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German Pages 485 [497] Year 1927
Pestalozzi Sämtliche Werke herausgegeben von
Artur Buchenau
Eduard Spranger
Hans Steildächer
8. Band
Berlin und Leipzig 1927
Verlag von Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göachen’ache Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlags buchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.
Auslieferung f.d.Schweiz: Art. Institut Orell Füssli Zürich
Pestalozzi Sämtliche Werke 8. Band Ein Schweizer-Blatt bearbeitet von
Herbert Schönebaum
Berlin und Leipzig 1927
Verlag von Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen’sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlags buchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.
Auslieferung f. d. Schweiz: Art. Institut Orell Füssli Zürich
Druck von Witter de Gruyter & Co., Berlin W 10
Inhalt. Vorwort ......................................................................................................................... VII I. Ein Schweizer-Blatt 1782 ............................................................................... 1 r. Des Schweizerblats Zweytes Bändchen 1782 .......................................... 191 3. Fragmentarischer Entwurf zu »Arners Gutachten« 1781 ...................... 371 I. Anhang. Textkritik........................................................................................ 401 II. Anhang. Sacherklärung ................................................................................ 437 III. Anhang. Worterklärung................................................................................ 467 IV. Anhang. Namen- und Ortsregister ........................................................... 479
Vorwort Der vorliegende Band enthält den vollständigen Abdruck der 1782 erschienenen Wochenschrift „Lin Schweizer-Blatt" und als einzige Ergänzung, die der handschriftliche Nachlaß hierfür darbot, einen fragmentarischen Entwurf zu „Arners Gutachten", der von dem endgültigen Gutachten in Nr. 19—25 des Schweizerblattes ost erheblich abweicht. Da die beiden Bändchen des Schweizerblattes im ganzen recht selten geworden sind, ist vorgezogen worden, diese Wochenschrift vollständig abzudrucken, also auch das Wenige zu veröffentlichen, was nicht aus der Feder Pestalozzis stammt, um seine Wirksamkeit auch als Schriftleiter einer Wochenschrift voll erkennen zu lassen. Rein äußerlich ist das fremde von dem Schrifttum Pestalozzis durch Petitdruck unterschieden, ferner sind die Stellen aus „Gesetzgebung und Rindermord" in Nr. 2, 3, 6, 2$ des Schweizerblattes, das Gedicht aus „Lhristoph und Else" in Nr. 2 und die Bruchstücke aus der Rede „Don der Freyheit meiner Vater statt" in Nr. 36 und 52 hier abgedruckt worden, obwohl diese Stücke in der vollständigen Fassung der betreffenden Werke wiedererscheinen. Die Textkritik und Sacherklärung dieser Stücke erfolgt jedoch beim vollständigen Abdruck der genannten Schriften. Die Veröffentlichung der aus dem Nkanuskript über „Gesetzgebung und Rindermord" ausgelöschten Stellen in Nr. ^9, 50 und 5s des Schweizerblattes erfolgt nur in diesem Bande. Die Interpunktion ist gemäß den allgemeinen Richtlinien der gesamten Ausgabe vorgenommen worden, doch schien es geboten/ den doppelten Gedankenstrich, der nur im Satz als doppelter erscheint, durch den einfachen zu ersetzen, ferner die Zeichen === entsprechend ihrem Sinn als oder als : wiederzugeben. Da ferner Pestalozzi bei Namensabkürzungen *** gebraucht, diese Zeichen aber innerhalb der Ausgabe für Nichtgedeutetes erscheinen, werden die von Pestalozzi verwendeten *** als .... wiedergegeben. — Die Kolumnentitel sind in der Vorlage nicht vorhanden.
Ein Schweizer-Blatt.
1782.
Die Wochenschriften und Journale häufen sich, sagt ein jedes neues Blatt, das kommt — ich sag’s auch, und komm doch — viele die es sagen, gefielen, und gefallen izt nicht mehr — heute treten wir auf — morgen kommt vielleicht einer, vor dem wir schweigen — bis so lang wollen wir trachten, angenehm, unterhaltend, menschenliebend, wahrheitliebend und bescheiden zu erscheinen. Die Verfasser.
3. Jenner 1782
N. I.
Donnerstag den z. Jenner 1782. Leser. Was hat er? was will er? wo ist seine Brieftasche? Autor. Gnädiger Herr! sie sehen mich vor den unrechten an, mein Haus ist mir nicht verbrunnen, ich bin kein Wittwer von vielen Kindern, ich bin aus keinem Dienst entlaufen, suche auch keinen neuen, und keinen Zehrpfenning. » Leser. Warum krümmest du dich denn so, wie ein brodhungriger Mann ? und ziehest die Bettelgloke einer Ankündi gung an? Autor. Sie hätten sonst nicht einmal ihren Laquay hinunter geschikt, zu fragen: was ich wolle? 10 Leser. So — es giebt aber Schelmen, die sich ankündigen, Leute die einen mit Juden- und Bettelwaaren anführen, und einem falsche Steine und gestohlene Waar feil biethen. Autor. Das ist wohl schlimm, für Leute, die gute Steine, und eigne Waar feiltragen. 15 Leser. Wer das hat, der kündiget sich nicht an, man fährt in Wagen zu ihme. Autor. Hum — Sie mögen sich irren, Gnädiger Herr! es hat niemand besser falsche Steine und gestohlene Waaren zu ver kauften, als die, zu denen man in Wagen fährt, gute bey ihnen eo zu suchen. — Leser. Nun — was ist dann dein Begehren ? was trägst du an? Autor. Ich möchte ihnen alle Donstag, Abends zwischen drey und vier Uhr, das, was mir eben zu Sinn kommen wird, rr kurz und gut, und gerade ins Angesicht sagen. Leser. Du kannst wohl denken, ich möge mir nicht von einem jeden, alle Wochen einmal, alles, was ihme ins Maul kömmt, ins Angesicht sagen lassen. Autor. Ich möchte es auch nicht I »0 Leser. Ich muß dich vom Kopf bis zun Füßen ins Auge fassen, ehe ich dir diese Erlaubniß geben kann.
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Autor. Sie haben ganz Recht! Leser. Stell dich! darfst du mir ins Angesicht sehen? Autor. Das darf ich! Leser. Darfst du die Wahrheit sagen? 5 Autor. So weit ich sie recht weiß. Leser. Freuet es dich, wenn du jemand damit kränkest ? Autor. Nein! Leser. Kränkest du niemand damit ? Autor. Wohl freylich. Leser. Warum ? 10 Autor. Was machen! die Wahrheit ist eine Arzney, die angreift. Leser. Ha! Einfalt! die Wahrheit ist eine Komödie! Autor. Mir nicht! 15 Leser. Im Ernst ? Autor. Nein, weiß Gott nicht! Leser. So bist du entweder ein Narr oder ein Weiser, denn allen andern Leuten ist die Wahrheit eine Komödie! Autor. Ich glaub das nicht! 20 Leser. Aber ich! Autor. Aber sie irren. Leser. Wie das? Autor. Weil sie nur auf das Leservolke achten, aber die machen nicht alles aus. — 25 Leser. Achtest du auf die Leute, die nicht lesen ? Autor. Natürlich. Leser. Haben diese auch Verstand ? Autor. Was das auch vor eine Frage ist! Leser. Du Narr! eine aus meinem Kopf. 80 Autor. Ich seh's wohl! Leser. Aber wie kommen dann die Leute, die nicht lesen, zum Verstand? Autor. Ich denk durch Hören und Sehen, und durch den Gebrauch der Händen und Füßen. — 35 Leser. Das soll mir ein Verstand seyn, der durch Hände und Füße ins Gehirn kommt! Autor. Wahrlich ein recht guter Verstand! er giebt den Leuten Brod ins Maul, und Ruhe ins Herz. — Leser. Aber hat denn das Volk viel dergleichen Ver 40 stand ?
Autor. Ja wahrlich! und es würde noch vielmehr haben, wenn man darnach mit ihm umgienge. Leser. Ich sehe einmal diesen Verstand nicht bey ihme, und kann ihne nicht finden. Autor. Ich glaubs wohl. $ Leser. Warum das? Autor. Es ist, mit ihrer Erlaubniß Gnädiger Herr! fast ein allgemeiner Handwerksfehler der Leserzunft, daß sie den ge meinen Menschenverstand nicht finden. — Leser. Ein schöner Ruhm! io Autor. Ich kann nicht helfen, es ist die Wahrheit. Leser. Aber wie kommt das? Autor. Ganz natürlich. — Leser. Wie dann? Autor. Wer nur ißt und trinkt, wenn ihn hungert und ir durstet, dem schmekt Brod und Wasser gut: wer aber vor Meisterloßigkeit nicht weiß, was er essen und trinken will, der wird Wasser und Brod bald nicht mehr gut finden. Leser. Aber was gehet denn das den Leser, und den Men schenverstand an? io Autor. Gar viel; das gemeine Volk lernet die Wahrheit, und bildet seinen Verstand so zu sagen aus Noth, bey seiner Arbeit, bey seinen Pflichten; die zünftige Leser aber, vertreiben sich mehrentheils blos die Zeit mit ihr, und dann machet die Wahr heit, mit der man nur vor langer Weile tändelt, etwas ganz anders ss aus dem Menschen, als wenn er ihr aus Noth, Berufs halber, nachhängt, um sie zu brauchen, und etwas aus ihr zu ziehen. — Leser. So — Autor. Ja, eben so kommts dann, daß die zünftigen Leser bey dem gemeinen Mann, und der gemeine Mann beym zünftigen so Leser gegenseitig so wenig Verstand findet, indem keiner bey dem andern den seinigen antrift. Leser. Aber welcher Verstand unter diesen beyden sollte wohl der bessere seyn ? Autor. Ich glaube des gemeinen Mannes seiner. si Leser. Aber meynst du nicht, wer nur durch seine eigene Erfahrung, und so zu sagen, aus Noth lernt, der komme zu wenigen Kentnissen und Einsichten; — da hingegen die Leser ein weit ausgebreitetes Feld haben, Kenntnisse und Einsichten allenthalben her einzusammeln?
Ihr Menschen ! warum dienet ihr Gott ? und warum fallet ihr nieder vor seinen Gesandten, und vor seinen Engeln, als nur daß ihr euch selber heiliget, und reiniget vor dem Gewalt der Leidenschaften und Sünden, denen alle Menschheit in dem Maß unterworffen ist, als sie Gott nicht fürchten, und ihm 10 nicht dienen. Also ist dein Gottesdienst Mensch ! Hut über dich selber, und Schuzwehre gegen deine Gefahren. Dein Gottesdienst, o Mensch ! ist dein eigener Dienst. Und darum o Sterblicher ! ist dein Gottesdienst für dich 1immer nur in dem Grad wahr, als er dir nuzzet. Deine Heiligung Mensch, die Minderung deiner Sünde ist der Zwek deines Diensts. Und das Bild deines Gottes, und die wörtliche Lehre deiner Priester, sind immer nur Mittel zu diesem Endzwek. 20 Dein Gott, und dein Erlöser, o Mensch, will dich durch Ueber windung deiner Leidenschaften zur ächten Weisheit des Lebens, und durch die Weisheit des Lebens zum wahren Dienst des Unsichtbaren empor heben. Und in eben dem Maß, in welchem du dich zum wahren r; Dienst des Unsichtbaren bildest, in eben dem Maß wirst du dich über den Staub der Fußstapfen des Herrn, welchen die Kinder der Menschen verehren, empor heben. Aber wenn du auch zu unterst an den Stuften des Tempels der Weisheit stehest, o Mensch, so höre es dennoch. 30 Für Menschen ist die Liebe der einige wahre Gottesdienst: aus ihr allein quillet der wahre Glauben der Menschen. Sie allein führet den Menschen zum Leben. Wo sie nicht ist, da ist Tod und Verderben auf Erden. Der Mensch ohne Liebe ist ohne Hoffnung, und der Elende,»'» den Neid, und Haß, und Zorn übergwältigen, den verfolget Entsezzen. Des Menschen beste Kräfte ersterben, wenn er seinen Bruder nicht liebet, und er liebt seinen Bruder nicht, wenn er Gottes nicht achtet. "
Darum erkenne o Mensch, Gottes Vergessenheit ist die Quelle des Todes, und der Entkräftung der Menschen.
Die Fortsezzung folgt.
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N. 36. Donnerstag den 5. Herbstmon. 1782.
Beschluß einer zernichteten Rede, über die Verfassung eines Schweizerischen Freystaats. Ich rede im Jubelthon von den Hoffnungen der Zukunft» 10 und von den Aussichten der Wiederherstellung der Grund sätzen der Väter; indessen schlägt in meinem Busen mein Herz mir bang, immer, immer wird mir schwerer, immer banger ums Herz, was ist das ? was ist das ? ach! wie wenn ich von Träumen erwache, und von Bildern mich trenne, denen der l. Wunsch meines Lebens oft und vergeblich nachstrebt, wie ich von diesen Träumen erwache, und matt und ermüdet hin staune ins mühselige Thal des Lebens, wo alles wünschen so eitel; wie mir dann mein Herz schlägt, und mein Aug waint, so schlägt mein Herz, so ermattet ist meine Seele! was ist 20Wahrheit im Menschenleben? was wirkt sie? warum muß ich doch warm seyn für Wahrheit, die nichts wirkt? warum mich ermüden mit Träumen ? und rauben mir immer die Ruhe und den Lebensgenuß, und den stillen lachenden Frieden des Herzens? wie oft bin ich schon von Träumen entschlummert, r» von wachenden Träumen voll schwerer ermüdender Arbeit! ach wenn denn Arbeit und Leiden dem Träumenden nichts war, und ein hohes Ziel mich stärkte, und um mich her Menschen wohlthätige Träume liebten, und oft dem Träumer entgegen lächelten, daß sein Muth wuchs, wenn ich sie hörte loben, das so Anklimmen auf steilen Bergen, loben den Muth des Retters, der ans sinkende Schiff schwimmt, und dann meine Hoffnung mich doch täuschte, wenn ich scheitern sah alle, die darauf bauten; wie war mir? wie war mirl was ist Wahrheit im Menschenleben! was wirkt sie 1 so dacht ich, und staunte sb hinab ins mühselige Thal des Lebens — oft schlug mir mein
Herz so, wie es mir izt schlägt, daß ich ermattet und kraftlos da stand! was thu ich ? was thu ich ? warum muß ich den thorächten Träumen meines Lebens noch diese Rede hinzu sezzen ? Es wird mir leichter, da ichs gestehe, das schlagen meines » Herzens ist der Gedanke; es ist unnüz und vergebens dein Thun ! aber auch das schlagen meines Herzens ist Schreken des Träumens ! Wahrheit wirket ewig gutes, aber die Menschen werfen ihr Aug in einen Winkel, und so sie nicht da vor ihren Augen aufblühet und duftet, wie die volle geöffnete Rose, so 10 glauben sie selbige völlig verlohren, jede Wahrheit ist zwar guter Saamen, aber sie gedeyet nur auf reinem Boden. — Ich erwache von Furcht und Träumen und finde Stand punkt. Ernster Freund der Wahrheit! ihren stillen Segen in dir 15 selbst zu nuzzen und zu genießen, das ist der erste Segen der Wahrheitsliebe; ob denn aber deine Wahrheit dir immer einseitig ist, und immer mit tausendfachem, oft von dir selbst herrührenden Schatten umwikelt ist, ob diese deine Wahrheit just an deiner Seiten, und just in der kleinen Stunde deines 20 nichtigen Daseyns würke, das ist nicht deine Sache. — Bereite das Feld, worauf du säen willst, wenn du Erndte hoffest. — Hast du aber Laune, auf unbereitetes Feld zu säen, so stehts dir auch frey, aber erwarte keine Erndte. Wo die Menschheit 25 vom innern Gefühl gegenseitiger Bescheidenheit, Liebe, Achtung und Dankbarkeit leer ist, da wird die Wahrheit nichts würken, da ist ödes und wüstes Feld, und aller Saamen verlohren — das ewige Rufen und Ab wägen und Ausmessen was ist Wahr heit ? was ist Gerechtigkeit ? und was die Pflicht der Oberen so und Untern ? o ihr Weisen und Guten ! wäget doch einmal ab, was alles dieses würke, und gewürkt habe? Sehet die mächtige Ausübungskraft für die schwersten Pflichten der Menschheit in der Unschuld des reinen Familien sinns, und erkennet, daß reine unbeflekte Sitten und auf- s» richtige Menschenliebe einen kraftvollen unbestochenen Sinn für jede Pflicht der Menschheit, und erhabenes Wahrheits gefühl bescheren; erkennet diesen mächtigen Sinn der Einfalt und Unschuld, die nicht abwiegt, und nicht ausmißt: aber im innern des Menschen vom Vater der Menschheit gebildet, sich , der ihn gefangen gesezt (und bestraffen will) relativ. *0 (Daraus dann folget)
Fragmentarischer Entwurf zu »Arners Gutachten«
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Ich soll billig der Gründe eines von Bergs nicht entkrefften — in der Presumtion, daß er durch Zeugen und Umstenden überwiesen sy, irrte usw. 2. wo nahe dringende (Landesgefahren und gegenwertige) so Localumstende offenbar zeigen, (dem) daß dem Land durch Schonung (des) eines Gefangenen fortwürkende und (immediat gegenwertige reale Landes) Gefahr bringende Verbrechen ihren ungehinterten Fortgang betten — und welche (der Gefangene) mann ohne die Eingestendniß des Gefangenen auf keine andere ss Art (mit Sicher) hintertreiben und verhüten konte. (Ich muß aber über die 2 Gesichtspunkte aber mich mehr erkleren und sage hierüber vor allem) (Hierüber aber muß ich vor allem aussagen — daß der Stat die) Über diesen gedoppelten Gesichts punkt ist aber zu bemerken, daß der Stat die Todesstraffen, die