris Castellani 13 — keine spezifische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dies läßt sich nur bedingt durch die besondere Rolle erklären, welche die Partei für die militanten Kommunisten im Untergrund einnahm. Sie fungierte als »totale« Organisation und ersetzte damit also die verschiedenen Funktionen von Familie, Kirche, Schule und Kaserne. Gerade ihr internationaler Charakter und ihre Ideologie absorbierten in sich den Begriff der Heimat und führten dazu, daß ihre Mitglieder im Ausland ein Netz von Beziehungen und Hilfsleistungen vorfanden, die es nahezu unmöglich machten, sich als »Emigrant« im wahrsten Sinne zu fühlen. Der militante Kommunist Giuseppe Gaddi erklärt die Motive für seine Emigration folgendermaßen: »Meine Entscheidung war natürlich zum Teil auf die besonderen Umstände zurückzuführen, in denen ich mich damals befand, in erster Linie jedoch auf die Tatsache, daß die Partei in meinem Leben - wie auch in dem aller meiner Genossen - den wichtigsten Platz einnahm, so daß alles andere, inklusive die Familie, eine untergeordnete Rolle spielte.« 14 Ein weiterer und vielleicht entscheidender Grund für das Fehlen einer genaueren historischen Erforschung dieses Themas lag in der Natur der PCI, die sich fast ausschließlich mit theoretischen Diskussionen und kaum mit den sozialen Belangen, geschweige denn den Erfahrungen ihrer militanten Mitglieder beschäftigte. Die Geschichte des italienischen fuoriuscitismo kann jedoch nicht nur auf die Debatten zwischen Parteiführungsgruppen reduziert werden. Diese Erkenntnis ist wichtig, um die Bedeutung des Exils als Katalysator von Ideen und Reflexionen richtig einschätzen zu können. Die interessantesten Studien hierzu stammen nicht zufälligerweise aus Frankreich, einem traditionellen antifaschistischen Emigrationsziel, und sind vor allem dem Cedei, Centre d'étude et de documentation sur l'émigration italienne, zu verdanken. Der Leiter des Instituts, Pierre Milza, sprach bei der Vorstellung eines 1986 veröffentlichten Sammelbandes von der Notwendigkeit, die tiefe innere Verbindung zwischen politischer und wirtschaftlicher Emigration zu erfassen, der nun zum ersten Mal im Rahmen einer einzigen Studie nachgegangen wurde und die es ermöglichte, eine Sozialgeschichte der politischen Emi-

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gration zu verfassen, bei der über die Untersuchung der Führungsgruppen 15 hinausgegangen wurde. Dank dieser und anderer vom Cedei geförderter Studien liegen nun für den französischen Bereich zahlreiche Forschungsarbeiten vor 16 , wohingegen sozialgeschichtliche Untersuchungen zu anderen antifaschistischen Exilländern fehlen, was sich gerade im Fall der Vereinigten Staaten als nachteilig erweist, für die nur Studien vorliegen, in denen das Engagement und die Rolle der intellektuellen und politischen Eliten in den Kriegsjahren untersucht werden. 17 Diese einseitige Betrachtungsweise führte, wie angemerkt worden ist18, dazu, daß man somit die Kontinuität der antifaschistischen Propaganda in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg unterschätzte, die von unbekannten militanten Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und Gewerkschaftlern sowie von einer Vielzahl mehr oder weniger lang- oder kurzlebiger Veröffentlichungen und Zeitschriften in den zwanziger und dreißiger Jahren vorangetrieben wurde. Ohne eine Rekonstruktion und Neubewertung der verschiedenen Vereine, Gewerkschaften und antifaschistischen Zeitungen und Zeitschriften regt sich zwangsweise ein leiser Zweifel an der Wirksamkeit und dem Einfluß der Antifaschisten und ihrer Organisationen wie zum Beispiel der »Mazzini Society«. Diese wurden während des Krieges von ItaloAmerikanern gegründet und getragen und bezogen ihre Stärke gerade aus solcher Vielzahl von Initiativen. Was andere europäische und außereuropäische Emigrationsziele anbelangt, so existieren bislang nur einige Forschungsbeiträge generellen Charakters. 1 '' Eine Ausnahme bildet hierbei die Schweiz, zu der Arbeiten für die letzten Kriegsjahre 1943 bis 1945 vorliegen. 20 Eine der vielleicht schwerwiegendsten Lücken betrifft die Exilpresse schwerwiegend deswegen, weil es sich um eine der meistbenutzten Quellen bei der Untersuchung der Geschichte des politischen fuoriuscitismo handelt. Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wurden im Ausland veröffentlicht, Parteiorgane, Vereinsblätter und Propagandaschriften. Der Großteil davon erschien in Frankreich 21 , aber auch in allen anderen Asylländern existierten Veröffentlichungen italienischer Emigranten. 1964 verfaßten Dal Pont, Leonetti und Massara ein erstes Verzeichnis der »giornali fuori legge«22 mit einer kurzen Beschreibung jeder Veröffentlichung, ohne jedoch eine Unterscheidung zu treffen zwischen Veröffentlichungen im Ausland und in Italien letztere waren in erster Linie gedacht für illegale Gruppen. Massimo Legnani 23 versuchte 1980 in einem der Geschichte der italienischen Presse seit der Einigung bis in die heutigen Tage gewidmeten Sammelband, erstmals ein Verzeichnis der gesamten antifaschistischen Presse zu erstellen, wobei die Exilpresse einen wichtigen Platz einnahm. Das war der erste Versuch, eine Relation zwischen den Charakteristiken der einzelnen Veröffentlichungen und den jeweiligen Exilländern herzustellen. Auch in diesem Falle verkannte man jedoch die spezifischen Probleme in bezug auf Information, Vertei-

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lung usw. von Zeitungen, die nicht in der jeweiligen Landessprache verfaßt waren und oft, zumindest nach den Intentionen der Redakteure, für ein viel breiteres Publikum gedacht waren als nur die eigenen Parteigenossen oder die Gruppierung, der die Redaktion angehörte. Erst einige jüngere Arbeiten von Bruno Tobia, die sich mit einzelnen Zeitungen befassen24, schenken diesen Aspekten Aufmerksamkeit und beschäftigen sich mit den grundlegenden Fragen, die als Leitmotiv für eine ernsthafte und umfassende Erforschung der Exilpresse gelten können. Sieht man einmal von den bestehenden Unterschieden ab, so kann festgestellt werden, daß die gesamte italienische Exilpresse es sich zum obersten Ziel gemacht hatte, den Gemeinschaftssinn unter ihren Landsleuten zu stärken, und daß die Kommunikation mit der Außenwelt erst an zweiter Stelle stand. Neben Zeitungen, die ausschließlich für die parteiliche Führungsschicht gedacht waren, wie zum Beispiel die kommunistische Zeitung Stato operaio, die von 1927 bis 1939 in Paris veröffentlicht wurde und danach in New York, gab es auch andere wie Libertà und La voce degli italiani (beide in Paris herausgegeben), die theoretische Ausführungen mit einer starken lokalen Prägung verbanden. So spiegelten sie Paris und Frankreich aus den Augen der italienischen Emigranten wider, ein buntes und vielförmiges Bild von Versammlungen, Vereinsveranstaltungen, Tanzlokalen und Restaurants, die sich auf Tagliatelle und Tortellini spezialisiert hatten. La voce degli italiani war sicherlich die Zeitung, in der am deutlichsten die moderne Auffassung eines Journalismus ablesbar war, der eine möglichst breite Leserschaft erreichen wollte. Es fanden sich darin Artikel über »Die Welt der Wissenschaft«, die von der Schwerkraft bis hin zur Hämophilie reichten; Artikel speziell für das weibliche Publikum, die Rezepte beinhalteten oder Nähmodelle; Spiele und Erzählungen für Kinder und Fortsetzungsromane, die den Leser zur kontinuierlichen Lektüre anhalten sollten. All dies sind Aspekte, die auf eine Entwicklung des Journalismus hinweisen im Vergleich zur Presse der Vorkriegszeit und die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Völlig anders verlief die Entwicklung der Studien zur »rassischen« Emigration. Lange Zeit hatte die italienische Geschichtsschreibung die Frage der antisemitischen Legislation des Faschismus übergangen, so, als könne die Verantwortung für die Shoah in Italien exklusiv der deutschen Besatzungsmacht zugeschrieben werden. Damit wurde die Verantwortlichkeit der italienischen Regierung übergangen, die ohne direkten Druck des »Dritten Reichs« Gesetze erlassen hatte, welche die Juden aus sämtlichen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens ausschlössen.25 Erst in den letzten zehn Jahren hat man angefangen, dieses Thema zu untersuchen und inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die der rassistischen Rechtsprechung und ihrer Auswirkung auf die jüdischen Gemeinden gewidmet sind. Nur einer kleinen Minderheit der Juden schien die Emigration eine Lösung

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zu sein, zu weit fortgeschritten war der Integrations- und Assimilierungsprozeß, als daß die meisten nicht doch noch auf einen möglichen K o m p r o miß, auf eine Nische hofften, um in dem Land bleiben zu k ö n n e n , das sie als ihr eigenes betrachteten. Abgesehen von einigen wenigen Beiträgen sind bis heute jedoch keine bedeutenden Untersuchungen zu diesem T h e m a vorgelegt worden. 2 6 Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Ursachen: einerseits die Schwierigkeit, zuverlässige D a t e n zu erhalten, die Heterogenität der Lebensläufe und Motivationen, andererseits aber auch der atypische C h a rakter dieser Emigration, sei es in bezug auf die Diaspora der Juden aus anderen europäischen Ländern, sei es hinsichtlich der traditionellen italienischen Emigration.

III Die politische Emigration entstand mit dem Faschismus und betraf in einer ersten Phase hauptsächlich die Arbeiter. Sie begann bereits v o r d e m 2 8 . O k t o ber 1 9 2 2 , dem Marsch der Faschisten nach R o m , da die Übergriffe der faschistischen Sturmabteilungen auf Arbeiter- und Sozialistenorganisationen den Exodus ihrer Angehörigen vor allem aus Norditalien beschleunigten. Auch heute noch hat die Periodisierung von A. Garosci ihre Gültigkeit, der den Exodus in folgende Phasen unterteilte 2 7 : D i e erste Welle von O k t o b e r 1 9 2 2 bis Januar 1 9 2 5 ergriff vor allem Anarchisten, militante Angehörige der Arbeiterbewegung und einige wenige Politiker und Intellektuelle (Nitti, D o n Sturzo). In der zweiten Phase, die er a u f die Jahre 1 9 2 5 und 1 9 2 6 datiert, emigrierte der Großteil der Politiker und Intellektuellen (Amendola, Gobetti, Salvemini und D o n a t i ) . M i t der dritten Emigrationswelle nach 1 9 2 6 verließen die letzten Exponenten der Linken, Sozialisten verschiedenster Ausprägung, K o m m u n i s t e n , Republikaner, Politiker, Verleger und antifaschistische Katholiken Italien. Von den Italienern, die unter dem Faschismus ihr Land verließen, war nur ein relativ geringer Teil Mitglied in politischen oder gewerkschaftlichen Organisationen. Die kommunistische Emigration, die sich als eine der ersten Gruppierungen im Ausland, vor allem in Frankreich organisierte, war zweifellos die stärkste politische Kraft, sowohl in der Anzahl ihrer aktiven M i t glieder wie hinsichtlich des Einflusses, den sie auf die Masse der Emigranten ausübte. Z u Beginn des Jahres 1 9 2 3 beschloß man gemäß den Richtlinien des IV. Weltkongresses der K o m m u n i s t i s c h e n Internationale, die fremdsprachigen Organisationen in den Immigrationsländern aufzulösen; die ausländischen Kommunisten mußten sich direkt in den nationalen Sektionen der KI einschreiben, und so bildeten sich italienischsprechende Gruppen innerhalb der einzelnen kommunistischen Parteien. Ab 1 9 2 6 , mit der Z u n a h -

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me des Emigrantenflusses von Italienern ins Ausland, wurden diese Gruppen zu einer wichtigen Komponente, an der die italienische Partei zunehmendes Interesse zeigte, und Ende der 1920er Jahre machte sich innerhalb der PCI i m m e r mehr das Bewußtsein breit, wie groß die politische Bedeutung der Emigranten war. Sie wurden so zu einer Hauptzielgruppe ihrer Anwerbungsstrategie, stellten sie doch einen wichtigen moralischen, finanziellen und politischen Stützpunkt dar, mit dessen Hilfe der Untergrundk a m p f in Italien fortgeführt werden konnte. 2 8 Die Partei hatte Bedarf an aktiven Mitgliedern im Ausland, die bereit waren, in die H e i m a t zurückzukehren, sie brauchte neue Führungskräfte und m u ß t e die Emigration kontrollieren. Andererseits bestand aber eine Tendenz zur Integration im A u f n a h m e l a n d , die dazu führte, d a ß die aktiven Parteimitglieder einer Rückkehr nach Italien eher skeptisch gegenüberstanden. Die sozialistische Partei w i d m e t e sich in einer ersten Phase von 1926 bis 1930 vor allem in Frankreich, aber auch in der Schweiz, in Belgien und in Argentinien in erster Linie der Neuorganisation der eigenen Strukturen, wobei die territoriale Organisationsstruktur beibehalten wurde, die schon in Italien die Partei gekennzeichnet hatte: die Bildung von Sektionen und regionalen Föderationen trug dazu bei, die aktiven Mitglieder und Sympathisanten zu einer - oft minimalen - Propagandaaktivität zu vereinen, und zwar ausgehend von der berechtigten A n n a h m e , d a ß der wahre Bezugspunkt des Menschen nicht der Arbeitsplatz, sondern der W o h n o r t sei. Ganz entscheid e n d war in jedem Exilland die Beziehung zwischen der PSI und der jeweiligen Bruderpartei; eine Untersuchung über Frankreich hat gezeigt, d a ß die fruchtbarsten Beziehungen zwischen italienischen und französischen Sozialisten in den Gegenden festgestellt werden konnten, in denen die SFIO am stärksten war. 2 9 Nach d e m Z u s a m m e n s c h l u ß von Radikalen und Reformisten im Jahr 1930 und der Wahl von Pietro Nenni z u m Parteivorsitzenden begann, wie im folgenden noch ausgeführt werden wird, eine Phase intensivster politischer Aktivität und theoretischer Diskussion, die jedoch keinen sichtbaren Zuwachs der organisatorischen Strukturen mit sich brachte. Aus der republikanischen Partei (PRI) 3 0 emigrierte fast nur die Führungsschicht, der es vor allem in der Schweiz u n d in Frankreich gelang, Auslandssektionen zu gründen mit Hilfe von Gewerkschaftsführern, peripheren Parteimitgliedern und Mitgliedern mazzinianischer Kooperativen. Die Kontakte mit der italienischen Menschenrechtsliga ( L I D U ) und den Freimaurern dienten dazu, jene Beziehungen zu knüpfen, über die die PSI und PCI durch ihre Bruderparteien verfügten. Der Austritt von Ferdinando Schiavetti, einem der aktivsten Mitglieder der PRI, der 1934 die »Azione repubblicana socialista« gründete 3 1 , führte zu einem beträchtlichen Aderlaß an Parteimitgliedern und zu einer strukturellen Schwächung, von der sich die Partei erst durch die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg wieder erholte.

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Die Bewegung »Giustizia e Libertà« (GL), von Carlo Rosselli 1929 in Paris gegründet, stand in Kontrast zu den traditionellen Parteien u n d war in erster Linie auf eine Aktivität in Italien ausgerichtet. Dementsprechend waren die Führungskräfte weniger stark an der Integration der Emigranten interessiert. Die Bewegung bediente sich hauptsächlich der L I D U , um den Emigranten in praktischer Hinsicht beizustehen. Ziele der Bewegung waren die Definition eines neuen sozialistischen Humanismus, die Interpretation der faschistischen Realität und ihre Bekämpfung. So befand sich die Bewegung GL, gerade in den Jahren von 1935 bis 1940, in einer ständigen dialektischen Spannung zwischen der Versuchung, eine Emigrationspartei wie alle anderen auch zu sein oder eine aktivistische Bewegung zu bleiben, worauf auch ihre organisatorische Fluktuation hindeutet. Was die Volkspartei »partito popolare« betrifft, so begrenzte sich diese katholische Emigration mehr oder weniger auf einzelne, im Ausland besonders aktive Mitglieder: D o n Sturzo, Donati, Ferrari. 32 Der antifaschistischen Emigration fehlten Mitglieder aus der Welt der Intellektuellen, der Künstler, Herausgeber und Verleger fast völlig, die so typisch für das deutsche Exil und in geringerem Umfang auch für das aus dem Spanien Francos waren. Dieser nicht stattgefundene Exodus italienischer Intellektueller erklärt auch, warum Italien bis 1938, trotz seiner faschistischen Regierung, Zufluchtsland für deutsche Emigranten blieb. Die Gründe dafür sind in der relativen Gleichgültigkeit des Regimes in Fragen der Kunst und Kultur zu suchen. Die italienischen Intellektuellen, die emigrierten, waren Politiker oder politisch engagierte Schriftsteller und Gelehrte — Gaetano Salvemini oder Emilio Lussu, um nur zwei der wichtigsten zu nennen —, und ihre Interessen waren in erster Line politischer Natur. Ihre intellektuelle Produktion hatte militanten Charakter und ihre Schriften beschäftigten sich mit politischen T h e m e n und nicht, strictu sensu, mit der italienischen Kultur im Ausland. 3 3 Die beiden einzigen italienischen Schriftsteller, die sich für den Weg ins Exil entschieden, waren Giuseppe Antonio Borgese und Ignazio Silone. Ersterer hatte sich durch ein Buch aus dem Jahre 1938 einen Namen gemacht: Golia. La marcia del fascismo, wobei es sich nicht um einen erzählenden Text handelte, sondern um eine Mischung aus Allegorie und soziologisch-literarischer Analyse des Faschismus. Silone war damals eher durch sein politisches Engagement als durch seine Bücher bekannt, auch wenn er 1936 eine für den italienischen fuoriuscitismo einmalige Initiative ergriff, die G r ü n d u n g der »Nuove edizioni di Capolago« zur Förderung des antifaschistischen demokratischen italienischen Verlagswesens. 34 Während der zwanziger und dreißiger Jahre nahm Frankreich bis zum Kriegsausbruch eine Vormachtstellung als Exilland ein. Die italienische Emigration hatte dort in der Zeit zwischen den Weltkriegen zum stärksten aus-

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ländischen Bevölkerungsschub geführt, wobei vier Bewegungen erkennbar sind: die traditionelle Osmose durch die Alpen und die Provence, die Immigration von Bauarbeitern und Fabrikarbeitern infolge des Wiederaufbaus nach dem Ersten Weltkrieg sowie die Einwanderung im Rahmen der Wiederbevölkerung von Landstrichen im Südwesten, die bis dahin eine chronische Landflucht zu verzeichnen hatten. 35 Zu dieser wirtschaftlichen Emigration, in der sich traditionelle Aspekte nach Ende des Ersten Weltkriegs mit neuen wirtschaftlichen und sozialen Elementen verbanden, kamen nun die politischen Emigranten hinzu. Die sozialistische Partei, die ersten Kernzellen von GL und viele militante Kommunisten ließen sich in Frankreich nieder. In Paris wurde 1923 eine der wichtigsten Organisationen der Emigration gegründet: die italienische Menschenrechtsliga (LIDU), die sich ganz an das französische Modell anlehnte. Sie vereinte in sich sozialistische, republikanische und anarchische Strömungen und stellte einen wichtigen Bezugspunkt für Militante verschiedenster Ausrichtung dar. Die Aktivität der LIDU konzentrierte sich auf finanzielle Unterstützung, vor allem aber auf Hilfe bei der Arbeitssuche, beim Beantragen einer Aufenthaltsgenehmigung und bei juristisch-bürokratischen Problemen. Weiterhin förderte sie kulturelle Aktivitäten - die man anhand der in Frankreich veröffentlichten antifaschistischen Presse rekonstruieren kann —, indem sie Konferenzen, Diskussionsabende, Kurse und ähnliches veranstaltete. Nach 1929 bekam die Liga die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in Frankreich zu spüren, die sich unter anderem in begrenzteren finanziellen Mitteln äußerte. Wenn sie auch viele ihrer Aktivitäten einschränken mußte, so wuchs die Zahl der Sektionen doch von 30 im Jahr 1927 auf 125 im Jahr 1930, die sich hauptsächlich in den Gegenden mit der stärksten italienischen Präsenz befanden. 36 Angesichts der einleitend erwähnten Einflußnahme des Regimes auf die italienischen Gemeinden war die LIDU unter den Institutionen des italienischen fuoriuscitismo diejenige, die diese Gefahr am klarsten erkannt hatte und auch diejenige, die es schaffte, den Faschismus auf seinem »eigenen« Terrain zu bekämpfen, dem Verbands- und Vereinswesen. Sie nahm aktiv an vielen der politischen Initiativen jener Jahre teil und stellte nicht nur für Republikaner und die Mitglieder von GL, die auf keine eigenen Massenorganisationen bauen konnten, einen unverzichtbaren Bezugspunkt dar. Sie war außerdem ein wichtiger Partner bei den Verhandlungen um die Gründung der »Concentrazione antifascista«, die in Frankreich ins Leben gerufen wurde und sich dort auch am stärksten entwickelte, auch wenn es größere aktive Kerngruppen in anderen Asylländern gab, vor allem in der Schweiz. Mit dieser Konzentration fanden in Frankreich die wichtigsten politischen Entwicklungen statt, die über die Aktivitäten der einzelnen Parteien weit

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hinausgingen. Gerade hier spielte der italienische Antifaschismus eine wichtige Rolle bei den politischen Veränderungen der dreißiger Jahre. Viele emigrierte italienische Arbeiter nahmen an Streiks teil und organisierten sich i m m e r stärker gewerkschaftlich, so daß es zum ersten Mal so schien, als o b die faschistischen Konsulate ihre Vorherrschaft in den italienischen G e m e i n den verlieren würden. D i e Erfahrungen der Volksfront, die den H ö h e p u n k t dieser Phase der gewerkschaftlichen Organisation und Politisierung kennzeichneten, stellten außerdem ein wichtiges Beispiel für die sozialistischen und kommunistischen Parteien dar, indem sie klarmachten, welche konkreten Handlungsmöglichkeiten eine Einheitsaktion bieten könne. Die nazistische Besetzung Frankreichs markierte eine dramatische Zäsur in der Geschichte der antifaschistischen Emigration; ab Juni 1 9 4 0 m u ß t e n die Parteien und Gruppen, die dort ihre Zentralen und Organisationen aufgebaut hatten, zuerst in den Untergrund und dann in die Diaspora gehen, wodurch sämtliche Kontakt- und Beziehungsnetze zerrissen. Ägypten, G r o ß britannien, M e x i k o und Südamerika wurden nun zu neuen Zielen und Bezugspunkten der veränderten Exiltopographie. In vielen M e m o i r e n wird die Flucht von 1 9 4 0 als einer der schwierigsten und schmerzhaftesten M o mente geschildert. Vera Modigliani etwa schrieb: »Diese Zeit, in der du dich nicht ohne Passierschein bewegen kannst und der dir jedoch verweigert wird, auch wenn du krank bist und einen Arzt außerhalb des Ortes aufsuchen m ü ß test, in dem du wohnst. Diese Zeit, in der deine Korrespondenz, auch die harmloseste, zensiert wird. Diese Zeit, in der du als Eindringling betrachtet wirst, in der es auch nichts nützt, daß du dieselben N ö t e und E n t b e h r u n gen wie die anderen erleidest, dir aber das Visum verweigert wird, um Frankreich zu verlassen. U n d der Tag wird k o m m e n , in dem man als Antifaschist und Ausländer verbannt werden wird. ( . . . ) Das ist das Exil im Exil!« 3 7 Ein anderes wichtiges Emigrationsziel in Europa war Belgien, wo 1 9 2 0 fast 4 . 0 0 0 Italiener lebten, im Jahre 1 9 3 8 aber über 3 7 . 0 0 0 , die vor allem in den Bergwerken, Steinbrüchen und im Handel tätig waren. Was die Parteien betraf, so war es nur der P C I gelungen, eine Organisation von gewissem U m f a n g aufzubauen. D i e PSI hatte es demgegenüber, abgesehen von Brüssel, nirgendwo geschafft, ein Kontaktnetz herzustellen, das mit dem französischen vergleichbar gewesen wäre. D i e Mitglieder der P R I waren bis 1 9 3 8 lediglich über die Niederlassung der L I D U aktiv. Einzelne Persönlichkeiten der Volkspartei ließen sich hier nieder, aber insgesamt war die politische Emigration in Belgien eher unbedeutend. 3 8 In der Schweiz, dem traditionellen Asylland der politischen Emigranten im 19. Jahrhundert, fanden nur wenige Italiener Zuflucht. D i e Schweizer Regierung war tendenziell ungewillt, antifaschistische Exilanten aufzunehmen, da sie keine Probleme mit der italienischen Regierung haben wollte. Dementsprechend war es äußerst schwierig, Visa und Aufenthaltsgenehmi-

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gungen zu erhalten. Trotzdem haben einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der PRI, wie z u m Beispiel Schiavetti und Egidio Reale, und politisch isolierte, aber äußerst wichtige und aktive Emigranten wie Ignazio Silone lange Zeit hier gelebt. 3 9 In einigen der Städte mit den größten italienischen Gemeinden fanden wichtige Initiativen statt, und es existierte ein stark entwickeltes Vereins- und Verbandsleben. M a n denke hierbei an die »scuola popolare« in Zürich, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Kindern der italienischen Emigranten demokratische Werte zu vermitteln. Diese Schule wurde bald — nicht zuletzt dank der L I D U - z u m Bezugs- und Treffpunkt nicht nur für junge Leute, sondern auch für Erwachsene. 4 0 Das politische und organisatorische Gefüge der antifaschistischen Emigranten überstand hier die ersten drei Kriegsjahre ohne sichtbare Erschütterungen. Bei Kriegsausbruch wurde die Schweiz sogar zu einer Sicherheitszone, die den Antifaschisten jedoch einen klaren Preis abverlangte: als erstes die fast vollständige Isolation a u f g r u n d der nazi-faschistischen Belagerung an allen Grenzen und demzufolge die Unmöglichkeit, auch nur indirekt auf die Entwicklung der italienischen Situation einzuwirken oder aktiv an politischen Initiativen im In- und Ausland teilzunehmen. Die Schweiz bot den italienischen Antifaschisten zwar alle Vorteile eines freien internationalen Informationszugangs und die Möglichkeit, innerhalb eines demokratischen Rahmens tätig zu sein. Aber die Handlungsspielräume für politisch-kulturelle Aktivitäten wurden im Laufe der Zeit i m m e r mehr durch strenge Kontrollen von den eidgenössischen und kantonalen Behörden eingeschränkt, die sich auf die Einhaltung der Neutralität beriefen, u m Reibungen mit den Achsenmächten zu vermeiden und der von der Regierung gewählten neutralen Linie gegenüber den kriegführenden M ä c h t e n Glaubwürdigkeit zu verleihen. W e n n auch zuverlässige Daten über die Migrationsbewegungen fehlen, so kann doch festgestellt werden, d a ß die Vereinigten Staaten, Argentinien, Brasilien und - zahlenmäßig zwar unerheblich, politisch aber sehr bedeutend Mexiko zu den Anlaufstellen derer wurden, die Zuflucht und Rettung aus d e m besetzten Europa suchten. Die große Mehrheit der früheren italienischen Emigranten lebte in den Vereinigten Staaten seit mehr als zwanzig Jahren und bestand sozial aus einer relativ homogenen Arbeiterschicht. Der lange Auslandsaufenthalt und der W i l l e zur Integration bewirkten, d a ß viele die U S A als ihre tatsächliche neue H e i m a t betrachteten und nur geringes politisches Interesse für das Geschehen in Italien zeigten. Der Faschismus versuchte, auch hier seine Kontrolle auszuüben, und die relative Toleranz der amerikanischen Verwaltung gegenüber profaschistischen Organisationen und ihrer Presse erschwerte die antifaschistische Tätigkeit, deren Organisationen vor allem auf den amerikanischen und italo-amerikanischen Gewerkschaften aufbauten und somit einen Wirkungskreis erreichten, der weit über

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die eigentlichen Gemeinden hinausging. Parteiorganisationen waren hingegen fast inexistent und es gab keine herausragenden Führungspersönlichkeiten. Die nach der Machtübernahme Mussolinis in die USA ausgewanderten Antifaschisten waren zumeist Intellektuelle liberaler oder sozialistischer Gesinnung, wie zum Beispiel Gaetano Salvemini, Giuseppe Antonio Borgese und Max Ascoli. Die Organisationsversuche im Laufe der dreißiger Jahre waren zwar nicht besonders fruchtbar, obgleich nicht unbedeutend, denn die geographische Entfernung machte aus den USA keine realistische Basis für direkte Aktionen in Italien. Erst bei Kriegsausbruch entstanden gezielter strukturierte Aktivitäten, die in der Gründung der »Mazzini Society« gipfelten, auf die im folgenden noch näher eingegangen wird. 41 Im Gegensatz zu den USA hatte der Ausbruch des Krieges in den italienischen Gemeinden Südamerikas zahllose antifaschistische Initiativen entstehen lassen. Dies ist durch die Tatsache zu erklären, daß die italienische Emigration in Südamerika einen ganz anderen Verlauf genommen hatte als in den USA. Die Italiener hatten sich im Lauf der Jahrzehnte in die lokalen Gemeinschaften integriert und dort zum Teil sozial und wirtschaftlich bedeutende Positionen eingenommen, ohne jedoch ihre eigenen Wurzeln zu verlieren. Hinzu kam das politische Bewußtsein, das meist radikaler war, nicht zuletzt geprägt von den auf der italienischen Teilnahme an den Unabhängigkeitskämpfen der südamerikanischen Länder beruhenden Traditionen.

IV Ganz anders entwickelte sich die jüdische Emigration, die erst 1938 durch die antisemitische Gesetzgebung in Italien ausgelöst wurde. Nach den Angaben der »Demorazza«, einer dem Innenministerium zugeordneten Institution, die sich mit »rassischen« Fragen beschäftigte, hatten zwischen 1938 und 1941 circa 6.000 Juden das Land verlassen42, was etwa 13 Prozent aller italienischen Juden entsprach. Zumeist handelte es sich dabei um jüngere Menschen, die sich auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Tätigkeit befanden. Es war nicht einfach, in einem Europa Zuflucht zu finden, das immer mehr die Grenzen vor Immigranten verschloß. Frankreich stellte für die meisten nur ein Durchgangsland dar, war es doch inzwischen klar geworden, daß die Rettung nur außerhalb der europäischen Grenzen liegen konnte. Hauptziel waren die USA, wo sich etwa ein Drittel jener Gruppe niederließ; auch Argentinien und Brasilien wurden zu wichtigen Zufluchtsländern für italienische Juden, in geringerem Ausmaß auch Uruguay, Peru, Bolivien und Palästina.43 Diejenigen, die nach 1919 die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, mußten — nach dem Gesetz vom 7. September 1938 — Italien innerhalb von sechs Monaten verlassen. Einst auf der Suche nach Zuflucht,

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waren sie zumeist aus O s t e u r o p a nach Italien g e k o m m e n u n d m i ß t e n n u n erneut ins Exil gehen. 4 4 A u s der R ü c k s c h a u w u r d e dieser plötzliche Z w a n g zur Flucht zuweilen sarkastisch als »Segen« bezeichnet, d a er »jedes weitere H i n a u s z ö g e r n unsererseits unterband«, wie die Frau von A l e s s a n i r o Pekelis in ihren M e m o i r e n schrieb. 4 5 D e m an der Universität R o m lehrenden Rechtssoziologen Pekelis war die Staatsbürgerschaft entzogen w o r d e n , da er aus R u ß l a n d s t a m m t e . D i e Familie Pekelis (Alessandro, seine F r a u , drei kleine T ö c h t e r u n d beide G r o ß m ü t t e r ) b e g a n n also, fieberhafte Vorbere tungen zu treffen; die Reise führte sie zuerst nach Frankreich u n d d a n n — nich einem e r m ü d e n d e n K a m p f u m Ausweise, Fahrkarten u n d Einreisevisa - über S p a nien u n d Portugal in die U S A , wo sie im D e z e m b e r 1 9 4 0 ankamen. An der 1 9 3 3 unter d e m D a c h der N e w School for Social Research in New York gegründeten »University in Exile« bot sich für Pekelis der Einslieg in die amerikanische W i s s e n s c h a f t . 4 6 Für die Familien, in denen bereits ein Mitglied emigriert w a \ war der Schritt ins Exil zwar nicht leichter, aber z u m i n d e s t nicht ganz so b e f r e m d lich. D e r Heidelberger R o m a n i s t L e o n a r d o Olschki, einer der Söhne des bekannten Verlegers Leo O l s c h k i , der 1 9 3 3 aus D e u t s c h l a n d nach Italien zurückgekehrt war, begann 1 9 3 8 sofort, seine Abreise in die Vereinigten Staaten zu organisieren. Aus den Briefen jener M o n a t e an seinen Bruder A l d o geht hervor, wie b e d r ü c k e n d für ihn dieser Schritt war, den er aus M a n g e l an Alternativen vollziehen mußte: »Es ist also sehr wahrscheinlich, d a ß ich emigrieren werde: wie, wann, w o m i t u n d wohin weiß ich zwar noch nicht, aber ich fürchte, d a ß es unvermeidbar ist.« 4 7 D i e verworrenen bürokratischen Verfahren für die E m i g r a t i o n verschlimmerten die Warterei. » D i e verschiedenen k o m p e t e n t e n Stellen spielen sich die Unterlagen >au ralenti< zu u n d schicken mich von einer B e h ö r d e a u f die andere, was meist mit d e m Satz endet: > K o m m e n Sie d o c h in ein paar T a g e n wieder vorbei.< All dies mit geheuchelter Höflichkeit, hinter der sich ein G e n u ß an Verfolgung >ohne Blutvergiessen< verbirgt.« 4 8 Vielen der J u d e n , die seit G e n e r a t i o n e n in Italien lebten, fiel die Ents c h e i d u n g für die E m i g r a t i o n jedoch schwerer. Sie war, zumindest b e d i n g t , ein klassengebundenes P h ä n o m e n , d e n n nur wer die Mitte] hatte, k o n n t e ins Exil gehen. D e m e n t s p r e c h e n d hoch ist der Prozentsatz an Freiberuflern, Wissenschaftlern u n d Universitätsprofessoren, die Italien verließen. Diejenigen, die es schafften, einen Platz im a k a d e m i s c h e n Leben des Asyllandes e i n z u n e h m e n - wie z u m Beispiel der Physiker Enrico Fermi, d e m 1 9 3 8 der N o b e l p r e i s verliehen wurde, oder der Soziologe R e n a t o Treves 4 ' ; — bildeten eine privilegierte M i n d e r h e i t . D e r sozio-professionelle Status vieler E m i granten war ausgesprochen hoch, eine Charakteristik, die diese j ü d i s c h e E m i gration von der traditionellen unterschied u n d o f t m a l s eine mehr oder weniger dauerhafte D e k l a s s i e r u n g mit sich brachte. 5 0 Paolo Vita Finzi, ü b e r viele

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Jahre hinweg italienischer Konsul, zum Beispiel fand 1938 Asyl in Argentinien, wo er erfolglos versuchte, eine Buchhandlung zu eröffnen. Schließlich gelang es ihm eher durch Zufall, eine neue Karriere als Journalist aufzubauen, mit der er seine Familie ernähren konnte. 5 1 Es ist nahezu unmöglich, eine Gesamtübersicht über die verschiedenen Emigrations- und Lebenswege der Juden zu rekonstruieren. Die zur Verfügungstehenden Zeugenaussagen betreffen in erster Linie diejenigen, die aktiv das Regime bekämpft oder in einer privilegierten Situation gelebt hatten, und das waren eher Ausnahmefälle. 5 2 Wie kürzlich festgestellt wurde 5 3 , wäre es interessant zu untersuchen, welche Beziehungen zwischen der jüdisch-italienischen Diaspora und dem bereits seit vielen Jahren existierenden antifaschistischen Exil bestanden und wie die jüdischen Emigranten, die bis dahin mehr oder weniger fügsam das Regime erduldet hatten, von den politisch motivierten Schicksalsgenossen a u f g e n o m m e n wurden. 5 4 Ein kleiner, im Vergleich zu den jüdischen Remigranten in andere europäische Länder jedoch überproportional hoher Teil der italienischen Flüchtlinge kehrte nach Kriegsende zurück; für die Mehrheit hingegen war der Abschied endgültig, die Wunden waren zu tief gewesen, um verheilen zu können. Im Januar 1945 schrieb Elvira Olschki an ihren Bruder Aldo aus Argentinien: »Ich gehe davon aus, meine Tage hier zu beenden. Europa zieht mich nicht mehr an. Ich habe es zu sehr geliebt, als daß ich nun in Erwäg u n g ziehen könnte, seinen Untergang zu begutachten.« 5 5

V Für eine Darstellung der Exilsituation nach Ausbruch des Krieges erscheint es sinnvoll, sich auf das »Emigrationslaboratorium« Frankreich zu konzentrieren. Klarer als anderswo wird hier die Verbindung deutlich zwischen den antifaschistischen Aktivitäten der emigrierten Parteivorstände und d e m generellen Kontext der italienischen Emigration. D a s politische Modell Frankreichs übte vor allem in den dreißiger Jahren großen Einfluß auf die theoretischen Auseinandersetzungen und die politische Praxis der italienischen Parteien aus. Dies gilt besonders für die sozialistische Partei. Zwischen 1926 und 1927 begannen die beiden sozialistischen Parteien und die Republikaner, sich im Ausland neuzuorganisieren. Seitens der L I D U , die stärker als die politischen Parteien auf Zusammenarbeit angewiesen war, wurde Ende 1926 der Vorschlag gemacht, eine einheitliche Organisation der Emigrationskräfte zu schaffen, und so wurde im Frühling des folgenden Jahres die »Concentrazione antifascista« ins Leben gerufen. Ihr Ziel war es, den Zusammenschluß der antifaschistischen italienischen Kräfte im Ausland zu fördern. Z u diesem Zweck wurden in den größten Immigrationszentren Sek-

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tionen gegründet und ein eigenes Presseorgan geschaffen, La Libertà, das von Mai 1927 bis 1934 erschien. D a s Programm der »Concentrazione«, das den einzelnen Parteien völlige Freiheit ließ, hatte zu Beginn typisch aventinische Charakteristiken. An erster Stelle standen die Uberzeugung, daß der Faschismus an seinen eigenen internen Widersprüchen scheitern würde, sowie eine antikommunistische Haltung. N a c h Abschluß der Lateranverträge im Jahre 1929 kam dazu noch eine klare Absage an die katholischen Kräfte. Vorgesehen war jedoch nicht, den K a m p f in Italien selbst auszutragen, um die bestehende Unzufriedenheit der Bevölkerung in eine bewußte Opposition umzuwandeln. So blieb der politischen Emigration nur die Aufgabe, den Untergrundkämpfern die notwendige politisch-organisatorische Infrastruktur von außen zu garantieren. D a s antifaschistische Engagement reduzierte sich so auf ein starres Festhalten an den Strukturen und Traditionen der Parteien im Ausland, darauf, die internationale öffentliche M e i n u n g aufzuklären, und auf die kontinuierliche und nicht näher definierte Vorbereitung aller Kräfte zum Aufstand, in der H o f f n u n g , den Niedergang des Faschismus beschleunigen zu können. Bei einigen der führenden Politiker in der »Concentrazione antifascista« führte das dazu, die antifaschistische Aktion mit propagandistischer und publizistischer Tätigkeit gleichzusetzen. La Libertà spiegelte diese Uberzeugungen wider; ihr größtes H a n d i k a p lag darin, fast nur von politischen Emigranten geschrieben zu werden, ohne jedoch konkrete taktische oder strategische Vorschläge zur B e k ä m p f u n g des Faschismus in Italien zu machen. Außerdem war die Zeitschrift in Italienisch verfaßt und daher der französischen Leserschaft nicht zugänglich. Daraus entstanden Unruhen innerhalb der »Concentrazione«, die sich um G L gruppierten, eine Organisation die, wie bereits erwähnt, 1929 in Paris gegründet worden war. D a s verbindende Element für alle »Unzufriedenen« war das Bedürfnis nach konkreten Aktionen, nach einer Initiative, die die abwartende Haltung der aventinischen politischen Kräfte überwand. Eine »beispielhafte Geste« schien ihnen wirkungsvoller als tausend Zeitungen und Debatten, u m die Italiener z u m Widerstand anzustacheln. D a s gesetzestreue Wohlverhalten der Liberalen, die schrittweisen Reformen der Sozialisten, die vermeintlich beruhigenden positivistischen Aussagen der Progressiven - all dies schienen nun überholte politische Instrumente im K a m p f gegen den Faschismus zu sein. In der ersten Phase nach der G r ü n d u n g zeichnete sich G L durch halsbrecherische Unternehmungen in Italien aus, die zwar hohen propagandistischen Wert hatten, aber gleichzeitig zu zahllosen Verhaftungen und zu einer immer stärkeren Repression seitens der Polizei führten. Auch die in Italien aktiven sozialistischen G r u p p e n verspürten immer stärker das Bedürfnis nach strukturierteren Aktionen. Der erneute Z u s a m m e n schluß der zwei sozialistischen Hauptströmungen ist ein Beweis für dieses

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neue Selbstverständnis. 1931 wurde in Paris ein Abkommen unterzeichnet, in dem man G L als »einheitliche Bewegung der revolutionären Aktion in Italien« anerkannte. Im November desselben Jahres trat G L der »Concentrazione« bei, wenn auch mit kritischen Vorbehalten und ohne die Voraussetzungen für eine wirklich organische Zusammenarbeit. Im Laufe der folgenden zwei Jahre fand ein politischer und ideologischer Reifungsprozeß innerhalb der einzelnen Parteien statt, so daß die Aufgabe der alten »Concentrazione« sich letztendlich auf die Herausgabe von La Libertà beschränkte. Das Jahr 1933 stellte durch die Machtübernahme Hitlers, die Verschiebung des internationalen Gleichgewichts und die Expansion des Faschismus einen völligen Umbruch dar, der auch die antifaschistischen italienischen Parteien tief prägte. In Italien verspürte die PSI zu jener Zeit ein wachsendes Bedürfnis nach einer von G L unabhängigen Politik, waren doch zum Beispiel ihre Auffassungen vom illegalen Kampf zunehmend unvereinbar. Im Mai 1934 wurde die »Concentrazione« aufgelöst, denn die Umstände zwangen zu neuen politischen Entscheidungen. Die sozialistische Partei war diejenige, die sich in diesen Jahren am tiefgreifendsten erneuerte. Im Sommer 1934 bildete sich in Italien das »Centro socialista interno«, das endgültig die Ablösung von G L sanktionierte; im Ausland wurden — vor allem durch das Engagement von Pietro Nenni — die Voraussetzungen für eine Annäherung an die kommunistische Partei geschaffen. Nenni war sich der epocheprägenden und internationalen Dimension des Faschismus durchaus bewußt. Sein Bestreben war es, der PSI eine aktive Rolle in dem Kampf zukommen zu lassen, durch den ein politischer, ideeller und diplomatischer Schutzdamm gegen die Legitimitätsansprüche und die Expansionspolitik der reaktionären Regimes errichtet werden sollte. Der Wiederaufbau einer sozialistischen Parteiorganisation in Italien erschien ihm notwendig, um die Wende zu bestärken, die durch die Auflösung der »Concentrazione antifascista« im Ausland eingeleitet worden war. In erster Linie sollte die Partei dadurch wieder zu einem legitimen Repräsentanten des aktiven italienischen Antifaschismus werden, ihr Schwerpunkt sollte jedoch weiterhin im Ausland liegen, denn auf dem Gebiet der internationalen Politik konnte die PSI mit der nötigen Bewegungsfreiheit ihre Aktivitäten am besten entfalten. Die kommunistischen Antifaschisten wurden vor allem von den französischen Ereignissen beeinflußt. Nach schweren Unruhen im Februar 1934, der Unterzeichnung des Einheitsaktions-Pakts zwischen KPF und S F I O und den Beschlüssen des VII. Kongresses der KI, schlug auch die PCI der PSI vor, Verhandlungen für gemeinsame Initiativen einzuleiten. So wurde am 3 1 . Juli 1935 ein Manifest unterzeichnet, in dem man Mussolini wegen der Entsendung von Truppen an den Brenner anklagte. Der Einheitsaktions-Pakt wurde am 17. August unterzeichnet. Er beschränkte sich auf einige unmit-

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telbare Kampfziele, da die PCI von Anfang an abgelehnt hatte, daß generelle politische oder ideologische Fragen zur Diskussion gestellt würden. Die Einheitsaktion wurde zu einem wichtigen Kernpunkt der sozialistischen Politik, nicht zuletzt, weil damit D y n a m i k in die Parteiaktionen kam. Gleichzeitig g e w a n n die PSI innerhalb der SAI an Gewicht a u f g r u n d der aktiven Rolle der italienischen Sozialisten in der politischen Auseinandersetzung, die durch die Einheitsaktion auf internationaler Ebene ausgelöst worden war. Die Verschiebung des europäischen Kräfteverhältnisses und die ungezügelte Aggressivität der faschistischen Regimes vom Rheinland bis nach Äthiopien führte dazu, daß die Sozialisten einige ihrer Kerngrundsätze wie z u m Beispiel Abrüstung und Pazifismus neu überdachten. Anläßlich des spanischen Bürgerkriegs fand dann eine endgültige Revision der traditionellen H a l t u n g z u m T h e m a »Krieg« statt; es setzte sich nun definitiv die Uberzeug u n g durch, d a ß für den W i d e r s t a n d ganz gezielte Instrumente und Mittel nötig waren, und keine - u m Nenni zu zitieren - »Friedenshymnen«. Bei der Teilnahme italienischer Antifaschisten am Krieg in Spanien ging es nicht nur d a r u m , der spanischen Republik durch militärischen und materiellen Beistand Solidarität zu bezeugen. Die Kämpfe in Spanien hatten auch eine tiefe symbolische Bedeutung, weil sie eine Kampfbereitschaft und Vitalität dokumentierten, die durch die langen Jahre im Exil und die innenpolitischen wie internationalen Erfolge Mussolinis zermürbt worden waren. 5 6 Der Bürgerkrieg bot die Gelegenheit, die eigene moralische Überlegenheit in militärische Kampfbereitschaft umzusetzen — ein Bereich, der bislang als D o m ä n e der Faschisten gegolten hatte. Carlo Rosselli gehörte zu denen, die diesen Sachverhalt am schnellsten erfaßt hatten; so war es kein Zufall, d a ß er als erster unter den Führungspersönlichkeiten der italienischen Emigration z u m Einsatz in Spanien aufrief: »Das Italien von Amendola, Matteotti und Gobetti hat nun endlich zur Aktion gefunden. Eine wichtige Tatsache, Antifaschisten. Die Propheten sind nun nicht mehr unbewaffnet. U n d die N a c h k o m m e n der Propheten sind, mit dem Gewehr in der H a n d , zu einem neuen Bewußtsein gelangt.« 5 7 Eine der unmittelbarsten Auswirkungen der spanischen Ereignisse war die engere Zusammenarbeit unter den verschiedenen antifaschistischen Kräften in Italien. Innerhalb der Internationalen Brigaden, die fast ausschließlich durch politische Initiativen der internationalen kommunistischen Bewegung entstanden waren, zeichnete sich das Bataillon Garibaldi der italienischen Antifaschisten durch einen besonders einheitlichen Charakter aus, was auch nicht zuletzt daran zu erkennen war, d a ß die militärische Führung des Bataillons d e m Republikaner Randolfo Pacciardi übertragen worden war. Die Tatsache, d a ß darüber hinaus die beiden Arbeiterinternationalen zwei Italiener als ihre offiziellen Repräsentanten in Spanien gewählt hatten, belegt die enge V e r b i n d u n g zwischen der italienischen Emigration und d e m spanischen

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Kampf. Zudem veranlaßten die Ereignisse in Spanien Togliatti, sich mit dem Thema der »neuen Demokratie« auseinanderzusetzen, während sich bei Nenni die Uberzeugung verstärkte, daß das politische Einverständnis zwischen Sozialisten und Kommunisten für die Konsolidierung der Demokratie ebenso entscheidend war wie für den weiteren Fortschritt der Arbeiterbewegung. Diese enthusiastische Mobilisierung und die einheitliche Reaktion der italienischen Antifaschisten auf den spanischen Bürgerkrieg gipfelten im Frühjahr 1937 in der symbolträchtigen Schlacht von Guadalajara, wo das Bataillon Garibaldi die von Mussolini zur Unterstützung der Franco-Rebellen entsandten Truppen besiegte. Nach den »Mai-Ereignissen« 1937 in Barcelona begann im Sommer jedoch eine immer stärkere Repression, als der Kommunist Juan Negrin anstelle des Sozialisten Largo Caballero an die Spitze der republikanischen Regierung trat. Damit begann eine Phase voller Unruhen und Spannungen, die auch an der italienischen Emigration nicht spurlos vorüberging. Die zunehmenden Konflikte unter den spanischen Antifaschisten, besonders die zwischen den immer mächtiger werdenden Kommunisten und den Anarchisten, einigen Fraktionen der sozialistischen Partei und den Republikanern, veränderten die Haltung zumindest eines Teils der italienischen Antifaschisten. Die Ereignisse in Spanien wurden nun anders interpretiert: sie lieferten nicht länger den unanzweifelbaren Beweis für die Notwendigkeit und den Sinn einer einheitlichen antifaschistischen Politik, sondern dienten dazu, die Zusammenarbeit mit den Kommunisten im Rahmen der italienischen Emigration in Frage zu stellen. Nach ersten Verfolgungen von Republikanern durch die Kommunisten und sowjetische GPU-Agenten verschärfte sich in der PSI die Diskussion über die Rolle und die Natur der kommunistischen Parteien und der UdSSR, auch wenn man noch versuchte — das galt besonders für Pietro Nenni —, das Urteil über das sowjetische Regime und die zu der Zeit in Moskau stattfindenden Schauprozesse von dem Urteil über die Rolle der kommunistischen Bewegung im antifaschistischen Kampf zu trennen. Gerade die Ereignisse in Spanien überzeugten Nenni von der Notwendigkeit politischer Einheit, aber diese Überlegungen gingen einher mit einer wachsenden Verschlechterung der Kontakte zwischen den beiden Parteien, und so wurde der spanische Bürgerkrieg zur einzigen ideellen Rechtfertigung des einheitlichen Gedankens. Die spanischen Vorgänge wirkten sich auch auf die Gründung der »unione popolare italiana« (UPI) aus, die von der PCI im März 1937 in Lyon initiiert worden war. Auch die Sozialisten nahmen mit einer kleinen Abordnung daran teil, und diese Zusammenarbeit verstärkte alsbald das gegenseitige Mißtrauen. Absicht war es, eine Massenorganisation ins Leben zu rufen, die die bestehende Kluft zwischen den führenden Persönlichkeiten des fuoriuscitismo und den mehr als 7 0 0 . 0 0 0 italienischen Emigranten überwinden

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sollte. Die UPI war das »ehrgeizigste und gelungenste Projekt, das die Aktionen der politisch motivierten Emigranten mit der großen Masse der Immigranten in Frankreich zusammenschweißte.« 58 Ihr Hauptziel bestand im Zusammenschluß aller italienischen Immigranten, ungeachtet der verschiedenen Parteitendenzen, und zu diesem Zweck dehnte sie ihre Zielgruppe auch über die antifaschistische Grenze hinaus aus und wandte sich an alle fried- und fortschrittsliebenden Italiener. Es existierten eine ganze Reihe von Nebenorganisationen, und vor Kriegsausbruch wurden 50.000 Mitglieder in 700 Sektionen gezählt. In einigen Gebieten Frankreichs schaffte sie es, die politischen Aktionen mit Freizeitinitiativen und Veranstaltungen zu verbinden (»Casa degli italiani«, Theatervereine etc.), die dem Sozialisationsbedürfnis der Emigranten entgegenkamen. La voce degli italiani, ihre Tageszeitung, spiegelte in der Aufmachung diese Haltung wider. Dadurch begab sich die UPI in offene Konkurrenz zu den Konsulaten und faschistischen Auslandsorganisationen, die bislang das Monopol für solche Aktivitäten beansprucht hatten. Beweis für den Erfolg der UPI in einigen Gebieten Frankreichs waren die nach Rom gesandten Berichte der faschistischen Funktionäre, in denen mit Besorgnis über diese neueste Entwicklung gesprochen wurde. Ihre Struktur und die organisatorischen Voraussetzungen - das gilt auch für die LIDU und ganz generell für jede Gruppe und Vereinigung im Exil geben keine Auskunft, wie groß das tatsächliche Echo des politischen fuoriuscitismo bei der breiten Masse der italienischen Emigranten war. Nach Zählungen im Jahre 1936 befanden sich 720.000 Italiener in Frankreich. Lediglich ein geringer Anteil unter ihnen, zwischen 2 und 2,5 Prozent der Arbeiter, war Mitglied in einer politischen Organisation. Das entsprach einer Zahl von etwa 15.000 Personen, und selbst wenn man das Doppelte oder Dreifache an Sympathisanten hinzuzählt, so bleibt doch ein enormer Unterschied zu den 130.000 italienischen Arbeitnehmern, die dem Aufruf der Volksfront gefolgt und massenweise der CGT beigetreten waren. Das belegt, daß sich ab Mitte der dreißiger Jahre eine immer größere Anzahl von italienischen Emigranten der faschistischen Einflußnahme entzogen und ihre Integration in die französische Demokratie und Gesellschaft ohne die Vermittlung der antifaschistischen politischen Emigranten vollzogen. Generell kann also eine distanzierte Haltung zu den Kämpfen der italienischen Politik konstatiert werden. Dies wurde besonders klar in den Tagen nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis. Unter den Exilparteien begann eine heftige Debatte darüber, welchen Beitrag man in einem Konflikt leisten könne, der nun unvermeidbar erschien. Während in den antifaschistischen Parteien noch diskutiert wurde, begaben sich die Immigranten massenweise in die Präfekturen und Kommissariate, um ihre Loyalität zu bekunden und ihre Bereitschaft, sich einziehen zu lassen oder beim

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Zivilschutz mitzuwirken. Dies geschah einerseits aus einem ehrlichen Bedürfnis der Solidarität ihren französischen Mitbürgern gegenüber, andererseits aber auch aus Furcht vor möglichen Repressionen. D i e Masse der italo-französischen Kolonie zeigte also, daß sie sich inzwischen eher in eine Interessen- und Gefühlsgemeinschaft mit dem französischen Volk eingebunden fühlte. 5 9

VI M i t der Besetzung Europas durch die Nazis nahmen auch die Verhaftungen, Internierungen und Deportationen von Führungspersönlichkeiten des italienischen Antifaschismus zu. Dadurch verlagerten sich nicht nur die Asylländer, sondern auch die F o r m e n politischer Aktion. In den Vereinigten Staaten wurde die »Mazzini Society« besonders aktiv, in vielen Ländern Südamerikas eine Gesellschaft mit dem N a m e n »Italia Libera«. Beide setzten sich aus heterogenen Gruppen zusammen, die meist liberal-demokratisch orientiert waren mit sozialistischen Elementen, welche sich jedoch in der M i n derheit befanden. In Mexiko - dem einzigen Land des amerikanischen K o n tinents, wo die K o m m u n i s t e n während des Krieges aktiv an der Politik teilnehmen konnten — wurde die »Associazione Giuseppe Garibaldi« von K o m m u n i s t e n und Sozialisten gegründet, die unter dem Gesichtspunkt des politischen Gleichgewichts eine Allianz vorwegnahm, die sich kurz darauf im Widerstand bewähren sollte. 6 0 D i e »Mazzini Society«, gegründet 1 9 3 9 , wollte die Amerikaner über die Vorgänge im faschistischen Italien aufklären, den politischen Flüchtlingen Beistand leisten, die emigrierten italienischen Intellektuellen in Kontakt bringen mit den Kollegen in Amerika und sich generell um die kulturellen Aktivitäten in der italo-amerikanischen Gemeinschaft k ü m m e r n . In den ersten M o n a t e n des Jahres 1 9 4 0 war die Gesellschaft kaum aktiv; das änderte sich jedoch vor allem durch das Engagement zweier M ä n n e r : G r a f Carlo Sforza, Außenminister in den Jahren 1 9 2 0 / 2 1 , der auf geschickte Weise verstand, diplomatische Beziehungen zur amerikanischen Regierung zu knüpfen, und Alberto Tarchiani, dem Sekretär der Gesellschaft. So wurde aus einem ursprünglich kleinen akademischen Kreis eine Gruppe, die politischen Einfluß ausübte und einen Brennpunkt für alle antifaschistischen Kräfte der Emigration darstellte. Eine ihrer größten Anstrengungen konzentrierte sich darauf, die Unterstützung der Gewerkschaften zu gewinnen, einerseits, um a u f deren finanzielle Hilfen zurückgreifen zu k ö n n e n , andererseits, u m K o n takte zu breiteren antifaschistischen Kreisen aufzubauen. Vor allem durch Massendemonstrationen versuchte die »Mazzini Society«, die weitere Bevölkerung anzusprechen, wofür sie ab Februar 1 9 4 1 auch ein eigenes w ö c h e n t -

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liches Presseorgan, die englischsprachigen Mazzini News, herausgab. 6 1 Alle diese Aktivitäten zeitigten Früchte, so daß 1941 bereits 50 Sektionen in den U S A gezählt werden konnten. N a c h d e m die Vereinigten Staaten in den Krieg eingetreten waren, änderte die Gesellschaft ihre politische Strategie und verband nun die demokratischen Ideale der U S A mit einer leicht modifizierten Sicht der italienischen Probleme. A b M ä r z 1942 erschien die neue Wochenzeitschrift Nazioni Unite, ein — wie man dem Leitartikel der ersten N u m m e r entnehmen konnte emblematischer Titel, der der »Vision der universellen Brüderlichkeit aller freien Völker« Ausdruck verleihen wollte. D a m i t sollte sich das italienische Volk an das Schicksal der Alliierten gebunden fühlen — ein nicht mißzuverstehender Appell an die Landsleute in Italien, die Fronten des Krieges zu wechseln und damit den Faschismus zu überwinden. Zugleich fanden Verhandlungen mit den antifaschistischen G r u p p e n von »Italia Libera« statt, der 1940 in Buenos Aires gegründeten Gesellschaft, die nach und nach in vielen Ländern wie zum Beispiel Peru, Bolivien, Brasilien und Chile Fuß gefaßt hatte. Im großen und ganzen stimmte »Italia Libera« zwar mit den diplomatischen Plänen des Grafen Sforza und den Leitlinien der »Mazzini Society« überein, doch der Mangel an eigenen politischen Führern, der fehlende Kontakt zum italienischen Alltag und die Unmöglichkeit, die Entscheidungen der Alliierten zu beeinflussen, schwächten ihre politischen Visionen und verstärkten die Abhängigkeit von der »Mazzini Society«, wie das auf dem Kongreß von Montevideo im August 1942 verabschiedete Prog r a m m dokumentiert. Insgesamt blieben alle diese Initiativen ohne nennenswerte Wirkung, nachdem Ende 1942/Anfang 1943 die Westalliierten auch Italien in ihre in Casablanca formulierte Forderung nach einer »bedingungslosen Kapitulation« eingeschlossen hatten. Unter solchen Voraussetzungen war der antifaschistischen Arbeit in Amerika der Boden entzogen und es wurde klar, daß der politische K a m p f nun auf italienischem Boden stattfinden müsse. A m 25. Juli 1943 stürzte Mussolinis Regierung und am 8. September unterzeichnete General Badoglio den Waffenstillstand. Für viele J u d e n in den nunmehr von den deutschen Truppen besetzten norditalienischen Landesteilen begann erst jetzt ein verzweifelter Exodus, viele versuchten in die Schweiz zu gelangen, häufig genug wurden sie jedoch an der Grenze abgewiesen. 6 2 In den beiden Jahren bis zum Kriegsende blieb die Schweiz immerhin das einzige L a n d Europas, in d e m die bereits zuvor dorthin geflohenen italienischen Emigranten eine gewisse politische Aktivität entfalten konnten. 6 3 Der entscheidende K a m p f gegen den Faschismus und Nazismus fand nun auf italienischem Boden statt. Viele Emigranten kehrten unter oft abenteuerlichen Umständen nach Italien zurück, u m so zur Befreiung des Landes beizutragen. 6 4 Hierbei fällt es schwer, zwischen denen zu unterscheiden, die

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aus dem Ausland zurückkehrten, und jenen, die aus Gefängnissen und dem Untergrund kamen. Fest steht, daß diejenigen, die aktiv im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten, den italienischen Widerstand durch wichtige mehr politische denn militärische - Erfahrungen bereicherten. Die PSI profitierte zahlenmäßig am stärksten von den zurückkehrenden Emigranten, da ihre Strukturen innerhalb des Landes fast vollständig zerstört worden waren; in der PCI u n d in G L war hingegen ein größeres Gleichgewicht zwischen Rückkehrern und einheimischem Widerstand vorhanden. 6 5 An dieser Stelle soll nicht erneut die in Italien umstrittene Frage aufgegriffen werden, wie groß der Beitrag der alliierten Mächte zur Befreiung Italiens im Vergleich zu dem des bewaffneten Widerstands war. Fest steht allerdings, daß für das kollektive Bewußtsein von großer Bedeutung war, in welchem Ausmaß Italiener selbst zur Befreiung des eigenen Landes beigetragen haben. Nach Kriegsende war es in den verschiedenen Parteien unerheblich, welche Rolle der einzelne während des Faschismus gespielt hatte; vielen herausragenden Persönlichkeiten der antifaschistischen Emigration gelang es aber, bei der Wiederaufnahme des politischen Lebens eine herausragende Rolle einzunehmen: Pietro Nenni, Palmiro Togliatti, Emilio Lussu, Randolfo Pacciardi und Carlo Sforza wurden Minister in verschiedenen Regierungen der Nachkriegszeit; Giorgio Amendola und Alberto Cianca Staatssekretäre; Giuseppe Saragat wurde Präsident der konstituierenden Generalversammlung und danach auch Staatspräsident. Aus dem Italienischen von Marion Schiffner

1 Ercole Sori: L'emigrazione italiana dall'unità alla seconda guerra mondiale. Bologna 1 9 7 9 . — 2 Franco Ramella: »Biografia di un operaio antifascista: ipotesi per una storia sociale dell' emigrazione politica«. In: Pierre Milza (Hg.): Les italiens en France de 1914 à ¡940. Roma 1986, S. 3 8 5 - 4 0 6 . — 3 Enzo Santarelli: »Intorno ai fasci italiani all'estero«. In: Fascismo e neofascismo. Studi e problemi di ricerca. Roma 1974, S. 1 1 3 - 133; Dario Fabiano: »1 fasci italiani all'estero«. In: Bruno Bezza (Hg.): Gli italiani fuori d'Italia. Milano 1983, S . 2 2 1 - 2 3 6 . — 4 M i m m o Franzinelli: I tentacoli dell'OVRA. Agenti, collaboratori e vittime della polizia politica fascista. Torino 1999. — 5 G u i d o Quazza (Hg.): Storiografìa e fascismo. Milano 1985. — 6 Simona Colarizi: »Problemi storiografici sul fuoriuscitismo e sull'antifascismo socialista all'estero«. In: Istituto socialista di studi storici (Hg.): L'emigrazione socialista nella lotta contro il fascismo (1926-1939). Firenze 1983, S. 1 - 1 2 . — 7 Aldo Garosci: Storia dei fuoriusciti. Bari 1953; vgl. auch Charles Delzell: / nemici di Mussolini. Torino 1966. — 8 Leonardo Rapone: Da Turati a Nenni. Il socialismo italiano negli anni del fascismo. Milano 1992. — 9 Bruno Tobia: »1 socialisti nell'emigrazione. Dalla concentrazione antifascista ai fronti popolari«. In: Storia del socialismo italiano. Roma 1981, S. 1 — 175; Leonardo Rapone: »L'età dei fronti popolari e la guerra«, ebd., S. 1 7 7 - 4 1 1 ; David Bidussa: »La >svolta< del PSI. 1 9 3 3 - 1 9 3 4 « . In: Società e stona 9. Jg. (1986), Nr. 34, S. 381 - 4 0 7 . — 10 Santi Fedele: /

Emigration aus dem faschistischen Italien 1922 bis 1943

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repubblicani in esilio nella lotta contro il fascismo (1926-1940). Firenze 1989; Elisa Signori: »Repubblicani e giellisti in Francia tra guerra di Spagna e Resistenza«. In: Gianni Perona (Hg.): Gli italiani in Francia 1938-1946. Milano 1993, S. 1 3 9 - 1 7 8 . — 11 Giustizia e libertà nella lotta antifascista e nella storia d'Italia. Attualità dei fratelli Rosselli a quarantanni dal loro sacrificio. Firenze 1978. — 12 Teresa Noce: Rivoluzionaria professionale. Milano 1975; Stefano Schiapparelli: Ricordi di un fuoriuscito. Milano 1971; Giulio Cerretti: Con Togliatti e Thorez. Quarantanni di lotte politiche. Milano 1973; Mario Montagnana: Ricordi di un operaio torinese. Roma 1952. — 13 Loris Castellani: »L'émigration communiste italienne en France 1921 - 1 9 2 8 . Organisation et politique«. In: Fondazione istituto Gramsci. Annali. Jg. 3 (1991), S. 3 9 3 - 6 3 9 . — 14 Giuseppe Gaddi: Ogni giorno tutti i giorni. Milano 1969, S. 55. — 15 Pierre Milza: »L'immigration italienne en France d'une guerre à l'autre: interrogations, directions de recherche et premier bilan«. In: Ders. (Hg.): Les italiens en France de 1914 à 1940 (s. Anm. 2), S. 1 - 4 2 . — 16 Pierre Milza/Denis Peschanski (Hg.): Exil et migration. Italiens et espagnols en France 1938-1946. Paris 1994. — 17 Antonio Varsori: Gli alleati e l'emigrazione democratica antifascista (1940-1943). Firenze 1982. — 18 Alessandra Dada: »La stampa anarchica«. In: Antonio Varsori (Hg.): Antifascismo italiano in USA. Roma 1983, S. 3 4 9 - 3 7 0 . — 19 Anne Morelli: Fascismo e antifascismo nell'emigrazione italiana in Belgio (1922—1940). Roma 1987; Giorgio Cresciani: Fascismo, antifascismo e gli italiani in Australia 1927-1939. Roma 1979; Pietro Rinaldo Fanesi: Verso l'altra Italia. Albano Corneli e l'esilio antifascista in Argentina. Milano 1991. — 20 Elisa Signori: La Svizzera e i fuoriusciti italiani. Aspetti e problemi dell'emigrazione politica italiana 1943-1945. Milano 1983; Renata Broggini: Terra d'asilo. Irifugiati italiani in Svizzera 1943-1945. Bologna 1993; Renata Broggini: La frontiera della speranza. Gli ebrei dall'Italia verso la Svizzera 1943-1945. Milano 1998. — 21 A C S / C d e i / C e n t r o studi Pietro Gobetti/Istituto italiano di cultura (Hg.): L'Italia in esilio. L'emigrazione in Francia fra le due guerre. Roma 1993. — 22 Adriano Dal Pont / Adriano Leonetti/Massimo Massara: Giornali fuori legge. La stampa clandestina antifascista 19221943. Roma 1964. — 2 3 Massimo Legnani: »La stampa antifascista«. In: Nicola "Iranfaglia/ Paolo Murialdi/Massimo Legnani: La stampa italiana nell'età fascista. Bari 1980, S. 2 5 9 - 3 6 6 . — 2 4 Bruno Tobia: Scrivere contro. Ortodossi ed eretici nella stampa antifascista dell'esilio 1926—1934. Roma 1993; vgl. auch Nanda Torcellan: »L'antifascismo negli Usa: >il mondoedingungen als auch in den politischen Zielen u n d Ansichten über den zukiünftigen Charakter des Staates. Einige davon haben wir bereits beschrieben, aidere seien hier noch kurz erwähnt. Z u m zentralen Konfliktstoff der einzenen Generationen in der Emigration gehörte die Gestaltung der tscheechisch-slowakischen Beziehungen. Sie wurde weitaus intensiver von den slow/akiscten als unter den tschechischen Exilanten diskutiert, mit Aus-

Tschechische politische E m i g r a n t e n 1938, 1939, 1948 u n d 1968

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nähme der Anhänger von General Prchala während der zweiten und von B. C h u d o b a während der dritten Emigrationswelle. In der ersten Welle war demgegenüber noch die Begeisterung für die Bildung des neuen gemeinsamen Staates bei beiden Volksgruppen vorherrschend gewesen. Während des Zweiten Weltkriegs war die Lage verwickelter geworden, worin sich auch die frühere tschechische Nationalitätenpolitik in der Zwischenkriegszeit widerspiegelte. Ein Teil des slowakischen Exils forderte die slowakische Autonomie im Rahmen des Einheitsstaates. Ein Teil der slowakischen Emigranten, die in der dritten Welle von 1948 ins Ausland gingen, propagierte dann die vollständige Trennung. Sie hatten nach Ende des Krieges unter dem Druck der slowakischen Volkspartei gestanden, die die Position des slowakischen Separatismus bezog." Bei der vierten Welle der slowakischen Emigration, als in der Tschechoslowakei schon über die Föderalisierung des Staates entschieden worden war, konnte man die Verfechter eines zentralistischen Staatsaufbaus dagegen an den Fingern einer H a n d abzählen. Durch die Bildung des Weltkongresses der Slowaken wiederum wurde unter ihnen auch die Zahl der Verteidiger der tschechoslowakischen Einheit geringer, obwohl diese immer noch in der Mehrheit waren. Sogar nach dem Zerfall des tschechisch-slowakischen Staates gibt es noch diese Verfechter unter den slowakischen Landsleuten im Ausland, von denen die meisten in den einheitlichen tschechisch-slowakischen Vereinen u n d Organisationen blieben. 12 Die Ansichten über die künftige demokratische Herrschaft in der Tschechoslowakei differierten in den unterschiedlichen Exilen ebenfalls. Dabei hielt man das eigene Fluchtmilieu schon per se für demokratisch, oder m a n orientierte sich an der demokratischen Kultur der Länder, in denen man aufgenommen worden war. Vor allem war das für das erste u n d zweite Exil typisch. Im ersten ging es zum ersten- und letztenmal noch u m die Frage der Monarchie oder der Republik, die dann mit dem Z u s a m m e n b r u c h der Kaiserreiche 1918 entschieden wurde. Im zweiten Exil waren die Probleme schon ein wenig komplizierter. Für die überwältigende Mehrheit der Exilanten stand die Forderung nach Wiederherstellung der ersten Republik außer Frage; immerhin war die Tschechoslowakei trotz aller Belastungen durch ihre Nationalitätenpolitik der einzige Staat Mittel- u n d Osteuropas, der von 1918 bis 1938 die parlamentarische Demokratie bewahren konnte. Von den Kommunisten und Teilen des inländischen Widerstands w u r d e n diese Ziele jedoch prinzipiell abgelehnt. Ihre Forderungen nach einer Volksdemokratie wurden dann im Programm von Kosice kodifiziert und von der ersten Regierung umgesetzt. In der dritten Welle dachte ein Teil der Exilpol tiker über eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor Februar 1948 nach, wählend andere, vor allem Vertreter der Sozialdemokratie, die uneingeschränkte Rückkehr zu den Prinzipien der ersten Republik verlangten u n d scharf das Regie-

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Milos Trapl

rungsprogramm

von

K o s i c e verurteilten.

D i e vierte W e l l e

bestimmte

schließlich der Streit u m einen Sozialismus m i t » m e n s c h l i c h e m Antlitz«, den die M e h r h e i t der im Exil l e b e n d e n R e f o r m k o m m u n i s t e n

weiterhin

vertrat, den der überwiegende Teil der E m i g r a n t e n u n d Landsleute j e d o c h ablehnte. D i e ersten beiden und die weiteren W e l l e n u n t e r s c h i e d e n sich vor allem auch darin, d a ß zur Zeit der ersten die t s c h e c h o s l o w a k i s c h e A r m e e ein politischer Faktor war. D a s b e e i n f l u ß t e natürlich die H a l t u n g der E m i g r a n t e n in den Z u f l u c h t s l ä n d e r n j e n a c h d e m , o b sie M i l i t ä r v e r b ü n d e t e , ja M i t k ä m p f e r in den R e i h e n von deren V e r b ä n d e n waren o d e r n i c h t . M i l i t ä r i s c h e A s p e k t e spielten bei den n a c h f o l g e n d e n F l ü c h t l i n g e n n u r insofern eine Rolle, als eine kleine Z a h l von i h n e n in die französische F r e m d e n l e g i o n eintraten u n d etwa in V i e t n a m k ä m p f t e n . A u f andere Weise unterstützten die beiden späteren W e l l e n zur Z e i t des Kalten Krieges aber ebenfalls die d e m o kratischen R e g i e r u n g e n , i n d e m sie i h n e n den C h a r a k t e r u n d die G r u n d prinzipien der k o m m u n i s t i s c h e n Herrschaft erläuterten. Allerdings gab es dabei U n t e r s c h i e d e zwischen der dritten u n d vierten W e l l e , d e n n im G e g e n satz zur »heißen« Phase des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren bauten sich die internationalen S p a n n u n g e n zwischen den M a c h t b l ö c k e n in der E n t s p a n n u n g s p h a s e der nächsten D e k a d e allmählich ab. Z u s a m m e n f a s s e n d kann m a n sagen, d a ß sich alle Exilwellen der tschechischen politischen E m i g r a t i o n im 2 0 . J a h r h u n d e r t e n t w e d e r für die E n t s t e h u n g oder die W i e d e r h e r s t e l l u n g eines u n a b h ä n g i g e n Staates sowie in der g r o ß e n M e h r h e i t für die E r n e u e r u n g der D e m o k r a t i e in der T s c h e c h o s l o wakei eingesetzt h a b e n . Ihr Beitrag sollte deshalb ein n i c h t unwesentliches V e r m ä c h t n i s für das neue T s c h e c h i e n nach 1 9 8 9 sein.

1 Vgl. für dies und den folgenden Kontext die verschiedenen Aufsätze in P. Glotz/K.-H. Pollok u.a. (Hg.): München ¡938. Das Ende des alten Europa. Essen 1990. — 2 J . Bartos: »Mnichov a ceskoslovenske pohranici v roce 1948«. In: Vyhnäni Cechü z pohranici. Praha 1998. Der Autor richtet die Aufmerksamkeit auf die bisherige tschechische und sudetendeutsche Literatur. — 3 Die Mehrheit bekannte sich zur mosaischen Konfession, weniger zur Nationalität. Dar-über hinaus gehörte eine Reihe von Juden schon keiner Konfession mehr an oder war zum Christentum konvertiert. — 4 L . Grünwald: In der Fremde flir die Heimat. Sudetendeutsches Exil in Ost und West. (Bd.) 3. München 1982. — 5 J. Kren: Vemigraci. Praha-. 1969; P. Heumos: Die Emigration aus der Tschechoslowakei nach Westeuropa und dem Nahen Osten 1938-1945. Politisch-soziale Struktur, Organisation und Asylbedingungen der tschechischen, jüdischen, deutschen und slowakischen Flüchtlinge währenddes Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumentation. München 1989. — 6 Dazu Z. Jiräsek/M. Trapl: Exilovä politika v letech 1948-1956. Olomouc 1996. — 7 Ebd. — 8 P Tigrid: Politickä emigrace v atomovem veku.

Tschechische policische Emigranten 1938, 1939, 1948 und 1968

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Praha 1990. — 9 Die Schweiz sperrte nach dem August 1968 allerdings wie schon in den 1930er Jahren und auch nach der Flucht der Ungarn 1956 ihre Grenzen für größere Flüchtlingskontingente. — 10 Zu diesen »ausgesiedelten« Bürgern gehörten z.B. Pavel Kohout, Ludik Pachmann, Vilem Precan u.a. — 11 Ausführlich dazu Milos Trapl: »Näzory predstavitelü ceskeho a slovenskeho poünoroveho exilu na budouci usporadani statu«. In: Ceskoslovenskä historickd rocenka 98. Brno 1998, S. 31 —38. — 12 Josef Spetko: Slovenskd politickd emigrdcia v 20. storoci. Praha 1994. Der »Rat der freien Tschechoslowakei« wurde nach 1992 in »Rat der Gegenseitigkeit der Tschechen und Slowaken«, »Verband der tschechoslowakischen Vereine in der Schweiz« und in »Verband der tschechischen und slowakischen Vereine in der Schweiz usw.« umbenannt.

Reiner Tosstorff

Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1939

I Vergessenes Exil? Vorbemerkung zum Forschungsstand Wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Ende Januar/Anfang Februar 1939, kam es in Südostfrankreich zu einer der zahlreichen großen Flüchtlingstragödien dieses Jahrhunderts. Etwa eine halbe Million Spanier überquerten die Grenze zwischen Katalonien und dem Roussillon auf der Flucht vor den Truppen Francos und wurden dort zunächst vom französischen Staat unter unsäglichen Bedingungen interniert. Diese Fluchtbewegung wurde zwar bald darauf von weitaus größeren >überholtRote< verdächtigt, wurden die Flüchtlinge nicht nur jahrzehntelang im Heimatland von den rachsüchtigen Siegern im Bürgerkrieg verleumdet, sondern blieben auch nach 1945 im Westen während des Kalten Kriegs pauschal im Verdacht des >Pro-KommunismusAuswanderungsbewegungen< von der gesamten iberischen Halbinsel — also auch aus Portugal - geht, aber die Erforschung des Bürgerkriegsexils einen besonderen Schwerpunkt einnimmt: die »Asociación para el Estudio de los Exilios y Migraciones Ibéricos Contemporáneos« ( A E M I C ) und das »Centre d'études et de recherches sur les migrations ibériques« ( C E R M I ) , das wiederum mit einem ähnlichen, aber auf ganz Europa ausgerichteten Forschungszentrum der Universität Paris VII zusammenarbeitet, dem »Centre d'études et de recherches inter-européennes contemporaines«. Beide Zentren geben Periodika heraus; während das spanische Migraciones y exilios den Charakter eines Newsletter mit umfassenden Informationen zum Stand der Forschung, Veröffentlichungen, Archiven usw. hat, präsentiert die französische Zeitschrift Exils et migrations ibériques au XXe siecle umfassendere Forschungsergebnisse. Sie werden ergänzt durch informative Websites beider Institutionen. 4 Das Thema ist also nicht nur in Spanien, sondern auch in Frankreich präsent, da eine beträchtliche Anzahl der Flüchtlinge im Laufe der Zeit hier eine neue Heimat fand, zumal es in Frankreich traditionell schon eine starke spanische Einwanderungsbewegung gegeben hatte. So gibt es inzwischen zahl-

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reiche Darstellungen zur Aufnahme der Flüchtlinge in den ersten Monaten des Jahres 1939 sowie über deren weiteres Schicksal, vor allem zur Rolle in der Résistance während der deutschen Besetzung. An erster Stelle sind hier die Bemühungen von Geneviève Dreyfus-Armand, Historikerin an der »Bibliothèque de documentation internationale et contemporaine« in Nanterre, zu nennen, die inzwischen nach zahlreichen kleineren Veröffentlichungen und Mitherausgabe von einem der erwähnten Tagungsbände eine beeindruckende Gesamtdarstellung vorgelegt hat, die man wohl als definitiv bezeichnen kann. 5 Ahnliches gilt für einige lateinamerikanische Länder, allen voran Mexiko, worauf noch einzugehen sein wird. In der Bundesrepublik ist das Thema bisher relativ wenig beachtet worden. Als grundlegende, allerdings sehr knappe Veröffentlichung ist noch immer das Mitte der sechziger Jahre für das Institut für Zeitgeschichte in München erstellte Gutachten von Wilhelm Alff Die Flüchtlinge der spanischen Republik als politische Verfolgte der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich (1940-1944)'' zu nennen. Einem breiteren Publikum wurde das Schicksal der Spanienflüchtlinge und ihre Verfolgung durch Nazi-Deutschland eher durch die autobiographischen Romane von Jorge Semprün, der Häftling in Buchenwald gewesen war, bekannt. 7 An dieses besondere Schicksal eines Teils des spanischen Exils erinnert auch eine verdienstvolle Nummer der Zeitschrift Tranvia. Revue der Iberischen Halbinsel. Deren Herausgeber, Dorothee von Keitz und Andreas Ruppert, haben darüber hinaus eine deutsche Auswahl aus einer Sammlung von Berichten von in den Konzentrationslagern inhaftierten Spanierinnen vorgelegt. 8 Demgegenüber gehörte das Interesse am spanischen Exil in der ehemaligen DDR zwar zum offiziell gepflegten »antifaschistischen« Selbstverständnis des Staates, jedoch beschränkte sich der Blick auf den kommunistischen Flügel bzw. die von ihm vertretenen Positionen. Entsprechend war die politische und belletristische Literatur in der DDR, in der es eine Vielzahl von »spanischen« Titeln gab, ausgerichtet.

II Politischer Terror als Vertreibungsursache Es gibt eine lange Diskussion darüber, ob das Franco-Regime - zumindest in seiner Anfangszeit - faschistisch war oder nicht. Für die Bestimmung der terroristischen Dynamik der Repression, wie sie im Bürgerkrieg und in den ersten Jahren danach praktiziert wurde, ist diese Frage allerdings nur von sekundärer Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist lediglich wichtig, daß sich das Regime durch einen »Kreuzzug« definierte, der sich gegen die >Linke< richtete, worunter die Frankisten nicht nur die revolutionäre Arbeiterbewegung faßten, sondern auch bürgerlich-liberale Kräfte, die mit systema-

Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1 9 3 9

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tischem Terror verfolgt und vor allem in den ersten M o n a t e n auf dem Land systematisch niedergemetzelt wurden. 9 In den letzten M o n a t e n des Bürgerkriegs, als der Sieg Francos schon so gut wie sicher war, wurde ein »legaler« R a h m e n geschaffen, um den Terror für die Zeit danach zu institutionalisieren. Eine juristische Expertenkommission erklärte die republikanische Legalität seit den Wahlen vom Februar 1 9 3 6 für illegal; am 9. Februar 1 9 3 9 wurde das »Gesetz über die politischen Verantwortungen« verkündet, wonach rückwirkend alle Taten seit dem 1. O k t o ber 1 9 3 4 gegen die »öffentliche Ordnung«, zum Beispiel Mitgliedschaften in linken Parteien und Gewerkschaften, sowie der Widerstand gegen den Putsch der Militärs seit dem 18. Juli 1 9 3 6 bestraft wurden. Das Ausmaß des Terrors in den M o n a t e n nach Beendigung des Bürgerkriegs am 1. April 1 9 3 9 deutet ein Bericht des italienischen Außenministers an Mussolini von seinem Madrid-Besuch M i t t e Juli des Jahres an. D a n a c h gab es täglich in M a d rid noch 2 0 0 bis 5 0 0 Erschießungen, in Barcelona 1 5 0 und in Sevilla 8 0 , was selbst diesen führenden Faschisten von einer Tragödie sprechen ließ. Nach offiziellen Angaben des spanischen Justizministeriums gegenüber einem Auslandskorrespondenten wurden zwischen April 1 9 3 9 und J u n i 1 9 4 4 1 9 2 . 6 8 4 Personen erschossen oder waren im Gefängnis u m g e k o m m e n . 1 0 Richtete sich die Repression gegen die Linke und war damit politisch definiert, so hatte sie oft noch eine ethnische K o m p o n e n t e bei der Unterdrückung der nichtspanischen Nationalitäten, vor allem der Katalanen und Basken, auch wenn diese Unterdrückung vordergründig politisch, als K a m p f gegen den »Separatismus« gerechtfertigt wurde. D u r c h eine ganze Reihe von M a ß nahmen wurden deren eigenständige Kulturen unterdrückt. Auch versuchte man, deren Wirtschaft gegenüber »Zentralspanien« zu b e n a c h t e i l i g e n . "

III D i e Flucht nach Frankreich S c h o n seit dem 19. Jahrhundert hatten die vielen Bürgerkriege in Spanien zu zahlreichen Fluchtbewegungen nach Frankreich geführt. Angesichts ständiger Wechsel der politischen Situation und gelegentlicher Amnestien hatten politische Flüchtlinge allerdings bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs i m m e r wieder die C h a n c e zur Rückkehr innerhalb weniger Jahre gehabt. Außerdem hatte gegen E n d e des 19. Jahrhunderts ein Z u s t r o m von Arbeitsimmigranten nach Frankreich eingesetzt, der in den ersten Jahrzehnten des 2 0 . Jahrhunderts stark zunahm. N i c h t wenige blieben a u f Dauer, wurden also zu Einwanderern. I m S o m m e r 1 9 3 6 lebten 2 5 4 . 0 0 0 Spanier in Frankreich. 1 2 Bereits unmittelbar nach Bürgerkriegsbeginn am 18. Juli 1 9 3 6 wurde Frankreich erneut zum Ziel für politische Flüchtlinge aus Spanien. Zunächst

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gilt dies für Anhänger der Rechten, denen es in den ersten Tagen des »revolutionären Chaos« noch gelungen war zu e n t k o m m e n . Daneben kamen auch bürgerliche Liberale, die eigentlich nicht mit den reaktionären Zielen des Putsches übereinstimmten, sich aber ebensowenig mit d e m revolutionären Programm der Arbeiterorganisationen identifizieren konnten u n d in der republikanischen Zone — vor allem in der ersten Zeit sicher zu Recht — um ihr Leben fürchten m u ß t e n . Auf dieses Spektrum des Exils sei hier nicht weiter eingegangen. Für die Anhänger Francos war es im übrigen auch nur ein temporäres Ziel; nach Klärung der Lage gingen sie in die von ihm kontrollierte Zone des Landes zurück. 1 3 Weiterhin gab es unter den Republikanern selbst schon vor dem großen Exodus Anfang 1 9 3 9 verschiedene Phasen der Flucht nach Frankreich von Militär- wie Zivilpersonen aus Gebieten, die von den Frankisten erobert w u r d e n u n d die näher an Frankreich lagen als an der republikanischen Kernzone. Im wesentlichen sind dabei drei große Flüchtlingswellen auszumachen: im August/September 1936 aus der baskischen, unmittelbar an Frankreich angrenzenden Provinz Guipúzcoa; von Juni bis Oktober 1937 aus d e m Nordgebiet (westliches Baskenland, Kantabrien, Asturien); von April bis Juni 1938 aus den östlichen bzw. westlichen Pyrenäengebieten Aragóns u n d Kataloniens. 1 4 Nach Schätzungen Rubios umfaßten diese ersten Fluchtbewegungen allein mehr als 165.000 Menschen. Für sie stellte Frankreich im wesentlichen nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu der noch von den Republikanern gehaltenen Zone Spaniens dar; es kam allerdings auch zur Rückkehr in die von den Frankisten eroberten Gebiete oder, bei den Basken, zur Weitermigration nach Lateinamerika. Hier soll lediglich die H a l t u n g der französischen Regierung zu diesen Fluchtbewegungen kurz skizziert werden, da sie sowohl Vorwegnahmen wie Unterschiede zum Verhalten im Jahr 1939 erkennen läßt. 1 5 Von vornherein war die französische Politik darauf ausgerichtet, die Flüchtlinge möglichst schnell zu repatriieren. Frankreich gewährte kein Asyl, sondern nur vorübergehenden Aufenthalt ohne Arbeitserlaubnis, die allerdings später gelockert wurde. Stellte die Repatriierung von Zivilpersonen kein völkerrechtliches Problem dar, so lag der Fall bei d e m Militärpersonal anders. Auch Frankreich war d e m 5. Haager A b k o m m e n von 1907 beigetreten, das das Verhalten neutraler M ä c h t e in einem Krieg regelte. Es verpflichtete die neutralen M ä c h t e zur Internierung des auf sein Territorium geratenenen Militärpersonals u n d verbot dessen Rücktransport vor Beendigung des Kriegszustands. Auch regelte es die anschließende Bezahlung der Internierungskosten nach Abschluß des Kriegs durch die ehemaligen kriegführenden M ä c h t e . Frankreich hatte jedoch nach Bürgerkriegsbeginn keine der beiden Seiten als kriegführende M ä c h t e in diesem Sinne, sondern die republikanische Regierung als legitime Vertretung Spaniens anerkannt, so d a ß kein Zwang zur Internierung des

S p a n i s c h e B ü r g e r k r i e g s f l ü c h t l i n g e nach 1 9 3 9

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Militärs mit ihren hohen Kosten bestand, deren spätere Rückerstattung ohnehin mehr als fraglich war. Die Situation änderte sich, als die Franco-Truppen im Januar 1939 Barcelona eroberten und unaufhaltsam auf die französische Grenze zurückten, wobei sie die geschlagene republikanische Armee und den Regierungsapparat sowie Tausende von Zivilpersonen vor sich hertrieben. Während es in der französischen Öffentlichkeit Ende 1938/Anfang 1939 zu verschiedenen Aufrufen zur solidarischen Aufnahme der Spanier kam, gleichzeitig jedoch die Rechte in der Öffentlichkeit mobil machte und vor einer drohenden Invasion »roter Horden« warnte und mit ihrer Angstkampagne selbst im bürgerlich-liberalen Lager Einfluß gewann, lehnte das französische Kabinett Mitte Januar die Bitten der republikanischen Regierung um Aufnahme von 100.000 bis 150.000 Zivilflüchtlingen ab. 16 Stattdessen unterbreitete Außenminister Bonnet den Vorschlag zur Einrichtung einer unter internationaler Bewachung stehenden neutralen Zone im Norden Kataloniens, der jedoch auf heftige Ablehnung Francos stieß. In diesem Dilemma konnte die französische Regierung auf den beginnenden Massenansturm nur noch mit der Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen reagieren, wobei das Militär bzw. die Männer im waffenfähigen Alter davon ausgenommen bleiben sollten. Zur Aufnahme von Frauen, Kindern, Verwundeten und Alten sei Frankreich allerdings bereit, und dafür seien auch die Vorbereitungen getroffen worden. In diesen letzten Januar- und ersten Februartagen gelang es der republikanischen Regierung Spaniens nur mühsam, eine allgemeine Panik und damit den sofortigen Zusammenbruch zu verhindern und einen halbwegs geordneten Rückzug in Richtung auf die französische Grenze durchzuführen, immer unmittelbar verfolgt von den frankistischen Truppen. Angesichts dieser Lage hatte die französische Regierung keine andere Wahl, als am 5. Februar, wenige Stunden, bevor Francos Truppen die ersten Grenzübergänge erreichten, die Grenze auch für das republikanische Militär zu öffnen, das sich sofort nach Betreten französischen Bodens internieren lassen mußte. 1 7 Auf diese Weise gelangten zwischen dem 27. Januar und dem 12. Februar, dem Tag der Besetzung des letzten noch von den Republikanern gehaltenen Gebiets in Katalonien, fast eine halbe Million Menschen nach Südfrankreich, darunter mehr als 250.000 Soldaten. 18 Damit war allerdings der republikanische Exodus noch nicht abgeschlossen, da noch einige Teile des Südens und der Mitte Spaniens unter Kontrolle der Republik standen, die erst im März, nach einem vergeblichen Versuch der republikanischen Regierung, dort noch einen Widerstand zu organisieren, von den Franco-Truppen besetzt wurden. Von den Häfen Süd-Spaniens aus kam es im März über das Mittelmeer zu einer weiteren Fluchtwelle, diesmal allerdings in kleinerem Ausmaß, da die Zahl der zur Verfügung stehenden Schiffe bei weitem nicht ausreichte. Zunächst floh am 5. März die

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noch verbliebene republikanische Flotte, Ende März folgten einige H a n delsschiffe mit Flüchtlingen, viel weniger, als die republikanische Regierung aus dem französischen Exil heraus zu organisieren versuchte, so daß Tausende in den Häfen Südspaniens zurückblieben und den Franco-Truppen in die H ä n d e fielen. Ziel waren die französischen Besitzungen in Nordafrika (Algerien), wo die Flüchtlinge denselben M a ß n a h m e n wie in Süd-Frankreich unterworfen wurden, sich die allgemeinen Bedingungen für sie aber in den folgenden Monaten viel schwieriger gestalten sollten. Insgesamt flohen in dieser letzten Phase des Bürgerkriegs noch einmal etwa 15.000 Menschen. | l J Gegenüber den spanischen Flüchtlingen in Frankreich und seinen nordafrikanischen Gebieten waren die Zahlen in anderen Ländern recht klein. Sie umfaßten neben denjenigen, die schon vor Kriegsende geflohen und nach anderen Ländern weiteremigriert waren, eine nennenswerte G r u p p e von Kindern, die während der Verschärfung der Kämpfe ab 1937 in zahlreiche Länder Europas gebracht worden waren. 20 Dazu zählen weiterhin Republikaner, die sich bei Kriegsende im Regierungsauftrag in anderen Ländern befunden hatten. Das betraf zum Beispiel Militärpiloten, die sich zur Ausbildung in der UdSSR aufhielten, oder Schiffsbesatzungen, deren Schiffe gerade in auswärtigen Häfen lagen. Insgesamt befanden sich so im Frühjahr 1939 außerhalb Frankreichs etwa 3.000 spanische Flüchtlinge in Westeuropa, 4.000 in der UdSSR und 1.000 in Amerika.

IV Zwischen Lager, Arbeitsverpflichtung und Weitermigration. Die Spanier in Frankreich 1939 Trotz Erklärungen der französischen Regierung von Ende Januar, sie sei auf alles vorbereitet, betraf dies tatsächlich nur die Sicherung der Grenze durch zusätzliche H e r a n f ü h r u n g von Polizei- und Militäreinheiten. Die Lage der Flüchtlinge war dementsprechend katastrophal. Es gab zu wenig Lebensmittel, die Gesundheitsversorgung war völlig unzureichend, ebenso die hygienischen Verhältnisse. Tagelang mußten die Flüchtlinge, insbesondere die Soldaten, auf offenem Feld kampieren, eingekreist von französischen Soldaten, die jedes Entfernen verhinderten. Dazu kamen die klimatischen Härten des Winters insbesondere auf den höhergelegenen Grenzübergängen in den Pyrenäen. Diese Situation bestärkte erst recht die reaktionäre Presse, die eine regelrechte Hysterie zu entfachen versuchte. 21 Für die Flüchtlinge galt das im Jahr 1938 stark verschärfte französische Ausländerrecht, das die Internierung oder strenge Meldepflichten bei der Polizei vorsah. N u r eine sehr kleine Minderheit, die politischen Repräsentanten der Republik, Regierungsmitglieder, Partei- und Gewerkschaftsführer, erhielten eine Aufenthaltserlaubnis, mit der sie sich relativ frei bewegen konnten.

Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1939

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Von Anfang an versuchte die französische Regierung, die Zahl der Aufzunehmenden zu begrenzen. Neben der Werbung für den Eintritt in die Fremdenlegion geschah dies durch die direkte Aufforderung, nach Spanien zurückzukehren 2 2 , wobei die miserablen Lagerverhältnisse als Druckmittel dienten. Dabei verharmloste Frankreich die Gefahren, die den Republikanern durch die frankistische Siegerjustiz drohte. Nicht zuletzt sind auch Fälle aus der ersten Zeit, als es noch in Süd- und Mittelspanien ein republikanisches Gebiet gab, dokumentiert, die Anlaß zu der Vermutung geben, daß man die Repatriierten über das genaue Gebiet Spaniens, in das sie gebracht wurden, täuschte. Für die Repatriierungen war die französische Regierung in direkte Absprachen mit den bis dahin nicht anerkannten frankistischen Behörden getreten, die zunächst im Norden (Euskadi), dann in Katalonien Grenzübergänge öffneten. Zu diesen Absprachen gehörten auch öffentliche Erklärungen der Frankisten, man wolle Nachsicht walten lassen, um auf diese Weise zur Rückkehr zu ermuntern, was später in der Praxis der politischen Uberprüfungen, bei den Zurückgekehrten ganz anders aussah. Alsbald folgte aus diesen Kontakten auch die diplomatische Anerkennung der in Burgos residierenden Franco-Regierung durch ein Abkommen am 25. Februar, also bevor Franco überhaupt Madrid besetzen konnte. Dies hatte die Ubergabe des militärischen Materials und aller sonstigen staatlichen Güter, die die Flüchtlinge mitgebracht hatten, an die Franco-Regierung zur Folge. Vor allem aber bedeutete es, daß damit der Anspruch auf diplomatische Unterstützung, wie sieder republikanischen Regierung zumindest theoretisch noch zustand, hinfällig wurde, und entsprechend wurden auch die von der Republik ausgestellten Pässe von Frankreich nicht mehr anerkannt. Der Druck zur Repatriierung schien augenscheinlich beträchtlich gewesen zu sein. 23 Anfang August erklärte das französische Innenministerium, daß etwa 250.000 Spanier, also rund die Hälfte der Flüchtlinge, bereits zurückgekehrt seien. Obwohl die französische Regierung kurz darauf — bei Kriegsausbruch - ihre Repatriierungspolitik änderte, da die Spanier nun als Arbeitskräfte >entdeckt< wurden, setzte sich die Rückwanderung fort. Bis Mitte Dezember erfolgten noch einmal mehr als 100.000 Repatriierungen. Nach Regierungsangaben gab es um diese Zeit nur noch 140.000 spanische Flüchtlinge in Frankreich, davon 40.000 Frauen u n d Kinder. 24 Diejenigen, die nicht sofort beim Uberschreiten der Grenze ihre Bereitschaft zur Repatriierung erklärt hatten, wurden nach Zivilisten und Militärs aufgeteilt. Die Zivilpersonen - zumeist Frauen und Kinder - wurden an der Grenze vergleichsweise schnell abgefertigt und mit Sonderzügen in das Landesinnere (ausgenommen die Region Paris und die westlichen Grenzgebiete) gebracht. Für sie wurden zumeist in unbenutzten Gebäuden wie ehemaligen Klöstern oder Schulen »Centres d'hebergement« eingerichtet, die ziviler

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Verwaltung unterstanden. In ihnen war ein M i n i m u m an Versorgung gewährleistet, die Bewohner, wenngleich sie an die Zentren gebunden waren, hatten tagsüber die Möglichkeit z u m Ausgang, und den Kindern wurde der Schulbesuch ermöglicht. Von diesen Zentren aus erfolgten neben den Repatriierungen auch die Weitermigration oder in seltenen Fällen, w e n n die betreffende Person einen Arbeitsplatz gefunden oder Familienangehörige mit regulärer Aufenthaltserlaubnis hatte, der Umzug in normale W o h n u n g e n . Nach Kriegsbeginn wurden die Zentren aufgelöst; die Frauen m u ß t e n sich Arbeit und Unterkunft suchen, Kinder wurden zum Teil in Kinderkolonien gesteckt. Es kam aber auch zu Einweisungen in neue Lager. So wurde zum Beispiel im Lager Argeles je eine zusätzliche Abteilung für Frauen und Kinder für jeweils 2 . 5 0 0 Personen eingerichtet. Das, was die Erfahrungen der Spanienflüchtlinge und das öffentliche Bild von ihrer A u f n a h m e jedoch am stärksten prägte, waren die Lager ( » C a m p s de concentration«) für die Angehörigen der republikanischen Armee. 2 5 Sie wurden innerhalb weniger Tage im Februar in der Nähe der Grenzübergänge eingerichtet und quasi aus d e m Nichts heraus improvisiert. Auf Stränden oder Wiesen wurden Flächen für die Lager abgesteckt, die zuerst einfach durch Militärposten begrenzt, dann durch Stacheldraht eingezäunt wurden. Die darin Eingesperrten mußten in den ersten Tagen, z u m Teil sogar Wochen unter freiem H i m m e l auf dem nackten Boden kampieren. Erst nach und nach wurden Barackenbehausungen errichtet und Strohmatten verteilt. Die hygienischen Bedingungen allerdings blieben katastrophal; fließendes Wasser gab es nicht, und auch die Lebensmittelversorgung blieb unzureichend. Angesichts dieser Situation k a m es zwar nicht, wie von den französischen Behörden zunächst befürchtet, zu Epidemien, jedoch zu vielerlei Krankheiten, teils wegen fehlender Hygiene (Typhus), teils wegen M a n g e l e r n ä h r u n g (Skorbut). Aber auch psychische Erkrankungen traten auf. Die medizinische Versorgung war völlig unzureichend mit entsprechend hoher Sterblichkeitsrate. Die medizinische Ausrüstung der republikanischen Armee konnte nicht verwendet werden, da sie wie alles andere militärische Material beim Überschreiten der Grenze hatte abgegeben werden müssen. Die Ursachen des Elends waren offensichtlich. Zunächst trafen die spanischen Flüchtlinge als »Rote« auf die A b l e h n u n g oder zumindest das M i ß t r a u en großer Teile der französischen Gesellschaft. Doch vor allem hatte die französische Regierung nur m i t einigen Tausenden, bestenfalls Zehntausenden gerechnet; vor Januar 1939 hatte es trotz zahlreicher Hinweise keine Vorbereitung gegeben. M i t t e Februar dagegen zählten die bis dahin im Departem e n t Pyrenées Orientales errichteten Lager bereits 2 7 5 . 0 0 0 Insassen. Allein die beiden größten am M i t t e l m e e r errichteten Lager Saint C y p r i e n und Argeies hatten 1 0 0 . 0 0 0 bzw. 8 0 . 0 0 0 Insassen. Kleinere Lager in diesem Departement, die an den Grenzübergängen in den Bergen - im Vallespir u m

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Prats de Mollo und in der Cerdagne um Bourg-Madame — geschaffen worden waren, mußten aus klimatischen Gründen im März und April wieder aufgelöst werden. Ihre Insassen kamen in neuerrichtete Lager, so in ein wei teres am Mittelmeer errichtetes Lager bei Barcares, oder in Nachbar-Departements. Sie waren im allgemeinen vergleichsweise besser ausgerüstet. Ihre Namen, etwa Gurs (Departement Basses Pyrenees) oder Le Vernet (Ariege) sind allerdings heute eher dadurch bekannt, daß sie bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die Flüchtlinge in Frankreich, zumeist aus dem deutschen Machtbereich, als Internierungslager dienten, obwohl sie im Herbst 1939 auch noch spanische Insassen hatten. Die einzigen Beschäftigungen, zu denen die Gefangenen angehalten wurden, waren Arbeiten an den Lagern, zum Beispiel beim Bau von Baracken oder sonstigen Einrichtungen. Das »interne Regime« der Gefangenen, das sich zunächst nach den militärischen Strukturen richtete, wurde sehr schnell von den politischen Organisationen bestimmt, vor allem von der Kommunistischen Partei und den Anarchisten als den beiden größten, wobei die verschiedenen Richtungen sehr schnell aufeinanderprallten, wenn es zu Diskussionen über den Verlauf des Kriegs und die Gründe für die Niederlage kam. Trotz solcher Widrigkeiten, zu denen ständige Versuche frankistischer Einflußnahme durch die Vertretungen des inzwischen von Frankreich anerkannten Staates gehörten, entstand dennoch so etwas wie ein kulturelles Leben. Vorträge und Bildungsmaßnahmen wurden organisiert, mit primitivsten technischen Mitteln wurden sogar Publikationen erstellt. Auch kam es sehr schnell zum Kontakt nach außen. Je nach Lager wurden sogar französische Zeitungen, allerdings nicht die Linkspresse, offiziell zugelassen; doch die verbotene Presse wie auch die sehr schnell von den spanischen Parteien herausgegebenen Exilschriften fanden ebenfalls ihren Weg in die Lager. Die Schaffung neuer Lager im März/April hatte noch einen weiteren Aspekt gehabt. Einige davon wurden als Sonderlager oder Straflager geführt, in die zum einen als besonders »gefährlich« angesehene Spanier eingewiesen wurden, so zum Beispiel Einheiten der spanischen Armee, die im wesentlichen aus Anarchisten zusammengesetzt waren, zum anderen Gefangene aus den »normalen« Lagern, die sich nach Ansicht der jeweiligen Lagerleitung irgendeines Vergehens schuldig gemacht hatten, worunter Disziplinarvorfälle, kriminelle Delikte und nicht zuletzt politische Aufsässigkeit verstanden wurde. Die berüchtigsten Straflager waren Fort Collioure, eine alte Templer-Burg, und Le Vernet, in denen der Kontakt mit der Außenwelt (Korrespondenz, Empfang von Zeitungen) verboten war und französische Offiziere zeitweise ein brutales Terrorregime ausübten, was zu verschiedenen Skandalen in der französischen Öffentlichkeit führte. Unter den Flüchtlingen, die nach Frankreich gekommen waren, hatten sich die spanische Regierung, viele Parlamentarier und sonstige staatliche

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und politische Funktionsträger befunden. D i e unter den Sozialisten zur Zeit des Bürgerkriegs aufgebrochene Polarisierung, der Konflikt zwischen dem auf ein enges Bündnis mit der Sowjetunion und den spanischen K o m m u n i sten orientierten Ministerpräsidenten Juan Negrin einerseits und seinem eine breite Koalition nicht-kommunistischer Kräfte suchenden Parteigenossen Indalecio Prieto andererseits, setzte sich auch im Exil unvermindert fort. So entstanden auch mit Hilfe der nach Frankreich transferierten republikanischen Gelder zwei Hilfsorganisationen. Z u m einen E n d e M ä r z der S E R E (»Servicio de Emigración de Republicanos Españoles«, manchmal auch »Servicio de Evacuación«) u m Negrin und zum anderen Ende Juli die J A R E (»Junta de Auxilio a los Republicanos Españoles«) u m Prieto. G r u n d für diese Spaltung war der Vorwurf an die S E R E , die K o m m u n i s t e n zu begünstigen und die Besserqualifizierten zu bevorzugen. Während diese beiden Organisationen die Emigration nach Lateinamerika vorbereiten und finanzieren sollten, existierten noch eine Reihe weiterer, zum Teil internationaler Hilfsorganisationen für die Spanienflüchtlinge. So etwa das » C o m i t é international de coordination et d'information pour l'aide ä l'Espagne républicaine« ( C I C A E R ) , das schon während des Bürgerkriegs mit starker Beteiligung der K o m m u n i sten in Frankreich entstanden war und nun für die in den Lagern Internierten Unterstützung organisierte (wobei die Lager mit einem hohen Anteil K o m m u n i s t e n gegenüber denen mit einer großen Zahl von Anarchisten bevorzugt wurden). Ein ähnliches internationales Komitee hatte sich für die Kinderverschickung ins Ausland gebildet, das jetzt Kinderkolonien für die neuangekommenen Flüchtlinge einrichtete. Weitere Komitees und internationale Zusammenschlüsse organisierten sich in vielen Ländern, von denen die Hilfe, zum Beispiel Nahrungsmittel, medizinische Unterstützung usw. für die Insassen in den Lagern kam. Zur Unterstützung der von den kommunistischen Parteien als »trotzkistisch« denunzierten P O U M (»Partido Obrero de Unificación Marxista«) bildete sich das » C o m i t é international pour l'aide aux réfugiés espagnols« ( C I P A R E ) . 2 6 Diese vielfältige Unterstützung war zweifellos lebenswichtig, da der französische Staat nur ein M i n i m u m der Unterbringung bereitstellte. Dabei m u ß jedoch berücksichtigt werden, daß Frankreich von allen übrigen Ländern praktisch allein gelassen wurde. Die Kosten für den französischen Staat waren enorm; sie wurden pro Tag (in der Anfangszeit) a u f 7 Millionen Francs geschätzt, bis zum Jahresende wurden für die Spanienflüchtlinge fast 8 5 0 Millionen Francs bewilligt. Während sich alsbald eine Reihe lateinamerikanischer Staaten, allen voran Mexiko, zur A u f n a h m e von Flüchtlingen bereit erklärte, kam von den Staaten Europas oder den U S A keine wesentliche Unterstützung, weder bei der Finanzhilfe noch in der Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen. 2 7 Auch die internationalen zwischenstaatlichen Flüchtlingsorganisationen wie das nach dem Ersten Weltkrieg für die Flücht-

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linge aus R u ß l a n d und der Türkei geschaffene Flüchdings-Hochkommissariat des Völkerbundes oder das 1938 auf der Evian-Konferenz gebildete »Intergovernmental C o m m i t t e e on Refugees« n a h m e n sich der SpanienFlüchtlinge nicht an. Als sich abzeichnete, daß ein beträchtlicher Teil der Spanier sich weder repatriieren lassen wollte noch in nächster Zeit ein anderes A u f n a h m e l a n d finden würde, und nicht zuletzt auch a u f g r u n d der internationalen Situation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs modifizierte die französische Regierung ihre Politik. Ein Dekret vom 12. April 1939, das nicht speziell für die Spanier gedacht war, verpflichtete alle, die in Frankreich Asyl oder Aufenthalt erhalten hatten, im Fall der M o b i l m a c h u n g zum Kriegsdienst, wie er auch für die Franzosen galt. Ebenso entdeckte der französische Staat die Spanier als billiges Arbeitskräftereservoir. Im Frühjahr wurden Arbeitskompanien (CTE, »Compagnies des travailleurs étrangers«, auch » C o m p a g n i e s des prestataires«) zusammengestellt, die zunächst aus 100, dann 2 5 0 M a n n bestanden und von einem französischen Offizier befehligt wurden. Sie wurden für Arbeiten auf Großbaustellen, militärischen Anlagen oder in der Landwirtschaft eingesetzt. Zwar lagen Verpflegung und Besoldung unter denen für vergleichbare französische Arbeiter, doch war das für die Angehörigen der C T E immerhin eine Alternative zum Lagerleben; auch erhielten dadurch ihre Familien erweiterte Rechte. Über die Umstände der Flucht, die A u f n a h m e der Exilanten und ihre Anzahl lassen sich zwar genauere Angaben machen, schwieriger ist es jedoch, ihre Sozialstruktur zu erfassen. Rubio, der mit großer Umsicht verschiedene Angaben wertet, hat hierfür wie auch für die demografischen Folgen in Spanien einige systematische Befunde vorgelegt. 2 8 Dabei k a m ihm zu Hilfe, d a ß im Juli 1939 von der republikanischen Flüchtlingshilfsorganisation SERE, gestützt auf Erhebungen in den Lagern, eine Ubersicht für 1 5 9 . 1 2 7 M ä n ner vorgelegt wurde. Daraus hat er ermittelt, d a ß etwa 80 Prozent der Flüchtlinge Land- oder Industriearbeiter waren. Diese Struktur war der spanischen Wirtschaftsemigration nach Frankreich bis Anfang der dreißiger Jahre sehr ähnlich, doch war unter den Industriearbeitern der Anteil der qualifizierten Kräfte jetzt viel höher. Der bedeutsamste Unterschied aber war, d a ß die Angehörigen des tertiären Sektors nicht wie bei den traditionellen W i r t schaftsemigranten aus d e m Handel und ähnlichen Dienstleistungen kamen, sondern eine »Emigration der Gehirne« darstellten. Sie bestand aus traditionellen Freiberuflern wie Ärzten und Anwälten, aber auch aus vielen Hochschulprofessoren, Lehrern, Offizieren und weiteren Staatsangestellten. So emigrierten 12 Prozent der Inhaber von Universitätslehrstühlen aus d e m Jahr 1935, was den Verlust für die spanische Gesellschaft erahnen läßt, den diese Vertreibungswelle bedeutete. Von solchen hoch- u n d höchstqualifizierten

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Gruppen, die zwischen 5 und 10 Prozent des Bürgerkriegsexils ausmachten, gingen besonders viele nach Lateinamerika, da sie dort am leichtesten entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten k o n n t e n . I m übrigen zeigen diese Angaben, daß die Flüchtlinge zwar aus allen Regionen des Landes kamen, aber ein deutlicher Schwerpunkt a u f den Frankreich benachbarten Gegenden lag, die zu den entwickelteren Regionen des Landes gehörten. 2 9

V D i e »Rotspanier« in deutschen Konzentrationslagern und als Zwangsarbeiter im »Reich« Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Arbeitskompanien direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt. Zusätzlich wurden als direkte militärische Einheiten im R a h m e n der französischen Armee Marschbataillone für Ausländer — also auch für Spanier — geschaffen. Im Frühjahr 1 9 4 0 , also kurz vor dem deutschen Angriff, setzten sich die spanischen Flüchtlinge somit nach folgenden Kategorien zusammen: in Arbeitskompanien 7 0 . 0 0 0 , sonstige Arbeitskräfte 4 0 . 0 0 0 , in Marschbataillonen 7 . 0 0 0 und in Lagern 6 . 0 0 0 (überwiegend Frauen und Kinder). Entsprechend kämpften Spanier seit Beginn des Krieges. 3 0 Bereits an den Kämpfen um Narvik im April 1 9 4 0 waren mehrere Hundert Spanier in einer Brigade der Fremdenlegion beteiligt, die nach dem Rückzug der Alliierten im Juni nach Großbritannien gelangte, wo sie zum G r u n d s t o c k der Armee de Gaulles gehörte. Seit dem deutschen Angriff an der Westfront am 10. Mai waren Spanier in vielen französischen Einheiten am K a m p f beteiligt, sie gerieten als französische Armeeangehörige in deutsche Gefangenschaft und wurden wie alle übrigen zunächst in den Kriegsgefangenenlagern interniert. D o c h im Unterschied zu den französischen Staatsbürgern kamen sie von dort aus in die Konzentrationslager, überwiegend nach Mauthausen bei Linz. 3 1 Zwei G r ü n d e waren wohl für ihre Uberstellung dorthin ausschlaggebend: Z u m einen war Mauthausen, 1 9 3 8 geschaffen, noch vergleichsweise wenig »entwickelt«; das Lager sollte nach den nationalsozialistischen Plänen in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle für die B a u m a ß n a h m e n , besonders in Linz, spielen. Z u m anderen war dieses Lager mit seinen extrem harten Bedingungen für solche Häftlinge vorgesehen, die im N S - S i n n e für unwiderruflich verloren galten und deshalb dem Programm der »Vernichtung durch Arbeit« unterworfen waren. D i e spanischen Kriegsgefangenen waren Staatenlose und erhielten als Kennzeichen einen blauen W i n k e l mit S (für Spanier). W e d e r k ü m m e r t e sich die Vichy-Regierung um sie, obwohl sie Teil der französischen Armee gewesen waren, noch die Franco-Diktatur. Sie wurden vor allem in den Stein-

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brüchen Mauthausens sowie der Nebenlager eingesetzt. D i e Arbeit war hier extrem hart und entsprechend h o c h die Sterblichkeitsrate. Als nach Beginn des Rußlandfeldzuges 1 9 4 1 die Arbeitskraft der KZ-Insassen in verstärktem M a ß e zur Fortführung der Kriegswirtschaft unabdingbar war, verbesserte sich die Lage für die Spanier graduell, zumal sie in der Nazi-Rassenhierarchie vor den Juden und den neuen sowjetischen Kriegsgefangenen rangierten. Einzelne Spanier erlangten im Laufe der Zeit auch einige der seit etwa 1 9 4 2 für Häftlinge erreichbaren Positionen in der Lagerhierarchie, so etwa als Schreiber. Andererseits gab es nicht wenige, die O p f e r medizinischer »Versuche« wurden oder als Kranke (sog. Häftlings-Invaliden) vergast wurden. Eine besondere G r u p p e unter den spanischen Häftlingen in Mauthausen waren Jugendliche, die zusammen mit ihren Vätern, die sich in einer französischen Arbeitskompanie befanden, verhaftet worden waren. Sie wurden von der Mauthausener Firma Poschacher, die dort noch heute Steinbrüche betreibt, angefordert und sollten zu Steinmetzen für die zukünftigen nationalsozialistischen Bauvorhaben ausgebildet werden. D i e inhaftierten spanischen Frauen gehörten zu jenen Gruppen, die wegen ihrer Teilnahme an der französischen Resistance von der deutschen Besatzungsmacht festgenommen worden waren und häufig in den Lagerbordellen zur Prostitution gezwungen wurden. D i e Resistance-Kämpfer kamen aber mehrheitlich in die Lager Dachau, Sachsenhausen, Ravensbrück und Buchenwald — wie dies zum Beispiel in den autobiographischen R o m a n e n von Jorge Semprün geschildert wird. D i e Spanier, eine »hochpolitisierte« Gruppe von Gefangenen mit jahrelangen militärischen Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg, wiesen im großen und ganzen einen besonders engen Zusammenhalt auf und nahmen recht aktiv an den verschiedenen Widerstandsorganisationen teil, obwohl die politischen Differenzen etwa zwischen Anarchisten und K o m m u n i s t e n zu nicht geringen Spannungen führten. Insgesamt gab es in den deutschen Konzentrationslagern fast 8 . 2 0 0 »rotspanische Häftlinge«, davon allein in M a u t hausen ungefähr 7 . 2 0 0 , von denen etwa 5 . 0 0 0 starben, also ungefähr 7 0 Prozent. Von den übrigen in den anderen Lagern - zumeist nach 1 9 4 2 eingeliefert - starben dagegen etwa 2 0 0 , also 2 0 Prozent. 3 2 N e b e n den K Z - H ä f t l i n g e n gab es die spanischen Zwangsarbeiter. 3 3 Z u meist kamen sie aus den Arbeitskompanien, unterlagen also in Frankreich schon einer Dienstpflicht. Aufgrund der Waffenstillstandsbedingungen wurden diese Arbeitskompanien in der besetzten Z o n e von den Deutschen übern o m m e n und entweder zur Weiterarbeit in Frankreich gezwungen oder nach Deutschland deportiert. Auch die Vichy-Regierung schickte a u f deutschen D r u c k Spanier aus ihrer Z o n e , insbesondere nach Schaffung des Zwangsarbeitsdienstes S T O (»Service du Travail Obligatoire«) im Jahr 1 9 4 3 . 3 4 A u f die-

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se Weise wollte das Marionettenregime Pétain erreichen, zur Arbeit in Deutschland verpflichtete französische Kriegsgefangene freizubekommen oder in Frankreich angeforderte einheimische Arbeitskräfte zu ersetzen. Insgesamt dürfte die Zahl der spanischen Zwangsarbeiter in Deutschland u m die 40.000 betragen haben. Etwa Tausend von ihnen kamen bei den alliierten Bombenangriffen auf Deutschland um. Obwohl die Spanier entweder als Angehörige der französischen Armee oder als Aktivisten der französischen Résistance in die deutschen KZs gekommen waren, wurden sie nach der Befreiung gegenüber den französischen Häftlingen stark benachteiligt. Zunächst hatten sie bei der Rückkehr nach Frankreich keinen Anspruch auf Hilfe und Entschädigung. Das änderte sich erst mit der pauschalen Gewährung des vollberechtigten Asylstatus im Jahr 1945 an alle Flüchtlinge von 1939. Einen Sonderfall stellte die parteiinterne Behandlung der überlebenden spanischen Kommunisten dar, die bei der französischen Parteiführung in der Zeit des Hochstalinismus zeitweise in den Verratsverdacht gerieten, woran ebenfalls besonders nachdrücklich Jorge Semprún in seinen autobiographischen Arbeiten erinnert hat. D a ß der Franco-Staat die Erinnerung an die spanischen KZ-Häftlinge jahrelang zu verhindern versuchte, ist nicht erstaunlich. Mehr als zehn Jahre lang wurde beispielsweise das Erscheinen des 1946 verfaßten romanhaften Berichts eines ehemaligen Mauthausen-Häftlings verhindert. Erst nachdem er mit einem französischen Literaturpreis ausgezeichnet worden war, konnte er in einer gekürzten spanischen Version in Barcelona erscheinen (1963 dann das ungekürzte katalanische Original). 35 Francos Nachfolger König Juan Carlos ehrte 1978 bei einem Staatsbesuch in Österreich die Opfer, eine Ehrung, die ebenfalls nicht ohne Widersprüche blieb, weil als Symbol für die Nationalität der Gefangenen die heutige spanische Flagge - unter der bekanntlich die Franco-Truppen kämpften — statt der republikanischen verwendet wurde und die Gedenktafel des Königs den eher verschleiernden Spruch enthält: »España a sus hijos caídos en Mauthausen« (»Spanien seinen gefallenen Söhnen in Mauthausen«).

VI Emigration und Résistance im besetzten Frankreich W ä h r e n d die Spanier in den von den Deutschen nach dem Waffenstillstandsvertrag vom 22. Juni 1940 besetzten Gebieten dem unmittelbaren Zugriff der Besatzungsmacht zum Arbeitseinsatz in Deutschland oder beim Bau des Atlantikwalls durch die Organisation Todt und anderer militärischer Einrichtungen ausgeliefert waren - betroffen davon waren nach groben Schätzungen u m 1942 rund 25.000 Spanier—, wurden im unbesetzten Teil Frankreichs im September 1940 die Arbeitskompanien in die neuen, dem

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Arbeitsministerium unterstellten »Groupements de travailleurs étrangers« (GTE) überführt 3 6 , die keine militärischen Einheiten mehr waren. Da die Flüchtlinge hier also nicht mehr zur militärischen Unterstützung gebraucht wurden, erlaubte Vichy zunächst mit deutscher Einwilligung die Fortführung der Auswanderung. Dazu wurde etwa am 23.8.1940 ein A b k o m m e n mit Mexiko geschlossen. 37 Deutschland begann jedoch bald Druck auszuüben, um keine Männer im wehrfähigen Alter herauszulassen. Immer wieder wurden Transporte unterbunden, bis schließlich diese Auswanderungsmöglichkeit 1942 endgültig beendet wurde, durch die insgesamt etwa 4.000 Spanier e n t k o m m e n konnten. Im übrigen bedeutete die neue Situation für viele Spanier eine Rückkehr zur Lage vor Kriegsbeginn. Denjenigen, die nicht zur Minderheit mit Arbeitsverträgen oder zu den G T E s gehörten, drohte die erneute Internierung. Im Unterschied zu 1939 fehlte nun aber die französische Öffentlichkeit, die Druck auf die Regierung zur Verbesserung der Lager-Situation machte, welche noch repressiver als zwei Jahre zuvor war. Protest konnte jetzt nur aus neutralen Ländern wie der Schweiz oder den USA kommen, zu denen das Vichy-Regime gute Verbindungen aufrechterhalten wollte. Schließlich reagierte es auf Veröffentlichungen in der ausländischen Presse, indem im September 1941 eine neue Behörde (»Inspection générale des camps«) eingerichtet wurde, die sich um die Verbesserung der Lage in einzelnen Lagern k ü m m e r n sollte. Das bezog sich nicht nur auf die materielle Lage, sondern auch auf das Verhalten des Wachpersonals. Augenscheinlich wirkte dies aber nicht bis in die nordafrikanischen Lager, deren Insassen beim Bau der transsaharischen Eisenbahn eingesetzt wurden. In einigen davon herrschte eine solche Gewalt gegen die Internierten, daß es dort nach der Befreiung zu Prozessen kam, in denen sogar einige Todesurteile gefällt wurden. 3 8 Nordafrika blieb allerdings die Ausnahme, ähnliche Verfahren für die Lager in Frankreich gab es nicht. Außerdem gab es für die Spanier im unbesetzten Frankreich nach dem Waffenstillstand ein neues Problem. In Vichy herrschten die »Freunde« Francos, u n d dessen Regierung forderte wiederholt die Auslieferung der noch in Frankreich befindlichen Anführer der »Republikaner«. 39 Verschiedentlich präsentierte die spanische Regierung sogar Namenslisten. Doch das PétainRegime lehnte dieses Ansinnen unter Berufung auf das spanisch-französische Auslieferungsabkommen vom 1. Dezember 1877, das die Auslieferung wegen politischer Delikte für unzulässig erklärte, immer wieder ab, obwohl die spanische Regierung behauptete, allen Auslieferungsbegehren lägen ausschließlich kriminelle Straftaten zugrunde. Teils lehnte Vichy direkt ab, teils ließ es die Gerichte entscheiden, die ebenfalls die spanischen Begehren zurückwiesen. Dieses auf den ersten Blick erstaunliche Verhalten des »Etat français«, der ja im Falle der Juden solche Skrupel nicht zeigte, dürfte wohl

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einem konservativen diplomatischen Legalismus geschuldet sein, zu dem vielleicht auch noch traditionelle französische Verachtung gegenüber Spanien hinzukam. Nicht zuletzt dürfte es aber auch möglichem internationalen Echo geschuldet sein, das einige tatsächlich erfolgte Auslieferungen im Jahr 1940 hervorgerufen hatten. Davon waren einige prominente Politiker betroffen (u.a. der ehemalige Präsident Kataloniens Lluis Companys und der syndikalistische Minister von 1936/37 Joan Peiró), die dann zum Tode verurteilt wurden. Diese Auslieferungen waren jedoch tatsächlich durch die deutsche Besatzungsmacht erfolgt und in der Öffentlichkeit — zum Teil sogar noch heute in der Historiographie - der Vichy-Regierung zugeschrieben worden, die allerdings auch kein wirkliches Interesse an dem Schicksal der Ausgelieferten gezeigt hatte. N u r in einem einzigen Fall, der 1942 erfolgten Auslieferung des anarchistischen Generals Cipriano Mera, läßt sich die alleinige Verantwortung der Vichy-Regierung belegen. In anderen Dingen hingegen zeigte die Vichy-Regierung gegenüber Franco mehr Entgegenkommen. Nachdem noch kurz vor Beginn des deutschen Angriffs auf Frankreich die republikanischen Hilfsorganisationen SERE und JARE verboten worden waren, erleichterte man den Frankisten die Propaganda für die Repatriierung, schloß sogar im Juni 1941 einen Vertrag darüber und gestattete dem »Sozialdienst« der faschistischen Staatspartei Spaniens, der Falange, Vertretungen in Frankreich zu eröffnen. Mit dem wachsenden Arbeitskräftemangel ab 1942 aufgrund der Deportationen nach Deutschland auch aus den unbesetzten Gebieten schob die Vichy-Regierung dann allerdings den Repatriierungen einen Riegel vor, da man die Spanier nun selbst dringend brauchte. 4 0 Auch ging der Vichy-Staat hart gegen alle politischen Aktivitäten der Spanier vor. D e n n hier wuchs der in den Jahren 1940/41 noch schwachen französischen Widerstandsbewegung ein mächtiger Verbündeter zu, der den Kampf gegen Hitler und Pétain als erste Etappe eines umfassenden antifaschistischen Kampfes betrachtete, an dessen Ende auch der Sturz Francos stehen sollte. Tatsächlich stellten die Spanier vor allem in Südfrankreich einen gewichtigen Anteil der Resistance; sie beteiligten sich ferner an den Fluchtdiensten, die alliierte Agenten, abgeschossene Piloten oder Juden aus Frankreich über die iberische Halbinsel hinausschmuggelten; sie fanden sich in der von der KPF aufgebauten »Main d'oeuvre immigree«, die den bewaffneten Kampf gegen die deutschen Besatzer in den Städten führte. W o es hauptsächlich in Südfrankreich — zur Bildung von Guerillagruppen, dem Maquis, kam, waren Spanier ebenfalls dabei. 41 Die exilierte Kommunistische Partei Spaniens bildete in enger Zusammenarbeit mit den französischen Kommunisten Organisationen mit überparteilichem Anspruch, die »Unión nacional española« u n d die »Agrupaciones de guerrilleros españoles«. Aber auch die anderen politischen

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Strömungen, vor allem die Anarchisten, waren aktiv. Das gespannte Verhältnis unter ihnen paralysierte jedoch die Kampfkraft des Widerstands. Nicht-kommunistische Einheiten wurden marginalisiert bzw. Nicht-Kommunisten aus kommunistischen Einheiten ausgeschlossen. Es kam sogar zu regelrechten Säuberungen, die in einigen Fällen wohl auch zu Ermordungen führten. 4 2 Insbesondere gilt das für die ersten Monate nach der weitgehend allein von der Résistance erfolgten Befreiung Südfrankreichs im Herbst/ Winter 1944, als die KPF nicht unbeträchtliche Gebiete dominierte. Wegen des »irregulären« Charakters dieser Guerilla ist es natürlich schwer, genaue Angaben zu machen. Rubio schätzt, daß auf dem H ö h e p u n k t der Kämpfe 1944 mindestens 10.000 Spanier in Südfrankreich daran beteiligt waren. Spanier gehörten ebenso zur Armee de Gaulles. 43 Die Vorhut hatten, wie erwähnt, die Angehörigen der Fremdenlegion in Narvik gebildet, weitere Exilanten kamen mit der geschlagenen Armee, die von Dünkirchen nach Großbritannien evakuiert worden war. Die Mehrheit dürfte aber aus Einheiten der Fremdenlegion in Nordafrika, insbesondere nach der angloamerikanischen Besetzung 1943, zur »France Libre«-Bewegung übergetreten sein. So kam es dort zur Bildung regulärer spanischer Einheiten, mit spanischen Offizieren, Unteroffizieren und eigener spanischer Kommandosprache. Den H ö h e p u n k t der spanischen Beteiligung bildete der Einmarsch in Paris 1944, bei dem eine Reihe von französischen Panzern Namen wie Teruel, Guadalajara oder Brúñete trug, die auf ihre spanischen Besatzungen hinwiesen.

VII Die Auswanderung nach Lateinamerika Als Möglichkeit zur Weitermigration bot sich 1939 für die Spanier in Frankreich, wie bereits angedeutet, nur Lateinamerika an. Es war vor allem Mexiko, das sich durch seine generöse Aufnahmepolitik auszeichnete. Unter Präsident Lázaro Cárdenas hatte sich das Land, noch geprägt von der eigenen Revolution, dem Kampf der spanischen Republik besonders eng verbunden gefühlt, die Nicht-Interventionspolitik von vornherein zurückgewiesen und schon während des Kriegs eine Gruppe von 500 Kindern und einige Intellektuelle aufgenommen. Bereits im Frühjahr 1939 wurden von den genannten spanischen Hilfskomitees die ersten großen Schiffstransporte organisiert. Selbst auf dem H ö h e p u n k t des Seekrieges nach 1940 wurden die Transporte nicht gänzlich abgebrochen, um in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder stark anzusteigen. So nahm Mexiko im ersten Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg 21.750 Spanier auf, davon 1939 7.397; 1940 2.055; 1941 1.917; 1942 3.055; 1943 337; 1944 633; 1945 709; 1946 1.618; 1947 2.852; 1948 1.177. Kein anderes Land in Lateinamerika akzeptierte so viele repu-

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blikanische Flüchtlinge. 44 Das Bild dieses Exils ist vor allem durch die große Zahl von Wissenschaftlern und Künstlern geprägt, die in der Folgezeit einen bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung des Landes leisten sollten, was zum Beispiel ein späterer Präsident Mexikos, José Lopez Portillo, in einer offiziellen Würdigung unterstrich. 4 5 Ein weiteres zur Aufnahme bereites Land war das 1939 von einer Volksfront regierte Chile. Dorthin gingen 1939 2.200 Flüchtlinge; die 1940 angekündigte Bereitschaft zur A u f n a h m e von weiteren 3.000 wurde aber nicht realisiert. Einen Sonderfall stellte die Dominikanische Republik dar. Hier plante der Diktator Trujillo Ende der dreißiger Jahre eine umfassende Ansiedlung von Europäern, um die wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern, aber auch, um das »weiße Element« zu stärken. So kamen 1939/40 mehr als 3.000 Spanier, die aber größtenteils nach kurzer Zeit aus klimatischen, wirtschaftlichen, aber auch aus politischen Gründen in andere lateinamerikanische Länder weiter migrierten. 46 Alle anderen lateinamerikanischen Länder waren nicht zu einer ähnlichen A u f n a h m e bereit. N u r einzelne Individuen konnten dort einwandern, was im Laufe der Jahre in einigen Ländern, etwa Venezuela oder Argentinien, doch zu größeren spanischen Flüchtlingskolonien führte. Im Prinzip legten die Einwanderungsländer Wert darauf, gut ausgebildete Menschen zu bekommen, worunter nicht nur intellektuelle Qualifikationen, besonders wissenschaftliche Spitzenleistungen, sondern ebenso handwerkliche, industrielle oder landwirtschaftliche Ausbildungen und Erfahrungen verstanden wurden. Dementsprechend nahmen SERE bzw. JARE bei der Zusammenstellung eine soziale Auswahl vor, wobei man nur vermuten kann, daß sie nicht sehr streng erfolgte. Wenn Javier Rubio den starken »Elitenanteil« für die gesamte spanische Migration nach Lateinamerika unterstrichen hat, so bestand sie jedoch keineswegs aussschließlich oder mehrheitlich aus solchen Gruppen. Neuere Untersuchungen der Einwanderung nach Mexiko relativieren solche vor allem von Intellektuellen beförderte Annahmen. 4 7

VIII Aufnahmeland Sowjetunion? 4 8 Entgegen den Anfang 1939 vielfach geäußerten Erwartungen - sei es etwa von rechten Politikern in Frankreich mit gehässigem Unterton, sei es von vielen Linken in hoffnungsvoller Zuversicht - nahm die Sowjetunion nur eine kleine Zahl spanischer Flüchtlinge auf. Das waren die Führungsgruppe der KP Spaniens und eine ausgewählte Zahl kommunistischer Spitzenmilitärs sowie wichtige Mitarbeiter der Partei und der sowjetischen Vertreter in Spanien, wozu auch die vom sowjetischen Geheimdienst N K W D rekrutierten Agenten wie der spätere Trotzki-Mörder Ramon Mercader und seine

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Mutter Caritat gehörten. Hinzu kamen noch Familienangehörige. Die Gesamtzahl dürfte nach einem nicht genauer datierten D o k u m e n t der P C E aus dem Jahre 1939 etwa 1.200 Personen betragen haben. Sie trafen auf eine große G r u p p e von Kindern, die im Verlauf der Kämpfe dorthin evakuiert worden waren (mit schwankenden Zahlenangaben zwischen 3.000 und 4.000) sowie auf etwa 300 Militärpiloten zur Ausbildung und eine Reihe von Schiffen der Republik mit insgesamt rund 100 M a n n Besatzung. Während sich die Kinder den Bedingungen der sowjetischen Gesellschaft mehr oder weniger schnell anpaßten, wurden eine Reihe der Matrosen und Piloten Opfer des Stalinismus. Sie wurden anscheinend nach dem deutschen Uberfall auf die UdSSR verhaftet, weil sie die Absicht geäußert hatten, nach Lateinamerika zu g e h e n . E r s t nach dem Tod Stalins wurden die noch Überlebenden freigelassen. Ebenso kehrten im Laufe der Zeit eine Reihe der als Kinder Evakuierten nach Spanien zurück, entsprechend der Normalisierung der Beziehungen zwischen Spanien und der UdSSR. Aber auch Mitglieder der P C E waren bei den periodischen Parteisäuberungen unter der Exilorganisation der Partei in der UdSSR in die Mühlen der stalinistischen Geheimpolizei geraten. Der bekannteste Fall ist der des Bürgerkriegsgenerals El Campesino (Valentín González).

IX Schlußbemerkungen Im Jahr 1944 beschloß das »Intergovernmental Committee on Refugees«, auch die spanischen Flüchtlinge von 1939 zu betreuen, und machte sie damit zu einer international »anerkannten« Flüchtlingsgruppe. Mit dem Dekret vom 15. März 1945 gewährte dann auch Frankreich allen in seinen Grenzen lebenden spanischen Flüchtlingen - ca. 105.000 Personen - politisches Asyl entsprechend der internationalen Flüchtlingskonvention von 1933. 50 Doch das, was die Spanier am meisten erhofften, den Sturz Francos und ihre Rückkehr, trat nicht ein. Es war nicht zuletzt die Haltung Großbritanniens und vor allem der USA, die das Überleben des Regimes sicherte. Nachdem 1945/46 das Ende der Diktatur schon fast sicher schien, wurde Franco im beginnenden Kalten Krieg als Verbündeter entdeckt und erhielt die notwendige wirtschaftliche Unterstützung, ohne die das Regime zusammengebrochen wäre. Daran hatte auch nichts ändern können, daß im August 1945 eine halbwegs repräsentative Exilregierung gebildet wurde, die bis August 1947 von fast allen politischen Kräften des Exils getragen wurde, dann aber wegen ihrer Einflußlosigkeit nur noch die bürgerlich-republikanischen Kräfte des Exils repräsentierte. Somit blieb den spanischen Flüchtlingen nichts anderes übrig, als sich in die jeweiligen Aufnahmeländer zu integrieren. 51

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Gleichwohl blieben viele Exilanten weiterhin im Kontakt zum antifrankistischen Widerstand in Spanien selbst. Dieser veränderte sich jedoch mit dem sozialen Wandel im Lande; neue Generationen mit ganz anderen Erfahrungen traten in den Kampf gegen die Diktatur ein, wodurch manche Exilorganisationen den Kontakt zu den Realitäten der alten Heimat verloren. Dies gilt vor allem für die Anarchisten, die ihre einstmals dominierende Position in der Linken einbüßten. 5 2 Zwar kamen immer wieder neue Flüchtlinge aus Spanien, deren Zahl jedoch nicht mehr mit denen von 1939 zu vergleichen ist. 53 Außerdem wurde das politische Exil seit den fünziger Jahren zunehmend von der großen Arbeitsmigration überlagert. Seit 1945 schuf andererseits das Franco-Regime mit einer Reihe von Maßnahmen bis hin zu einer allgemeinen Amnestie im Jahre 1969 für alle »Delikte« vor dem 1. April 1939 die Möglichkeit zur Rückkehr für die Exilierten. 54 Dies erlaubte zumindest allen, die sich nicht allzu offen im Exil gegen die Diktatur exponiert hatten, ihre Heimat zu besuchen; zu der von der Diktatur erhofften massenhaften Rückkehr führte dies jedoch nicht. Denn alle, die diese Zugeständnisse noch erlebten, waren inzwischen in den Aufnahmeländern beruflich integriert und hatten damit, wenn sie nicht sowieso den Tod Francos abwarten wollten, erst mit dem Erreichen des Rentenalters die Möglichkeit zur dauerhaften Rückkehr. Mittlerweile hat die auf die Franco-Diktatur folgende parlamentarische Monarchie das Exil in einem gewissen Umfang rehabilitiert und sogar Entschädigungen geleistet. 55 Das heißt nicht, daß sich das heutige Spanien auf die vom Exil verkörperte Bürgerkriegsseite stellte. Das nachfrankistische Spanien verdrängte den Bürgerkrieg, wie sich insbesondere anläßlich des fünfzigsten Jahrestags seines Ausbruchs zeigte, und versuchte, ihn dem Vergessen anheimfallen zu lassen. 56 Diese Haltung dominierte ausgerechnet bei den Sozialisten unter Regierungschef Felipe González. Seltsamerweise hat dagegen jüngst die konservative Regierung - nach dem inzwischen eingetretenen Generationswechsel - die Erinnerung an den Bürgerkrieg u n d seine historische Aufarbeitung zur Staatsaufgabe in Form eines Beschlusses über die bereits seit langem geforderte Einrichtung eines zentralen Bürgerkriegsarchivs erklärt. 57

1 Nur für das Exil in Frankreich nach 1939 wurden zur Vorbereitung zweier Tagungen sehr nützliche Bibliographien vorgelegt. Vgl. die Zusammenstellung von Geneviève DreyfusArmand, in: Bulletin de l'Institut d'Histoire du Temps Présentoir. 40, Juni 1990, S . 6 0 - 7 2 , und Javier Rubio: »Coloquio Españoles en Francia 1 9 3 6 - 1 9 4 6 . Consideraciones bibliográficas previas«. In: Studia histórica. Historia contemporánea^.}^. (1990) Nr. 8, 1 8 7 - 2 0 8 . — 2Javier Historia del éxodo que se produce con el Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939.

Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach 1939

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fin de la II República española. Madrid 1977. — 3 Sie sind nur z.T. in Tagungsbänden dokumentiert: La oposición al régimen de Franco. Actas del Congreso, que, organizado por el Departamento de Historia Contemporánea de la UNED, tuvo lugar en Madrid, del 19 al 22 de octubre de 1988. 3 Bde. Madrid 1990 (darin geht es allerdings auch um den innerspanischen Widerstand); Pierre Milza/Geneviève Dreyfus-Armand (Hg.): Exils et migrations: Italiens et Espagnols en France, ¡938—1946. Paris 1994; Josefina Cuesta Bustillo/Benito Bermejo Sánchez (Hg.): Emigración y exilio. Españoles en Francia 1936—1946. Madrid 1996; A. Alted Vigil/M. Aznar Soler (Hg.): Literatura y cultura del exilio español de 1939 en Francia. Salamanca 1998. — 4 Ihre Adressen: http://www.u-parisl0.flbdic/cermi\iTW. http://usuarios.iponet.es/aemic. Während das spanische Bulletin im Volltext eingestellt wurde, finden sich von der französischen Zeitschrift nur die Inhaltsverzeichnisse. Des weiteren ist noch die 1996 in Spanien gegründete »Asociación para la creación del Archivo de la Guerra Civil, las Brigadas Internacionales, los Niños de la Guerra, la Resistencia y el Exilio español« (AGE) zu nennen, die sich um die Sicherstellung aller Archive (v. a. in Privatbesitz) bemüht. Auch sie verfügt über eine Website (http://www.nodo50.org/age) und kooperiert mit den seit März 1999 staatlicherseits institutionalisierten Bemühungen, ein »Archivo General de la Guerra Civil« aus der Zusammenfassung bisheriger zersplitterter staatlicher oder privater Bestände zu schaffen. — 5 Geneviève Dreyfus-Armand: L'exil des Républicains en France: de la guerre civile à la mort de Franco. Paris 1999. — 6 Wiederabgedruckt in: Wilhelm Alff: Der Begriff Faschismus und andere Aufiätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt/M. 1971, S. 1 4 2 - 180. — 7 Die große Reise, zuerst 1964; Was für ein schöner Sonntag, zuerst 1981, Schreiben oder Leben, zuerst 1995. — 8 Tranvia Nr. 28 vom März 1993; Neus Caralà: »In Ravensbrück ging meine Jugend zu Ende.« Vierzehn spanische Frauen berichten über ihre Tätigkeit in der französischen Résistance und ihre Deportation in deutsche Konzentrationslager. Berlin 1994 (Originalausgabe: De la resistencia y la deportación. 50 testimonios de mujeres españolas. Barcelona 1984). — 9 Vgl. hierzu Walther L. Bernecker: »Spaniens >verspäteter< Faschismus und der autoritäre >Neue Staat< Francos«. In: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 12 (1986) Nr. 2, S. 1 8 3 - 2 1 1 ; Herbert R. Southworth: »Möglichkeiten und Grenzen der Definition des Franquismus als Faschismus«. In: Günter Schmigalle (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg. Literatur und Geschichte. Frankfurt/M. 1986, S. 9 - 2 4 . Ders.: »La Falange: un análisis de la herencia fascista española«. In: Paul Preston (Ed.): España en crisis: La evolución y decadencia del régimen de Franco. México, D. F. 1976, S. 29 — 60; Pierre Broué/Emile Témime: Revolution und Krieg in Spanien. Frankfurt/M. 1969, S. 226. — 10 Eine eher untertriebene Zahl, da es in den ersten Nachkriegsmonaten viele willkürliche und unkontrollierte Massenerschießungen in den Gefangenenlagern und den soeben besetzten Gebieten gegeben hatte. Vgl. Max Gallo: Spain under Franco. A History. London 1973, S. 55 u. 67 f. — 11 Borja de Riquer/Joan B. Culla: El franquisme i la transido democrática (1939-1988). Barcelona 1989, S. 101 f., 111 f.; Robert P. Clark: The Basques: The Franco Years and Beyond. Reno 1979, S. 81 f. — 12 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S.23ff; Abschnitt »Espagnols« in: Marianne Amar/ Pierre Milza: L'immigration en France au XXe siècle. Paris 1990, S. 1 1 5 - 1 1 8 . — 13 Des weiteren gab es auch eine allerdings sehr kleine Fluchtbewegung nach Portugal, die bisher noch nicht eingehend erforscht worden ist. Vgl. dazu die Bemerkungen bei Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S.44. — 14 Die folgende Darstellung stützt sich auf ebd., S. 3 7 - 6 5 . — 15 Die Fluchtbewegungen oder auch nur ihre drohende Gefahr verschärften zugleich die innenpolitische Konfrontation, die der spanische Bürgerkrieg in Frankreich ausgelöst hatte. Vgl. dazu als grundlegende Studie von David W. Pike: Les Français et la Guerre d'Espagne, 1936—1939. Paris 1975- — 16 Javier Rubio: Laemigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 65. — 17 Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté. Les camps des prisonniers espagnols 1939-1945• Paris 1993, S. 33, 41, 45 f. — 18 Genaue Zahlen sind nie bekanntgeworden, da das Chaos dieser ersten Tage eine exakte Zählung nicht zuließ. Vgl. die detaillierte Untersuchung der verschiedenen Angaben bei Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936—1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 7 0 - 7 3 , der eine Gesamtzahl von 470.000 Flüchtlingen errechnet. — 19 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 7 7 - 8 8 , 106. — 20 Einige

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Angaben zu den verschiedenen Kinderverschickungen bei John Hope Simpson: The Refugee Problem. Report o f a Survey. London 1939, S. 1 6 6 - 1 6 9 , 3 2 8 - 3 3 3 , 343 f. Eine Übersicht über das Schicksal in einem Aufnahmeland liefern z.B. Emilia Labajos-Pérez/Fernando VitoriaGarcía: Los niños españoles refugiados en Bélgica (1936—1939). Namur 1997. Hinweise auf das Schicksal der - etwa 3.000 - Kinder in der UdSSR geben z. B. die Memoiren von José Fernández Sánchez: Memorias de un niño de Moscú. Cuando salí de Ablaña. Barcelona 1999. — 21 Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 45 f., 48 f., 101 f f . — 22 Ebd., S. 5 5 - 5 7 und 1 3 4 - 1 3 6 , sowie Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939(s. Anm. 2), Bd. 1, S. 1 1 6 - 129. — 23 Ebd., S. 121 - 1 2 4 . — 24 Wobei bei dieser Zahl natürlich zu berücksichtigen ist, daß neben der Repatriierung auch schon die Weitermigration, besonders nach Lateinamerika, eingesetzt hatte. — 25 Vgl. dazu den Sammelband Plages d'Exil. Les camps de réfugiés espagnols en France 1939, zusammengestellt von Jean-Claude Villegas. Paris 1989. — 26 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 1 2 9 - 1 5 7 , und Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 1 3 8 - 1 4 1 . — 27 Vgl. die Angaben bei Marie-Claude RalaneauBoj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 105 f. und 137 f. — 28 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 2 1 3 - 2 3 0 , 3 3 0 - 3 3 3 und Bd. 2, S . 3 8 8 - 3 9 7 ; Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté(s. Anm. 17), S. 1 6 8 - 1 8 0 . — 29 Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 2 6 5 - 2 7 5 - — 30 Ebd., S. 193 — 200, und Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936— 1939 (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 41 1 - 4 2 0 . — 31 F.bd., S. 401 - 4 1 0 ; das in Anm. 6 erwähnte Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte von Wilhelm Alff sowie die in Anm. 8 erwähnte Nummer der Zeitschrift Tranvía; Gisela Rabitsch: »Das KL Mauthausen«. In: Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Stuttgart 1970, S. 5 0 - 9 2 ; Evelyn Le Chêne: Mauthausen. The Story o f a üeath Camp. London 1971 ; Hans Marsálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Wien 1980. — 32 Berechnungen bei Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936- 1939(s. Anm. 2), Bd. 2, S. 409 f. — 33 Ebd., Bd. 2, S. 3 9 9 - 4 0 1 . — 34 Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 235 f. — 35 Joaquim Amat-Piniella: K. L. Reich. Vgl. dazu den Artikel von P. Joan i Tous über das Buch in der schon erwähnten Nummer von Tranvia (s. Anm. 8). — 36 Ebd., S. 164 ff. und Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 201, 233 i f . — 37 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 4 4 8 - 4 5 5 . — 38 F.bd., S. 2 2 9 - 2 3 3 und Bd. 1, S. 3 4 7 - 3 5 4 . — 39 Als Übersicht zu den Auslieferungen vgl. Marie-Claude RafaneauBoj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 203 ff.; Matthieu Séguéla: Pétain - Franco. Les secrets d'une alliance. Paris 1992, S. 2 5 2 - 2 7 1 . — 40 Ebd., S. 2 7 8 - 2 8 6 . — 41 Zu Repressionsmaßnahmen (Massenverhaftungen, Prozessen usw.) gegen die Parteien und Gewerkschaften der Spanier vgl. Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 17), S. 2 5 6 - 3 0 4 . Zum MOI und der Rolle von Spaniern in ihr vgl. Stephane Courtois/Denis Peschanski / Adam Rayski: Le sang de l'étranger. Les immigrés de la MOI dans la résistance. Paris 1989; zur Résistance z.B. Harry R. Kedward: In Search of the Maquis. Rural Resistance in Southern France, 1942—1944. Oxford 1994; Hervé Mauran: La résistance espagnole en Cevennes. Nîmes 1995; Marc Parrotin: Immigrés dans la Résistance en Creuse. Ahun 1998. — 4 2 Vgl. dazu die von französischen und spanischen Anarchisten erstellte Dokumentation 1944. Les dossiers noirs d'une certaine Résistance. Perpignan 1984. — 4 3 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 4 3 6 - 4 4 1 und Marie-Claude Rafaneau-Boj: Odyssée pour la liberté (s. Anm. 1 7 ) , S . 3 0 2 - 315. — 4 4 Javier Rubio: Laemigración de la guerra civil de 1936-I939(s. Anm. 2), Bd. 1, S. 1 5 7 - 1 9 9 , 2 3 0 - 2 6 5 , und Bd. 2, S. 4 4 7 - 4 6 4 , 743. — 45 Siehe sein Vorwort zu der repräsentativen und umfassenden Darstellung El exilio español en México 1939-1982. México, D. F. 1982, S. 9 - 1 2 . — 46 Einen autobiographisch gefärbten Blick darauf wirft Javier Malagón: »El exilio en Santo Domingo ( 1 9 3 9 - 1 9 4 6 ) « . In: José María Navarro-Calderón (Hg.): El exilio de las Españas de 1939 en las Américas: »¿Adonde fue la canción?«. Barcelona 1991, S. 1 5 4 - 1 7 7 . — 47 Javier Rubio: »Etapa americana del gobierno de la Républica española en el exilio«. In: Navarro-Calderón, El exilio de las Españas (s. Anm. 46), S. 8 7 - 1 1 0 , hier S. 90, 106. — 4 8 Das folgende nach

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Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 107 f., 1 9 9 - 2 0 2 , Bd. 2, S. 4 4 1 - 4 4 7 . Wichtige Angaben zum Exil in der UdSSR finden sich auch in folgenden Geschichten der PCE: Gregorio Morán: Miseria y grandeza del Partido Comunista de España 1939-1985. Barcelona 1986, passim; Víctor Alba: El Partido Comunista en España. Ensayo de interpretación. Barcelona 1978, S. 266 f. — 4 9 David W. Pike: »Les Républicains espagnols incarcérés en URSS dans les années 1940«. In: Matériaux pour l'histoire de notre temps. 1. Jg. (1985) Nr. 3 - 4 , S. 9 9 - 1 0 3 . — 50 Vgl. Jacques Vernant: The Refugee in the Post-War World. New Häven 1953, S. 28; Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 7 4 1 - 7 4 5 . — 51 Nancy Macdonald: Homage to the Spanish Exiles. Voices from the Spanish Civil War. New York 1987. — 52 Siehe dazu meinen Beitrag »Der spanische Anarchismus nach 1939 in der französischen Résistance und im innerspanischen Widerstand«. In: Andreas Graf (Hg.): Anarchisten gegen Hitler. Berlin 1999 (i. Dr.). — 53 David W. Pike: »L'immigration espagnole en France ( 1 9 4 5 - 1952)«. In: Revue d'histoire moderne et contemporaine. Bd. 24 (1977) Nr. 2, S. 2 8 6 - 3 0 0 . — 54 Javier Rubio: La emigración de la guerra civil de 1936-1939 (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 673 ff. und 745 ff. — 55 Z. B. durch Pensionszahlungen an die Angehörigen der republikanischen Armee, aber auch durch Sozialrentenzahlungen an alle, die zwischen 1936 und 1942 wegen des Bürgerkriegs das Land verließen (El País vom 26. 6. 1993). — 56 Vgl. den Abschnitt »Der Bürgerkrieg und die spanische Gesellschaft — 50 Jahre danach«. In: Walther L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939. Darmstadt 1991, S. 216 ff. — 57 Vgl. El País vom 20.3. und 18.6.1999. Als es allerdings einige Monate später im spanischen Parlament um die konkrete Verurteilung des Franco-Putsches ging - die Sozialisten hatten einen entsprechenden Antrag eingeb r a c h t - , stimmten sie dagegen (El País vom 15. und 16.9. 1999).

Jean-Louis Cremieux-Brilhac

Freie Franzosen in London 1940 bis 1944

I Waren die »Freien Franzosen«, die Widerstandskämpfer um Charles de Gaulle, in London Flüchtlinge? 1 Diese Bezeichnung ist unangemessen, m u ß zumindest nuanciert werden. Es steht außer Zweifel, daß viele von ihnen während der Monate nach dem Waffenstillstand von 1940, der Demütigung durch den Zusammenbruch und den Wirren des »Blitzkrieges« mit Bitterkeit das Dasein von Entwurzelten geführt haben: »Die bittersüße Würze des Exils hielt uns in atemloser Spannung«, schrieb René Cassin, einer der ersten Kampfgefährten de Gaulles. 2 Aber die Freien Franzosen, die ich ab September 1941 in London selbst kennengelernt und erlebt habe, hielten sich weder für Flüchtlinge noch für Emigranten. Sie verspürten weder Bitterkeit noch hatten sie Angst vor der Z u k u n f t und der Einsamkeit. Sie waren überzeugt, auf der Seite der Wahrheit zu stehen, und sie glaubten fest daran, siegreich in ein befreites Frankreich zurückzukehren. Spätestens ab Juni 1941, nach dem Kriegseintritt der Sowjetunion, teilten sie das Vertrauen des Durchschnittsengländers, der nie am Sieg der freien Welt zweifelte. Diese Leute waren überzeugt, eine Mission erfüllen zu müssen: sie hatten nicht nur zur Befreiung ihres Landes beizutragen, sondern auch Zeugnis davon abzulegen, daß sich Frankreich immer noch im Kriegszustand befand; mehr noch: sie hatten das Gefühl, Frankreichs Ehre zu hüten. Dafür kämpften sie. Selbst jene, die zivile Ämter inne hatten, betrachteten sich als Kämpfer. Sie waren keine Flüchtlinge, sie waren Rebellen, das heißt freie Menschen, die stolz darauf waren, die richtige Entscheidung gefällt zu haben. Auch nach fünfzig Jahren sind die Uberlebenden, mehr oder weniger offen ausgesprochen, überzeugt, quasi einem Orden angehört zu haben. Eine derartige Behauptung mag paradox oder naiv klingen, aber ich glaube nicht, das Bild zu überzeichnen. Nicht, daß sie sich im Vergleich zu den übrigen Flüchtlingen in London für etwas Besseres hielten oder einen anderen Lebensstil führten. Ais Soldaten erhielten sie den gleichen Sold, der in der britischen Armee üblich war und vom britischen Schatzamt (Treasury) gezahlt wurde. Diejenigen, die nicht kasernierte Soldaten waren, lebten in Dienstwohnungen (service flats) oder bescheidenen Familienpensionen in South Kensington. Der Großteil der Militär- u n d Zivilpersonen aß in Militärkasernen zu Mittag, wo es ähnlich wie in den Fabrikkantinen keiner

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rationierten Essensmarken bedurfte. General de Gaulle war ebenfalls die ersten zwei Jahre in dem bequemen, aber bescheidenen Hotel »Rubens« in Kensington untergebracht. Die Offiziere der verschiedenen Nationalitäten hatten wegen der Sprachprobleme wenig Kontakt untereinander, trafen sich aber kameradschaftlich im Interalliierten Club in Knightsbridge, in einer Villa, die die ehemalige Residenz des Herzogs von Wellington gewesen war. W e n n man von äußerlichen Ähnlichkeiten absieht, m u ß man in Bezug auf die Freien Franzosen hervorheben, daß es in dieser kleinen und gleichzeitig nicht zu übersehenden Welt der Flüchtlinge gewisse französische »Ausnahmen« gab. Sie gipfelten in den berühmten Worten Churchills, daß von allen Kreuzen, die er zu tragen hatte, das Lothringer Kreuz - das Emblem der Freien Franzosen — das schwerste gewesen sei. Zwei Faktoren bestimmten die französischen Eigenheiten: einerseits die besondere Stellung Frankreichs innerhalb Europas und im Rahmen der Strategie der Alliierten - oder zumindest die Vorstellungen, die die »Free French« darüber hatten; andererseits die Eigenheiten General de Gaulles, seine Autorität und Handlungsweise. Diese beiden Faktoren behinderten sich gegenseitig und sie haben die psychologische und politische Lage der Franzosen in London geprägt. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus den übrigen besiegten oder von der Wehrmacht besetzten Ländern hatten die Freien Franzosen mit der legal gebildeten Regierung ihres Landes gebrochen. Mit Ausnahme der deutschen und österreichischen Emigranten trafen die europäischen Flüchtlinge in England auf Vertreter ihrer legalen Regierungen, die vor den nationalsozialistischen Eindringlingen nicht kapituliert hatten. Die Freien Franzosen hingegen hatten in Frankreich immer noch eine legal gebildete Regierung, mit Marschall Petain an der Spitze, der patriotische, von allen respektierte »Sieger von Verdun«, der 20 Jahre lang als »republikanischer Marschall« galt. Man m u ß hinzufügen, daß das besiegte Frankreich 1940 den Schein seiner Unabhängigkeit bewahrte und über Mittel verfügte, der deutschen Siegermacht zumindest theoretisch Widerstand entgegensetzen zu können. Die Hälfte des französischen Territoriums war nicht besetzt, die französische Regierung verfügte in Afrika weiterhin über ein großes Kolonialreich, über eine Armee von 100.000 M a n n im Mutterland, über 120.000 M a n n in den überseeischen Gebieten sowie über eine starke Flotte. Frankreichs Regierung war von allen Staaten der Freien Welt - mit Ausnahme von Großbritannien — offiziell anerkannt: von der Sowjetunion (bis zum Kriegseintritt 1941), von den USA und den britischen Dominions (bis November 1942), und sie alle hatten ihre Botschafter bzw. diplomatischen Vertreter in Vichy gelassen. Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit politisch aufgeklärter Franzosen hatte man sich offenbar nicht vorstellen können, welches abwegig faschistoide, undemokratische und antisemitische Regime sich in Frankreich etablieren

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würde. So erklärt sich, d a ß neun Zehntel der 3 0 . 0 0 0 bis 4 0 . 0 0 0 Armeeangehörigen und Zivilpersonen, die im Juni 1940 beim Vormarsch der deutschen Truppen an der Atlantikküste in die Enge getrieben wurden und per Schiff in die englischen Häfen geflüchtet waren, in den darauffolgenden M o n a t e n mit Z u s t i m m u n g der britischen Behörden nach Frankreich zurückkehrten. Sie warteten nur darauf, ihrem Marschall Respekt erweisen zu können, und waren geplagt von der Sorge u m ihre in Frankreich verbliebenen Familien, von denen jede Nachricht fehlte. Vichy hingegen hatte sie bereits als Deserteure disqualifiziert und den Familien die Besoldung gestrichen. Falls sie sich auf englischer Seite engagieren oder in Kriegsgefangenschaft geraten würden, riskierten sie, als Partisanen behandelt zu werden. Viele von ihnen glaubten zudem, daß der Krieg zu Ende sei und England ebenfalls kapitulieren müsse. Der Überraschungsangriff vom 3. Juli 1940 (Operation C a t a p u l t ) und die Versenkung der französischen Flotte durch die Engländer in der algerischen Bucht von Mers-elKebir— bei der es 1.378 Tote gab — hat bei den Franzosen in Frankreich sowie in England eine allgemeine Empörung ausgelöst. Neun der zehn Generalstabsoffiziere, die sich am 25. Juni 1940 in England befanden, kamen zu der Schlußfolgerung, d a ß sie nur in Frankreich selbst am wirksamsten der eigenen Sache dienen könnten. Die gleiche H a l t u n g nahmen auch die Staatsbeamten, das technische Personal sowie die Diplomaten ein, die 1939/40 nach London abgeordnet worden waren. Die meisten von ihnen kehrten nach Frankreich zurück, unter ihnen der Schriftsteller und Diplomat Paul M o r a n d und René Mayer, Mitglied des obersten Verwaltungsgerichtes (Conseil d'Etat) und Leiter der französischen Rüstungsmission in Großbritannien, der nach Frankreich zurückkehren wollte, um »das Schicksal seiner Landsleute und jüdischen Glaubensbrüder zu teilen«. Tausende der aus Frankreich Evakuierten oder Geflüchteten stellten sich jedoch offen auf die Seite der Alliierten. Die angesehensten Persönlichkeiten unter ihnen zogen es vor, in Amerika Schutz zu suchen: zu ihnen gehörten der ehemalige Generalsekretär des Quai d'Orsay, Alexis Léger, der unter seinem Schriftstellernamen Saint John Perse 1960 den Nobelpreis für Literatur erhielt; die Schriftsteller Jules R o m a i n und André Maurois, M i t g l i e d der Académie française; der Direktor des Zentrums für Wissenschaftsforschung (Centre de la Recherche scientifique) Laugier und eine Reihe von Journalisten, die gefährdet waren, weil sie den Nationalsozialismus angeprangert hatten. Zu ihnen gehörte auch Jean M o n n e t , Präsident des Komitees für anglo-französische Zusammenarbeit, de facto der alliierte Pool für Rohstoffe, der de Gaulies Idee, ein eigenes politisches Exekutiv-Komitee zu bilden, für unrealistisch hielt und als Hirngespinst ansah u n d es stattdessen für angebrachter hielt, sich Churchill direkt zur Verfügung zu stellen. Er w u r d e von

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Churchill beauftragt, direkt in Washington Verhandlungen über Waffenlieferungen zu führen. Ab Juni 1940 war London eine Stadt, wo man nicht ein-, sondern abreiste. Auch die Geschäftsleute großer U n t e r n e h m e n sowie jüdische u n d protestantische Bankiers in Frankreich hielten es für sinnvoller, die spanischfranzösische Grenze zu überschreiten, u m d e m Nationalsozialismus zu entk o m m e n , und nicht nach England, sondern nach Amerika zu flüchten. Viele m u ß t e n zumindest bis 1943 in England ausharren. M a n bezeichnete sie in London als Flüchtlinge, m a n c h m a l sogar als »Versteckte«, die Freien Franzosen betrachteten sich im Gegensatz zu ihnen als Engagierte. N a c h d e m de Gaulle seinen ersten Aufruf an die Franzosen gerichtet hatte, hegten er und Churchill die H o f f n u n g , daß sich eine französische Kriegsregierung aus Politikern, Diplomaten u n d großen Armeechefs bilden würde. Führende Minister und Abgeordnete in Frankreich waren tatsächlich gegen jegliche, wie auch i m m e r geartete Kooperation mit Hitler; einige von ihnen, so beispielsweise der C h e f der sozialistischen Partei Leon Blum, hatten jedoch beschlossen, in Frankreich zu bleiben, u m sich d e m neuen Regime entgegenzustellen und nicht als Flüchtende dazustehen. A m 19. Juni 1940 schifften sich andererseits 2 5 Parlamentarier nach französisch Nordafrika ein, um im französischen »Empire« den Krieg fortzuführen. Unter ihnen befanden sich der ehemalige Regierungschef Daladier und Innenminister M a n d e l sowie die jungen Hoffnungsträger der radikalen Partei (Parti radical) Pierre Mendes-France und Jean Zay. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in M a r o k k o wurde ihr Plan jedoch vereitelt, sie kamen auf Befehl der Regierung Petain unter Hausarrest oder wurden verhaftet. Die Gouverneure und Militärchefs in den Kolonien, die anfangs spontan gegen die Kapitulation Frankreichs protestiert hatten, unterwarfen sich letztlich der Autorität Petains. Die Freien Franzosen in London waren ursprünglich nur eine kleine M i n derheit von Rebellen, die den Waffenstillstand nicht akzeptierten. Einige von ihnen folgten dem Aufruf des damals praktisch unbekannten de Gaulle vom 18. Juni, in welchem er über die B B C verkündet hatte, daß es die Pflicht verlange, weiter zu kämpfen, d a ß Frankreich zwar eine Schlacht, aber nicht den Krieg verloren habe u n d d a ß die »Flamme der französischen Resistance weder erlöschen dürfe noch werde«. Die meisten »Geflüchteten« erfuhren erst in England etwas von diesem Aufruf. Der erste Erfolg de Gaulles bestand darin, unter seiner Autorität praktisch alle in England befindlichen Franzosen, die den Kampf fortführen wollten, versammelt zu haben. Die Zahl der »Freiwilligen« war allerdings sehr niedrig. A m 28. August 1940 zählte man 2 . 7 0 0 Soldaten des Heeres, darunter 9 0 0 Fremdenlegionäre; die Mehrzahl der 100 Berufsoffiziere gehörte ebenfalls zur Fremdenlegion oder zur Kolonialinfanterie, das heißt es waren hartgesottene Kerle. A m 30.

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Juni schloß sich in London ein einziger General de Gaulle an, der bisher nicht hervorgetretene Admirai Muselier. Im September folgten zwei weitere Generäle, darunter der berühmte General Catroux, den die Vichy-Regierung seines Amtes als Generalgouverneur Indochinas enthoben hatte. Außerdem haben sich knapp 1.000 Matrosen der französischen Marine, die sich in englischen Häfen aufhielten, de Gaulle angeschlossen. Ende 1940 belief sich die Zahl der den Freien Franzosen angehörenden Seestreitkräfte a u f 3 . 0 0 0 M a n n und die der Handelsmarine auf 2 . 1 0 0 M a n n - dank des Engagements j ü n gerer Zivilpersonen, bretonischer Seefischer und der Matrosen der H a n delsflotte. Ferner zählte man unter den Freien Franzosen 2 0 0 bis 3 0 0 Flieger. Flugkapitän Soufflet war zusammen mit fünf Kameraden vom Flughafen Royan aus nach England geflüchtet; neun Offiziere und Unteroffiziere der Luftwaffe - unter ihnen der zukünftige Minister Christian Fouchet — sind in einem britischen Bomber von Bourdeaux aus geflüchtet; ein junger Starpilot, Mouchotte, landete erfolgreich von Oran aus auf der Pferderennbahn von Gibraltar; hundert Anwärter der Pilotenschule von Morlaix flüchteten nach Falmouth. Diese Kräftesteilten nur ein »Gerippe« dar. Unter den Zivilpersonen, die sich 1940 de Gaulle anschlössen, befand sich nur ein Abgeordneter, weder ein Minister noch ein Botschafter oder ein hoher Beamter. Der Großteil der Zivilpersonen, die Frankreich freiwillig verlassen hatten, bestand aus Studenten, zum Teil auch aus Gymnasiasten aus der Bretagne und dem Süd-Westen; 2 5 0 waren zwischen 14 und 18 Jahre alt, 8 0 % gehörten der nationalen Rechten an, einige waren sogar rechtsextreme Royalisten. Unter ihnen befanden sich A b k ö m m l i n g e des alten französischen Adels und die Enkel von zwei Marschällen des Ersten Weltkriegs. Verletzter Patriotismus dürfte ihr Beweggrund gewesen sein. Eine kleine Minderheit bildeten die Vertreter der antifaschistischen Linken und der jüdischen Intelligenz. Unter den 3 5 0 Personen, die sich am 20. Juni 1940 in Bayonne und SaintJean-de-Luz eingeschifft hatten, befanden sich 15 junge M ä n n e r adeliger Familien und 35 Juden; zu ihnen gehörte ein junger brillanter Professor der Philosophie, R a y m o n d Aron, sowie der spätere Nobelpreisträger für M e d i zin, François Jacob. M a r k a n t e Zivilpersonen nahmen den zweiten Platz im Freien Frankreich der ersten Stunde ein: der Jurist René Cassin, Professor an der juristischen Fakultät von Paris und Präsident einer großen Veteranenvereinigung; der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Georges Boris, ehemaliger Kabinettschef von Léon B l u m ( 1 9 3 8 ) ; M a u r i c e Dejean, ehemaliger Kabinettschef von Daladier; Gaston Pawleski, der de Gaulle gut kannte und ein enger M i t arbeiter des ehemaligen Ministerpräsidenten Paul Reynaud war. Zu erwähnen sind auch die jungen Intellektuellen der verschiedenen französischen Auslandsinstitute, wie der aus Mexiko geflüchtete Ethnograph Jacques Sou-

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stelle, der mit 27 Jahren Direktor des Musée de l ' H o m m e (Völkerkundemuseum) war; ebenso der Archäologe Joseph Hackin, Leiter der Ausgrabungen in Afghanistan. Kurzum, es war eine kleine Schar, die nichts außer dem Geist repräsentierte, aber politisch stark motiviert war; einerseits Anhänger der Rechten, die ausgeprägtesten Patriotismus verkörperten und oftmals traditionalistisch und mehrheitlich antiparlamentarisch eingestellt waren, auf der anderen Seite einige Vertreter der antifaschistischen Linken, Sozialisten und linke Sympathisanten. Zwei Jahre lang gab es keine weitere zahlenmäßige Verstärkung aus Frankreich, denn ab September/Oktober 1940 wurde das französische Küstengebiet streng überwacht. Einige Soldaten, die auf See von den Deutschen verhaftet worden waren, hatte man erschossen, um ein Exempel zu statuieren.

II Man kann weder das Phänomen des »Freien Frankreich« noch die Mentalität und Verhaltensweise der Freien Franzosen verstehen, wenn man nicht die Persönlichkeit General de Gaulles in Betracht zieht. N u r drei Wochen vor seinem Londoner »Appell« hatte er den Generalsrang und die Ernennung zum »befristeten Brigadegeneral« erhalten. Vom 6. bis 17. Juni war er Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium gewesen, so daß er geltend machen konnte, der einzige in Freiheit befindliche Vertreter der letzten Regierung der III. Republik zu sein. Seine frühere Karriere war relativ zügig verlaufen. Bis 1939 war er eher durch seine Publikationen als durch spektakuläre Taten hervorgetreten. Vor Guderian war er der Theoretiker der Panzerwaffen und des Panzerwaffenkrieges gewesen. Sechs Jahre lang m u ß t e er um die Aufstellung eines mechanisierten, aus Panzereinheiten bestehenden Armeekorps kämpfen. Im Mai 1940 übertrug man ihm das K o m m a n d o einer »Panzerdivision«, die noch nicht einmal aufgestellt war. Er kommandierte zwei Gegenoffensiven in den Departements Aisne u n d Somme u n d trug die einzigen lokalen Siege davon, die auf der Aktivseite der Armee während dieser Schlacht zu verzeichnen waren. A m 5. Juni wurde er von Ministerpräsident Paul Reynaud zum Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium ernannt u n d erhielt den Auftrag, Verbindung zum neuen britischen Premierminister Churchill zu halten. A m 16. Juni erhielt er dank Jean M o n n e t von Churchill die Zusage für die Bildung einer britisch-französischen Union, um unter einer gemeinsamen Regierung den Verteidigungskrieg fortführen zu können. Nachdem de Gaulle am Morgen des 17. Juni 1940 erfahren hatte, daß Marschall Petain Ministerpräsident Reynaud absetzen und um Waffenstillstand bitten würde, flog er nach England, wo er am 18. Juni mit Churchills

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Unterstützung zum ersten Mal zum Widerstand aufrief. M a n kann sich schver ausmalen, welchen Gewissenskonflikt es für einen Berufsoffizier mit Aus:ichten a u f eine vielversprechende Karriere in der traditionellen Armee bedeutete, der Gehorsamspflicht nicht nachzukommen u n d den Weg der Rebellion ein zuschlagen. Er hielt es nicht für nötig, der Aufforderung durch die Militärdienststellen zur Rückkehr nach Frankreich Folge zu leisten. Nachderr er zunächst zu vier Jahren und anschließend von Kriegsgerichten in Cleimont-Ferrand und Toulouse in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, erklärte er in einem Kommunique: »Ich betrachte die Entscheidung der Männer in Vichy für null und nichtig. Wir werden uns nach dem Sieg auseinandersetzen«. Ir Ermangelung einer repräsentativeren Persönlichkeit hat Churchill am 28. Juni de Gaulle als Chef der »Freien Franzosen« anerkannt, die entschlossen waren, den Krieg an der Seite Englands fortzuführen. Entgegen den Vorstellungen des britischen Generalstabs hat de Gaulle seit diesem Zeitpunkt nie wieder an der Spitze einer großen Kampfeinheit gestanden. O h n e Bas s und völlig mittellos gab er vor, sich nur um Frankreich und um Frankreichs Ehre zu kümmern. Während der ersten Verhandlungen über den Status der »französischen Streitkräfte« definierte er den Briten gegenüber seine Einteilung und Forderungen mit den Worten: »Wir sind die französische Armee. Wir sind Frankreich«. Deplacierter H o c h m u t , würden seine Widersacher sagen. Aber dieser General, der von einem Tag auf den anderen aus dem Hintergrund trat und in die Geschichte einging, stellte sich sehr bald als große, ja sogar außergewöhnliche Persönlichkeit heraus: ein noch unerfahrener, aber intuitiver und schlauer Politiker mit Charakterstärke und ausgeprägtem Charisma, ein M a n n der Berechnung und kontrollierten Leidenschaft, wobei seine Zornesausbrüche und seine Maßlosigkeit um so mehr Eindruck machten. Es gab kaum seinesgleichen, was die außergewöhnliche Fähigkeit betrifft, brutal und ohne Nuancierungen nein zu sagen, auch gegenüber ihm nahestehenden Persönlichkeiten oder befreundeten Regierungen, ja selbst gegenüber Churchill, wie es oftmals vorkommen sollte. In kritischen Situationen stellte sich heraus, daß der »Konnetable Frankreichs« vom gleichen Schlage war wie die großen alliierten Befehlshaber Churchill, Roosevelt oder Stalin. De Gaulies Unnachgiebigkeit darf aber keinen falschen Eindruck erwecken. Dieser Mann, der Beziehungen abbrach und andere herausforderte, der »Mann der Unwetter« hatte auch pragmatische Fähigkeiten, die ihm erlaubten, die Machtverhältnisse zu erkennen und sich ihnen um so kühner anzupassen. Als ehemaliger Schützling des Marschalls hat er Petain als »Vater der Niederlage« angeprangert, denn er betrachtete Petain als »einen großen M a n n , der 1925 verstorben« und n u n m e h r unfähig sei, nein zu sagen. Dieser Berufssoldat, dessen Familie zum traditionellen und royalistischen Milieu

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gehörte, gab in den Jahren 1940/41 keinen Laut von sich gegen die Kommunisten, die ihn als »britischen Lakaien« qualifizierten, da er bereits zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt war, daß die UdSSR eines Tages in den Krieg eintreten werde u n d alle Kräfte gegen den Nationalsozialismus sich vereinigen müßten. Er wiederholte oft den Satz: »Es wird in die Geschichte eingehen, daß ich jeden aufgenommen habe«. Diese autoritäre Persönlichkeit voll von Widersprüchen, die sich in unerwarteter Weise entfalteten, schuf für alle, die sich ihm anschlössen, einen verbindlichen Stil, eine gemeinsame Vorstellung von Frankreich wie auch eine erfolgversprechende politische Strategie. Innerhalb von sechs Monaten wurde er zu einer mythischen Figur. D e Gaulle glaubte an die wesentliche Rolle, die Persönlichkeiten in der Geschichte spielen: nach seiner Auffassung hatte jede Nation ein Anrecht auf Unabhängigkeit; er konnte Hegemoniebestrebungen und die Unterwerfung der Massen des »Dritten Reiches« nicht akzeptieren. Er behauptete, daß Frankreich 1940 keine Schuld auf sich geladen habe, und daß es durch die mechanisierte Truppenausrüstung und -stärke Deutschlands besiegt worden sei. Er sagte voraus, daß Deutschland eines Tages von Tausenden von Panzern und Flugzeugen der Alliierten vernichtet werde und in diesem Fall auch keinen Widerstand mehr leisten könne. Welche Vorstellungen hatte er von Frankreich? Er liebte Frankreich leidenschaftlich, eine exklusive, quasi religiöse Passion. Er wollte allerdings kein »Frankreich über alles« einem »Deutschland über alles« entgegenstellen, sondern ging von der Überlegung aus, daß Frankreich im Laufe der Jahrhunderte unter den Nationen eine Mission erfüllt habe, indem es für Flhre, Gerechtigkeit und Freiheit kämpfte, u n d sich nur dann treu bleibe, wenn es sich als würdig erweise, diese Mission weiterhin zu erfüllen. Er beabsichtigte, das zu zeigen, u n d wollte verbissen darum kämpfen, Frankreich wieder zu einer Großmacht zu machen. Daraus ergab sich seine politische Strategie, die jegliche Gefühle ausklammerte, da nach seiner Auffassung die Staaten »kalte Monster« sind, die nur zur Wahrung der Eigeninteressen handeln. Er wollte nichts durchgehen lassen, was in seinen Augen der W ü r d e oder den Rechten dieser vorübergehend zerschmetterten Großmacht Frankreich schaden würde. Nachdem die Bildung einer wirklichen Kriegsregierung auf fremden Boden fehlgeschlagen war, hat er sich ab 1940 vor allem drei Ziele gesetzt: - die Aufstellung französischer Streitkräfte, die bewiesen, daß Frankreich sich immer noch im Kriegszustand befand; - die Kolonialgebiete für seinen Kampf zu gewinnen, damit dort die Trikolore mit dem Lothringer Kreuz gehißt werden könne, und damit f ü r die Freien Franzosen eine Basis der Souveränität geschaffen werde; - die Anerkennung seiner Bewegung und der später zu bildenden Regier ung seitens der Alliierten.

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Diese Strategie befolgte er mit anhaltender Ausdauer, Leidenschaft u n d Unnachgiebigkeit. Die anfänglich vorhandenen militärischen Mittel waren dafür allerdings völlig unzureichend; 1940 stellten die Polen und Tschechen in Großbritannien wesentlich mehr Piloten, die Norweger mehr Handelsschiffe sowie Belgien u n d die Niederlande ein Kolonialreich zur Verfügung. Aber ab 1941 nahmen die Freien Franzosen an allen Schlachten in Afrika und später in Europa teil. In Lybien haben sie bei Bir Harkeim im Frühjahr 1942 Rommels Truppen zehn Tage lang aufgehalten; 1943 stellten sie den Russen eine Gruppe, später ein Regiment von Kampffliegern zur Verfügung, die sich besonders bei der Schlacht von Kursk auszeichneten. Was waren die Grundlagen von de Gaulles Souveränität? D a n k wagemutiger Handstreiche konnte sich seine Bewegung ab Sommer 1940 in Französisch Äquatorial-Afrika, Kamerun und den Kolonien im Pazifik durchsetzen. Ab September 1940 gab es nicht nur die Freien Franzosen, sondern auch ein »Freies französisches Kolonialreich« mit Brazzaville als Hauptstadt; 1941 kamen Syrien und der unter französischem Mandat stehende Libanon hinzu. Im Anschluß daran gelang es de Gaulle, den Rest des Kolonialreiches »Stück für Stück« unter seine Schirmherrschaft zu bringen. 1944 stand eine 250.000 M a n n starke französische Armee bereit für die Landung in der Provence, und im Mai 1945 erreichte die Division von General Leclerc Berchtesgaden. Wie stand es um die Anerkennung seitens der Alliierten? Sie ging einher mit einem harten Kampf, in dem Churchill nur mit einem gewissen H o c h m u t die Stirn geboten werden konnte und das Verhältnis zu Roosevelt dem Streit zwischen David und Goliath glich. De Gaulles Forderungen waren angesichts der in den eigenen Reihen erlittenen Verluste berechtigt, empörten aber mehr als einmal die Alliierten; sie zahlten sich jedoch aus und führten Schritt für Schritt zur Anerkennung seiner Bewegung. U n d welchen Weg hatten die Freien Franzosen dabei in fünf Jahren zurückgelegt! Im Juni 1940 hatten de Gaulle und eine kleine Zahl von Getreuen die Absicht, die Flagge eines besiegten und vernichteten Frankreich wieder aufzurichten, im November 1942 war Frankreich nach der Total-Besetzung durch die Wehrmacht von der Landkarte gestrichen. 1945 war Frankreich unter der Präsidentschaft de Gaulles eine der Signatarmächte der Kapitulationsurkunde Deutschlands und später Japans. »Was, auch die Franzosen«, hat Marschall Keitel ausgerufen, als er unter den alliierten Bevollmächtigten einen französischen General entdeckte. Frankreich wurde sowohl in Deutschland als auch in Osterreich eine Besatzungszone zugeteilt, und es erhielt einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat. De Gaulle konnte Frankreich dank seines Talents und seiner Energie aus dem Abgrund befreien, was in dieser Form in der Geschichte des Landes noch nie stattgefunden hatte. Es ist klar, daß er den Freien Franzosen in Lon-

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d o n , unabhängig von ihrer bereits vorhandenen Motivation, alles gab, ihren Glauben, ihre Organisationsstrukturen, die Fähigkeit, trotz der internen Reibereien, ihre Bemühungen auf dasselbe Ziel zu richten. Alle Jahre präsidierte er am 18. Juni und 11. November im großen Konzertsaal der Royal Albert Hall eine Kundgebung der in Großbritannien lebenden Franzosen, wo er Bilanz zog und immer wieder die sich allmählich festigende Politik des Freien Frankreich erklärte.

III Die Freien Franzosen in London nahmen nicht nur wie die französischen Freiwilligen und die in Afrika oder im Pazifik für die Freien Franzosen rekrutierten Einheimischen an den Schlachten teil. Sie kämpften ebenfalls darum, das Regime von Marschall Pétain zu entmythisieren, die französische Öffentlichkeit zurückzuerobern, die Widerstandsgruppen in Frankreich davon zu überzeugen, sich unter der Ägide des charismatischen Kriegschefs zusammenzuschließen. Der Kampf ging darum, den Staat von außen her neu zu gestalten, um eines Tages die zunehmend in Verruf geratene Vichy-Regierung abzulösen und Frankreich zu ermöglichen, seinen Platz in der Welt wieder behaupten zu können, und zwar unabhängig von den Alliierten, oftmals gegen ihren Willen. Die Freien Franzosen, die sich in London an der Seite de Gaulies befanden, waren die Handwerker einer politischen Rückeroberung. Ihre Geschichte ist die eines Wiederaufstiegs, einer Wiedereroberung. Hierbei sind zwei Phasen zu unterscheiden, die Zeit vor und die nach dem 30. Mai 1943. Von Juni 1940 bis Ende Mai 1943 konstituierte sich unter Schwierigkeiten das Freie Frankreich mit dem Hauptsitz in London. Nach der Landung der Alliierten im November 1942 und der Besetzung Nordafrikas verließ de Gaulle London, um sich am 30. Mai in Algier niederzulassen, wo er zusammen mit General Giraud eine Kriegsregierung bildete, das Comité Français de la Liberation (CFL), das im darauffolgenden Jahr in Provisorische Regierung der französischen Republik u m b e n a n n t wurde. Es existierte damit eine »französische Republik von Algier«, mit Algier als Hauptstadt, wo der Geist des Freien Frankreich vorherrschte. London verlor bis zum Kriegsende für die Franzosen jedoch keineswegs an Bedeutung, da die britische Hauptstadt die Ausgangsbasis für die Propagandatätigkeit nach Frankreich u n d für die Kontakte mit der französischen Resistance bildete. Von England aus wurde auch am 6. Juni 1944 die Landung der Alliierten in der Normandie organisiert. Die Zahl der Freien Franzosen war von Anbeginn an immer recht bescheiden. In England lebten von ihnen höchstens 4.000 bis 5.000, da die ein-

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satzfähigen Freiwilligen gleich in die afrikanischen Kampfgebiete und später nach Italien geschickt wurden. W e n n man von den älteren französischen Geschäftsleuten und Restaurantbesitzern absieht, die seit langem in London etabliert waren, kann man drei Kategorien von Franzosen unterscheiden: die Soldaten der in G r o ß b r i t a n n i e n stationierten Einheiten, die auf Urlaub waren, die Angestellten des Generalquartiers und die kleine Gruppe der Gegner de Gaulles. Ab S o m m e r 1 9 4 2 kamen die aus Frankreich E n t k o m m e n e n und vor allem die illegalen Nachrichten träger der Resistance hinzu: die Kuriere kamen entweder für einen M o n a t — was meistens der Fall war - oder blieben für längere Zeit in L o n d o n , was für den Nichteingeweihten zu den Geheimnissen gehörte. D i e Vertreter aus Frankreich beeinflußten besonders in der letzten Phase die Orientierung und in gewisser Hinsicht den Geist des Freien Frankreich. D i e Angehörigen der in G r o ß b r i t a n n i e n stationierten

Kampfeinheiten

waren vor allem Marinesoldaten der in britischen Häfen liegenden Schiffe, die im Ärmelkanal Funktionen der Seepolizei wahrnahmen oder an Truppentransporten in Richtung Atlantik oder M u r m a n s k teilnahmen, oder aber Flieger der in Großbritannien aufgestellten französischen Flugzeugeinheiten, so die Jagdfliegergruppe »Alsace« und die Bomberstaffel »Lorraine«. Hinzu kamen die »Kadetten« der Offiziersschule des Freien Frankreich, die in vier Jahren annähernd 5 0 0 junge Offiziere ausgebildet hat, und die Freiwilligen des Heeres vom französischen Truppenlager Camberley bei Aldershot, die a u f den Transfer nach Afrika warteten. Nach einigem Zögern hat de Gaulle im August 1 9 4 0 dem englischen Beispiel folgend auch ein »Corps von weiblichen Freiwilligen« geschaffen. 1 9 4 3 umfaßte es ungefähr 5 0 0 Frauen, die in Kasernen untergebracht waren, einen niedrigen Sold bekamen, U n i f o r m trugen und Posten als Sekretärin, Chauffeurin, Autotechnikerin, Chiffriererin oder Krankenschwester einnahmen. Das O b e r k o m m a n d o des Freien Frankreich hatte ab Ende Juli 1 9 4 0 seinen Hauptsitz in einem siebenstöckigen Gebäude in Carlton Gardens in einem eleganten Stadtteil zwischen Pall Mall und Le Mall. Solange sich de Gaulle in L o n d o n aufhielt, blieb das G e b ä u d e von Carlton Gardens das »Generalquartier«; es hat diesen N a m e n bis heute behalten. A m Eingang standen neben den Schutzmauern gegen Bombenangriffe zwei französische Wachposten im Kampfanzug mit britischen H e l m e n . Das erste Organisationsschema entsprach typisch militärischen Plänen: ein kleines Militärkabinett, ein Generalstab, dem theoretisch vier traditionelle Dienststellen unterstanden: die Intendantur, das Sanitätswesen, die Abteilung Militärbasis und Waffendepot. D i e zivilen Dienststellen waren im S o m m e r 1 9 4 0 bestenfalls zivile »Stützpunkte«. Es gab eine so große Zahl von ihnen, daß ab Ende 1 9 4 1 - ausgenommen der private Generalstab von General de Gaulle - alle Militärabteilungen in andere, über L o n d o n verstreute Büros umziehen m u ß t e n .

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G e m ä ß d e m von de Gaulle und Churchill am 7. August 1940 unterzeichneten franco-britischen A b k o m m e n war de Gaulle berechtigt, zivile Dienststellen m i t entsprechend erforderlichen Abteilungen je nach Bedarf einzurichten. Diese Klausel ermöglichte später die Erhöhung der Zahl von zivilen Dienststellen. Das A b k o m m e n vom August 1940 erlaubte den Briten, sich so wenig wie möglich zu engagieren und gleichzeitig ausgedehnte Kontrolle auszuüben: de Gaulle w u r d e nur als C h e f jener Franzosen anerkannt, die sich seiner Autorität unterstellt und ihn als Befehlshaber der »französischen Streitkräfte« anerkannt hatten. De Gaulle w i e d e r u m b e m ü h t e sich mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit d a r u m , einerseits sein »Hauptquartier« der britischen Bevorm u n d u n g zu entziehen und andererseits Dienststellen aufzubauen, die einer »Quasi-Regierung« entsprachen. Die britische Kontrolle war anfangs sehr eng gefaßt; für jeden gestellten Antrag, jede K o n t a k t a u f n a h m e mit der britischen Verwaltung m u ß t e n sich die Freien Franzosen an eine britische Verbindungsstelle wenden, die von einem Churchill nahestehenden zweisprachigen Geschäftsmann, d e m konservativen Abgeordneten und Generalfeldmarschall Spears geleitet wurde, der am 17. Juni in d e m gleichen Flugzeug wie de Gaulle aus Frankreich zurückgekehrt war. Die Mission Spears war in den ersten M o n a t e n von großem Nutzen, denn nur wenige Franzosen sprachen englisch und hatten Kenntnis von der Funktionsweise der britischen Verwaltung. Spears war von de Gaulles Eigenheiten und Energie stark beeindruckt und tat alles, u m ihm zu helfen; dieser empfand aber sehr bald die Kontrolle als lästig, lehnte sich dagegen auf und verlangte, d a ß seine Dienststellen direkt mit der britischen Zivil- und Militärverwaltung zusammenarbeiten konnten. Das wurde ihm im Frühjahr 1941 auch zugestanden, was sehr bald zum Zerwürfnis zwischen ihm und Spears führte. In der Zwischenzeit waren im Februar 1941 in einem Finanzierungsabkommen die Modalitäten für die finanzielle Hilfe festgelegt worden, die die britische Regierung monatlich gewährte. Es war klar, daß man die Ausgaben für die Freien Franzosen nach d e m Sieg zurückerhalten werde, was in der Tat im Frühjahr 1945 auch geschah. Die Vertragsklauseln waren großzügig, in Carlton Gardens fehlte es nie an Mitteln, die nach eigenem Ermessen verteilt werden konnten, vorausgesetzt, d a ß das veranschlagte Monatsbudget sowie die Ausgaben in anderen Devisen als d e m englischen Pfund sich auf das strikte M i n d e s t m a ß beschränkten. In Carlton Gardens gab es ab Herbst 1941 neben der Verwaltungs- und Finanzabteilung drei reich ausgestattete Dienststellen: die Abteilung für Kolonien, die für die Verwaltung und M o b i l m a c h u n g der afrikanischen und ozeanischen Gebiete zuständig war, eine diplomatische Abteilung sowie eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit u n d Propaganda. Letztere verdeutlichen die Ziele der gaullistischen Bewegung u n d die Schlüsselrolle, die das » H a u p t -

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quartier« für alle Länder der freien Welt zu ü b e r n e h m e n gedachte. D e Gaulle ernannte die jeweiligen Vertreter, regte an, Solidaritätskomitees zu bilden, förderte die E n t w i c k l u n g einer aktiven Propagandapolitik und b e m ü h t e sich, neue Anhänger für seine Bewegung zu gewinnen. In einigen Ländern - wie den U S A , Kanada, Brasilien - machten die Vertreter der Freien Franzosen und die Solidaritätskomitees den Botschaften der Vichy-Regierung direkte Konkurrenz. In Lateinamerika, besonders in M e x i k o , aber auch in Ägypten gewannen diese Komitees sehr bald die Sympathien sowohl der Öffentlichkeit als auch der Regierungen. M a n ermöglichte ihnen Radiosendungen, den D r u c k von Bulletins und Zeitschriften, sie übernahmen die Leitung der jeweiligen französischen Gymnasien und Kulturinstitute. Beirut und Kairo wurden wieder zu Zentren für die französische Kultur, nachdem sich die Länder der Levante im Juli 1 9 4 1 a u f die Seite von de Gaulle gestellt hatten. Sämtliche Aktivitäten wurden von Carlton Gardens aus gesteuert; die Leitung der Kolonie-Abteilung unterstand dem zukünftigen Ministerpräsidenten der IV. Republik René Pleven, die kulturellen Aktivitäten lagen in den H ä n d e n des Juristen René Cassin und die Propagandatätigkeit wurde ab 1 9 4 2 durch den begabten Ethnologen Jacques Soustelle geführt, dem man eine große Z u k u n f t voraussagte. D i e Propagandaaktivitäten waren nicht nur auf die Länder der freien Welt ausgerichtet, sie galten daneben vorrangig für Frankreich selbst, wobei die B B C das Hauptinstrument war. Bis J u n i 1 9 4 0 hatten die Engländer die Ausdehnung der französischsprachigen Sendungen für unnötig gehalten, da die B B C viermal am Tag zehn M i n u t e n lang Nachrichten ausstrahlte. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und England und der Ü b e r n a h m e der wichtigsten französischen Radiosender, insbesondere von Radio Paris durch die deutschen Besatzungsbehörden, blieb die B B C die einzige Verbindung zwischen den britischen Inseln und dem Kontinent. D i e französischsprachigen Radiosendungen wurden fortan ständig ausgedehnt und erreichten im M a i 1 9 4 4 täglich eine Dauer von m e h r als sechs S t u n d e n . D i e französische Abteilung, die im britischen R u n d f u n k im Juli 1 9 4 0 eingerichtet wurde, strahlte abendlich während 4 5 M i n u t e n die ausgezeichnete Sendung »Die Franzosen sprechen zu den Franzosen« aus, die wenig mit dem steifen Stil der B B C gemein hatte. Sie glich einer wirklichen Tonvorstellung, wo K o m m e n t a r e durch Militärmusik, gesprochene Sketche, Parolen und den Umständen angepaßte C h a n sons ergänzt wurden. Diese Sendung fand bald eine große Zuhörerschaft in Frankreich. Die Parole »Radio-Paris lügt, Radio-Paris ist ein deutscher Sender« wurde überall in Frankreich wiederholt und leise vor sich hingesungen. I m Herbst 1 9 4 0 berichtete der deutsche Oberbefehlshaber in Frankreich, daß in Paris nach 2 0 U h r das L o n d o n e r Radio den Äther beherrschte.

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Die Radiosendungen unterstanden ausschließlich der britischen Hoheit, die Hälfte der Radio-Mannschaft bestand aber aus Freien Franzosen. Ab Juli 1940 hatte Churchill de Gaulle eine »freie Sendezeit von fünf Minuten, die er als seine eigene ansehen konnte«, im Rahmen der französischen Abendsendung gewährt. 1941 wurden ihm mittags zusätzlich fünf Minuten »freie Sendezeit« zugebilligt. Die »freien Sendezeiten« begannen mit den Erkennungsworten »Ehre und Vaterland« (Honneur et Patrie). Sie unterlagen nicht der üblichen Zensur, sondern der Verantwortung des hochbegabten Journalisten Maurice Schumann, den de Gaulle als Sprecher ernannt hatte und der nach Kriegsende dreißig Jahre lang eine wichtige politische Rolle in Frankreich spielte. Schumann war ein talentierter Redner und großer Dialektiker, er sollte mehr als tausend Mal am Mikrophon der BBC sprechen. De Gaulle sprach 67mal über den Äther. Häufiger kam es zu Unstimmigkeiten zwischen Carlton Gardens und der Direktion der BBC bzw. dem Foreign Office, besonders aufgrund der Tatsache, daß es gemäß den britischen Anweisungen zwischen Herbst 1940 und Anfang 1943 verboten war, Marschall Pétain direkt als Person anzugreifen. Das hat aber nicht verhindert, daß die über die BBC ausgestrahlten Propagandasendungen die Popularität de Gaulies verstärkten. Die Sendungen haben in großem Ausmaß dazu beigetragen, die Stimmung der Franzosen im Mutterland, wo man nach der Katastrophe von 1940 wie betäubt war, zu heben, sie einander näher zu bringen, den Mythos der Vichy-Behörden zu zerstören und den Franzosen den unbekannten General in London als Symbol der Resistance gegen die Besatzer und die PétainRegierung vorzustellen. Der notorische Widerstandskämpfer Georges Bidault, der 20 Jahre später ein fanatischer de Gaulle-Gegner wurde, schrieb, daß de Gaulle ohne die BBC nichts anderes als ein »Bandenchef« gewesen wäre. Dank all dieser Aktivitäten und dank der Kampftruppen breitete sich der »Geist der Freien Franzosen« in Form einer kollektiven, dynamischen und kompromißlosen Passion aus, die jedem erlaubte, unabhängig von seinem Alter und Rang Verantwortung zu übernehmen und Initiativen zu ergreifen. Die Verstärkung und Ausdehnung der zentralgeleiteten Dienststellen führte de Gaulle dazu, im Einvernehmen mit Churchill im September 1941 das »Comité national français« zu gründen. Dieser Versuch einer Regierungsbildung markierte den ersten Schritt zum systematisch verfolgten Wiederaufbau des Staates. Das »Comité national« veröffentlichte die Verordnungen und Dekrete symbolisch im Amtsblatt des Freien Frankreich - eine Kopie

des Amtsblattes Journal officiel de la République

française.

Gleichzeitig war in zweifacher Hinsicht eine ideologische Formierung der gaullistischen Bewegung zu verzeichnen: der Anspruch auf Legitimität und die demokratische Orientierung der gaullistischen Bewegung. Die gewähl-

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ten Namen spiegeln das wieder. Nach knapp einem Jahr wurde aus der »Legion der freien französischen Freiwilligen« die »Bewegung der Freien Franzosen«, danach sprach man vom »freien französischen Imperium« und letztlich vom »Freien Frankreich« (La France Libre). Im November 1940 hatte de Gaulle auf französischem Boden in Brazzaville »im Namen des französischen Volkes und Imperiums« einen Erlaß unterzeichnet, in dem die Regierung des Marschalls Pétain als rechts- und gesetzeswidrig deklariert wurde. 1941 machte er geltend, daß das »Freie Frankreich« Hoffnungsträger der »ewigen Seele« Frankreichs sei. Das »Freie Frankreich« betrachtete sich als das »wahre Frankreich«, und spätestens nach der vollständigen Besetzung Frankreichs war es sicher, sich auf die Widerstandsbewegung innerhalb Frankreichs stützen zu können. Es zweifelte nicht, daß es die Legitimität Frankreichs verkörperte. Der Ubergang vom militärischen zum politischen Selbstverständnis ist ebenfalls auffallend. Im Jahr 1940 war die gaullistische Bewegung militärisch und apolitisch ausgerichtet. Im August 1940 hatte de Gaulle das Pausenzeichen der fünfminütigen »freien Sendezeit« bei der BBC von »Liberté - Egalité — Fraternité« durch die Losung »unsere Fahnen, Ehre und Vaterland« ersetzen lassen. Sein politisches Hauptziel war, den Krieg weiter zu führen und alles, was zur Spaltung führen könnte, zu vermeiden. Zwei seiner Militärchefs, Leclerc und Larminal, gehörten zur royalistischen Rechten; sie hatten eine absolut antiparlamentarische Gesinnung und lehnten das Regime der III. Republik ab. Der Direktor der zivilen Dienststellen in Carlton Gardens, der bis Ende 1941 tätig war, teilte diese Uberzeugungen. Anfang 1941 kam es zu einem symbolischen Zwischenfall: ein junger Freiwilliger der Kadettenanstalt - der nach dem Krieg einer der französischen Großindustriellen wurde — bat de Gaulle um eine Unterredung, trat vor ihn hin, warf ihm vor, das untergegangene Regime und die ehemaligen Parteien nicht radikal verurteilt zu haben und verlangte aus diesem G r u n d , nach Frankreich repatriiert zu werden. Noch im September 1941 erklärte de Gaulle gegenüber Georges Boris, dem ehemaligen Kabinettchef von Léon Blum, daß jedesmal nach »Abgabe demokratischer Erklärungen Proteste seitens der Armee u n d der Kolonien laut würden, daß er daher verpflichtet sei, ein schwieriges Gleichgewicht zu bewahren.« Zwischen November 1941 und Juni 1942 erfolgte die demokratische Wende. Im November 1941 wurden von de Gaulle die Losungen »Liberté - Egalité - Fraternité« und »Honneur und Patrie« öffentlich miteinander verbunden, im April 1942 hatte er einem Kurier der französischen Résistance für die illegalen Zeitungen eine Erklärung übergeben, die ein demokratisches Glaubensbekenntnis verbunden mit seinen Friedensplänen enthielt. In dieser Zeit hatte er mit gut dosiertem pädagogischen Geschick das »Freie Frankreich« als Nachkommen der Republik der Menschenrechte von 1792 vorge-

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stellt. Das »Freie Frankreich« war bis dahin das »Vaterland« (Patrie), jetzt wurde es auch »Republik«. Diese Entwicklung wurde mit Geschick im Namen der Freiheitsrechte gesteuert, so daß nahezu alle Freien Franzosen in London sowie die konservativsten Militärverantwortlichen zustimmten. Diese demokratische Wendung ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: De Gaulle war sich, trotz seines autokratischen Temperaments, darüber im Klaren, daß man in einem modernen Land nichts ohne die Zustimmung des Volkes erreichen könne. Befördert wurde diese Einsicht durch die liberale britische Atmosphäre und die wachsende Einsicht in den unmenschlichen Charakter der nationalsozialistischen und faschistischen Regimes. Hinzu kam die Kooperation von Freiem Frankreich und der Résistance in Frankreich selbst, die in erster Linie eine Widerstandsbewegung des Volkes und der Intellektuellen war und die den reaktionären Reformen der PétainRegierung sowie der abwartenden Haltung des Establishments und der sie unterstützenden Bourgeoisie gegenüber immer feindlicher eingestellt war. Es gab aber nicht nur Freunde de Gaulies unter den nach London geflüchteten Franzosen. Ihre Zahl war zwar klein, doch handelte es sich um einflußreiche Persönlichkeiten, die über wichtige französische Informationskanäle verfügten, so die Agence française d'information, eine französische Tageszeitung sowie eine brillante französische Zeitschrift, die in England erschienen und anti-gaullistisch bzw. nicht-gaullistisch eingestellt waren. Diese drei Presseorgane wurden mit britischen Staatsmitteln finanziert. L'Agence d'information war im Sommer 1940 gegründet worden, um in der freien Welt ein Gegengewicht gegenüber der großen einflußreichen französischen Nachrichtenagentur Havas zu bilden, die unter Kontrolle von Goebbels stand. Sie wurde von dem bedeutenden Journalisten Pierre Bourdeau geleitet, der 1946 Minister für Information wurde. Bourdeau, ein treuer Anhänger der Pressefreiheit, veröffentlichte die Pressekommuniqués und -erklärungen von Carlton Gardens und berichtete über die Aktivitäten der Freien Franzosen, wobei er jegliche Unterordnung ablehnte und resolut die gaullistische Orthodoxie nicht zur Kenntnis nahm. Die von allen Franzosen in England gelesene Tageszeitung France wurde von einer Redaktion traditioneller Republikaner und orthodoxer Sozialisten herausgegeben. In ihren Augen hatte de Gaulle diktatorische Neigungen und war bestrebt, in Frankreich nach der Befreiung die Macht zu übernehmen, obwohl der Chef der sozialistischen Partei Léon Blum durch Nachrichten und Empfehlungen aus dem Gefängnis in Vichy hatte wissen lassen, daß de Gaulle der einzige Franzose sei, der die Widerstandsgruppen vereinigen könne und daß man aus Patriotismus der gaullistischen Bewegung angehören müsse. Dennoch hielt die Tageszeitung ihr Mißtrauen aufrecht. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurden Initiativen des Generals offen abgelehnt, was bei ihm grenzenlose Wut auslöste.

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Der Naturwissenschaftler André Labarthe und der Philosoph Raymond Aron konnten dank britischer Subventionen die Monatszeitschrift La France libre gründen. Sie hatten sich als Soldaten bei den »Forces Françaises libres« engagiert und mit dem Einverständnis de Gaulles die Publikation konzipiert. In der ersten Ausgabe vom 15. November 1940 erklärten sie, daß es sich nicht um ein Propaganda-Blatt, sondern um eine Kulturzeitschrift handele. Die Auflage von 10.000 Exemplaren fand eine ausgezeichnete Aufnahme, 8.000 Exemplare mußten nachgedruckt werden. Die Zeitschrift enthielt politische, ökonomische und literarische Beiträge von hohem Niveau unter gelegentlicher Mitarbeit von Denis Brogan, Eve Curie, Camille Huysmans, Charles Morgan, Alexander Werth und vielen anderen. La France libre sicherte vier Jahre lang in Engalnd die Präsenz von Frankreichs Intellektuellen. Die Zeitschrift war unabhängig, wurde aber während des ersten Erscheinungsjahrs als Organ der Bewegung »Freies Frankreich« angesehen. Ende 1941 wurde sie jedoch a-gaullistisch. Direktor Labarthe, ein dynamischer, geistreicher Märchenerzähler und höchstwahrscheinlich ein sowjetischer Gewährsmann, verbreitete ab Sommer 1941 hinter den Kulissen einen militanten Anti-Gaullismus. Raymond Aron nahm dagegen eine neutralere Haltung ein. Als ich ihn 1942 nach den Gründen für seine Vorbehalte gegenüber de Gaulle fragte, antwortete er: »Weil er alle Qualitäten und Fehler des Prinzen Machiavelli hat«. Im Sommer 1943 publizierte Aron in La France libre einen Artikel unter dem Titel Der Schatten Napoléons, in dem er zu verstehen gab, ohne jemals den Namen zu nennen, daß de Gaulle die bonapartistische Tradition übernehmen könne. Später bedauerte Aron, der nach dem Krieg einer der großen Denker des liberalen Frankreichs wurde, jedoch bis an das Ende seines Lebens, diesen Artikel geschrieben zu haben. Dieser außergewöhnliche Mann drückte darin nicht allein seine Gegnerschaft zu de Gaulles Regierungsstil aus, sondern es wurde auch seine tiefe Unkenntnis über die Entwicklung der öffentlichen Meinung, über die zunehmende Bedeutung des Kommunismus und über die Risiken eines Bürgerkriegs deutlich, der dem befreiten Frankreich drohte, das durch tiefen Haß gespalten war. Léon Blum war weitsichtiger, als er sich heimlich de Gaulle anschloß und darum bemüht war, sein diskreter Mentor zu sein, zumindest bis zu seiner Deportation nach Buchenwald.

IV Trotz der Fähigkeiten und der Hartnäckigkeit de Gaulles, trotz der Tapferkeit der Freiwilligen und der Tatsache, daß die freie französische Bewegung für die Alliierten von Nutzen war, um Flugzeuge und Waffen vom Golf von Guinea über Afrika nach Ägypten zu transportieren, ohne den langen Weg

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über das Kap der Guten Hoffnung nehmen zu müssen, war 1942/43 das militärische Potential des Freien Frankreich bescheiden, gerade 55.000 Mann. Zu diesem Zeitpunkt bestand das »Heer« nur aus 13.000 Soldaten. De Gaulle hätte sich niemals durchsetzen können, wenn er nicht Verstärkung durch die Resistance und die mit den Widerstandskämpfern sympathisierende Öffentlichkeit in Frankreich erhalten hätte. Die erste Begegnung zwischen dem Chef des Freien Frankreich und der Resistance fand im Frühjahr 1942 statt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich der »Widerstand im Ausland« und die französischen Resistancegruppen im Inland unabhängig voneinander entwickelt, ohne jegliche Kontaktaufnahme. Ab Juli 1940 hatte de Gaulle einen geheimen Nachrichtendienst in Frankreich aufgebaut, der sich als außergewöhnlich effizient erwies, obgleich er nicht aus Fachleuten zusammengesetzt war. Zwei Jahre lang war er vor allem im Bereich des militärischen Nachrichtenwesens tätig. Zwei mit Bravour ausgeführte subversive Sabotageakte wurden von zwei Agenten, die mit dem Fallschirm in Frankreich gelandet waren, durchgeführt: im Juni 1941 wurden sechs der acht Großtransformatoren der deutschen U-Boot-Basis in der Nähe von Bordeaux zerstört, und im Mai 1942 erfolgte die Zerstörung der Großantenne von »Radio Paris« mitten im Herzen von Frankreich. Dort hatten sich währenddessen geheime Splittergruppen gebildet, die der Besatzungsmacht und der Vichy-Regierung feindlich gesinnt waren. Im Jahr 1941 hatten sie, meist in Verbindung mit einer illegalen Zeitung, Sammelbewegungen gegründet, die über geringe Mittel verfügten. Nach dem Uberfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hat dann auch die KPF den Kampf gegen die deutsche Armee aufgenommen, indem sie zwischen August und Oktober ein halbes Dutzend Attentate auf Angehörige der Wehrmacht in Paris, Nantes, Bordeaux und Lille organisierte, was seitens des Oberbefehlshabers Massenerschießungen von Geiseln zur Folge hatte. Im Oktober 1941 landete in London (via Lissabon) ein ehemaliger Präfekt, Jean Moulin, der von der Vichy-Regierung aus dem Dienst entlassen worden war. Er hatte aus eigener Initiative die Lage der Widerstandsgruppen untersucht und wollte darüber Bericht erstatten und gleichzeitig um Geld und Waffen bitten. Er betonte, daß die Franzosen mit Hilfe von Waffenlieferungen aus London am Tag der Landung der Alliierten im Hinterland eine wirkliche Armee bilden könnten. Sollte das nicht berücksichtigt werden, liefe man Gefahr, daß die französischen Arbeiter sowie ein großer Teil der Deutschland feindlich gesinnten Bevölkerung sich den Kommunisten anschließen würden. Vor seiner Ankunft in London hatte Moulin noch nicht beschlossen, sich mit de Gaulle oder den Engländern zu verbünden; er wollte zuerst wissen, wer de Gaulle war und wie weit seine republikanische Einstellung reichte. Insgesamt blieb Moulin zweieinhalb Monate unter völliger Geheimhaltung in London. Seine Intelligenz und seine Autorität mach-

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ten auf die Mitarbeiter Churchills und den britischen Geheimdienst S O E (Special Operations Executive) großen Eindruck, ebenso auf de Gaulle. Auch Moulin war zu der Uberzeugung gelangt, daß nur de Gaulle fähig sei, die französische Souveränität gegenüber den Deutschen, Vichy und nötigenfalls gegenüber den Alliierten zu verteidigen und zu re-etablieren. In der Nacht vom 1. zum 2. Januar 1942 landete er mit zwei von de Gaulle unterzeichneten Dienstbefehlen per Fallschirm wieder in Frankreich. Als Generalbeauftragter des Freien Frankreich hatte er als erstes die Widerstandsgruppen in der unbesetzten Zone zu vereinigen u n d zweitens Führungskräfte für zukünftige Militäraktionen vorzubereiten. Im April 1942 erreichte ein weiterer Emissär London im Auftrag der ehemaligen katholischen und sozialistischen französischen Gewerkschaften, die sich im Untergrund neu formiert hatten. Es handelte sich um den Sozialisten Christian Pineau, der eine Widerstandsgruppe und die illegale Zeitung Libération-Nord leitete. Pineau wollte sich ebenfalls von der Persönlichkeit und der politischen Einstellung de Gaulles ein Bild machen. De Gaulle war sich darüber im Klaren, daß er nur dann mit Unterstützung der Widerstandsgruppen rechnen konnte, wenn er eindeutig zu den Fragen der demokratischen Kriegs- und Friedensziele Stellung nahm. Er überreichte Pineau die »Erklärung für die Widerstandsbewegungen«, die im Juni und Juli 1942 in den illegalen Zeitungen Frankreichs veröffentlicht wurde. Diese Erklärung war für Léon Blum maßgebend, sich bedingungslos an der Seite de Gaulles zu engagieren. Auch die Widerstandsgruppen der Süd-Zone akzeptierten, sich der Autorität von Jean Moulin zu unterstellen. Am 23. Juni 1942 ging in London ein Telegramm von Moulin ein, in dem er empfahl, für den französischen Nationalfeiertag am 14. Juli in allen Städten der unbesetzten Zone Massendemonstrationen gegen die Deutschen und die Vichy-Regierung zu organisieren. Diese Demonstrationen wurden durch systematische Propaganda der Freien Franzosen über die BBC und die illegalen Zeitungen vorbereitet. In 26 Städten Mittel- und Südfrankreichs fanden Demonstrationen statt. In Lyon versammelten sich 50.000 Demonstranten, in Marseille gab es zwei Tote. Der Präfekt von Marseille meldete Regierungschef Laval in Vichy, »daß die Aufrufe im englischen R u n d f u n k sich mehren; sie strahlen immer häufiger Befehle aus, die in wenigen Stunden ausgeführt werden könnten, so daß sie unter diesen Umständen auf die Öffentlichkeit direkte Auswirkungen haben werden«. Am gleichen Tag änderte de Gaulle auch den Namen seiner Bewegung. Aus dem »Freien Frankreich« wurde das »Kämpfende Frankreich« (La France Combattante), um deutlich zu machen, daß der »Widerstand außerhalb« und die »Résistance im Innern Frankreichs« miteinander vereint waren. Während einer Geheimsitzung mit einer G r u p p e von Verantwortlichen der Résistance wurde am 30. Oktober 1942 in Lon-

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don die Gründung einer geheimen Armee in Frankreich beschlossen, die am Tag der alliierten Landung aus dem Schatten heraustreten sollte, wie Moulin es 1941 bereits vorgeschlagen hatte, um die Besatzungsmacht aus dem Hinterhalt angreifen zu können. Von diesem Zeitpunkt an nahm der Einfluß des Freien Frankreich auf die französische Öffentlichkeit beständig zu. Die Radiopropaganda war um so effizienter, je mehr sich das Besatzungsregime verschärfte. Die Vichy-Regierung beschloß auf Verlangen der Deutschen, 350.000 Facharbeiter bis Ende 1942 nach Deutschland zu schicken. Im Februar 1943 wurden verschiedene jüngere Jahrgänge für diesen »obligatorischen Arbeitsdienst« gestellt, was zur Folge hatte, daß sich 80.000 junge Männer der Zwangsverpflichtung entzogen und im Maquis untertauchten. Das wiederum führte zu einem Meinungsumschwung im ländlichen Milieu, das sich bis dahin Pétain verbunden fühlte. Unter Einfluß des Freien Frankreich wurde die BBC zu einem erfolgreichen Kampfinstrument. Immer mehr markante Politiker schlössen sich de Gaulle an. Zu ihnen gehörten der ehemalige Senator Jeanneney sowie jene, die darum baten oder der Bitte entsprachen, nach London zu kommen, um in der Bewegung Freies Frankreich mitwirken zu können, wie zum Beispiel der bekannte Journalist Pierre Brossolette, der noch berühmtere Chansonnier Pierre Dac, der Romanschriftsteller Kessel, Botschafter Massigli und die von Léon Blum gesandten Vertreter der illegalen sozialistischen Partei Félix Gouin, Gaston Deferre und Daniel Meyer. Die KPF schloß sich ebenfalls dem Freien Frankreich offiziell an und entsandte im Januar 1943 den Abgeordneten Fernand Grenier nach London. Im Frühjahr 1943 kam dort auch der alte Chef der Radikalen Partei an, Henri Queuille, der seit 1918 elfmal Minister und Chef der republikanisch gesinnten Bauernschaft war. Zwischen dem Freien Frankreich und der Résistance in Frankreich bildete sich eine wirkliche Symbiose. Begünstigt wurde das durch den Ausbau des französischen und britischen Geheimdiensts und dank technischer Erneuerungen, der Fertigstellung leichterer und leistungsfähiger Radiosender und -empfänger, der Erfolge der kleinen englischen Flugzeuge Lysander, die den deutschen Flugzeugen Fieseler-Storch entsprachen und die ab 1942 immer häufiger bei Vollmond in Frankreich landeten. Zwischen 1940 und September 1944 waren etwa 800 Agenten oder Sendboten in Frankreich mit dem Fallschirm abgesprungen, 450 sind von Frankreich nach England geflogen, etwa 400 landeten per Schiff in England bzw. 400 schifften sich in Richtung Frankreich ein. Jean Moulin und Pineau von der Gruppe Libération Nord sind zweimal nach London gefahren; Brossolette und die Verantwortlichen der Bewegung Libération et Combat, d'Astier und Fresnay, machten die Fahrt gar dreimal. Der Direktor und der stellvertretende Leiter des BCRA (Bureau Central de renseignement et

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d'action), des französischen Geheimdienstes in London, Passy und Manuel verbrachten zwei Monate lang im Untergrund in Frankreich. Die sozialistische und kommunistische Partei sowie die vereinigten Widerstandsbewegungen M U R (Mouvements unis de Résistance) hatten in London ihre ständigen Vertreter, die als Ratgeber im Commissariat National à l'Intérieur tätig waren. Das Exekutivkomitee für Propaganda, das die französischen Direktiven für die Radiostationen festlegte, hatte dreimal in der Woche Arbeitssitzungen mit den französischen Sprechern in London und den auf der Durchreise befindlichen Verantwortlichen der Résistance. Diese Z u s a m m e n k ü n f t e verliefen nicht ohne Zwischenfälle, zu denen etwa der Streit zwischen den französischen und englischen Geheimdiensten um ihre Agenten gehörten; darüber hinaus beeinträchtigten die schlechten Wetterverhältnisse die Flugverbindungen, und der deutsche SD, die Abwehr und die Gestapo verursachten enorme Verluste; 8 0 % der Ende 1942 und Anfang 1943 nach Frankreich geschickten Funker wurden verhaftet, der Großteil von ihnen erschossen oder deportiert. In dieser Periode war ein Funker nicht länger als 6 Monate tätig. Die in London gut bekannten Chefs der Résistance wie Brossolette, Bingen, Médéric, Jacques Simon, Morineau begingen nach ihrer Verhaftung Selbstmord. Wenn ein Nachrichtennetz oder Fluchtring aufgeflogen war, wurden immer wieder im ganzen Land neue Verbindungen aufgebaut. Im Mai 1944 gab es in Frankreich 50 Antennen-Zentren für 250 Sende- oder Empfangsgeräte. Die wachsende Widerstandstätigkeit erhöhte sowohl das Ansehen der Bewegung Freies Frankreich wie auch das ihres Chefs. Keine der in London niedergelassenen europäischen Exilregierungen verfügte über eine ähnliche Repräsentativität. Aber de Gaulle ging aufgrund der Eigenständigkeit seiner Gedanken, seiner Arroganz — wie einige von ihm behaupteten - u n d seines so offensichtlichen Ehrgeizes, Frankreich nach der Befreiung regieren zu wollen, Churchill, dessen Schützling er im Jahre 1940 gewesen war, zunehmend auf die Nerven. Seine englischen Gegner stellten seine zukünftigen Einflußmöglichkeiten in Frankreich in Frage. Ein Vertrauter von Churchill, Desm o n d Morton, schrieb im September 1942 an den Premierminister: »Es gibt vielleicht 3 Millionen Franzosen, die bereit sind, >Es lebe de Gaulle< zu schreien, aber nur 30.000, um für ihn zu sterben.« Diese Zweifel wandelten sich bei den Generälen Ismay und Alan Brooke aus dem Kreis um Churchill in Mißtrauen, da sie de Gaulies politische Ambitionen nicht schätzten und an der Effizienz der französischen Résistance in einem Land zweifelten, das keine geographischen Vorteile für die Briten bot, wie das zum Beispiel in Jugoslawien oder in Griechenland der Fall war. Ihre reservierte Haltung war auch bedingt durch die Tatsache, daß die britische Regierung bis Mitte 1943 zwei Eisen im Feuer hatte und zwischen der Politik Edens und der Politik Churchills gespalten war.

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Ab 1942 waren Eden und das Foreign Office von der potentiellen W i r kungskraft der französischen Résistance überzeugt. Sie gingen vor allem davon aus, daß nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« in Europa ein Chaos entstehen könne und daß es daher wesentlich sei, daß es ein mit dem Westen eng verbundenes Zentrum auf dem Festland gäbe. Dieses Zentrum konnte nur Frankreich sein, wo nur de Gaulle fähig war, die Einheit des Landes aufrechtzuerhalten. Churchill teilte zwar langfristig diesen Standpunkt, gleichzeitig hing er von der Meinung Roosevelts ab, der über große Armeen, Kredite und Waffen verfügte, die erst einen Sieg im Westen möglich machten. Die Forderungen de Gaulles sorgten bei ihm regelmäßig für Verbitterung. Im Sommer 1942 war er deshalb von einem militärpolitischen Plan angetan, der de Gaulle ausschalten sollte. Um die Pläne für die Landung in Nordafrika (Operation Torch) erfolgreich durchzuführen, brauchte man lokale Helfershelfer. Die französische Armee in Nordafrika hatte auf Pétain einen Eid abgelegt. Viele Offiziere hatten in Syrien gegen die Freien Franzosen und die Briten gekämpft und waren absolut anti-englisch und anti-gaullistisch eingestellt. Daher wurde der Landungsplan hinter dem Rücken de Gaulles und unter amerikanischer Flagge weiter verfolgt. Man stützte sich dabei auf den französischen General Giraud, dem es im Frühjahr 1942 unter unglaublichen Umständen gelungen war, aus Deutschland zu flüchten, und dessen Einstellung pro-amerikanisch war. Im September 1942 kam es darüber zwischen de Gaulle und Churchill zu einer heftigen Auseinandersetzung: »Nein, Sie sind nicht Frankreich, Sie sind nur das Kämpfende Frankreich (France combattante)«, rief der Premierminister aus, der in einem Wutanfall seinen Stuhl zerschlagen hatte. »Warum diskutieren Sie dann mit mir«, hatte de Gaulle erwidert, »wenn ich nicht Frankreich bin«. Die weiteren Ereignisse sind bekannt: Als die alliierten Truppen am 8. November 1942 in Algier landeten, stießen sie trotz General Giraud auf erbitterten Widerstand. Um dagegen anzugehen, hatte Oberbefehlshaber Eisenhower nichts Besseres zu tun, als Verhandlungen mit Admirai Darlan, dem Kronprinzen von Pétain, aufzunehmen, der ein Jahr zuvor in Berchtesgaden gewesen war und sich >rein zufällig< in Algerien aufhielt. Unter diesen für alle Freien Franzosen und Demokraten skandalösen Umständen konnte de Gaulle mit Unterstützung der französischen Résistance die Gefahr meistern und eine andauernde Spaltung der französischen Kräfte und Mittel verhindern. Während Giraud geltend machte, daß er eine Armee von 300.000 Soldaten in Afrika auf die Beine bringen könne, um das Mutterland zu befreien, konnte de Gaulle nicht nur auf die Prinzipien der Demokratie und den Respekt der »gerechten Gesetze der legitimen Republik« verweisen, sondern auch auf das Potential, das die Chefs aller Widerstandsgruppen Frankreichs, der politischen Parteien, der Gewerkschaften

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und der im M a i 1943 von Jean M o u l i n an einem geheimgehaltenen Ort in Paris einberufene Conseil National de la Résistance zusammengebracht hatten. Unter diesen Bedingungen konnte am 3. Juni 1943 unter der doppelten Präsidentschaft der Generäle Giraud und de Gaulle die Kriegsregierung in Algier zusammentreten, die für die Befreiung des Mutterlandes alle überseeischen Gebiete und alle mobilisierbaren Kräfte versammeln sollte. Einige M o n a t e später wurde de Gaulle dank seiner politischen Klugheit und seines taktischen Geschicks der alleinige Chef. Selbst w e n n Algier d a m i t die provisorische Hauptstadt des Freien Frankreich wurde, spielten die Freien Franzosen in London weiter eine große Rolle: ihre Verantwortung wuchs sogar, da die Verbindungen zwischen England und Algier schwierig und teilweise sogar völlig abgebrochen waren, als die Briten Ende April 1944 den Verbindungen mit d e m Ausland eine Art »Bann« auferlegten, u m das Geheimnis der Vorbereitungen für die Landung in der N o r m a n d i e (Operation Overlord) besser hüten zu können. Dennoch wurden beinahe alle Verbindungen mit der Resistance in Frankreich von London aus gesteuert. Die Botschaft wurde von d e m sozialistischen Abgeordneten Viennot geleitet, einem ehemaligen Minister des Kabinetts von Léon Blum. Viennot erreichte London im Frühjahr 1943 und bot alle seine Kräfte auf, u m mit den Briten über die »Landungsabmachungen« — wie die Franzosen es nannten - zu verhandeln. Am 7. September 1943 hatte das Komitee von Algier eine Reihe von Noten an die drei großen Alliierten gerichtet, in denen präzisiert war, welche Aufgaben bei der L a n d u n g in Frankreich in den Verantwortungsbereich des interalliierten Oberbefehlshabers gehörten und welche Funktionen die von Algier ernannten Zivilbehörden in den befreiten Gebieten wahrzunehmen hätten. Doch Roosevelt gab darauf zum Ärger von de Gaulle keine Antwort, u n d Churchill lehnte ab, sich ohne Z u s t i m m u n g der Amerikaner zu engagieren. Gleichwohl bereiteten drei französische Abteilungen in London a u t o n o m die L a n d u n g vor: die Propaganda-Abteilung, die Verbindungsstelle für die Resistance in Frankreich und die Militärmission für die befreiten Territorien. Ab A n f a n g 1944 konzentrierten sich also in London sämtliche Aktivitäten der Freien Franzosen auf die Vorbereitung der Landung. Die Militärmission für die befreiten Territorien war das Organ, das die wenigsten Hindernisse zu überwinden hatte: sie war verantwortlich für die Rekrutierung und A u s b i l d u n g von Spezialisten, für die Beratung der französischen Militäroder Lokalbehörden der befreiten Regionen in den verschiedensten Bereichen der Zivilverwaltung, für die Verhaftung der Verräter und die Neuorganisation der Polizei, für die Publikation der n u n m e h r freien Presse und für die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln. Die Schwierigkeit ihrer Aufgabe bestand darin, d a ß sie die wesentlich zahlreicheren amerikanischen Offiziere der Zivilbehörden überflügeln m u ß t e n . Sie hatten auf lokaler Ebene die

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französische Unabhängigkeit geltend zu machen, denn das befreite Frankreich sollte um keinen Preis — die Gefahr bestand — als ein Land unter alliierter Militärverwaltung angesehen werden. Zunächst jedoch hatte die Radiopropaganda eine vorrangige Bedeutung. Seit 1940 hatte es noch nie ein so heftiges Gefecht zwischen den Radiosendern gegeben. Das Informationsministerium der Vichy-Regierung mit seinem Sprecher Philippe Henriot war eine einflußreiche populäre Demagogenzentrale. Zwei- oder dreimal am Tag ergriff Henriot auf allen französischen Radiostationen das Wort. Durch seine Heftigkeit und seinen Spott verschaffte er sich Gehör. Von London aus ging Maurice Schumann für das Freie Frankreich jeden Abend zur Gegenoffensive über. 7 0 % der französischen Haushalte, die ein Radio besaßen, hörten Schumann, aber ein großer Teil hörte auch Henriot. Schumann verfügte über eine außergewöhnliche Fülle von Informationen, die aus dem Untergrund von Geheimagenten in Frankreich nach London gedrahtet wurden. Er schien genau darüber informiert zu sein, was sich im besetzten Frankreich abspielte. Im Februar und März 1944 berichtete er täglich über die 550 Maquisarden, die in den Alpen auf der Hochebene von Glieres kämpften und letzten Endes alle vernichtet wurden. Er gab detaillierte Informationen über die von Widerstandskämpfern ausgeübten Attentate auf die deutsche Kriegsmaschinerie sowie über die blutigen Repressalien seitens der Besatzungstruppen, die in den Massakern von Oradour-sur-Glane gipfelten, wo 634 Einwohner erschossen oder lebend in einer Kirche verbrannt wurden. Er wollte seine Landsleute nicht zu einer verfrühten nationalen Erhebung aufhetzen, die niedergewalzt worden wäre. Er übte eine Propagandatätigkeit aus, die auf den Begriffen von Ehre und M u t basierte. Alle Franzosen in London hörten seine Abendsendung mit angehaltenem Atem. Philippe Henriot erwiderte mit Propagandaparolen, die sich auf Nichteinmischung und Feigheit stützten: »Diese Kämpfe sind nicht die ihren«, und er scheute sich nicht, vor der roten Gefahr zu warnen. Anfang Mai 1944 beschloß die britische Regierung, die französischsprachigen Sendungen n u n m e h r unter franco-britischem Kondominium und gemeinsamer Verantwortung auszustrahlen. Auf diese Weise wurde schließlich die Souveränität des Radios vom Freien Frankreich anerkannt. Auch die Verbindung mit den Widerstandsgruppen in Frankreich wurde in außergewöhnlichem Ausmaß intensiviert. Die Flugzeuge Lysander und manchmal sogar Bombenflugzeuge landeten nachts in den von Maquisarden gehaltenen Gebieten oder warfen pro M o n a t 250 bis 300 kg Dokumente, detaillierte Militärkarten von der Atlantik- und Armelkanalküste oder Kopien der Präfekturberichte von Vichy, ab. Eine aus Frankreich herübergeholte Mannschaft von Ingenieuren fertigte Sabotagepläne für die Bahngleise und Telefonleitungen an, die in der Nacht der Landung der Alliierten auszuführen waren, um den Vormarsch der deutschen Truppen zu verzögern.

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Am 27. Januar sicherte Churchill dem Kommissar für Inneres d'Astier zu, daß die Alliierten die Widerstandsverbände massiv mit Waffen versorgen würden. Woche für Woche wurden mit dem französischen Team in London die Orte für die Fallschirmlandungen festgelegt. Zwischen Februar und September 1944 wurden über Frankreich Ausrüstungsmaterialien für 450.000 Mann abgeworfen. In jeder Militärregion gab es einen französischen Delegierten, der in direkter Radioverbindung mit London stand, um Geld und Waffen für seine Region anfordern und zwischen den verschiedenen Widerstandsgruppen aufteilen zu können. Ein großer Teil der Zivilbehörden, die die Vichy-Dienststellen ablösen sollten, war bereits heimlich eingerichtet bzw. ernannt worden, unter anderem die Hälfte der zukünftigen Präfekten und 11 Regionalpräfekten. In Paris leitete Parodi im Range eines Ministers der provisorischen Regierung die geheime Generaldirektion und informierte London regelmäßig über die Lage in der französischen Hauptstadt. In der Nacht der Landung wurden an 950 Orten die Bahngleise im Hinterland der deutschen Truppen gemäß den von London aus erteilten Instruktionen gesprengt. Im Juni und Juli wurde ein franco-britisch-amerikanischer Generalstab gebildet unter der Befehlsgewalt von General Koenig, um die Aktionen der Resistance zu koordinieren und gemäß den Weisungen des Generalstabs von Eisenhower auszuführen. Am 4. August 1944, dem Tag nach dem Durchbruch bei Avranches, erteilten die französischen Verantwortlichen den Befehl zum allgemeinen Aufstand in der Bretagne, am 12. für das Gebiet zwischen der Loire und Gironde, am 17. für den Süden Frankreichs, das Alpengebiet und das Zentralmassiv. Beim Herannahen der alliierten Streitkräfte kam es zum Aufstand in Paris. Hitler hatte dem Kommandanten von Groß-Paris, General von Choltitz, der über 60 Panzer verfügte, befohlen, die Stadt um jeden Preis zu halten. Eisenhower hatte aber beschlossen, die Stadt zu umgehen, um Straßenschlachten zu vermeiden und nicht verfrüht die Verantwortung für die Lebensmittelversorgung der 2 bis 2,5 Millionen Einwohner übernehmen zu müssen. Am 20. August verließ de Gaulle Algier und landete am 22. August in der Normandie, um Eisenhower zu überreden, den Aufständischen mit Truppen, vor allem der Panzerdivision von General Leclerc, zu helfen. Am Morgen des 23. August setzten sich die Division Leclerc und die 4. amerikanische Division endlich in Richtung Paris in Bewegung. In der Zwischenzeit war man in London telegraphisch informiert worden, daß Paris mit Barrikaden übersät sei und die Patrioten die öffentlichen Gebäude besetzt hätten. Man wußte aber nichts über die Marschroute der beiden Befreiungsdivisionen. Um die alliierten Befehlshaber zum Handeln zu zwingen, ließen Koenig und Boris über die BBC am 23. August ein schmetterndes Kommunique verlesen, in dem der Aufstand von Paris verkündet und sein Erfolg gewürdigt wurde: »Nach viertägigen Kämpfen ist gestern,

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am 22. August, überall der Feind geschlagen worden. Die Patrioten besetzten die öffentlichen Gebäude. Hiermit haben die Pariser entscheidend zu ihrer Befreiung beigetragen«. In diesem K o m m u n i q u e stimmte alles mit der Ausnahme, daß die Truppen des Generals von Choltitz immer noch die Straßen und verschiedene Knotenpunkte der Hauptstadt kontrollierten. Die Meldung wurde sogleich von der BBC aufgegriffen und in den englischen Nachrichten verkündet: »Paris is free«. Bereits am Nachmittag berichteten auch die Londoner Zeitungen mit riesengroßen Titeln über die Befreiung von Paris. Im interalliierten Generalquartier forderte man vergeblich eine Richtigstellung, denn in London hatten schon die Glocken geläutet, und zahlreiche Glückwunschmeldungen waren eingetroffen. Der englische König sprach ebenfalls am darauffolgenden Tag seine Glückwünsche aus. Tatsächlich ist Paris erst am Abend des 25. August befreit worden. Aus dem Französischen von Barbara Vormeier

1 Dem Beitrag liegen folgende Studien des Verfassers zugrunde: J.-L. Crémieux-Brilhac: Les Français de l'an 40. Bd. 1: La guerre oui ou non?-, Bd. 2: Ouvriers et soldats. Paris 1990. Ders.: La France libre. Del'appeldu 18juin à la Libération. Paris 1996. — 2 René Cassin (1887-1976): Professor für öffentliches Recht; 1 9 2 4 - 1 9 3 8 französischer Vertreter beim Völkerbund; 1 9 4 0 - 1 9 4 5 Exil in London, Justizminister des Freien Frankreich; 1 9 4 5 - 1 9 4 7 Vizepräsident der UNO-Menschenrechtskommission; 1 9 5 0 - 1 9 6 0 Richter am Schiedsgerichtshof in Den Haag; 1 9 5 9 - 1 9 7 6 Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; 1968 Nobelpreis für den Frieden.

Marek Andrzejewski

Zur deutschsprachigen Emigration in Polen 1933 bis 1939

Der deutsche Widerstand gegen das NS-Regime war lange Zeit in Polen kein öffentliches Thema, obgleich schon in den siebziger Jahren verschiedene, meistens populärwissenschaftliche Arbeiten erschienen waren. Das änderte sich erst seit 1989, dabei blieb jedoch das deutschsprachige Exil auch weiterhin am Rande des geschichtswissenschaftlichen Interesses. Unter den wenigen Arbeiten, die dieser Problematik mehr oder weniger gewidmet sind, verdient vor allem das Buch von Ryszard Skarzyriski über das politische Denken der deutschsprachigen Emigration erwähnt zu werden. Diese Studie erschien jedoch nur in einem kleinen Verlag und blieb sogar bei den polnischen Zeithistorikern fast unbemerkt. Die Frage der Emigration berühren in ihren Arbeiten auch Antoni Czubiriski und Marian Grzfda. Weiterhin sind die Artikel von Mirosfaw Cygariski zu erwähnen, der dem polnischen Leser die Haltung der deutschen Emigration gegenüber der polnischen Frage vor u n d während des Zweiten Weltkriegs näherbringt. 1 Die Frage, warum sich über das deutschsprachige Exil in Polen nur wenig Literatur findet, mag auch damit zu erklären sein, daß Polen keines der großen Exilländer war u n d an der Peripherie der Auswanderungswege lag. Im G r u n de macht nur Pia Nordbloom den Versuch, dieses T h e m a systematischer vorzustellen. Sie ist sich jedoch in ihrem nur einige Seiten umfassenden Aufsatz natürlich bewußt, daß beim jetzigen Forschungsstand eine breite u n d vertiefte Arbeit über das deutschsprachige Exil in Polen unmöglich ist. So bringt er zwar interessante Fakten und einige generalisierende Bewertungen, jedoch ist er vor allem als Anregung und Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu verstehen. 2 Einen anschaulichen Einblick in die Zusammenarbeit der deutschsprachigen, das heißt deutschen, österreichischen, Danziger und sudetendeutschen Sozialdemokraten mit den polnischen Sozialisten in Oberschlesien gibt das Buch von Lucjan Meissner. 3 D a n k dieser Arbeit wissen wir mehr über den Schmuggel von Presseerzeugnissen und über die Unterstützung, die in Oberschlesien den Flüchtlingen vor allem von Seiten der Mitglieder der PPS (Polska Partia Socjalistyczna) und der DSAP (Deutsche Sozialistische Arbeiter Partei in Polen) gewährt wurde. Die Studie von Meissner kann man in gewisser Weise als bahnbrechende Arbeit bezeichnen, weil der Verfasser als einer der ersten unter den polnischen Historikern und Germanisten der anti-

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nationalsozialistischen Tätigkeit der Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen so viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Es wäre sinnvoll, wenn sein Buch auch in deutscher Sprache erscheinen könnte. Uber die Zusammenarbeit der S P D und der DSAP sowie über die illegalen Transporte des Neuen Vorwärts, der Sozialistischen Aktion, der Zeitschrift für Sozialismus und anderer im »Dritten Reich« verbotener Zeitschriften vom polnischen in den deutschen Teil Oberschlesiens schrieben auch der schon erwähnte Historiker Miroslaw Cygariski, ebenso wie Petra Blachetta-Madajczyk, Andrzej Szefer, Jan Walczak, Henryk Szczerbiriski und Danuta Sieradzka, die zudem einen biographischen Aufsatz über Johann Kowoll herausgegeben hat. Dieser ehemalige Bezirksvorsitzende der DSAP, ein aktiver NS-Gegner und Organisator der Hilfe für die deutschsprachigen Flüchtlinge, verdiente aber eine eigene genauere Untersuchung als bisher. Uber das Exil der Danziger Nazigegner nach Polen, West-und Nordeuropa hat der Verfasser einige Arbeiten veröffentlicht. Zu nennen wäre weiter der Aufsatz Stefan H. Kaszyriskis über den Aufenthalt Franz Theodor Csokors in Polen.4 Verschiedene Bruchstücke von Informationen finden sich verstreut in der Exilliteratur und in Memoiren, die auch von Polen stammen. Für die genaue Rekonstruktion der tatsächlichen Vorgänge fehlen bislang jedoch handfeste Belege. Die für kürzere oder längere Zeit mit Polen verbundenen deutschsprachigen Emigranten hinterließen wenig Zeugnisse. Der Mangel an adäquaten Quellen, das heißt Emigranten-Zeitungen und Mitteilungen von Hilfsorganisationen der Emigration, ist ein schweres Hindernis bei der Beschreibung des Lebens der Emigrantenkolonie. Ebenso dürftig ist die Lage bei den Archivalien. Sowohl in deutschen wie auch in polnischen Archiven befinden sich einige Akten, die ein Schlaglicht auf diese fast vergessene Problematik werfen können. Der Verfasser, der früher bei der Bearbeitung seiner Bücher über die Danziger S P D sowie über Opposition und Widerstand in der Freien Stadt Danzig einige deutsche Archive ausgewertet hat, fand zum Teil Material im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, in geringem Ausmaß im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und des Instituts für Zeitgeschichte in München, das tragfähige Untersuchungen möglich macht und dessen Studium daher lohnend sein dürfte. Die polnischen Archive sind dagegen weniger ergiebig. Dort findet man nur wenig Informationen über die deutschsprachigen Flüchtlinge, die zudem von unterschiedlicher Vollständigkeit sind. Im Warschauer Archiwum Akt Nowych (Archiv für Neue Akten) finden wir vor allem Einzelfälle der Emigration, doch keine Gesamtberichte über die Lage der Flüchtlinge. Auch in den Staatsarchiven in Danzig, Krakau, Kattowitz und Lodz stießen wir in unterschiedlichem Ausmaß auf ähnliche Quellen. Die Recherche in anderen polnischen Archiven (in Thorn, Bromberg, Posen und im Warschauer Zentral-Militärarchiv) verlief dagegen negativ. Zu bemerken ist, daß die gefun-

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denen polizeilichen Meldungen nur von beschränkter Bedeutung sind, die womöglich interessanteren Akten, die sich bis 1989 im Warschauer ZentralArchiv des Innenministeriums befanden, zur Zeit aber »nicht zu finden« sind; die akribische Suche des Verfassers und anderer Historiker nach diesen Quellen verlief bisher erfolglos. Allgemein ist festzuhalten, daß das Material aus den polnischen Archiven zwar einige neue Fakten bringt, doch diese Quellengrundlage ist zu knapp, um daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen. Obwohl Polen nicht zu den bevorzugten Exilländern gehörte, fanden dennoch auch dort für eine gewisse Zeit vom NS-Regime verfolgte Menschen Zuflucht. Legt man die Angaben im dritten Band des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration als Vergleich zugrunde, waren das mit 78 Personen mehr, als nach Portugal (53) geflohen sind. 5 Polen war für die deutschsprachigen Flüchtlinge zwar schnell zu erreichen und seine Grenzen verhältnismäßig leicht passierbar, aber dagegen stand, daß die polnische Regierung im allgemeinen keine freundliche Politik gegenüber den Flüchtlingen praktizierte, so wie das etwa in Prag der Fall war. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Der junge Staat Polen hatte keine Asyltradition. Dazu kamen die eigene nationale Identitätsfindung nach jahrhundertelanger Teilung und die Grenzstreitigkeiten mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Beiderseitige Ressentiments führten dazu, daß Polen bis zum Herbst 1938 als Fluchtziel nur eine geringe Rolle spielte, also bis zum deutschen Einfall in die Tschechoslowakei, als auch die anderen traditionellen Fluchtländer ihre Grenzen immer mehr schlössen. Weiterhin wurde die polnische Flüchtlingspolitik von politischen Umständen mitgeprägt, die nach 1933 zu taktischen Rücksichten zwangen. In der damaligen Situation wollte Warschau die relativ stabilen deutsch-polnischen Beziehungen nicht in Gefahr bringen. Erst in den letzten Monaten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs öffnete Polen den Emigranten mehr als bisher seine Grenzen, allerdings imrmer nur zaghaft. In dieser bereits spannungsgeladenen Situation war andererseits für die meisten Emigranten aber schon klar, daß Polen nur eine kurzzeitige Durchgangsstation sein konnte. 6 Zwar wollte Warschau keine Konflikte mit Berlin riskieren; es scheint aber gleichzeitig, daß das »Dritte Reich« in d e r Flüchtlingsfrage auch kaum Druck auf die Republik Polen ausgeübt hat.. Nach den bisher bekannten Unterlagen kam es im polnischen Außenmiriisteriurr. zu keinen Interventionen von deutschen Diplomaten, wie das in d e r Tschechoslowakei mehrfach der Fall gewesen ist. W a s Polen andererseits für die Emigranten unattraktiv machte, war der Anttisemitis;nus, der in der Republik Polen verbreitet war und zu dessen Trägerin besonders die Narodowa Demokracja und ein Teil der katholischen Priester zählte. Es gab auch in Polen wiederholte Versuche, die Juden zu boykot deren, vie auch die Parole »Juden nach Madagaskar« verbreitet war. Z u d e m hatie Polen bereits vor 1933 aus ökonomischen Gründen die Ein-

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Wanderung erschwert. Für die Emigranten aus dem »Dritten Reich«, aus Osterreich oder der Tschechoslowakei war Polen kein visumfreier Zufluchtsort. Die in Polen gültigen Gesetze, die den Aufenthalt der E m i g r a n t e n regelten, konnten kein Anreiz für ihre Reise in dieses Land sein. W e n n j e m a n d schon nach Polen fuhr, so war das meistens das Ergebnis einer äußersten Notlage. Die polnischen Behörden betrieben in den Jahren 1 9 3 3 bis 1 9 3 9 eine restriktive Asylpolitik zwischen M i ß t r a u e n und Duldung. N i c h t selten verhielten sie sich den deutschsprachigen Emigranten gegenüber verständnislos und kühl. In den polnischen Quellen stößt man oft auf Fälle von »großer Reserve« der polnischen Seite, vor allem a u f lokaler Ebene. Natürlich erhielten jene Emigranten, die in Polen in kulturellen oder wissenschaftlichen Kreisen in gutem R u f standen, problemlos eine Aufenthaltserlaubnis; ein Beispiel dafür ist der Schriftsteller Franz T h e o d o r Csokor, über den noch zu reden sein wird. D a b e i ließen sich die polnischen B e h ö r d e n vor allem von der Idee leiten, daß Polen für die Flüchtlinge nur ein Transitland sein würde. 7 An dieser M a x i m e hielt die polnische Seite auch während des Jahres 1 9 3 9 fest, als sich die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau zusehends verschlechterten. Davon wurden auch die Flüchtlinge betroffen. Ein durchschnittlicher Pole, wenn er überhaupt eine Gelegenheit hatte, Exilierte persönlich kennenzulernen, verhielt sich ihnen gegenüber zwar nicht mit offener Feindseligkeit, aber meistens reserviert. Er fühlte sich mit den Flüchtlingen nicht solidarisch, und deren Probleme fanden bei ihm wenig Verständnis. Sympathien für die Exilanten zeigten lediglich polnische Sozialisten, Gewerkschafter sowie einige Politiker, Journalisten und diejenigen, die eine gewisse Beziehung zur deutschen Kultur hatten. 8 Bisher gab es keine genaueren Angaben über die Zahl der deutschsprachigen Emigranten in Polen. Wieviele Menschen aus politischen und »rassisch«religiösen Gründen das »Dritte Reich« und später Osterreich, die T s c h e c h o slowakei sowie die Freie Stadt Danzig verlassen mußten und nach Polen kamen, läßt sich höchstens annähernd feststellen. Das polnische Exil u m f a ß te in den Jahren 1 9 3 3 bis 1 9 3 9 etwa 1 0 . 0 0 0 Flüchtlinge - allerdings nie gleichzeitig - , also nur etwa 2 Prozent aller Hitlerflüchtlinge, unter ihnen überwiegend Transitäre. Sie dürften sich in Polen unterschiedlich lang aufgehalten haben, meistens aber nur kurze Zeit. A m 3 1 . Dezember 1 9 3 4 waren zum Beispiel in Warschau 4 2 9 deutsche und 1 0 6 Danziger Staatsbürger gemeldet. Vermutlich kann ein Teil von ihnen zu den Flüchtlingen gerechnet werden. 9 Polen konnte im Gegensatz zu Großbritannien theoretisch durch u n k o n trollierte Einwanderung erreicht werden. M i t seiner 1 . 9 1 2 Kilometer langen Grenze zu Deutschland war es scheinbar wie geschaffen für illegale Grenzüberschreitung o h n e Paß und V i s u m wie für das Schmuggeln illegaler Pres-

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se. Ein illegaler Grenzübertritt war aber mit der Gefahr verbunden, aus Polen in das »Dritte Reich« ausgewiesen zu werden. Daß dies nicht selten vorkam, zeigen zahlreiche Fälle. Oft jedoch handelte die polnische Polizei nachlässig, vermutlich mit Absicht, wie etwa der Fall des Deutschen Hermann Wolf zeigt, der am 1. November 1938 mit seiner Frau heimlich Bielitz verlassen hatte. 10 Die meisten Flüchtlinge überschritten die polnische Grenze auf dem Gebiet Oberschlesiens. Das geschah sowohl in den Monaten nach der Machtübernahme als auch in den darauffolgenden Jahren. Die günstige geopolitische Lage des polnischen Teils von Oberschlesien, der besondere Status der Schlesischen Woiwodschaft und nicht zuletzt die sprachlichen Verhältnisse beiderseits der Grenze machten diese Region für Flüchtlinge verhältnismäßig anziehend. Andere Grenzregionen wie Pommerellen und Großpolen spielten demgegenüber eine unwesentliche Rolle." Im Vergleich zu Asylländern wie Frankreich, Großbritannien oder der Tschechoslowakei gab es unter den Emigranten in Polen nur wenige bekannte Namen aus Literatur, Kunst und Politik. Zu den wenigen gehörten der Schriftsteller Franz Theodor Csokor, der Journalist Immanuel Birnbaum und der Politiker Hermann Rauschning. Schon 1917 hatte Csokor eine Nachdichtung der Ungöttlichen Komödie (Nieboska Komedia) von einem Großen der polnischen Romantik, Zygmunt Krasiriski verfaßt, obwohl er der polnischen Sprache nicht mächtig war und deshalb auf frühere Ubersetzungen zurückgreifen mußte. In seiner Bearbeitung wurde das Drama im Juni 1936 am Burgtheater mit großem Erfolg uraufgeführt. Diese Umstände gereichten ihm zum Vorteil, als er nach dem »Anschluß« im März 1938 von Wien nach Polen floh, wo er, wie er einem Freund schrieb, durch die »KrasiriskiBearbeitung Beziehungen« besaß. Daß er Jahre zuvor einen polnischen Orden für die Bearbeitung der Ungöttlichen Komödie erhalten hatte, half ihm, schnell eine Aufenthaltserlaubnis in Chorzöw (Königshütte) zu erhalten. 12 Zu den deutschen Bürgern, die bereits vor 1933 in Polen beschäftigt waren und nach der Machtübernahme aus politischen oder »rassischen« Gründen nicht nach Deutschland zurückkehren konnten, gehörte Immanuel Birnbaum, seit 1927 Auslandskorrespondent in Warschau. Er wurde Mitarbeiter der Zeitschrift Der Deutsche in Polen und arbeitete mit Senator Eduard Pant, Johann Kowoll, Johannes Maier-Hultschin und anderen NS-Gegnern zusammen. 1939 gelang es ihm, über Finnland nach Schweden zu fliehen. Als einer der wenigen Emigranten kehrte er 1946 nach Polen zurück; einige Jahre arbeitete er als Presseattache der österreichischen Gesandtschaft, ehe er nach Wien und später nach München übersiedelte. 13 Aufgrund der geringen Flüchtlingszahlen und des sozialen Profils sind Gründungen von Exilorganisationen nicht bekannt, zumal die meisten Flüchtlinge auch politisch nicht hervortraten. Den polnischen Akten ist zu entnehmen, daß im Gegensatz zu den wenigen jüdischen Flüchtlingen Man-

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ner einen großen Teil der politischen Emigranten bildeten, Familien und alleinstehende Frauen also die Ausnahme waren. Die Mehrheit hielt sich in den Städten auf, vor allem in Warschau, Kattowitz, Bielitz, Krakau, Lemberg, Gdingen und Lodz, der kleinen Vielvölkerstadt. Dies zeigt, daß sie soziologisch in der Mehrheit aus der Mittelschicht und aus dem Arbeitermilieu kamen. Nur selten befanden sich darunter auch wohlhabende Bürger sowie einige Intellektuelle. Die Niederlage der demokratischen Parteien in Deutschland hätte die Freie Stadt Danzig zu einer Rettungsinsel für deutsche und später für österreichische und sudetendeutsche Flüchtlinge machen können. Zumindest gab es vor den Volkstagswahlen am 28. Mai 1933, drei Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, Pläne, Danzig als »Zitadelle« der deutschen SPD umzugestalten. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation war bereit, dafür materielle Unterstützung zu leisten. Das Presseorgan der Danziger SPD äußerte den Wunsch, daß Danzig Mittelpunkt des deutschsprachigen politischen Exils werde. So schrieb die Danziger Volksstimme. »Tausende deutsche Wirtschaftler, Gelehrte, Künstler wollen in dem heutigen Deutschland nicht mehr leben. Sie würden glücklich sein, ein Land zu finden, das deutsch ist, in dem Deutsch gesprochen und deutsch empfunden wird, in dem aber dazu noch ihre Sehnsucht erfüllt ist: daß gleiches Recht für alle herrscht, daß die deutsche Kultur auf dem alten unantastbaren Niveau steht«. Doch waren solche Visionen kaum mehr als Illusionen. Die Mitglieder des Völkerbunds, der der Garant der Danziger Verfassung war, verhielten sich passiv, auf Unterstützung Polens und der Westmächte konnte die Danziger SPD ebenfalls nicht rechnen, obwohl das »Dritte Reich«, zumindest in den ersten Jahren, kaum zur Destabilisierung der Lage in Danzig die Macht hatte. 14 Zu den bedeutendsten Emigranten, die in Polen Asyl suchten, zählte Hermann Rauschning. Der kurzfristig amtierende nationalsozialistische Präsident des Senats der Freien Stadt Danzig (1933-1934) war kein typischer Vertreter der NS-Elite, sondern eher ein klassischer deutscher Konservativer aus der Zeit der Jahrhundertwende. Rauschning verließ Danzig am Tag nach den letzten Volkstagswahlen am 7. April 1935. Zwar kehrte er einige Monate später noch einmal kurzfristig zurück, während der meisten Zeit jedoch hielt sich der spätere Verfasser der Gespräche mit Hitler bei seinem Schwiegervater in Thorn auf. Bis zu seiner Ubersiedlung Ende 1937 oder Anfang 1938 mit seiner Familie in die Schweiz wurde das Haus in Thorn zu seiner Sicherheit von der polnischen Polizei diskret überwacht. Die polnische Seite behandelte Rauschning, der mit ihr teilweise zusammenarbeitete, als ob er weiterhin Präsident des Danziger Senats sei.15 Schon 1933 verließ der bekannte Journalist der sozialdemokratischen Danziger Volksstimme, Richard Teclaw, die Freie Stadt Danzig und ging nach kur-

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zem Aufenthalt in Polen in die Tschechoslowakei. In Brünn begründete er 1934 zusammen mit Will Schaber und Rolf Reventlow einen Pressedienst, den Press-Service, der an deutschsprachige Zeitungen in Polen, Danzig, der Tschechoslowakei sowie an verschiedene Blätter des deutschen Exils ging. Wahrscheinlich kehrte Richard Teclaw im Herbst 1938 nach Polen zurück, um vom Gdingener Hafen nach Großbritannien zu emigrieren. Es scheint, daß die politische Emigration aus der Freien Stadt Danzig ein gewisses Wohlwollen der polnischen Behörden genoß. Die Danziger SPD, die auch eine deutsche sozialdemokratische Partei war, unterhielt nach 1933 zahlreiche Beziehungen nach Polen. Nach ihrem Verbot vertrat ihre Interessen in Warschau der dorthin geflüchtete Erich Brost. Von großer Wichtigkeit waren die Verbindungen, die über Erich Brost zu den Kreisen der Sopade bestanden. Der Danziger Sozialdemokrat war während seines fast dreijährigen Aufenthalts in Warschau Mitarbeiter zahlreicher deutscher Exilzeitungen. Seine spätere Ubersiedlung von Schweden nach Großbritannien Ende 1942 wurde weitgehend durch die Hilfe der polnischen Sozialisten und Diplomaten in London ermöglicht. 16 Es ist bezeichnend, daß den Danziger Oppositionellen bei der Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung von den polnischen Vertretern des Generalkommissars in der Freien Stadt Danzig geholfen wurde. Als einprägsamstes Beispiel ist hier der Fall Karl Töpfer zu erwähnen, für dessen Aufenthaltsgenehmigung im Herbst 1937 Tadeusz Perkowski beim polnischen Innenministerium vorsprach. Der polnische Diplomat war gut mit den Danziger Verhältnissen vertraut und identifizierte sich mit dem Kampf der Danziger Opposition gegen das NS-Regime — mehr als die Behörden in Warschau. Töpfer entschloß sich aber, nach Schweden zu emigrieren. Ähnlich wie Max Plettner, Gertrud Müller und andere Oppositionsmitglieder begab er sich über den Gdingener Hafen nach Skandinavien. Einer der Führer der Danziger Zentrumspartei, Bruno Kurowski, der im Oktober 1937 verhaftet wurde, mußte nach seiner bedingten Freilassung Danzig verlassen und lebte später in Österreich, Italien und Luxemburg. Schwerkrank konnte er heimkehren, um 1944 in Danzig zu sterben. 17 Regimekritische Druckerzeugnisse wurden von Warschau nach Danzig geschmuggelt, was ohne Hilfe der polnischen PPS-Mitglieder und Gewerkschafter kaum möglich gewesen wäre. Die Danziger Sozialdemokraten spielten eine gewisse Rolle bei der Verbreitung der emigrierten Presse in Ostpreußen, vor allem des Neuen Vorwärts. Ende Dezember 1936 wurde vom deutschen Generalkonsul in Thorn festgestellt, daß man sogar in Pommerellen an den Bahnhöfen in Graudenz und Thorn das Pariser Tageblatt und den Neuen Vorwärts kaufen konnte. Die Tätigkeit der SPD-Vertretungen in Warschau, Danzig, Gdingen und Schlesien war von großer Bedeutung aber nicht nur für die Beförderung der verbotenen Zeitschriften, sondern auch

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für die Gewinnung von Informationen über die politische Lage und die Stimm u n g der Bevölkerung in den deutschen Ostprovinzen. Besonders aktiv waren die Sozialdemokraten mit ihren Grenzsekretariaten im polnischen Schlesien. 18 Trotz der fortwährenden Gleichschaltungsversuche in der Freien Stadt Danzig fanden dort, vor allem dank der Sozialdemokraten, deutschsprachige Flüchtlinge Unterschlupf. Nach Informationen von O t t o Heike, der in den Jahren 1933 bis 1935 Vorsitzender der Lodzer Exekutive der DSAP war, wurden die Emigranten von Lodz aus nach Danzig und weiter in die baltischen Staaten und nach Skandinavien geleitet. Aus den polnischen Akten geht auch hervor, daß noch im Herbst 1937 der französische Generalkonsul in Danzig, Graf Guy Leroy de la Tournelle, in Verbindung mit den Flüchtlingen aus dem »Dritten Reich« stand. Das Exil ist meist ein freudloser Ort, und das Leben nach dem Uberleben war für die Emigranten oft nicht leicht. Auch für die in Polen ansässigen Flüchtlinge war die Emigration mit Leid und Entbehrungen verbunden. Sie hatten ihr H a b und G u t zurückgelassen. Ein großer Teil von ihnen versuchte, sich individuell über Wasser zu halten. Während der ersten Tage und Wochen konnte sich ein Großteil noch aus eigenen Mitteln eine Unterkunft besorgen. Bald aber waren sie auf fremde Hilfe angewiesen, wie unter anderen Erich Brost und seine Frau, die vermutlich eine Unterstützung in Höhe von 30 Zloty bekamen. Dazu kamen Sprachschwierigkeiten, Heimweh, Enttäuschung und oft drohende Ausweisung. Diese unstabile Situation und vor allem die Gefahr der Ausweisung führten nicht selten zu Depressionen und sogar zu Selbstmordversuchen. Dazu ein Beispiel: Leon Münzer und seiner Frau wurde von den polnischen Behörden mitgeteilt, daß sie nur bis Ende Mai 1939 in Polen bleiben könnten. Eine Reaktion auf die Verfügung war, daß Therese Münzer Luminal einnahm. Zwar wurde sie gerettet, aber mit bleibender Lähmung ihrer Arme und Beine. Einen Einblick in die damalige Lage der Flüchtlinge in Polen geben auch die Erinnerungen von Tadeusz Jablonski, der darauf aufmerksam machte, daß die Emigranten wegen der drohenden Infiltration von Nationalsozialisten besonders vorsichtig sein mußten.'9 Auch waren die deutschsprachigen Hitlergegner oft isoliert: Sprache, Sitten, Auffassungen trennten sie von ihren polnischen Nachbarn. Es gab wenig Berührungspunkte mit der polnischen Bevölkerung, und es kann schon gar nicht von einer Integration der Flüchtlinge in die polnische Kultur und Gesellschaft gesprochen werden. Der Fall Franz T h e o d o r Csokor, der 1938 in der Ruhe des Gutes Ludwigshof seines Freundes T h e o Holtz das Drama über die polnische Königin Jadwiga schrieb, bildete eine Ausnahme. 2 0 Die Integration in die polnische Gesellschaft stand aber ohnehin nicht im Vordergrund des Interesses der meisten Emigranten. Sie empfanden Polen ledig-

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lieh als »Wartesaal«, als erzwungenen Zwischenaufenthalt auf dem Weg nach Westeuropa, Amerika, in die Sowjetunion oder in andere Weltgegenden. N u r ein geringer Prozentsatz der Emigranten hatte den Wunsch, in Polen zu bleiben, für sie war es kein Dilemma, sich für Polen oder ein anderes Land zu entscheiden. Welche Art von Arbeit fanden die von den Nazis verfolgten Emigranten auf dem polnischen Arbeitsmarkt? Die meisten von ihnen hatten früher sprachgebundene Berufe ausgeübt und schon aus diesem G r u n d wenig Chancen auf eine entsprechende Stellung. Dabei sollte man nicht vergessen, daß für die meisten von ihnen eine Arbeitserlaubnis ohnehin unerreichbar war, denn auch in Polen herrschte in den dreißiger Jahren die Wirtschaftskrise, mit deren Auswirkungen, der hohen Arbeitslosigkeit, die polnischen Behörden bis 1939 nicht fertig wurden, so daß die Emigranten als Belastung empfunden wurden. Manche der Flüchtlinge konnten sich nur gelegentlich etwas hinzuverdienen, aber selbst die Möglichkeit zur Schwarzarbeit war begrenzt. In dieser elenden Lage boten die polnischen Gewerkschafter und Sozialisten materielle und moralische Unterstützung an, die das Uberleben vieler Emigranten überhaupt erst möglich machte. Dabei erleichterten die alten Beziehungen aus den zwanziger Jahren zwischen PPS und deutscher Sozialdemokratie im Deutschen Reich wie in der Freien Stadt Danzig sicher solche Hilfen. So konnte zum Beispiel dank der Hilfe polnischer Sozialisten Erich Ollenhauer wahrscheinlich im Herbst 1934 eine Informationsreise nach Warschau, Danzig und Gdingen unternehmen, um Aufenthalts- und Auswanderungswege bei den dortigen Parteifreunden zu sondieren. Nicht zu unterschätzen ist hierbei die Rolle von Mieczyslaw Michalowicz, einem Arzt u n d ehrenamtlichen Sozialfürsorger. Als erklärter Gegner des Nationalsozialismus war er Mitbegründer des »Komitees für die Unterstützung der deutschsprachigen Flüchtlinge«, das nicht nur für die Beschaffung von Visa, sondern auch für Unterkunft und Verpflegung der Flüchtlinge etwa in den Gästezimmern eines der Eisenbahnergewerkschaft gehörenden und bis auf den heutigen Tag erhaltenen Gebäudes in der Czerwony Krzyz-Straße in Warschau sorgte. O h n e Zweifel verdient die Tätigkeit Mieczyslaw Michalowicz' größere Bekanntheit. Daneben gab es mit Ferdynand Grzesik, Tadeusz Jabloriski, Karol Maxamin, Teodor Zieliriski, Wladyslaw Werner u n d Alfred Jarecki noch andere Polen, deren Tätigkeit für die deutschsprachigen Flüchtlinge nahezu unbekannt ist.21 Weil viele von ihnen PPS-Mitglieder waren, ist dieses Kapitel für die heutige offizielle polnische Historiographie nicht opportun, obgleich es ein beispielgebendes Zeugnis von Solidarität in den oft dramatischen deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert ist. G u t gestalteten sich die Beziehungen zwischen Emigranten und einem Teil der deutschen Minderheit, das heißt polnischen Staatsbürgern deutscher

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Nationalität, die hitlerfeindlich eingestellt waren; die Mehrheit der deutschen Minderheit in Polen allerdings hatte kein Verständnis für die antinationalsozialistische Tätigkeit der Emigranten. Vor allem die Mitglieder der DSAP veranstalteten Geldsammlungen für die Emigranten. In Kattowitz leisteten der Bezirksvorsitzende der DSAP, Johann Kowoll, und seine Frau Alice große Hilfe. Mitte des Jahres 1934 gründeten sie in Kattowitz ein Komitee zur Hilfe für die österreichischen Genossen, die nach dem Februaraufstand aus Osterreich geflohen waren. In Lodz wurde nicht nur für die Flüchtlinge aus dem Reich, sondern auch für die aus der Freien Stadt Danzig und Ostpreußen kommenden Emigranten eine Anlaufstelle eingerichtet. Ihre Betreuung oblag dem schon erwähnten Vorsitzenden der DSAP in Lodz und Redakteur der Lodzer Volkszeitung Otto Heike. 22 Oft hatte diese Hilfe einen spontanen Charakter. Obgleich die deutschen Hitlergegner jenseits der reichsdeutschen Ostgrenze theoretisch weitgehenden Handlungsspielraum besaßen, beschränkte sich ihr Einfluß immer mehr auf die deutsche Minderheit in Polen. Sie fanden bis 1939 fast keine Unterstützung bei den polnischen Behörden. Auch deshalb lichteten sich ihre Reihen immer mehr. Das veranschaulicht der Fall des Senators Eduard Pant, der in den Spalten der Zeitschrift Der Deutsche in Polen den Kampf gegen den Nationalsozialismus bis zu seinem Tod im Jahr 1939 fortsetzte und trotz aller Hindernisse seinen Anschauungen treu blieb. 23 Das zeigt auch ein weiteres Beispiel zur Haltung der polnischen Behörden, die oft kein Verständnis für den Kampf der Mitglieder der deutschen Minderheit gegen das NS-Regime hatten. Im September 1938 wurde Johann Kowoll von der polnischen Polizei verhaftet, weil man bei ihm einige Briefe an Nazigegner im »Dritten Reich« gefunden hatte. Die unmittelbare Folge dieses Schrittes war die vorübergehende Unterbrechung der Zusammenarbeit zwischen S P D und DSAP. 24 Auch die - oftmals illegale - kommunistische Emigration nach Polen fand von Seiten Johann Kowolls und anderer Mitglieder der DSAP Unterstützung, wobei daran zu erinnern ist, daß sich in der Republik Polen die Kommunisten am Rande der Legalität befanden und die polnische Bevölkerung zum überwiegenden Teil antikommunistisch eingestellt war. Polen konnte für kommunistische Emigranten daher nur eine Rolle als Durchgangsland spielen. So entschloß sich zum Beispiel der Danziger Volkstagsabgeordnete Anton Plenikowski wahrscheinlich im Jahr 1936, direkt nach Schweden zu emigrieren. Zuvor war er oft durch Polen nach Prag gefahren, um mit den deutschen Exilkommunisten in Kontakt zu bleiben. Von den bekannten KPD-Mitgliedern hielt sich 1935 Herbert Wehner kurz in Polen auf, ehe er in die Sowjetunion abgeschoben wurde. Der kommunistische Journalist und Verleger Peter Maslowski hingegen ging von Polen aus nicht dorthin, sondern in die Tschechoslowakei. 25

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Ein Überblick über die deutschsprachige Emigration nach Polen wäre unvollständig, wenn nicht die verfolgten Juden erwähnt würden. 1938 siedelten sich etliche jüdische Emigranten aus dem Berliner Raum in Polen an, darunter auch solche, die zwar polnische Pässe besaßen, aber seit Jahren in Deutschland lebten und unter Zwang in ihre angestammte Heimat zurückkehren mußten. In verschiedenen Städten wurden von den dortigen jüdischen Gemeinden Hilfskomitees gegründet, die sich nicht nur auf karitative Tätigkeit beschränkten, sondern auch für Arbeitsmöglichkeiten usw. sorgten. Diese Komitees waren in der Regel nicht registriert und übten ihre Tätigkeit meistens mit stillschweigender Erlaubnis der polnischen Behörden aus. In Warschau zeichnete sich die Jüdische Zentral-Exilgesellschaft »Jeas« (Zydowskie Centraine Towarzystwo Emigracyjne) durch ihr starkes Engagement aus. 26 Die kulturelle Tätigkeit der Flüchtlinge in Polen war im Verhältnis zu anderen Ländern nicht besonders rege, und Warschau gehörte nicht zu den Zentren der Künstler, Schriftsteller oder Journalisten. Auch die Bedeutung von emigrierten Wissenschaftlern war unvergleichbar geringer als zum Beispiel in Nordamerika. Aber dennoch haben die deutschsprachigen Emigranten dem polnischen kulturellen Leben gewisse Impulse geben können. Im Warschauerjüdischen Künstlertheater wirkten seit 1933 Alexander Granach und seit 1937 Carl Meinhard als Schauspieler. Als Choreographin und Pädagogin war die 1933 nach Polen emigrierte Solotänzerin der Städtischen Oper Berlin, Ruth Abramowitsch, tätig. Nach 1933 gastierte unter anderen der Musiker Jascha Horenstein in Polen; 1934 emigrierte Julian von Pulikowski nach Warschau, wo er Direktor der Musiksammlung der Nationalbibliothek wurde und als Dozent im Konservatorium und an der Universität tätig war. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb er in Polen; er kam während des Warschauer Aufstands im August oder September 1944 ums Leben. Dem Kantor des jüdischen Reformgymnasiums in Breslau, Heinz Hermann Danziger, der im November 1938 nach Polen emigrierte, gelang es demgegenüber zwei Jahre später, Großbritannien zu erreichen. Zu erwähnen wäre außerdem, daß gelegentlich deutsche Flüchtlinge zu Gastspielen nach Warschau kamen; im Herbst 1933 gab dort beispielsweise Fritz Mahler zwei Konzerte. 27 An deutschsprachiger Presse, die über die Vorgänge im »Dritten Reich« und in den Nachbarländern informierte, fehlte es nicht. Sie lag meistens in den wichtigen Cafés aus, wie etwa im Kattowitzer Café Otto, wo nicht nur die Schweizer Weltwoche und die Basler Nationalzeitung, sondern auch das Pariser Tageblatt erhältlich waren. Andere Exilschriften und im »Dritten Reich« verbotene Bücher waren auch in manchen Buchhandlungen von polnischen Bürgern deutscher Nationalität und in den DSAP-nahen Büchereien zu finden. Fehlende eigene Periodika der in Polen lebenden Emigranten

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erschwerten es den Journalisten und anderen Exilanten, in der eigenen Sprache publizistisch weiterzuarbeiten. In der hier interessierenden Zeitperiode erschien in Polen nur eine deutschsprachige Zeitschrift, die jedoch nicht als typische Exilzeitung zu bezeichnen ist. Die in den Jahren 1934 bis 1939 in Kattowitz herausgegebene Schrift Der Deutsche in Polen war eine der bestinformierten Wochenzeitungen, die eine genauere Analyse verdienen würde. Dieses Organ der Deutschen Christlichen Volkspartei wurde von Johannes C. Maier-Hultschin und Eduard Pant redigiert. 28 Den deutschsprachigen Journalisten und Schriftstellern gelang es sehr selten, Artikel für polnische Zeitungen zu schreiben oder gar einen Verlag für ihre Bücher zu finden. Eine Ausnahme machte lediglich die publizistische Tätigkeit von Hermann Rauschning. Nachdem er Danzig verlassen hatte, veröffentlichte er zahlreiche Artikel in der polnischen Presse, die entschieden gegen die Nationalsozialisten gerichtet waren. Auch nach seiner Ausreise in die Schweiz und nach Frankreich erschienen in polnischen Zeitungen weiterhin seine Beiträge. Von größter Bedeutung war aber Rauschnings Buch Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich von 1938, das unter anderem ins Französische, Italienische, Schwedische und Niederländische übersetzt wurde. Da es auf den aggressiven Charakter des NS-Regimes hinwies, erweckte es in Polen größeres Interesse als die 1940 erschienenen Gespräche mit Hitler, die erst 1994 ins Polnische übersetzt wurden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde Die Revolution des Nihilismus vom polnischen Geheimdienst inspiriert und finanziert. Vermutlich erschien erstmals im Jahre 1939 die polnische Fassung des Buches, die unserer Meinung nach absichtlich als zweite Auflage gekennzeichnet wurde. 29 Nach dem »Anschluß« Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei wurde Polen zu einem wichtigen, für manche Hitlergegner gar zum letzten Zufluchtsort. Zwischen März 1938 und August 1939 stieg die Zahl der deutschsprachigen Emigranten in Polen sprunghaft auf insgesamt ca. 3.000 bis 4.000 an. Das ist nur eine vorsichtige Schätzung, in der alle Flüchtlinge, auch wenn sie nur einige Tage oder Wochen in Polen verbrachten, berücksichtigt wurden. Nach Informationen von Otto Wollenberg sollen sich Anfang Juni 1939 2.000 Flüchtlinge, davon 250 politische, in Polen befunden haben. Von den 600 Personen allein in Kattowitz hatten 234 Visa, während sich die anderen 366 illegal dort aufhielten. 30 Die meisten von ihnen bemühten sich um eine Einreise nach England. Bekanntlich nahm Großbritannien, das bis Herbst 1938 eine eher restriktive Einwanderungspraxis betrieb, erst nach der Annexion des Sudetengebietes eine größere Anzahl von Emigranten auf. Dadurch stellten die britischen Vertretungen in Polen schneller und öfter Visa für die Flüchtlinge aus, vor allem für diejenigen aus der ehemaligen Tschechoslowakei.

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I m letzten Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich neben Warschau und Kattowitz ein weiteres Emigrantenzentrum in Krakau. D o r t haben im Gegensatz zu Kattowitz, Bielitz und Tschechen, wo die Versorgung der rassisch und politisch verfolgten Flüchtlinge von den jüdischen G e m e i n d e n vorg e n o m m e n wurde, vor allem die PPS-Mitglieder, Gewerkschafter sowie der jüdisch-sozialistische »Bund« Hilfe geleistet. N e b e n den reichsdeutschen, österreichischen und tschechischen Emigranten mußten noch ca. 1 2 . 0 0 0 jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Tschechoslowakei, die die polnische Staatsbürgerschaft besaßen, versorgt werden. Ein anderes Problem war die Rückwanderung einiger Tausende von O s t j u d e n aus dem »Dritten Reich«, die ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft besaßen. Eine herausragende Rolle spielte hierbei auch das »British C o m m i t t e e for Refugees from Czecho-Slovakia« in Warschau. Viele politisch und rassistisch Verfolgte aus der ehemaligen Tschechoslowakei, nicht nur deutschsprachige, fanden bei ihm verschiedenartige Hilfe, einschließlich der nötigen Visa. Vor allem ist Clara Hollingworth zu nennen, die die Transporte der E m i granten von Polen nach England organisierte. D o c h konnten damit nicht alle Hilfesuchenden rechnen. Clara Hollingworth führte nämlich auch eine schwarze Liste der Chancenlosen, die damit zugleich den Schutz ihres K o m i tees verloren und von den polnischen Behörden zum Verlassen des Landes aufgefordert wurden. W o h i n diese Betroffenen gingen, ist heute nicht mehr zu klären; vermutlich flohen sie in die baltischen Staaten. 3 1 G r o ß e Hilfe gewährte auch, wie O t t o Wollenberg an Kurt Grossmann schrieb, der britische Konsul in Kattowitz den deutschsprachigen Flüchtlingen aus der ehemaligen Tschechoslowakei, wenngleich, wie ein Situationsbericht vom 14. Juli 1 9 3 9 zeigt, auch hier die unteren Chargen der Konsulate in Krakau und Kattowitz jenes Engagement häufiger erschwerten. Hinzu kam die schwache Besetzung des britischen Vizekonsulats in Oberschlesien, und auch die zahllosen im Frühjahr 1 9 3 9 aus dem Boden schießenden neuen Emigrantenkomitees komplizierten die ohnedies schwierige Lage. 3 2 Es lassen sich viele Beispiele anführen, die für eine veränderte Haltung der polnischen Behörden im letzten Jahr des Friedens sprechen. So wurde unter anderen einem weiblichen Flüchtling aus Deutschland, Käthe S a l o m o n , die keine Papiere besaß, von den polnischen Behörden ein Paß ausgestellt, damit sie nach Palästina gehen konnte. W e n n die Emigranten, die schon eine Schiffskarte besaßen, Probleme mit dem polnischen Transitvisum hatten, intervenierte auch die Gdingen-Amerika-Linie beim polnischen I n n e n m i nisterium. So hatte zum Beispiel ein jüdischer Fliichling aus dem »Dritten Reich«, B r u n o Winkler, im Büro der Reederei in Riga eine Schiffskarte von Gdingen nach N e w York gekauft, die für ihn bis zum Auslaufen des Schiffes, der »Batory«, aus dem Gdingener Hafen das nötige Transitvisum bei den Warschauer Behörden beschaffte. I m Fall Kurt N e u m a n n , der Berichter-

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statter einiger englischer Zeitungen war und zusammen mit seiner Frau im März 1939 von der Grenzpolizei festgenommen worden war, intervenierte das britische Konsulat beim polnischen Innenministerium, und schon nach einigen Tagen konnten sich die Neumanns von Zakopane nach Warschau begeben, um das britische Visum in Empfang zu nehmen. Kurt Neumann war übrigens nicht der einzige deutschsprachige Mitarbeiter der englischen Presse, der 1939 über Polen nach Großbritannien fahren wollte. Zur gleichen Zeit wartete auch der deutsche Bürger Robert Bauer, Prager Berichterstatter der Times, in Warschau auf seine Ausreise.33 Es gab jedoch Fälle, daß Flüchtlinge, die auf ein britisches Visum warteten, aus Polen ausgewiesen wurden. Als Beispiel für eine sehr formalistische Haltung mancher polnischer Lokalbehörden mag der Fall Walter Quittner genommen werden, der illegal die deutsch-polnische Grenze überschritten hatte und nach zwei Wochen Haft als »unerwünschter Ausländer« im Juli 1939 aus Polen ausgewiesen wurde. Es half hier nicht, daß Quittner bald das britische Visum bekommen hätte und daß ihm und seiner nichtjüdischen Ehefrau im »Dritten Reich« Verfolgung drohte. Trotz formal korrekter Entscheidung protestierte das britische Konsulat in einer Note vom 24. August bei der Krakauer Behörde gegen diese Hartherzigkeit. 34 Einem Teil der Sudetendeutschen gelang es fast im letzten Augenblick, nach Polen zu fliehen. Ais die Wehrmachtseinheiten bereits in Prag einmarschierten, hatten einige Sozialdemokraten, unter anderen Siegfried Taub, Frank Krejcy und Wenzel Jaksch, in der britischen Botschaft vorübergehend Zuflucht gefunden. Am nächsten Tag bekamen sie in der polnischen Vertretung in Prag das Transitvisum, und nach einigen Schwierigkeiten erreichten sie mit dem Zug Gdingen, von wo sie nach Schweden und später nach England, Kanada und in die Vereinigten Staaten gingen. Während der Wartezeit in der britischen Botschaft hatte Jaksch, ein führender Politiker der Deutschen Sozialdemokratischen Partei, den Entschluß gefaßt, daß es für seine Mitgenossen sicherer sei, die diplomatische Vertretung zu verlassen und jeweils allein die polnische Grenze zu überqueren. In Verkleidung überschritt er selbst illegal die Protektoratsgrenze nach Polen. Dieser Fluchtweg diente dann auch anderen Nazigegnern. Wir wissen, daß in den folgenden Wochen mindestens 90 Sudetendeutsche und Tschechen diesen sogenannten Beskidenfluchtweg wählten: »Es ging stundenlang auf Umwegen zu einer abgerissenen Brücke über die Ostravica, an der man sich mit den Händen entlang der noch übriggebliebenen Balken auf polnisches Gebiet hinüberturnen mußte. Wenn man von der polnischen Grenzpolizei, die damals schon mehrere Flüchtlinge verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert hatte, nicht gefaßt wurde, folgten weitere stundenlange Umwege durch sumpfiges Gelände. Völlig verschmutzt und erschöpft kamen die Flüchtlinge schließlich in Polnisch-Tschechen an, bevor sie in eines der Auffanglager für Emigranten wei-

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terfahren konnten.« 3 5 Bis weit in das Jahr 1940 hinein wurde diese Trasse von Hunderten von Flüchtlingen benutzt. Bereits vor der Sudetenkrise hatte sich die Führung der Sopade entschlossen, die Tschechoslowakei zu verlassen. Während die Mehrheit nach Frankreich ging, fuhr der schwerkranke Otto Wels mit seiner Frau und zwei Söhnen am 28. Mai 1938 per Bahn über Warschau nach Gdingen. Vom dortigen Hafen gelang es ihnen, zunächst nach Kopenhagen und dann nach London zu gehen. Vier Jahre zuvor war schon ein anderer SPD-Führer, der ehemalige Reichskanzler Philipp Scheidemann, über Gdingen nach Kopenhagen geflohen. In Polen hatte er sich zeitweise in Wisla bei Czestaw Kosobudzki aufgehalten. Beide kannten sich gut aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als der Pole in der Rheinischen Sozialdemokratie tätig war. 36 Zwar hatten der Gdingener und der Danziger Hafen für die deutschsprachige Emigration keine erstrangige Bedeutung als Fluchtweg, immerhin dienten sie als wichtiger Transit nach Skandinavien, Belgien und Großbritannien auch noch für andere Flüchtlinge, von denen Franz Krahl, Arno Behrisch und Bruno Kreisky zu den bekannteren zählen. Gdingen spielte infolge seiner günstigen Lage auch eine gewisse Rolle bei der Verbreitung antinationalsozialistischer Propaganda und beim Presse- und Informationsaustausch zwischen den deutschen Hitlergegnern aus Ostpreußen, Danzig, Pommern und Polen. Überzogen war jedoch die Vermutung des deutschen Generalkonsuls in Danzig, Erich von Luckwald, der in einem Bericht vom 25. April 1937 an das Auswärtige Amt behauptete, daß eine von Ernst Hirschberg geleitete »Oppositionszentrale« entstanden sei. 37 Neben den erwähnten Flüchtlingen ist auch das Schicksal von anderen Emigranten wie Franz Xaver Aenderl, Josef Altrichter, Karl Anders-Naumann, Karl Becker, Wolfgang Bretholz, Jurij Brezan, Hans Deutsch, Alfred Joachim Fischer, Rudolf Friese, Theodor Hartwig, Franz Leinmüller, Uri Naor, Walter Peters, Roman Rosdolsky und Jacob Yechiel Weinberg, um nur einige zu nennen, mit Polen verbunden. Weil die Sowjetunion das Zufluchtsland der Emigranten kommunistischer Gesinnung war, war Polen für verhältnismäßig viele deutschsprachige Kommunisten wie zum Beispiel Lothar Bolz oder Rudolf Herrnstadt ein Durchgangsland. Aber nicht nur Mitglieder der K P D flohen durch Polen in die Sowjetunion. Die Kriegswirren führten dazu, daß auch Sozialdemokraten, allerdings selten, Unterschlupf im Osten zu finden suchten. Mit welchem Risiko das verbunden war, zeigt der Fall Johann Kowoll, der aller Wahrscheinlichkeit nach 1 9 3 9 in der Sowjetunion ums Leben gekommen ist. 38 Sogar die meisten gebildeten Polen mögen heute nicht glauben, daß im September 1939 in der polnischen Armee auch Deutsche kämpften und nicht selten — wie beispielsweise Albert Breyer, Vater des Marburger Historikers

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Richard Breyer - als Soldaten der polnischen Armee ums Leben gekommen sind. Ferner ist auf die Teilnahme der aus dem »Dritten Reich« geflohenen Sozialdemokraten bei der Verteidigung Warschaus hinzuweisen. Sie bildeten zusammen mit den Mitgliedern der sudetendeutschen DSAP eine 400 Personen starke Einheit. Hermann Adler ist einer der deutschsprachigen Emigranten, die die polnische Unabhängigkeit im September 1939 mit der Waffe in der Hand verteidigten. Wahrscheinlich ist auch, daß manche sozialdemokratischen und andere Flüchtlinge an den Kämpfen der polnischen Partisaneneinheiten teilgenommen haben. 39 Während des Zweiten Weltkriegs wurde London zum Sitz der polnischen Exilregierung, von der einige Mitglieder zusammen mit anderen Polen Kontakte zu den an der Themse lebenden deutschsprachigen Emigranten unterhielten. Im Stadtviertel Soho gab es sogar ein deutsches Lokal, in dem neben Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei auch Polen verkehrten. Diese freundschaftlichen Beziehungen kühlten jedoch mit dem Vormarsch der alliierten Truppen immer mehr ab. Der entscheidende Grund dafür war die Frage der deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze, die negativ auf die Zusammenarbeit zwischen der polnischen Exilregierung und den deutschen Emigranten wirkte. Fast alle deutschen Emigranten lehnten jedwede Gebietsverluste zugunsten Polens kategorisch ab und vertraten sogar die Ansicht, daß der »Korridor« wie der polnische Teil Oberschlesiens nach dem Krieg Deutschland zuerkannt werden müßten. 40 Jene Emigranten, die in den dreißiger Jahren für kürzere oder längere Zeit in Polen ansässig waren, kehrten nach 1945 nicht alle in ihre frühere Heimat zurück. Besonders verfolgte jüdische Flüchtlinge hatten meistens keine Absicht, dorthin zurückzukehren. Die Flüchtlinge aus Danzig und dem Sudetenland hatten nicht einmal die Möglichkeit dazu. In Polen selbst befanden sich, wie es scheint, nach dem Zweiten Weltkrieg nur vereinzelte Vorkriegsflüchtlinge. Lohnend ist es, einen kurzen Blick auf das weitere Schicksal einiger deutschsprachiger Emigranten zu werfen, die einige Zeit in Polen verbracht hatten. Hermann Rauschning, der oftmals in der Exilpresse angegriffen und sogar von Personen mit konservativen Anschauungen gemieden wurde, hat sich 1940 zum Rückzug aus dem politischen Leben entschlossen; 1941 emigrierte er in die USA, von wo aus er nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, publizistisch auf die Bundesrepublik zu wirken. Mit seinen Bü-

chern Deutschland zwischen West und Ost {1951) und Ist Friede noch möglich (1953) sowie in zahlreichen öffentlichen Auftritten sprach er sich für die Neutralität beider deutscher Staaten in der Hoffnung auf ihre Vereinigung aus, womit er zum Gegner der westlichen Bündnispolitik der Regierung Adenauer wurde. So fand er weder in den konservativen Kreisen noch bei der SPD Gehör, die zwar die Wiedervereinigung anmahnte, jedoch dabei nicht auf Rauschning mit seiner zweifelhaften Vergangenheit setzte. Resi-

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gniert kehrte er in die USA zurück, wo er isoliert und vereinsamt als Farmer in Oregon lebte. Ganz anders war dagegen das Schicksal Erich Brosts, der die Jahre von 1 9 3 6 bis 1939 in Warschau verbracht hatte. Schon im Juni 1945 konnte er, dank seines Danziger Passes, nach Deutschland reisen und als Verbindungsmann des Exils zum neuen sozialdemokratischen Parteivorstand einen Platz im politischen Leben Deutschlands einnehmen. Seit 1948 gab er im Ruhrgebiet die Westdeutsche Allgemeine Zeitung\\eta\is, in der er früh für die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze eintrat. Ein Jahr vor seinem Tod, 1994, stiftete der WAZ-Verleger den prestigeträchtigen Danziger »ErichBrost-Preis«, der der Versöhnung von Deutschen und Polen dienen soll. Im September 1997 ist in Danzig eine Gedenktafel zur Ehrung Erich Brosts enthüllt worden. Zwar wurden in den neunziger Jahren in Polen mehrfach Gedenktafeln zur Ehrung des deutschen Widerstands angebracht, aber die Tafel für Brost in der Kramarska-Straße in der Nähe des Danziger Rechtstädtischen Rathauses ist, soviel wir wissen, die einzige, die einem ehemaligen deutschsprachigen Emigranten gewidmet worden ist.

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Zur deutschsprachigen Emigration in Polen 1933 bis 1939

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w latach trzydziestych«. In: Przegl^d Zacbodni (1988), Nr. 4; Ders: »Johann Kowoll. Dzialacz niemieckiego ruchu robotniczego na ¿ljsku«. In: Z Pola Walki (1987), Nr. 4; M. Andrzejewski: Opposition und Widerstand in Danzig 1933 bis 1939. Bonn 1994; Ders.: »Poland vis-á-vis Gdarísk Social Democrats 1 9 1 8 - 1939«. In: Acta Poloniae Histórica. Bd. 38. 1978; Ders.: »Hermann R a u s c h n i n g - h o m m e politiqueet publiciste«. In: Acta Poloniae Histórica. Bd. 61. 1990; Ders.: »Emigracja polityczna obywateli Wolnego Miasta Gdañska do Szwecji«. In: Komunikaty Instytutu Baltyckiego. Bd. 30. 1979; M. Andrzejewski/H.Rinklake: »Man muß doch informiert sein, um leben zu können«. Erich Brost: Danziger Redakteur. Mann des Widerstandes, Verleger und Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Bonn 1997; S. H . Kaszytiski: »Csokors polnische Odyssee«. In: Johann Holzner/Sigurd Paul Scheichl/ Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Eine schwierige Heimkehr. Osterreichische Literatur im Exil 1938-1945. Innsbruck 1991, S. 2 5 3 - 2 6 1 . — 5 Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 3. München - New York - London - Paris 1983, S. 107. — 6 M. Wojciechowski: Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933-1938. Leiden 1971. — 7 AAN, MS W, Nr. 1968, S. 133, M S W an Abteilung AC, 28.7.1939, A AN, MSW, Nr. 1903, S. 3, MSZ an MSW, 20.9.1938. — 8 T. Jabtoríski: Mlodosc megopokolenia. Warszawa 1977, S. 3 5 1 - 3 5 9 . — 9 AAN, MSW, Nr. 1889, S. 1 1 4 - 1 1 5 , Komisariat Rz ? du na m.st. Warszaw ? an MSW, 29.3.1935. — 10 AAN, MSW, Nr. 1906, S. 156, Urz ? d Wojewódzki ál ? ski an MSW, 2 4 . 2 . 1 9 3 9 . — 11 Näher dazu: Archiwum Pafistwowe (weiter: AP) in Katowice, Dyrekcja Policji w Katowicach 1 9 2 2 - 1 9 3 9 , Nr. 180, 365. — 12 F. T. Csokor: Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933-1950. München - Wien 1964, S. 165. — 13 I. Birnbaum: Achtzig Jahre dabeigewesen. Erinnerungen eines Journalisten. München 1974. — 14 AP in Gdarísk, KGRP, Nr. 596, S.2, M S Z an das KGRP, 28.5.1933; Nr. 693, S. 2 1 3 - 2 1 4 , Vermerk, 13.5. 1933; Danziger Volksstimme vom 15.4.1933; M. Andrzejewski: Opposition und Widerstand (s. Anm. 4), S.45. — 15 S. Mikos: Wolne Miasto Gdansk a Liga Narodów ¡920-1939. Gdarísk 1979, S.305. — 16 Brief von Beatrice del Bondo-Reventlow vom 30. März 1995 an den Verfasser; R. Reventlow: »Kaleidoskop des Lebens — nachgelassene, bisher unveröffentlichte Erinnerungen« in der von Beatrice del Bondo-Reventlow für eine mögliche Veröffentlichung redigierten Fassung; zu Brost vgl. M. Andrzejewski/ H. Rinklake: »Man muß doch informiert sein, um leben zu können« (s. Anm. 4); E. Brost: »Seit 1936: Das neue Verhältnis deutscher Sozialdemokraten zu Polen. Ein Augenzeugenbericht«. In: Werner Plum (Hg.): Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen. Bonn 1984, S. 33. — 17 W. Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer. Würzburg 1973, S. 457. Im Nachlaß Karl Töpfer befindet sich eine Liste von Danziger SPD-Emigranten, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, NL Karl Töpfer. — 18 P. Blachetta-Madajczyk: Klassenkampf der Nation?{s. Anm. 4), S. 2 5 3 - 2 5 4 . In Lodz hielt sich u. a. Hermann Meyer auf (IfZ ED 210, Bsd. 1.); AAN, MSZ, Nr. 51 5, S. 41, KGRP an MSZ, 1 1.9.1937; AP in Katowice, Dyrekcja Policji w Katowicach 1 9 2 2 - 1 9 3 9 , Nr. 180, 365. — 19 AAN, MSW, Nr. 1904, S.255, Urz ? d Wojewódzki Sl ? ski an MSW, 27.7.1939; T. Jabtoríski: Mlodosc mego pokolenia {s. Anm. 8), S. 3 5 0 - 3 5 9 . Brief von Tadeusz Jabtoríski an den Verfasser vom 1 5.10.1994. — 2 0 F. T. Csokor: Zeuge einer Zeit (s. Anm. 12), S. 2 0 4 - 2 0 5 , 208; S. Kaszyríski: »Csokors polnische Odyssee« (s. Anm. 4), S. 2 5 3 - 2 6 1 . — 21 T. Jabtoríski: Mlodosc mego pokolenia (s. Anm. 8), S.353; M. Andrzejewski: Opposition und Widerstand (s. Anm. 4), S. 1 9 2 - 195. — 22 W. Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung^. Anm. 17), S. 526. — 2 3 W. Kotowski: »Opozycja antyhitlerowska ws'ród katolików niemieckich w Polsce w latach 1 9 3 3 - 1 9 3 9 « . In: Karol Jonca (Hg.): Studia nad antyhitlerowska opozycja w Trzeciej Rzeszy 1933-1945Warszawa 1990, S. 1 5 9 - 1 6 8 . — 2 4 M. Cygaríski: »Deutsche Sozialdemokraten« (s. Anm. 4), S.97. — 25 AP in Gdansk, KGRP, Nr. 924, S.267, KGRP an das MSZ, 15.5.1936; H. Soell: Der junge Wehner. Zwischen revolutionärem Mythos und praktischer Vernunft. Stuttgart 1991, S.346. — 2 6 AP in Krakow, Starostwo Grodzkie Krakowskie, Nr. 241, Urz^d Wojewódzki Krakowski Wydziat Spoteczno-Polityczny, 26.10.1938; AAN, MSW, Nr. 1961, S. I. Reich an MSW, 31.1.1939. — 27 S. Stomper: Künstler im Exil. Künstler im Exil in Oper, Konzert, Operette, Tanztheater, Schauspiel, Kabarett, Rundfunk, Film, Musik-und Theaterwissenschaft sowie Ausbildung in

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62 Ländern. Frankfurt/M. 1994. Bd.l, S. 3 6 0 - 3 6 1 . Bd. 2, S. 514. — 28 F. T. Csokor: Zeuge einer Zeit (s. Anm. 12), S. 173; W. Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung^. Anm. 17), S. 5 2 7 - 5 2 8 ; P. Nordblom: »Dr Eduard Pant i tygodnik >Der Deutsche in Polen< (1934 - 1 9 3 9 ) « . In; Antyhiterowska opozycja 1933-1939. WolneMiasto Gdansk, Prusy Wschodnie, ilask, Lodz. Pod redakcj? prof. Marka Andrzejewskiego. Warszawa 1995, S. 1 1 9 - 128: vgl. a. Horst Halfmann: Zeitschriften und Zeitungen des Exils 1933—1945• Leipzig 1975, S. 17. — 29 Mdl. Mitteilung von Dr. Jürgen Hensel, Warschau. — 3 0 IfZ, E D 201/3; Archiv der sozialen Demokratie, Emigration-Sopade Nr. 176. — 31 IfZ, E D 201/3; AAN, MSW, Nr. 1965, S. 12, H. Golz-Goldlust an MSW, 18.4.1939. — 3 2 IfZ, E D 201/3. — 3 3 AAN, MSW, Nr. 1962, Ogölny Komitet Pomocy Uchodzcom ¿ydowskim z Niemiec w Polsce an MSW, 10.5.1939; Gdynia-Ameryka Linie Zeglugowe an MSW, 13.2.1939; Nr. 1964, Urz ? d Wojewödzki Krakowski an MSW, 14.4.1939; 1964, S. 112, M S Z an MSW, 2 2 . 3 . 1 9 3 9 . — 3 4 AP in Krakow, Starostwo Grodzkie Krakowskie, Nr. 381. — 35 L. Grünwald: In der Fremde für die Heimat. Sudetendeutsches Exil in Ost und West III. München 1982, S. 12, 42. — 3 6 Bundesarchiv Potsdam, Reichsministerium des Innern, Nr. 25720/2, S.41, Deutsche Gesandtschaft in Kopenhagen an AA, 21.8.1934; C. Gellinek: Philipp Scheidemann. Eine biographische Skizze. Köln — Weimar — Wien 1994, S. 71; T. Jabtonski: Mlodosc mego pokolenia (s. Anm. 8), S. 3 5 4 - 3 5 5 . — 37 M. Andrzejewski: Opposition und Widerstand (s. Anm. 4), S. 194. — 3 8 Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933-1940. Projektleitung Herbert Obenhaus/Hans-Dieter Schmid. Bonn 1995, S. XXXVI; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 1. München — New York — London - Paris 1980. — 3 9 K. Reiff: Polen. Als deutscher Diplomat an der Weichsel. Bonn 1990, S. 8 3 - 8 4 ; IfZ, ZS 1971. — 4 0 Instytut Generata Sikorskiego in London, Ambasada RP in London, A.12.2/10, Vermerk, 3 1 . 1 2 . 1 9 4 4 ; siehe auch: Archiv der sozialen Demokratie Friedrich-Ebert-Stiftung, Emigration Sopade, Nr. 82, E. Ollenhauer an Gleisberg, 2 4 . 5 . ! 943.

Peter M e l e g h y

Die ungarische Emigration nach 1 9 5 6 Ein subjektiver Bericht

I Schon nach d e m Zweiten Weltkrieg emigrierten viele Ungarn: 1945 waren es zumeist Bürgerliche, Offiziere, Beamte und die Faschisten, die vor der Roten Armee flohen; nach 1947 hauptsächlich Konservative, politisch aktive Menschen, die sich mit d e m a u f k o m m e n d e n K o m m u n i s m u s nicht identifizieren konnten und wollten. Nach 1956 flohen nicht nur die Teilnehmer der Revolution, für die es lebensrettend war, das Land zu verlassen. Unter den Flüchtlingen waren auch Menschen, die schon in der Räkosi-Ara hatten gehen wollen, weil sie ihre Z u k u n f t in Ungarn für aussichtslos hielten, die aber die scharf bewachten und verminten Grenzen nicht überwinden konnten. Auch aus wirtschaftlichen Gründen verließen viele ihre Heimat. Heute würde m a n sie in Deutschland »Wirtschaftsasylanten« nennen, gerade so, als seien wirtschaftliche Gründe, das Vaterland zu verlassen, unanständig. Die Flüchtlinge von 1956/57 stellten einen Querschnitt der ungarischen Gesellschaft dar, vom kleinen Gauner bis z u m Priester. Die Mehrzahl war unpolitisch, wollte irgendwo in der Fremde bleiben, sich integrieren, was z u m größten Teil auch gelang. Viele waren sogar entschlossen, die ungarische Identität aufzugeben, was ebenfalls vielfach geschah. Junge Menschen hofften, in einem der westlichen Länder studieren zu können, was ihnen in Ungarn aus politischen Gründen — wenn die Eltern Adlige, Intellektuelle, ehemalige Unternehmer, Großbauern etc. waren - verwehrt wurde. Die politisch Engagierten hofften im Ausland ihren Kampf fortsetzen zu können. Kurz, die meisten wollten einfach anders, freier und besser leben. Weil die Flüchtlinge von 1956/57 den Durchschnitt der Bevölkerung spiegelten, hoffte jede Gruppe unter den Altemigranten auf Verstärkung ihrer Klientel, sogar die Faschisten. Die Neuen wurden überall gern gesehen. Nur die überzeugten R e f o r m k o m m u n i s t e n und Mitstreiter von Imre N a g y hatten es im Westen schwer, in den U S A M c C a r t h y s ebenso wie im Westdeutschland Konrad Adenauers. M i t der Zeit sagten sich daher die meisten Verfechter eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« in ihren Zufluchtsstätten von allen linken Ideen los. Zu den wenigen Ausnahmen zählten nur die Philosophen M i k l ö s Krass u n d Istvän Meszaros, und auch der Sekretär des Petöfi-Kreises Balazs N a g y ist Marxist geblieben.

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Bis 1956 war die Rolle der Altemigranten relativ einfach gewesen. Sie brauchten nur zu allem, was die ungarische Regierung in der früheren Heimat tat und veröffentlichte, in Opposition zu gehen, u m Gehör im antikommunistischen Meinungsklima der westlichen Länder zu finden. Das änderte sich 1956. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar sprach Chruschtschow über die Verbrechen Stalins, der im März 1953 gestorben war. Räkosi, Parteichef der ungarischen Kommunisten, berichtete daheim zwar über den Parteitag, verschwieg jedoch die Geheimrede Chruschtschows. Durch ausländische Radiosender und durch Flugblätter wurde ihr Inhalt jedoch auch in Ungarn bekannt. Der Druck auf Räkosi wuchs daher von unten, aus der eigenen Bevölkerung, und auch von seinen Genossen in Moskau. So veranstaltete ein neu gegründeter Jugendverband, der »DISZPetöfi-Kreis«, eine erste öffentliche Diskussion über die Rolle des staatlichen Studentenverbandes M E F E S Z im kommunistischen Repressionsapparat. Und auch in Moskau gärte es. In der Tauwetterperiode nach dem Parteitag zwangen die neuen Herren im Kreml — Chruschtschow und Bulganin - den Stalinisten Mätyäs Räkosi, vom Posten des Ministerpräsidenten zurückzutreten, beließen ihn aber im Amt des Parteichefs. Bekanntlich war Räkosi für die Schauprozesse Ende der vierziger Jahre, für die rücksichtslose Industrialisierung Ungarns, für die Zwangskollektivierung der Bauern und die folgende katastrophale Versorgungslage verantwortlich. Im März 1956 mußte er zugeben, daß der Prozeß gegen den früheren Außenminister Läszlö Rajk 1949, der wie ähnliche Verfahren in den anderen Ländern Ostmitteleuropas die Stalinisierung der dortigen »Volksdemokratien« einleitete, eine Farce gewesen war. 1 Und im Mai mußte er bekennen, daß er persönlich für die Gesetzesübertretungen der vergangenen Jahre verantwortlich war. Das Urteil über Räkosis Regierungstätigkeit im Moskauer Zentralkomitee schon Anfang Juni 1956 m u ß sowohl dem Inhalt als auch dem Ton nach so vernichtend gewesen sein, daß er und sogar seine Nachfolger sich geweigert haben, es zu veröffentlichen - bis heute. Stattdessen verkündete der neu ernannte Ministerpräsident Imre Nagy in seiner Antrittsrede am 4. Juni 1956 für die Öffentlichkeit sensationelle Neuigkeiten: Er werde die Versorgung verbessern, die forcierte Industrialisierung bremsen, den Austritt aus den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften erlauben und die nicht lebensfähigen Genossenschaften schließen. Obwohl Parteichef Räkosi eine Woche später einiges davon wieder relativiert hat, keimte die H o f f n u n g auf einen neuen »Sozialismus mit menschlicherem Antlitz«, sowohl in Ungarn wie auch im Ausland. In der Emigration kristallisierten sich dazu drei Meinungen heraus: 1. Es ist alles nur Täuschung. 2. Es ist möglich, daß alles nur Täuschung ist, kann aber zu tatsächlichen Änderungen führen. 3. Es bedeutet auf jeden Fall eine neue Ära und echte Veränderungen.

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Noch Anfang September dachte niemand an eine bewaffnete Erhebung. Sie begann bekanntlich am 23. Oktober 1956. 2 Dabei wurde bereits am Abend des ersten Tages von beiden Seiten scharf geschossen, da sich viele Militärs auf die Seite der Aufständischen gestellt hatten. Ebenso bekannt ist, d a ß A n f a n g November sowjetische Truppen die Erhebung mit starker Militärgewalt erstickten und d a ß die westlichen Regierungen, die am M o r gen des 4. November 1956 von Imre Nagy in einem verzweifelten Appell über das Radio u m Hilfe gerufen wurden, nicht reagierten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes verließen etwa 2 0 0 . 0 0 0 Ungarn das Land, weniger als nach 1945, aber i m m e r h i n knapp 2 Prozent der ungarischen Bevölkerung. 3 Nach verläßlichen Schätzungen kamen 1956/57 etwa 1 8 1 . 0 0 0 Menschen nach Osterreich. Die meisten von ihnen - 113.800 überquerten die Grenze im November, 5 0 . 0 0 0 im Dezember. Österreich bat die westlichen Staaten um Hilfe, auch die Vereinten Nationen forderten ihre Mitglieder auf, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Bereitwilligkeit dazu hielt sich allerdings in Grenzen. In Österreich unternahmen sowohl die Bevölkerung wie auch die Regierung die größten Anstrengungen, um die Menschen unterzubringen, mit dem Nötigsten zu versorgen und schließlich ihre Weiterfahrt zu organisieren, obwohl oder gerade weil die Rote Armee erst ein Jahr zuvor das eigene Land geräunn und in größter A r m u t zurückgelassen hatte. Nur zögernd einigten sich die westlichen Staaten auf die Ü b e r n a h m e bestimmter Flüchtlingskontingente, die Österreich mehr und mehr entlasteten. Bis 1959 verließen 192.000 Ungarn das Nachbarland Richtung Westen. 12.700 gingen (zwischen 1 9 5 6 und 1958) nach Frankreich, 1 5 . 5 0 0 nach Westdeutschland, 2 1 . 0 0 0 nach England, 1 2 . 0 0 0 in die Schweiz. Die USA nahmen 4 0 . 0 0 0 Flüchtlinge auf, Kanada 2 6 . 5 0 0 , Australien 11.000 und Südafrika 1.300. Natürlich war es überall in der Fremde u n a n g e n e h m , besonders hart war jedoch die Lage beispielsweise der 6 0 0 Ungarn, die in die bitterarme Dominikanische Republik kamen - wo sie so lange protestierten, bis sie nach Österreich zurückgebracht w u r d e n . Von den Flüchtlingen, die Österreich zwischen 1 9 5 6 und 1959 verließen, kehrten allerdings auch 8 . 3 0 0 wieder nach Ungarn zurück. Zuweilen widersprechen sich die Statistiken, weil die N e u a n k ö m m l i n g e außerordentlich mobil von Land zu Land, von Stadt zu Stadt gezogen sind, u m einen neuen Platz zum Leben zu finden. Eine neue H e i m a t bedeutete das noch nicht, denn dieses Wort war und ist in Ungarn eindeutig und eindeutig positiv besetzt. So sind viele auch nicht in d e m Land geblieben, wohin sie zunächst aus Österreich übersiedelt waren. Viele haben z u m Beispiel England verlassen, u m schließlich in den U S A zu leben. Allerdings war es nicht einfach, dort A u f n a h m e zu finden. In den Jahren 1956 und 1957 fiel den politischen Beobachtern auf, wie sehr sich die Vereinigten Staaten in ihrer Öffentlichkeitsarbeit b e m ü h t e n , die europäischen Länder zur A u f n a h m e

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möglichst vieler Ungarnflüchtlinge zu bewegen. Als später Statistiken veröffentlicht wurden, stellte sich heraus, daß die USA im Verhältnis zu ihrer Größe und ihrem Reichtum relativ wenige Flüchtlinge aufgenommen haben, besonders wenn man die Anstrengungen Österreichs oder der Schweiz damit vergleicht. Die Regierung Eisenhower versteckte sich hinter ihren Einwanderungsquoten, was in Europa zu kritischen, wenn auch nur leisen Kommentaren führte. Doch im allgemeinen besteht kein Zweifel daran, daß es die Flüchtlinge von 1956/57 leichter hatten als diejenigen, die Ungarn unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen hatten oder erst in den siebziger und achtziger Jahren ins Ausland gingen. Das hing mit dem schlechten Gewissen der Regierungen und der Bevölkerung in den Aufnahmeländern zusammen, die auf den Hilferuf der Revolutionäre in Budapest nicht reagiert hatten. Die 56er Flüchtlinge wurden vielfach - zumal in der Bundesrepublik Deutschland - als Freiheitskämpfer aufgenommen und dementsprechend gut behandelt. Sogar die Schweiz, in ihrer Zurückhaltung Fremden gegenüber bekannt, empfing die Ungarn mit Sympathie und Mitgefühl. In den meisten Aufnahmeländern galten die Flüchtlinge zur Zeit des Kalten Krieges als sichtbarer Beweis für die menschenfeindliche Unterdrückung im kommunistischen Herrschaftsbereich. Das spiegelte sich nicht nur in den offiziellen Verlautbarungen wider, sondern auch im Verhalten der Bevölkerung und sogar der Beamten, die Ausweise ausstellten, Stipendien oder andere Beihilfen bewilligten. Zahlreiche Hilfsorganisationen unterstützten die Flüchtlinge, zumal in der BRD, in Osterreich und den USA: das Internationale Rote Kreuz, die katholische Caritas und andere kirchliche Organisationen; in Wien arbeiteten der Free Europe Citizen Service, die Ungarische Flüchtlingshilfe (Magyar Menekült Szolgälat), das Österreichische Nationalkomitee für Ungarn, die Forumhilfe und die Volkshilfe. Die First Aid for Hungary, in den USA durch die großzügige Spende der amerikanischen Familie Vanderbilt entstanden, hatte auch in Österreich eine Niederlassung, die ebenfalls effektive Hilfe leistete. Alle diese Gruppen und Organisationen brachten die Menschen in Lagern, Schulen, Krankenhäusern unter. Sie versorgten sie mit Lebensmitteln, Kleidung, Geld und Informationen über Bildungsmöglichkeiten wie Schulen, Internate, Universitäten, Stipendien, über Arbeits- und Wohnmöglichkeiten. Hierbei m u ß auch die ökonomische Lage Ende der fünfziger Jahre in Europa berücksichtigt werden. Sowohl zum Wiederaufbau als auch zur Steigerung der Produktivität benötigten die europäischen Länder - Westdeutschland ganz besonders — Arbeitskräfte jeder Profession. Die brauchte — als gegenteiliges Beispiel - Frankreich zwar auch, aber mit der organisierten Hilfe war es dort nicht weit her. Wie mehrere Flüchtlinge, die mit 15, 16

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oder 17 Jahren nach Frankreich kamen, aus eigener Erfahrung berichteten, wurden sie vorzugsweise für die Fremdenlegion rekrutiert oder in Bergwerken beschäftigt. Zuvor waren sie ohne jede Hilfe in den Großstädten umhergeirrt, hatten auf der Straße oder in Absteigen übernachtet. Einige waren von Prostituierten aufgesammelt worden, und weil die Frauen selbst nicht gerade wohlhabend waren, wechselten sie sich bei der Betreuung der Flüchtlinge ab. Als sich Ende der sechziger Jahre die politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn zu bessern begann, wurde die Kontaktpflege zu den Emigranten offizielle Politik der Kädärregierung. Schon 1957 war eine ungarische Delegation nach Wien gekommen, um — wenig erfolgreich — für Vertrauen bei den Emigranten und für ihre Rückkehr zu werben. Ebensowenig konnte eine andere Delegation in Berlin bei den Emigranten in der Bundesrepublik ausrichten. Deren Leiter, Käroly Földes-Papp, kam im Dezember 1957 nach Budapest zurück und emigrierte bald darauf selbst nach Westdeutschland. Insgesamt gingen einschließlich der genannten 8.300 Flüchtlinge bis 1959 etwa 30.000 Ungarn wieder in die Heimat zurück, etwa 170.000 blieben in Westeuropa, den USA, Kanada und Südamerika. Einige der ersten Emigranten, die in den sechziger Jahren aus der BRD besuchsweise nach Ungarn fuhren, bekamen sowohl vom ungarischen wie auch vom bundesdeutschen Geheimdienst Angebote zur Mitarbeit, die jedoch kaum jemand annahm. Zu den bestehenden sozialen Einrichtungen und Klubs mit einem lebhaften Gruppenleben der Ungarn-Emigranten kamen nach 1956 weitere Organisationen, insbesondere für Jugendliche, hinzu. Besonders aktiv waren die Jugendorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Zum »Kongreß der Ungarischen Jugend in Deutschland« im Februar 1959 in Honnef bei Bonn beispielsweise kamen knapp 100 Delegationen, die etwa 10.000 organisierte Jugendliche repräsentierten. Sie sprachen sich gegen jedwede Diktatur, sei es Faschismus oder Kommunismus, aus, ebenso aber auch gegen die Vereinnahmung des Volksaufstandes durch Parteien oder andere politische Gruppen zu propagandistischen Zwecken. W i e prominent ungarische Klubs werden konnten, zeigen folgende Beispiele: die »Deutsch-Ungarische Gesellschaft« in München hatte den Prinzen Ludwig von Bayern zum Präsidenten, der »Ungarische Klub« in Hamburg fand seinen Sitz an einer der schönsten Stellen der Stadt, mit Blick auf die Außenalster. Der deutsche Industrielle Heinrich Baron Thyssen-Bornemisza (ungarischer Adel durch Adoption) unterstützte bis in die neunziger Jahre den ungarischen Studentenverein (mit Studentenheim), der bis heute Zulauf aus Ungarn hat. Die Klubs und Vereine veranstalten bis in die Gegenwart hinein literarische und musikalische Abende, teils auf Ungarisch, teils auf Deutsch. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens jenseits des Atlantiks zählen die ungarischen Bälle in New York und Los Angeles, und

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auch in Innsbruck ist bei solchen Anlässen die Lokalprominenz und das diplomatische Corps anwesend. Die Z u k u n f t der ungarischen Vereine scheint gesichert, wenn auch heute in einem anderen Gewände und mit anderen Inhalten. Es gibt naturgemäß immer weniger Emigranten, dafür i m m e r mehr Ungarn, die zeitweilig im Ausland leben. Durch die Ö f f n u n g der Grenzen seit 1989 k o m m e n i m m e r mehr Jugendliche ins Ausland, um zu studieren und zu arbeiten. Oft wohnen sie bei Verwandten, Freunden, die irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg emigriert waren - und Mitglied oder häufiger Gast in einem der ungarischen Klubs sind. Umgekehrt gingen nach der politischen W e n d e 1989 viele Emigranten — zumal im Rentenalter - nach Ungarn zurück, denn von deutschen oder U S Renten läßt es sich in Ungarn gut leben. Die Schwierigkeiten der Rücksiedler sind größtenteils psychologischer Natur - schließlich hatte das von ihnen bislang erlebte Fremdsein auch gewisse Vorteile. M a n konnte seine Aggressionen und Vorurteile besser a u f d i e »fremde« Umwelt projizieren; dort konnte man sich entziehen und für seine Enttäuschungen andere verantwortlich machen. Egal was j e m a n d e m im Ausland nicht paßte, man konnte alles von sich fernhalten mit d e m Argument: »Das sind eben die Deutschen, Franzosen, Amerikaner« usw., »Das hat mit mir nichts zu tun.« Andererseits gewöhnte man sich mit der Zeit auch an die schlechten kollektiven oder nationalen Züge der Gastgeber. Ihre guten Eigenschaften hatte man dagegen in W i n deseile verinnerlicht, so daß man bald glaubte, sie gehörten zur eigenen Identität: in Italien etwa das Bedürfnis nach perfekter äußerer Erscheinung, »fare una bella figura«, in Deutschland Ordnungsdenken und Zuverlässigkeit. Das kleine Unglück der Rückkehrer mit ihren neu erworbenen Haltungen ist, d a ß sie von alten heimischen Fehlern — Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, bürokratisches Denken usw. - entwöhnt sind. Ihre echte Tragik jedoch besteht darin, daß sie solche Unzulänglichkeiten doppelt treffen, denn in der Heimat kann man nicht mehr sagen: »Das sind die anderen, das geht mich nichts an.« M a n fühlt, daß es die Brüder und Schwestern sind, deren andere Verhaltensweisen einen u m so tiefer und schmerzlicher treffen. Natürlich trösten die heimatliche W ä r m e der Freunde und Freundinnen, die Feinheiten und der W i t z der Sprache, die Verständigung jenseits der Sprache. Das Wiedereingewöhnen ist jedoch nicht ganz einfach, vielen gelingt es nicht. W i e schon die vorangegangenen ungarischen Emigranten in diesem Jahrhundert das Leben in Westeuropa und den Vereinigten Staaten im Großen und im Kleinen beeinflußt hatten (übrigens taten das auch Bulgaren und R u m ä n e n , wenn auch nicht im gleichen Ausmaß), so gewannen auch Flüchtlinge nach 1956 eine gewisse Prominenz. Die bundesdeutsche Regenbogenpresse ist k a u m vorstellbar ohne den Medienagenten Josef von Ferenczy in M ü n c h e n . Das italienische Parlament wäre sicher ärmer gewesen ohne die exhibitionistische Abgeordnete Cicciolina (Ilona Staller), und die Bekannt-

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heit der mittelosteuropäischen Kultur geradezu armselig ohne die massive finanzielle Förderung des hungaro-kanadischen Börsenjongleurs George Soros. Gerade, so meldete die Presse, hat ein »Ungarn-Flüchtling«, der in den U S A ein Vermögen mit der Vermietung von Verkehrsflugzeugen erworben hatte, d e m Luftfahrtmuseum der Smithsonian Institution in Washington 6 0 M i l l i o n e n Dollar gespendet, das ist die größte Schenkung in ihrer mehr als 150jährigen Geschichte. 4 Diese Protagonisten reihen sich ein in die Aktivitäten früherer Emigranten: Wer kennt nicht die Filmschnulzen der Nachkriegszeit von Gyula Trebitsch u n d seinem Studio H a m b u r g , den H u m o r eines Ephraim Kishon (Ferenc H o f f m a n n ) , die Theaterarbeit von George Täbori, die Kunst des Op-Artisten Victor Vasarely, die von Sir Georg Solti interpretierte klassische M u s i k oder aus früheren Jahren die Filme von Michael C u r t i z ( M i h ä l y Kertsz), insbesondere »Casablanca«. Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Fred Astaire, d e m Atomphysiker Edward Teller, d e m M a t h e m a t i k e r John von N e u m a n n , dem Soziologen Karl M a n n h e i m oder d e m Börsenkommentator André Kostoläny. Der Einfluß der Emigranten im Alltag ist womöglich noch wichtiger. Vielleicht sind die Ungarn in Deutschland etwas anders als die Einheimischen, ein wenig feinfühliger, geschickter, witziger und chaotischer. Andererseits werden jene mit Stereotypen belegt und Erwartungen an sie geknüpft, denen sie nur eingeschränkt gerecht werden können. Ich denke dabei etwa an meinen Halbbruder, der als Zulieferer der Kraftfahrzeugindustrie die Direktoren und Einkaufschefs der großen bundesrepublikanischen Autohersteller regelmäßig bewirtet hat. Dabei m u ß t e er früher aus verkaufsstrategischen Gründen den »wilden Ungarn« spielen und die geneigten Ehefrauen der wichtigen Herren mit feurigem Pusztacharme umgarnen, eine Attitüde, die ihm zutiefst zuwider war und auch nicht zu seinem Stil gehört.

II Kurzer Bericht über die eigene Emigration Ich bin 1 9 3 9 in Budapest geboren worden, mein Vater war ein einigermaßen erfolgreicher u n d wohlhabender Bauunternehmer. Weil er weitsichtig genug war zu erkennen, daß es Ungarn schlecht ergehen werde, egal wer den Krieg gewinnt, u n d weil er in Budapest einige Juden versteckt hatte, weshalb er dort schon einmal verhört wurde, waren wir - meine Mutter, mein Vater, mein jüngerer Bruder und ich - im M ä r z 1945 unterwegs in die Schweiz. W i r hatten Visa für die ganze Familie und reisten per Lastwagen, mit uns alles, was wir besaßen. Da wir Kinder in W i e n krank wurden, mußten wir dort bleiben. A m Tag d a r a u f i s t unser Vater von ebenfalls flüchtenden ungarischen Pfeilkreuzlern, wie die ungarischen Faschisten hießen, auf der Straße erkannt, bei den österreichischen N S - B e h ö r d e n angezeigt u n d verhaftet

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worden. Er starb während der Verhöre. Alles, was wir besaßen, wurde uns a b g e n o m m e n . Unsere M u t t e r kehrte daraufhin mit uns noch im Frühjahr 1945 nach Budapest zurück. Unser wesentlich älterer Halbbruder aus des Vaters erster Ehe, der seit Ende des Krieges mit seiner deutschen Frau in Bergisch-Gladbach bei Köln lebt, plante, als der Aufstand 1 9 5 6 in Budapest ausbrach, nach Ungarn zurückzukehren. N a c h d e m die Revolution jedoch so schnell niedergeschlagen worden war, lud er uns nach Deutschland ein. W i r haben uns trotzdem erst recht spät zur Flucht entschlossen. So spät, d a ß bereits die Züge in Richtung Westen kontrolliert wurden. Also besorgte unsere Mutter einen Auftrag ihrer staatlichen Firma, der die Versorgung u n d Kontrolle der Bahnhofsrestaurants oblag, das Restaurant am Bahnhof im westungarischen Szombathely zu überprüfen. A m 4. Dezember 1956 fuhr sie mit m e i n e m Bruder und mir dorthin, am nächsten Tag gingen wir zu Fuß über die ungarisch-österreichische Grenze, wobei uns kundige Einheimische halfen. Die erste Nacht verbrachten wir mit etwa hundert anderen ungarischen Flüchtlingen in der Turnhalle einer Schule im burgenländischen Rechnitz. W i r Kinder fanden das alles sehr aufregend. A m 6 . 1 2 . kam unser Halbbruder, der schon in W i e n war, und holte uns ab. Nach der Registrierung im Aufnahmelager in Piding fuhren wir weiter nach Bergisch-Gladbach. Dort kam der Schock. Bergisch-Gladbach war, schnell und billig nach d e m Krieg wiederaufgebaut, ungleich häßlicher und unwirtlicher als das zerschossene Budapest. W i r Jugendliche — mit 17 und 15 Jahren — fanden es einerseits spannend, im verheißungsvollen, reichen Westen zu sein, andererseits merkten wir schnell, d a ß wir uns in einem sehr fremden Land befanden. M o h n — wichtige Zutat vieler ungarischer Kinderspeisen - bekam man hier in der Tierhandlung, es gab kein ordentliches S c h w i m m b a d , ein T h e r m a l b a d — in Budapest gibt es allein neun — schon gar nicht. Doch das schmerzhafteste, neben dem Verlust von Freunden, Verwandten, des Sportvereins, des ganzen sozialen Umfeldes, war der kühle U m g a n g der Menschen miteinander u n d so auch mit uns. Es war kein Trost, sondern nur kurios, d a ß die Lokalpresse in unsere kleine W o h n u n g kam. W i r wurden interviewt und fotografiert, u n d am nächsten Tag stand in der Zeitung »Auch Bergisch-Gladbach hat seine ungarischen Flüchtlinge«. Das Wort hatte eine gänzlich andere Bedeutung als heute; es war positiv konnotiert. Z u m Glück k a m e n mein Bruder u n d ich M i t t e J a n u a r 1957 in ein Internat nach Kastl bei A m b e r g in der Oberpfalz. Auch unsere M u t t e r verließ Bergisch-Gladbach und heiratete einen ungarischen Jugendfreund, der in W i e n lebte. Das Ungarische G y m n a s i u m u n d Internat in Kastl wurde aus mehreren Quellen finanziert, darunter vom bayerischen I n n e n m i n i s t e r i u m . Die meisten von uns waren Flüchtlingskinder, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, Deutsch zu lernen. Einige wenige waren Sprößlinge von Ungarn, die schon nach d e m Krieg nach Deutschland emi-

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griert waren und die hier wiederum Ungarisch lernen sollten. Unterrichtssprachen waren Ungarisch u n d Deutsch, die Abiturprüfung konnten wir später mit spezieller Genehmigung des bayerischen Kultusministers auf Ungarisch ablegen, Deutsch wurde als erste Fremdsprache geprüft. Im Dorf wurden wir nicht diskriminiert. Im Gegenteil, zur Firmung bekam jeder von uns sogar zwei Paten, einen aus dem Dorf Kastl und einen aus der Stadt Amberg. Zu beiden Familien wurden wir zum Festessen eingeladen, von beiden bekamen wir Geschenke. W i r Jungen waren bei den Dorfmädchen beliebt. Auch die herrliche Hügellandschaft und das romantische Schloß, in dem wir wohnten und lernten, taten unseren verletzten G e m ü tern gut. Fast jeden Monat kamen Lastwagen mit gebrauchter Kleidung ins Internat, das Wühlen, Suchen und Finden war recht spaßig. Das Phänomen der kollektiven Träume ist bekannt. Die 1956er Ungarnflüchtlinge hatten ebenfalls ihren spezifischen Traum. Auch ich hatte ihn mehrmals gehabt: Ich bin wieder in Budapest, in den Straßen meiner Kindheit, aber auch in unbekannten Gegenden mit Hügeln, breiten Treppenaufgängen, grandiosen Regierungsgebäuden. Ich habe ein gespaltenes Gefühl von Zu-Hause-Sein und Beklemmung, das mehr ist als Heimweh. Plötzlich wird einem im Traum deutlich, daß man hier bleiben muß, nicht mehr weg kann. M a n ist gefangen. Alle Flüchtlinge, mit denen ich über dieses T h e m a gesprochen habe, hatten jenen oder einen ähnlichen Traum. Vor dem Abitur kamen immer wieder Vertreter des Innenministeriums, die uns die deutsche Staatsangehörigkeit anboten, was wir auf Geheiß unseres Halbbruders ablehnten: »Wir sind als Ungarn auf die Welt gekommen wir werden als Ungarn sterben! Merkt euch das!« N u r wenige Jahre später hat er dann aber selbst die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, während ich später, seit Mitte der siebziger Jahre, als ich besuchsweise wieder nach Ungarn fuhr, in einer seltsamen Lage war: Ich hatte einen Flüchtlingspaß nach der Genfer Konvention, die von Ungarn damals noch nicht unterzeichnet war. Mit diesem Reiseausweis, der nebenbei auch dokumentierte, daß ich aus Ungarn geflüchtet war, konnte ich in Westeuropa ohne Visum reisen, aber schon nicht mehr ins neutrale Osterreich. D a f ü r brauchte ich jedesmal ein Visum, das ich zwar anstandslos bekam, doch es war m ü h sam, jedesmal zum Konsulat gehen zu müssen, wenn ich meine Mutter in Wien sehen wollte. Sogar die Visa nach Ungarn bekam ich ohne Schwierigkeiten. Allerdings war die Sache jedesmal eine bürokratische Verrenkung: weil Ungarn weder die Genfer Konvention noch die Pässe anerkannte, konnten die Beamten in ein derartiges D o k u m e n t nichts hineinstempeln. Also haben sie ein elegant gefaltetes Papier hineingelegt mit einem Visum — gültig für den u n d den Menschen mit dem Reisedokument N u m m e r soundso. Besucher unserer Schule boten Stipendien für die meisten Universitäten Europas u n d Amerikas an. So ging auch ich nach dem Abitur mit einem mei-

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ner Klassenkameraden nach Löwen (Belgien) auf die französische Universität, u m Medizin zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte ich an die Universität in W i e n und nach einem weiteren Studienjahr nach M a i n z . Da ich noch in Budapest Klavier spielen gelernt hatte u n d mir das Medizinstud i u m eigentlich nicht lag, was ich mir aber lange nicht eingestehen mochte, gründete ich nach der Naturwissenschaftlichen Vorprüfung eine V i e r - M a n n Jazzkapelle und tingelte durch Deutschland. So k a m ich nach H a m b u r g , wo ich zuerst als Musiker, Sänger und Tänzer bei einem Theater gearbeitet habe. Ich n a h m dort zwar noch einmal ein S t u d i u m auf, zunächst der Philosophie, dann der Germanistik, doch gab ich das nach einigen Semestern ebenfalls wieder auf, als ich 1969 eine Volontär-Stelle bei einem der großen H a m burger Verlage erhielt. Seit 1971 arbeite ich dort als freiberuflicher Autor. Die unstete Suche nach Seßhaftigkeit und Beruf scheint typisch zu sein für Flüchtlinge. W e n n man nicht in seinem Vaterland leben kann, gibt es keinen Grund, in einem bestimmten Land, einer bestimmten Stadt zu leben. W e n n man als Kind eine recht gute Ausbildung b e k o m m e n hat und viele Interessen entwickeln konnte, hat man allerdings viele Möglichkeiten, die Wurzellosigkeit gelassen zu nehmen, obgleich sie immer wieder zu Zweifeln u n d Verunsicherung führt.

III Überall ist es schlecht, aber am schlechtesten ist es dort, w o ich bin Die erste Frage, die sich zwei Ungarn im Exil der fünfziger und sechziger Jahren stellten, war: » W o bist du?« Eine banale Frage, die man auf mehreren Ebenen verstehen kann; auf der praktischen Ebene meinte sie natürlich: »Wo lebst du?« D a r a u f k a m oft die Antwort: »Ach, weißt du, überall ist es schlecht, aber dort wo ich bin, dort ist es a m schlechtesten.« Später, zumindest in den achtziger Jahren k a m die Frage, »wann bist du >zu Hause< gewesen?«, wenn m a n sich nach einem Besuch in Ungarn erkundigte. Dieser A u s d r u c k hat sich bis in die Gegenwart unter Emigranten gehalten, deren »Zuhause« Ungarn schon lange nicht mehr war. Erst in jüngster Zeit höre ich zuweilen auch »Ungarn«, ich selbst gebrauche das Wort »Zuhause« in diesem Zusamm e n h a n g ebenfalls nicht mehr. Von 1 9 5 6 bis 1989 hießen die Emigranten aus Ungarn bei den D a h e i m gebliebenen »Dissidenten«. Freilich nicht in d e m Sinn, wie das W o r t hierzulande verstanden wird. Denn der Dissident war in Ungarn kein Andersdenkender, ja, den Ausdruck gab es nicht einmal als Substantiv, sondern nur als Verb »diszidälni«, übersetzt etwa »dissidieren«, was nach kommunistischer Terminologie soviel bedeutete wie das Land illegal verlassen u n d von der Geborgenheit in ein ungewisses Nichts zu fallen. Es hatte d a m i t einen negativen Beigeschmack. W i r Emigranten waren u n a n g e n e h m berührt, als wir es

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in Ungarn hörten, gemünzt auf uns. Das Wort Flüchtling hat es zur Bezeichnung der Emigranten aus Ungarn nicht gegeben, vermutlich weil man dann zugegeben hätte, daß man in keinem normalen Land lebte und unbescholtene Menschen aus ihm fliehen mußten. Der Gebrauch des Wortes dissidieren war um so seltsamer, weil sogar die offizielle Politik bald einen Ausdruck gebraucht hat, der von ganz anderen Vorstellungen ausging. Mit dem Satz »Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns« hatte Tibor Meray 1963 in der Literarischen Zeitung (Irodalmi Ujsäg) eine neue Politik gegenüber den Flüchtlingen angemahnt. Staats- und Parteichef Kädär hat den Satz aufgegriffen, und bald hieß der Emigrant offiziell ein »in die Fremde geratener Landsmann« - »Idegenbe szakadt hazänkfia«, wobei die deutsche Übersetzung unvollkommen ist, denn der Landsmann wurde in die Fremde »gerissen« und sein Geschlecht ist nicht definiert. Der Volksmund hat allerdings weiterhin von dissidieren gesprochen. Waren es Neid und Mißgunst der Daheimgebliebenen auf diejenigen, die illegal weggegangen sind und denen es letztendlich doch besser ging? Schließlich waren westliche Ausländer und ihre Produkte während der gesamten Zeit des Kommunismus geradezu krankhaft beliebt. Wenn die Emigranten Recht hatten, das Land zu verlassen, dann waren die Daheimgebliebenen die Dummen, die Betrogenen. Und das konnte aus ihrer Sicht natürlich nicht sein. Heute ist das Wort dissidieren erledigt, niemand gebraucht es mehr, es sei denn, in historischem Zusammenhang. Die jüngere Generation in Ungarn weiß nicht mehr, was es einmal bedeutet hat.

Der Beitrag beruht auf eigenem Erleben sowie Gesprächen und Interviews mit Flüchtlingen aus Ungarn nach 1956. — 1 Vgl. Georg Hermann Hodos: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54. Frankfurt/M. - New York 1988, S. 66 ff.; Läszlo Rajk und Komplicen vordem Volksgericht. Berlin (Ost) 1949. — 2 M. Molnär: A History of the Hungarian Revolution. London 1971. — 3 Michael Marrus: The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century. New York - Oxford 1985, S. 360; Gyula Borbandi: A magyar emigrdcio eletrajza 1945-1985. Bern 1985, S . 2 0 4 f „ S.309f., S. 317f. — 4 »Ungarn-Flüchtling spendet Museum 60 Millionen Dollar«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.1999.

Irmtrud Wojak/Pedro Holz

Chilenische Exilanten in der Bundesrepublik Deutschland ( 1 9 7 3 - 1 9 8 9 ) Verbannt! Die Entfernung wird fest, wir atmen die Luft durch die W u n d e : zu leben ist eine verpflichtende Vorschrift. So ohne Wurzeln ist die Seele undankbar: Sie weist die Schönheit die man ihr darbringt zurück Sie sucht ihren unglücklichen Erdstrich: U n d nur dort das M a r t y r i u m oder den Frieden. Pablo Neruda Chile, das Land mit der »verrückten Geographie« zwischen A t a c a m a - W ü s t e und Kap Horn 1 , der »unglückliche Erdstrich« 2 , d e m der Schriftsteller und Nobelpreisträger Pablo Neruda viele seiner Gedichte widmete, ist seit der Verhaftung des ehemaligen Diktators Augusto Ugarte Pinochet in London am 16. Oktober 1998 wieder in die internationalen Medien gerückt. W i e zu Zeiten des »chilenischen Wegs zum Sozialismus« nach d e m Wahlsieg Salvador Allendes 1970, dann wieder nach d e m brutalen Militärputsch im Jahr 1973 und schließlich zu Zeiten des »neoliberalen Experiments« während der Militärdiktatur, steht der Andenstaat neuerlich im M i t t e l p u n k t der Berichterstattung, nachdem er in einer Phase des ambivalenten, widerspruchsvollen »Ubergangs zur Demokratie« (der »transición a la democracia«) quasi aus den Medien verschwunden war. Die Verhaftung Pinochets, der im September 1998 zu einem Krankenhausaufenthalt nach England geflogen war, k a m überraschend. Sie stützte sich auf ein Ermittlungsverfahren wegen seiner Beteiligung an M o r d , Folter, Entführungen und d e m Verschwindenlassen von Personen — insgesamt in mehr als 3 . 9 0 0 Fällen — während seiner Regierungszeit, das von d e m spanischen Richter Baltasar Garzón eingeleitet wurde. 3 Nach verschiedenen Verfahren in England stand bis Anfang Januar 2 0 0 0 seine Auslieferung nach Spanien zur Debatte. Die chilenische Regierung setzte sich seit der Verhaftung für die Freilassung des Ex-Diktators ein, unter anderem mit der Begründung, daß m i t einem Prozeß in Spanien die Staatshoheit Chiles verletzt werde. 4 N a c h d e m sich die chilenische Regierung in den vergangenen M o n a t e n verstärkt für eine Freilassung aus humanitären Gründen eingesetzt hatte, w o f ü r

C h i l e n i s c h e Exilanten in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d ( 1 9 7 3 - 1 9 8 9 )

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sowohl das Alter als auch der schlechte Gesundheitszustand Pinochets als Argument genannt wurden, kam eine neuerliche ärztliche Untersuchung in England am 5- Januar 2000 zum gleichen Resultat. Der Ex-Diktator wurde für »gegenwärtig verhandlungsunfähig« erklärt. Am 3. März kehrte er nach Chile zurück, wo inzwischen mehr als hundert Strafanträge gegen ihn gestellt wurden. 5 Offen bleibt, ob diese zu einem Strafprozeß führen werden, denn Pinochet selbst hat für seine Ernennung zum Senator auf Lebenszeit gesorgt, er genießt also Immunität, die zuerst aufgehoben werden müßte. Eine entsprechende Entscheidung liegt zur Zeit beim Corte de Appelaciones (Berufungsgericht); in letzter Instanz entscheidet darüber der oberste Gerichtshof. Zweifellos ist es auch eine Art späte, wenngleich traurige Genugtuung, daß die Verhaftung Pinochets neuerlich das Fehlen eines internationalen Tribunals für die Verhandlung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutlich machte. Dies zumal der universelle Charakter der Menschenrechte, wie der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes schrieb, seit dem Nürnberger Prozeß den Rechtsinstanzen eines jeden Landes das Recht zuschreiben sollte, »über all jene - Staatsoberhäupter wie auch andere Untergebene - , die das Leben und die Sicherheit der Bürger eines Staates verletzen, zu Gericht zu sitzen.« 6 In Chile wie in den europäischen Ländern, in denen weiterhin Exilchilenen leben, gewann die Diskussion über den Militärputsch nach der Verhaftung Pinochets wieder an Aktualität. 7 Ein Brief des ehemaligen Diktators an die Chilenen, in dem er den Putsch als »Heldentat« und seine Regierungszeit als nationales »Epos« bezeichnete und zugleich der »Unidad Populär« die alleinige Verantwortung für die politische Krise der chilenischen Demokratie zuschrieb, während die Streitkräfte als »moralische Reserve der Nation« zu deren Rettung angetreten waren, um die Einheit des Landes wieder herzustellen, wurde in einem »Manifest von Historikern« widerlegt. 8 Diese bezogen sich nicht nur auf den Brief von Pinochet, sondern schlössen die Entwicklung vor dem Putsch 1973 ebenso mit ein wie die Jahre der Diktatur ( 1 9 7 3 - 1 9 8 9 ) und die Probleme der Menschen- und Hoheitsrechte nach dem Putsch. 9

I Politische Rahmenbedingungen des Militärputsches 1973 Am 4. September 1970 gewann der Kandidat der »Unidad Populär« 10 Salvador Allende mit 3 6 , 9 % der abgegebenen gültigen Stimmen die Präsidentschaftswahlen in Chile, auf den Kandidaten der Rechten, Jorge Alessandri, und den der Christdemokratischen Partei, Radomiro Tomic, entfielen 3 5 , 3 % und 28,1 %. Diese Wahl eines erklärten Marxisten-Allende war Mitglied der Sozialistischen Partei Chiles - zum Präsidenten im Rahmen einer »bürgerlichen Demokratie« gilt als einmalig in der Geschichte und löste ein

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weltweites Echo aus. 11 Dabei bestimmte der knappe Wahlsieg in hohem Maße die Reaktionen und vereinte nicht zuletzt die internen und externen Gegner der Regierung der »Unidad Populär«. Das Programm der »Unidad Populär« beinhaltete radikale Reformen auf der Grundlage umfassender gesellschaftlicher Veränderungen. 12 Die ausländischen Unternehmen und die chilenischen Monopole sollten, neben einem gemischt-wirtschaftlichen und dem privat-wirtschaftlichen Sektor, in einen vergesellschafteten Sektor der Wirtschaft überführt werden. Hierzu gehörte die Verstaatlichung der Kupferminen - der Existenzgrundlage des Staates - , der Eisenerz- und Salpetergruben und der großen Unternehmen der wichtigsten Industriezweige, unter anderem der Textil- und Zementfabriken. Langfristig sollten der Staatsapparat durch Volksmacht ersetzt, des weiteren die Latifundienwirtschaft abgeschafft und das Agrarland an Bauernfamilien verteilt sowie landwirtschaftliche Genossenschaften gegründet werden. Dabei wurde auch die indianische Bevölkerung der Mapuche berücksichtigt, ebenso wie bei der Reform des Bildungswesens, die das Bildungsprivileg abschaffen und ein einheitliches Schulsystem schaffen sollte. Im Rahmen eines Sechsjahresplans waren vor allem Anstrengungen auf dem Gebiet der Entwicklung der Grundstoffindustrie vorgesehen und eine Steigerung der Aufwendungen für die landwirtschaftliche Produktion und das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und den Wohnungsbau. Insgesamt zielte das Programm auf eine gerechtere Verteilung der Einkommen und eine Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung. In der Phase zwischen dem Wahlsieg der »Unidad Populär« und dem Regierungsantritt Allendes am 4. November 1970 überstürzten sich die Ereignisse. Die Christdemokratische Partei — deren Stimmen im Parlament für eine endgültige Wahl des Präsidenten benötigt wurden, da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht hatte - forderte mit der Begründung, die demokratischen Grundrechte zu stärken, ein neues Verfassungsstatut. Mit dem Ziel, das Parlament unter Druck zu setzen, entführten Rechtsextremisten einige Tage vor der Entscheidung den oberkommandierenden General der chilenischen Streitkräfte, René Schneider, und ermordeten ihn. Dennoch wurde auf der Basis des neuen Verfassungsstatuts Salvador Allende vom Parlament gewählt, das zugleich der Tradition folgte und den Kandidaten bestätigte, der zuerst die relative Mehrheit gewonnen hatte. Die Regierung der »Unidad Populär« führte bis Ende 1971 offensiv ihr Reformprogramm durch. Alle Bodenschätze Chiles wurden sozialisiert, hauptsächlich die großen nordamerikanischen Kupfergesellschaften. Die Banken und andere wichtige Großunternehmen wurden verstaatlicht, Großgrundbesitz über 80 Hektar (Basishektar bewässerten Landes) enteignet bzw. umverteilt. Die Einkommensstruktur verbesserte sich zugunsten der

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weniger Verdienenden: Löhne und Gehälter wurden erhöht und die Arbeitslosigkeit ging zurück. Ein staatliches Wohnungsbauprogramm wurde in Angriff genommen, die ärztliche Versorgung ausgeweitet und verbessert. Die Reformen lösten verstärkten Druck seitens der politischen Opposition und insbesondere der chilenischen Oberschicht aus. Auch der internationale Weltmarkt reagierte: Kredite wurden gesperrt, der Kupferpreis sank, ebenso die Investitionsraten. Infolgedessen kam es Anfang 1972 zu Versorgungsengpässen mit einem Anstieg der Inflationsrate und im Oktober 1972 zum Boykott des — in Anbetracht der Ausdehnung des Landes - wichtigen Sektors der Transportunternehmer. Der Boykott wurde zum Teil durch die Organisation der Volkssektoren13 geschwächt und der Regierung gelang es, einen Kompromiß mit den Transportunternehmern auszuhandeln. Zugleich traten Militärs in die Regierung ein, die nunmehr verstärkt versuchte, eine Verständigung mit der Christdemokratischen Partei herbeizuführen - ein Versuch, der allerdings erfolglos blieb. Die sozialen Spannungen verschärften sich zunehmend, und am 29. Juni 1973 folgte ein erster Putschversuch, der niedergeschlagen wurde. Am 11. September 1973, demselben Tag im übrigen, an dem Salvador Allende zu einem Plebiszit aufrufen wollte, um eine Entscheidung der Bevölkerung über die wichtigsten Aspekte seiner Reformpolitik herbeizuführen, wurde die Regierung der »Unidad Populär« von Heer, Marine, Luftwaffe und Carabineros blutig gestürzt.14 Ohne Zweifel spielte die nordamerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chiles eine wichtige Rolle bei diesen Entwicklungen. Bereits Anfang 1974 bilanzierte die Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der chilenischen Militärjunta: »Zahlreiche Momente deuten daraufhin, daß die ausländischen Interessengruppen Chile mit dem Ziel unter Druck setzten, die Regierung zu stürzen. Öffentliche und private Finanzinstitute der Vereinigten Staaten sowie zahlreiche nordamerikanische Unternehmen arbeiteten vermutlich mit dem stillschweigenden Einverständnis der US-Regierung auf einen Zusammenbruch der chilenischen Wirtschaft hin. (...) Darüber hinaus gibt es unmittelbare Beweise, daß der amerikanische Konzern ITT den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch Chiles planmäßig betrieb, um der chilenischen Regierung die Grundlage zu entziehen. Die Pläne waren dem CIA bekannt.« 15 Wenige Monate später wurde die Einmischung der CIA und des Nationalen Sicherheitsrats der USA unter Leitung von Henry Kissinger von nordamerikanischen Wissenschaftlern im einzelnen belegt.16 Ende 1975 gab der nordamerikanische Senator Frank Church einen ausführlichen Bericht über die Covert Action in Chile in den Jahren 1963 bis 1973 bekannt. 17 Ebensowenig wie der Militärputsch in Chile aber ausschließlich auf die Einflußnahme der nordamerikanischen Regierung zurückzuführen ist, so greift auch eine monokausale Erklärung wie diejenige der Gegner der

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»Unidad Populär« zu kurz, die den Putsch mit einer »am Boden liegenden Produktion«, »maximaler Inflation«, »beängstigenden Versorgungsengpässen«, »Fehlen von Arbeitsdisziplin« und einem »extremen Haß, der die öffentlichen und privaten Handlungen prägte«, rechtfertigten. Für sie war der »demokratische Weg« Allendes ein Mythos 1 8 , u n d sie behaupteten, die Mehrheit der Chilenen habe den Putsch erwartet. 19 Insoweit stellt sich auch die Frage, ob bei den bestehenden politischen Kräfteverhältnissen ein so tiefgreifendes Reformprogramm wirklich durchführbar war. 20 Unabhängig davon müssen der Putsch in Chile und das nachfolgende Regime auch als Glied einer Reihe von Militärdiktaturen bewertet werden, die unter nordamerikanischer Einflußnahme an die Macht kamen, so in Brasilien 1964, in Bolivien 1971, in Uruguay 1973 und in Argentinien 1976.

II Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur und Flucht ins Exil Von Anfang an versuchte die Militärdiktatur, ihre Ziele unter Mißachtung der Menschenrechte durchzusetzen. Gesetzesdekrete und Erlasse, so der Erlaß No. 24, machten dies deutlich: »Alle diejenigen Personen, die auf der selbstmörderischen und unverantwortlichen Haltung bestehen (d.h. Widerstand gegen den Putsch leisten, d. Verf.), werden Ziel des entschiedenen Vorgehens der Streitkräfte und der Polizei sein. Diejenigen, die in Gefangenschaft geraten, werden sofort erschossen.« 21 Der Erlaß No. 15 führte die Pressezensur ein, die Versammlungsfreiheit wurde aufgehoben und die Gewerkschaften verboten. Mit dem Erlaß No. 29 wurde das Parlament aufgelöst. 22 Durch die Erklärung des Ausnahmezustands (»estado de emergencia«), der von 1973 bis Sommer 1988 in Kraft war und bis 1978 durch die Verhängung des Belagerungszustands (»estado de sitio«) noch verschärft wurde, waren der Militärregierung weitreichende Möglichkeiten zur Einschränkung von Menschenrechten eingeräumt. 2 3 Von 1984 bis 1986 wurde der Belagerungszustand vorübergehend wieder eingeführt, der dem Diktator auf der Basis einer autoritären Präsidialverfassung weitgehende Handlungsfreiheit einräumte — was vor dem Hintergrund des am 11. September 1973 verkündeten Gesetzesdekrets No. 1 auch weitreichende repressive Folgen zeitigte: Das Dekret sollte dazu dienen, den Kampf gegen die »dogmatische u n d ausgrenzende, auf ausländische Prinzipien gestützte Ideologie des MarxismusLeninismus« zu legitimieren. 24 Verfolgt wurden insbesondere Mitglieder der Parteien der »Unidad Populär« und der M I R (»Movimiento de Izquierda Revolutionaria«) 25 , Regierungsangestellte und Gewerkschafter. Allerdings waren auch unpolitische Personen betroffen, von denen man Informationen erwartete, letztlich alle, denen man irgendeine Verbindung zur »Unidad Populär« unterstellen konnte.

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Eine Schätzung des Ausmaßes der Repression wurde am 12. Januar 1975 auf einer Sitzung des Russell Tribunals vorgelegt. Für die Zeit zwischen dem 12. September 1973 und dem 28. November 1974 wurde von 15.000 Toten und Verschwundenen sowie 150.000 »Kriegs«gefangenen berichtet.26 In der ersten Zeit nach dem Putsch inhaftierten die Militärs die Gegner der Diktatur unter anderem in den Sportstadien von Santiago und Concepción besonders berüchtigt war das Nationalstadion in Santiago - , ehe zahlreiche Konzentrationslager eingerichtet wurden. 27 Die Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der chilenischen Militärjunta verwies auf die »brutale Behandlung bis hin zur Folter«: »Zahlreiche Gefangene provoziert man zu fliehen, um sie dann (unter Hinweis auf das Fluchtgesetz, d. Verf.) >auf der Flucht< zu erschießen.«28 Amnesty International schätzte 1976 die Zahl der Todesopfer auf 20.000 bis 30.000, während man die genaue Zahl nie werde feststellen können. Die Gefangenenhilfsorganisation ging zu gleicher Zeit von 2.000 Verschwundenen und 6.000 bis 8.000 politischen Gefangenen aus, eine Zahl, die aufgrund des Systems »rotativer Verhaftungen« schwankte, nach dem Verhaftete freigelassen und kurz darauf wieder festgenommen wurden. 29 Dagegen gab die chilenische Regierung an, daß bis Februar 1976 insgesamt 42.500 Regimegegner verhaftet wurden, und sprach von 1.800 Todesfällen sowie bis 1978 von 734 Verschwundenen, wobei auch hier die Dunkelziffern weit über diese Angaben hinausgehen. 30 Die vorhandenen Daten, die sich meist auf bestimmte Perioden beziehen, können nur als Schätzungen betrachtet werden. Eine kürzlich veröffentlichte Studie, die sich auf Angaben der Chilenischen Menschenrechtskommission und des ökumenischen Solidaritätsvikariats stützt, kam zu dem Ergebnis, zwischen 1981 und 1988 seien 116.275 willkürliche Verhaftungen zu verzeichnen.31 Da für das erste Jahr der Militärdiktatur bereits von 150.000 »Kriegs«gefangenen auszugehen ist, scheint die Schätzung von insgesamt etwa 500.000 Verhaftungen realistisch, wobei allerdings nichts über die Dauer der Verhaftungen gesagt ist. Das Ausmaß der Repression wird deutlich, wenn man sich die Gesamtbevölkerung Chiles nach der Volkszählung von 1970 vergegenwärtigt: Sie umfaßte 8.884.768 Personen (1992 = 13.348.401). Mit Ausnahme des »Rettig-Berichts«, der sich auf die schwersten Menschenrechtsverletzungen, die mit dem Tod der Betroffenen endeten, beschränkt und Folter, Haft und Exil ausklammert, gibt es keine ausführlichen Darstellungen von chilenischer Regierungsseite. Die von der ersten demokratisch gewählten Regierung nach der Diktatur am 25. April 1990 per Dekret eingesetzte »Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación« (»Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung«) gab am 4. März 1991 das nach ihrem Vorsitzenden, dem Rechtsanwalt Raúl Rettig Guissen, benannte Informe Rettig heraus.32 In der letzten publizierten Zusammenfassung des

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Berichts wird eine Gesamtzahl von 3 . 1 9 6 Toten angegeben, unter ihnen 152 Personen, die von Gegnern der Militärdiktatur getötet wurden, und 139 Todesopfer, bei denen die Täter nicht bestimmt werden konnten. Die 2 . 9 0 5 Opfer staatlicher Gewalt setzen sich aus 1.720 Ermordeten und 1.185 verschwundenen politischen Gefangenen zusammen. Laut Bericht entfallen 8 1 , 6 % der Gewalttaten auf den Zeitraum zwischen September 1973 und M ä r z 1978. Unter den 2 . 9 0 5 O p f e r n d e r Diktatur konnten 1.275 Angehörige politischer Parteien identifiziert werden, unter ihnen 4 0 1 Mitglieder der Sozialistischen Partei, 3 9 3 Mitglieder der M I R u n d 3 9 0 Mitglieder der Kommunistischen Partei. 33 Auch die Angaben über die Zahl der chilenischen Flüchtlinge differieren erheblich, zumal der Militärputsch nicht nur für Hunderttausende Chilenen den Verlust des Arbeitsplatzes, Vertreibung, Flucht u n d Exil bedeutete, sondern auch ca. 10.000 Lateinamerikaner betraf, die vor den Diktaturen in Uruguay, Brasilien und Bolivien im demokratisch regierten Chile Asyl gefunden hatten und n u n Gefahr liefen, an ihre Heimatländer ausgeliefert zu werden. 3 4 Ebenso befanden sich einige deutsch-jüdische Emigranten darunter, die in den dreißiger Jahren nach Chile geflohen waren. W ä h r e n d die Militärjunta mit niedrigen Zahlenangaben das Exilproblem herunterzuspielen suchte, prangerten Solidaritäts- und Hilfsorganisationen mit höheren Angaben die Verfolgungspraxis der Diktatur an. 3 5 Im R a h m e n des A u f n a h m e p r o g r a m m s des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen erklärte sich die Bundesrepublik 1973 bereit, ein Kontingent chilenischer Flüchtlinge aufzunehmen, die in großer Zahl in der Deutschen und anderen Botschaften in Santiago Schutz gesucht hatten. 3 6 Bei Ü b e r n a h m e der Kosten durch die Bundesregierung sicherten die Bundesländer zu, 1.000 Personen aufzunehmen, wobei die Kontroverse um die A u f n a h m e von hundert Flüchtlingen in Baden-Württemberg, die der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger ( C D U ) verhindern wollte, traurige Berühmtheit erlangte. Die Abweisung von fünfzehn prominenten chilenischen Politikern der Allende-Regierung entwickelte sich 1974 schließlich zu einer peinlichen Affäre der baden-württembergischen Landesregierung, zumal bekannt wurde, d a ß diese z u m Zeitpunkt des Aufnahmeantrags noch in chilenischen Gefängnissen saßen. 3 7 Eine Kommission aus je einem Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit, des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums, die nach C h i l e geschickt wurde, blockierte zunächst auch die seitens der Bundesregierung zugesagte unbürokratische A u f n a h m e durch die Festlegung politischer Aufnahmekriterien. Anfang 1974 wurde zudem eine Schwarze Liste des Verfassungsschutzes bekannt, nach der 85 Personen keine Einreiseerlaubnis a u f g r u n d ihrer »revolutionären« Vergangenheit erhielten. 3 8

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Chilenische Bevölkerung in der Bundesrepublik nach der Staatsangehörigkeit (= A) und Asyl -Antragsteller/innen (= B)

1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985

A 2487 3277 3826 4220 4651 4971 5124 5458 5708 6011 6043 6008 5839

B —

64 53 66

1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998

A 6006 5307 5627 6135 6440 6849 6789 6702 6556 6443 6439 6361 6323

B 109 175 255 196 114 46 37 14 17 —

( Q u e l l e : Statistisches B u n d e s a m t , W i e s b a d e n (A) u n d B u n d e s a m t für die A n e r k e n n u n g Ausländischer Flüchtlinge, N ü r n b e r g (B). N a c h A u s k u n f t des N ü r n b e r g e r B u n d e s a m t e s liegen A n g a b e n über d i e Anzahl der A s y l a n t r ä g e in den J a h r e n 1 9 7 3 bis 1 9 8 2 u n d A n g a b e n über d i e Zahl der a n e r k a n n t e n A s y l a n t r ä g e n i c h t vor.)

Das Statistische Bundesamt nannte Ende 1993 eine Zahl von 6.702 Chilenen und Chileninnen, die im Bundesgebiet lebten; die Zuzüge und Fortzüge eingerechnet, kamen nach 1973 4.904 Chilenen in die Bundesrepublik (ausgenommen die hier geborenen Kinder), davon reisten im Rahmen des nach dem Militärputsch bereitgestellten Kontingents 1.456 chilenische Flüchtlinge ein. 39 Nach Angaben des Handbuchs Rückkehr und Reintegration chilenischer Flüchtlinge lebten 1987 etwa 1.600 asylberechtigte chilenische Flüchtlinge mit ihren Familien in der Bundesrepublik Deutschland, also circa 4.000 Personen, von denen viele in der folgenden Zeit zurückkehren wollten. Bereits in den Jahren zuvor waren pro Jahr etwa 200 Chilenen aus der Bundesrepublik in ihr Heimatland abgereist; für die späteren Jahre war ebenfalls ein starker Anstieg der Rückkehrerzahlen zu erwarten. 40 Wenngleich das Exil nicht als eine gravierende Verletzung der Menschenrechte im Informe Rettig benannt wurde, erlitten mehr als die Hälfte der erwachsenen Exilierten vor der Flucht Verhaftungen und Folter und gehörten zu den 500.000 Chileninnen und Chilenen, die in Gefängnissen inhaftiert waren. 41 Nach offiziellen Angaben des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen ( U N H C R ) , das sich am relativ engen Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention orientiert, ist insgesamt von etwa 20.000 bis 40.0000 politischen Flüchtlingen aus Chile auszugehen. Diese Zahl stimmt

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nahezu mit den Angaben des » C o m i t é pro Retorno de Exiliados« (»Komitee für die Rückkehr der Exilierten«) überein, das 1982 die Zahl von 3 7 . 2 9 2 politischen Flüchtlingen nannte. 4 2 Nicht nur die am eigenen Leibe erfahrene Aggression, sondern auch die Angst u m zurückgebliebene Freunde und Angehörige, von denen man häufig nicht wußte, w o sie sich aufhielten und ob sie bereits zu den »Verschwundenen« zählten, bildeten den psychologischen Erfahrungshintergrund der Flüchtlinge, die aus allen gesellschaftlichen Schichten des Landes kamen. 4 3 Der W u n s c h der großen Mehrheit der Exilierten, nach Chile zurückzukehren, der auch einen Teil der sozialen und psychischen Schwierigkeiten der Integration im Asylland ausmachte, hat zugleich das Engagement vieler in der internationalen Solidaritätsbewegung ausgelöst und bestärkt. Das Exil wurde über Jahre hinweg als Provisorium betrachtet, und die Tätigkeit in der Solidaritätsbewegung ermöglichte eine weiterhin starke Identifikation mit Chile und Lateinamerika. Ab M i t t e der achtziger Jahre spielte in der C h i le-Solidaritätsbewegung die Diskussion über die Schwierigkeiten der H e i m kehr eine überragende Rolle, und damit rückte die Verletzung der M e n schenrechte durch die Diktatur erneut ins Zentrum. Der Kampf für das Recht, in der Heimat zu leben, und die Wiedereingliederung in die chilenische Gesellschaft waren (und sind bis heute) für die Rückkehrer mit der Forderung der juristischen Aufarbeitung und öffentlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Militärregimes verbunden.

III »Lebenswelten« des chilenischen Exils und westdeutsche Solidaritätsbewegung 1

Politik im Exil

Die politischen Aktivitäten der Exilorganisationen waren, insbesondere in den ersten Jahren, von der Situation in C h i l e und den politischen Bedingungen im Exilland geprägt. Abgesehen davon, daß es den Flüchtlingen in der Bundesrepublik verboten war, sich politisch zu betätigen, trafen sie auf eine deutsche Linke, die Anfang der siebziger Jahre extrem gespalten war. 4 4 U n a b h ä n g i g davon entwickelten die chilenischen Parteien im europäischen Exil — so auch in der Bundesrepublik Deutschland — eigene Organisationsstrukturen, u m über die Situation in C h i l e zu informieren und eine Öffentlichkeit herzustellen, die den W i d e r s t a n d gegen die Diktatur im H e i m a t l a n d unterstützen sollte. Die Zusammenarbeit mit der Chile-Solidaritätsbewegung, die 1973 rasch entstand und in der Geschichte internationalistischer Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik nach der V i e t n a m - S o l i d a ritätsbewegung wohl die bedeutendste Bewegung dieser Art war, spielte dabei eine große Rolle. 4 5

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Der Sieg der »Unidad Populär« in Chile hatte unter der bundesdeutschen Linken nur ein sehr bescheidenes Interesse gefunden. 46 Zwar wurde im Juni 1973 in Westberlin von einigen Wissenschaftlern und Intellektuellen das Komitee »Solidarität mit Chile« gegründet, das fortan die Chile-Nachrichten herausgab, doch löste erst der Putsch und die Empörung über das brutale Ende der Regierung der »Unidad Populär« in der politischen Linken eine lange Diskussion über strategische Konzeptionen und die Gründe für das Scheitern des chilenischen Weges zum Sozialismus aus.47 Bis dahin richtete sich das Interesse sowohl der außerparlamentarischen Opposition wie der ihr in den siebziger Jahren nachfolgenden Organisationen - wenn überhaupt — auf die revolutionären Guerilla-Bewegungen in Mittel- und Südamerika und stand insofern in unmittelbarem Zusammenhang mit einer radikal kritischen Haltung gegenüber der Erbschaft des »Adenauerstaates« mit seinem autoritären Konformitätsdruck und der von Ludwig Erhard geprägten Formel von der »formierten Gesellschaft«, in der es für Utopien keinen Platz gegeben hatte und alle gesellschaftlichen Widersprüche gleichsam einge-ebnet waren. Bezeichnend scheint vor diesem Hintergrund, daß in der großen Chronik und Dokumentensammlung zur Frankfurter Schule und Studentenbewegung weder der Wahlsieg der »Unidad Populär« noch der Militärputsch oder die sich anschließenden, durchaus massenhaften Kundgebungen in Frankfurt am Main und anderswo auch nur erwähnt werden. 48 Dennoch änderte sich die Situation nach dem Putsch, und in den ersten beiden Jahren schöpfte die Solidaritätsbewegung einen großen Teil ihres Potentials aus der APO und der Studentenbewegung der sechziger Jahre 49 : »Schon am Abend des 12. September kam es zu spontanen Demonstrationen und Fackelzügen: In 64 bundesdeutschen Städten demonstrierten insgesamt über 150.000 Menschen.« 50 Im Herbst 1973 und im Frühjahr 1974 entstanden rund 50 Chile-Komitees in der Bundesrepublik und Westberlin.51 Anfänglich erreichte die Solidaritätsbewegung ein breites politisches Spektrum in den bürgerlich-demokratischen Parteien, gewerkschaftlichen und christlichen Gruppen, Menschenrechtsorganisationen und in der parteiunabhängigen Linken. Humanitäre Ziele, die Rettung von Verfolgten und die Betreuung von Flüchtlingen sowie dezidiert politische Motive bildeten den Hintergrund des Engagements, das sich nach einem anfangs durchaus einheitlichen Vorgehen allerdings bald in zwei große politische Blöcke aufspaltete, die »DKP-Solidarität« und die »nicht-reformistische« Solidarität, wobei letztere unterschiedliche Organisationen einschloß (von unabhängigen »Spontis« bis zu maoistischen Kadergruppen), was zu neuen Spaltungen führen sollte. Die ideologischen Auseinandersetzungen formierten sich um die hauptsächlich von der Deutschen Kommunistischen Partei sowie der KP und Tei-

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len der Sozialistischen Partei Chiles vertretene Auffassung, d a ß allein eine breite »antifaschistische Front« in C h i l e u n d in der B R D zur Wiederherstellung der Demokratie beitragen könne, w ä h r e n d die »Spontis« u n d K-Gruppen diese Auffassung als »reformistisch« einschätzten und — orientiert insbesondere an der M I R - z u m bewaffneten Kampf gegen die Militärdiktatur aufriefen. 5 2 Barbara Imholz hat in diesem Kontext zu Recht die Kompatibilität zwischen chilenischen u n d westdeutschen linken Parteien als Spezifikum herausgestellt: »Das Profil und die Mitgliederstruktur linker chilenischer Parteien sowie deren unterschiedliche Handlungsstrategien korrespondierten mehr oder weniger reibungslos mit den inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der westdeutschen Linken.« 5 3 Die unterschiedlichen Auffassungen über die Handlungsstrategien spiegelten sich in Chile wie in der Solidaritätsbewegung auch in den Erklärungen, die sich mit den Ursachen des Militärputsches auseinandersetzten. Für die einen war »das Verhalten der extremen Linken« ausschlaggebend, für die anderen »das Fehlen einer Vorbereitung für den bewaffneten Kampf«. Innerhalb der bundesdeutschen Parteien war die jeweilige Sichtweise ausschlaggebend für die Kooperation mit einer »Bruderpartei« in C h i l e bzw. unter den Exilorganisationen. So unterstützten die DKP und die ihr nahestehenden Organisationen die Kommunistische Partei Chiles, die der S P D nahestehenden Organisationen privilegierten die Zusammenarbeit mit der Radikalen Partei, die der Sozialistischen Internationale angehörte, u n d einige der »nicht-reformistischen« Komitees und Gruppen wie die G I M (Gruppe Internationaler Marxisten) u n d der K B W (Kommunistischer B u n d Westdeutschland) unterstützten die M I R . Die Sozialistische Partei Chiles, also die Partei des ehemaligen Präsidenten Salvador Allende, versuchte eine insgesamt breitere Bündnispolitik mit deutschen Organisationen herbeizuführen, sie war jedoch durch interne Flügelkämpfe geschwächt. W i e ihre Abspaltungen, zum Beispiel die 1977 gegründete Sozialistische Partei Chiles (Coordinadora Nacional de Regionales), hatte sie keine »Bruderpartei« in der B R D , erhielt aber Unterstützung von unterschiedlicher parteipolitischer und gewerkschaftlicher Seite. Die meisten chilenischen Parteien ernannten eine oder einen Verantwortliche(n) für die Solidaritätsarbeit. Zugleich arbeiteten nur wenige der Solidaritätsgruppen, insbesondere das Berliner Solidaritätskomitee, über längere Zeit mit allen Exilorganisationen z u s a m m e n . A m ersten Jahrestag des Putsches k a m die Spaltung innerhalb der Solidaritätsbewegung und unter den chilenischen Exilorganisationen auch öffentlich deutlich z u m Ausdruck. Zwei Demonstrationsveranstaltungen wurden in Frankfurt a m M a i n angekündigt, eine für den 11. September 1974 von den Jungsozialisten (Jusos) gemeinsam mit der »DKP-Solidarität«, die andere von den »nicht-reformistischen« Gruppen (unter Beteiligung eines eigenen KPD-Blocks) für den 14. September. Die chilenischen Exilorganisatio-

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nen unterstützten beide Veranstaltungen, was dafür spricht, daß die chilenische Linke zu diesem Zeitpunkt ein stärkeres Bündnispotential aufwies. »Insgesamt demonstrierten am 14. September 1974 über 30.000 Demonstranten in der Frankfurter Innenstadt. DKP und Jusos hatten zu ihrer Solidaritätsdemonstration drei Tage vorher nur einige Tausend Anhänger mobilisieren können.« 54 Insgesamt reichte die Chile-Solidaritätsbewegung allerdings weit über dieses politische Spektrum hinaus. Hinzu kamen nicht nur die große Zahl gewerkschaftlicher und kirchlicher Solidaritätsgruppen und die Zusammenarbeit mit Amnesty International oder — verstärkt seit den achtziger Jahren — mit Nichtregierungsorganisationen wie terre des hommes. Viele chilenische Arbeiterinnen und Arbeiter wurden aufgrund ihrer Politisierung in der traditionell starken chilenischen Gewerkschaftsbewegung auch in den bundesrepublikanischen Gewerkschaften aktiv, insbesondere in der IGMetall und der OTV; im DGB in Frankfurt am Main wurde eine »Arbeitsgruppe DGB-Chile« gegründet. 55 Die Hans-Böckler-Stiftung (Bonn) übernahm mit der Vergabe von Stipendien die Förderung einer Gruppe geflohener chilenischer Studenten. Die interne Auseinandersetzung innerhalb der »nicht-reformistischen« Komitees schwächte deren Arbeit zunehmend. Spätestens 1976/77 lösten sie sich auf. Die Chile-Nachrichten wurden Mitte 1977 in Lateinamerika Nachrichten umbenannt. Währenddessen blieben die der DKP nahestehenden »reformistischen« Gruppen, in denen sich die Exilchilenen an vielen Orten organisiert hatten, größtenteils weiter bestehen. 56 Trotz des relativ raschen Niedergangs der Chile-Solidaritätsbewegung im letzten Drittel der siebziger Jahre entwickelten sich wichtige Initiativen weiter. Vom 24. bis 26. Juni 1983 fand in Münster der »Internationale Kongreß der Chile-Solidaritätsbewegung« statt, der von der Witwe Allendes, Hortensia Bussi, und dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Heinz-Oskar Vetter eröffnet wurde. 57 An diesem Kongreß nahmen Vertreter der gesamten chilenischen Linken teil. Sie beteiligten sich auch an Diskussionsveranstaltungen und Seminaren, so zum Thema »Positionen der chilenischen Linken« am 14. April 1984 in Essen.58 Diese gemeinsamen Aktivitäten (die den fortdauernden Kontakt mit den Widerstandsgruppen in Chile bestätigten, deren Dokumente auf den Seminaren vorlagen) widerlegen die weitverbreitete Auffassung von einem endlos zerstrittenen politischen Exil, das einer einheitlichen Widerstandsbewegung in Chile gegenübergestellt wird. Die unterschiedlichen Parteiorganisationen im Exil waren, unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Bedeutung, auch in Chile aktiv und wiesen ähnliche Differenzen auf. Seit Mitte der achtziger Jahre kehrten viele Flüchtlinge, die in der Solidaritätsbewegung und/oder in den Exilorganisationen aktiv waren, nach

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Chile zurück. Wenngleich die starke Protestwelle der Opposition in Chile 1983/84 und die darauf folgende Repression noch einmal die Solidaritätsbewegung mobilisierte, wurde sie durch die wachsende Zahl der Rückkehrer doch weiter geschwächt. Zugleich hatten sich vor d e m Hintergrund der Wirtschaftskrise in Chile, wo weite Teile der Bevölkerung unter den Folgen des ultraliberalen Wirtschaftsmodells litten und der Gegensatz zwischen arm und reich i m m e r größer wurde, die T h e m e n geändert. Einerseits wurden die C h a n c e n und Grenzen des Demokratisierungsprozesses diskutiert, andererseits die langfristigen psychosozialen Folgen der autoritären, menschenverachtenden Politik der Militärs gegenüber der politischen Opposition u n d die Konsequenzen der Wirtschaftspolitik. Abgesehen davon war die »neue soziale Bewegung« der achtziger Jahre, die sich mehrheitlich aus jungen Menschen zusammensetzte, die den Putsch nicht als Zeitgenossen erlebt hatten, stärker an T h e m e n der Friedens- und der Ökologiebewegung interessiert, w o m i t auch der internationalistische Charakter der Bewegung in den Hintergrund trat. Andere Brennpunkte nationaler und sozialer Befreiungsbewegungen wie Mittelamerika und Südafrika traten zudem in den Vordergrund. 5 9 Eine besondere Rolle spielte in den achtziger Jahren die Frauenbewegung, die für Exilchileninnen zu einem wichtigen Bereich politischer Arbeit und Organisation wurde, die einige der Rückkehrerinnen auch in Chile weiter vorantrieben. 6 0 Den Hintergrund des Engagements bildete das Aufbrechen der patriarchalischen chilenischen Familienstruktur im Exil (Frauen m u ß t e n z u m Lebensunterhalt beitragen, die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung löste sich a u f ) , und zumal im Kontakt mit der Frauenbewegung in der Bundesrepublik wurden frauenspezifische Probleme diskutiert. Die Durchbrechung traditioneller weiblicher Rollenstereotype war für den Emanzipationsprozeß der Chileninnen von großer Bedeutung. U m der weiteren Auflösung der Solidaritätsbewegung entgegen zu wirken, wurde 1987 das »Chile-Informationsbüro« in M ü n s t e r gegründet, welches unter anderem zu einer Kundgebung zum 15. Jahrestag des Putsches aufrief. Im Oktober 1988 verlor die chilenische Diktatur — im R a h m e n der Entwicklung einer breiteren Opposition - das Plebiszit, mit dem sie ursprünglich ihre Herrschaft sichern wollte. Ein Jahr danach kam es zu freien W a h len, aus denen das oppositionelle Parteienbündnis der »Concertacion« mit d e m christdemokratischen Präsidenten Patricio A y l w i n als Sieger hervorging. Trotz dieser Entwicklung in Chile - das viele als »beschützte Demokratie« bezeichnen 6 1 — blieben viele Exilierte weiter in der B R D . Ein Teil von ihnen ist weiterhin in der Solidaritätsarbeit aktiv, meist im R a h m e n konkreter Projekte zugunsten der armen Bevölkerung oder im gewerkschaftlichen Bereich.

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2 Kultur im Exil Nicht wenige der Flüchtlinge aus Chile verarbeiteten die Exilerfahrung in Gedichten, Erzählungen und Romanen und in der Musik. Im Rahmen der Solidaritätsbewegung spielten daher Lesungen und Konzerte eine wichtige Rolle, die immer auch Gelegenheit zu Diskussionen über die aktuelle politische Situation in Chile boten und breitere öffentliche Aufmerksamkeit erreichten, als politische Veranstaltungen. Unter den lateinamerikanischen Autorinnen und Autoren im Exil in der BRD bildeten die Exilchilenen die »geschlossenste und größte Gruppe«. 62 Martin Franzbach erwähnt allein zwölf Namen 63 , die Journalistin Gaby Küppers fügte diesen noch zwei hinzu 64 ; eigene Nachforschungen ergaben noch sechs weitere Autorinnen und Autoren/' 5 Dabei sind die in der DDR lebenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mit Ausnahme von Omar Saavedra Santis und Carlos Cerda, noch unberücksichtigt. Allein in der Sammlung Junge Exilliteratur in der DDR finden sich vier weitere Namen, Julio Alegría, Víctor Carvajal, Aristides Giavelli, Carmen Luisa Parra 66 , denen noch mindestens zwei, nämlich Roberto Ampuero und Salvatori Coppola, hinzuzufügen sind. Hier mischen sich die Namen derjenigen Autoren, die wie Antonio Skármeta schon in Chile als Schriftsteller bekannt waren, mit denjenigen, die erst während des Exils mit dem Schreiben begonnen haben. Dabei fällt auf, daß ein Autor mit schriftstellerischer Erfahrung wie Antonio Skármeta, der im übrigen in diesem Jahr zum chilenischen Botschafter in Deutschland ernannt wurde, auch im Exil das breiteste Publikum erreichte, nicht nur als Erzähler und Romanschriftsteller, sondern auch als Hörspiel- und Drehbuchautor. Eine Gemeinsamkeit bildet bei den meisten Autorinnen und Autoren die Auswahl der Themen, vor allem die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen während des Putsches und der Militärdiktatur sowie die Auseinandersetzung mit dem Kulturschock, der zwangsläufig mit der Flucht in das lebensrettende Exil einher geht. Luis Sepúlveda, mittlerweile ein international bekannter Erfolgsautor 67 , fällte in diesem Zusammenhang ein hartes Urteil über seine Landsleute: »Um es ganz drastisch zu sagen: Ich habe Hunderte von Erzählungen, Romanen und Gedichten über das zentrale Thema des chilenischen Exils (das 1989 endete) gelesen, das nicht über zwei Bezugsvarianten hinausging: das Gefängnis und die Folter; und das Unvermögen zu verstehen, daß es noch andere Kulturen, andere Nationen, andere Gewohnheiten gibt, deren Daseinsberechtigung nicht auf dem Unglücklichsein der Chilenen gründete. (...) Ich denke, die Phase der Zeugnisliteratur - die eigentlich keine Literatur ist — (L. S. benutzt das Wort escritura statt literatura, doch gibt es hierfür im Deutschen nur den Begriff Zeugnisliteratur d. Ü.) ist glücklicherweise überwunden.« 68 Diese drastische Kritik muß man sicher nicht teilen, doch läßt sich nicht bestreiten, daß sich im Exil die Gren-

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zen zwischen Zeugnisliteratur und Literatur häufig überschneiden. Die Ursache hierfür liegt nicht zuletzt darin, daß die — in erster Instanz subjektive - Erfahrung politischer Gewalt, der aufgezwungene lebensgeschichtliche Einschnitt, die schriftstellerische Tätigkeit auslöste und zu-gleich motivierte. Gaby Küppers hat dieses Motiv aufgegriffen: »Postuliert wird nicht l'art pourl'art, sondern ein außerliterarisches Ziel, das Engagement für die Demokratie in Chile. Am Horizont steht die Rückkehr nach Chile.« 6 9 Die Perspektive der Rückkehr - vergleichbar der Formel »mit dem Gesicht nach Deutschland« der Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus — liefert zugleich die Erklärung dafür, daß die chilenischen Autorinnen und Autoren, mit Ausnahme einiger weniger mit deutschsprachigem Hintergrund, keinen Sprachwechsel vollzogen haben, sondern weiterhin in ihrer spanischen Muttersprache schrieben. Die Ubersetzung wurde allerdings für viele zum Problem. Gaby Küppers zitiert in diesem Zusammenhang Omar Saavedra Santis, dessen Romane in fünfstelligen Auflagen in der D D R veröffentlicht wurden: Ihm erschienen die in fremder Sprache veröffentlichten Werke nicht mehr als »eigene«, die Ubersetzung implizierte Distanz, auch gegenüber den eigenen Empfindungen. Dennoch ist die Entscheidung, weiter in der Muttersprache zu schreiben, nicht zu verallgemeinern. Nachdem den chilenischen Flüchtlingen, die aus einem Staat mit einer langen demokratischen Tradition geflüchtet waren, der auch Tausenden Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus Schutz geboten hatte 70 , allmählich bewußt geworden war, daß die Militärdiktatur nicht so bald gestürzt werden würde, lernten viele von ihnen die deutsche Sprache. 71 Und umgekehrt verdienten viele der Exilierten in den achtziger Jahren ihren Lebensunterhalt mit Spanischunterricht an Volkshochschulen, Universitäten oder in privaten Kursen. Auf diese Weise konnten einige die durch die mangelnden deutschen Sprachkenntnisse eingetretene gesellschaftliche Isolierung, die sie auf den Kontakt zu anderen Chilenen im Exil beschränkte, überwinden. Häufig allerdings waren es die Kinder, die sich in der deutschen Sprache besser ausdrücken konnten, während in den Familien Spanisch die Umgangssprache blieb, worin sich der Wunsch der Eltern nach Rückkehr widerspiegelte. 72 Eine besondere Rolle spielten im Exil chilenische Sänger und Musikgruppen, die zusammen mit den viel gerühmten Empanadas — gefüllten Teigtaschen, einer chilenischen Spezialität — praktisch zu jeder Solidaritätsveranstaltung gehörten. 73 Einen Einblick in die Bedeutung der Aktivitäten chilenischer Künstler im Exil gibt Uli Simon, der Gründer der Gruppe »Andariegos«, mit seinem Kalendarium: »Kalender 1976: 73 Konzerte; Kalender 1977: 78 Konzerte; Kalender 1978: 84 Konzerte.« 74 Diese wie auch andere chilenische Musikgruppen spielten nicht nur in Deutschland, Simon berichtet unter anderem von Venedig, Rom, Brüssel, Wien und Moskau. Im

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Jahr 1979 wurde die Gruppe »Piray« im Ruhrgebiet gegründet, deren Name von dem gleichnamigen Fluß in Bolivien stammt, an dem Ernesto »Che« Guevara ermordet wurde. Die Gruppe um die Brüder Pedro und José »Chicho« Prado besteht weiter, auch wenn sich die Besetzung geändert hat, und kann auf Konzerte in Dänemark, Schweden, Griechenland, Italien, der Schweiz und in Osterreich zurückblicken. Chilenische Musiker, die in anderen Ländern Zuflucht gefunden haben, traten in der Bundesrepublik Deutschland auf, unter ihnen Isabel Parra und die Gruppen »Quilapayiin« und »Inti Illimani«. Am 31. Mai 1974 traten sie anläßlich eines Konzerts für den Sänger Víctor Jara, der am 12. September 1973 im Chilestadion von Santiago ermordet worden war, in der Essener Grugahalle vor rund 10.000 Besuchern auf. Die Gruppen »Quilapayiin« und »Inti Illimani« waren die bekanntesten Vertreter des Canto Nuevo, das aus der chilenischen Demokratiebewegung der sechziger Jahre hervorgegangen ist und nunmehr in der Solidaritätsarbeit als spezifischer Ausdruck der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen eine wichtige Rolle spielte. Hinzu kamen Solisten wie Juan Miranda, Juan Bagatella und Andrés Serra oder Duos wie »Nena y Gustavo«, die Tanz und Gesang miteinander verbanden. Anfänglich übernahmen sie häufig Lieder von Interpreten der chilenischen oder lateinamerikanischen Folklore, traditionelle Musik aus der Andenregion, die dadurch beachtliche Bekanntheit und Popularität gewann. Später schrieben sie auch eigene Lieder, in denen sich nicht selten die Erfahrung des Lebens im Exil widerspiegelte. Aus dem Bereich der Bildenden Kunst ist der Maler Hugo Riveros zu nennen, der nach seiner Rückkehr nach Chile ermordet wurde. Von Bedeutung ist auch die Malerin Cecilia Boisier, die gemeinsam mit den Autoren Omar Saavedra Santis und Pedro Holz in der biographischen Sammlung Lebenswege vertreten ist.75 Unter den schwierigen Bedingungen des Lebens im Exil entdeckte die Malerin für sich die Chance zu künstlerischer Weiterentwicklung und kreativem Engagement: »Auch wenn die Fremdheit schmerzhaft und zerstörend wirken kann, birgt sie doch gleichzeitig Kreativität. Diese Kreativität kann einen Prozeß der Selbstentdeckung und Gestaltung des eigenen Lebens entfalten.« 76 In Bremen arbeitete die junge Bildhauerin Rosa Faiindez in enger Kooperation mit der Werkstatt-Galerie »El Patio«. Bald nach der Ankunft der Flüchtlinge entstanden auch größere Kulturvereinigungen wie die 1975 in Münster gegründete »Vereinigung zur Förderung der demokratischen Kultur Chiles«, die mit dem »Zentrum zur Verteidigung der Chilenischen Kultur« in Paris zusammenarbeitete. Die Vereinigung gab eine Zeitschrift heraus und organisierte kulturelle Veranstaltungen unterschiedlichster Art. In Berlin rief der chilenische Schriftsteller Sergio Villarroel 1978 das »Centro Literario Artístico Latinoamericano« (CLAL) ins Leben, um nur einige Initiativen dieser Art zu nennen.

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Schließlich entwickelten sich auch die traditionellen chilenischen Peñas, ein Ausdruck aus der Volkskunst für ein geselliges Beisammensein, bei dem sich - oft spontan - Musik, Literatur, Speisen und Getränke verbinden. Im Exil kam der Austausch politischer Informationen hinzu, sei es über die Lage in Chile oder die Situation in der Bundesrepublik, der sich mit der Tradition aus der Heimat verband. Besonders bekannt und von vielen besucht wurde die von dem 1998 verstorbenen Wirtschaftswissenschaftler Mario Durán ins Leben gerufene Chile-Peña in Bielefeld. Damit stellten die Peñas zugleich ein Refugium dar, eine Verbindung zur Lebensart und Kultur des Heimatlandes, die den drohenden Identitätsverlust abzufangen half. 77 Ähnliche Initiativen gab es in vielen anderen Städten, zum Beispiel in Oberhausen in direkter Zusammenarbeit zwischen der Volkshochschule und der Fabrik K14. Oft dehnten sich die kulturellen Aktivitäten auch auf die von Chilenen gegründeten Restaurants und Kneipen aus, wie zum Beispiel »La Batea« in Berlin und »La Peseta Loca« in München. Insgesamt kann man festhalten, daß die Rezeption chilenischer und lateinamerikanischer Kultur, der Musik und Literatur der Exilierten, die sich in der Zusammenarbeit der Flüchtlinge mit der Solidaritätsbewegung widerspiegelte, langfristig zu einer realistischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit Chiles beigetragen hat und viele junge Menschen in den achtziger Jahren motivierte, sich mit den politischen Entwicklungen im eigenen Land - mit der Friedensbewegung, mit Themen wie Ausländerfeindlichkeit und Asylgesetzgebung - auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt die häufig kritisierte Projektion der Kritik an den Verhältnissen im eigenen Land, die zu einer Mythologisierung der Guerillabewegungen und emotionalen Identifikation mit dem bewaffneten Kampf in Ländern führte, »wo scheinbar klare Fronten« bestanden 78 , löste eine sachliche Wahrnehmung und häufig intensive Beschäftigung mit der Kultur und politischen Geschichte Lateinamerikas ab.

IV Rückkehr - das Ende des Exils?79 Das Recht auf Rückkehr (»El Derecho a Vivir en la Patria«)80 wurde in Chile seit dem Jahr 1979 ein Thema. In diesem Jahr wurde in Santiago von Angehörigen der Flüchtlinge das »Komitee für die Rückkehr der Exilierten« gegründet. In den beiden darauffolgenden Jahren forderten Menschenrechtsorganisationen und die chilenische Bischofskonferenz verstärkt das Ende des Exils. Die Militärdiktatur reagierte auf diese Forderung, die Jahre später auch von Politikern der konservativen Parteien unterstützt wurde, widersprüchlich, wobei immer wieder die allgemeine wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes den Ausschlag für Veränderungen gab. So rief die chilenische Regierung zur Verbesserung ihres außenpolitischen Images im Jahr

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1982 eine hochrangig besetzte Kommission ins Leben, welche die Rückkehr der Exilierten überprüfen sollte und diese zugleich mit der Abgabe einer Erklärung verband, die Militärregierung als legitim anzuerkennen. Weihnachten 1982 gab die Kommission ein erstes Ergebnis ihrer Uberprüfungen bekannt: Eine Liste mit den Namen von 125 Exilierten, die zurückkehren durften, wurde veröffentlicht. Damit war die Tätigkeit der »Kommission für die Rückkehr der Exilierten« bereits beendet: Künftig sollte die Erlaubnis zur Rückkehr vom Innen- und Justizministerium bearbeitet werden. 81 Im Jahr 1983 wurden fünf weitere Listen mit insgesamt 397 Namen veröffentlicht, die keine im politischen Leben bekannte und relevante Persönlichkeiten enthielten. 82 Eine formale Anerkennung der Militärregierung wurde nun nicht mehr gefordert. Bis Ende Oktober 1983, als das Listenverfahren abgeschafft wurde, waren weitere 3.500 Namen veröffentlicht worden. Seither mußten Rückkehranträge, über die das Innenministerium entschied, bei der Chilenischen Botschaft oder dem Konsulat im jeweiligen Aufenthaltsland gestellt werden. Die Personen, die zuvor auf den Listen aufgetaucht waren, wurden nun allerdings — unter starkem Protest der Opposition und der Durchführung eines dreitägigen Hungerstreiks seitens des Rückkehrkomitees - erneut überprüft. Hinzu kam, daß weiterhin Oppositionelle ausgewiesen bzw. an der Einreise gehindert wurden. 8 3 Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und dem Anwachsen der Oppositionsbewegung reagierte die Militärregierung in den Jahren 1983/84 mit einer Mischung aus brutaler Repression und politischen Zugeständnissen. In diesem Rahmen erschien auch die siebte, bis dahin längste Liste mit 1.190 Namen, die erstmals einige prominente Politiker verzeichnete. Umgekehrt löste das »Listenverfahren«, das von Menschenrechtsorganisationen verurteilt wurde, zugleich die Forderung aus, eine Liste der Exilierten zu veröffentlichen, die weiterhin mit einem Verbot der Rückkehr bestraft werden sollten. Im September 1984 wurde eine Negativliste mit 4.942 Namen bekannt, die von der Regierung den internationalen Fluggesellschaften übergeben wurde, um den Verkauf von Flugtickets nach Chile an diesen Personenkreis zu verhindern. Diese Negativliste blieb, mit vielen Modifikationen, bis Mitte des Jahres 1986 bestehen. 84 Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Pinochet im September 1986 untersagte das Regime erneut generell die Rückkehr aus dem Exil. Nur einige Monate später - in der Neujahrsbotschaft 1987 - kündigte der Diktator die Aufhebung des Ausnahmezustands und andere Demokratisierungsmaßnahmen an. Sie waren als Vorbereitung des für April 1987 vorgesehenen Besuchs des Papstes und des für 1988 geplanten Plebiszits zu verstehen. Grundsätzlich sollten nun die meisten Exilierten eine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten und das Listensystem wurde wieder aktiviert. Verhältnismäßig schnell wurde nun die Verbotsliste bis Ende Mai 1987 auf 660 Personen

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reduziert. Unabhängig davon gab es noch zu diesem Zeitpunkt Elemente der Willkür im Zusammenhang mit der Einreise von Exilchilenen. Im Rahmen der Wahlkampagne zum Plebiszit am 5. Oktober wurde schließlich am 1. September 1988 fast allen Exilierten die Rückkehr erlaubt. In engem Zusammenhang mit der Entwicklung in Chile entstanden in der Bundesrepublik zahlreiche Rückkehrkomitees, die im Jahr 1983 ihr erstes bundesweites Treffen organisierten. Im Jahr 1984 wurde das Deutsch-Chilenische Solidaritäts- und Rückkehrkomitee e.V. gegründet, die Schirmherrschaft übernahmen Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und anderen Bereichen. Das Komitee gab unter anderem ein Boletín Informativo heraus und organisierte zahlreiche Seminare zur Vorbereitung auf die Rückkehr, letzteres in enger Zusammenarbeit mit dem von Exilchilenen geleiteten, 1979 gegründeten »Psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge« in Frankfurt am Main, das auch den Anstoß zur Gründung des Komitees gegeben hatte. In Verhandlungen mit unterschiedlichen Institutionen erreichte das Komitee die Einrichtung von verschiedenen Hilfsprogrammen für die Rückkehrer. Im Oktober 1987 fand in Münster das 4. Internationale Treffen der Rückkehrer statt, an dem chilenische Organisationen aus dem westeuropäischen Exil und aus Chile teilnahmen. Nach der Wiedervereinigung arbeitete das Komitee auch mit Exilierten aus der ehemaligen D D R zusammen. Das Komitee löste sich im Juni 1991 auf. In Chile wurde auf Beschluß des Nationalkongresses am 14. August 1990 die »Oficina National de Retorno« gegründet, die Programme für Rückkehrer entwerfen und die Arbeit privater und öffentlicher Institutionen koordinieren sollte. Ein großer Teil der Rückkehrer wandte sich an das Büro und darüber an andere Einrichtungen; es wurde im August 1994 geschlossen. Finanzielle Unterstützung konnten Rückkehrer unter anderem über das »Intergovernmental Comittee for Migration« (ICM) 85 beziehen. Wenn es sich auch nicht um speziell für die Chile-Flüchtlinge entwickelte Programme handelte, gewannen doch zwei der Programme der ICM für chilenische Rückkehrer größere Bedeutung, das ROT/LARAP- und das REAG-Programm. Das ROT/LARAP (»Return ofTalents/Latin America Reintegration Assistence Program«) wurde von der Bundesregierung finanziert und in Zusammenarbeit mit der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung durchgeführt. 86 Es setzte voraus, daß die Bewerber zwölf Monate in der Bundesrepublik studiert bzw. mehrere Jahre dort gearbeitet hatten. Hauptziel des Programms war die Vermittlung eines Arbeitsplatzes. Wenn dies gelang, konnten weitere Hilfen in Anspruch genommen werden: Zuschüsse zu den Reisekosten, Beihilfe zu den Gepäck- und Transportkosten, ein Gehaltskostenzuschuß für maximal ein Jahr sowie eine Unfall- und Krankenversicherung für den Programmteilnehmer und seine Familie (im 1. Jahr 50% der Prämie). Das REAG-Programm (»Reintegration and Emigration Program for

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Asylumseekers in Germany«) wendet sich an Flüchtlinge, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren bzw. in ein Drittland auswandern wollen. Hier werden folgende Hilfen gewährt: Übernahme der Beförderungskosten, ein Beitrag für den Gepäcktransport, weitere Reisebeihilfen. Das Programm geht davon aus, daß Asylberechtigte bei Inanspruchnahme der Hilfe auf ihr Asylrecht verzichten. Von besonderer Bedeutung für die Chile-Rückkehrer aus der BRD war auch ein Programm zur Unterstützung von Existenzgründungen, das von der Bundesregierung über die Deutsche Ausgleichsbank ins Leben gerufen wurde. Die Bank stellte im Jahr 1990 unter günstigen Bedingungen 10 Millionen Mark zur Verfügung (2% Zinsen, 30 Jahre Laufzeit, die ersten 10 Jahre tilgungsfrei). Die chilenische Regierung erhöhte den Fonds nicht nur um die von ihr geforderten 10 Millionen Mark, sondern um 50 Millionen Mark, und dehnte das Programm auch auf Rückkehrer aus, die nicht in der BRD im Exil gelebt hatten. Die Verwaltung des Fonds wurde der chilenischen Staatsbank übertragen, welche die Kredite allerdings unter viel härteren Bedingungen weitergab (nämlich nicht in chilenischen Pesos, sondern in einer Indexwährung, die zu Zinsen zwischen 10% und 2 0 % führten, acht Jahre Laufzeit, sechs Monate tilgungsfrei). Diese Bedingungen sowie in vielen Fällen das Fehlen einer unternehmerischen Ausbildung führten dazu, daß heute rund 500 der in dieses Programm aufgenommenen Rückkehrer vor dem Nichts stehen. Immer wieder berichten deutsche und chilenische Medien über die Probleme dieses Personenkreises. 87 Nach Angaben der OIM und des U N H C R kehrten bis 1989 insgesamt 5.771 Exilierte aus unterschiedlichen Ländern nach Chile zurück, danach erhöhten sich die Zahlen beträchtlich, bis sie seit 1995 wieder deutlich zurückgingen. 88 Unter ihnen befanden sich in den Jahren 1989/90 161 Rückkehrer aus der ehemaligen D D R und 244 aus der BRD. Zwischen 1991 und 1994 folgten weitere 482 Exilierte aus dem gesamten Bundesgebiet, davon allerdings im Jahr 1994 nur noch 10; für 1995 ist nach Angaben der OIM kein Rückkehrer aus der Bundesrepublik mehr zu verzeichnen. 89 Die Probleme der Rückkehrer sind nicht nur materieller Art. Die Exilchilenen haben lange Jahre in anderen Kulturkreisen gelebt und kamen in ein Land zurück, das für sie kaum wiederzuerkennen war. Nicht wenige Rückkehrer, die mit den veränderten Lebensbedingungen nicht zurechtkommen und denen es nicht gelingt, sozial und wirtschaftlich Fuß zu fassen, kehren in ihre Asylländer zurück, so auch in die Bundesrepublik Deutschland. Die Rückkehr bedeutet für viele nicht das Ende des Exils. Dieser Abschnitt des chilenischen Exils ist zwar denjenigen bekannt, die weiterhin Kontakt zu Exilchilenen haben, spielt jedoch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit keine Rolle mehr. Für sie endete das chilenische Exil mit dem Wahlsieg der »Concertaciön« im Jahr 1989.

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1 Vgl. Benjamin Subercaseaux: Chile - una loca geografía. Santiago 1940. — 2 Pablo Neruda: »Exil«. In: Ders.: Memorial von Isla Negra. Hg. von Karsten Garscha. Darmstadt - Neuwied 1985, S. 1 2 5 - 1 2 7 , hier S. 127. — 3 Vgl. die umfangreiche Beilage in der größten chilenischen Tageszeitung El Mercurio, »El Paciente >Inglés«< ( 2 8 . 1 0 . 1 9 9 8 ) . — 4 Vgl. besonders Volker Skierka/Wolfgang Uchatius: Dossier »Aus Opfern werden Jäger«. In: Die Zeit, 3 . 1 2 . 1 9 9 8 ; Carlos Fuentes: »Viva Chile, mierda!«. In: Die Zeit, 2 6 . 1 1 . 1 9 9 8 ; zuletzt vor den Präsidentschaftswahlen, die der Sozialdemokrat Ricardo Lagos am 16. 1.2000 gewonnen hat, Walter Haubrich: »Zehn Jahre seit dem »Wiedersehen mit der Demokratien. In: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1 5 . 1 . 2 0 0 0 . — 5 Vgl. Peter Nonnenmacher: »Der Mann gehört vor Gericht — nicht heim nach Chile« sowie Ders./Romeo Rey: »London will Pinochet freilassen«. In: Frankfurter Rundschau, 1 3 . 1 . 2 0 0 0 . — 6 Carlos Fuentes: »Viva Chile, mierda!« (s. Anm. 4). — 7 Vgl. u.a. Sergio Grez/Gabriel Salazar (Hg.): Manifiesto de Historiadores. Santiago 1999. — 8 Vgl. ebd., S. 9. Das Manifest wurde zuerst in der Presse veröffentlicht, in: La Segunda ( 2 . 2 . 1 9 9 9 ) , La Nación (4. und 5 . 2 . 1 9 9 9 ) , El Siglo ( 5 . - 1 1 . 2 . 1 9 9 9 ) , Punto FinalCh• - 18.2. 1999). — 9 Vgl. Sergio Grez/Gabriel Salazar (Hg.): Manifiesto de Historiadores (s. Anm. 7), S. 8. — 10 Die »Unidad Populär« war zu diesem Zeitpunkt ein Bündnis bestehend aus der Sozialistischen Partei (PS), der Kommunistischen Partei (PC), der Radikalen Partei (PR) / Mitglied der Sozialistischen Internationalen und den kleinen Organisationen: M A P U (eine Abspaltung der Christdemokratischen Partei), Unabhängige Volksaktion (API) und Sozialdemokratische Partei (PSD). — 11 Ausführlich zum Thema in deutscher Sprache u .a. Dieter Nohlen: Chile. Das Sozialistische Experiment. Hamburg 1973; Arno M ü n ster: Chile - Friedlicher Weg. Historischer Bericht und politische Analyse. Berlin 1972; Dieter Boris u.a.: Chile auf dem Weg zum Sozialismus. Köln 1971; Heinz Rudolf Sonntag: Revolution in Chile. Frankfurt/M. 1972. — 12 Vgl. das Regierungsprogramm der »Unidad Populär« (Allgemeiner Teil). In: Chile Zeitung, Jg. 1 (Berlin 1973), zit. nach Dieter Gawora: »Lateinamerika hier: Zur Entwicklung der internationalen Solidaritätsarbeit in der Bundesrepublik«. In: Entwicklungsperspektiven 9/10, Gesamthochschule Kassel, FB 6, 1983. — 13 Die Rolle der »Poder Populär« (Volksmacht) war ein wichtiger Diskussionspunkt innerhalb der »Unidad Populär« und der gesamten chilenischen Linken während und nach der Regierung Salvador Allendes. — 14 Vgl. u.a. Oscar Soto: El último día de Salvador Allende. Santiago 1999, S. 58. — 15 Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der chilenischen Militärjunta (Hg.): »Dokumente des Tribunals von Helsinki«. In: kürbiskern No. 3 (1974), S. 154. — 16 James F. Petras/Morris H. Morley: La conspiración yanqui para derrocar a Allende. Mexiko D. F. 1974. — 17 Eine spanische Fassung erschien viele Jahre danach in Chile: Cristian Opaso (Hg. und Übersetzer): Frei, Allende y la mano de la CIA. Informes del Senado de los Estados Unidos. Santiago o. J. — 18 Vgl. Hernán Millas: Anatomía de un Fracaso. (La experiencia socialista chilena). Santiago 1973, S. 6. — 19 Vgl. ebd., S. 158. — 2 0 Das beste Wahlergebnis der »Unidad Popular« wurde bei den Kommunalwahlen 1971 erreicht (50,2%, die Stimmen einer kleinen linken Splittergruppe mit einbezogen); bei den Parlamentswahlen im Juni 1973 waren es 4 3 , 4 % , 7 % mehr als bei den Präsidentschaftswahlen 1970. — 2 1 Zu einer detaillierten Analyse der 41 Erlasse der ersten Tage der Militärdiktatur vgl. Manuel Antonio Garretón u. a.: Por la fuerza sin la razón. Análisis y textos de los bandos de la dictadura militar. Santiago 1998. Im Original heißt es: »(...) serán objeto de un ataque definitivo de las fuerzas armadas y los carabineros.« — 2 2 Vgl. ebd. — 2 3 Vgl. Heinrich-W. Krumwiede/Detlef Nolte: Chile: Auf dem Rückweg zur Z>7W0&raft>.;Baden-Baden 1988, S. 43. — 2 4 Im Original heißt es: »(...) ideología dogmática y excluyente inspirada en los principios foráneos del marxismo-leninismo«. Vgl. Garretón u.a.: Por la fuerza sin la razén (s. Anm. 21), S. 15. — 2 5 Die M I R gehörte nicht zur »Unidad Populär«, da sie davon ausging, daß tiefgreifende Veränderungen nicht auf friedlichem Weg durchzusetzen waren. — 2 6 Zit. nach Patricio Manns: Chile: Una dictadura militar permanente (1811 —1999). Santiago 1999, Anhang No. 1. — 2 7 Vgl. »Chile - so fern - so nah. Eine Dokumentation über 25 Jahre Chile-Solidaritätsbewegung«. In: Sonderausgabe der Solidaridad Münster, Sept. 1999, S. 14. — 2 8 Vgl. Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der chilenischen Militärjunta (Hg.) (s. Anm. 15), S. 156. — 2 9 Amnesty International. Sektion der Bundes-

Chilenische Exilanten in der Bundesrepublik Deutschland ( 1 9 7 3 - 1 9 8 9 )

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republik Deutschland e. V. (Hg.): Briefe und Dokumente. Chile. Frankfurt/M. 1976 (Vorwort). — 30 Vgl. Detlef Nolte: »Menschenrechte und politischer Wandel in Chile«. In: Lateinamerika: Analysen — Daten — Dokumentationen. Hamburg 1989, S. 34, sowie unter Bezug auf Nolte: Bettina Sluzalek: »Das zweite Exil. Die Reintegration chilenischer Rückkehrer im Zuge der Demokratisierung in Chile unter besonderer Berücksichtigung von Frauen«. In: AUSZEIT 37, Jg. 36 (1999) Nr. 1/2, S . 2 5 . — 31 Vgl. Gonzalo Piwonka: »Los derechos humanos en los gobiernos de Frei Montalva, Allende y Pinochet«. In: Luis Vitale u.a.: Para recuperar la memoria histórica. Frei, Allende y Pinochet. Contribución a la propuesta del senado para la historia de los últimos 30 años de la historia de Chile. Santiago 1999, Tabelle No. 1, S . 4 7 4 . — 3 2 Vgl. die Zusammenfassungen Informe de la Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación. Resumen. Santiago, febrero de 1991 ; Síntesis del Informe de la Comisión Nacionalde Verdad y Reconciliación. Para creer en Chile. Campana Nacional de Educación por la Verdad y los Derechos Humanos. Ed. por la Cornisón Chilena de Derechos Humanos y el Centro IDEAS. Santiago 1991. Dazu Roberto Garreton: »Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile während der Militärdiktatur — ein Jahr danach«. In: Jaime Ensignia/Detlef Nolte (Hg.): Modellfall Chile? Ein Jahr nach dem demokratischen Neuanfang. Hamburg 1992. — 33 Vgl. Comisión chilena de derechos humanos / Fundación Ideas: Nunca más en Chile. Síntesis corregida y actualizada del Informe Rettig. Santiago 1999, S. 230 f. — 34 Vgl. Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit«. In: Cornelia Schmalz-Jacobsen: Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. München 1995, S. 1 0 6 - 1 1 9 , hier S. 107. — 35 Ebd., S. 107. — 36 Herbert Spaich: »Demontage eines Grundrechts«. In: Ders. (Hg.): Asyl bei den Deutschen. Beiträge zu einem gefährdeten Grundrecht. Hamburg 1982, S . 4 0 —75, hier S. 44. — 3 7 Ebd., S. 45 ff. — 38 Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 108; Neue Zürcher Zeitung, 2 2 . 3 . 1 9 7 4 . Zu den Aktivitäten des Verfassungsschutzes vgl. auch Spaich: »Demontage eines Grundrechts« (s. Anm. 36), S. 45- — 39 Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 109. — 40 Ivan Quintana M./Heiner Rosendahl: Für das Recht, in der Freiheit zu leben. Rückkehr und Reintegration chilenischer Flüchtlinge. Ein Handbuch. Hg. vom World University Service e.V. und Servicio Universitario Mundial, Comité Alemania in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Chilenischen Solidaritäts- und Rückkehrkomitee e.V. Wiesbaden 1987, S. 14. — 41 C I N T R A S (Hg.): Derechos Humanos, Salud Mental, Atención Primaria: Desafio Regional. Santiago 1992, S. 95; Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 111. — 4 2 Dazu Bettina Sluzalek: Das zweite Exil (s. Anm. 30), S. 88 und S. 123. — 4 3 Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 111, weist daraufhin, daß es bisher keine detaillierten Angaben zur sozialen und beruflichen Herkunft der Chile-Flüchtlinge gibt. — 4 4 Mit Chile beschäftigten sich - ohne daß wir uns hier näher mit dem Begriff »links« auseinandersetzen können - : die maoistischen Gruppen (KPD u. a), die trotzkistische »Gruppe Internationaler Marxisten« (GIM), die DKP und ihre Partnerorganisationen, die J U S O S und Teile der SPD. — 45 Vgl. Peter Wahl: »Die Chile-Solidaritätsbewegung - Entwicklung, Probleme, Perspektiven«. In: 10 Jahre Militärdiktatur. Für Chiles Freiheit. Kongreßreader ( 2 4 . - 2 6 . Juni 1983). Münster 1983, S. 2 8 8 - 2 9 3 , hier S . 2 8 8 . — 46 Zur Geschichte der Solidaritätsbewegung vgl. Werner Balsen/Karl Rössell: Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte Welt-Bewegung in der Bundesrepublik. Köln 1986. — 4 7 Peter Wahl: »Die Chile-Solidaritätsbewegung« (s. Anm. 45), S. 289; Barbara Imholz: »Die Chile-Solidaritätsbewegung in der BRD«. In: ila. Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika Nr. 166 (1993), S. 51 - 5 3 , hier S. 51. — 48 Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail (1946-1995). Bd. 1 - 3 . Hamburg 1998. — 49 Peter Wahl: »Die ChileSolidaritätsbewegung« (s. Anm. 45), S. 291. — 50 Werner Balsen/Karl Rössell: Hoch die internationale Solidarität (s. Anm. 46), S . 3 1 9 . — 51 Ebd., S . 3 2 3 . Peter Wahl: »Die Chile-Solidaritätsbewegung« (s. Anm. 45), S . 2 8 8 spricht von 120 lokalen Komitees. — 52 Barbara Imholz: »Die Chile-Solidaritätsbewegung« (s. Anm. 47), S. 52. — 53 Ebd. — 54 Werner Balsen/Karl Rössell: Hoch die internationale Solidarität (s. Anm. 46), S. 345. — 55 Vgl. DGB-Chile Solidarität (Hg.): Chile kämpft. Info. September 1983. Frankfurt/M. 1973. Zur chilenischen Gewerkschaftsbewegung vgl. die Literaturangaben bei Krumwie-

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Irmtrud Wojak/ Pedro Holz

de/Nolte: Chile-Aufdem Rückwegzur Demokratie? (s. Anm. 23), S. 101. — 5 6 Ebd., S. 354. — 57 Vgl. den in Anm. 45 genannten Reader zum Kongreß »10 Jahre Militärdiktatur«. — 58 Hier beteiligten sich MAPU, M A P U - O C , MIR, PC, PR, PS, PS (cnr), PS (XXIV Kongreß), Renovación Socialista und der unabhängige chilenische Wissenschaftler Fernando Mires. Die Diskussionen und Dokumente wurden publiziert von Wolfgang Braun u. a. (Hg.): Positionen der chilenischen Linken. Duisburg 1984. — 5 9 Peter Wahl: »Die Chile-Solidaritätsbewegung« (s. Anm. 45), S. 290 f. — 6 0 Dazu Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 114f. und 117f. — 61 Vgl. Detlef Nolte: »Chile: Demokratischer Konsens und die Last der Vergangenheit«. In: Joachim Betz/Stefan Brüne/Deutsches Ubersee-Institut (Hg.): Jahrbuch Dritte Welt 1995• Daten, Übersichten, Analysen. München 1994, S. 190 ff., hier S. 199. — 6 2 Martin Franzbach: »Im Schatten der Geschichte(n). Lateinamerikanische Autorinnen in Deutschland«. In: ila. Zeitschrifi der Informationsstelle Lateinamerika Nr. 170 (November 1993). — 6 3 Antonio Avan'a, Nora Becker-Burgos, Carlos Briones, Cristián Cortés, Pedro Holz, Carlos Lira, Manuel Miranda, O m a r Saavedra-Santis, Luis Sepúlveda, Antonio Skármeta, Hernán Valdés und Sergio Vesely. — 6 4 Gaby Küppers: »Lateinamerikanische Literatur aus Deutschland«. Vortrag an der Evangelischen Akademie Iserlohn am 14. Januar 1995 (Mskr.). Die Autoren sind Orlando Mardones und Carlos Cerda. — 65 Peter Lehmann (Theaterautor und Schauspieler), Alejandro Lizana, Andrea MeissnerGraumann, Iván Tapia, Sergio Villarroel, Pablo Yáñez. — 6 6 Vgl. »Junge chilenische Exilliteratur in der DDR«. In: Temperamente. Blätter für junge Literatur Vio. 3 (1980), S. 2 - 7 7 . — 6 7 Veröffentlichungen in deutscher Sprache u.a. Luis Sepúlveda: Der Alte, der Liebesromane las. Frankfurt/M. 1991 (Orig. 1989) und Die Welt am Ende der Welt. Frankfurt/M. 1992 (Orig. 1989). — 68 »Ich fühle mich in keiner Herde wohl«. Interview mit Luis Sepúlveda. In: ila. Zeitschrifi der Informationsstelle Lateinamerika Nr. 170 (November 1993), S. 18 und 20. — 6 9 Gaby Küppers: »Lateinamerikanische Literatur aus Deutschland« (s. Anm. 64), Mskr. o. S. — 70 Vgl. Irmtrud Wojak: Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933-1945• Berlin 1994. — 71 Dazu Bettina Sluzalek: Das zweite Exil(s. Anm. 30), S. 94 f. — 7 2 Barbara Issel: »Die chilenische Minderheit« (s. Anm. 34), S. 114. — 7 3 Vgl. die Kurzgeschichte von Pedro Holz: »Die letzte Empanada«. In: ila. Zeitschrifi der Informationsstelle Lateinamerika'Nt. 174 (1994), S. 30 sowie ila Nr. 200 (1996), S. 94. — 7 4 Uli Simon: Septembertage/Días de Septiembre. Bremen 1998, S. 1 57. — 75 Gert Eisenbürger (Hg.): Lebenswege. 15 Biographien zwischen Europa und Lateinamerika. Hamburg 1995. — 7 6 Ebd., S. 178. — 7 7 Vgl. Bettina Sluzalek: Das zweite Exil (s. Anm. 30), S. 96 f. — 7 8 Peter Wahl: »Die Chile-Solidaritätsbewegung« (s. Anm. 45), S. 291 - — 79 Dieser Abschnitt stützt sich auf die Arbeit von Barbara Issel: Zur Problematik von Exil und Rückkehr chilenischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 1990; auf diese Arbeit stützt sich auch Bettina Sluzalek, Das zweite Exil (s. Anm. 30). — 80 Vgl. Anm. 40 in diesem Beitrag. — 81 Zusammenfassend Bettina Sluzalek: Das zweite Exil {s. Anm. 30), S. 125 f. — 8 2 Ebd., S. 126. — 8 3 Ebd., S. 126 f. — 84 Ebd., S. 127. — 8 5 Es handelt sich um eine zwischenstaatliche Behörde, der 32 Länder angehören. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als »Intergovernamental Committee for European Migration« (ICEM) gegründet. — 8 6 Vgl. Bettina Sluzalek: Das zweite Exil(s. Anm. 30), S. 135 f. — 8 7 Vgl. Antje Weber: »Keine Chance zur Wiedereingliederung. Zahlreiche Rückkehrer sind völlig ruiniert«. In: Solidaridad Jg. 20 (November/Dezember 1999) No. 205, S. 9 - 1 0 . — 88 Bettina Sluzalek: Das zweite Exil(s. Anm. 30), S. 140, nennt folgende Zahlen der O I M : 1989/1.381, 1990/2.132, 1 9 9 1 / 1 . 6 9 2 , 1 9 9 2 / 1 . 7 6 8 , 1993/2.926, 1994/1.790, 1 9 9 5 / 6 7 5 , Gesamt 1 9 8 9 - 1 9 9 5 : 12.364. — 89 Vgl. die Tabellen mit den Rückkehrerzahlen ebd., S. 233 ff.

Shi M i n g

»Wenn mir die Heimat genommen ist, denke ich mir eine neue« Ein Versuch zum Bild der Exilanten aus C h i n a in den neunziger Jahren

I Ist es möglich, Exilanten zu definieren? Schwierig ist es, jene G r u p p e von Chinesen zu beschreiben, die streng dem westlich geprägten Begriff »Exilant« entspricht. Die Schwierigkeit fängt schon damit an, daß die meisten Chinesen - obwohl alle in Gesprächen mit dem Autor dieses Berichts betont haben, ihr Verbleiben in Europa ab 1989 sei mehr oder minder politisch motiviert — nicht in der Lage sind nachzuweisen, daß ihre Verfolgung der einzige G r u n d war, warum sie in die Fremde gegangen bzw. in der Fremde geblieben sind. Die Tatsache, daß beispielsweise die meisten der seit 1989 in Deutschland lebenden Chinesen kein Asyl beantragt haben, macht selbst eine »amtliche« Erkennung der Exilanten unmöglich. Abgesehen von der Novellierung des deutschen Ausländergesetzes 1991 mit ihrer Aufweichung der Asylgewährung gaben die meisten befragten Chinesen als G r u n d , warum sie kein Asyl beantragt haben, an, daß ein solcher Schritt wegen der in C h i n a praktizierten Sippenhaft die Familien in der Heimat gefährden könnte. So bestätigt sich auch hier die Brisanz, die dem Wort »Exilant« innewohnt, sofern dieser westlich geprägte Begriff auf Menschen angewandt wird, die aus C h i n a geflohen oder ihm ferngeblieben sind. Ausgangspunkt für die folgenden Betrachtungen ist das Massaker auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) im Stadtzentrum der chinesischen Hauptstadt Beijing (Peking) in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989. In der Bundesrepublik gab es kurz nach dem Massaker verschiedene Sonderregelungen der Innenministerkonferenz, nach denen Chinesen, die sich wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, ihrer Unterstützung der Studentenbewegung oder wegen Protests gegen die Repressionen der chinesischen Regierung politisch exponiert hatten, bis auf weiteres in Deutschland geduldet würden. Die ihnen erteilte »Aufenthaltsbefugnis« 1 m u ß in der Regel alle zwei Jahre verlängert werden. Zur Beurteilung, wer Exilant und wer Emigrant ist, taugt diese B e s t i m m u n g ebensowenig wie das Asylrecht. Auch chinesische Definitionen führen nicht weiter. N a c h einem internen Zirkular des Zentralkomitees der K P Chinas v o m Oktober 1989 2 macht die chinesische Administration die Unterscheidung zwischen »chuzou« (sich ent-

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fernen, etwa von offiziellen Aufträgen bei den im Ausland lebenden Chinesen) und »pantao« (Landesverrat) davon abhängig, ob ihre Bürger um Hilfe bei ausländischen, meist westlichen Staaten gebeten haben oder nicht. Die Beantragung einer »Aufenthaltsbefugnis« ist, auch wenn dies nicht immer nachzuweisen ist, bereits ein gefährlicher Schritt, der in China eng mit Diskriminierungen oder gar Repressalien verbunden ist. Z u m Beispiel berichteten Chinesen, die in den neunziger Jahren zeitweilig wieder nach China zurückgekehrt waren, um dort Arbeit zu suchen, daß ihre in Deutschland erhaltene Aufenthaltsbefugnis als Beleg für »wenig patriotische Gesinnung« verstanden u n d dementsprechend gehandelt wurde: Sie durften bestimmte Arbeiten nicht ausüben oder wurden bei gleichen Leistungen benachteiligt. Wie groß die Gesamtzahl der in Europa lebenden Chinesen ist, wann sie gekommen sind und welche Ursachen dafür maßgebend waren, darüber gibt es keine genauen Daten, nicht einmal verläßliche Schätzungen. Der größte Teil der in diesem Bericht vorzustellenden Exilanten ist »freiwillig«, vorbeugend nach Europa gekommen oder 1989 in Europa geblieben. Die meisten von ihnen — etwa 80 Prozent — waren Studenten oder Austauschakademiker. Unter denjenigen, die bereits vor dem Massaker nach Europa gekommen waren, gab es auch einige Emigranten im üblichen Sinne. Sie waren gekommen, weil sie hofften, ökonomisch und sozial in Europa Fuß fassen zu können. Nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob dies aus Zwang oder freiem Willen geschah; auf die Unterdrückung in China angesprochen, antworteten die meisten von ihnen: »Ach ja, die gab es aber schon immer. Das ist nichts Neues.« Angesichts der Tatsache, daß nach Schätzungen der chinesischen Staatlichen Erziehungskommission aus dem Jahr 1991 die Mehrheit der chinesischen Auslandsstudenten unverheiratet war und daß nach 1992, vor dem Hintergrund einer partiellen politischen Lockerung in China, laut chinesischen Medien diejenigen, die ins europäische Ausland gingen, vorher sich scheiden lassen wollten, ist davon auszugehen, daß der Wunsch zur Emigration für viele Chinesen der neunziger Jahre zum individuellen Lebensplan gehörte. Für alle Migrantengruppen ist zu berücksichtigen, daß China seit dem letzten Jahrhundert gegenüber dem westlichen Ausland in der Rolle des »Lernenden« war und daß dies junge Chinesen bis heute motiviert, für einige Zeit in die USA, nach Kanada, Japan, Australien oder Neuseeland zu gehen, um für den Modernisierungsprozeß in China besser gewappnet zu sein. Diese für Entwicklungsländer typische Erscheinung gilt auch für die »echten« Exilanten, weil ihr Zufluchtsland eine willkommene Gelegenheit zum Lernen darstellt, nicht zuletzt im Hinblick auf demokratische Werte, persönliche Freiheiten, moderne Kommunikationsmuster oder die Marktwirtschaft. Aber auch für diejenigen Chinesen, die zuvor im öffentlichen Auftrag zur Aus- und Fortbildung nach Deutschland und in andere westliche Länder

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gekommen waren und an die vom Heimatland die Erwartung geknüpft wurde, bessere Ingenieure, Wissenschaftler usw. zu werden, konnten solche Erfahrungen häufig zur lebensgeschichtlichen Zäsur werden.

II Zwischen Exilanten und Emigranten - eine fließende Grenze? Freilich gibt es noch andere Schwierigkeiten, Exilanten aus China zu definieren. Die meisten vom Autor dieses Berichts Befragten baten um Vertraulichkeit; in vielen Fällen wollten sie nicht einmal ihre Pseudonyme preisgeben aus Angst vor vermuteter oder tatsächlicher Bespitzelung durch den chinesischen Überwachungsapparat in Ubersee. Deshalb m u ß hier auf die Angabe identifizierbarer Daten wie W o h n o r t der Befragten, Zeitpunkt u n d G r ü n d e der Ausreise aus China usw. verzichtet werden. Dennoch soll wenigstens der Versuch gemacht werden, einige nachprüfbare Tatsachen und Kriterien - mit allen Vorbehalten freilich - zu umreißen: Mit chinesischen Exilanten der neunziger Jahre sind diejenigen Menschen gemeint, 1. die sich explizit oder anonym in Gruppen gegen die Regierungsorgane in China gewandt haben und denen Bestrafung wegen Landesverrats (pantao) drohte; 2. die aus Angst vor Verdächtigung wegen irgendwelcher politisch ungern gesehener Taten im Ausland, wegen dortiger Äußerungen oder allzu großer Nähe zur ausländischen Öffentlichkeit —etwa Journalisten, Literaten, Künstler usw. - in der Fremde blieben, um sich auf eine Art Leben im Sinne von »watch and go« einzurichten; 3. die anfangs nur beabsichtigt hatten, mit im Ausland erworbenen Kenntnissen ein besseres Leben in China führen zu können, sich dann aber — aus welchen Gründen auch immer - zum Bleiben entschieden haben (chuzou). Insbesondere das Interview mit einer chinesischen Familie in einer westdeutschen Stadt legt nahe, was mit dem chinesischen Amtsbegriff »chuzou« gemeint ist u n d welche Bedeutung er für das Schicksal der in der Fremde Lebenden hat. Eins der vom Autor befragten Familienmitglieder gab an: Anfangs wollte man, da man mit einem Stipendium einer der größten deutschen Stiftungen zur Fortbildung nach Deutschland gekommen war, mit dem erworbenen Wissen weitere Lebensziele erreichen, wie höhere Anerk e n n u n g im Beruf als wissenschaftlich-technischer Entscheidungsträger; größere Wohnungen, die in China immer an die amtlich geschätzte Wichtigkeit der Funktionen gekoppelt sind; bessere Ausbildung der Kinder, die ähnlich wie die Wohnungszuteilung eine Sache des administrativen Ranges ist. Aber, so führte ein weiteres Mitglied der Familie fort, nach d e m Massaker habe man erkannt, daß dieser Glaube ein Irrweg sei. Warum, so fragte

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sich die interviewte Person, müsse m a n sich z u m Sklaven machen lassen, wenn hierzulande wenigstens eines möglich erscheine, nämlich d a ß jeder nach seinen Anstrengungen und seiner Leistungsfähigkeit ein ungestörtes Leben führen könne? Zur Aussicht auf H e i m k e h r befragt, gab die Familie zur Antwort: Ja, man glaube im allgemeinen an Heimkehr und habe den W i l l e n dazu; man habe große Sehnsucht nach der Heimat. Aber das setze voraus, daß C h i n a demokratisch werde. W e n n eines Tages dies alles, was m a n in der Fremde erlebe, auch in C h i n a möglich werde, w a r u m nicht? A n d e rerseits hatte man aber keine Vorstellung, wann und wie C h i n a d e m o k r a tisch werden und unter welchen U m s t ä n d e n der in Deutschland erlebte Zustand dort Wirklichkeit werden würde. Das Beispiel ist insofern relevant, als es die Diskrepanz zwischen »hierzulande« festgestelltem Idealzustand und »dort« nicht mehr erwarteter, jedoch immer wieder zum Gegenstand der H o f f n u n g gemachter Möglichkeit herausstellt - als Voraussetzung zur Heimkehr, die alle Befragten ohne W e n n und Aber als Ziel angaben. Diese Diskrepanz ist bedeutsam, weil daraus im Vergleich zu Chinesen, die beispielsweise als Restaurantbesitzer oder als Funktionärskinder nach Europa g e k o m m e n sind, andere W a h r n e h m u n g e n resultieren. Die Letzteren, die im üblichen Sinn der Definition »Emigranten« entsprechen, betrachten die chinesische Heimat als stabil und beständig, deshalb berechenbar, um einen biographischen und sozial hierarchischen Vergleich anstellen zu können. Sollte ein Wandel zuhause einkalkuliert werden, dann zum Schlechteren hin. W e n n solche Negativentwicklung nicht einträte, dann frage man sich, sagte d e m Autor eine interviewte Emigrantin, weshalb man C h i n a verlassen habe: »kui le, kui le! (Verlustgeschäft, Verlustgeschäft!).« 3 Solche Vergleiche klangen bei Gesprächen mit jenen, die als »Exilanten« zu bezeichnen sind, nur am Rande an. Zentral für ihre Heimatvorstellung ist die reale Veränderung dort. Die reflexartigen Rückfragen an den Autor lauteten oft: »Willst du, d a ß deine Kinder, so wie du und ich, später wieder nur den Job zugewiesen b e k o m m e n und nie die Wahl haben?« »Ach, was heißt es schon, Hauptabteilungsleiter der Regierung zu werden? Weisungsempfänger sind sie! Ich verdiene hier zwar wenig. Aber ich werde in R u h e gelassen. Ein bißchen einsam, ja. Aber besser als...«

III Zu den Methoden und Befragungen Die Befragungen, Interviews u n d Privatgespräche des Autors, der selbst Exilant ist, fanden zwischen 1990 und 1999 statt. In diesem Zeitraum haben sich die Lebenssituation der Befragten wie auch die Situation in C h i n a sehr stark gewandelt. Einige von ihnen waren wieder in C h i n a , w e n n auch nur

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zu Besuch. Von diesen haben zwei ihre frühere Aussage, sie fühlten sich als Exilanten, korrigiert bzw. gänzlich z u r ü c k g e n o m m e n . Die befragten Personen leben alle in Europa bzw. haben in Europa gelebt; die besonderen Umstände in den USA, w o die Übersee-Opposition C h i n a s am aktivsten ist, aber auch am meisten in sich gespalten, können hier nicht berücksichtigt werden. Als Ausgangsfokus hat der Autor das Massaker Anfang Juni 1989 in Beijing g e n o m m e n , in der Hoffnung, somit die meisten Darstellungen und Selbstdarstellungen miteinander vergleichbar machen zu können. Die meisten Befragten, das heißt von 34 Personen 31, gelangten zwischen 1989 u n d 1993 nach Europa: 15 nach Deutschland, drei nach Frankreich, eine nach Osterreich, acht nach England, zwei nach Holland, zwei nach Skandinavien. Da fast alle Gespräche und Interviews im Arbeitszusammenhang des Autors als Journalist stattfanden, entziehen sich die Befunde einer quantitativen Auswertung wie bei soziologischen Erhebungen. Vielmehr ging es um die Selbstdarstellung einzelner Exilbiographien.

IV Das Massaker als lebensgeschichtliche Zäsur Für alle Befragten zählten die Ereignisse auf d e m Tiananmen-Platz im Juni 1989 zum lebensbestimmenden Ereignis. In einem Interview schilderte eine etwa vierzigjährige Frau: »Ich gehöre der Generation der Kulturrevolution an. Schon damals war ich von der Kommunistischen Partei enttäuscht, weil für mich klar war, d a ß diese Partei eben das nicht macht, was sie verspricht. Aber während der ganzen achtziger Jahre habe ich mir noch gedacht, wenigstens hat diese Partei gelernt, uns kleine Leute im großen u n d ganzen in Ruhe zu lassen. Aber nein! Als ich, die ich zu dem Zeitpunkt, als das Massaker in Beijing passierte, schon in W i e n war, aus dem Fernsehen diese erschütternden Nachrichten erhielt, habe ich mir gleich geschworen, mit dieser Partei will ich nichts mehr zu tun haben. Sie verdient es nicht einmal mehr, mich in R u h e zu lassen! W e i ß t du, mir k o m m e n die Tränen, wenn ich nur daran denke, daß ich von dieser Partei nur in R u h e gelassen werden wollte. Z u m Teufel gehen soll diese Partei!« (Ausdrücklich bat die Frau, dieses Zitat so abzuändern, d a ß daraus nicht auf ihre Identität geschlossen werden kann). Bei einem anderen Gespräch m i t einer Familie bestätigt eine der anwesenden Personen, d a ß das Massaker a m 3. /4. Juni 1989 eine Zäsur im Leben der gesamten Familie war, die anschließend ins Exil ging: »Ich war damals in Beijing. U n d ich war öfters auf d e m Platz des Himmlischen Friedens. Das war nichts Besonderes. Mindestens die Hälfte aller Beijinger waren mindestens einmal da. Deshalb habe ich m i r niemals vorstellen können, daß die Führung es wagen würde, gegen die gesamte Stadtbevölkerung Beijings mit

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Maschinengewehren und Panzern vorzugehen. Ich habe das alles erlebt - in derselben Nacht. D a s war ein Schock fürs Leben, für uns alle. Wer danach immer noch an die K P glaubte, ist selber schuld... Ja, freilich haben die noch lange versucht, mich daran zu hindern auszureisen, weil die sich da nicht so ganz sicher sein konnten, ob ich dabei gewesen war oder nicht. Ja, das mußt du dir einmal vorstellen, jeder, der danach ausreisen wollte, mußte sich eine Unbedenklichkeitserklärung von der Behörde ausstellen lassen. U n d die fordert dann Papiere, so viele, wie d u gar nicht besorgen kannst... Es war bei mir so gewesen, daß alle Kollegen für mich aussagen mußten, sie könnten sich nicht daran erinnern, daß ich im M a i oder A n f a n g Juni jemals auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewesen sei. Allein die Tatsache, daß ab 5. Juni mit einem Schlag alle wie gedruckt lügen mußten, ekelt mich so an... Aber ich war froh, schließlich ausreisen zu dürfen. Z u m Teil auch, weil mein Reiseantrag eigentlich schon vorher genehmigt gewesen war. Er wurde durch den 4. Juni nur zeitweilig storniert.« (Auch hier galt es, persönlich wichtige Daten abzuändern.) Die Beschreibung des Schocks prägte die Interviews auch insofern, als damit zu verstehen gegeben wurde, daß dieses Massaker als verabscheuungswürdiger Einschnitt in der jüngsten Geschichte Chinas alsbald an Flucht denken ließ. Zunächst waren alle, ob in C h i n a selbst, wie der zweite zitierte Interviewte, oder im Ausland, jedoch nur gelähmt. Erst allmählich fingen sie an, sich über die Konsequenzen klar zu werden. Anders eine Chinesin, die ebenfalls erst nach dem Tiananmen-Massaker ins Ausland kam, aber angab, sie sei freiwillig ausgewandert: »Damals war die ganze Stadt Beijing auf den Beinen, das heißt auf d e m Platz des Himmlischen Friedens. N u r ich nicht. Ich wollte ins Ausland. Also riskierte ich dies nicht. G u t , ich war auch mal da, auf dem Platz, aber nicht u m zu demonstrieren, sondern u m meine K o m militonen dort zu besuchen, die da im Hungerstreik waren.« D a die Flucht ins Ausland unmittelbar nach d e m 4. Juni 1989 für die meisten Befragten äußerst m ü h s a m und manchmal gefährlich war, ist die Aussage dieser Migrantin insofern glaubhaft, als selbst die »Freiwilligen« erkannt hatten, daß eine geplante, geschweige denn eine geordnete Ausreise nicht möglich sein würde. A m Günstigsten für die freiwillige Auswanderung war es, sich von dem Grauen nicht verwirren und schockieren zu lassen, indem man sich bedeckt hielt. Andererseits konnte der Schock aber auch zur Flucht als Affekthandlung führen, u m der zu erwartenden Lebensgefahr zu entgehen. D a f ü r ist der Dichter unter dem Kunstnamen D u o D u o ein Beispiel: »Im C h a o s der Stadt hatte ich mich schnell zu einer Dreirad-Rikscha durchgekämpft. Alles kannst D u haben, sagte ich d e m Fahrer, nur schnell zum Flughafen. D o r t angekommen, versteckte ich mich sofort unter lauter >Laowai< (Ausländern), die berechtigt waren, an Bord zu gehen. In der damaligen Situation hatte ich fast schon nicht mehr geglaubt, daß die mich ins

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Flugzeug einsteigen ließen. Aber ich hatte Glück. Die Fahndungsliste war wohl in der Nacht noch nicht komplett... Kaum in London angekommen, ging ich von mir aus zur Presse; ich dachte, für mein so gerettetes Leben m u ß ich was riskieren. Also habe ich mich als Augenzeuge angeboten, ohne zu bedenken, was dies bedeuten kann.« Solche Affekthandlungen waren nicht nur auf jene begrenzt, die sich zu dem Zeitpunkt in der vom Militär umzingelten Hauptstadt Beijing aufhielten. Sowohl einige der Befragten in Frankreich wie auch der Autor dieses Berichts selbst sind Zeugen, daß ihr »Protest« im Westen, obwohl auch er für alle Beteiligten mit schweren, unumkehrbaren Folgen verbunden war, spontan stattgefunden hat. Chinesische Staatsbedienstete, die damals in Paris oder in Deutschland tätig waren, bangten tagelang um ihre Familienangehörigen, die als Faustpfand in China zurückbleiben m u ß t e n . Gerüchte über deren Schicksal - daß sie gestorben oder verwundet oder verschollen seien lösten, wie im Fall des Autors, H a ß - und Rachegefühle aus. Nicht selten boten sich diese Chinesen im Ausland unüberlegt, im Affekt als Interviewpartner für westliche Medien an, oder sie organisierten im Rahmen ihrer Möglichkeiten »stillen Widerstand«, indem sie zum Beispiel mit Faxgeräten die westlichen Berichte über das Massaker in die chinesischen Provinzen sandten, damit die Leute dort erfuhren, »daß in unserer schönen Hauptstadt — in der nicht einmal die Japaner, die (im Zweiten Weltkrieg) in die Stadt eingedrungen waren, gewagt hatten, Schüsse abzufeuern - Menschen wie Grashalme niedergemäht wurden.« Diese Aussage stammt von einer Frau, die als Staatsbedienstete Chinas im Ausland untertauchen mußte, da eine Anordnung vorlag, daß sie nach Beijing zurückzukehren habe. Der Schock, der Affekt und deren Konsequenz, die Flucht, prägten für alle diese Befragten und viele andere Chinesen den Anfang ihres Exils. Sie hatten keine Zeit, über die Fremde nachzudenken. Sie hatten keine Muße, der Heimat nachzutrauern. Nicht einmal klare Gedanken konnten sie fassen, u m die Flucht oder das Abtauchen von langer H a n d zu planen. Ins kalte Wasser wurden sie gestoßen.

V Nach dem ersten Erwachen Niemand ist vorbereitet auf ein erzwungenes Leben in der Fremde; das gilt auch für die aus China Geflohenen, selbst wenn - wie im Fall des Dichters D u o D u o — eine Einladung aus dem Ausland vorgelegen hatte. Im westlichen Ausland angekommen — oder dort jetzt unter anderen politischen Umständen geblieben — stellten die Betroffenen fest, was ihnen fehlte, die »Fähigkeit zum Uberleben«. Das schrieb der Autor 1989 in sein Tagebuch und bemerkte dazu: »Fremdsein? Nein, ich bin eigentlich gar nicht so fremd

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hier. Ich bin nur fremd in der Situation, im Eiltempo einen W e g zum Uberleben zu finden.« D i e sprachlichen Barrieren stellten zuerst n o c h keine große Herausforderung dar. Auch wirkte bei allen der S c h o c k einige Zeit nach, so daß sie sich nach Beginn des Exils nicht mit T h e m e n wie Fremdheit und K o m m u n i k a tionsproblemen befaßten: »Weißt du«, erklärte eine Interviewte, »wie verrückt ich damals war: Ich ging zu jedem und erzählte, o b er das hören wollte oder nicht, was ich auf dem T i a n a n m e n - P l a t z gesehen habe, mit eigenen Augen, unglaubliche G e s c h i c h t e n . Einladungen zum Interview, Vortrag, Lesungen, Talkshows, Workshops, Aktionen von Amnesty international, was weiß ich alles. Irgendwann wurde das notorisch. Ich kam mir vor wie die Tante Xianglin in der Erzählung von Lu X u n . Ja, wie diese gequälte Frau kam ich mir vor. D e r Unterschied war nur: Tante Xianglin erzählte jedem vom T o d ihres Sohnes. Ich erzählte jedem vom T o d von Hunderten, ja vielleicht Tausenden fremder Menschen. Aber gleich verrückt wie Tante X i a n g lin kam ich mir vor.« Freilich teilten nicht alle befragten Exilanten die Erfahrung des Dichters D u o D u o in Holland: »Ich kam zuerst in eine Sprachschule. Aber eigentlich war mir dies alles egal. Ich m u ß t e zuerst irgendwo G e l d verdienen - und Chinesisch reden. Einfach alles raus und ein bißchen Geld. Meinetwegen konnte mir damals die Sprachschule gestohlen bleiben. Eigentlich wollte ich mich nur verkriechen.« D i e zuvor zitierte Frau lebte zum Z e i t p u n k t der Befragung in Norddeutschland. Sie erzählte von ihrer Anfangssituation, daß neben dem ziellen A u s k o m m e n die K o m m u n i k a t i o n

m i t ihren

finan-

Schicksalsgenossen

zumindest gleich wichtig, wenn nicht gar wichtiger gewesen war: »Fast jeden A b e n d trafen wir uns bei irgendeinem von uns und erzählten uns ständig die gleichen Geschichten: Massaker, D e m o n s t r a t i o n e n , Popsongs, die die Studenten im Fernsehen zu ihren D e m o n s t r a t i o n e n i m m e r wieder gesungen haben. W i r waren dieser Geschichten scheinbar niemals überdrüssig. Ja, uns interessierten in dieser Zeit kaum andere Dinge. Europa! Deutschland! Was war das schon gegen C h i n a , gegen unser Leben?« D e r Wille zum blanken Überleben, der Drang, den S c h o c k aufzuarbeiten, den man auf der Flucht noch als Heldentat empfunden haben m o c h t e , wirkten um so fataler a u f die Psyche der Gestrandeten, als nach dem S c h o c k der Verdacht folgte, von irgendeinem Landsmann verraten werden zu k ö n n e n . Gruppengespräche, so identitätsstiftend sie sein m o c h t e n , wichen sehr schnell dem Verlangen, sich zurückzuziehen und sich auf eigene Faust durchzuschlagen. D a vielen, die im Ausland abgetaucht waren, auch der Autor gehört dazu, der U m s t a n d unerträglich wurde, daß andere, ihnen zuvor bekannte und vertraute Landsleute sie jetzt, da sie im Exil lebten, tunlichst mieden, drehten sie den Spieß um: N a c h dem Bedürfnis, schnell ein

finan-

ziell minimales A u s k o m m e n zu finden, und dem Drang, alles »herauszu-

Z u m Bild der Exilanten aus C h i n a in d e n n e u n z i g e r J a h r e n

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spucken«, folgte der Wunsch, mit China und den eigenen Landsleuten nichts mehr zu tun zu haben: »Für mich ist dieses Zusammenhocken im Zwang, höflich zueinander zu sein, mitverantwortlich für unseren nationalen Charakterzug, jeden, der einem nah kommt, gleich denunzieren zu können. Das finde ich das Schlimmste an China... Die Einsamkeit hierzulande war und ist mir daher im höchsten Grade willkommen. Wunderbar!« Freilich bedeutete diese andere Wahrnehmung noch lange nicht, daß die Fremdheit in der Exilheimat thematisiert wird. Nach dem »ersten Erwachen« kamen den Exilanten noch lange nicht Fragen der eigenen Akkulturation und wie man mit den Menschen hierzulande zurecht kommt in den Sinn. Eingefangen in ihren psychischen Gespinsten, brauchten die meisten noch Jahre, um ihre »Fremdheit« und ihre anfängliche »Egozentrik« abzulegen.

VI Vertrautheit, Verklärung und Verdacht Das Gefühl, in der Fremde zu sein, stellte sich bei den meisten Befragten erst ein, als die Frage nach Vertrautheit beantwortet werden mußte. Dabei erging es den befragten Exilanten nicht anders als den Emigranten. Die Unterschiede bestanden nur im Zwang zur Fremde, im Fremdsein als erzwungenem Opfer für hochgesteckte, meist moralische Ziele. »Jemand vergleicht unseren Aufenthalt im Ausland mit >Landverschickung zur ideologischen Umerziehung< (shangshan xiaxiang) aus der Kulturrevolution. In gewissem Sinne ist daran etwas Wahres. Der Zwang zum Beispiel ist sehr vergleichbar. Umerziehung? In gewissem Sinne auch. W i r sind gezwungen worden, uns hier im Westen umzuerziehen, eben anders zu fühlen, zu leben und zu lieben und zu hassen. Nur sind die Laowais (Ausländer) anders als die Bauern, bei denen unsere Eltern hatten leben müssen. Die Laowais sind hier nicht einmal richtig daran interessiert, uns umzuerziehen. Sie quetschen Geschichten aus dir heraus, dann sind wir für sie erledigt!« Oder: »Ach, was ist schon das bißchen Fremdsein gegenüber dem Opfer, das unsere Kommilitonen bringen mußten. Sie mußten ins Gefängnis, wir nur ins Ausland. Tun wir nicht so, als ob das etwas Schreckliches sei. Natürlich wollten die Laowais bald nichts mehr von unseren Geschichten aus China hören. Wenn ich einer von den Laowais wäre, ich hätte auch schon längst die Nase voll davon. Aber wir hier im Exil, wenn du unbedingt das Wort benutzen willst, haben diese Form von Existenz deshalb >gewähltSelbst der M o n d über der H e i m a t scheint heller< (yue shi guxiang ming). Das findest du hier nicht, D e m o k r a t i e hin, Freiheit her.« D i e Verklärung der chinesischen Heimat n i m m t schnell politische Züge an, wenn das von innen ohnehin gebeutelte Land von außen »gedemütigt« wird, wie zum Beispiel durch das N A T O - B o m b a r d e m e n t am 8. M a i 1 9 9 9 auf die chinesische Botschaft in Belgrad. Sofort fühlten sich gerade die politischen Exilanten betrogen und beleidigt, denn sie hatten sich politisch nach dem Vorbild des Westens engagiert. D i e Aussage von W a n g Pengling, in C h i na einst einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler, der heute in den Niederlanden lebt, belegt dies: »Die f ü n f B o m b e n der Amerikaner gegen unsere Botschaft in Belgrad sind nicht irgendeine Barbarei. Sie sind für mich persönlich eine Art Verhöhnung aller menschlichen Freiheitsideale. Jetzt sehe ich C h i n a mit ganz anderen Augen. Jetzt finde ich, daß die chinesische Regierung in den letzten Jahren gar nicht so schlechte Arbeit geleistet hat, auch wenn ihre Politik gewiß nicht sehr human ist. Aber das ist notwendig, notwendig, um solche Teufel wie die von der Nato abzuwehren. Was glaubst du wohl, was passiert wäre, wenn ein Chaos in unserem Lande 1 9 8 9 ausgebrochen wäre?« 5 U n d doch bleibt trotz aller Verklärung der Verdacht gegenüber der Heimat, die man für sich zerlegt und zergliedert, um sich mit deren positiven Elementen seelisch gegen die Fremde zu wappnen und um die eigene Identität in der Fremde nicht von Anfang an wieder aufbauen zu müssen. D e m Aufruf des Generalsekretärs der K P Chinas, Jiang Z e m i n , man möge dem Banner des Patriotismus folgen und in die H e i m a t zurückkehren und sich in ihren Dienst stellen, folgten die wenigsten Exilanten. I m Gegenteil, je übertriebener ihre Heimat-Verklärungen werden, um so mehr werden sie von denen, die aus der H e i m a t zu Besuch k o m m e n , als unwirklich, spinnerhaft und verrückt wahrgenommen und um so weniger lockt die chinesische Heimat, die sich nach 1 9 8 9 weiter in R i c h t u n g westlicher Marktwirtschaft bewegt hat. Dieses D i l e m m a fangen die drei wohl berühmtesten Exildichter aus C h i n a ein, G u C h e n g , Yang Lian und D u o D u o , von denen noch die Rede sein wird. So schrieb G u C h e n g 1 9 9 2 in Berlin: Schreiben gleicht den Karren an die Kiefer fahren, in ein Zeichen wieder eins,

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an dem ich knacke zerknackt, schiebe ich Schachfiguren hinein, lege sie auf verfaulte Fäden grünender Schimmer. 6 Der andere, Yang Lian, schrieb 1997 in Wuppertal: »Auf diesem Wege wandert und wandelt sich der Geschmack im Exil, weg von einer politischen, hin zu einer ästhetischen Zunge, die leckt, um das Wort >Freiheit< in seiner tiefsten Tiefe auszukosten, um das Wort einem anderen, dem Wort >Schöpfen< gleichzusetzen. >Schöpfen< ist es, weshalb wir in die Fremde gekommen sind, gewandert, und geschrieben haben. James Joyce möge es mir erlauben, seine These über das Kosten des Geschmacks des Exils mit einer Fußnote zu versehen. Ich sage: Gleichsam wie das Entstehen eines Gedichts: lebe.« 7 Sowohl bei Gu Cheng als auch bei Yang Lian bezieht sich das »Schreiben« auf die chinesische Schrift, die keine Buchstaben, dafür an die 80.000 Schriftzeichen für den literarischen Normalgebrauch kennt. N u r diese Schriftzeichen, erlernt noch in der chinesischen Heimat, bleiben konstant, bleiben die geistige Heimat, aus der die Dichter ihre Kraft gewinnen. N u r ihnen können sie sich vorbehaltlos anvertrauen. Ein G r u n d mehr, warum G u Cheng auf die Befragung, warum er sich trotz des Exils weigert, eine Fremdsprache zu lernen, antwortete: »Weißt du, damit meine Muttersprache nicht eifersüchtig wird.« Derselbe Dichter hegt zugleich der chinesischen Heimat gegenüber nach 1989 den größten Verdacht, Verdacht auch in dem Sinne, ob es jemals eine »Rettung« dieser Heimat geben werde, sei es durch Modernisierung, Kommerzialisierung oder durch Schaffung technischen Fortschritts als Refugium für die Seele. In einem seiner letzten Gedichte schrieb er: Ein Gespenst um Null U h r geht mit äußerster Vorsicht, hat Angst auszurutschen, denn dann wird es ein Mensch. 8

Z u m Bild der Exilanten aus C h i n a in den neunziger Jahren

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VII Drei Chinesen ohne Kontrabaß U m den Ausdruck der komplexen Innenwelt chinesischer Exilanten ringen naturgemäß die Exilschriftsteller, die nicht von ungefähr in chinesischer Sprache schreiben und äußerst selten Gelegenheit haben, ihre Werke in Ubersetzungen zu publizieren. Da diese Texte zumeist dem T h e m a Heimatsuche gewidmet sind, sind sie gerade durch persönliche, autobiographische Situationsschilderungen gekennzeichnet - ein Umstand, der dem europäischen Publikum das Verständnis nicht gerade erleichtert, um China, dessen Menschen und schließlich seine Exilanten zu begreifen. Exemplarisch sei deshalb die Suche der drei zitierten Exil-Dichter nach Heimat in Auszügen wiedergegeben, die der Autor bereits 1998 in einer Sendung des Süddeutschen Rundfunks vorgestellt hat 9 : Einer der Exildichter aus Beijing, meiner Heimatstadt, vertrat die Ansicht, daß Heimat für einen Exilanten in der Phantasie über der realen Heimat liegt, in der ungebundenen, ja ungezügelten Phantasie. Sonst nirgendwo. »Was kannst du machen außer zu phantasieren?«, fragte er mich u n d fuhr selbst fort: »Du sprichst gern von Beijing als deiner Heimat. Aber du siehst sie nicht. D u siehst nicht, wie die Wolkenkratzer wie Pilze aus dem Boden schießen und alte Straßenzüge vernichten. Jeder, der aus Beijing zurückkommt, bedauert dich: Wenn du jetzt heimkehren würdest, du würdest Beijing nicht wiedererkennen, sagen sie. Und wenn du darüber liest und hörst, und wenn du versuchst, dir deine Heimat vorzustellen, m u ß t du nicht die Staubwolken der Baustellen hinzudenken? Wenn jemand dir berichtet, in Beijing gibt es jetzt eine Million Autos, m u ß t du den Autolärm in deinem Kopf heraufbeschwören, u m ihn dir zuhause vorzustellen, nicht wahr?« Ich spürte, wie er mich in die Falle lockte und blockte ab: »Aber Beijing ist meine Heimat. Dazu brauche ich meine Biographie dort, das heißt eine wirkliche Geschichte, keine Phantasien, sondern Erinnerungen. Erinnerungen brauche ich, auch wenn sie, wie du es nennst, nach nichts schmecken, nach nichts riechen und nach nichts klingen.« Fast triumphierend fuhr er fort: »Vielleicht meinst du, daß Phantasien zu unzuverlässig sind, um dir eine handfeste Heimat zu bescheren. Vielleicht bist d u zu sehr europäisch, um nicht zu sagen, zu sehr deutsch geworden? Ja, d u bist zu sehr deutsch geworden und deshalb nicht mehr imstande, das Spirituelle als Bestandteil des Lebens, insbesondere des Exillebens, anzuerkennen. Kann das sein?« Ich spürte den Boden unter den Füßen schwinden und versuchte noch einmal von vorn: »Aber bitte erinnere dich doch einmal ganz genau«, erwiderte ich, »was in unserer Heimatstadt Beijing passiert ist. Erinnere dich bitte ohne Phantasie u n d Verklärung, wie dort Menschen wie Gräser niedergemäht worden sind. Erinnere dich bitte, daß auch du im Exil protestiert hast — und zwar mit Tränen in den Augen nicht gegen ein Phantombild, sondern mit

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erhobenen Fäusten gegen eine grausame Realität, live übertragen im Fernsehen in alle Welt. Gehören derartige Erinnerungen auch zu deinen Heimatphantasien, die ungebunden und ungezügelt sein wollen?« »Aber nicht doch!«, besänftigte mich der Dichterfreund. »Meine Phantasien über die H e i m a t sind ungebunden. Sie sind losgelöst von d e m einen Terrorakt. Im Gegenteil: Wenn wir schon nicht in der Lage sind, eine andere, humanere H e i m a t realiter vorzuweisen, warum sollten wir uns dann auch noch verbieten, unsere H e i m a t in der Phantasie nach unserem Willen zu gestalten? Eine Heimat, die ohne Blutspuren, ohne L u g und Betrug dasteht, ohne Mörder und Greueltaten. D u magst einwenden, daß ich zuviel Wunschdenken habe, was meine H e i m a t angeht. D u magst einwenden, daß die Europäer es anders machen würden. Ich meine allerdings: Wenn das Exil uns ohnehin die Möglichkeit g e n o m m e n hat, unsere geographische H e i m a t wiederzusehen, warum sollen wir Exilanten uns dann auch noch verbieten lassen, von einem besseren C h i n a zu träumen? Wer weiß, ob nicht irgendwann ein Teil unserer Träume Wirklichkeit wird? Wer weiß, ob nicht uns Exilanten die Aufgabe zufällt, uns eine unverdorbene Welt auszudenken. U n d selbst wenn wir uns mit unserer Heimatphantasie nur betrogen haben, werden es diese Phantasien sein, die uns immerhin das Leben in der Fremde, im Exil erleichtert haben. D e n k daran, auch Exilanten leben nicht unendlich und können nicht ewig warten, bis sie die H e i m a t in Wirklichkeit wiedersehen!« Exildasein als Versuch, mit Hilfe freier und frei gewordener Phantasien eine heimatliche Alternative schön zu denken - das ist die eine Perspektive, die nicht nur der Exildichter verfolgt. Sie ist urmenschlich und hat in der Literatur meiner Heimat auch eine sehr lange Tradition. Immer dann, wenn ein Mensch sich von der Welt verlassen fühlt, ruft er sie, die Welt, nach seinem Willen zurück. Vielleicht beschwor mein Dichterfreund, als wir uns in der Fremde trafen und nächtelang debattierten, eben diese Tradition herauf? Vielleicht meinte er, hier eine Art literarische Heimat gefunden zu haben? Vielleicht. Ich kann diesen Dichter nicht mehr befragen. Vor fünf Jahren hat er sich das Leben g e n o m m e n und seine Frau mit in den T o d gerissen. Vielleicht weil er glaubte, daß die Phantasien im Jenseits noch freier sein werden als im Exil? Ich weiß es nicht. Ein anderes Mal sprach ich über die H e i m a t in der Fremde mit einem anderen L a n d s m a n n aus Beijing. Auch dieser L a n d s m a n n ist ein Dichter. Als ich ihn in Stuttgart, wo er als Stipendiat einer deutschen Stiftung lebte, aufsuchte, öffnete er mir die Tür, entschuldigte sich kurz und ging auf die Toilette zurück, wo ihn mein Klingeln überrascht hatte. »Shi M i n g « , philosophierte er gleich laut aus dem Ortchen, »wie findest du die Toiletten, ich meine die öffentlichen Toiletten bei uns in Beijing?« M e i n e m irritierten Staunen entgegnete er nicht ohne Vehemenz: » U n d zwar als Symbol, bitte! Erinnerst D u Dich, wie die öffentlichen Toiletten in Beijing aussehen; und sie

Z u m Bild der Exilanten aus China in den neunziger Jahren

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sind der einzige O r t in unserer Heimat, an dem nicht kontrolliert wird, was einer sagt. N a c h einer Massendemonstration, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde, ging eine Verfolgungsjagd los. Alle, ob alt oder jung, mußten in Gruppengesprächen gestehen, was sie an Gerüchten gegen die F ü h r u n g gehört hatten, und — vor allem — von wem die Gerüchte kamen. Wer nur den Inhalt der Gerüchte, jedoch deren Herkunft nicht anzugeben vermochte, war selbst der Erfinder der Gerüchte und mußte bestraft werden. An meiner Schule wurde ein Schulkamerad gefragt, wo er das Gerücht gehört habe, wonach die Regierung auf dem Platz des Himmlischen Friedens willkürlich Demonstranten zu Tode hat prügeln lassen. In die Enge getrieben, antwortete dieser Schulkamerad: >Ich habe das in einer öffentlichen Toilette gehört. U n d zwar jenseits der Trennwand, also von der Damentoilette!< O b der Schulkamerad der Strafe, die vom Umerziehungslager bis hin zu mehrjährigem Gefängnis reichen konnte, entkam, weiß ich nicht. Sicher war aber, daß er nicht sofort festgenommen wurde. Weißt du, was ich mit dieser Geschichte sagen möchte? G e n a u hierin liegt doch das Symbolhafte der öffentlichen Toiletten für Exilanten aus C h i n a - meinst D u nicht auch? Was wir suchen, ein Heim, eine Heimat, ist ein Ort, an dem unsere Worte nicht bestraft werden. Jeder von uns sucht ein Heim in diesem Sinne. In China selbst suchten die Menschen diesen Ort in den öffentlichen Toiletten. Im Exil sind wir an einem Ort, wo niemand uns durchschaut, wo kaum einer unsere Sprache versteht, also auch nicht in der Lage sein wird, verbotenen Sinn hinter unseren Worten zu suchen. D o r t also, wo allem, was wir von uns geben, wenig Sinn, nein, gar kein Sinn beigemessen wird. D o r t sind wir sicher und frei. Verstehst du?« Eigentlich nicht, dachte ich. D e n n ich lebe im Exil, u m mit Hilfe meiner Deutschkenntnisse jenen O r t zu finden, an dem meine Worte verstanden werden und dennoch unbestraft bleiben. Der Lyriker wollte mir abschließend sein neuestes Gedicht noch rezitieren. Aber ich winkte ab. D e n n seine Ansicht, wonach man sich heimisch nur in einer anonymen, desinteressierten Fremde finden kann, teilte ich nicht. Sein Lob, daß er sich in der Fremde wohl, sicher und geborgen fühlte, nur weil er unerkannt bleibt, konnte ich nur als Verzweiflungsschrei verstehen. Er verstand es anders und berief sich dabei auf Nietzsches Zarathustra. Zarathustra, so der Lyriker, brauche die Abgeschiedenheit, er, der Exilant aus China, die anonyme Fremde. A u f einen Glaubensbruder im Exil glaubte ich gestoßen zu sein, als ich mit dem dritten Dichter über unsere alte H e i m a t sprach. Dieser Landsmann aus Beijing lebt nicht in der schönen Phantasie, auch nicht in der geistigen Abgeschiedenheit, sondern seit Jahren glücklich mit einer holländischen Frau zusammen. D a s Einzige, was er mit den beiden anderen Dichterkollegen teilt, ist seine Weigerung, in der Fremde eine Fremdsprache zu lernen, und er bat mich u m Verständnis: »Chinesisch, du weißt, das ist die schönste Spra-

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che der Welt.« Ansonsten aber überraschte er mich nicht mit Absonderlichkeiten. Er freute sich über unsere Begegnung. Er lud mich gleich zu sich nach H a u s e ein. Er erkundigte sich, worauf ich Appetit habe — doch nicht etwa schon auf Käse oder Wurst, sondern hoffentlich auf chinesische Maultaschen oder Frühlingsrollen; er fragte, was ich trinken wolle — doch nicht etwa schon Kaffee oder C o c a Cola, sondern Jasmin- oder Oolongtee. U n d als wir nach dem reichhaltigen Essen ins Gespräch kamen, fragte er mich nicht etwa: »Was machst du, wo arbeitest du, wo warst du zuletzt im Urlaub?« Seine Erkundigungen nach meinem Wohlbefinden folgten noch strikt dem alten Brauchtum: Wie alt bist du schon? Was verdienst Du? Bist du verheiratet oder immer noch single? Im letzteren Fall könne er schnell Abhilfe schaffen usw. Es schmeichelte mir, in der Fremde den heimatlichen Habitus wieder zu erleben, jenes Lächeln, das das gesprochene Wort ersetzt und trotzdem unmißverständlich ist; jene Gewohnheit, abstrakte Theorien nicht mit noch komplizierteren Thesen, sondern mit Versen aus der Tang-Dichtung zu erwidern. Als ich über das Altern im Exil klagte, zitierte er nicht eine psychoanalytische Autorität, sondern antwortete: »Wie heißt es noch so schön bei Liu Yüxi: >Seit alters her trauert man um den absterbenden Herbst; doch huldige ich ihm, der Herbst ist farbenprächtiger als Frühlingstagen. Es war überaus beeindruckend, wie er in der Tradition unserer Heimat meisterlich verstand, jede noch so schwierige und unüberschaubare Situation mit Weisheit und poetisch zugleich zu kommentieren. Ich werde, dachte ich, ihn testen, welche alten Verse er zitieren wird, wenn ich mit ihm über mein T h e m a reden werde - über die H e i m a t in der Fremde. Aber zu meinem Test kam ich nicht so schnell. »Entschuldige«, sagte er, »ich m u ß eine halbe Stunde Q i g o n g machen. Nein, verstehe mich nicht falsch. Ich bin nicht krank. Ich bin so froh, daß du da bist. Warum ich mich für ein Gespräch mit dir vorher trainieren muß? N a , du weißt, daß man sich bei uns für wichtige Anlässe und aufregende Neuigkeiten pflegen m u ß - baden und Weihrauch anzünden. So eine Art Ritual ist das Q i g o n g für mich heute Abend.« Ich meinerseits beeilte mich, die Ehre zu relativieren, die er mir durch ein Extra-Training nach heimatlicher Regel erweisen wollte. Ich beteuerte, eigentlich gehe es u m nichts Aufregendes. Ich wollte mit ihm nur unverbindlich über die H e i m a t in der Fremde reden. Kein besonders wichtiger Anlaß also. »Nein, nein«, antwortete er, »im Gegenteil: Gerade darüber möchte ich mich auch mit dir unterhalten. U n d weiß G o t t ist das ein wichtiges T h e m a für Exilanten. Wie heißt es doch so schön in einem Gedicht: >So, wie ein Mensch im Diesseits heimatlos ist, so wird seine Seele im Jenseits verwaisen.« G o t t weiß, daß m a n für ein so aufwühlendes T h e m a besonders viel Lebensenergie braucht, die hole ich mir jetzt durch Q i g o n g . G e d u l d e dich also noch ein wenig!«

Zum Bild der Exilanten aus China in den neunziger Jahren

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Der Dichter setzte sich i m Lotussitz a u f eine Strohmatte. U n d ich w a r e n d gültig überzeugt: Er ist nicht n u r entschlossen in der Pflege h e i m a t l i c h e r Lebenskultur, er ist auch ein Kenner des h e i m a t l i c h e n Glaubens, des Z e n B u d d h i s m u s . N a c h zwei M i n u t e n w a r er in tiefster Gelassenheit abgetaucht. M i t der Zeit stieg m e i n Respekt vor diesem L a n d s m a n n . W ä h r e n d ich überall über die H e i m a t in der Fremde lamentiere, pflegt er das H e i m a t l i c h e , behält den h e i m a t l i c h e n Alltag, die h e i m a t l i c h e n Sitten u n d Bräuche bei u n d interpretiert die W e l t u n d das Leben m i t der Poesie aus der h e i m a t l i c h e n Klassik. M u ß t e ich ihn noch fragen, w o für ihn die H e i m a t in der Fremde ist? Plötzlich öffnete er die A u g e n , sprang von der S t r o h m a t t e auf, schenkte m i r noch ein w e n i g Tee ein. W ä h r e n d er als A b s c h l u ß ü b u n g m i t beiden H ä n den von u n t e n nach oben sein Gesicht massierte, rezitierte er ein G e d i c h t aus der Tang-Zeit: »>Des Krieges B r a n d dauert drei M o n a t e , er m a c h t einen Brief aus der H e i m a t teurer als einen Barren Gold.< Also! Shi M i n g , jetzt erzähle. W a s hast d u zuletzt von C h i n a gehört? W a n n , glaubst d u , w i r d C h i na e n d l i c h z u s a m m e n b r e c h e n . Ich k a n n es k a u m noch e r w a r t e n - diese verlogene W e l t ! W i r haben eine bessere verdient.«

1 Diese Regelung wurde auf einer Innenministerkonferenz unmittelbar nach dem Massaker in Beijing beschlossen. —2 Dokument des ZK der KP Chinas »Zur Handhabung zweier unterschiedlicher Gruppierungen in Ubersee«, 18. Oktober 1989, Chinesisch. — 3 Emigrantenliteratur wie z. B. der Roman von Zhou Li Eine chinesische Dame in Manhattan (1992) liefert ausführliche Belege für die Haltung der modernen chinesischen Emigranten. — 4 In: Laiyin Tongxun (Korrespondenz am Rhein - eins der wenigen in Deutschland publizierten Exilantenmagazine in chinesischer Sprache), Ausgabe 8, 1994. — 5 Thema o f f e n . Deutsche Welle, Deutsches Programm, Köln, 22. Juli 1999. — 6 Die Übersetzung stammt vom Autor dieses Berichts. Ihm ist bewußt, daß es inzwischen vielleicht eine andere deutschsprachige Ubersetzung gibt. — 7 Hajo Jahn (Hg.): Zwischen Theben und Shanghai. Jüdische Exilanten in China — Chinesische Exilanten in Europa. Berlin 1998; auch diese Übersetzung stammt vom Autor dieses Berichts. — 8 Shi Ming: »Schwesterchen, geh nur mutig vorwärts, vorwärts! Ein Feature über chinesische Kultur der 80er und 90er Jahre«. WDR Köln, November 1993. — 9 Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart, Oktober 1998.

Wolfgang Stephan Kissel

Russisches Dichtergedenken im Exil ( 1 9 2 1 - 1 9 3 9 ) : Totenkult und kulturelles Gedächtnis I Das literarische Petersburg beging Aleksandr Puskins 84. Todestag im Februar 1921 mit Gedenkfeiern, in deren Verlauf besonders die Reden der Dichter Aleksandr Blok und Vladislav Chodasevic Aufmerksamkeit erregten. 1 Die beiden Redner waren sich einig darin, nicht nur Puskins Gedächtnis zu ehren, sondern symbolisch Abschied von der gesamten zweihundertjähigen Petersburger Epoche russischer Geschichte zu nehmen. Sie zelebrierten einen Kult um den toten Dichter Puskin, der in eigentümlicher Weise christliches Totengedenken und säkulare Gedenkfeier verschränkte. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehen die sakral-religiösen Anteile dieses Kults auf die orthodoxe Totensorge zurück, deren liturgische Praktiken bis an die Schwelle der Neuzeit lebendig blieben und besonders stark in Gedenkzeremonien wie zum Beispiel Begräbnissen und Gedenkreden nachwirkten. 2 Seine säkularen Bestandteile bildeten sich in einer Traditionslinie des 19. Jahrhunderts heraus. Im Jahr 1826 inaugurierte Nikolaus I. mit dem feierlichen Leichenbegängnis seines älteren Bruders Alexanders I. einen Memorialkult im Dienst der Romanov-Dynastie, um durch diesen Akt höfischer Repräsentation die nach dem Dekabristenaufstand angefochtene Legitimität seiner Herrschaft zu festigen. 3 Das mit allem erdenklichen Pomp begangene Zarenbegräbnis Alexanders I. war den Zeitgenossen noch gegenwärtig, als Anfang Februar 1837 bekannt wurde, daß Aleksandr Puskin bei einem Duell eine tödliche Verletzung erlitten hatte. Innerhalb weniger Tage fanden sich in seinem Haus an der Mojka viele trauernde Menschen aus allen Schichten ein, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Es zeichnete sich ab, daß das Begräbnis des Dichters zu einem kultursymbolisch ebenso bedeutsamen Akt werden könnte wie das Herrscherbegräbnis mehr als ein Jahrzehnt zuvor. Daraufhin ließ Nikolaus I. den Leichnam in aller Heimlichkeit fortschaffen und im Kloster von Svjatogorsk bei Michajlovskoe, dem Landgut Puskins, begraben. Wider Willen gab der Zar damit den Anstoß für ein Totengedenken, das den Rahmen der russischen Adelskultur mit ihrer Fixierung auf den Autokrator und auf persönliche Beziehungen der Adligen untereinander sprengen sollte. Buchstäblich am Sarg Puskins formierte sich im Februar 1837 eine sogenannte »zweite Gesellschaft« (vtoroe obscestvo) aus Angehörigen verschie-

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dener Stände (Adligen und Raznocinzen). In Opposition zum dynastischen Gedenken erfand die »zweite Gesellschaft« das Dichtergedenken als moderne Tradition, die sich in Begräbnissen, Nachrufen, Gedenkreden, Denkmälern, Memoiren und Erinnerungsstätten manifestieren konnte und verstorbene Dichter (in geringerer Zahl auch andere Künstler oder Gelehrte) in den Rang eines geistigen Gegengewichts gegen die weltlichen Mächte erhob. 4 Die Dichterbegräbnisse bargen immer auch ein paradoxes M o ment der Säkularisierung: Eine Zivil- oder Bildungsreligion, die auf dem Nationaldichter oder den Nationaldichtern basierte, trat an die Stelle des rein religiös bestimmten und kirchlich organisierten Ritus. Fast ein halbes Jahrhundert nach Puskins Tod fanden in Moskau vom 6. bis 8. Juni 1880 Feierlichkeiten zur Einweihung des ersten Puskin-Denkmals statt. 5 Fedor Dostoevskij pries in seiner Rede Puskin mit eschatologischem Gestus als »Russen der Zukunft« und Propheten einer menschheitsversöhnenden Mission Rußlands. Der »pamjatnik Puskinu« bildete für die gesamte »Intelligencija« von da an einen Bezugspunkt in der Topographie der alten Hauptstadt. Aus der Sicht der kulturellen Eliten des späten 19. Jahrhunderts stieg Puskin zum »Kulturheros« auf, um den eine Pleiade von »poetae minores«, ja eine ganze Epoche kreiste, die nach ihm einfach »Puskin-Zeit« genannt wurde/' Die Erscheinung des »Kulturheros« ist charakteristisch für europäische Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, deren religiöse Sinngebungen in Folge der Säkularisierung an Verbindlichkeit verlieren und die daher nach neuen tragfähigen Mythen, das heißt bildhaft erzählenden und personenbezogenen Weltdeutungen suchen. Die Kulturmythologie, die sich um die Person und Epoche Puskins aufbaute, ersetzte fehlende zivil- bzw. nationalstaatliche Traditionen und diente zunächst einer kleinen Elite zur Identitätsoder Gemeinschaftsstiftung. Es zeigte sich allerdings, daß nach 1880 auch die »erste Gesellschaft«, Zarenhof u n d Hocharistokratie, Anspruch auf den Dichter erhob. 1899 versuchte das Ancien régime, den hundertsten Geburtstag Puskins zu einer Machtdemonstration umzuwandeln, landesweit gelenkte Veranstaltungen warben im Namen Puskins für eine patriotische Gesinnung. 7 Dazu war ein gewaltiger organisatorischer Aufwand notwendig, der eine nach modernen Prinzipien organisierte Medienkampagne in den Dienst »antimodern« beharrender Ziele stellte. Lesegesellschaften, Kulturvereine, Rezitatoren und Biographen wetteiferten darin, Puskin als »russischen Nationaldichter« zu verherrlichen, dem überdies die Verkörperung einer spezifischen »narodnost«, eines russischen Nationalcharakters zugeschrieben wurde. 8 Gegen die offensichtliche politische und gesellschaftliche Instrumentalisierung des Dichters opponierten nahezu alle bedeutenden zeitgenössischen Dichterzwischen Fin de siècle u n d Revolution, ob Symbolisten, Akmeisten oder Futuristen: Vale-

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rij Brjusov, Michail Kuzmin, Anna Achmatova, Osip Mandel'stam oder Marina Cvetaeva entwarfen individuelle Puskin-Bilder, die einen zentralen Platz in ihrem eigenen literarischen Œuvre einnahmen. 9 Bei den Feiern zum 84. Todestag im Februar 1921 wurden Elemente des orthodoxen Ritus verstärkt reaktiviert. Totensorge und Begräbnisbräuche setzten nach orthodoxem Verständnis ein »unlösbares Band zwischen den Lebenden und den Toten« 10 , das heißt eine besonders starke »Gegenwart der Toten« voraus. Das liturgische Totengedenken (powzwovenie) umschließt als wesentlichen Bestandteil die Namens-(imja)Nennung eines Verstorbenen nach seinem Tod an festgesetzten Tagen und in sakralen Zeremonien. Diese Praxis setzten die Redner und Rezitatoren bei den Gedenkfeiern vom Februar 1921 in einem säkularen Umfeld fort. Aleksandr Blok konzipierte seine Gedenkrede Die Berufung des Dichters als dichterisches Vermächtnis, als letzten öffentlichen Auftritt und zugleich als politische Manifestation gegen die sowjetische Zensur und jede Einschränkung künstlerischer Freiheit. Er beschwor den Namen Puskins als Gegengewicht gegen alle Schrecken der russischen Geschichte: »Von früher Kindheit an bewahrt unser Gedächtnis einen heiteren Namen: Puskin. Dieser Name, dieser Klang erfüllt viele Tage unseres Lebens. Da sind düstere Namen von Imperatoren, Heerführern, Erfindern von Mordwaffen, von Peinigern und Gepeinigten. Und daneben dieser leichte Name: Puskin.«11 Michail Kuzmin tritt mit einem eigens für den Anlaß verfaßten Widmungsbzw. Dichtergedicht auf Puskin vor das Publikum, das den »Lebensodem der Dichtung« im Medium des gesprochenen Wortes feiert. Der »volltönende Wohlklang« der Rezitation von Puskins Gedichten lasse den Hörer bereits hier auf dieser Erde vom »Honig des ewigen Lebens kosten«. 12 Nicht über ein eidetisch-visuelles Erinnerungsvermögen, sondern über ein akustisches, nicht über das Bild, sondern über die Stimme stellt Kuzmin in seinem Gedicht die Gegenwart Puskins rituell wieder her. So nahm die mehrfache Rezitation dieses Gedichtes den Charakter einer kultischen Handlung an. Der Name des Dichters, der immer wieder genannt werden will und gehört werden muß, verheißt sein Weiterleben. Die Stimme des Dichters sei immer noch so voll des »lieben Lebens«, daß man »auf der traurigen Totenfeier den Atem des hellen Namenstags« hören könne. 13 Am Ende des Gedichts taucht ein epochenverschränkender Synkretismus auf: Die menschliche Stimme und ihre Macht, die Namen zu nennen, verwandele den Todestag der altslavischen heidnischen Totenfeier (trizna) in einen (christlichen) Namenstag (imeniny). Um die Totenfeier als »Namenstag« organisierten sich also symbolische Tauschhandlungen zwischen Schrift und Stimme. Vladislav Chodasevic versuchte in seiner Rede Der schwankende Dreifuß, die Auswirkungen des Epochenbruchs, der im Gefolge von Weltkrieg, Bürgerkrieg und Revolutionen eingetreten war, auf das Puskin-Verständnis künf-

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tiger Generationen zu ermessen. 14 Die geistige Einheit, die für seine Generation noch aus Peter dem Großen, Petersburg u n d Puskin, aus Zar, Stadt und Dichter gebildet worden sei, stehe im Begriff, rasch zu zerfallen, so lautete die Kernthese der Rede. Nach den Erschütterungen von 1905, endgültig aber nach 1917 sei das direkte Band, das seine Generation mit Puskins Sprache und Kultur verknüpft habe, zerrissen, eine »Verdunkelung der Sonne Puskins« unvermeidlich. 1 5 Vielleicht könne der Dichtername in der bevorstehenden Finsternis jedoch als »Zuruf« (pereklicka), als Verständigungsmittel u n d Erkennungssignal dienen. 1 6 Wenige Monate später, im August 1921, starb Blok; bei seinem Begräbnis verdichtete sich der Eindruck, daß nicht so sehr die sogenannte OktoberRevolution von 1917, sondern erst dieses Trauerritual zusammen mit den Puskin-Feiem vom Februar das Ende der Petersburger Ära besiegelten. 17 Am Morgen des 10. August legte die Trauergemeinde einen über sechs Kilometer langen Prozessionsweg durch die Stadt zur Begräbnisstätte zurück: von Bloks Haus in der Oficerskaja-Straße, am Mariinskij Theater vorbei zum Smolensker Friedhof. Dichterfreunde wie Andrej Belyj, Vladimir Pjast und Evgenij Zamjatin trugen den offenen Sarg mit der blumengeschmückten sterblichen Hülle. Das Begräbnis stiftete eine kurzfristige Gemeinschaft, die sozialen, politischen oder kulturellen Gegensätze, die zwischen den Teilnehmern des Trauerrituals bestanden, waren vorübergehend aufgehoben. Dabei wurden der orthodoxe Ritus und der säkulare Dichterkult zeitweise von Elementen einer organisierten Massenkundgebung überlagert: Eine große Zahl von Menschen war dabei nicht nur physisch präsent, sondern vollzog in einem vorgeschriebenen Rhythmus bestimmte symbolische H a n d lungen. 1 8

II Im November 1922 veranlaßte die Sowjetregierung die Ausweisung von hundertsechzig Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens. 19 Viele dieser Ausgewiesenen übernahmen bald darauf einen wichtigen Part in der Kultur der »Ersten Emigration«. Das ritualisierte Totengedenken für Puskin und Blok ging der Konsolidierung einer »russischen Kultur außerhalb der Grenzen Rußlands« (russkoe zarubez'e) zeitlich unmittelbar voraus. Dieser chronologische Nexus legt die These nahe, daß die beiden Akte des Totengedenkens für Puskin u n d Blok eine gemeinsame Spur in der Mentalitätengeschichte der »Ersten Emigration« hinterließen und das Selbstverständnis ihrer kulturellen Eliten beeinflußten. Z u r Verdeutlichung bietet sich ein Rückgriff auf neuere Kulturtheorien an, in denen das Totengedenken als

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vermuteter Ursprung des überindividuellen Gedächtnisses einen zentralen Platz einnimmt. 20 Der Ägyptologe und Gedächtnistheoretiker Jan Assmann differenziert in seiner Studie über Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis und stellt dieses Begriffspaar auf eine breite kulturhistorische bzw. kulturanthropologische Basis.21 Assmann weist dem kommunikativen Gedächtnis den Erinnerungsraum von drei bis vier Generationen zu. Der Erfahrungsschatz der jeweiligen Zeitgenossen bleibt in dieser Gedächtnisform circa achtzig bis maximal hundert Jahre lebendig — unabhängig davon, ob es sich um eine orale oder literale Gesellschaft handelt. Am kommunikativen Gedächtnis einer Gesellschaft haben prinzipiell alle kompetenten Sprecher teil, es entsteht durch soziale Interaktion im Alltag. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich hingegen auf weiter zurückliegende historische oder gar mythische Ereignisse, wird häufig in Zeremonien, Festen, Prüfungen etc. weitergegeben, bedarf der symbolischen Kodierung und spezieller Traditionsträger. Zwischen den beiden Gedächtnistypen steht das Totengedenken, auf dessen Besonderheit der Mediävist Otto Gerhard Oexle hingewiesen hat: »Das Totengedenken ist >kommunikativkulturell< in dem Maße, wie es spezielle Träger, Riten und Institutionen ausbildet.« 22 Der Wandel von Puskins Gedenkfeiern über Bloks Begräbnis zu den literarischen Erinnerungen der Emigration bietet ein geeignetes Beobachtungsfeld, um zu verfolgen, »aus welchen spezifischen Formen des >kommunikativen< Gedächtnisses das >kulturelle< entsteht.« 23 In der russischen Kultur der zwanziger und dreißiger Jahre fällt gerade dem Totengedenken erneut und in vollem Sinne die Aufgabe zu, Erinnerung zu bewahren und den Wandel zwischen verschiedenen Gedächtnistypen zu gewährleisten — und zwar sowohl im Exil wie in der Sowjetunion. Mit der »seminal catastrophe« (George Kennan) des Ersten Weltkriegs, den beiden Revolutionen des Jahres 1917 und dem sich anschließenden Bürgerkrieg, der Spaltung in Mutterland und Diaspora bzw. Exil und schließlich mit dem sofort einsetzenden bolschewistischen »Klassenkrieg« und seinen Vernichtungspraktiken erlebte Rußland einen präzedenzlosen Zivilisationsbruch, der den Rhythmus von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis unmittelbar bedrohen mußte. Der besondere Typus des russischen Dichtergedenkens konnte diese akute Bedrohung zugleich rituell symbolisieren und literarisch artikulieren bzw. transformieren. Das Denken in »Kulturmythologien« und Epochenanalogien, das weite Kreise der russischen Intelligenz um die Jahrhundertwende prägte, hatte schon eine Generation zuvor eine Verbindung zwischen den vorzeitig verstorbenen, »geopferten« Dichtern des »Goldenen« und denen des »Silbernen Zeitalters« hergestellt: Aleksandr Puskin galt diesem Denken

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als Inkarnation des »Goldenen Zeitalters«, Aleksandr Blok als Personifikation des »Silbernen Zeitalters«.24 In dieser Tradition wurden nun auch die vorzeitigen oder gewaltsamen Tode russischer Dichterinnen und Dichter in den Jahren von 1921 bis 1939 mit dem Epochenbruch assoziiert. Diese weit verbreitete Neigung brachte der Sprach- und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson mit dem Titel seines Nekrologs für Majakovskij von 1930 Eine Generation, die ihre Dichter vergeudete auf eine prägnante Formel.25 Er konstruierte eine Parallele zwischen dem gewaltsamen, vorzeitigen oder rätselhaften Ende Aleksandr Griboedovs, Anton Delvigs oder Evgenij Baratynskijs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Opfern, die Selbstmord oder Mord unter Dichtern der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts gefordert hatten. 26 Die Forschung zur russischen Emigration, die aus ideologischen bzw. politischen Gründen lange Zeit in dichotomen Kategorien verharrte, öffnet sich allmählich für solche komplexen Zusammenhänge zwischen der Kultursymbolik des Gedenkens und den literarischen Memoiren in beiden Teilen der gespaltenen Kultur.27 Im folgenden soll zunächst verfolgt werden, wie in der Emigration die literarischen Erinnerungen an Aleksandr Blok und die Gedenkrituale für Puskin zur Feier des toten Dichters amalgamiert wurden. Danach soll das Totengedenken im Kontext der gesamten russischen Kultur der Epoche in den Blick genommen und das Desiderat einer Thanatopoetik vorgestellt werden.

III Andrej Belyj, über Jahre enger Freund Bloks, Lyriker und herausragender Theoretiker des Symbolismus, Autor des Romans Petersburg, bietet einen besonders aufschlußreichen Fall von literarischem Totengedenken, das durch die komplizierten Umstände seines knapp zweijährigen Auslandsaufenthaltes von 1921 bis 1923 und seiner Rückkehr in die Sowjetunion für unser Thema zusätzliches Gewicht erhält. Belyj stand während dieser Zeit in engen Beziehungen zu russischen Dichtern wie Marina Cvetaeva oder Vjaceslav Chodasevic, die sich bereits zu einer Emigration auf Dauer entschlossen hatten. Er selbst hielt sich jedoch die Perspektive der Rückkehr nach Rußland offen. Vom Beginn seiner Erinnerungszyklen an ist er nicht an einem historisch exakten, »realistischen« Porträt Bloks interessiert, sondern strebt vielmehr danach, die »Idee« oder spirituelle Substanz (»lik«) dieser Dichterpersönlichkeit ahnbar werden zu lassen. Dabei geraten seine Erinnerungen an den verstorbenen Freund immer mehr zu einer verdeckten Autobiographie bzw. zu einem Versuch, seinen eigenen Standort innerhalb der symbolistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg zu bestimmen. Das Ziel dieser

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Selbsterforschung variiert jedoch beträchtlich, je nach Belyjs geographischem Aufenthaltsort. Im Vorfeld seines ersten Erinnerungsbandes finden sich Tagebuchaufzeichnungen über das Begräbnis und die Reaktionen der Trauernden in den folgenden Wochen, Korrespondenzen über den Toten, Nekrologe sowie Gedenkreden vor der anthroposophischen Gesellschaft »Vol'fila«. 28 Die Tagebucheintragungen, die noch in Rußland unmittelbar nach Bloks Tod, am 8. August beginnen und bis zum 6. September 1921 reichen, verzeichnen neben den Anfängen der Legendenbildung über den Verstorbenen auch die Leitmotive oder Nuklei von Erinnerungsbildern, die in den großen Memoirenbänden wiederkehren werden, also eher zum kulturellen Gedächtnis gehören, aber in der Alltagskommunikation zum ersten Mal aufkommen. Besonders aufschlußreich sind die Passagen über die Identifikation des Dichters mit Rußland, das bald als Mutter bzw. Gottesmutter, Braut, Frau oder Hure erscheint. Diese weiblichen Inkarnationen werden in allen Erinnerungstexten Belyjs einen zentralen Motiv- und Themenkomplex für die geistige Welt des Dichters Blok bilden. Der erste schriftlich fixierte Nekrolog vom September oder Oktober 1921 legt ein Netz von Namen um Blok herum an und führt damit die Praxis der kultischen Namensnennung, die bei der Puskin-Feier eine solche Rolle gespielt hatte, weiter fort. 29 Nun dienen diese Namen dazu, Blok in verschiedenen Kontexten der russischen Kultur zu verankern: zunächst im engsten Kreis der Nationaldichter: »Er gehört allen, wie Lermontov, Puskin, Tolstoj, Dostoevskij.« 30 Sodann im Kreis derTheosophen bzw. des okkulten und spekulativen Denkens (Solov'ev, Fedorov) und schließlich in dem der »narodniki« bzw. Anarchisten, Marxisten oder liberalen Gesellschaftstheoretiker (Lavrov, Gercen, Bakunin). Schließlich nimmt Belyj die Praxis der Temporalisierung des Dichterbildes, die Dostoevskij an Puskin vorexerziert hatte, auf und überträgt sie auf Blok, denn dieser verkörpere das russische Bewußtsein der Zukunft. 31 Blok wird zu dem geistigen und sprachlichen Zentrum, das die Sophiologie Solov'evs, das Todesüberwindungsprojekt Fedorovs und die Reflexion über gesellschaftliche Veränderungen zur Synthese bringen soll. Der Nekrolog schließt mit einer liturgischen Beschwörung von »pamjat'«, von »Gedenken« bzw. »Gedächtnis«, also mit der zentralen Gebetsformel der orthodoxen Totenmesse. 32 Im November 1921 läßt sich Belyj für unbestimmte Zeit in Berlin nieder. Im folgenden Jahr 1922 legt er erstmals zusammenhängende Erinnerungen über Blok vor. 33 Belyj weiß um seine Autorität als privilegierter Gedächtnisträger, von dem man »authentische Worte« erwartet, auf die sich später die Geschichtsschreibung der Epoche stützen kann. Doch der Memoirenschreiber lehnt bezeichnenderweise eine Rekonstruktion des Wortlautes seiner Gespräche mit Blok als unmöglich und unsinnig ab und optiert vielmehr für

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eine Erinnerungspoetik, die zwischen den Polen Text und Geste angesiedelt ist. Man sucht vergeblich nach einer detailgenauen Beschreibung von Bloks Habitus, Erscheinungbild oder Verhalten, stattdessen wird nur die vage »Gebärde« einer Beziehung von Blok zu Belyj bzw. von Belyj zu Blok geboten. Die Grenzen zwischen den beiden Persönlichkeiten scheinen zu verschwimmen. Daher übernimmt der Memoirenschreiber auch die experimentelle, stark rhythmisierte Prosa, die er in seinen Romanen Die Silbertaube und Petersburg entwickelt hatte. Die Aufwertung des Rhythmus soll einen Zugang zur »Musik der Epoche« erschließen. So zeugen diese Erinnerungen an Blok von einer fragwürdigen Identifikation des Memoirenschreibers mit dem Objekt seiner Erinnerung, aber auch vom Anspruch, das Verhältnis der Freunde sei als repräsentativ für die spirituelle Suche der Vorkriegsperiode zu betrachten. In der Pravda vom 1. Oktober 1922 attackierte Trockij Belyj als »literarischen »Leichnam«, der die mystischen Tendenzen der vorrevolutionären Periode in besonders abschreckender Form personifiziere.34 Dieses Urteil stützte sich ausschließlich auf die Version der Erinnerungen an Blok, die in den Notizen der Träumer erschienen war. Die Invektive traf Belyj an einer besonders verwundbaren Stelle, denn er maß den Erinnerungen mittlerweile eine zentrale Bedeutung zu, sah in ihnen einen Wendepunkt zwischen seinem bisherigen und künftigen Werk. Paradoxerweise bestärkte ihn die Attacke jedoch in seiner Uberzeugung, nicht auf Dauer außerhalb Rußlands leben zu wollen. Schon im November 1923 kehrt er in die Sowjetunion zurück.35 Zwei Umstände trugen nach seiner Rückkehr zur Entscheidung bei, das Bild Bloks völlig neu zu konzipieren. In den folgenden Jahren bildete sich ein sowjetischer Kult um Blok, da dieser die Revolution angeblich angenommen und verstanden hatte - im Gegensatz zu unverbesserlichen »Mystikern« wie zum Beispiel Andrej Belyj. Der physisch tote Blok wurde gegen den »lebenden Leichnam« Belyj ausgespielt. Von nun an sprach der Heimgekehrte von Rußland bzw. Moskau als dem Grab, in das ihn Trockij und die »lebenden«, das heißt die dem Regime genehmen Schriftsteller gelegt hätten. Als im Winter 1927/28 Auszüge aus Bloks Briefen an Verwandte und aus seinen Tagebüchern publiziert wurden, wurde zudem offenbar, wie scharf und oftmals geradezu vernichtend der tote Dichter Belyj über lange Jahre beurteilt hatte. Daraufhin stürzte sich Belyj in ein zweites Memoiren-Projekt und unternahm nun den Versuch, den Symbolismus als »rationale Kunsttheorie« gegen den Irrationalismus-Verdacht zu rechtfertigen und seinen eigenen Werdegang als Weg zur Revolution zu beschreiben. Die in Deutschland geschriebenen Erinnerungen unterzog der Autor einschneidenden Veränderungen. Aus dem Totengedenken wurde ein Rechenschaftsbericht, der auch Belyjs Vorleben in den Augen der neue Machthaber rehabilitieren sollte und

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auf drei umfangreiche Bände anwuchs, deren Titel lauteten: Auf der Scheidelinie zweier Jahrhunderte, Der Beginn des Jahrhunderts und Zwischen zwei Revolutionen.36 Zu Beginn des dritten Bandes rechtfertigt Belyj noch einmal ausführlich seinen neuen Ansatz.37 Aus Trauer um den verlorenen Freund habe er alle negativen Seiten aus dessen Bild entfernt, sich selbst »erniedrigt«, um Blok um so strahlender darzustellen.38 Die persönlichen Zwistigkeiten mit Blok wurden nun breit ausgeführt und erhielten eine soziale und politische Tragweite, ja sie wurden zum Erweckungserlebnis des »Revolutionärs« Belyj stilisiert. Aus einem Symbolisten, Mystiker, unruhigen spirituellen Sucher verwandelte sich der Memoirenschreiber in einen frühen Sozialrevolutionär und unbarmherzigen Kritiker der Fin de siecle-Dekadenz. Blok hingegen wurde als Antipode der Revolution gezeichnet.39 Aber diese Revision einer Dichtervita glückt nur in Passagen, überall zeigen sich Widersprüche und Risse. So wird das Bild des bescheidenen, kindlichen, lauteren Blok vom Bild des »mondänen Löwen«, Lebemanns und »luziferischen« Verführers überlagert. Diese Sicht bestimmt besonders den dritten Memoirenband Zwischen zwei Revolutionen. Belyj versieht den Blok des Jahres 1907, dem Jahr seiner Affäre mit der Schauspielerin Volochova, mit den stereotypen Attributen eines morbiden, verruchten Fin de siecle-Ästheten im Stile Oscar Wildes. 40 In Belyjs idiosynkratischem Farbuniversum werden Volochova und Blok mit der Farbe »lila« assoziiert, die in die luziferische Sphäre gehört. Liest man diesen Text gleichsam auf der Folie der frühen Vospominanija o A. A. Blöke, liegt der Gedanke an die russische Tradition der Profanierung und Schmähung (koscunstvo) nahe: Die einst mit einer sakralen Aura umgebene spirituelle Substanz des Dichters (»lik«) wird herabgesetzt und ins Diabolische verzerrt. Belyj wendet auch in seinem zweiten Memoirenzyklus Techniken seiner fiktiven Prosa an, vor allem die im Roman Petersburg zur Vollendung gelangte Groteske. Der Beginn des Jahrhunderts präsentiert eine Galerie von monströsen Karikaturen, eine Abrechnung mit Personen, die sich außer Reichweite befinden.41 Details, die sich oft der Augenzeugenschaft und genauen Beobachung verdanken, werden bis zur unwiderstehlichen Komik übersteigert. Eine eigenartige Mischung aus Detailgenauigkeit und Vergröberung wird in den letzten Memoirenbänden auf die Spitze getrieben. Nach Belyjs eigener Aussage waren alle schriftlichen Notate über Blok, die auf die frühen zwanziger Jahre zurückgehen, von »einer Romantik des Totengedenkens« (romantika pominovenija) bestimmt. Erst in der »sowjetischen« Trilogie habe er diese Verklärung des toten Dichters überwunden und ein realistisches Verhältnis zu ihm gewonnen. Offensichtlich meinte Belyj wirklich, sich durch seine neuen Memoiren in die Sowjetliteratur einzuschreiben. Doch selbst wenn die drei Erinnerungsbände Anfang der dreißiger Jahre noch

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erscheinen konnten, so besiegelten sie nur die vollkommene Isolation des Memoirenschreibers, da nicht nur das Thema »Symbolismus«, sondern die literarische Gattung der Vorkriegsmemoiren, schließlich auch jedes nicht staatlich gesteuerte Totengedenken in der stalinistischen Sowj etunion zunehmend tabuisiert wurden. Bei all ihrer Fragwürdigkeit im Detail wie auch in der Gesamtkonzeption haben Belyjs Memoiren dennoch entscheidend dazu beigetragen, die Erinnerung an Aleksandr Blok aus dem kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis zu überführen und dort zu fixieren — und dies nicht zuletzt dank ihrer komplizierten Entstehungsgeschichte zwischen Emigration und Remigration, die in der gespaltenen Kultur durchaus als Signal verstanden wurde. In seinem Pariser Exil nahm zum Beispiel V. Chodasevic die Retouchen genau zur Kenntnis und reagierte darauf in seinen eigenen Memoiren. Unter den Zeitgenossen und Zeugen des »Silbernen Zeitalters« weitete sich von 1925 bis 1939 der Kreis der Memoirenschreiber, die an der übergreifenden »Erinnerungsschrift« für Aleksandr Blok mitwirkten. Zinaida Gippius publizierte 1925 im Prager Emigrantenverlag Plamja einen Erinnerungsband unter dem Titel ¿ivye lica — was sich ins Deutsche sowohl mit Lebendige Menschen als auch mit Lebendige Gesichter übertragen läßt. 42 Aufgrund ihrer bedeutenden symbolistischen Lyrik und ihrer unübersehbaren Präsenz im Literaturleben der Jahrhundertwende gehörte sie zu den herausragenden Frauengestalten der russischen Moderne. 43 Zinaida Gippius schreibt ihren wesentlich von Bloks Tod inspirierten Erinnerungen im Paratext des Titels das Programm einer emphatischen Mnemopoetik des Lebendigen vor und voran. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Zinaida Gippius Jurij Annenkovs Sammlung Portrety, die 1922 noch im Petrograder Verlag Petropolis erscheinen konnte, schon kannte, als sie ihre Skizze über Blok niederschrieb. Darin findet sich eine Skizze des toten Blok, die damals in weiten Kreisen zirkulierte und bei vielen Zeitgenossen Erschütterung hervorrief. Es scheint zumindest, als wolle Zinaida Gippius dem »Physiognomiker« und Porträtisten Annenkov antworten - oder dem Romancier Zamjatin, der in seinem Vorwort zu Annenkovs Porträtsammlung in bedenklicher Hyperbolik behauptet hatte, nach diesem Bild des Todes könne man fortan in kein lebendiges Gesicht mehr schauen. Der doppeldeutige Titel Zivye lica bestreitet und überbietet in herausgehobener Schrift-Form das Erinnerungsmonopol der Bilder. Gegen die scheinbare Endgültigkeit dieses Bildes führt Gippius die Privilegien der Schrift ins Feld. Die starre »Totenmaske«, die Annenkovs Porträt und die erhaltenen Photographien als letzten, endgültigen Eindruck fixierten, weicht dem changierenden Erinnerungsbild eines lebendigen Menschen. Das geschriebene Wort, der Zauber arbiträrer Buchstabenkombinationen, vermittelt im günstigsten Fall eine Ahnung von den mannigfaltigen Bezie-

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hungsgeflechten, aus dem jedes Gesicht und jede Person ihre Lebendigkeit erhalten. Das geschriebene Wort kann das »wahrhafte« physiognomische Porträt erzeugen und im Nachzeichnen des Unsteten, ständig sich Wandelnden das einzigartig Lebendige von Gesicht und Person bewahren. Das höchste Gebot von Gippius lautet, daß das »Geheimnis der Persönlichkeit« stets gewahrt bleiben, unantastbar sein müsse. Die Ehrfurcht vor dem »lebendigen Antlitz« gebiete es, bestimmte »phantastische Wahrheiten« zu verschweigen. Die Blok-Skizze aus dem Jahr 1922, die die Porträtsammlung von ¿ivye lica anführt, trägt den Titel Der Mondfreund. Damit wird nach dem Werktitel ein weiteres Signal für eingeweihte Leser gegeben. Es war durchaus Usus im Umkreis nicht nur der Symbolisten, sondern auch der Akmeisten, Dichtern und Künstlern eine sogenannte lunare Ausstrahlung zuzuschreiben bzw. sie als lunaren Typus zu charakterisieren. So wird Anna Achmatova in Gedichten ihres ersten Mannes Nikolaj Gumilev mit Assoziationen wie »Mondlicht« oder »Mondsüchtigkeit« konnotiert oder einfach als »lunnaja deva« apostrophiert. 44 Die Eigenschaften der lunaren Sphäre spielen für das Selbstverständnis der russischen Fin de siècle-Elite eine entscheidende Rolle: dem »Goldenen« Zeitalter Puskins wird das Ursprüngliche, Schöpferische, Einzigartige zugeschrieben, dem eigenen, nur »Silbernen« Zeitalter das Sekundäre, Derivative, Wiederholende. Die Erinnerung gilt dem Symbolismus, vor allem dem frühen Symbolismus als eine Art zweiter Erschaffung der Welt, jedoch mit »diabolischen« Konnotationen. 45 Sie verleiht dem erinnernden Subjekt eine (scheinbare) Macht über die Objekte der Erinnerung. Die beiden Paratexte ¿ivye lica und Lunnyj drug signalisieren also bereits ein literarisches und ein kultursymbolisches Programm. Während der Haupttitel in der Filiation von Dostoevskijs »lebendigem Leben« (zivaja zizn) bzw. der »Lebenskunst« (ziznetvorcestvo) des Symbolismus stehen dürfte, konterkariert der Titel der Blok-Skizze mit seinen thanatopoetischen, mnemopoetischen und diabolisch-ästhetizistischen Bezügen die emphatische Lebendigkeit. Zunächst wird »die Schattenhaftigkeit des lunaren Ästheten« 46 , also gleichsam ein literarisches Kunstprodukt, ein »Hirngespinst«, ein »zerebrales Spiel« aus dem Paradigma des frühen Symbolismus noch einmal zitiert. Eine weitere Pointe liegt jedoch in der Situation der Memoirenschreiberin Gippius. Sie lebte schon seit November 1920 in Paris - der heimlichen Hauptstadt der russischen Emigration, wo sie die prominente Rolle, die sie im Petersburger Gesellschafts- und Literaturleben inne gehabt hatte, behauptete. 47 Die Autorin schreibt dem in Rußland verstorbenen Blok aus dem Exil, aus einer Art von Jenseits nach. Dabei kehren sich die Hierarchien um: der Ort des Verlustes, der Verbannung und Versagung wird zu einem Ort des Privilegs, des Eingeweihtseins und des Wissens. Die Exilerfahrung prädestiniert zur

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Meditation über die Toten, weil der Exilant Mnemosyne und Thanatos bedeutend näher gekommen ist, ja weil er eine Art von postumer Existenz führt, eine Vorstellung, die in vielen Memoiren anzutreffen ist. Aus der Sicht der Memoirenautorin hat sich die Metapher des »Mondfreundes« nach dem Tod des Dichters konkretisiert. Der Dichter ist aus der Unwirklichkeit der Kunstwelt, der Wortkunstwerke in die Wirklichkeit des Todes hinübergewechselt.

IV Je mehr die sowjetische Herrschaft sich festigte u n d totalitäre Züge annahm, desto gefährdeter erschien die Kontinuität des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Die Veröffentlichung der Memoiren der »Ersten Emigration« fällt in eine Zeit, in der das Totengedenken in der Sowjetunion von staatlicher Seite schwerem Druck u n d systematischer Deformation ausgesetzt war. Seit dem Ende der zwanziger Jahre läßt die totalitäre Vergangenheitspolitik jegliche verschriftlichte Erinnerung, besonders aber Erinnerungen an die unmittelbar vorrevolutionäre Zeit zu einem riskanten Unterfangen werden. Von 1933 bis zum Tode Stalins 1953 werden Memoiren als literarisches Genre aus dem Kanon des Sozialistischen Realismus de facto ausgeschlossen. 48 Zu unberechenbar schien die individuelle Erinnerung der Dichter an die vorrevolutionäre Epoche, als daß man die freie Veröffentlichung von Memoiren weiter hätte zulassen können. Ganze Institutionen (Zensur, Propaganda in Presse und R u n d f u n k , gelenkte Geschichtswissenschaft) hatten den Auftrag, die Vergangenheit entweder umzuschreiben oder auszulöschen. Innerhalb weniger Jahre rückte jegliche Erinnerung in die Nähe einer suspekten, »konterrevolutionären Tätigkeit«, und manch einer riskierte mit der unbedachten N e n n u n g eines bloßen Namens Lagerhaft oder Todesstrafe. Die Vergangenheit einer ganzen literarischen Generation wurde tabuisiert und geriet in Gefahr, dem Vergessen anheimzufallen. Das Exil übernahm kompensatorische Funktionen für diese Gedächtnisverluste: Was im Mutterland nicht mehr oder nur unter Lebensgefahr aufgeschrieben u n d tradiert werden durfte, konnte im sogenannten Tamizdat wenigstens zum Teil bewahrt werden. Die literarischen Memoiren von Andrej Belyj oder Zinaida Gippius widmen Blok ein individuelles, partikulares Totengedenken, das jedoch nicht losgelöst vom Puskin-Kult betrachtet werden sollte. In den folgenden Jahren entfaltet sich das Puskin-Gedenken zur dominanten öffentlichen Form von Memoria, die der russischen Kultur dieser Jahre im Exil wie in der Sowjetunion ein besonderes Gepräge verleiht. Die Emigration setzt die in Petrograd begonnene Puskin-Feier fort, verlagert allerdings die Akzente.

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Das Puskin-Gedenken der »Ersten Emigration« versucht, an den säkularen Dichterkult des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzuknüpfen und Puskin als »Kulturheros«, als zentrale Instanz und Integrationsfigur neu zu bestimmen. 49 Der Name Puskin und das Puskin-Gedenken stehen stellvertretend für die gesamte Petersburger Epoche bis hin zum »Silbernen Zeitalter«, und damit für die Ära einer gelungenen »Zivilisierung« (prosvescenie) Rußlands und seiner Teilhabe an der europäischen Kultur. 50 In Estland feierte man 1924 zum 125. Geburtstag Puskins einen »Tag der russischen Kultur« (den russkogo prosvescenija), dessen Erfolg den Prager Literaturwissenschaftler Alfred Böhm veranlaßte, dieses Modell zu übernehmen und den 10. Juni, Puskins Geburtstag, als alljährlichen Feiertag der gesamten Emigration vorzuschlagen. Dreizehn Länder der russischen Diaspora schlössen sich bereits 1 925 dem Aufruf an, die Feiern wurden allgemein als Ausdruck eines tieferen geistig-kulturellen Zusammenhaltes der äußerlich so zersplitterten russischen Emigration empfunden. 5 ' 1926 proklamierte der letzte Botschafter des Zaren in Frankreich, der Politiker und Anwalt V. A. Maklakov, Puskins Geburtstag in einer Pariser Festrede endgültig zum russischen Nationalfeiertag außerhalb Rußlands. Maklakov unterstrich, daß es bis zur Revolution nur kirchlich-religiöse oder dynastische, häufig wechselnde Feiertage gegeben habe - keine nationalen, zivilen, staatlichen, da die Intelligencija den 9. Oktober als Tag der Bauernbefreiung nicht im allgemeinen Bewußtsein als Nationalfeiertag habe verankern können. Schon gegen Mitte der zwanziger Jahre wird also der Puskin-Kult Teil einer soziokulturellen Praxis, durch die sich die geistige Elite im Exil zu konstituieren suchte. In den Gedenkreden, die in ersten Jahren bei den Feiern zum »Tag der russischen Kultur« gehalten wurden, ging es in erster Linie um die spezifische »Mission des Exils«: Werte und Errungenschaften der alten russischen Kultur sollten vor der Vernichtung durch die neuen sowjetischen Machthaber bewahrt und an künftige Generationen weitergegeben werden. Die Verunsicherung angesichts einer wirren, in den Grundfesten erschütterten Gegenwart führte Emigranten immer wieder zur Rückversicherung bei einer als »beispielgebend«, »vorbildlich« oder schlicht »groß« verklärten Vergangenheit. Wie sehr dabei die Muster des Totengedenkens für Puskin fortbestanden und dominierten, läßt sich an der Rede Puskin und die russische Emigration des Historikers I. V. Gessen illustrieren, die mit wörtlichen Zitaten auf die Gedenkreden zum 84. Todestag Puskins 1921 in Petrograd verweist und diese Filiation auch ausdrücklich in Anspruch nimmt. Nun aber wird die ritualisierte Namensnennung des Totengedenkens mit der Identität der Emigration verknüpft: »Der Name Puskins hat für die Emigration eine völlig außergewöhnliche Bedeutung erlangt. Die Emigration hat nicht auf die Jubiläumsdaten gewartet, um den großen Dichter zu rühmen. Sie hat einen

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Feiertag der russischen Kultur eingerichtet und zu deren Symbol den Geburtstag Puskins gewählt.« 52 Nur der Emigration sei es vergönnt gewesen, die in Petrograd inaugurierte Tradition des Puskin-Gedenktags wirklich fortzusetzen. In Anlehnung an V. Chodasevic argumentiert Gessen, die Emigration müsse den Traditionsbruch der Revolution neutralisieren oder zumindest abdämpfen: »Im Angesicht der herannahenden Dunkelheit hat sich die Notwendigkeit, Puskin zu verstehen, wie von selbst ergeben, die Notwendigkeit, alles, was uns bekannt ist, zu festigen, unser Band mit seiner Zeit auszuprägen und auf diese Weise sein Vermächtnis zu erfüllen.«'' 3 Das Ende der Rede geht in eine Beschwörung, ja in eine Art von Gebet über: Das vom Himmel gesandte Leiden der Exilanten werde dereinst als Segen erkannt werden. Offensichtlich soll die »Bildungs-« bzw. »Zivilreligion«, der auch die emigrierten Teile der Intelligencija die Treue hielten, Elemente des orthodoxen Totengedenkens integrieren. 1939 erschien im Brüsseler Verlag Les Editions Petropolis unter dem Titel Nekropolis ein Erinnerungsband des russischen Lyrikers, Literaturkritikers und Literarhistorikers Vladslav Felicianovic Chodasevic. 54 Zunächst nur von wenigen Kritikern der Emigration wahrgenommen, gelten diese Erinnerungen heute als eine wichtige Quelle zur Psychologie und Mentalität der russischen literarischen Intelligenz in den Umbruchsjahrzehnten von 1905 bis 1920. Chodasevics Erinnerungen an Dichterfreunde, die im Zeitraum zwischen 1916 und 1936 verstorben waren, konnten im Jahr 1939 von einem kleinen Leserkreis sowohl als Verweis auf die versunkene Petersburger Epoche der Vorkriegszeit als auch auf den Uberlebenskampf und das Scheitern avantgardistischer Künstler in der Sowjetunion und im Exil verstanden werden. Wenige Monate nach dem Erscheinen des Buches starb der Dichter, kaum ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg, nach dem deutschen Einmarsch 1940 löste sich der kulturelle Nukleus des Pariser Exils rasch auf. Die in dem Buch zu einer Epochensicht summierten Nekrologe besiegelten so zugleich das Ende der »Ersten Emigration«. Im Vergleich zu allen anderen Memoiren hat Nekropolis die längste Entstehungszeit, von der Konzeption Mitte der zwanziger Jahre bis 1936, dem Todesjahr Gor'kijs. Die Nachrufe entstanden als Beiträge für die russischen Emigrantenpresse, wurden zunächst in der Tageszeitung Wiedergeburt und der Zeitschrift Zeitgenössische Annalen publiziert und bildeten erst im Laufe der Jahre ein Textkorpus sui generis. Sie umfassen in der Endversion neun eigenständige biographisch-literarhistorische Skizzen - in der Reihenfolge des Werkes: Nina Petrovskaja, Brjusov, Belyj, Muni 5 5 , Gumilev, Blok, Gersenzon, Sologub, Esenin und Gor'kij. Die Skizzen sind nicht schematisch ihrer chronologischen Entstehungszeit nach geordnet, vielmehr gliedert das Doppelporträt Gumilevs und Bloks den Band in ungefähr zwei gleichgewichtige Teile zu je vier Skizzen, die wieder-

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um untereinander und mit verschiedenen Lebensphasen des Autors verbunden sind. Blok und Gumilev werden unter dem Zeichen der Juxtaposition und schärfsten Opposition eingeführt. Ein Feuerwerk brillanter Paradoxa und Widersprüche baut Satz für Satz unvereinbare Gegensätzlichkeiten auf: Zu Beginn der Gumilev und Blok gewidmeten Doppelskizze wird das Todesdatum Kristallisationspunkt der gesamten Erzählung: »Blok starb am 7. August 1921, Gumilev am 27. Doch für mich sind beide am 3. August gestorben.« 56 Der zweifache Dichtertod im August 1921 verschmilzt in der Retrospektive zu einem einzigen Ereignis von symbolischer Tragweite. Am 3. August erfuhr Chodasevic von der dramatischen Verschlechterung im Zustand Bloks und führte ein langes mitternächtliches Gespräch mit Gumilev. Vor diesem Hintergrund gliedert das Doppelporträt nicht nur die Lebensphasen des Lyrikers Chodasevic, sondern markiert auch die russische Epochenzäsur schlechthin: das Ende des »Silbernen Zeitalters« zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 und den Abschluß der über zwei Jahrhunderte währenden Petersburger Periode. Auch die Petersburger Periode des Memoirenschreibers von 1920 bis 1922 markiert eine tiefe biographische Zäsur: Nach seiner Moskauer Zeit von 1886 bis 1920 sind die beiden letzten Jahre, die er in Rußland verbrachte, zugleich der Höhepunkt seines Ruhmes, Chodasevic wurde von führenden Literaturkritikern als Nachfolger des verstorbenen Blok angesehen. Mit einer abschließenden Geste errichtet Vladislav Chodasevic den symbolistischen Dichtern, mit denen er im Laufe seines Lebens bekannt wurde, eine Nekropole aus Worten. Die Dichter der Stadt, Puskin, Gogol', Dostoevskij, Mandel'stam, Achmatova oder Livsic, schrieben an einem großen Text über Petersburg, der immer auch versucht, die Macht der Steine (und damit die Macht der Herrscher) durch die Macht der Worte zu überbieten. Manche Texte bezweifeln sogar die steinerne Wirklichkeit der Stadt, erklären sie zur puren Imagination. Der von Chodasevic trotz aller Treulosigkeit so geliebte Belyj summierte diesen Urbanen Mythos und beschwor ihren künstlichen, zerebralen Charakter in seinem gleichnamigen Roman Petersburg auf der Folie sämtlicher »Petersburger Texte«. 57 Er verwandelte den Stein zurück in Imagination, tauschte ihn gegen die Schrift, machte die Stadt als Buch lesbar, indem er die Fähigkeit der Sprache zur Metonymie bis an die Grenzen ausnutzte. Chodasevic wiederum realisierte die Metapher der Totenstadt im Totenbuch und entwarf Nekropolis als eine Grablege der Dichter.

V Hier sei zunächst eine Bilanz für die literarischen Memoiren als Gattung des Dichtergedenkens versucht: Gedenkfeiern und literarische Memoiren grenzen ein Kräftefeld ab, auf dem literarische Texte mit anderen kulturellen

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Äußerungen und Ereignissen zusammenwirken. Die Dichterautobiographie wie auch die Erinnerungen der Dichter an Dichter bieten das Beispiel eines Transformationsmediums, das Elemente des kommunikativen Gedächtnisses in Elemente des kulturellen Gedächtnisses übersetzt. Die literarischen Memoiren setzten unmittelbar nach Bloks Begräbnis ein, um die Bilder vom aufgebahrten, der Verwesung schon anheimgegebenen Dichter durch die Schrift einzuholen, dem Skandalon des Todes mit der sakralen Aura der Schrift zu begegnen. Der Nekrolog, den ein Dichter für einen anderen Dichter, im untersuchten Fall etwa Andrej Belyj für Aleksandr Blok, verfaßt, ist erst zweitrangig ein privater Akt der Trauer, in erster Linie aktiviert er Potentiale der gesamten russischen Kultur. Die Gedenkfeiern für Puskin und das Begräbnis Bloks weisen als Rituale bzw. ritualisierte Handlungen einen performativen Charakter auf, was sie eher zum kommunikativen Gedächtnis tendieren läßt. Die Erinnerungen an das literarische Leben vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917 übertragen performative Anteile in die Schrift, das heißt, sie fixieren diese und überführen sie ins kulturelle Gedächtnis. Ihre singuläre Qualität leitet sich ab aus einer Zeitgenossen- und Zeugenschaft, einer personalen, in der Biographie des Memoirenschreibers verankerten Beziehung zu den erinnerten Personen. Ihr Schwerpunkt lag in der unmittelbaren, jüngsten Vergangenheit, die jedoch durch den Epochenbruch von 1917 in mythische Ferne entrückt scheint. Die »soziale Autobiographie« 58 der Generation von Künstlern, die innerhalb weniger Jahre die russische Moderne schufen, mußte vor dem Hintergrund des Epochenbruchs neu geschrieben werden. Uber die mythisch ferne Zeit der Ära vor der Revolution konnten am ehesten spezielle Traditionsträger berichten: zu diesem engen Kreis gehörten die Dichter. Die Migration des poetischen Erinnerungstextes überwindet die politischen Schranken zwischen den Subsystemen von sowjetischer Literatur und Exilliteratur. Nach einem Wort von Benedikt Livsic kommt es zu einer »Polemik mit der Vergangenheit um die Vergangenheit«. 59 Die Para- oder Schwellentexte dieser Erinnerungen - Autorenname, Werktitel und Untertitel - verdienen besondere Aufmerksamkeit. Die Namen der Autoren waren für alle kundigen Leser untrennbar mit einer bestimmten Auffassung von Dichterbiographie verbunden - und zwar im doppelten Sinn des gelebten und beschriebenen Dichterlebens. Neben den bereits besprochenen Memoiren von Belyj, Gippius und Chodasevic seien als wichtigste Vertreter der Gattung genannt: Das Rauschen derZeitvon O. Mandelstam 6 0 , Petersburger Wintervon Georgij Ivanov61, Begegnungen von Vladimir Pjast 62 , Der Geleitbrief von Boris Pasternak 63 , Der anderthalbäugige Bogenschütze 64 von Benedikt Livsic , Lebendiges über einen Lebenden, Der gefangene Geist und Ein ferner Abend von Marina Cvetaeva. 65

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Daß sich die Dichter sehr wohl bewußt waren, nicht nur individuelle Memoiren niederzuschreiben, sondern auch an einer umfassenden »Erinnerungsschrift«, der »Biographie einer Generation« 66 mitzuwirken, läßt sich schon auf Grund der Werktitel vermuten: Keiner der Autoren benutzt die im 19. Jahrhundert üblichen kollektiven Gattungsbezeichnungen zapiski!Notizen oder vospominanija/Erinnerungen, vielmehr bevorzugen alle ohne Ausnahme stilistisch markierte, emphatische »Paratexte« über Zeitlichkeit und Endlichkeit mit reichen kulturhistorischen Konnotationen. Allein aus der Reihung dieser Paratexte ließe sich bereits eine Art von übergreifender Thematik herauspräparieren: eine Erzählung über den russischen Künstler- bzw. Dichtermythos, dessen Zentrum im modernen Petersburg lag — einer Stadt, die durch die Katastrophen des Weltkriegs und der Revolution zur Nekropole geworden ist und die aus der Retrospektive des Exils bzw. der sowjetischen Diktatur Züge eines mythischen Zwischenreiches hat. Die Erinnerungsschrift, welche die Toten als Lebende beschwört, gewährt den Dichtern Schutz und Geleit aus einer Zeit der Wirren und Zerstörungen hinaus in die Zeitlosigkeit. Betrachtet man nun die Gesamtheit der russischen Kultur in Mutterland und Diaspora in der Zeit zwischen 1920 und 1940, so lassen sich folgende Hypothesen formulieren bzw. Forschungsaufgaben skizzieren: Die Feier des toten Dichters bzw. das Totengedenken besetzt in der Hierarchie der Kultursymbole des Exils wie der Sowjetunion einen solch hohen Rang, daß analog zur schöpferischen Transformation des Todes in einem dichterischen Werk von einer »Thanatopoetik« der russischen Kultur gesprochen werden kann. 67 In einer ersten Annäherung ließe sich die Thanatopoetik als kollektive Antwort auf die Verlusterfahrungen und Verlustängste beschreiben. Als zentraler Bestandteil der »Thanatopoetik« wäre das Dichtergedenken zu betrachten, das sich ebenso aus verbalen, sprachlichen bzw. »vertexteten« Elementen wie aus nonverbalen Zeichen bzw. Ritualen zusammensetzt, das heißt in einen umfassenden Zusammenhang zwischen Ritual, Bild und Schrift eingebettet werden muß. Zwischen Emigration (diaspora) und Mutterland (metropolija) fand bis in die frühen dreißiger Jahre ein intensiver Dialog über das Dichterbild bzw. die Dichterbiographie der Moderne statt. 68 Dabei fiel den literarischen Memoiren des Exils die Aufgabe zu, das kulturelle Gedächtnis Rußlands, das durch den Zivilisationsbruch gefährdet und beschädigt schien, aufrechtzuerhalten. Zwei Jahre nach Bloks Dichterbegräbnis schließt sich das erste sowjetische »Herrscherbegräbnis« an. Vladimir Il'ic Lenin, der in Revolution und Bürgerkrieg ohne Zögern den Tod Tausender zuließ, wird postum in einen Märtyrer verwandelt, der für Volk und Revolution selbst den Opfertod erleidet. Die Etappen der Passion Lenins — Erkrankung, Hoffnung auf Genesung, Todeskampf, Aufbahrung, Défilé der Trauernden, Obduktionsbericht, Ein-

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balsamierung, Ausstellung im Mausoleum - kulminieren mit einer gewissen Folgerichtigkeit in der Heiligsprechung. 1924 wird als Parteidogma verkündet, Lenin sei den Opfertod für Volk und Revolution gestorben. 69 In seinem Poem Vladimir Il'ic Lenin nennt Vladimir Majakovskij den politischen Führer »lebendiger als alle Lebenden«. 7 0 So gewinnt der Tote auf Grund seines Todes überlebensgroße Statur und nimmt eine magische vitale Kraft an, die ihn über alle Lebenden stellt. Die Begräbnisfeierlichkeiten für Blok, die die Zeitzeugen im August 1921 schon tief beeindruckt hatten, überbietet das Massenspektakel für Majakovskij 1930, in dem spontane Trauerbekundungen und totalitärer Personenkultus eine schwer zu entwirrende Verbindung eingingen. Majakovskijs Tod von eigener Hand lenkte die Aufmerksamkeit des stalinistischen Regimes notgedrungen auf das politische Potential des Dichtergedenkens, denn angesichts der Popularität Majakovskijs war an ein Verschweigen seines Selbstmordes nicht zu denken. Das Begräbnis wird daher als eine pompöse, bis in Details gelenkte und überwachte Staatszeremonie inszeniert. Im Fall des ersten großen sowjetischen Dichterbegräbnisses wird also auf das traditionelle Begräbnisritual ein neues säkularisiertes Ritual aufgepfropft, das von den sozialen Energien der vorrevolutionären Kultur zehrt. War die Totenfeier für Puskin im Februar 1921 eine elitäre Veranstaltung von gefeierten Künstlern und angesehenen Gelehrten, so wetteifern »Erste Emigration« und Mutterland 1937 bei den Feiern zu Puskins hundertstem Todestag darin, mit Hilfe moderner Massenmedien breiten Leserkreisen ihr jeweiliges, ideologisiertes und politisiertes Puskin-Bild zu suggerieren. In der Sowjetunion vollzog sich in dem Jahrzehnt, das der Puskin-Feier von 1937 vorausging, die Ablösung von der avantgardistisch-experimentellen PuskinPhilologie und -Biographik, wie sie die Formalisten und Futuristen betrieben hatten, und die Hinwendung zu einem ideologisierten und kanonisierten Dichterbild. Nach dem Schriftstellerkongreß von 1934 wird das Totengedenken für Majakovskij und Puskin zudem Teil eines staatlich gelenkten Literaturbetriebs. Die gewaltige Propagandamaschine eines modernen totalitären Staates war damit ausgelastet, die Ehrung des Nationaldichters als Triumph einer neuen Massenkultur darzustellen. Während der Terror seinem Höhepunkt entgegenstrebte und zahlreiche Angehörige der Intelligencija liquidiert oder in Straflagern isoliert wurden, sollten die kanonischen Texte des klassischen Dichters nun in Massenauflagen jeden Winkel der Sowjetunion erreichen. Da der Umgang mit dem Kulturheros Puskin in der russischen Moderne viel über die Grundhaltung zur Opposition von Leben und Tod verrät, dürfte die Puskin-Feier als Totenfeier für eine generelle Verschiebung in Richtung auf ein dominant thanatopoetisches Kulturmuster sprechen. 71

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Bei allen äußeren Gegensätzen läßt sich für den Zeitraum von 1921 bis 1939 eine parallele Instrumentalisierung des russischen Dichtergedenkens im Exil und im Mutterland feststellen. Die Totenfeier als Dichterkult wird in der »Ersten Emigration« u n d in der Sowjetunion institutionalisiert, die Entwicklung erreicht ihren H ö h e p u n k t im Jahr 1937 mit den Feiern zum hundertsten Todestag Puskins, die zugleich den H ö h e p u n k t des stalinistischen Terrors markieren und die Auflösung der Emigration ahnen lassen. Der hundertste Todestag Puskins 1937 erhält aus diesem Blickwinkel eine »eschatologische« Qualität: Er bezeichnet die äußerste Epochengrenze der klassischen russischen Moderne. 7 2

1 Vgl. z.B. Robert P. Hughes: »Pushkin in Petrograd, February 1921«. In: B. Gasparov/R. P. Hughes/I. Paperno (Hg.): Cultural Mythologies of Russian Modernism. From the Golden to the Silver Age. Berkeley - Los Angeles - Oxford 1992, S. 2 0 4 - 2 1 3 . — 2 Vgl. Ludwig Steindorff: Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge. Stuttgart 1994, S. 251. >• (...) ist die im Vergleich zu Westeuropa so viel stärkere Bewahrung von alten Formen der Totensorge als Teil der Volkskultur bis in die Gegenwart ein Anzeichen dafür, wieviel von der Welt Altrußlands alle Modernisierung überdauert hat.« Vgl. auch ebd., S. 2 3 9 - 2 4 1 . — 3 Vgl. Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Bd. I: From Peter the Great to the Death of Nicholas I. Princeton 1995, S. 7 5 - 7 8 . — 4 Zur Erfindung von »modernen Traditionen« und ihrer Position im kulturellen Gedächtnis vgl. z. B. Paul Connerton: How Societies Remember. Cambridge 1989. — 5 Vgl. vor allem Marcus Levitt: Russian Literary Politics and the Pushkin Celebration of1880. Ithaca 1989. — 6 M. N. Verolajnen: »Kulturnyj geroj novogo vremeni«. In: Legendy i mify o Puskine: Sbornik statej. Pod red. k.f.n. M. N. Virolajnen. St. Petersburg 1995, S. 3 2 9 - 3 4 9 . — 7 Vgl. M. Levitt: »Pushkin in 1899«. In: B. Gasparov/R. P. Hughes/I. Paperno (Hg.): Cultural Mythologies of Russian Modernism (s. Anm. 1), S. 183 — 203. — 8 Um 1900 erreichen Dichterbiographien (auch Gogols und Lermontovs) zudem erstmals eine Massenleserschaft. Vgl. Stephen Moeller-Sally: »Parallel Lives: Gogol s Biography and Mass Readership in Late Imperial Russia«. In: Slavic Review1) A (1995), S. 6 2 - 7 5 . — 9 Vgl. Irina Paperno: »Puskin vzizniceloveka Serebrjanogo veka«. In: B. Gasparov/R. P. Hughes/I. Paperno (Hg.): Cultural Mythologies of Russian Modernism (s. Anm. 1), S. 1 9 - 5 1 . — 10 Vgl. Elsa Mahler: Die russische Totenklage. Ihre rituelle und dichterische Deutung. Leipzig 1935, S. 643. — 11 Aleksandr Blok: Sobraniesocinenij. Tomsestoj. Moskva - Leningrad 1962, S. 164. — 12 M. Kuzmin: Izbrannye proizvedenija. Leningrad 1990, S. 204. — 13 Ebd. — 14 V. Chodasevic: Koleblemyj trenoznik. Izbrannoe. Moskva 1991, S. 2 0 1 - 2 0 5 . — 15 Ebd., S. 202. — 16 Ebd., S.205. — 17 Vgl. etwa Nina Berberova: Kursiv moj. Avtobiografija. Moskva 1996, S. 157: »... es dürfte in der Menge niemanden gegeben haben, der zumindest für einen Augenblick nicht daran gedacht hätte, daß nicht nur Blok gestorben war, sondern diese Stadt, daß ihre besondere Macht über die Menschen und die Geschichte eines ganzen Volkes zuende ging.« Vgl. auch den Nekrolog von Nina Berberova für Chodasevic, in dem sie Bloks Begräbnis als Ende der Petersburger Ära und Chodasevics Begräbnis als Ende der Emigration parallelisiert: Nina Berberova: »Pamjati Chodasevica«. In: Sovremennyezapiski. LXIX (1939), S. 2 5 6 - 2 6 1 . — 18 Vgl. Paul Connerton: How Societies Remember (s. Anm. 4), S. 72 ff. das Kapitel »Bodily Practices«. —

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19 Darunter Politiker, Philosophen, Historiker, Soziologen, Agronomen, Ingenieure und Ärzte. Vgl. die Wertung von Karl Schlögel: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne Petersburg 1909-1921. Berlin 1988, S . 4 8 0 : »...ein lange vorbereiteter, fast chirurgisch präziser Eingriff der Macht in den lebendigen Körper der russischen Kultur, eine Staatsaktion zur Bereinigung der intellektuellen Landschaft Rußlands, eine Massenausweisung — mit Folgen, die sich allein an der Zahl der Verbannten und Zwangsexilierten kaum ablesen lassen.« Vgl. auch M . Geller: »Pervoe preduprezdenie - udar chlystom (K istorii vysylki iz Sovetskogo Sojuza dejatelej kultury v 1922g.)«. In: Vestnik russkogo christianskogo dvizenija (1978), No. 124, S. 1 8 7 - 2 3 2 , und B. N. Losskij: »K izgnaniju ljudej mysli«. In: russkij almanach. Paris 1981, S. 3 5 1 - 3 6 2 . — 20 Vgl. z.B. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 61: »Wenn Erinnerungskultur vor allem Vergangenheitsbezug ist, und wenn Vergangenheit entsteht, wo eine Differenz zwischen Gestern und Heute bewußt wird, dann ist der Tod die UrErfahrung solcher Differenz und die an die Toten sich knüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung.« — 21 Ebd., S . 8 - 6 6 . — 22 Vgl. Otto Gerhard Oexle: »Memoria als Kultur«. In: Ders. (Hg.): Memoria als Kultur. Göttingen 1995, S. 32. — 2 3 Ebd. — 24 Vgl. Irina Paperno: »Puskin v zizni celoveka Serebrjanogo veka« (s. Anm. 9), S. 40. — 25 Roman Jakobson: »O pokolenii, rastrativsem svoich poetov«. In: Smert Vladimira Majakovskogo. The Hague - Paris 1975- — 26 Die wichtigsten Todesfälle unter russischen Dichtern seien hier genannt: Erschöpft von den Entbehrungen der Bürgerkriegsjahre sterben Vasilij Rosanov 1919 in Sergiev Posad, Aleksandr Blok 1921 in Petrograd, Velemir Chlebnikov 1922 im Gouvernement Novgorod. Nikolaj Gumilev wird im August 1921 erschossen. Sergej Esenin begeht 1925 Selbstmord, Valdimir Majakovskij 1930 und Marina Cvetaeva 1941. Mit einer Überdosis Heroin entzieht sich 1935 der junge Boris Poplavskij in Paris einem elenden Emigrantendasein. Völlig isoliert sterben in der Sowjetunion Andrej Belyj 1934 und Michail Kuzmin 1936 eines frühen, immerhin natürlichen Todes und gerade rechtzeitig, um dem »Großen Terror« zu entgehen. 1937 wird Pavel Florenskij in einem Konzentrationslager auf den Solovki-Inseln erschossen, wohl ein Jahr später werden Nikolaj Kljuev und Benedikt Livsic hingerichtet. Im Dezember 1938 geht Osip Mandelstam in einem sibirischen Transitlager zugrunde. Vladislav Chodasevic stirbt 1939 verbittert im Pariser Exil. Uberlebende wie Pasternak oder Anna Achmatova geraten mehr als einmal an den Rand des Abgrunds. — 27 Vgl. erste Ansätze z. B. bei E Garetto: »Memuary i tema pamjati v literature russkogo zarubez'ja«. In: Blokovskij Sbornik XIII. Russkaja kul'tura XX veka: Metropolija i diaspora. Tartu 1996, S. 101 - 1 0 9 , sowie den allerdings eher deklaratorischen und sehr vagen GedächtnisBegriff bei V. Kostikov: Ne budem proklinat' izgnan'e... Puti i sud'by russkoj emigracii. Moskva 2 1994. — 28 Die Texte sind versammelt in Andrej Belyj: Vospominanija o Blöke. Vstupitel'naja statja, sostavlenie, podgotovka teksta i kommentarii A. B. Lavrov. Moskva 1997. — 29 Ebd., S. 568. — 30 Ebd., S. 443. — 31 Ebd., S. 444. — 32 Ebd. — 33 Andrej Belyj: Sobranie socinenij. Vospominanija o Blöke. Pod redakcii V. M . Piskunova. Moskva 1995. — 34 Vgl. Lazar' Fleishman: »Bely's Memoir«. In: Andrey Bely. Spirit of Symbolism. Edited by J. E. Malmstad. Ithaca - London 1987, S . 2 1 6 - 2 4 1 , S. 225/226. — 35 Ebd., S . 2 1 9 f f . — 36 Erstausgaben: Andrej Belyj: Na rubeze dvuch stoletij. Moskva 1930; Ders.: Nacalo veka. Moskva - Leningrad 1933; Ders.: Mezdu dvuch revoljucij. Leningrad 1934. — 37 Andrej Belyj: Mezdu dvuch revoljucij. Moskva 1990, S. 9. — 38 Ebd. — 39 Ebd. — 40 Ebd., S. 297. — 41 Nach den Worten von Lev Kamenev, der das Vorwort schrieb. Vgl. Lazar' Fleishman: »Bely's Memoir« (s. Anm. 34), S.234. — 42 Erstausgabe: Zinaida Gippius: Z i v y e lica. Praga 1925, vyp.I-II. Hier nach folgender Ausgabe zitiert: Zinaida Gippius: Z i v y e lica. Stichi. Dnevniki. Tbilisi 1991. — 4 3 Vgl. z. B. Z. I. Gippius: Stichotvorenija ipoemy. Tom I. 1 8 9 9 - 1 9 1 8 . First comprehensive edition compiled, annotated and with an introduction by Temira Pachmus. München 1972, S. VII-XLI. — 44 Dazu Emma Gerstejn in ihrer Einleitung zu Anna Achmatova: Zapisnye knizki Anny Achmatovoj (1958—1966). Moskva - Torino 1996, S. XI. — 45 Ebd., S. 56/57. — 4 6 Ebd., S. 60. — 47 Vgl. Gleb Struve: Russkaja literatura v izgnami. Paris - Moskau ' 1 9 9 6 , S. 2 9 - 3 2 . — 48 F. Boldt/D. Segal/L. Flejsman: »Problemy izucenija literatury russkoj emigracii pervoj treti XX veka«. In: Slavica Hierosolymitana. Vol.

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III. Jerusalem 1978, S. 7 5 - 8 9 . — 49 Nikita Struve: »Russkaja èmigracija i Puskin«. In: Vestnik russkogo christianskogo dvizenija. Nr. 149, 1987, S. 2 3 2 - 2 3 6 . — 50 Vgl. Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919—1939. New York - Oxford 1990, S. 21. — 51 Vgl. wie auch zum folgenden G. A. Kuzina: »Znacenie >Dnej russkoj kultury< v zizni rossijskoj èmigracii pervoj volny«. In: A. V. Kvakin (Hg.): Kultura rossijskogo za.rubez'ja. Moskva 1995, S. 4 6 - 5 8 . — 52 I. V. Gessen: »Puskin i russkaja èmigracija«. In: Odnodnevnajagazeta Puskin. Paris 1937, S. 7. — 53 Ebd. — 54 Erstausgabe: Vladislav F. Chodasevic: Nekropol. Vospominanija. Bruxelles (Les Editions Petropolis) 1939. Hier zitiert nach folgender Ausgabe: Vladislav F. Chodasevic: Nekropol. Paris (Reprintausgabe YMCA-Press) 1976. — 5 5 Das Pseudonym für Chodasevics Jugendfreund, den jüdischen Dichter Sergej Kissin. — 56 Vladislav F. Chodasevic, Nekropolis. Anm. 54), S. 118. — 57 Vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990. — 58 Aleida und Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, Studienbrief ¡6 zum Funkkolleg »Medien und Kommunikation«. Hessischer Rundfunk/Deutsches Institut für Fernstudien. Tübingen 1990, S. 45. — 59 Benedikt Livsic: Polutoroglazyj strelec. Originalausgabe: Moskva 1933. Reprint: New York 1976, S. 1. — 60 Erstausgabe: Osip Mandelstam: Sum vremeni. Leningrad 1925. — 61 Erstausgabe: Georgij Ivanov: Peterburgskie zimy. Paris 1928. Zweitausgabe mit Textveränderungen: Ders.: Peterburgskie zimy. New York 1952. — 62 Erstausgabe: Vladimir A. Pjast: Vstreci. Moskva 1929. — 6 3 Erstausgabe: Boris Pasternak: Ochrannaja gramota. Leningrad 1931. — 64 Erstausgabe: Benedikt Livsic: Polutoroglazyj strelec. Leningrad 1933. — 65 Erstausgaben: Marina Cvetaeva: »Zivoe o zivom«. In: Sovremennye zapiski. LI 1/LI 11. Paris 1933; Dies.: »Plennyj duch«. In: Sovremennye zapiski. LV. Paris 1934; Dies.: »Nezdesnij vecer«. In: Sovremennye zapiski. LXI. Paris 1936. — 66 So Benedikt Livsic in einem Brief an M . A. Zenkevic vom 14. Januar 1934. Hier zitiert nach dem Kommentar zur Ausgabe Benedikt Livsic: Polutoraglazyj strelec, Stichotvorenija. Perevody. Vospominanija. Leningrad 1989, S . 6 0 8 . — 67 Zum Begriff »Thanatopoetik« vgl. z.B. Aage Hansen-Löve: »Mandel'stams Thanatopoetics«. In: R. Vroon/John Malmstad (Hg.): Readings in Russian Modernism. Moscow 1993, S. 121 — 1 58. Der vorgeschlagene Ansatz, löst diesen Begriff vom Sprachkunstwerk im engeren Sinne ab und überträgt ihn auf die gesamte russische Kultur der Epoche. Er nimmt damit methodische Anregungen der sogenannten »poetics of culture« auf, die versucht, den poststrukturalistischen Erkennntisstand über »die Geschichtlichkeit von Texten und die Textualität von Geschichte« in ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit umzusetzen, indem sie Elemente aus den Regelwerken der Dichtungslehren (Poetik), aber auch generell literarische Verfahren und Typologien für ein Kulturmodell fruchtbar macht. Vgl. z. B. Stephen Greenblatts: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1988. Dort findet sich auf S. 5 folgende Definition der »poetics of culture«: »study of the collective making of distinct cultural practices and inquiry into the relations among these practices«. — 68 In diesem Sinne hat der Pasternak-Forscher Lazar' Fleishman schon vor längerer Zeit gefordert, die russische Literatur bzw. Kultur der Epoche als System mit zwei Subsystemem zu betrachten, die in dynamischen Beziehungen zueinander stehen. Lazar' Fleishman: »Neskol'ko zamecanij k probleme literatury russkoj èmigracii«. In: Georges Nivat (Hg.): Une ou deux littératures russes*IOdna Hi dve russkich literatury? Lausanne 1981, S. 6 3 - 7 6 , hier S. 63. — 69 Nina Tumarkin: Lenin Lives! The Lenin Cult in Soviet Russia. Cambridge/Massachusetts - London 1983, S. 173: »The medical reports that said Lenin died for the revolution were depicting him as a saintly prince whose dedication to his people robbed him of a long life. He died as a consequence of fulfilling his duties as ruler of Russia. During the days of mourning the press emphasized this sacrifice, calling him a great sufferer. But the most evocative symbol of Lenins sanctity and immortality was the preserved body exhibited in the mausoleum. It perpetuated the popular devotion to him exhibited at his lying-in state and turned him into a holy relic.« Kritisch mit diesen Thesen setzt sich in letzter Zeit auseinander Benno Ennker: Die Anfange des Leninkults in der Sowjetunion. Köln - Weimar - Wien 1997. — 70 Vladimir V. Majakovskij: Polnoe sobranie socnenij, 13tt. Bd. VI. Moskva 1959, S. 137. — 71 Vgl. Rainer Grübel: »Gabe, Aufgabe, Selbstaufgabe: Dichter-Tod als Opferhabitus. Zur Genese des sowjetischen Perso-

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nenkultes aus Dichtertod, Lenin- und Puskingedenken«. In: K. Städtke (Hg.): Welt hinter dem Spiegel. Zum Status des Autors in der russischen Literatur der 1920er bis 1950er Jahre. Berlin 1998, S. 1 3 9 - 2 0 5 . Hier S. 191: »Im literarischen Feld der dreißiger Jahre verdrängt das Puskin-Gedenken den autonomen Habitus des lebenden Dichters.« — 7 2 Vgl. Boris Gasparov: »The >Golden Age< and its Role in the Cultural Mythology of Russian Modernism«. In: B. Gasparov/R. P. Hughes/I. Paperno: Cultural Mythologies of Russian Modernism (s. Anm. 1), S. 1 - 1 9 , S. 13.

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Goethe-Rezeption im Exil 1 9 3 3 bis 1949 1

»Indem wir Goethe verteidigen, erwächst uns aus seinem Werk und Leben die Waffe gegen das Barbarentum par excellence.« Hermann Ebeling in der Pariser Tageszeitung vom 29./30. Mai 1938 »Melancholieanfall durch Borreltjes und Goethe überwunden.« Max Beckmann in seinem Tagebuch am 11. Juli 1943 »Ein Deutscher, im Begriff ausgebürgert zu werden, macht gemeinsame Sache mit einem anderen Deutschen, Goethe, der jetzt auch nicht in Weimar säße, sondern Haus und Habe wären ihm fortgenommen, er teilte mit uns allen das Exil.« Heinrich Mann zur Ausbürgerung seines Bruders Thomas am 2. Dezember 1936 in Die neue Weltbühne, 10. Dezember 1936 Goethe als Waffe im politisch-publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus, als Trost und Hilfe zum Überleben, Goethe als Identifikationsgestalt und Orientierungshilfe in der Extremsituation des Exils - die Worte Hermann Ebelings, damals Leiter des Sozialistischen Jugendverbandes Deutschlands in Paris, Max Beckmanns in Amsterdam und Heinrich Manns in Nizza belegen beispielhaft wichtige Facetten der Goethe-Rezeption im Exil. Die fast enthusiastische Hinwendung vieler Exilierter zu Goethe scheint nicht selbstverständlich gewesen zu sein nach der Zeit der Weimarer Republik. Wenn auch am Anfang der ersten deutschen Republik die Berufung auf Goethe gestanden hatte — Friedrich Ebert hatte in seiner Rede vor der Nationalversammlung in Weimar am 11. Februar 1919 den »Geist von Weimar« beschworen und sich auf Goethes Faust und Wilhelm Meisters Wanderjahre berufen - , entsprach doch dem Lebensgefühl nach dem verlorenen Krieg eher eine »Abwendung von der Klassik«, wie sie der Philosoph Georg Simmel bereits 1918 in seiner viel beachteten Abhandlung Der Konflikt der

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modernen Kultur festgestellt hatte. In den Reihen der modernen Kunst- und Literaturbewegungen, vor allem der Expressionisten, war eine radikale Goethekritik wiedererstanden. Auch bei einem großen Teil der Literaturwissenschaftler kam es zu einer Interessenverlagerung von der Goetheforschung zur Barock- und Romantikforschung. Dennoch hielt eine Reihe von Autoren, allen voran Thomas Mann, an Goethe als der Zentralgestalt der deutschen Dichtung und Kultur fest. Im Jubiläumsjahr 1932 schließlich wurde Goethe wieder fast einstimmig gefeiert und in Anspruch genommen. Der vielzitierte Beitrag des spanischen Philosophen Ortega y Gasset, Um einen Goethe von innen bittend, richtete sich gegen diese umstandslose Vereinnahmung des Weimarer Klassikers.2 Die im Januar 1933 zur Macht gekommenen Nationalsozialisten beriefen sich nun statt auf Weimar auf den »Geist von Potsdam«, wie es auch durch die Eröffnung des neuen Reichstags unter dem Kanzler Adolf Hitler am 21. März 1933 in der Potsdamer Garnisonkirche demonstriert wurde. Goethe bereitete ihnen erhebliche Schwierigkeiten. Als Freimaurer, als Dichter eines übernationalen Weltbürgertums, als Verkünder gewaltfreier Humanität und vermeintlich unpatriotischer Verehrer Napoleons war er ihnen suspekt. In seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts hatte Alfred Rosenberg bereits 1930 erklärt, daß Goethe für die kommenden »Zeiten erbitterter Kämpfe« nicht brauchbar sei, weil »er sowohl im Leben wie im Dichten keine Diktatur eines Gedankens anerkennen wollte, ohne welche jedoch ein Volk nie ein Volk bleibt und nie einen echten Staat schaffen wird« 3 . So hat denn auch »die NS-Prominenz die Berufung auf Goethe in einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Unkenntnis und Berührungsangst gemieden« 4 . Dagegen haben sich die ins Exil Getriebenen vielfach auf Goethe berufen, sei es in der Kontinuität alter Verbundenheit, sei es als Wieder- oder Neuentdeckung in der Situation des Exils. Die Stimmen der politischen Publizistik sind vermutlich eine direkte Reaktion auf die Haltung der Nationalsozialisten. Gerade die von jenen verpönten Ansichten und Eigenschaften Goethes sind es, an denen sich die Exilierten orientieren. »Goethes Menschentum, sein im Nationalen natürlich wurzelnder, kosmopolitischer Humanismus« erscheint zum Beispiel Hermann Ebeling in dem eingangs zitierten Aufsatz über eine deutsch-französische Freundschaftskundgebung im Zeichen Goethes, die am 30. Mai 1938 in Paris stattfand, »das Wesentliche an dem Dichter-Menschen« für die »Jungen von heute«, die »Generation mit der Kriegs- und Inflationskindheit«. Und er fährt fort: »(...) seine vom Stempel hoher Menschenliebe geprägten Werke sind neue Wahrheiten geworden, der Verkündigung wert wie nie zuvor, alt-neue Wahrheiten mit revolutionierender Wirkung.« 5 — Auch die schöpferische Auseinandersetzung der deutschsprachigen Schriftsteller mit Goethe fand nunmehr fast ausschließlich im Exil statt.6 Hinzu kommt die Auseinandersetzung exilierter Künst-

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ler und Wissenschaftler mit Goethe und die Beschäftigung mit Goethe im Alltag des Exils: er repräsentierte auch für das Gefühl, jenseits jeden Erkenntnisanspruchs, ganz einfach das Land, aus dem man vertrieben worden war, die eigentliche Heimat.

I Politische und kulturpolitische Publizistik In der politischen und kulturpolitischen Publizistik des Exils spielt Goethe, sowohl im gedruckten Wort als auch bei Veranstaltungen und Vorträgen, eine bedeutende Rolle. An den »Geist von Weimar« kann die Exilpublizistik anknüpfen, wenn sie Goethe toposartig als einen der herausragenden, oft sogar als den ersten Vertreter eines anderen, besseren Deutschland bezeichnet, dessen Geist und Erbe über die Zeit des Nationalsozialismus zu retten Aufgabe der Exilierten sei. Dabei kann sie sich auch auf prominente Ausländer wie Romain Rolland berufen: »Alles von jenem Deutschland, das wir lieben und verehren, ist in Eurem Lager. Bei Euch sind Goethe und Beethoven, bei Euch sind Lessing und Marx. Sie sind mit Euch in dem Kampf, den Ihr führt. Ich zweifle nicht an Eurem Sieg«, hatte er in einem Brief an den Schutzverband Deutscher Schriftsteller geschrieben — Worte, die Alfred Kantorowicz seinem Buch In unserem Lager ist Deutschland7 als Motto voranstellte. Daneben fällt in der Exilpublizistik aller politischen und weltanschaulichen Richtungen die häufige Verwendung von Goethe-Zitaten auf: sie werden Zeitschriften-Nummern und Broschüren als Motto vorangestellt, werden Aussprüchen von Hitler und anderen NS-Funktionären entgegengestellt und als Kommentar zur Politik des NS-Regimes oder zur Ermutigung herangezogen. So werden zum Beispiel die Verse der »Genien« aus Des EpimenidesErwachen: »Doch was dem Abgrund kühn entstiegen...«, immer wieder auf Hitler und das NS-Regime bezogen. Goethes Bemerkung über den »Nationalhaß« gegenüber Eckermann am 14. März 1830 ist wohl das am meisten wiedergegebene Goethe-Zitat: »Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich daran lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.« Hierzu gibt es Parallelen zum Widerstand in Deutschland - so werden zum Beispiel die Verse der »Genien« auch im ersten Flugblatt der Münchner studentischen Widerstandsgruppe »Weiße Rose« vom Juni 1942 zitiert. Hingegen ist das Heranziehen von Goethe-Worten über die einzelnen Aufnah-

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meländer — wie die Vereinigten Staaten, Brasilien, Mexiko und selbst China — durch die jeweilige Exilsituation bedingt.8 In einer Reihe von Artikeln der Exilpresse wird die Frage gestellt, wie sich Goethe, aber auch andere Dichter und Philosophen der Goethezeit, wären sie Zeitgenossen gewesen, zum Nationalsozialismus verhalten hätten. Heinrich Mann hat diese Frage in dem eingangs zitierten Wort im Blick auf die Ausbürgerung seines Bruders Thomas 9 - wie die meisten Exilierten, die sich zu diesem Thema geäußert haben - im Sinne einer völligen Identifikation Goethes mit dem eigenen Schicksal in der NS-Zeit beantwortet: Auch Goethes Bücher wären verbrannt worden, auch er wäre verfolgt, enteignet, ausgebürgert, ins Exil getrieben oder im Konzentrationslager ermordet worden. Doch auch einige kritische Stimmen finden sich in diesem Zusammenhang. So nimmt zum Beispiel der ehemalige österreichische Strafanwalt Walther Rode an, daß Goethe sich zwar »gebeugt« hätte, aber »nicht zu Hakenkreuz gekrochen« wäre, wie er in seinem Aufsatz Wie würde der große Wolfgangsich gestellt haben im Neuen Tage-Buch vom 28. April 1934 schreibt. Von ähnlichen Überlegungen im Konzentrationslager berichtet der - deutschen Exilschriftstellern eng verbundene - niederländische Publizist Nico Rost in seinem Buch Goethe in Dachau, das auf Tagebuchaufzeichnungen aus seiner KZ-Haft in Dachau beruht. 10 Die Exilpresse, die am schnellsten und sensibelsten auf die Tagesereignisse reagierte, verfolgte auch den Umgang mit Goethe in NS-Deutschland aufmerksam und kritisch. Obwohl nicht Goethe, sondern Schiller als Galeonsfigur der nationalsozialistischen Kulturpolitik bezeichnet werden kann, blieb er wohl doch für die Mehrheit der Deutschen — auch über das Bildungsbürgertum hinaus — der bedeutendste deutsche Dichter. So fehlte es denn von nationalsozialistischer Seite auch nicht an Versuchen, ihn im Sinne völkischer und rassistischer Literaturpropaganda und Literaturwissenschaft zu vereinnahmen. Vor allem diese Versuche der »Gleichschaltung« und des Mißbrauchs durch die offizielle Propaganda, die Wissenschaft, die Schule und das Theater stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung und der Kommentare der Exilpresse. Von 1934 an werden auch die Jahrestagungen der Goethe-Gesellschaft in Weimar und einige Versuche ihres Präsidenten Julius Petersen, sich den neuen Machthabern anzupassen", in verschiedenen Exilzeitschriften kommentiert. Die anfangs sogar geduldete, von Goebbels im Oktober 1936 abgeblasene Verleumdungskampagne des Kreises um Mathilde Ludendorff gegen Goethe als vermeintlichen Mörder Schillers sowie die von der Goethe-Gesellschaft als Antwort auf M. Ludendorffs Buch Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, Mozart und Schiller12 vorgelegte Dokumentation Schillers Tod und Bestattung wurde in der Exilpresse kritisch verfolgt, unter anderen von Ludwig Marcuse, Emil Ludwig und Max Brod. Die Rede von Reichsjugendführer Baidur von Schirach zur Eröffnung

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der »Nationalfestspiele für die deutsche Jugend« am 14. Juni 1937 im Deutschen Nationaltheater in Weimar - die einzige Rede eines hohen NS-Funktionärs in der Klassikerstadt fand in ihrer Berufung auf ein Zitat aus den Wahlverwandtschaften - »Männer (...) sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewöhnen müssen, (...) in Masse zu gehorchen (...)« - in der Exilpresse kritische und mokante Anmerkungen. 14 Auch Heinrich Mann und Joseph Roth setzten sich mit Goethe in NSDeutschland auseinander. In einem erstmals in der Deutschen Volkszeitung vom 13. November 1938 veröffentlichten Aufsatz geht Heinrich Mann auf das Dilemma der nicht »gleichgeschalteten« Leser mit Goethe ein.15 Joseph Roths vermutlich letzter Artikel, der erst postum publiziert wurde, ist eine bittere Glosse über die unter Naturschutz stehende Eiche Goethes und der Frau von Stein im Konzentrationslager Buchenwald: »An dieser Eiche gehen jeden Tag die Insassen des Konzentrationslagers vorbei; d. heißt: sie werden dort vorbeigegangen. Fürwahr! man verbreitet falsche Nachrichten über das Konzentrationslager Buchenwald; man möchte sagen: Greuelmärchen. Es ist, scheint mir, an der Zeit, diese auf das rechte Maß zu reduzieren: an der Eiche, unter der Goethe mit Fr. v. Stein gesessen ist und die dank dem Naturschutzgesetz noch wächst, ist bis jetzt, meines Wissens, noch kein einziger der Insassen des Konzentrationslagers >angebunden< worden; vielmehr an den andern Eichen, an denen es in diesem Wald nicht mangelt.« 16 Versuche in NS-Deutschland, Goethe als Gewährsmann für den Antisemitismus zu mißbrauchen, forderten auch eine Auseinandersetzung der Exilpublizistik mit Goethes Stellung zum Judentum heraus. Dabei wird den nationalsozialistischen Autoren, wie dem Berliner Germanisten Franz Koch, fälschende Zitierpraxis nachgewiesen, Goethes zahlreiche positive Aussagen zum Judentum werden herangezogen, seine unfreundlichen Äußerungen relativiert und zum Teil sogar entschuldigt. »Was Goethe an gewissen Juden störte, war genau das gleiche, was ihn an gewissen Deutschen geärgert hatte: ihr überstiegener Nationalismus, ihr fanatischer Glaube, eine auserwählte Rasse zu sein«, schrieb zum Beispiel Friedrich Burschell in Die Zeitung, London, vom 22. März 1941. 17

II Literatur und Literaturtheorie Keiner der ins Exil getriebenen Autoren hat sich so lange und so intensiv mit Goethe beschäftigt wie Thomas Mann. Er nahm seinen Goethe mit ins Exil, der ihm schon seit langem das Leitbild war. Zahlreiche Vorträge und Essays, eine Vorlesung über Goethes Faust im Jahre 1938 in Princeton und ein Roman legen davon Zeugnis ab. Dabei geht es Thomas Mann vor allem auch um Selbsterkenntnis und Selbstbestätigung, bei hoher Bewunderung für den

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viel Größeren, den er »ein Wunder« 18 nannte. Die Summe seiner andauernden Beschäftigung zog er um das Jubiläumsjahr 1949 in großen Essays und Reden, die Gedanken seiner Goethereden vor der Emigration — zuletzt Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932) - aufgreifen und weiterführen. Goethe erscheint auch bei ihm als der Repräsentant des guten Deutschland, wenn er zum Beispiel in seiner Existenz »etwas wundervoll Beispielhaftes (...); etwas Mustergültiges zumal für den Deutschen« sieht, »denn das Ideal der Deutschheit erfüllt sich in ihm — man möchte hinzufügen: das Ideal des Menschen« 19 . Gleichzeitig weist er jedoch auf die Widersprüche und das Proteushafte von Goethes Natur hin, wenn er unter anderem ausführt, man solle nicht glauben, »daß der Teufelsnihilismus, die Kritik des Lebens, wie es ist und schon weil es ist, dem Dichter ganz fremd und außerhalb seiner eigenen Seele ist«20 und es oft scheine, »als ob er von humanitärem Glauben an den Menschen, die Menschheit, an ihre revolutionäre Reinigung, ihre bessere Zukunft wenig oder nichts besessen hätte«21. Doch: durch »eine gewaltige Leistung (...), das Werk von Charakterkräften« wurden »gefährlichste und möglicherweise zerstörerische Anlagen überwunden, genützt, verklärt, versittlicht (...), zum Guten und Großen gewendet und gezwungen«22, so daß Thomas Mann schließlich feststellen kann: »Trotzdem, und ungeachtet der Widersprüche (...) finden wir bei ihm einen Wesensgrund unerschütterlich großer Menschlichkeit und verläßlicher Güte, in welcher alle Widersprüche sich auf eine hohe, fast göttliche Weise auflösen, und auch, was in seiner politischen Weltanschauung unstimmig gegeneinander zu stehen scheint, löst sich für den tieferen Blick auf in dieser unfehlbaren Menschlichkeit.« 23 Gestaltet hat Thomas Mann sein Goethebild bereits im Roman Lotte in Weimar, den er von September 1936 bis Oktober 1939 niederschrieb. Die Schilderung des Besuchs, den Charlotte Kestner, geborene B u f f - »Werthers Lotte« - im September und Oktober 1816 in Weimar abgestattet hatte, gibt Anlaß, Goethe aus vielen Perspektiven sehen zu lassen. Goethe selbst tritt im 7. Kapitel auf, das Thomas Mann im Oktober 1938 zu schreiben begann — kurze Zeit nach Abschluß des Münchener Abkommens — und an dem er auch während der Novemberpogrome gegen die deutschen Juden und in der Zeit wachsender Kriegsgefahr arbeitete. Im inneren Monolog Goethes wird die Zeitbezogenheit des scheinbar historischen Romans deutlich. Unmißverständlich nimmt Goethe - in den Worten Thomas Manns - zu Deutschland und den Deutschen Stellung: Gehört er überhaupt zu den Deutschen, dem »Sackermentsvolk, aus dem - und dem zuwider - du lebst (...). So traun sie deinem Deutschtum nicht, spürens wie einen Mißbrauch, und der Ruhm ist unter ihnen wie Haß und Pein. Aber (...) daß sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Rohheit zu begreifen,

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— daß sie sich immer erst groß und herrlich vorkommen, wenn all ihre Wünsche gründlich verspielt, und mit so hämischer Galle auf die blicken, in denen die Fremden Deutschland sehn und ehren, ist miserabel. (...) Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir. Gebärdet euch, wie ihr wollt, das Meine abzuwehren, — ich stehe doch für euch. (...) Was gilts, das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind; es wird sie über die Erde zerstreuen wie die Juden, — zu Recht, denn ihre Besten lebten immer bei ihnen im Exil, und im Exil erst, in der Zerstreuung werden sie die Masse des Guten, die in ihnen liegt, zum Heile der Nationen entwickeln und das Salz der Erde sein .,.«24 Als das Buch Anfang 1939 als zweiter Band der »Stockholmer Gesamtausgabe« erschien, wurde es von den Exilgefährten - unter anderen von Stefan Zweig und Georg Lukäcs 25 - enthusiastisch begrüßt. Dabei wurden jedoch, wie Karl Robert Mandelkow bemerkt, »die vom Autor intendierten negativen Züge der Goethe-Figur des Romans (...) nicht wahrgenommen« 26 . Bald schon wurden die ersten wissenschaftlichen, von Bewunderung getragenen Analysen - am ausführlichsten von dem Germanisten Bernhard Blume und dem Philosophen Ernst Cassirer — vorgelegt.27 Von den wenigen unerfreulichen Reaktionen sei lediglich das Ende 1939 anonym erschienene Pamphlet Tommy in Weimar von Emil Ludwig erwähnt, in dem der Autor einer in den zwanziger Jahren äußerst erfolgreichen Goethe-Biographie den allzu intimen Umgang mit dem Großen anprangert. 28 Neben Thomas Mann haben es nur wenige Schriftsteller im Exil unternommen, Goethe literarisch zu gestalten. Vicki Baum, läßt ihn in ihrem in der Goethezeit spielenden Roman Headless angel (in deutscher Ubersetzung mit dem Titel Clarinda)29 auftreten. Auch in Wilhelm Speyers historischem Roman Der Hof der schönen Mädchen ist Goethe - indirekt, gesehen von anderen Romanfiguren — anwesend. 30 Zahlreich sind hingegen die biographischen Essays und Erzählungen exilierter Autoren über Goethe, von denen die meisten erst nach Kriegsende erscheinen konnten. Erwähnt seien als Beispiele Bernard von Brentanos 1945 in Zürich erschienener einfühlsamer Essay Goethe und Marianne von Willemer. Die Geschichte einer Liebe und Richard Friedenthals 1949 — lange vor seiner Aufsehen erregenden und erfolgreichen Goethe-Biographie — in London veröffentlichter biographischer Abriß über Goethe (Goethe chronicle), illustriert mit Holzstichen des ebenfalls im britischen Exil lebenden Künstlers Hellmuth Weissenborn. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Deutschland wird auch das FaustMotiv in der Exilliteratur mehrfach aufgenommen. Zu den Autoren, die sich auf Goethes Faust-Dichtung beziehen, gehören Dosio Koffler mit seiner 1941 im englischen Exil erschienenen Satire Die deutsche Walpurgisnacht31 und Else Lasker-Schüler mit ihrem nachgelassenen Schauspiel Ichundich, das

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die Handlung des Goetheschen Dramas vielfach zitiert bzw. parodiert 32 . In beiden Stücken erscheint Goethe auch als fiktionale Gestalt. Intensiv und vielgestaltig ist der Umgang der Linken mit Goethe. Richtungsweisend für das Klassik- und Goethebild der marxistischen Literaturwissenschaft bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein wird Georg Lukäcs mit einer Reihe von Aufsätzen, in denen er — in Ubereinstimmung mit der damaligen kunstpolitischen Entwicklung in der Sowjetunion — seine Theorie der Aneignung des literarischen Erbes der deutschen Klassik entwickelte, die in Ansätzen bereits vor seiner Emigration ausgebildet war. Die in der Zeit zwischen 1937 und 1941 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur — Deutsche Blätter und — vermehrt durch weitere im Moskauer Exil geschriebene Arbeiten - in dem Sammelband Goethe und seine Zeit 1947 bei Francke in Bern erschienenen Aufsätze gehören in den weiteren Rahmen seiner Arbeiten zum Problem des Realismus in der Literatur, die er in Zusammenhang mit der Volksfrontpolitik stellt; mit ihnen gibt er der sogenannten Expressionismusdebatte, die unter deutschen linken Exilschriftstellern in der Zeitschrift Das Wort (Moskau) in den Jahren 1937/1938 geführt wird, ihre eigentliche Zielsetzung: sie wird zur Auseinandersetzung über einen »zeitgemäßen« Realismus und damit zur Realismusdebatte. Von Goethes Werken hat Lukäcs Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Fausteigene Untersuchungen gewidmet. So sieht er im Werthery>das Produkt der vorrevolutionären heroischen Periode der bürgerlichen Entwicklung« 33 , in den Lehrjahren »das Produkt einer Übergangskrise, eines sehr kurzen Übergangszeitalters«, in dem »die tragische Krise der bürgerlichen Humanitätsideale«, der »Beginn ihres - vorläufig utopischen - Hinauswachsens über den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft« gestaltet wird 34 , während das FaustDrama den »denkbar höchsten bürgerlichen Standpunkt zum Fortschritt der Menschheit« 35 repräsentiere. Philosophischer Bezugsrahmen für Lukäcs' Goethe-Interpretation ist die Philosophie des jungen Hegel, die zur gleichen Zeit wie Goethes Faust/entdes Geistes sieht Lukäcs in der standen ist. Mit Blick auf die Phänomenologie Faust-Dichtung Das Drama der Menschengattung'. »Goethes >Faust< und Hegels Phänomenologie des Geistes< gehören als die größten künstlerischen und gedanklichen Leistungen der klassischen Periode in Deutschland zusammen. (...) So entsteht für Goethe wie für Hegel der unaufhaltsame Fortschritt der Menschengattung aus einer Kette von individuellen Tragödien; die Tragödien im Mikrokosmos des Individuums sind das Offenbarwerden des unaufhaltsamen Fortschritts im Makrokosmos der Gattung: dies ist das gemeinsame philosophische Moment im >Faust< und in der Phänomenologie des Geisteshohläugige Toledaner< als ein Heydrichtyp. Da die ganze Aufführung auf den Einbruch der Tyrannei gestellt war und moderne Parallelen nicht verfehlte, so war er recht am Platz«, schrieb zum Beispiel Manfred George in der Basler National-Zeitung7° Auch in seiner Iphigenie- Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung hebt Hans Sahl die von den Exilierten als für ihre eigene existentielle Situation als zutreffend empfundenen Bezüge — vor allem »das Erlebnis der Fremde« — hervor.71 — Von den Szenenfotos zu schließen, dürften die Inszenierungen der »Players« eher konventionell gewesen sein. Dies scheint auch Manfred Georges ¿graewr-Besprechung im Aufoau zu belegen, in der er »das große Verdienst Felix G. Gerstmanns und G. v. Gontards« darin sieht, »Erinnerung schöpferisch wachgerufen (...) und die Visionen der Theaternächte unserer Jugend erneut heraufbeschworen zu haben«. 72 Im Goethejahr 1949 führte auch der Regisseur und Schauspieler Walter Wicclair als letzte Produktion des von ihm gegründeten deutschsprachigen Exiltheaters »Freie Bühne« in Los Angeles ein Goethe-Stück, den Urfaust, auf. Wie Wicclair in seinen Lebenserinnerungen berichtet, stellte er in seinem Regiekonzept — anders als Max Reinhardt — das Spannungsverhältnis zwischen Faust und Mephisto in den Vordergrund, während die GretchenTragödie die Handlung nur begleitete. 73 In Mittel- und Südamerika sind keine bedeutenden Aufführungen Goethescher Dramen durch exilierte Schauspieler zu verzeichnen. Erstaunen mag, daß die von Paul Walter Jacob 1940 in Buenos Aires gegründete »Freie Deutsche Bühne« in den zehn Jahren ihres Bestehens nur eine einzige Goethe-Inszenierung herausbrachte. Anläßlich der Feier der Freien Deutschen Bühne zum 200. Geburtstag Goethes am 28. August 1949 wurden der Einakter Die Geschwister, das Vorspiel bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Lauchstädt (Was wir bringen) und das Festspiel-Fragment Pandora aufgeführt. Wie die von Jacob im Sommer 1935 organisierten »Echternacher Festspiele« in Luxemburg und seine Inszenierung des Faust I an den Städtischen Bühnen in Nürnberg, gleichfalls im Jubiläumsjahr 1949, zeigen, lag seiner Spielplangestaltung kein Desinteresse an Goethe zugrunde; vielmehr mußte er mit Boulevardkomödien und den jeweiligen internationalen Erfolgsstücken Rücksicht auf den Geschmack seines Publikums nehmen. 74

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Der Film Le roman de Werther von Max Ophüls dürfte die einzige Auseinandersetzung eines exilierten Filmkünstlers mit einem Werk von Goethe in der Zeit von 1933 bis 1949 sein. Ophüls' 1938 in Frankreich mit französischen Schauspielern gedrehte Werth er-hda^non ist Ausdruck einer lebenslangen Verbundenheit mit Goethe, ebenso wie - nach der Rückkehr nach Paris im August 1949 - seine Hörspielbearbeitung der Novelle im Südwestfunk Baden-Baden (1953/1954). Wie Helmut G. Asper nachweist75, wollte Ophüls mit seinem Werther-¥i\m sowohl den Franzosen die enge Verbindung der deutschen und der französischen Kultur aufzeigen als auch einen Beitrag zur Bewahrung des klassischen deutschen Kulturerbes leisten - eine Absicht, die von den Nationalsozialisten, die den Regisseur heftig angriffen, sofort erkannt wurde. Auch die von Paul Dessau - unter Pseudonym — zusammengestellte Filmmusik steht im Zeichen der Bewahrung des deutschen kulturellen Erbes. Die Premiere fand am 17. November in Paris statt, eine Woche nach dem Attentat auf den deutschen Diplomaten vom Rath, das den Vorwand für die Pogrome vom 9. auf den 10. November bot. Die französische Filmkritik lobte lediglich die handwerklich-künstlerische Leistung eines Films, der vor allem als Dreiecksgeschichte verstanden wurde. Als »ein schönes Zeugnis für das >andere Deutschland*« bewertete ihn hingegen Hans Sahl, der selbst an der Planung des Films mitgewirkt hatte, im Neuen Tage-Buch.7b

VI Wissenschaften Wohl vor allem durch die schwierigen Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten des Exils bedingt, konnten erst nach Kriegsende und verstärkt vom Goethejahr 1949 an Monographien emigrierter Wissenschaftler über Goethe in größerer Anzahl erscheinen. In den Jahren 1933 bis 1948 beschränkte sich die Goetheforschung - mit wenigen Ausnahmen — auf Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften, darunter die Arbeiten der Germanisten Werner Richter, Richard Samuel, Bernhard Blume und Oskar Seidlin. 77 Die bedeutendsten bis 1949 im Exil geschriebenen Goethe-Bücher dürften die 1949 bei Francke in Bern erschienene Gesamtdarstellung des Germanisten Karl Vietor Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild und die Untersuchung Goethes image of man and society des Politologen Arnold Bergstraesser sein, die bei Regnery in Chicago, ebenfalls im Jubiläumsjahr, herauskam. Victors der geistesgeschichtlichen Sicht verpflichtetes Buch wurde von der Fachwelt enthusiastisch aufgenommen. »In seiner interpretierenden Methode, in seiner Herausarbeitung des Weltbilds und in seiner Liebe für das Spätwerk« rühmte es zum Beispiel Erich Trunz als »das Goethebuch unserer Zeit«. 78 Bergstraessers von einem organischen Naturbegriff be-

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stimmtes — konservatives - Gesamtbild der Goetheschen Auffassung von Mensch und Gesellschaft, bei dem das Festspiel Pandora eine Schlüsselrolle einnimmt, entsprach den Tendenzen der Goetherenaissance in Westdeutschland nach 1945; dennoch wurde es hier kaum rezipiert.79 Gänzlich unbeachtet in Deutschland blieb die 1949 bei Farrar, Straus and Co. in New York erschienene psychoanalytische Autobiographie Theodor Reiks, der 1929 mit der Studie Warum verließ Goethe Friederike? in der von Sigmund Freud herausgegebenen Zeitschrift Imagtß0 die bedeutendste der frühen psychoanalytischen Untersuchungen über Goethe veröffentlicht hatte. In seinem Buch, das er in Anlehnung an Goethe Fragment of a great confession nannte, betrieb er — als ein Mann, »der nicht nur Goethe fleißig gelesen und studiert, sondern (...) Goethe erfahren hat«81 — seine Selbstanalyse in ständiger Auseinandersetzung und im Vergleich mit Goethe. Vietor, Bergstraesser und Reik betonen einerseits einstimmig die Unsicherheit der Zeit, in der Goethe lebte, die Widersprüche seiner Persönlichkeit, sein Wissen um die Gefährdung der menschlichen Existenz, andererseits sein vorbildhaftes Ankämpfen gegen Verzweiflung oder sogar drohenden Wahnsinn durch die schöpferische Anstrengung als Versuch der Selbstheilung (Reik) und schließlich die Überwindung der Gegensätze durch seine Weltsicht der »Polarität«, die das Böse als »heilsame Notwendigkeit in der Ordnung des Ganzen« deutet (so Vietor 82 ) und dem Menschen die Fähigkeit zuspricht, »einen Kosmos zu bilden« (so Bergstraesser83). Emigrierte Philosophen haben bis 1949 keine größeren Arbeiten über Goethe veröffentlichen können. Ernst Cassirer, einer der besten Goethe-Kenner seiner Zeit, den lebenslang eine tiefe Gedanken- und Wesensverwandtschaft mit Goethe verband, hielt im Exil - in London, Oxford, Göteborg und anderen Orten — zahlreiche Goethe-Vorträge und - nach seiner Emeritierung - eine Vorlesung über den jungen Goethe an der Universität Göteborg. Ein geplantes Goethe-Buch konnte er jedoch nicht mehr schreiben. Cassirers - neben der Studie Thomas Manns Goethebild- einzige Veröffentlichung über Goethe, die er im Exil publizieren konnte, war der Vortrag Goethe und die Kantische Philosophie, in dem er in Goethes Denken »eine sehr eigentümliche Analogie zu Kants Denkungsart und Philosophie« nachwies.84 Während Theodor W. Adorno erst lange nach der Rückkehr nach Frankfurt am Main zwei Aufsätze über Goethe veröffentlichte, sind die grundlegenden Gedanken Ernst Blochs zu Goethe noch im Exil entstanden. In seinem 1951 im Berliner Aufbau-Verlag erschienenen Werk Subjekt — Objekt, das im Exil in den Vereinigten Staaten geschrieben worden war, sieht er wie Lukäcs - Goethe nahe bei Hegel. In seiner Einführung in Hegels Phänomenologie des Geistes weist er immer wieder auf dessen Nähe zu Faust hin: »Am besten aber ist und bleibt es, die Phänomenologie mit dem Faustplan

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zusammenzuhalten; sowohl was die Unruhe des Bewußtseins angeht wie die durcherfahrene Welt wie das intendierte Fürsichsein zu guter Letzt. U n d was den Weg der Durcherfahrung selber betrifft, diese Reihe der Entäußerungen und Vermittlungen zugleich, so ist er, wie a m Faustende zuletzt, so während der ganzen Veränderungs-Veranstaltungen der Phänomenologie der Weg der Arbeit. D a s heißt, der Erzeugung und Entstehung des Menschen durch Arbeit: (,..).« 8 5

VII D a s Goethejahr 1949 Im Jubiläumsjahr 1949 haben deutschsprachige Emigranten nicht nur zahlreiche wissenschaftliche und belletristische Publikationen über Goethe herausgebracht und seine Stücke aufgeführt; sie waren auch an den Jubiläumsveranstaltungen mit zahlreichen Reden, Vorträgen und Publikationen, sowohl in den Aufnahmeländern als auch in beiden Teilen Deutschlands, beteiligt. In den Vereinigten Staaten war zum Beispiel Arnold Bergstraesser Mitinitiator und Organisator des internationalen Kongresses »Goethe Bicentennial Convocation and Music Festival« mit prominenten Goethe-Kennern aus aller Welt, der vom 27. Juni bis zum 16. Juli in A s p e n / C o l o r a d o stattfand. 8 6 In Großbritannien gab Wilhelm Unger unter Mitarbeit von Lutz Weltmann eine vierbändige deutsch-englische Veröffentlichung heraus, die »das Organ der Goethe-Bewegung in aller Welt werden« wollte. 8 7 Herausragendes Ereignis in beiden Teilen Deutschlands war der Besuch T h o m a s M a n n s vom 24. Juli bis z u m 3. August in Frankfurt am M a i n und Weimar. Die A n k ü n d i g u n g der Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises und M a n n s Absicht, auch in Weimar den neu geschaffenen Goethe-Nationalpreis und den Ehrenbürgerbrief der Stadt Weimar entgegenzunehmen, hatten in Westdeutschland für Aufsehen und Kritik gesorgt. M i t einem »Gefühl, alsob es in den Krieg ginge«, war T h o m a s M a n n am 23. Juli aus der Schweiz nach Frankfurt am M a i n abgereist. » H a b e schlecht und recht standgehalten«, lautete seine Bilanz des Besuchs im Tagebuch am 4. August in Amsterdam. 8 8 Im Unterschied zu den Goethe-Feiern in Westdeutschland, bei denen als Redner Vertreter der sogenannten Inneren Emigration überwogen, wurden die Veranstaltungen in Ostdeutschland von Emigranten — vor allem Johannes R. Becher, Georg Lukäcs, Arnold Zweig und H a n s Mayer - geprägt; sie nahmen Goethe, der damaligen Politik der D D R entsprechend, auch für das Ziel eines im sozialistischen Geiste geeinten Deutschlands in Anspruch. 8 9 Becher hatte auch den Vorsitz eines Deutschen Goethe-Ausschusses inne; in seiner Festrede bei der Veranstaltung am 28. August 1949 im Nationaltheater in Weimar nahm er Gedanken seines Aufsatzes »Deutsche Lehre« aus dem

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Jahre 1943 zur Gründung des »Nationalkomitees Freies Deutschland« auf: »Der deutschen Klassik ist keine klassische deutsche Politik gefolgt, und so mußte das große humanistische Werk unserer Klassik unerfüllt bleiben und konnte nicht seine große volkserzieherische Wirkung ausüben. Das Versagen des Bürgertums war zugleich auch ein Sich-innerlich-Lossagen von dem klassischen Erbe, dessen Vermächtnis zu erfüllen seine Aufgabe gewesen wäre. (...) Ihr jungen Menschen, ihr, ihr und nochmals ihr, seid berufen, die Geburtsstunde Goethes zu seiner und zu Deutschlands Wiedergeburtsstunde werden zu lassen.« 90 Von einem Remigranten - dem Germanisten Richard Alewyn - stammen die erst seit Ende der sechziger Jahre viel beachteten Worte, die sich gegen die im Jubiläumsjahr überwiegend unreflektierte Hinwendung zu Goethe ohne nationale und persönliche Selbstkritik wenden, als ob damit schon Reinigung vom Vergangenen und unbeschwerter Neubeginn möglich sei. Seine Antrittsvorlesung, mit der Alewyn, zurückgekehrt aus dem amerikanischen Exil, im Sommersemester 1949 seine Tätigkeit an der Universität Köln aufnahm, war dem Thema Goethe als Alibi gewidmet: »Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum. (...) Was aber nicht geht, ist, sich Goethes zu rühmen und Hitler zu leugnen. Es gibt nur Goethe und Hitler, die Humanität und die Bestialität. Es kann, zum mindesten für die heute lebenden Generationen, nicht zwei Deutschlands geben. Es gibt nur eines oder keines. (...) Unser Bekenntnis zu Goethe ist nichtig, wenn ihm nicht ein Bekenntnis zu uns selbst vorangegangen ist. Erst dann dürfen wir versuchen, Goethe anzureden, ja ein Gespräch anzuknüpfen, wenn wir den Abstand nicht vergessen, der uns trennt, den doppelten Abstand, den Abstand der Höhe nicht nur sondern auch den der Ferne. Von da aus dürfen wir, wie Goethe selbst so häufig anempfohlen hat, uns vergleichen, um zu erkennen, wer wir sind und was wir sollen, und wer Goethe selbst war, und was seine Gedichte sind: ein großer Mann von unserem Stamme, ein großes Werk in unserer Sprache.« 91 Die Rolle, die Emigranten bei den Goethefeiern in West- und Ostdeutschland spielten, ist symptomatisch für ihren Einfluß auf das Goethebild in den beiden deutschen Staaten. Während das Goethebild der frühen D D R von Remigranten wie Johannes R. Becher und Georg Lukacs geprägt wurde, hatten Emigranten in der frühen Bundesrepublik, trotz Ubereinstimmung der Goethebilder der »Inneren Emigration« - zum Beispiel derjenigen von Rudolf Alexander Schröder, Leopold Ziegler und Werner Bergengruen - mit denen von Emigranten wie Arnold Bergstraesser nur geringen Einfluß. Ihre Wirkung setzte hier erst in den sechziger Jahren ein mit Richard Friedenthals Aufsehen erregender Goethe-Biographie (1963), die ihn zum kritischen Vorläufer einer neuen Epoche der Goetherezeption werden ließ.92

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Brita Eckert

D e r vorliegende Versuch einer Bestandsaufnahme der Goetherezeption im Exil der Jahre 1 9 3 3 bis 1 9 4 9 läßt eine Fülle unterschiedlicher G o e t h e b i l d e r e r k e n n e n , ein K a l e i d o s k o p v o n M e i n u n g e n , U n t e r s u c h u n g e n ,

politischen

N u t z u n g e n . Es fehlte auch n i c h t an W i d e r s p r u c h u n d Kritik i m einzelnen. A b e r fast alle Ä u ß e r u n g e n s t i m m e n ü b e r e i n in d e r g r u n d s ä t z l i c h e n A n e r k e n n u n g des e i n z i g a r t i g e n P h ä n o m e n s G o e t h e in s e i n e r G e s a m t h e i t v o n P e r s o n u n d W e r k , das in d e r E x t r e m s i t u a t i o n des E x i l s n o c h — o d e r w i e d e r - in heute undenkbarer Unangefochtenheit

g e g e n w ä r t i g war, als e i n

Kanon

g l e i c h s a m , d e n w o h l j e d e r a n d e r s , a b e r l e t z t h i n d o c h als g e m e i n s a m e n W e r t u n d Besitz sah. H e i n r i c h M a n n s eingangs zitiertes W o r t , d a ß G o e t h e - w e n n er h e u t e l e b t e — » m i t u n s allen das E x i l « teilte, h a t s i c h - i m ü b e r t r a g e n e n S i n n - als z u t r e f f e n d e r w i e s e n .

I Den Ausführungen liegt das Begleitbuch zur Goethe-Ausstellung des Deutschen Exilarchivs zugrunde: »... er teilte mit uns allen das Exil«. Goetbebilder der deutschsprachigen Emigration 1933—1945. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933— ¡945 Der Deutschen Bibliothek. Begleitbuch: Brita Eckert und Werner Berthold. Mitarbeiterin: Mechthild Hahner. Wiesbaden 1999 (Gesellschaft für das Buch; Bd. 6). Künftig zitiert als »... er teilte mit uns allen das Exil«. — 2 Zur Goetherezeption in der Weimarer Republik s. Karl Robert Mandelkow: »Zwischen Weimar und Potsdam. Aspekte der Goetherezeption in den zwanziger und dreißiger Jahren in Deutschland«. In: Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur. Köln - Weimar - Wien 1998, S. 1 2 3 - 1 3 8 ; Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. II: 1919-1982. München 1989, S. 9 - 7 7 . — 3 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 2 0 7 . - 2 1 1 . Aufl. München 1943, S. 515. — 4 Mandelkow: Goethe in Deutschland(s. Anm. 2), S. 78. — 5 Hermann Linde [d.i. Hermann Ebeling]: »Jugend ringt um Goethe. Gedanken zur deutschfranzösischen Goethefeier«. In: Pariser Tageszeitung. Nr. 6 9 8 (29/30. 5.1938), S. 3. — 6 Mandelkow: Goethe in Deutschland(s. Anm. 2), S. 86. — 7 Alfred Kantorowicz: In unserem Lager ist Deutschland. Reden und Aufsätze. Paris 1936 (Phoenix Bücherei; Nr. 10). — 8 Zahlreiche Belege hierzu in: »... er teilte mit uns allen das Exil« (s. Anm. 1), S. 1 - 8 . Auffallend ist die intensive Beschäftigung mit Goethe in den Zeitschriften der Sozialdemokraten, wie in der von Max Braun als Chefredakteur verantworteten Tageszeitung Deutsche Freiheit, Saarbrücken (1933— 1935), der in Karlsbad, später Paris, herausgegebenen Wochenzeitung Neuer Vorwärts ( 1 9 3 3 - 1 9 4 0 ) und in der von dem früheren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten August Siemsen in Buenos Aires herausgegebenen Zeitschrift Das Andere Deutschland/La Otra Alemania ( 1 9 3 8 - 1949). Hier scheint das Anknüpfen an den »Geist von Weimar« besonders augenfällig. — 9 Heinrich Mann: »Begrüßung des Ausgebürgerten«. In: Dieneue Weltbühne. 32 (1936), 50 (10.12.), S. 1 5 6 4 - 1 5 6 6 ; auch in: Pariser Tageszeitung Nr. 184 ( 1 2 . 1 2 . 1 9 3 6 ) ; Ders.: Mut. Paris 1939, S. 1 8 7 - 1 9 0 . — 10 Nico Rost: Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit. Aus dem Holland, übers, von Edith Rost-Blumberg. Mit e. F.inl. von Anna Seghers. Berlin (Ost) 1948, S. 13 u. 179 f., Neuausg. hg. von Wilfried F. Schoeller. Berlin 1999. — I I Dies betrifft vor allem Julius Petersens Aussage in seiner Rede Goetheverehrung in fünf Jahrzehnten. Ansprache zur Feier des 50jährigen Bestehens der Goethe-Gesellschaft am 27. August 1935 in Weimar: »Wie er im Frühjahr 1813 Lützowschen Jägern, die in den Freiheitskampf zogen, an der Elbe die Waffen segnete, so würde er auch den schwarzen Gesellen und den

Goethe-Rezeption im Exil

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braunen Kameraden, die 120 Jahre später für die innere Befreiung Deutschlands sich zu opfern bereit waren, seinen Gruß nicht versagt haben.« In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. Bd. 21. Weimar 1935, S. 1 - 2 5 , hier S.23. — 12 Letzte Ausgabe: 44.-47. Tsd. München 1936. — 13 Max Hecker: Schillers Tod und Bestattung. Nach den Zeugnissen der Zeit im Auftrag der dargestellt. Leipzig 1935. — 14 Vgl. «... er teilte mit uns allen das Exil« Goethe-Gesellschaft (s. Anm. 1), S. 2 4 - 3 8 . — 15 Heinrich Mann: »Uber Goethe«. In: Deutsche Volkszeitung. 3 (1938), 46 (13.11.), S. 3; Ders.: Mut(s. Anm. 9), S. 1 8 4 - 1 8 7 . — 16 Joseph Roth: Werke. Hg. u. eingel. von Hermann Kesten. Bd. 4. Köln 1976, S. 704 f. — 17 Vgl. «... er teilte mit uns allen das Exil« (s. Anm. 1), S. 5 0 - 5 3 . — 18 Thomas Mann: »Goethe, das deutsche Wunder«. In: Der Monat. 1 (1949), 11 (August), S. 1 3 - 1 7 (später u.d.T. »Die drei Gewaltigen«). — 19 Thomas Mann: »Phantasie über Goethe. Als Einleitung zu einer amerikanischen Auswahl aus seinen Werken«. In: Ders.: Neue Studien. Stockholm 1948, S. 9 - 7 2 , hier S. 48 f. — Bänden. 20 Thomas Mann: »Uber Goethes >FaustWriters in Prison-Committeeinneren< Emigration Deutschlands ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 ) « ; Wolfgang Kissel, »Russisches D i c h t e r g e d e n k e n im Pariser Exil ( 1 9 2 0 - 1 9 4 0 ) « ; Michael Nagel, »Vorbereitung auf das Exil. J ü d i sche Kinder- und Jugendbücher im »Dritten ReichWirtschaftsemigration< — thematisiert); »Der Ruf«, 1 9 4 9 (von und mit Fritz Kortner zum T h e m a Rückkehr aus dem Exil). Hatten alle Veranstaltungen des Projektplenums eher ergänzenden, zusammenfassenden oder illustrierenden Charakter, so war die vertiefte studentische Arbeit selbstverständlich den einzelnen Lehrveranstaltungen vorbehalten. Auch wenn dabei Spezifika der Sozialwissenschaften/Geschichte einerseits, der Kulturwissenschaften andererseits nicht verwischt werden durften, so wurde doch Durchlässigkeit im Sinne des Generalthemas angestrebt. U n d auch wenn die deutsche Geschichte meist den allgemeinen Bezug herstellte, sollten im synchronen und diachronen Vergleich doch Ausblicke a u f Exilvorgänge anderer Nationen ermöglicht werden; dies freilich eher als immanentes Prinzip denn als explizite und ostentative Aufforderung. Auch im Hinblick a u f den teilweise lückenhaften allgemeinen Kenntnisstand der Studierenden galt es, die isolierte Betrachtung einzelner Exile zu vermeiden und die P h ä n o m e n e in ihren größeren historischen Zusammenhängen zu betrachten. So wurde das Seminar »Das J u n g e Deutschland« (Karl Holl, Gert Sautermeister) von einer Vorlesung mit gelegentlichem Seminarcharakter »Restauration und Vormärz. Politische Geschichte Europas 1 8 1 5 - 1 8 4 8 im Uberblick« (K. Holl) und einer Ü b u n g gleichen Titels begleitet, die der Lektüre und Analyse ausgewählter Quellen der E p o c h e diente. M i t dem Seminar »Exil in den U S A : die >Achtundvierziger< und andere Deutsche im 19. Jahrhundert« (Dirk Hoerder) wurden die Reaktionszeit

266

Karl H o l l

nach dem Scheitern der März-Revolution in ihrer emigrations- und exilauslösenden Wirkung und zugleich die Funktion der U S A als werdendes klassisches Exilland thematisiert. D a ß Deutschland seinerseits Ziel von Emigration und Exil hat werden können, wurde an der Bedeutung Preußens in der Neuzeit exemplifiziert mit dem Kurs »Preußen und seine >FremdenArchiv der Erinnerunginneren Emigration< 1 9 3 3 - 1 9 5 0 « (Hans-Wolf Jäger); » T h o m a s M a n n und Klaus M a n n « (Gert Sautermeister), »Literatur der >inneren Emigration^ G . Benn, E. Jünger« (Wolfgang Emmerich); »Robert Musil, >Der M a n n ohne Eigenschaften^ (Karl-Heinz Götze). D a s Generalthema wurde in einen weiten historischen Rahmen gestellt durch die Seminare »Asyl im Altertum« (Hans Kloft) und »Schriftsteller im Exil von H i p p o n a x bis Hutten (Aristoteles, Ovid, Dante, Petrarca)« (HansWolf Jäger).

E x i l u n d Asyl als G e g e n s t a n d u n i v e r s i t ä r e r L e h r e

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Stellvertretend für das Exil anderer Nationen und ihre Literatur fanden zwei Lehrveranstaltungen statt: der sich über drei Semester erstreckende Kurs »Texte des französischen Exils: M m e de Stael, V i c t o r Hugo, R o m a i n Rolland« (K. H o l l ) und der Kurs »Die russische Emigration in Paris und Berlin« ( W o l f gang Kissel). Eine ursprünglich geplante Lehrveranstaltung »Italienische Emigration nach G r o ß b r i t a n n i e n im 19. Jahrhundert« kam nicht zustande. An Studierende, die durch das Projekt zur vertieften Beschäftigung mit d e m T h e m a angeregt wurden, richtete sich ein abschließendes Kolloquium »Neue Literatur der Exilforschung« (K. Holl). E i n e kritische Bilanz des hier vorgestellten Lehrprojekts ist schwierig, schon weil — abgesehen von einer abschließenden Diskussion im Projektplenum — weder eine systematische Evaluierung stattfand, noch überhaupt ein der Evaluierung eines Lehrprojekts dieser Art angemessenes und erprobtes Instrumentarium zur Verfügung stand. Immerhin fanden die meisten historischen Einzelveranstaltungen des Projekts im R a h m e n einer während zweier S e m e ster durchgeführten studentischen Evaluation eine überwiegend positive Bewertung, in der durchweg die erkenntniserweiternden Ergebnisse hervorgehoben wurden. Soweit eine kritische Resonanz der beteiligten

Hoch-

schullehrer vorliegt — nur wenige haben sich ausdrücklich geäußert —, reichen die Stellungnahmen von Klagen über erhebliche Fluktuation der studentischen Beteiligung und den geringen Kenntnisstand der Studierenden sowie von grundsätzlicher Skepsis gegenüber der Effizienz projektförmiger universitärer Lehre bis zu deutlicher Z u s t i m m u n g zu diesem Projekt als einem überwiegend erfolgreich verlaufenen Experiment. In besonders erfreulicher Weise trug der Kurs »Das Exil der >kleinen Leute«« Früchte. D i e Veranstalterin, Inge Marssolek, berichtet dazu: »Im R a h men der Veranstaltung bildete sich eine studentische Gruppe, die brieflich J u d e n und J ü d i n n e n , die in der N S - Z e i t aus Bremen emigriert waren, k o n taktierte, mit der Bitte, ihre Wege und Erfahrungen im Exil zu beschreiben. (...) N e b e n einem methodisch-theoretischen Teil haben die Studenten und Studentinnen umfangreiche Recherchen zu den mittlerweile eingetroffenen Briefen aus aller Welt durchgeführt. I m W i n t e r 1 9 9 6 / 9 7 wurde dann, gemeinsam mit einer kleinen Gruppe, ein Reader erstellt, der im M a i 1 9 9 7 der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. (...) J e ein Exemplar erhielten die ehemaligen bremischen Bürger und Bürgerinnen. J e ein weiteres wurde dem Staatsarchiv und der jüdischen G e m e i n d e (Bremens) zur Verfügung gestellt. Aufgrund der Zeitungsveröffentlichung haben drei Bremerinnen uns Geld für die Drucklegung gespendet. (...) Das alles zeigt, wie sehr das T h e m a geeignet ist, Studenten und Studentinnen zu motivieren.« Das B u c h ist inzwischen ( 1 9 9 8 ) als Beispiel für ein >Archiv der Erinnerungen« erschienen. Ausführlich und den Intentionen des Projekts zustimmend n a h m Wolfgang Kissel Stellung. Er läßt aus der Sicht der Erforschung des russischen

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Karl H o l l

Exils den möglichen Ertrag komparatistischen Vorgehens in der Exilforschung erkennen: »Zunächst kann ich die Idee, einen gesamteuropäischem Rahmen zu wählen, nur nachdrücklich begrüßen, besonders aber, daß Osteuropa und auch dem vielleicht sehr speziellen T h e m a der russischen Memoiristik Raum gegeben wurde. (...) Die Exilforschung durchläuft zur Zeit eine generelle Wandlung: fort von einer positivistisch-faktographischen, aber auch politisch-ideologischen Aufarbeitung im Horizont der jeweiligen b e troffenem Nationalliteraturen bzw. -kulturen hin zu einem komparatistischkulturologischen Ansatz (Stichworte: Identität, Migration, Synkretismus). Die schlichte Erkenntnis, daß es homogene bzw. >reine< Kulturen überhaupt nicht gibt, sondern Kulturen immer Mischungsverhältnisse darstellen und erst recht auch Machtrelationen abbilden, eröffnet einen anderen Blick auf Exil und Asyl, als ihn die apologetische, um Bewahrung und Rechtfertigung bemühte Exilforschung der ersten Stunde, sprich: der fünfziger und sechziger, weitgehend aber auch noch der siebziger Jahre haben konnte oder wollte. Die Kultur der russischen sogenannten »ersten Emigration< von 1920 bis 1940 bietet dabei eine Fülle unverzichtbarer komplementärer und kontrastiver Aspekte. Russland wurde von den kriegerischen und revolutionären Erschütterungen im Kern getroffen, seine staatliche, gesellschaftliche Struktur zerfiel und wandelte sich in einem schmerzlichen und langwierigen Prozeß von G r u n d auf. Viele Angehörige der intellektuellen Eliten wichen vor den harten Lebensbedingungen Anfang der zwanziger Jahre gen Westen aus. Für Rußland beginnt eine Zeit von Emigrationswellen. Die sogenannte >erste Emigration< von 1 9 2 0 - 1 9 4 0 gilt dabei unbestritten als die literarisch-künstlerisch u n d intellektuell-wissenschaftlich produktivste Phase. Dies hängt in erster Linie mit den Personen, die zur Emigration gezwungen wurden, zusammen. Rußlands künstlerische Elite, die der europäischen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg wesentliche Impulse verliehen hatte, geriet nach der Revolution und der faktischen Spaltung des russischen Kulturlebens in eine unvergleichlich schwierige Lage: Sie wurde in ihrer östlichen Heimat systematisch eliminiert oder neutralisiert und in der westlichen Emigration sprachlich und kulturell zunehmend isoliert oder assimiliert. Gegen zwei Feinde u n d Feindbilder hatte sich die Emigration zur Wehr zu setzen: gegen die offene und bisweilen tödliche Feindseligkeit aus der Sowjetunion und gegen eine eher latente Animosität oder Indifferenz der westlichen Gastländer, die aus diplomatischen Rücksichten häufig jede Annäherung vermieden. In der Sowjetunion wurde sie systematisch als >Emigrantenpack< diffamiert u n d als gefährlicher politischer Feind verfolgt, in der öffentlichen Meinung der westlichen Gastländer lehnte man sie oft als bornierten Haufen von Reaktionären ab. Z u den Selbstzweifeln an der raison d'etre der gesamten Emigration traten die politische Zerrissenheit und - verstärkt in

Exil und Asyl als Gegenstand universitärer Lehre

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den dreißiger Jahren - die totalitäre Versuchung, der nicht wenige aus dem >nationalkonservativen< Lager verfielen. Diese Isolation übertrug sich a u f die russische Exilforschung, die als D o m ä ne von E m i g r a n t e n n a c h k o m m e n der zweiten und dritten Generation galt. Bis in die achtziger Jahre betrachtete sich die Exilforschung selbst als Partei in einem n o c h unentschiedenen Streit, so daß von historischer Distanz bzw. versuchter Historisierung keine Rede sein konnte. D i e russische Exilforschung war selbst ein P h ä n o m e n des Exils, sie hat relativ selten Ansätze aus anderen Literaturen und Kulturen aufgenommen. In der Sowjetunion waren viele Exilautoren bis zur Perestrojka faktisch tabuisiert. Erst seit Ende der achtziger Jahre öffnete sich die russische Exilforschung auch T h e o r i e , M e t h o de und Techniken einer allgemeinen Kulturwissenschaft und -geschichte, die Ergebnisse über andere Emigrationen des 2 0 . Jahrhunderts, aber auch der Vergangenheit einarbeitet... D e m grundsätzlichen Wandel der Forschungssituation steht vor allem in der literarischen Forschungspraxis bisher ein Konglomerat von Einzelbeobachtungen und sehr heterogenen Ansätzen gegenüber. Dabei sind die Voraussetzungen für eine Zusammenschau der literarischen Produktion des Exils heute insgesamt günstig, denn die zahlreichen eher positivistisch-empirischen Quellenstudien haben unverzichtbare Vorarbeit geleistet und erst das F u n d a m e n t bereitgestellt, auf dem eine komparatistische Emigrationsgeschichte geschrieben werden kann...« D e r Berichterstatter blickt mit G e n u g t u u n g auf dieses Projekt zurück. In der Wahl des Projektgegenstandes fühlt er sich überwiegend bestätigt durch seine Eindrücke vom Verlauf des Experiments, dessen Erfolg sich zu einem großen Teil der Interdisziplinarität des Projekts verdankte. Es ist die nach der B e o b a c h t u n g des Berichterstatters erreichte Vertiefung wesentlicher Erkenntnisse, die den organisatorischen Aufwand einer derart breit angelegten Veranstaltung universitärer Lehre gelohnt hat, vor allem, indem hinter den vielfältigen nationalen, ethnischen, politischen, sozialen, religiösen Anlässen von Flucht und Exil in der Geschichte der Flüchtling als ein menschheitsgeschichtlicher Archetypus erschien. U n d es ließ sich in der durch E n t scheidungen politischer Herrschaft ausgelösten massenhaften Flucht von Menschen und ihrer Heimatlosigkeit ein das 2 0 . Jahrhundert - wie die Urkatastrophen Weltkrieg und Genozid - prägender Typus von Katastrophen neuer D i m e n s i o n , neuer Qualität erkennen.

Rezensionen

Ulrike Wendland: Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler. 2 Bde. München (Saur) 1999. 813 S. Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschafiswissenschaftlichen Emigration nach 1933. 2 Bde. München (Saur) 1999. 773 Sp. Mit den beiden Handbüchern werden die ersten Ergebnisse aus dem Ende der achtziger Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichteten »Schwerpunktprogramm Wissenschaftsemigration« vorgelegt. Mit 328 Wirtschaftswissenschaftlern und 253 Kunsthistorikern bieten sie, soweit sich überschauen läßt, einen lückenlosen Personenkorpus der in diesen Disziplinen Vertriebenen. Die Herausgeber des ÖkonomenHandbuchs geben an (S. XXXIX), daß die Anzahl der von ihnen vorgestellten Wirtschaftswissenschaftler das Urmaterial des Biographischen Handbuchs\on Röder/Strauss um etwa ein Drittel übersteigt. Hauptziel der Bände ist, dem Leser einen Einblick in das wissenschaftliche Profil, den Werdegang und die intellektuelle Wirkung dieser Gelehrten in ihren Zufluchtsländern zu vermitteln. Zu Recht beschränken sich die beiden Handbücher nicht nur auf die in Deutschland und Osterreich von den Universitäten und Hochschulen Entlassenen, sondern sie haben auch Fachleute mit anderen beruflichen Einbindungen aufgenommen: bei den Ökonomen etwa Vertreter der Ministerialbürokratie, der Privatwirtschaft oder Fachjournalisten, die mit wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetreten sind, und bei den Kunsthistorikern auch Museumsleute, Kunsthändler und -kritiker oder Archäologen; bei den Ökonomen wurden zusätzlich auch noch Vertreter der sogenannten zweiten Generation berücksichtigt. Gerade an diesen weiter gefaßten Berufsvertretern, die häufig erst in der Emigration mit einer klassischen universitären Karriere be-

gonnen haben, läßt sich exemplarisch der Erfolg und zuweilen auch die einzigartige Wirkung der Flüchtlinge in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft ablesen. Trotz solcher Übereinstimmung in der Anlage und den Zielen unterscheiden sich die beiden Handbücher jedoch in der Konzeption und damit auch in der Informationsdichte erheblich voneinander. Während die Artikel im Ökonomen-Handbuch a u f d e m Sachverstand von mehr als 120 Fachleuten beruhen, die mit ihrem Spezialwissen detaillierte Analysen zur intellektuellen Biographie und den Forschungsgebieten der entlassenen und vertriebenen Gelehrten liefern, deren Schlüsselwerke vorstellen und weiterführende Literatur nachweisen, sinddie Einträge im Kunsthistoriker-Handbuch von der Autorin allein zusammengestellt worden. Das ist eine bemerkenswerte Leistung — zumal wenn man bedenkt, daß diese Arbeit auf eine Dissertation zurückgeht —, die jedoch ihre Grenzen hat. Keine noch so kundige Einzelperson kann die ganze Breite eines Faches mit seinen subdisziplinären Ausdifferenzierungen übersehen, und so verzichtet die Autorin klugerweise auf eigene analytische Aussagen. Stattdessen referiert sie in ihren katalogartig nach standardisiertem Schema aufgebauten Namensübersichten neben den biographischen Eckdaten, Spezialgebieten der Forschung und Werkverzeichnissen in knappen Zitaten die in Festschriften, Gutachten oder Nachrufen gefundenen Würdigungen. Das ist in der knappen Pointierung sehr eindrucksvoll, findet seine Grenzen jedoch dort, wo solche Zeugnisse, und das ist häufiger der Fall, nicht vorliegen, so daß sich die Einträge dann nur auf Lebensdaten und Publikationen beschränken. Gravierender ist aber noch ein weiterer Unterschied. Das Kunsthistoriker-Handbuch verzichtet auf jede systematische Auswertung der präsentierten Daten. Die Autorin sagt in ihrem knappen Vorwort zwar, daß diese anderenorts vorgesehen ist, ein komprimiertes Resümee davon hätte dem Informationswert

Rezensionen des Handbuchs jedoch zugute kommen können. Eine solche analytische Gesamtbetrachtung der professionellen Zusammenhänge bietet hingegen das Ökonomen-Handbuch in einer umfangreichen Einleitung. Sie gibt gerade auch dem mit der Disziplin- und Theoriegeschichte der Wirtschaftswissenschaften nicht vertrauten Leser einen präzisen Uberblick über den Stand der Wissenschaft in Deutschland wie im internationalen Maßstab, sie stellt die wichtigsten Herkunftsmileus und Schulen der aus ihren Positionen Vertriebenen vor, einschließlich der damit verbundenen Forschungspotentiale, und sie skizziert die Wanderungswege sowie die zentralen institutionellen und intellektuellen Akkulturations- und Integrationsbedingungen vor dem Hintergrund der in den Zufluchtsländern geführten disziplinaren Debatte. Beide Neuerscheinungen schließen nicht nur eine Lücke in der Exilforschung, sondern dürften auch in ihren Fachdisziplinen nicht ohne Wirkung bleiben: Einmal mehr dokumentieren sie, welchen Standard einst die Wissenschaften in Deutschland gehabt haben, zu welchen unwiederbringlichen Verlusten die NS-Herrschaft führte und welche Anregungen die Emigranten in den unterschiedlichen Weltgegenden, besonders aber in den USA, zu geben vermochten. Marco Haase

Michael M . Marrus: Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Gero Deckert. Berlin - Göttingen - Hamburg (Schwarze Risse/Rote Strasse/Verlag Libertäre Assoziation) 1999. 440 S. Mit dem vierzehn Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe nun endlich auch in deutscher Sprache vorliegenden Buch ist ein Standardwerk über die Geschichte der europäischen Flüchtlinge auch hierzulande leicht zugänglich. Es verdient besondere Anerkennung, daß der kleine Verlag die Übersetzungskosten nicht scheute, um einer breiten Leserinnenschaft die Möglichkeit zu bieten, sich mit den historischen Wurzeln der Flüchtlingsfrage vertraut zu machen. Michael M .

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Marrus, der sich im Rahmen der internationalen Holocaustforschung einen Namen gemacht hat - zu nennen ist insbesondere eine gemeinsam mit Robert O. Paxton verfaßte Studie zur Judenverfolgung unter dem Vichy-Regime-, geht es in seinem Buch nicht darum, eine Theorie des Exils oder eine Definition des Flüchtlingsbegriffs aus historischer Perspektive zu entwickeln. Vielmehr rückt der Autor die Politik gegen die Unerwünschten sowie deren Reaktionen, die Fluchtbewegungen, ins Zentrum des historischen Geschehens. Dabei orientiert er sich nicht an dem engen, von der U N O vorgegebenen Flüchtlingsbegriff, an nationalstaatlichen Grenzen und unterschiedlichen Fluchtursachen. Kriterien der Auswahl sind vielmehr Ausmaß und Dauer der Vertreibung sowie ihre Tragweite, sowohl unter menschlichen Aspekten als auch im Hinblick auf zwischenstaatliche Beziehungen. Schwerpunkt der Studie bildet die Zeit von 1933 bis 1948; im Mittelpunkt steht der Zusammenhang von staatlichem Antisemitismus, nationalsozialistischem Völkermord und restriktiver Flüchtlingspolitik. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheint wie eine Abfolge grausamer Vertreibungskreuzzüge, die verbrecherische Staaten mit chauvinistischem Gebaren unter nationalistischer Flagge gegen die jeweils zu Minderheiten erklärten Bevölkerungsgruppen geführt haben. Richtet man den Blick von heute zurück auf das Jahrtausend, so muß man dem Autor beipflichten: Flüchtlingsbewegungen als Massenphänomen und als Folge genozidaler Prozesse markieren Zäsuren in der Geschichte, die die Begleiterscheinungen der Modernisierung— Menschenverachtung, Rassismus und Antisemitismus bis hin zum staatlich organisierten Völkermord - an die Oberfläche des historischen Geschehens treten lassen. Der jüngste Krieg und die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan zeigen, daß es sich dabei keineswegs um ein abgeschlossenes Kapitel der europäischen Geschichte handelt. Kritisch ist anzumerken, daß es Marrus nicht gelingt, eine Sprache zu finden, in der die Opfer der Terror- und Vertreibungspolitik, die Flüchtlinge selbst, in ihrer Subjekthaftigkeit sichtbar werden. Individuelle Schicksale verschwinden hinter Datenerhebungen,

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Rezensionen

Aufenthaltsbestätigungen, Bevölkerungstransfers, Umsiedlungsmaßnahmen und Repatriierungsvorkehrungen. Die Entscheidung zur Flucht, meist unter Zwang getroffen, beinhaltet jedoch immer ein M o m e n t der Aktivität und der Initiative. Flucht ist in den meisten Fällen die einzig mögliche Form der Selbstbehauptung. Lediglich bei der Darstellung der illegalen Immigration nach Palästina bis zur Staatsgründung 1948 wird dieser Aspekt ausreichend berücksichtigt. Flüchtlinge werden paradoxerweise als Anomalie in einer scheinbar normalen Welt angesehen. Obwohl faktisch immer wieder Hunderttausende von Vertreibung betroffen sind, bewegen sich Flüchtlinge wie keine andere unterdrückte und stigmatisierte Gruppe in einer terra incognita, herauskatapultiert aus dem gesellschaftlichen Sozialverband, ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten beraubt, herabgewürdigt zu Unerwünschten, die kein Land auf dieser Erde bereitwillig bei sich aufnimmt. Dadurch, daß ihnen ein Staat ihre Rechte, ob auf bürokratischem Wege oder durch gewaltsamen Terror, aberkannt hat, haben sie offensichtlich auch international den Anspruch verwirkt, überhaupt noch wie Menschen behandelt zu werden. Bisher hat dieses T h e m a im deutschsprachigen Raum - wie mir scheint - wenig Beachtung gefunden, weil die Geschichtswissenschaft immer noch stark an nationalstaatlichen Traditionen orientiert ist. Ihr Handwerkszeug zeigt methodische und analytische Grenzen, wenn es beispielsweise um das Phänomen der »Staatenlosigkeit« oder die Erforschung transnationaler Fluchtbewegungen geht. Marrus belegt mit unzähligen Beispielen, daß ein Paradigmenwechsel in den human sciences dringend erforderlich ist. Sein Buch Die Unerwünschten liefert nicht nur vielfältige Ansatzpunkte für weitere sozialgeschichtliche Forschungen im Bereich Exil und Migration. Es verweist auch auf die Notwendigkeit, den Begriff des Flüchtlings als historische Kategorie - ähnlich wie Klasse, Rasse und Geschlecht - stärker als bisher in der wissenschaftlichen Debatte zu berücksichtigen. Anne Klein

»Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß«. Klaus Mann (1906-1949). Bilder und Dokumente. Hg. von Uwe N a u m a n n . Reinbek (Rowohlt) 1999. 351 S. Klaus M a n n : Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. M i t einem Nachwort von Michael Töteberg und 30 Szenenfotos aus der Verfilmung von Ottokar Runze. Reinbek (Rowohlt) 1999. 571 S. »Erstaunlich genug bleibt das Phänomen, daß in den achtziger Jahren ein weitgehend vergessener Dichter in kurzer Zeit zu einem wahren Kultautor avancierte«, schreibt der langjährige Mann-Forscher U w e N a u m a n n , Autor dieses großformatigen Prachtbandes, den der Rowohlt Verlag seinem toten Bestseller-Autor zum 50. Todestag widmet. Der makabre Anlaß erscheint angemessen bei einem Autor, dessen Werk und Leben bereits viele Jahre vor seinem Selbstmord von einer Sehnsucht zum Tode geprägt war. Ein wesentlicher Grund Rir den neuen Kultstatus von Klaus M a n n ist eindeutig sein Roman Mephisto und die seit dessen Erscheinen anhaltende Debatte, ob Klaus Mann darin seinen Ex-Schwager Gustaf Gründgens porträtiert habe. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß M a n n seinen späten Nachruhm ausgerechnet demjenigen verdankt, den er zutiefst gehaßt hat. N a u m a n n s Einschätzung, daß M a n n mit den jetzt vorliegenden fast vollständigen Taschenbuchausgaben seiner Werke endlich »die Akzeptanz gefunden (habe), die er sein Leben lang erstrebte«, scheint mir zu optimistisch, sein Nachruhm in der breiten Öffentlichkeit hängt doch mehr am seidenen Faden Mephisto, wie nicht zuletzt auch dieser Bildband zeigt, in dem Naumann dem Roman einer Karriere insgesamt 20 Seiten einräumt, mehr als doppelt soviel wie jedem anderen Werk von Klaus M a n n . Dabei greift N a u m a n n die interessante und durchaus plausible neue These auf, daß sich Gründgens in seinem Film Friedemann Bach ( 1 9 4 1 ) mit Klaus M a n n auseinandergesetzt haben könnte u n d d a ß seine extrem negative Darstellung des Bach-Sohns ein nur leicht verhülltes Porträt Klaus M a n n s sei. Naumann verbindet in dem opulenten und schön gestalteten Bildband die Lebenschronik mit Themenkomplexen, die jeweils auf

Rezensionen einer Doppelseite mit Fotos, Faksimiles, Zitaten und Kommentaren dargestellt werden. Dabei entsteht ein Mosaik der Person Klaus M a n n s vor dem Hintergrund seiner Zeit, in dem sich manches zusammenfügt, aber auch die Widersprüche sichtbar werden; darüber hinaus wird der Band durch Manns zahlreiche Bekannt- und oft Freundschaften zugleich zum Porträt der künstlerischen Elite der Weimarer Republik und des Exils. Naumann kann bei seiner Dokumentation auf eine überbordende Fülle von Material aus den Mann-Nachlässen zurückgreifen, denn die auf ihren Nachruhm wohlbedachte Familie hat anscheinend jeden bedruckten, belichteten und bekritzelten Fetzen Papier aufgehoben. Angefangen von frühen Manuskripten und Zeichnungen bis hin zu Reproduktionen von Gemälden, die Klaus Mann besessen hat, und die übrigens besonders aufschlußreich sind, veröffentlicht Naumann zahlreiche unbekannte Fotos oder Faksimiles. Bei der reliquienartigen Präsentation der Umschläge und Einzelseiten des Tagebuchs entgeht das Buch nicht der Gefahr, sich selbst am Klaus-Mann-Kult zu beteiligen. Problematisch erscheint mir auch, daß Bilder aus Filmen nach Romanen Klaus Manns zur Illustration in den historischen Teil aufgenommen wurden. Die Darstellung des Exils bildet den Schwerpunkt des umfangreichen Bandes und belegt eindrucksvoll diebedeutende Rolle, die Klaus Mann im Exil gespielt hat. Wenn Naumann in der Einleitung schreibt, die beiden Fixpunkte in Manns unstetem Leben seien die Familie und das Schreiben gewesen, so muß man wohl seinen unermüdlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus als dritten Fixpunkt nennen. Durch seine rastlose Arbeit als Vortragsredner, Kabarettautor, Schriftsteller, Journalist, Drehbuchautor, als Herausgeber zweier literarisch-politischer Zeitschriften, durch seine Tätigkeit für die psychologische Kriegsführung als amerikanischer Soldat und nicht zuletzt durch seinen ausgedehnten Briefwechsel und seine Reisen wird Klaus Mann zu einem Brennspiegel des Exils. Fast alle Exilanten der großen kulturellen Emigration hat er gekannt - wie Escape to Life bezeugt, das erste umfassende und heute noch lesenswerte Buch über das kulturelle Exil.

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Eine ausführliche Bibliographie, nebst Filmographie, Namenregister und Bildquellenverzeichnis runden den Band ab, auf die der Eigenwerbung dienende Rubrik »Lieferbare Taschenbuchausgaben« hätte man dabei verzichten sollen. Die Bibliographie verzeichnet noch nicht die Taschenbuchneuausgabe von Klaus Manns Roman über die Emigration Der Vulkan, der — eine kleine literarische Sensation — erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in originaler Textgestalt vorliegt. Denn die erste Nachkriegs-Ausgabe 1956 - auf der alle späteren Ausgaben, auch die in der DDR erschienenen, basieren - wurde von Erika Mann erheblich überarbeitet, wie Michael Töteberg in seinem informativen Nachwort erläutert, was jedoch bislang niemandem aufgefallen zu sein scheint. Die stillschweigend vorgenommenen Änderungen sind aufgelistet in einem siebenseitigen Typoskript, das sich im Nachlaß Erika und Klaus Manns befindet. Danach hat Erika Mann »den Roman ihres Bruders vor allem stilistisch nachredigiert; und sie hat in einigen Punkten politisch motivierte Änderungen vorgenommen (...). Der gravierendste Eingriff waren zwei Kürzungen: auf S. 356 wurde Hans Schüttes Selbstreflexion, er hätte doch lieber in die Kommunistische Partei eintreten sollen, gestrichen (...) und aufS. 537 f. hat Erika Mann die Passage, in der die >Internationale< gesungen wird (...), kurzerhand eliminiert.« Gestrichen hat sie alle Hinweise darauf, daß Hans Schütte Politkommissar ist, und in den Abschnitten über den Spanischen Bürgerkrieg hat sie eliminiert »was in der Zeit des Kalten Krieges politisch nicht opportun erschien.« Erika Mann wollte ursprünglich auch den »Komplex Martin - Kikjou« verknappen - wovon sie »als undurchführbar« glücklicherweise wieder Abstand nahm. Mit Recht bezeichnet Töteberg die von ihr edierte Ausgabe als »fragwürdig«, seine Edition folgt nunmehr »in allen wesentlichen Punkten der Querido-Erstausgabe. Lediglich einige offenkundige Satz- und Flüchtigkeitsfehler wurden korrigiert, und manche Schreibweisen wurden behutsam modernisiert.« Somit liegt nun »60 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe (...) erstmals wieder Der Vulkan in der authentischen Fassung vor.« Helmut G. Asper

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Helmut G. Asper: Max Ophüls.

phie mit zahlreichen Dokumenten, Bildern.

Eine

Biogra-

Texten und

Berlin (Benz) 1998. 800 S.

Es gehört zu den zahlreichen Paradoxien des Wissenschaftsbetriebs, daß just zu einem Zeitpunkt, da sich die Ära des Films als Kunstform nach Ansicht zahlreicher Beobachter dem Ende zuneigt, die Filmwissenschaft allmählich und mit großer Verspätung gegenüber anderen Ländern in Deutschland als eigenständige Disziplin anerkannt wird. Bisweilen hat man allerdings den Eindruck, daß ihre vordringlichste Funktion darin besteht, Publizistik-, Theater- und Literaturwissenschaftlern, die auf ihrem urspünglichen Gebiet nicht reüssieren konnten u n d denen die Karriere wichtiger ist als das Fach, auf einem noch unbesetzten Fleck Lehrstühle zu beschaffen. Doch kaum hat die noch unter Unsicherheiten bei der Legitimation leidende Filmwissenschaft ihre ersten Außenposten , schon wiederholt sie einen längst ausgelaugten Streit der Literaturwissenschaft, den man, hochgestochen, mit dem Positivismusstreit zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und den Kritischen Rationalisten der Popper-Nachfolge in Verbindungbringen könnte. Die »Sammler« und die »Theoretiker« werfen einander mangelnde Wissenschaftlichkeit vor, Modellpurismus oder Fliegenbeinzählerei; dabei liegt es doch auf der Hand, daß ohne das von den »Sammlern« oft mit viel Fleiß und Ausdauer zusammengetragene Material die Theorien ihren Gegenstand verlören und daß andererseits das Material nutzlos bleibt, wenn es nicht analysiert wird, wofür es wiederum einer Theorie bedarf. Der hier skizzierte Streit ist also ebenso unerfreulich wie fruchtlos und hat mehr mit dem Prinzip der Konkurrenz zu tun als mit den Erfordernissen der Filmwissenschaft. Innerhalb des angesprochenen Gegensatzes n i m m t Helmut G. Asper eine Position ein, die wohl nicht er selbst, aber seine Kritiker als die eines Sammlers kennzeichnen würden. Ohne Zweifel gehört er zu jenen, die unter Lücken leiden, die fast zwanghaft nach Vollständigkeit streben und nach Korrektheit auch in scheinbar unbedeutenden Details. Dieser Tugend, die nur jene als Unart qualifizieren, denen sie abgeht, diesem Furor verdanken wir eine mit den 64 Bildtafeln 8 0 0

Seiten starke Arbeit über Max Ophüls, deren Erscheinen wiederum durch ein Paradox verzögert wurde: Je gründlicher nämlich eine Arbeit ist, je mehr sie an Material und Erkenntnissen zusammenträgt, je u m f a n g reicher sie folglich wird, um so schwerer findet sich ein Verlag, der das kommerziell problematische Werk zu drucken bereit wäre. In diesem Fall ist der ambitionierte Fernsehsender arte als Retter in der Not beigesprungen. Er sei dafür gepriesen. M a n hatte ja schon fast vergessen, daß es einmal einen kulturellen Auftrag der Massenmedien gab. Seit man sich, noch nicht gar so lange, mit jenen Künstlern beschäftigt, die von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben wurden, gibt es, offensichtlich als Reaktion auf das fahrlässige oder politisch bewußte Totschweigen in den Nachkriegsjahren, eine Tendenz zur Überschätzung und Aufwertung bisweilen mittelmäßiger Talente. Freilich: auch hier geht es oft um die akademische Besetzung von »weißen Flecken«. Max Ophüls gehört nun ganz gewiß nicht zu den Mediokren, die das jüngst verstärkte Interesse der Perspektive einer Exilforschung verdanken. W i e etwa Bertolt Brecht oder Arnold Schönberg hatte er sich bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten einen Namen gemacht, und man darf guten Gewissens behaupten, daß er für den Film einen vergleichbaren Stellenwert hat wie die Genannten für die Literatur und die Musik. Mehr noch: mit der Liebelei von 1932 hatte er bereits die wesentlichen Züge geprägt, die sein gesamtes Werk weitgehend bestimmen sollten. Diesem Film übrigens verdankt der Saarbrücker die Tatsache, daß er im öffentlichen Bewußtsein häufig als Österreicher figuriert. Ohne Zweifel verbindet ihn viel mit der spezifisch jüdisch-wienerischen Kunst der Vorkriegszeit und insbesondere mit Arthur Schnitzler, von dem er bekanntlich auch den Reigen auf unnachahmliche Weise verfilmte und dessen Frau Berta Garlan er kurz vor seinem frühen Tod zu einem ebenso unnachahmlichen Hörspiel verwandelte. Asper folgt in seiner Darstellung der biographischen Chronologie. In den Text hat er zahlreiche wertvolle Dokumente, insbesondere viele Selbstaussagen von M a x Ophüls darunter den erstmals veröffentlichten pro-

Rezensionen grammatischen Rundfunkvortrag Vom Souffleurkasten über das Mikro auf die Leinwand von 1932 — eingebettet, die er kenntnisreich kommentiert. Dabei macht es ihm sein Objekt nicht leicht, denn mit den Fakten nimmt es Ophüls, wie Asper nachweist, nicht allzu genau, und gerne erfindet er auch Geschichten, die er retrospektiv als wahr ausgibt. In der Beschreibung von Ophüls' Karriere als Schauspieler und Theaterregisseur findet sich ein Detail, das deutlich macht, wie stark manche Kontinuitäten sind und daß Daniel Goldhagen mit seiner These in Österreich eher fündig geworden wäre als in Deutschland. 1926 (!) wurde Ophüls am Burgtheater gekündigt mit der Begründung, »das Publikum hätte nunmehr die Wahrnehmung gemacht, daß Ophüls Jude sei, er müsse bedenken, daß wir in einer christlich-sozialen Republik leben und uns danach richten müßten.« Der Burgtheaterdirektor Herterich sei »von verschiedenen maßgebenden Persönlichkeiten interpelliert worden, warum (er) einen Juden engagiert« habe. Das könnte fast wörtlich aus Schnitzlers Professor Bernhardi stammen. Für den Mißerfolg des zweifachen Emigranten in den USA bietet Asper folgende plausible Erklärung an: »Ein Blick auf die Filmemigranten in Hollywood lehrt, daß dort nur diejenigen erfolgreich sein konnten, die bereit waren, sich in Amerika zu integrieren und an amerikanische Mentalität, Sprache und Produktionsverhältnisse anzupassen. (...) Ophüls konnte und wollte das nicht, er war zu sehr Europäer und blieb innerlich an Frankreich und auch an Deutschland gebunden, daheim sprach er im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten stets deutsch.« Ophüls selbst schreibt in einem Brief von 1948 (!) an Wolfgang Liebeneiner: »Man darf eben nie vergessen, daß Amerika künstlerisch ein kindliches Gebiet ohne Tradition ist, und daß es augenblicklich in seiner überkommerzialisierten Epoche nur dem profitablen Industrieprodukt eine Chance bieten kann.« Augenblicklich! Was würde Ophüls 1999 sagen? Trotzdem äußert er sich 1955 in den Cahiers du Cinéma deutlich positiver über Amerika und plant kurz vor seinem Tod, ernüchtert durch die Aufnahme in Deutschland und auch in Frankreich, das er als seine zweite Heimat betrachtete und liebte, eine Rückkehr nach Hollywood.

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Asper, dessen rhetorisch eindrucksvolle Einführungen zu den Filmen von Max Ophüls längst zum unverzichtbaren Bestand des Saarbrücker Festivals um den Max-Ophüls-Preis gehören, schreibt einen klaren, prägnanten Stil, uneitel, dem Gegenstand verpflichtet und stets auf äußerste Genauigkeit bedacht. Zur Genauigkeit gehört auch, daß Asper mit einer ungewöhnlichen Redlichkeit eingesteht, wo Fragen offen bleiben und sich Widersprüche nicht auflösen lassen. Bluffen ist seine Sache nicht. Mit der aktuellen Ophüls-Forschung setzt sich Asper nicht auseinander, um so mehr aber mit der zeitgenössischen Rezeption. Sein historisches Interesse überwiegt das systematische. Damit freilich wird das Buch auch für Leser interessant, die keine Filmspezialisten sind, dafür aber eine exemplarische Künstlerbiographie eines deutschen Juden im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Exils, zu schätzen wissen. Thomas Rothschild

Hans Schafranek: Kinderheim Nr. 6. Osterreichische und deutsche Kinder im sowjetischen Exil. Unter Mitarbeit von Natalja Mussijenko. Wien (Docker) 1998. 251 S. Seit den frühen neunziger Jahren hat das Forschungsinteresse am Exil in der Sowjetunion deutlich zugenommen, nicht zuletzt deshalb, weil die Öffnung ehemals verschlossener Archive und ein liberalerer Umgang mit historischem Wissen Informationen zu früher oft ausgeblendeten Aspekten der Geschichte erwarten ließ. Die Frage, warum die einst an die Sowjetunion geknüpften emanzipatorischen Hoffnungen im Terror des stalinistischen Systems erstickt wurden, bewegt nicht nur die Historiker. Aus dem Bedürfnis nach Aufdeckung und Aufklärung galten Publikationen zunächst vorzugsweise politischen Aspekten des Exils, den Analysen und Beschreibungen des stalinistischen Terrors und den Schicksalen von Betroffenen. Hans Schafraneks neue Studie lenkt die Aufmerksamkeit auf eine in Forschung und Publizistik noch weitgehend unberücksichtigt gebliebene oder nur gelegentlich erwähnte Emigrantengruppe: deutsche und österrei-

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chische Kinder u n d Jugendliche, die, o h n e selbst Akteur gewesen zu sein, auf besonders dramatische Weise in das Spannungsfeld der politischen Auseinandersetzungen in den zwanziger u n d dreißiger Jahren geraten waren. Im M i t t e l p u n k t der U n t e r s u c h u n g steht das K i n d e r h e i m N r . 6 in M o s k a u . Speziell für Kinder von österreichischen S c h u t z b ü n d lern, die d u r c h die Niederschlagung des Aufstands von 1934 in eine N o t s i t u a t i o n gek o m m e n waren, eingerichtet, galt diesem H e i m das besondere Interesse der politischen Führungsschicht der K o m i n t e r n . U n t e r Leit u n g der Roten Hilfe sollte es vor allem Kinder aus Familien a u f n e h m e n , deren Ernährer gefallen, verhaftet, v e r w u n d e t oder auf der Flucht waren. Etwa 120 österreichische Kinder fanden im Kinderheim Nr. 6 eine neue H e i m a t , auch einige Kinder deutscher Politemigranten. In akribischen Recherchen hat Schafranek Lebenswege dieser Kinder rekonstruiert u n d d u r c h Interviews ergänzt. Er w u r d e von Natalja Mussijenko unterstützt, die sich bereits mit Arbeiten zur Karl-LiebknechtSchule in Moskau u n d zur A u f k l ä r u n g der Legenden über H i t l e r j u n g e n in M o s k a u einen N a m e n gemacht hat. Die Studie ist in vier Kapitel mit teils unterschiedlicher Struktur u n d verschiedenartigen m e t h o d i s c h e n Z u g ä n g e n gegliedert. Im ersten Kapitel werden Organisation und Stationen der Emigration von Osterreich über die Tschechoslowakei nach M o s k a u beschrieben u n d familiengeschichtliche H i n t e r g r ü n d e der emigrierten S c h u t z b u n d Kinder untersucht. Meist k a m e n sie aus ä r m lichen, mehrheitlich proletarischen Verhältnissen, zu denen der bescheidene »Luxus« des Kinderheims in deutlichem Kontrast stand. Schafranek spricht von einem »propagandistischen Schaufenster«; die betroffenen Kinder u n d Jugendlichen erinnern sich gleicherm a ß e n an erlebte Solidarität, Z u w e n d u n g u n d G e b o r g e n h e i t . Diese für m a n c h e der K i n d e r ganz u n d gar neuartige Lebenswelt v e r m o c h t e nicht n u r T r e n n u n g s s c h m e r z , Verlust vertrauter sozialer u n d familiärer Bind u n g e n u n d die Situation der F r e m d e zu kompensieren, sondern auch die W a h r n e h m u n g der Sowjetunion nachhaltig zu prägen. Das zweite Kapitel gilt den politischen u n d pädagogischen Verhältnissen im K i n d e r h e i m Nr. 6, den betreuenden Erzieherinnen u n d

Erziehern, politischen Konflikten u n d Intrigen im U m f e l d des S c h u t z b u n d - H e i m s , d e m Terror des stalinistischen Regimes, der 1939 geplanten Auflösung, d a n n der »Reorganisation« des H e i m s in Folge des Hitler-StalinPakts u n d schließlich der Ü b e r f ü h r u n g der Kinder in das russische K i n d e r h e i m Spartak. Angefüllt m i t biographischen Passagen, alltagsgeschichtlichen Episoden u n d H i n t e r g r u n d i n f o r m a t i o n e n schildert Schafranek, wie die Kinder u n d Jugendlichen allmählich in das sowjetische Leben h i n e i n w u c h s e n bzw. entsprechend erzogen w u r d e n , welche Konflikte sie d u r c h l e b t e n , welche E n t t ä u s c h u n gen, biographischen Brüche u n d traumatischen E r f a h r u n g e n sie zu verarbeiten hatten. »Objekte f r e m d b e s t i m m t e r E n t s c h e i d u n gen« seien sie gewesen, sagen später die zur Zeit der Flucht aus Österreich acht- bis dreizehnjährigen Kinder, während ältere Kinder auch »persönliche Motivation für die E m i gration in die UdSSR« e r k e n n e n lassen. Ungeachtet dessen urteilten fast alle vom Verfasser interviewten ehemaligen S c h u t z b u n d Kinder positiv über »ihr« H e i m , u n a b h ä n g i g von ihren n a c h f o l g e n d e n Schicksalen u n d obwohl ein strenges pädagogisches Regime, politische Erziehung, Disziplin u n d Kontrolle das Leben im K i n d e r h e i m Nr. 6 beherrschten. Ähnlich der deutschsprachigen KarlLiebknecht-Schule in M o s k a u oder d e m internationalen Kinderheim in Iwanowo trug auch das S c h u t z b u n d - H e i m Z ü g e einer pädagogischen Enklave u n d stand d e n n o c h zugleich u n t e r der Kuratel der sowjetischen Erziehungspolitik, die sich längst der v o m Reformgeist beseelten Pädagogik der zwanziger Jahre entledigt hatte. Einer, der diesen Geist noch kannte, war der k o m m u n i s t i s c h e E m i g r a n t Fritz Beyes, ein Berliner Volksschullehrer u n d Schulreformer, 1 9 3 4 / 3 5 pädagogischer Leiter des Kinderheims. 1942 starb er in einem Lager. Sein Fall, von Schafranek in einem eigenen Abschnitt detailliert rekonstruiert, spiegelt, ebenso wie ein Exkurs über die N K W D - K o n s t r u k t i o n einer »Hitler-Jugend-Gruppe« in M o s k a u , idealtypisch die A n a t o m i e des stalinistischen Repressionsapparates wider. W i e für die meisten E m i g r a n t i n n e n u n d E m i granten, die den Terror überlebt hatten, war auch für die Bewohner des ehemaligen Kinderheims Nr. 6 der deutsche Überfall auf die S o w j e t u n i o n ein tiefer existentieller Ein-

Rezensionen schnitt. D e r Krieg zerstreute sie in alle W i n de. Im dritten Kapitel begibt sich Schafranek auf eine »individualbiographische S p u r e n suche«. Sechs Lebensgeschichten stehen für die Tragödien der Kriegszeit: E v a k u i e r u n g ins Ungewisse, M i ß t r a u e n , Repressionen, H u n g e r u n d N o t , U b e r l e b e n s k ä m p f e in Arbeitslagern - u n d trotz allem H o f f n u n g auf eine Lebensperspektive. Schicksale rücken ganz nah, treten gleichsam aus der Geschichte heraus. U n d spätestens hier wird d e m Leser b e w u ß t , wie j u n g sie w a r e n , d e n e n eine solche Last an E r f a h r u n g a u f g e b ü r d e t wurde. In lebendiger V e r k n ü p f u n g von politischen Ereignissen u n d biographischen E r i n n e r u n gen bietet das Buch ein historisches Panorama, das deshalb besonders b e r ü h r t , weil die betroffenen Subjekte zu W o r t k o m m e n u n d A n o n y m i t ä t an keiner Stelle zugelassen wird. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der zweiten E m i g r a n t e n g e n e r a t i o n in der S o w j e t u n i o n , der d o r t aufgewachsenen Kinder u n d J u g e n d l i c h e n u n d der ihnen eigenen Sozialisation. D a m i t trifft das Buch nicht n u r in eine Forschungslücke, s o n d e r n lenkt auf das G e n e r a t i o n e n p r o b l e m im Exil überh a u p t . In diesem Kontext erlangt auch das im vierten Kapitel d o k u m e n t i e r t e Interview mit Wolfgang L e o n h a r d über dessen Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone nach Jugoslawien im M ä r z 1949 Sinn u n d F u n k tion, dessen Bezug z u m T h e m a ansonsten nicht auf den ersten Blick einsichtig erscheint. Es bleibt zu w ü n s c h e n , d a ß die Studie A n s c h l u ß u n t e r s u c h u n g e n anregt. Eine Geschichte der K i n d e r u n d der Kindheit im sowjetischen Exil wäre eine l o h n e n s w e r t e Aufgabe. Christa Uhlig

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Kleine Verbündete - Little Allies. Vertriebene österreichische Kinder- und Jugendliteratur. W i e n (Picus-Verlag) 1998. 183 S. Unlängst präsentierte das Literaturhaus in W i e n eine a u ß e r o r d e n t l i c h beachtete Ausstellung österreichischer Kinder- u n d J u g e n d b u c h a u t o r i n n e n u n d -autoren, die m i t ihren Kolleginnen u n d Kollegen aus anderen deutschsprachigen Ländern v o m Faschismus in die E m i g r a t i o n getrieben worden waren u n d in dieser Zeit u n t e r schwierigsten Bedingungen Literatur für Kinder u n d Jugendliche geschaffen h a b e n . Das von Ursula Seeber in Z u s a m m e n a r b e i t mit Alisa D o u e r u n d E d i t h Blaschitz herausgegebene Begleitbuch zur Ausstellung ist m e h r als ein Katalog, s o n d e r n bietet die bisher umfassendste wissenschaftliche Arbeit zur Kinder- u n d Jugendliteratur im Exil. Sicher nicht übertrieben ist die Beh a u p t u n g , d a ß dieser Bereich der Exilliteratur m i t d e m vorliegenden Band zu einem gleichrangigen, bisher weitgehend u n b e a c h teten G e g e n s t a n d der Exilforschung e r h o b e n worden ist. Ausstellung u n d Buch erweisen sich als eine bedeutsame Erweiterung und Fortführung der verdienstvollen Arbeit der D e u t s c h e n Bibliothek Leipzig, die bereits 1995 mit einer Ausstellung auf diese A u t o r e n g r u p p e hingewiesen hat. Beide Ausstellungen bildeten das F u n d a m e n t einer Ausstellung der D e u t s c h e n Bibliothek in F r a n k f u r t im S o m m e r 1999. Vom 22. April bis 18. Mai 2 0 0 1 werden beide Ausstellungen erneut vereint u n d ergänzt d u r c h »Jüdische Kinder- u n d Jugendliteratur in D e u t s c h l a n d 1 9 3 3 - 1 9 3 8 « als G e m e i n schaftsprojekt der Universitätsbibliothek, der S t a d t b i b l i o t h e k u n d der Begegnungsstätte Alte Synagoge in W u p p e r t a l zu sehen sein. D i r k Krüger

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

Marek Andrzejewski, geb. 1947 in Bydgoszcz (Bromberg). Studium der Geschichte an der Universität Torün, M.A. 1973, Promotion 1976, Habilitation 1987 an der Universität Danzig. Nach dem Studium zunächst Lektor, dann Bibliothekar in der Universitätsbibliothek Danzig, dort seit 1989 Dozent und seit 1995 Professor für Geschichte. Forschungsschwerpunkte im Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen und zur Geschichte der Freien Stadt Danzig. Markus Bauer, geb. 1959. Studium der Germanistik und Geschichte, M.A. in Marburg, z. Zt. Lektor an der Universität Iasi, Rumänien. Arbeiten über Walter Benjamin und Erich Auerbach. Jean-Louis Cremieux-Brilhac, geb. 1917 in Colombes (Seine). Studium der Geschichte an der Sorbonne, Licensié ès Lettres, Diplome d'Etudes Supérieures d'Histoire. Mitglied der Bewegung »France Libre« 1940, seit 1942 Chef von deren Geheimem Nachrichtendienst; ab 1947 leitende Funktionen in verschiedenen französischen Regierungen, 1954 Chargé de Mission im Kabinett Mendes-France; seit 1955 stellvertretender, ab 1969 leitender Direktor der »Documentation Française au Secrétariat Général du Gouvernement«. Brita Eckert, geb. 1947. Studium der Geschichte, Germanistik und ev. Theologie in Frankfurt/M., Promotion 1975; Ausbildung zur wissenschaftlichen Bibliothekarin, seit 1984 Leiterin des »Deutschen Exilarchivs 1 9 3 3 - 1 9 4 5 Der Deutschen Bibliothek«. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Emigrationsgeschichte und Exilliteratur. Karl Holl, geb. 1931. Prof. em. für Geschichte an der Universität Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Zeitgeschichte, zur Geschichte liberaler Parteien, zur deutschen Friedensbewegung und zum Exil deutscher Pazifisten nach 1933. Pedro C. Holz, Diplomingenieur und Schriftsteller, Santiago de Chile, lebte von 1974 bis 1989 im Exil in der Bundesrepublik. Wolfgang Stephan Kissel, geb. 1957. Dr. phil. habil. Studium der Slavistik, Romanistik und Osteuropäischen Geschichte; Privatdozent für Kulturgeschichte Osteuropas an der Universität Bremen und wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Literaturforschung in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kul-

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

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turtheorie, russische Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Peter Meleghy, geb. 1939 in Budapest, flüchtete nach dem Ungarn-Aufstand in die Bundesrepublik. Studium zunächst der Medizin, dann der Philosophie und Germanistik in Louvain, Wien und Mainz; seit 1969 freiberuflicher Autor und Journalist. Alessandra Minerbi, geb. 1967. Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Florenz, M.A., Promotion 1996; arbeitet z. Zt. mit einem Postdoktorandenstipendium an der Universität Triest über die deutsche politische Emigration, außerdem Mitarbeiterin an einem von der Region Toscana finanzierten Projekt über die Judenverfolgung dort während des Faschismus. Shi Ming, geb. 1957 in Peking. Studium der Germanistik und Rechtswissenschaft; Wirtschaftsjurist und Journalist in Peking, kam 1987 in die Bundesrepublik, arbeitet hier als freiberuflicher Autor und Journalist. Karl Schlägel, geb. 1948. Historiker und Essayist, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Milos Trapl, geb. 1935 in Brünn. Studium der Geschichte an der Universität Olomouc, 1 9 5 3 - 1 9 5 7 im Archiv und 1960 im Museum Olomouc tätig, anschließend Oberassistent am Lehrstuhl für Geschichte der Palacky-Universität Olomouc, 1966 PhD, 1977 Habilitation an der Masaryk-Universität in Brünn und Dozent, seit 1997 Professor in Olomouc. Forschungen zur tschechoslowakischen und Regionalgeschichte mit Schwerpunkten politischer Katholizismus und tschechoslowakisches Exil im 20. Jahrhundert. Reiner Tosstorff, geb. 1951. Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und Romanistik in Bochum, Barcelona und Bonn; Promotion 1986, Habilitation 1999; Privatdozent für Neueste und Zeitgeschichte an der Universität Mainz. Veröffentlichungen u.a. zur spanischen Geschichte und zum internationalen Kommunismus. Irmtrud Wojak, geb. 1963. Studium der Politikwissenschaft, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Bochum; Promotion 1993. Anschließend verschiedene Forschungsaufenthalte in Israel, den USA und den Niederlanden. Stellvertretende Direktorin des Fritz Bauer Instituts - Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main.

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Kurzbiographien der A u t o r i n n e n u n d Autoren

Elsbeth Wolffheim, geb. 1934. Studium der Germanistik und Slavistik, Promotion 1960. Buch- und Zeitschriftenpublikationen vornehmlich zu den Themenschwerpunkten Deutsche Exilliteratur und russische Literatur im 20. Jahrhundert. Seit 1996 Vizepräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland und Beauftragte des deutschen PEN für die Sektionen »Writers in Prison« und »Writers in Exile«, Neugründungen, die demnächst auch im Internationalen PEN installiert werden.

Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Herausgegeben von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler und Wulf Koepke

Band 1/1983

Stalin und die Intellektuellen und andere Themen 391 Seiten »... der erste Band gibt in der Tat mehr als nur eine Ahnung davon, was eine so interdisziplinär wie breit angelegte Exilforschung sein könnte.« Neue Politische Literatur Band 2/1984

Erinnerungen ans Exil - kritische Lektüre der Autobiographien nach 1933 415 Seiten »Band 2 vermag mühelos das Niveau des ersten Bandes zu halten, in manchen Studien wird geradezu außergewöhnlicher Rang erreicht ...« Wissenschaftlicher Literaturanzeiger Band 3/1985

Gedanken an Deutschland im Exil und andere Themen 400 Seiten »Die Beitrage beschäftigen sich nicht nur mit Exilliteratur, sondern auch mit den Lebensbedingungen der Exilierten. Sie untersuchen Möglichkeiten und Grenzen der Mediennutzung, erläutern die Probleme der Verlagsarbeit und verfolgen Lebensläufe im Exik« Neue Zürcher Zeitung Band 4/1986

Das jüdische Exil und andere Themen 310 Seiten Hannah Arendt, Bruno Frei, Nelly Sachs, Armin T. Wegner, Paul Tillich, Hans Henny Jahnn und Sergej Tschachotin sind Beiträge dieses Bandes gewidmet. Ernst Loewy schreibt über den Widerspruch, als Jude, Israeli, Deutscher zu leben.

Band 5/1987

Fluchtpunkte des Exils und andere Themen 260 Seiten Das Thema »Akkulturation und soziale Erfahrungen im Exil« stellt neben der individuellen Exilerfahrung die Integration verschiedener Berufsgruppen in den Aufnahmeländern in den Mittelpunkt. Bisher wenig bekannte Flüchtlingszentren in Lateinamerika und Ostasien kommen ins Blickfeld.

Band 6 / 1 9 8 8

Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen 243 Seiten Der Blick wird auf einen Bereich gelenkt, der Von der Exilforschung bis dahin kaum wahrgenommen wurde. Das gilt sowohl für den Transfer denkgeschichtlicher und theoretischer Traditionen und die W i r k u n g der vertriebenen Gelehrten auf die Wissenschaftsentwicklung in den Zufluchtsländern wie auch für die Frage nach dem »Emigrationsverlust«, den die Wissenschaftsemigration für die Forschung im NS-Staat bedeutete.

Band 7/1989

Publizistik im Exil und andere Themen 249 Seiten Der Band stellt neben der Berufsgeschichte emigrierter Journalisten in den USA exemplarisch Persönlichkeiten und Periodika des Exils vor, vermittelt an deren Beispiel Einblick in politische u n d literarische Debatten, aber auch in die Alltagswirklichkeit der Exilierten.

Band 8/1990

Politische Aspekte des Exils 243 Seiten Der Band wirft Schlaglichter auf ein umfassendes Thema, beschreibt H a n d lungsspielräume in verschiedenen Ländern, stellt Einzelschicksale vor. Der Akzent auf dem kommunistischen Exil, dem Spannungsverhältnis zwischen antifaschistischem Widerstand und politischem Dogmatismus, verleiht ihm angesichts der politischen Umwälzungen seit 1989 Aktualität.

Band 9 / 1 9 9 1

Exil und Remigration 263 Seiten Der Band lenkt den Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte, untersucht, wie mit rückkehrwilligen Vertriebenen aus dem Nazi-Staat in diesem Land nach 1945 umgegangen wurde.

Band 10/1992

Künste im Exil 212 Seiten. Zahlreiche Abbildungen Beiträge zur bildenden Kunst und Musik, zu Architektur und Film im Exil stehen im Mittelpunkt dieses Jahrbuchs. Fragen der kunst- und musikhistorischen Entwicklung werden diskutiert, die verschiedenen Wege der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus dargestellt, Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstler beschrieben.

Band 11/1993

Frauen und Exil Zwischen Anpassung und Selbstbestimmung 283 Seiten Der Band trägt zur Erforschung der Bedingungen und künstlerischen wie biographischen Auswirkungen des Exils von Frauen bei. Literaturwissenschaftliche und biographische Auseinandersetzungen mit Lebensläufen und Texten ergänzen feministische Fragestellungen nach spezifisch »weiblichen Uberlebensstrategien« im Exil.

Band 12/1994

Aspekte der künstlerischen Inneren Emigration 1933 bis 1945 236 Seiten Der Band will eine abgebrochene Diskussion über einen kontroversen Gegenstandsbereich fortsetzen: Zur Diskussion stehen Literatur und Künste in der Inneren Emigration zwischen 1933 und 1945, Möglichkeiten und Grenzen einer innerdeutschen politischen und künstlerischen Opposition.

Band 13/1995

Kulturtransfer im Exil 276 Seiten Das Jahrbuch 1995 macht auf Zusammenhänge des Kulturtransfers aufmerksam. Die Beiträge zeigen unter anderem, in welchem Ausmaß die aus Deutschland vertriebenen Emigranten das Bewußtsein der Nachkriegsgeneration der sechziger Jahre - in Deutschland wie in den Exilländern - prägten, welche Themen und welche Erwartungen die Exilforschung seit jener Zeit begleitet haben.

Band 14/1996

Rückblick und Perspektiven 231 Seiten Methoden und Ziele wie auch Mythen der Exilforschung werden kritisch untersucht; der Band zielt damit auf eine problem- wie themenorientierte Erneuerung der Exilforschung. Im Zusammenhang mit der Kritik traditioneller Epochendiskurse stehen Rückblicke auf die Erträge der Forschung unter anderem in den USA, der DDR und in den skandinavischen Ländern. Zugleich werden Ausblicke auf neue Ansätze, etwa in der Frauenforschung und der Literaturwissenschaft, gegeben.

Band 15/1997

Exil und Widerstand 282 Seiten Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Herrschaftssystem aus dem Exil heraus steht im Mittelpunkt dieses Jahrbuchs. Neben einer Problematisierung des Widerstandsbegriffs beleuchten die Beiträge typische Schicksale namhafter politischer Emigranten und untersuchen verschiedene Formen und Phasen des politischen Widerstands: z.B. bei der BraunbuchKampagne zum Reichstagsbrand, in der französischen Resistance, in der Zusammenarbeit mit britischen und amerikanischen Geheimdiensten sowie bei den Planungen der Exil-KPD für ein Nachkriegsdeutschland.

Band 16/1998

Exil und Avantgarden 2 7 5 Seiten D e r B a n d diskutiert und revidiert die Ergebnisse einer mehr als zwanzigjährigen Debatte u m Bestand, Entwicklung oder Transformation der historischen Avantgarden unter den Bedingungen von Exil und Akkulturation; die Beiträge verlieren dabei den gegenwärtigen U m g a n g mit dem T h e m a Avantgarde nicht aus dem Blick.

Band 1 7 / 1 9 9 9

Sprache - Identität - Kultur Frauen im Exil 2 6 8 Seiten Die Untersuchungen dieses Bandes fragen nach der spezifischen Konstruktion weiblicher Identität unter den Bedingungen des Exils. Welche Brüche verursacht die — erzwungene oder freiwillige — Exilerfahrung in der individuellen Sozialisation? U n d welche Chancen ergeben sich möglicherweise daraus für die Entwicklung neuer, modifizierter oder alternativer Identitätskonzepte? Die Beiträge bieten unter heterogenen Forschungsansätzen literatur- und kunstwissenschaftliche, zeithistorische und autobiografische Analysen.

Weiterhin lieferbar: Albrecht Betz

Exil und Engagement Deutsche Schriftsteller im Frankreich der Dreißiger Jahre 3 4 0 Seiten Frankreich als Exilland und O r t antifaschistischer Aufklärung, aber auch die deutsch-französische Annäherung und intellektuelle Kollaboration rechter Strömungen analysiert Albrecht Betz in dieser Studie, die auf einer breiten empirischen Grundlage und einer detaillierten Chronik des französischen Exils aufbaut.

Ausführliche Informationen über alle Beiträge in den bisherigen Jahrbüchern E X I L F O R S C H U N G sowie über alle Bücher des Verlags im Internet unter:

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Neu in der edition text + kritik FILMEXIL Herausgegeben vom Filmmuseum Berlin Deutsche Kinemathek FILMEXIL erscheint mit zwei Nummern im Jahr zum Abonnementpreis von DM 28,--/öS 204,-/sfr 26,-Alle Hefte sind auch einzeln erhältlich. Die Zeitschrift, die früher in der Edition Hentrich publiziert wurde, erscheint ab Heft 12 in der edition text + kritik. Heft 12/2000 Schauspieler im Exil 64 Seiten, zahlr. Abb. DM 18,--/öS 131,-/sfr 17,ISBN 3-88377-656-4

8 edition text + kritik Levelingstraße 6 a 81673 München www.etk-muenchen.de

Als Avantgarde 1933 verjagt, unterlag der Film wie die anderen Künste spezifischen Bedingungen der Epoche, dem Verlust von Tradition. Rezeption und Kommunikation. Die Kunstproduktion in der Fremde veränderte die Genres und ihre Eigenarten. Mit der Dokumentation und der Analyse des Films unter den Bedingungen von Vertreibung und Akkulturation leistet FILMEXIL einen Beitrag sowohl zur Sozialgeschichte des Exils 1933 bis 1945 (und darüber hinaus) wie auch zu einem bedeutsamen, noch immer zu wenig erforschten Gebiet der Filmgeschichtsschreibung. Bisher unveröffentlichte Archivmaterialien und Zeitzeugnisse wie analytische Aufsätze und Untersuchungen bieten ein Forum, in dem

die enge Verflechtung von Kunst und Gesellschaft, von Film und Politik diskutiert werden kann. Schauspieler im Exil: in den Blick genommen werden in diesem Heft sehr unterschiedliche Lebenskapitel Vertreibung, Unsicherheit, Flucht; Überleben und sozialer Abstieg; aber auch Rettung, Einbürgerung, Akkulturation, Karriere; Widerstand und Remigration. Einleitend wird Albert Bassermann porträtiert: die Verkörperung des Künstlers als wahrer Bürger und dessen harte Konfrontation mit der nüchternen Wirklichkeit Hollywoods. Der wenig bekannte Lebensweg seiner Frau Else SchiffBassermann wird nachgezeichnet. Das Fremde und Eigene in Leben und Spiel Peter Lorres und das Schicksal des Komödianten Max Hansen im »Dritten Reich« stehen im Mittelpunkt weiterer Aufsätze. Eine Studie widmet sich dem Thema Ungarn als Exilland. Eine Bibliografie zum Thema Filmexil vervollständigt das Heft.

LEO BAECK INSTITUTE YEAR BOOK XLV Editor: J.A.S. Grenville Associate Editor: Julius Carlebach The Year Book of the Leo Baeck Institute focuses on the history and culture of German-speaking Central European Jewry from early modern times to the postwar period. Founded in 1956, it is now widely acknowledged to be the preeminent academic journal in its field. It publishes contributions from recognised scholars as well as young researchers.

Vol. XLV (2000)

JEWISH PHILOSOPHY AND POLITICS IN THE ENLIGHTENMENT Rivka Horwitz on Kaballah in the writings of Mendelssohn and the Berlin Circle of Maskilim Christoph Schulte on the Invention of Jewish Orthodoxy in 1792 JEWISH ACCULTURATION AND SCHOLARSHIP Reinhard Rürup on Jewish History in Berlin Andreas Brämeron Rabbinical Scholars as the Object of Biographical Interest Manfred Voigts on Fichte as 'Jew-Hater' and Prophet of the Zionists William Z. Tannenbaum on Acculturation in the Nineteenth Century JEWISH IDENTITY IN ART AND MUSIC Katharina S. Feil on Rachel Wischnitzer's Scholarship during her Berlin Years William Kangas on Arnold Schoenberg and Jewish Identity RESEARCH FROM THE OSOBYI ARCHIVE IN MOSCOW Avraham Barkai on a Reassessment of the C.V. Archives in Moscow Jürgen Matthäus on Antisemitic Symbolism in early Nazi Germany ANNOTATED BIBLIOGRAPHY FOR 1999

PUBLISHED FOR THE INSTITUTE BERGHAHN BOOKS, OXFORD Orders and Subscription Information In U.K.: Leo Baeck Institute, 4 Devonshire Street, London WIN 2BH In Germany: Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts, Liebigstraße 24, D-60323 Frankfurt a. Main

Dachauer Hefte

Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Im Auftrag d e s Comité J e d e Ausgabe ist e i n e m T h e m a gei n t e r n a t i o n a l de D a c h a u , Brüssel, w i d m e t o d e r hat e i n e n t h e m a t i s c h e n h e r a u s g e g e b e n von Schwerpunkt: Wolfgang Benz Lieferbar: und B a r b a r a Distel Solidarität u n d W i d e r s t a n d (1991) U m f a n g bis zu 250 Seiten. Ü b e r l e b e n u n d Spätfolgen (1992) Kine Ausgabe j ä h r l i c h . Im A b o n n e m e n t DM 2 2 , Die Verfolgung von (Einzelpreis DM 26,-) Kindern u n d J u g e n d l i c h e n (1993) Verlag Dachauer Hefte Orte d e r E r i n n e r u n g 1945-1995 (1995) Alte RöinerstralJe 75 85221 D a c h a u Gericht und Gerechtigkeit (1997) Verfolgung als G r u p p e n s c h i c k s a l (1998) KZ-Aulienkommandos-Geschichte und K r i n n e r u n g (1999) Z w a n g s a r b e i t (2000)