Schriftkultur und Schwellenkunde [1. Aufl.] 9783839407769

Im Mittelpunkt des Bandes stehen die Fragen nach der Funktion von Schriftlichkeit als Grundlage von Literatur und Kultur

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German Pages 320 [321] Year 2015

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Inhalt
Einleitung
Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modeliierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft
Die Abwesenheit des Vaters. Schriftlichkeit als Schwellenraum
Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität
Monument/Dokument. Variationen über Literalität
Limitationsverhältnisse: Foucaults Ontologie der Literatur
Rekombination und Unterbrechung. Überlegungen zu einer Theorie theatraler Liminalität
Mathematik, Schrift und Kalkül
Sprache als Grenze und als Grenzüberschreitung
Out of Line. Die Ethik der Grenze bei Jacques Lacan (Seminar VII)
Durch die Schrift gehen: die Übersetzerszenen im Don Quijote von 1605
Literatur hart an der Grenze: Celines Poetik der Überschreitung
Zum Mord schreiben. Attentäterskripturen
Autorenverzeichnis
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Schriftkultur und Schwellenkunde [1. Aufl.]
 9783839407769

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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde

Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein I Band r

ÄCHIM GEISENHANSLÜKE, GEORG MEIN (HG . )

Schriftkultur und Schwellenkunde

[ transcript]

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Fonds National de la Recherche Luxembourg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Textagentur DRUCKREIF Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienprodulction GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942·776·9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript·verlag.de

INHALT

Einleitung 7 Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modeliierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft R OLF P ARR

11

Die Abwesenheit des Vaters. Schriftlichkeit als Schwellenraum GEORG MEIN

65 Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität ACHIM GEISENHANSLÜKE

97 Monument/Dokument. Variationen über Literalität KLAUS-MICHAEL BOGDAL

121

Limitationsverhältnisse: Foucaults Ontologie der Literatur B ERNHARD J . DOTZLER

145 Rekombination und Unterbrechung. Überlegungen zu einer Theorie theatraler Liminalität FRANZISKA SCHÖSSLER

163 Mathematik, Schrift und Kalkül ERNST KLEINERT

185 Sprache als Grenze und als Grenzüberschreitung JOSEF SIMON

211

Out of Line. Die Ethik der Grenze bei Jacques Lacan (Seminar VII) ECKART GOEBEL

225

Durch die Schrift gehen: die Übersetzerszenen im Don Quijote von 1605 MARTTNVON KOPPENFELS

245

Literatur hart an der Grenze: Celines Poetik der Überschreitung JOCHEN MECKE

263

Zum Mord schreiben. Attentäterskripturen MANFRED SCHNEIDER

291

Autorenverzeichnis 317

EINLEITUNG

Der vorliegende Band eröffnet die Schriftenreihe »Literalität und Liminalität«, in dessen Mittelpunkt die Untersuchung theoretischer und historischer Transformationen literarischer Kunstwerke von den Anfängen bis zur Gegenwart stehen. Mit den Begriffen der Literalität und der Liminalität, die es ermöglichen, ein breites Spektrum an Themenfeldern zu gruppieren, richtet sich das Interesse der Reihe auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Die Reihe »Literalität und Liminalität« versucht damit zugleich, der Komplexitätserhöhung Rechnung zu tragen, die das Gesicht der philologischen Fächer seit dem Einzug der neuen Literatur- und Medientheorien in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Der Begriff der Literalität umfasst in diesem Zusammenhang die sprachlichen und kulturellen Erscheinungsformen, die durch die Schrift in die Gesellschaft gekommen sind. Als Gegenbegriff zur Oralität meint Literalität eine literale Manuskript- und lnschtiftenkultur, die auf der Speicherung und Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierten Formen basiert. Schriftlichkeit verkörpert dabei kein äußerliches Prinzip, sie impliziert vielmehr eine grundlegende Umstrukturierung von Denkweisen und Mentalitäten. So geht Jan Assmann von einem grundlegenden Zusammenhang zwischen dem kulturellem Gedächtnis und der Schriftlichkeit aus: »das kulturelle Gedächtnis hat eine Affinität zur Schriftlichkeit.« 1 Assmann spricht in diesem Zusammenhang vom Übergang von ritueller zu textueHer Kohärenz als Übergang von Wiederholung zu Vergegenwärtigung, von Nachahmung zu Auslegung, um Veränderungen in der Geschichte zu markieren, die auf der einen Seite die Aufgabe einer Archäologie des literarischen Textes notwendig machen, auf der anderen Seite eine kritische Bestimmung der hermeneutischen Auslegungstechnik fordern. Hatte Schleiermacher die Hermeneutik als »die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992, S. 59. 7

SCHRIFTKULTUR UND SCHWELLENKUNDE

zu verstehen«, 2 definiert, so spricht er mit Rede und Schrift die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit an, ohne jedoch deren theoretische Implikationen weiter zu beachten. Eine Archäologie des Textes, so eine der Prämissen des vorliegenden Bandes, kann sich daher nicht an der Hermeneutik allein orientieren, wie es Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses noch tut. Daher rücken zugleich andere theoretische Zugänge zur Literatur in den Blick wie etwa die Foucault'sche Ontologie der Literatur (vgl. den Beitrag von Bernard Dotzler im vorliegenden Band) oder die Dekonstruktion, die Aspekte der Literalität und der Liminalität im Begriff der »dissemination« zu verschränken sucht: »Limen remarquable du texte: ce qui se lit de la dissemination.«3 Im Blick auf Mallarme entfaltet Derrida die Bewegung der dissemination als Öffnung eines liminalen Raums durch die Schrift, eines schriftlichen Schwellenraums also, der aus dem Ungleichgewicht des Verhältnisses von Form und Inhalt, von Signifikant resultiert. Wie Derrida am Beispiel Mallarmes zeigt, konstituiert sich die Literatur der Moderne zu wesentlichen Teilen in diesen schriftlichen Zwischenräumen, im dispersiven Spiel von Schrift und Schwelle. Der Begriff der Liminalität zielt vor diesem Hintergnmd auf die Bedeutung der Schwelle als eine paradoxe Ordnung des »Zwischen«. Paradox ist der Status der Liminalität, da sie sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert. Im Unterschied zum starren Begriff der Grenze geht es der Liminalität um das Widerspiel von Grenze und Überschreitung. Aus ethnologischer Perspektive ist der Begriff der Schwelle von Arnold van Gennep und Victor Turner im Blick auf Übergangsriten und Rituale thematisiert worden. In seinem Passagen-Werk entwirft Walter Benjamin die Schwelle als eine räumliche Ordnung, die sich literarisch zum Beispiel am Werk Franz Kafkas oder Marcel Prousts ablesen lässt. Die spezifische Räumlichkeit der Schwelle nimmt Michel Foucault im Begriff der »Heterotopie« als einer heterogenen Ordnung in den Blick, die sich auf besondere Weise in der Literatur verwirkliche. Gemeinsam ist den genannten Ansätzen, dass sie sich in ihren Analysen auf den Nachweis eines liminalen Raums stützen, um aus dem Begriff der Schwelle neue Erkenntnisse für die Humanwissenschaften ziehen zu können. Der Begriff der Liminalität richtet sich entsprechend auf eine Kultur des Zwischen, auf die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen, in der Fremdes und Eigenes verschmelzen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Prominente Vertreter einer liminalen Literatur im Kontext der Moderne sind 2 3

Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg u. eingeleitet v. Manfred Frank, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 71. Jacques Derrida: La dissemination, Paris: Edition du Seuil 1972, S. 22. 8

EINLEITUNG

Grenzgänger wie Franz Kafka, Robert Musil, Elias Canetti und Paul Celan. Nicht der Begriff der Grenze, sondern der der Schwelle bildet das gegenständliche Korrelat der Theorie der Liminalität, die in den letzten Jahren von Jacques Derrida und Giorgio Agamben im Rahmen einer politischen Theoriebildung entworfen worden ist, die hier in komparatistischer Perspektive um den Aspekt des Literarischen erweitert wird. Vor diesem Hintergrund liegt das Hauptanliegen des vorliegenden Bandes darin, die theoretischen Grundlagen der Begriffe Literalität und Liminalität zu erarbeiten sowie mögliche Arbeitsfelder aufzuweisen. Das Spektrum der Analysen ist daher denkbar weit gespannt. Auf der einen Seite steht die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Literalität, die Georg Mein und Klaus-Michael Bogdal vorlegen. Auf der anderen Seite geht es um den Versuch, die Grundlagen der Liminalität im Kontext unterschiedlicher theoretischer Ansätze zu erarbeiten (Rolf Parr, Eckart Goebel), um zugleich mögliche Zusammenhänge von Liminalität und Literalität aufzuweisen (Achim Geisenhanslüke, Josef Simon). Erweitert wird das Spektrum der Analysen durch den Blick auf den Zusammenhang von Mathematik und Literalität (Ernst Kleinert) sowie Theater und Liminalität (Franziska Schößler). Die Verknüpfung von Literalität und Liminalität in der Literatur der Frühen Neuzeit und der Moderne erläutern Martin von Koppenfels und Jochen Mecke. Wie aktuell diese Verknüpfungen sein können, zeigt der abschließende Beitrag von Manfred Schneider, der die Figur des Grenzgängers mit den Aufschreibesystemen der Gegenwart verbindet, wenn er den Attentäterskripturen nachgeht. Ohne die engagierte Hilfe vieler Personen hätte dieser Band nicht realisiert werden können. Die Herausgeber danken Magdalena Beljan, Oliver Kohns, Rasmus Overthun und Christian Steltz für ihre redaktionelle Unterstützung sowie Anja Schmitt und Nicolas Fiebrandt von der Textagentur DRUCKREIF für das hervorragende Lektorat der Beiträge.

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LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE. THEORETISCHE MODELLIERUNGEN VON GRENZZONEN, NORMALITÄTSSPEKTREN, SCHWELLEN, ÜBERGÄNGEN UND ZWISCHENRÄUMEN IN LITERATUR- UND KuLTURWISSENSCHAFT ROLF PARR

I. Grundmodell mit Variationen Wenn ich vor mir ein Auto mit Aufklebern sehe, sagen wir »Tennis ist toll«, »Ich bin Harry-Potter-Fan« und vielleicht auch noch »I love UniLuxemburg«, gerate ich immer ins Nachdenken darüber, ob das jetzt eine an die anderen Teilnehmer der Tennis-, Harry-Potter- und Uni-Luxemburg-Gemeinschaft adressierte Botschaft ist, also sozusagen nach innen, oder mir als Nicht-Tennisspieler, Nicht-Harry-Potter-Fan und Uni-Bietefeld-Angehörigem sagen will, dass ich eben nicht dazugehöre. Es ist wohl beides der Fall, denn Grenzziehungen jeglicher Art produzieren - so Sigrun Anselm aus philosophischer Sicht - stets »ein Innen und ein Außen, und zwar wechselweise für beide durch die Grenze getrennten Bereiche«. 1 Die Grenze »schließt einerseits ein, was zur jeweiligen Sache gehört, und sie schließt andererseits aus, was nicht dazu gehört«? Als »gedachte Iinie [ ... ] zur Scheidung von gebieten der erdoberfläche«3 - so das Grimm 'sehe

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Sigrun Anselm: »Grenzen trennen, Grenzen verbinden«, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 197-210, hier S. 197. Nm·bert Wokatt: »Differenzierungen im Begriff >GrenzeGrenzelockere«< Grenze »zweiten Grades«. Grenzen ersten Grades wären dagegen alle nur schwer passierbaren Kontrollinstanzen, Grenzen dritten Grades solche, bei denen die Kontrolle nahezu verschwindet. 6

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Schema 1: Grundmodell von Grenze Auf den ersten Blick könnte man damit die Bestimmung von Grenzen bzw. ihrer Grundelemente fur erledigt ansehen, wenn sich nicht beinahe jedes der im 20. und 21. Jahrhundert reüssierenden kultur-und literaturwissenschaftliehen Denkgebäude in irgendeiner Form mit >Liminalem< befasst und teils

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Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie, Göttingen 2001, S. 12. Ebd., S. 13.- Vgl. auch Claudio Magris: Wer steht auf der anderen Seite? Grenzbetrachtungen, Salzburg, Wien 1993, S. 6: »Die Grenze ist etwas Zwiefaches und Doppeldeutiges: bisweilen ist sie eine Brücke, um dem anderen entgegenzutreten, bisweilen eine Schranke, um ihn zurückzustoßen.« Roland Girtler: Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und »heiligen« Räumen, Münster 2006, S. 22f. (zu lockeren Grenzen zweiten Grades), S. 17ff. (zu Grenzen ersten Grades), S. 26ff. (zu Grenzen dritten Grades).- Vgl. auch die Unterscheidung von »absoluter« und »relativer GrenzeAusschlussDiskontinuitätBruchSchwelle< tu1d eben auch >Grenze< operierende Diskurstheorie Michel Foucaults 10 und Pierre Bourdieus System der feinen sozialen Unterschiede. 11 Weiter ist nach Giorgio Agambens »Homo sacer«-Projekt zu fragen, 12 das nach dem Ursprung gesellschaftlicher Ordntu1gen als Schwelle der Untu1terscheidbarkeit von außerrechtlicher und rechtlich legitimierter Gewalt fragt. Schließlich operiert auch die an Foucault anschließende Interdiskurstheorie Jürgen Links mit Liminalem, insbesondere dort, wo sie sich für synchrone Kollektivsyn1bole einer Kultur oder als Normalismusforschung für die Übergänge und Grenzen zwischen Zonen der Subnormalität, Normalität und Hypernormalität interessiert. 13 Hinzu müssten mindestens noch die auf semantische Räume bezogene Grenzüberschreitungstheorie Jurij Lotmans, 14 das für die dekons-

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Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«, in: ders. : Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1972-1999, Bd. V.l, S. 45-1063 [entstanden 1927-1940]; ders.: Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann, Bd. VII. I, S. 385-433 u. Vl1.2, S. 691-723. Amold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a.M. 1987 (E: 1909). Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M., New York 2005; ders.: »Variations on a Theme of Liminality«, in: Sally Falk Moore/Barbara G. Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, Assen 1977, S. 36-52. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981 (E: 1969). - Ders.: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt a.M. 2001, S. 320-342.- Ders.: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France - 2. Dezember 1970, Frankfurt a.M. u.a. 1977 (E: 1971 ). Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988 (E: 1979). Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002. Vgl. dazu Eva Geulen: Giorgio Agamben zur Einflihrung, Harnburg 2005, bes. S. 55ff. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarb. und neu gestaltete Aufl., Göttingen 2006. Jurij M. Lotman: Universe of Mind. A Semiotic Theory of Culture, Bloomington 1980, bes. S. 140. »Die Grenzen und Strukturen dieses Raumes sind nach Lotman durch Binarität und Asymmetrie gekennzeichnet. Wesentlich ist hier die Asymmetrie der Opposition zwischen kulturellem Zentrum und kultureller Peripherie, vom Innenraum und seiner Grenze zum Außenraum, der sich als Antiraum darstellt. [... ] Die Grenzen des Raumes der Semios13

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truktivistische Philosophie so wichtige Schwellenkonzept von Jacques Derrida,15 die Geschlechtergrenzen in Frage stellende Transgenderforschung, 16 die genderspezifische Raumforschung17 und die amerikanische BorderTheorie18 kommen sowie einige andere mehr. 19 Nicht vergessen werden

darf etwa die postkolonial-transkulturelle Kulturwissenschaft Homi Bhabhas, die »Denkfiguren wie >ZwischenräumeSpaltenSpaltungenGrenzen< sogar den »Sonderstatus einer Metapher der Metaphern« zugesprochen. 23 In diesem Sinne hat der Begriff der Grenze [... ] keineswegs nur einen Bezug auf einen geographischen Raum, vielmehr ist für ihn konstitutiv das Moment der sozialen Organisation des geographischen Raums und damit ein nur symbolisch auszudrückendes Moment. Symbolisches und Materiales sind im Begriff der Grenze verschränkt. 24 21 H. Bhabha: Die Verortung (s. Anm. 20), S. 1. - Bhabha spricht sogar vom »liminalen Charakter kultureller Identität« (ebd., S. 252f.), da Grenze ein Ort sei, »von woher etwas sein Wesen beginnt« (ebd., S. 7). 22 Homi K. Bhabha: Boundaries. Differences. Passages, vgl. www.vw-stiftung. de/service/aktuelles/article/129/grenzen-dif-l.html vom 13. Oktober 2006. 23 N. Saul/F. Möbus: Zur Einführung (s. Anm. 15), S. 10. 24 Jan Weyand/Gerd Sebald/Michael Popp: »Einleitung: Grenzen aus soziologischer Sicht«, in: Gerd Sebald/Michael Popp/Jan Weyand (Hg.): Grenz15

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Demnach scheint eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Konzepte darin zu liegen, dass die Rede von Grenzen, Schwellen und Passagen fast immer symbolischen oder metaphorischen Charakter hat. Denn ganz nach der in der barocken Emblematik praktizierten Korrelation von Pictura und Subscriptio wird eine bildliehe Vorstellung »aus der räumlichen Sphäre« so für andere Themen oder gesellschaftliche Teilbereiche verwendet, dass damit für die jeweiligen Fragestellungen ein Mehrwert an Verstehbarkeit erzielt wird. Geschieht dies, dann werden Symbole zu explikativen Anschauungsformen. Im Alltag häufig anzutreffen sind Symboliken der Grenzziehung und damit der Verräumlichtmg etwa für »menschliche Beziehungen und soziale Strukturen«: >sich nahe kommenauf Distanz gehenbis hierher, aber nicht weitereine Grenze erreichtGrenzen< und >Schwellen< schafft also, indem er als explikatives Modell-Symbol genutzt wird, stets auch »vermittelnde Bezüge«25 zwischen Themen, Theorien, Disziplinen und ihren Spezialdiskursen. In der symbolischen Rede von Grenzen liegt allerdings zugleich auch die Gefahr, dass jede Spezifik des Liminalen zu Gunstender bloßen Unterscheidung von A und B aufgegeben wird, der tenninologisierte Begriff >Grenze< also in dem eher umgangssprachlichen des >Unterschieds< aufgeht (auch in der pseudo-terminologischen Form von >DistinktionLiminalität< näher betrachtet werden, wobei es darum geht, beide entwickelten Fragerichtungen parallel zu verfolgen, die nach dem Symbolcharakter und die nach der Spezifik der einzelnen Ansätze, und zwar verbunden mit der weiteren Frage, wie es ihnen jeweils gelingt, die Symboliken von >Grenze< und >Schwelle< zu operationalisieren. Dabei sollen auch literaturwissenschaftliche Anschlüsse und Arbeitsfelder aufgezeigt werden.

Gänge - BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven, Münster 2006 (=Diskursive Produktionen, Bd. 8), S. 9-18, hier S. 10. 25 S. AnseIm: Grenzen trennen (s. Anm. I), S. 197. 16

LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE

II. Die Passagen des Schwellentheoretikers Walter Benjamin Walter Benjamin ist ein »Schwellenhüter«, bei dem Raum-, Passagen-, Schwellen- und Mythosvorstellungen auf hochkomplexe Weise ineinandergreifen. Dabei sind >Schwellen< und »Schwellenerfahrungen« - wie Winfried Menninghaus gezeigt hat- nicht nur »Thema fast aller seiner größeren Arbeiten«, sondern »auch Form und Intention seiner Werke«, indem sie nämlich »eine Schwelle« herstellen, »die es zu durchmessen, zu >passieren< gilt«?6 Das Bild der >Schwelle< und ebenso das der >PassageDrinnen< gehören, aber ebenso wenig zum >DraußenSchwellen< eine zeitliche Dimension, sie sind Erinnerungsschwellen, die zur assoziativen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, von individuellem w1d kollektiv-historischem Erinnern auf Basis von »Phänomenen der Raum- und Zeit-Überlagerung[]«29 dienen, wie man sie ebenfalls aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, vor allem aber auch aus der »Passagen-Arbeit«30 kennt. Als solche Zonen mit raum-zeitlicher Ausdehnung, in denen bzw. mittels derer zeitlich V ergangenes räumlich aktualisiert und damit Räumliches historisiert werden kann, unterscheidet Benjamin >Schwellen< 26 Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986, S. 8f. 27 Vgl. Heinz Brüggemann: »Passagen«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2000, S. 573-618. 28 W. Benjamin: Berliner Kindheit(s. Anm. 7). 29 Brigitte Marschall: Die Droge und ihr Double. Zur Theatralität anderer Bewußtseinszustände, Köln u.a. 2000, S. 182 (bes. S. 179-268: »Der Drogen-Esser und Schwellen-Hüter Walter Benjamin«). 30 W. Benjamin: Das Passagen-Werk (s. Anm. 7).- Dieneuere Benjaminforschung spricht von »Passagen-Arbeit«, um sowohl die Unabgeschlossenheit als auch die langandauernde Beschäftigung Benjamins mit diesem Text zu verdeutlichen. 17

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strikt von >Grenzen ohne eigentliche AusdehnungInnen< und >AußenDraußenSchwelle< selbst platziert; »Kaiserpanorama«35 und »Siegessäule«36 fungieren als Passagen in die Welt, die Fremde; das »Telefon«37 ist Schwelle, die das >Innen< der Wohnung und das >Draußen< der Welt miteinander verbindet, denn über das Telefon kann das >Draußen< eindringen und das >Innere< nach Draußen gelangen, die W ahnungsgrenze kann also in beide Richtungen überschritten werden. Im Falle von »Tiergarten«38 fungieren Brücken als Schwellen des Ein- und auch des Wiederaustritts in diese andere Welt; das temporale »Zu spät gekommen« 39 wird zur räumlichen Schwelle zwischen >im Klassenraum< sein oder noch >davor stehen< ohne noch

31 Ebd., Bd. V/2, S. 1025. 32 B. Marschall: Die Droge (s. Anm. 29), S. 216. 33 Anja Lemke: »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, in: Burkhardt Lindner (Hg.), unter Mitarb. von Thomas Küpper und Timo Skrandies: Benjamin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart, Weimar 2006, S. 653-663, hier S. 660. 34 W. Benjamin: Berliner Kindheit (s. Anm. 7), S. 386-388. 35 Ebd., S. 388f. 36 Ebd., S. 389f. 37 Ebd., S. 390f. 38 Ebd., S. 393-395. 39 Ebd., S. 395f. 18

LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE

problemlos eintreten zu können; das Lesen der »Knabenbücher«40 ist wiederum Passage in eine andere Welt, das >Erwachen< aus dem selbstvergessenen Lesen Rückkehr ins reale Leben; in Zwei Rätselbilder41 bildet das »Flußband vieler Jahre« die temporale Schwelle zum Eintritt in das Erwachsenenalter, gleichzeitig werden Kindheit und Erwachsensein als zwei gegenüberliegende »Ufer« räumlich symbolisiert. Auch die »Markthalle«42 ist zugleich räumlicher wie temporaler Zwischenort und damit ein weiteres Mal Schwellepar excellence, denn sie wird gleichzeitig zur Zone der Suspendierung bürgerlicher Normen, während die »Vorhalle« ihrerseits die Eintrittsschwelle in die Schwellensituation >Markthalle< bildet; im Abschnitt »Das Fieber« 43 schließlich wird die Schwelle zwischen krank und gesund sein in der Zimmertür verräumlicht Die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Drittens stehen Schwellen auch für »Schwellenzustände des Bewußtseins«,44 einschließlich solcher der Überschreitung. So hat Brigitte Marschall eindrucksvoll gezeigt, dass Benjamins Schreiben mit seinen Drogenexperimenten konvergiert, die man »geradezu als >Passagentheater der Drogen«< und »als mögliche Form von Theatralität« verstehen kann.45 Die Parallelen zwischen Rauscherfahrungen und Rauschnotizen auf der einen, Benjamins Werk auf der anderen Seite, also zwischen »>rites de drogues< und >rites de passage«

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Ergebnis: Communi1>Unbestimmten, nicht-codierten, offenen«56 Zwischenbereich, in dem »neue Erfahrungen und Sinngebungen entstehen können«, 57 bezeichnet Turner als »Liminalität«. 58 Die Liminalitätsphase ist dabei hochgradig ambivalent. Gegenüber der vorherigen Struktur stellt sie als AbGrenzung eine vergleichsweise rigide und zudem irreversible Grenzziehungolme Umkehnnöglichkeit dar. Gegenüber der neuen Struktur bildet sie eine zu dieser hin durchlässige, ja geradezu auf sie hinauslaufende Zone des Übergangs, ist Schwelle, Zwischenraum, Passage beim Durchlaufen eines Ritus, an dessen Anfang die »Aufhebung früherer Statusdifferenzierung« und an dessen Ende die »Bildung einer Gemeinschaft aus anscheinend Gleichen« durch Teilhabe an einer neuen Struktur steht. Daher sind für Turner in der Zwischenphase sowohl >Liminalität< als

55 David J. Krieger/Andrea Belliger: » Einführung«, in: dies. (Hg.): Ritualtheorien. Ein einfUhrendes Handbuch, Opladen 1998, S. 7-33, hier S. 13. 56 Ebd., S. 25. 57 Ebd.- Vgl. auch Theodore W. Jennings Jr.: »Rituelles Wissen«, in: D. J. Krieger/A. Belliger: Ritualtheorien (s. Anm. 55), S. 157-172, hier S. 160: »Der schöpferische Modus rituellen Wissens ist im rituellen Prozess durch dieses liminale und Übergangsmoment festgeschrieben. « 58 V. Turner: Das Ritual (s. Anm. 9), S. 95. 21

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auch >Communitas< zu konstatieren. 59 Deutlich wird damit, dass erst die Ungleichzeitigkeit der Auflösung alter und der Konstitution neuer Grenzen Zwischenräume ermöglicht. 60 Weiter hebt Turner mit dem Begriff des Liminalen auch auf die »paradoxen, teilweise absurden und spielerischen Anteile von Ritualen«61 in der Zwischenphase ab. Gerade sie sind es, die für Turner den Unterschied zu den (Rest-)Ritualen moderner Gesellschaften ausmachen, die durch >»Deliminalisierung< und [... ] den Verlust des spielerischen Moments charakterisiert« sind, da sie Liminalität wieder institutionalisiert haben. Daher unterscheidet Turner in den 1980er Jahren »zwischen dem >Liminalen< und dem >Liminoiden«Desintegration< und dem Auseinanderfallen verschiedener Elemente des liminalen Zustandes«;62 in hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften vor allem der Trennung von Arbeit und Spiel. Damit gerät Turner an eine Grenze der Operationalität seines Modells, denn Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung ließen sich besser mit Michel Foucault (Stichwort >Spezialdiskursegesellschaftliche Subsysteme» Whats the difference?< Robert Müllers Tropen (1915)«, in: N. Saul/D. Steuer!F. Möbus/B. Illner: Schwellen (s. Anm. 15), S. 62-76, hier S. 62. - Vgl. als ein Beispiel unter vielen, die angeflihrt werden könnten, Hans Peter Duerrs 1978 erstveröffentlichte Analyse Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation (Frankfurt a.M. 1985), in der er auf die subtile Grenze hinweist, den »Zaun«, den menschliche Zivilisationen »zwischen sich selber und der Wildnis auf verschiedene Weise errichtet haben« (S. 201), um letztere zu entfremden. 64 Vgl. dazu auch Monika Wagner-Willi: »Liminalität und soziales Drama. Die Ritualtheorie von Victor Turner«, in: Christoph Wulf!Michael Göhlich!Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim, München 2001, S. 227-251. 65 Vgl. auch die Beiträge in Erika Fischer-Lichte/Christian Hom/Sandra Umanthum/Mathias Warstat (Hg.): Ritualität und Grenze, Tübingen, Basel 2003 (= Theatralität, Bd. 5). 66 Darstellung des Teilprojekts B2 (Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung) des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«, vgl. www.sfb626.de/pages/teilprojekt_B2.htm vom 20. September 2006.

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Demnach ist Grenze ein vor allem »performativ erzeugter Zwischenraum«.67 In allen diesen Fällen der Rezeption geht es um eine vergleichende Rückkopplung der Turner'schen Überlegungen an andere kulturwissenschaftliche Theoriebildungen, für die eine gewisse Analogie in den Problemlagen angenommen wird. Symboltheoretisch formuliert: Unter der gemeinsamen Pictura von >GrenzenAufhebung< und der erneuten >FestigungÜbergängen< und >Schwellen< können verschiedene Forschungsfelder mit ihren je spezifischen Fragestellungen subsumiert werden. Wichtiges gemeinsames Element von Turner und der an ihn anknüpfenden Konzepte ist dabei der prozessuale, performative Charakter seines Liminalitätsmodells. Die Literaturwissenschaften dagegen haben das Liminalitätskonzept Turners erst in jüngster Zeit für sich entdeckt, sodass es noch keine expliziten Adaptionen gibt.

IV. Gerard Genette: •Membranen< der Rezeptionssteuerung Eine strukturell dem Turner'schen Modell ähnliche, aber direkt literaturwissenschaftlich relevante Form von Liminalität thematisiert Gerard Genettes Paratextekonzept, das den eigentlichen Text von seinem Beiwerk unterscheidet und damit eine Grenze etabliert, die Genette aber insofern gleich wieder durchlässig macht (Schema 3: G. Genette: Paratexte), als er die Paratexte als Schwellen bzw. Eingangs-Membranen der Rezeptionssteuerung versteht (daher der französische Originaltitel Seuils): Der Paratext ist also jedes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle [ ... ], um eine mnbestimmte Zone< zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist[ .. .].'R

»Para«, darauf hat J. Hillis Miller hingewiesen, ist eine antithetische Vorsilbe, die gleichzeitig Nähe und Entfernung, Ähnlichkeit und Unterschied, Innerlichkeit und Äußerlichkeit bezeichnet [ ... ], etwas,

67 Klaus-Peter Köpping!Ursula Rao: »Zwischenräume«, in: E. Fischer-Lichte u.a.: Ritualität (s. Anm. 65), S. 235-250, hier S. 247. 68 Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. u.a. 1989 (E: 1987), S. 10. 24

LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE

das zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Rands liegt, den gleichen Status besitzt und dennoch sekundär ist, subsidiär und untergeordnet wie ein Gast seinem Gastgeber oder ein Sklave seinem Herrn. 69

Miller folgert daraus, dass »Para-artiges [... ] nicht nur gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze zwischen innen und außen« stehe, sondern »auch die Grenze als solche« bilde. »Es ist auch die Grenze als solche, der Schirm, der als durchlässige Membran zwischen innen und außen fungiert. Es bewirkt ihre Verschmelzung, läßt das Äußere eindringen und das Innere hinaus, es teilt und vereint sie.« 70 Auch hier ist es wieder die Gleichzeitigkeit von Grenzziehung und ihrer Aufhebung (zwischen >eigentlichem Text< und >Paratexteneigentlichen Texte< (>WerkeMembranen< Ähnliche Überlegungen wie von Miller und Genette finden sich auch schon im Eingangskapitel von Michel Foucaults 1963 publiziertem Raymond Roussel-Buch,71 dessen erstes Kapitel mit »Die Schwelle und der Schlüssel« überschrieben ist. Darin spricht er Roussels kurz vor seinem Tod geschriebenem Rückblick auf die generativen Regeln des eigenen

69 J. Hillis Miller: »The Critic as Host«, in: Harold Bloom u.a.: Deconstruction and Criticism. London, Henley 1979, S. 21 7-253, hier S. 219 (zit. in deutscher Übersetzung nach Genette: Paratexte [s. Anm. 68], S. 9). 70 Miller: The Critic as Host, S. 219 (zit. in deutscher Übersetzung nach Genette: Paratexte [s. Anm. 68], S. 9). 71 Michel Foucault: Raymond Roussel, Frankfurt a.M. 1989 (E: 1963).

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Schreibens 72 ebenfalls den Status eines rezeptionssteuernden Paratextes zu. Roussels Rückblick stelle »die unabweisbare und zweideutige Schwelle« dar, »die in das Werk einfuhrt«, sei aber zugleich auch »Teil des Werkes«, womit F oucault den auch bei Miller herausgestellten Aspekt des >Zugleich-dies-und-jenseits-der-Grenze-Stehens< betont, im Falle des Roussel'schen Kommentars also im und zugleich vor dem Werk platziert zu sein. Allerdings hat man es im Falle Roussels, so Foucaults dann weit über Genettes Konzeption des Paratextuellen hinausgehende These, nicht mit einem linearen und damit endlichen Prozess der Rezeptionssteuerung zu tun, sondern einem »Schlüssel« zum Werk, der insofern gar keiner ist, als er »uns für die Lektüre ein unruhiges Bewußtsein« vorschreibt, entstanden dadurch, dass Roussel seine Leser zur »Kenntnis eines Geheimnisses« zwingt, das sie in ihren eigenen Lektüren >>nicht wiedererkennen«, was wiederum »zu dem Gefühl« führe »in einem schwebenden, anonymen Geheimnis befangen zu sein, das zugleich gegeben und entzogen« ise3 »Was wir von« Roussels »Sprache vernehmen können, spricht zu uns von einer Schwelle aus, bei der sich Zugang und Abwehr nicht trennen lassen«. 74 Die Symboliken, die Foucault über die der >Schwelle< hinaus verwendet, um diese Ambivalenzen zu verdeutlichen (>ZugangAbwehrGängetiefere GängeUnförmliche SymbolikVor dem GesetzVor dem GesetzGrenzen bzw. Schwellen für die Rezeption errichten, sie aber zugleich unterlaufenGrenzen öffnen, Schwellen beseitigen, sie aber unter der Hand zugleich wieder etablierenGrenze< tmd >Schwelle< die Leitbegriffe Turners, so bildet der Begriff des >Unterschieds< -wie Christian Papilloud gezeigt hat- die erkenntnistheoretische Basis der Soziologie Pierre Bourdieus, die sich für die sozialen Konstruktionen von Gesellschaft sowohl »auf der Ebene der Individualität (des sozialen Akteurs)« als auch »auf der Ebene der Gesellschaft (des sozialen Raums)« 78 interessiert. In Die .feinen Unterschiede etwa hat Bourdieu auf Basis empirischer Untersuchungen gezeigt, wie aus den »Wechselbeziehungen«79 von ökonomisch-sozialen Bedingungen und je verschiedenen kollektiven Lebensstilen, also spezifischen »sozialen Gebrauchsweisen von Kunst und Kultur«, 80 vielfältig differenzierte und sich zudem ständig entwickelnde und verschiebende Formen von »kulturellem Kapital« 81 entstehen. Demnach erstellen die »klassenoder fraktionsspezifischen Präferenzen« von Bildung, Kunst, Film, Sport, Kleidung usw. innerhalb des gesellschaftlichen Feldes >>Unterschiedliche und in sich kohärente Systeme«,82 die Bourdieu in Form zweidimensionaler Matrices kulturell-ökonomischer Positionen dargestellt83 und damit zugleich die mit ihnen einhergehenden sozialen Grenzziehungen bzw. »Distinktionsgewinne«84 verdeutlicht hat. Bourdieus Theorie des ökonomisch-kulturellen (und dann auch des sozialen und symbolischen) Kapitals ist damit auch eine Theorie sozialer Selbstab- und Fremdausgrenzungen zwischen den Polen von Identität und Differenz,85 eine Theorie, die u.a. zeigen kann, wie aus »objektiven Grenzen« ein verinnerlichter »Sinn für Grenzen« wird: Aus der »durch 78 Christian Papilloud: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Mit einem Nachwort von Lolc Wacquant, Bielefeld 2003, S. 29 (vgl. auch S. 8). 79 P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede (s. Anm. 11 ), S. 12. 80 Ebd., S. 11. 81 Ebd., S. 20, Fußnote 3. 82 Ebd., S. 13. 83 Vgl. ebd., z.B. S. 212f. 84 Ebd., S. 20, Fußnote 3. 85 Das zeigen unter anderem die vielen unter dem Lemma >Grenzen< im Register angegebenen Stellen (vgl. ebd., S. 890). 27

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Erfahrung der objektiven Grenzen erworbene[n] Fähigkeit zur praktischen Vorwegnahme« von »Grenzen wird der sense of one 's place, der ausschließen läßt (Objekte, Menschen, Orte etc.), was einen selbst ausschließt«. 86 Dabei bedarf es zur Grenzziehung- wie Bourdieu in Die feinen Unterschiede betont hat - keiner bewussten, intentionalen Absetzung, denn selbst ein positiver Bezug auf etwa kleinbürgerliche Werte sei zugleich Abgrenzung von ihrem Gegenteil. 87 Der einzelne Akteur wird so zur »Personalisierung des Unterschieds« 88 und entwickelt einen seiner Position im jeweiligen Feld entsprechenden Habitus, der den Unterschied zur Unterscheidung werden lässt. 89 Grenzziehungen innerhalb des gesellschaftlichen Feldes sind bei Bourdieu also an die je spezifische Verfügbarkeit von ökonomischem, kulturellem (einverleibt als Wissen, vergegenständlicht in Büchern oder anderen Speichermedien, institutionalisiert in Form von Bildungstiteln), sozialem (zur Verfügung stehende Handlungsressourcen) und symbolischem (Reputation, Autorität, Anerkennung, Ehre) Kapital gelmüpft. Relevant für die Literaturwissenschaften ist Bourdieus Ansatz vor allem durch seine »Theorie des literarischen Feldes«90 geworden. Demnach ist beispielsweise Autorschaft eine im literarischen Feld aufzubauende Position, bei der »die herkunftsbedingte Einstellung eines Schriftstellers, die Einheit seiner Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (Habitus), auf eine bestimmte Situation im Gefüge der Literatur trifft«. 91 Das >literarische Feld< ist dabei in Differenz zu den herkömmlichen literatursoziologischen Begriffen >literarischer Markt< und >literarisches Leben< als ein soziologisch konstruierter Raum zu verste86 Ebd., S. 734. 87 So weist Bourdieu darauf hin, dass »jedes Bekenntnis des Kleinbürgers zu Rigorismus, sein Loblied auf Sauberkeit, Mäßigung und Sorgfalt einen stillschweigenden Bezug aufs Unsaubere, auf Maßlosigkeit und Sorglosigkeit« beinhalte, der allein schon grenzziehend wirkt (P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede [s. Anm. 11], S. 382). 88 C. Papilloud: Bourdieu lesen (s. Anm. 78), S. 33. 89 Vgl. ebd., S. 40. -Daher kann Bourdieu einen Habitus auch »ein System von Grenzen« nennen (Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zur Politik und Kultur 1, Harnburg 1992, S. 33). 90 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999 (E: 1992). - Vgl. dazu Josef Jurth: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995. 91 Markus Joch/Norbert Christian Wolf: »Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung«, in: dies. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der Iiteraturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 1-224, hier S. I.

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hen, innerhalb dessen die gesellschaftlichen Positionen der Autoren sowie die grenzbildenden Distinktionen zwischen ihnen als eine Art >Abgrenzungskampf von und zugleich um Positionen< analysiert werden können. Das geschieht stets auch im Kontext der Distribuenten, Konsumenten und Verbreitungsmedien von Literatur und zugleich mit Blick auf Felder der Macht (z.B. politische), literarische Schulen und Autorengruppen sowie literarische Gattungen. So konzipiert, bildet ein literarisches Feld im Sinne Bourdieus immer einen synchronen Schnitt, der für einen bestimmten Zeitpunkt oder eine bestimmte, aber eingeschränkte Zeitspanne gültig ist. Daher scheint das Modell etwas besser zur Beschreibung synchroner Abgrenzungen (einschließlich zugehöriger Habitusformen von Autoren) geeignet zu sein als zur Darstellung längerfristig zu beobachtender Verläufe von Positionierungen ganzer >Kohorten< von Schriftstellern. Die »gesellschaftliche Laufbahn« einzelner Autoren wird dementsprechend nachvollziehbar als »Serie nacheinander von demselben Akteur oder derselben Gruppe von Akteuren in verschiedenen Räumen nacheinander bezogenen Positionen«,92 wiederum in Abgrenzung zu anderen. Spricht Bourdieu von >Unterschieden< oder auch >Grenzen< (zwischen einzelnen sozialen Akteuren, gesellschaftlichen Unterfeldern oder Sub-Räumen), dann meint er damit also Linien sozialer Distinktion ohne eigene Ausdehnung, was ihn in Opposition zur ethnologischen Ritualforschung und ihrer Favorisierung prozessual zu durchlaufender Übergangszonen bringt. An die Stelle der Übergangsriten bei Turner und van Gennep treten bei Bourdieu daher Riten der Einsetzung in soziale Positionen, für die das Entscheidende nicht die prozessual-temporale Gliederung in Ausgangsposition, Übergangsphase und Endposition ist, sondern die Unterscheidung zwischen denen, die am Ritual teilnehmen, und denen, die ausgeschlossen bleiben. Entsprechend deutlich fällt Bourdieus Kritik an der ethnologischen Ritualforschung aus: Amold van Gennep hat mit dem Begriff der Übergangsriten ein soziales Phänomen von großer Bedeutung benannt, auch beschrieben; viel mehr als das hat er aber, glaube ich, nicht getan, genauso wenig wie Victor Turner und andere, die seine Theorie aufgegriffen und die Phasen des Rituals ausführlicher und systematischer beschrieben haben. In Wirklichkeit, scheint mir, müssten - will man über diesen Stand hinauskommen- Fragen an die Theorie der Übergangsriten gestellt werden, die sie selber nicht stellt, insbesondere Fragen zur sozialen Funktion des Rituals und der sozialen Bedeutung der Linie oder Grenze, die das Ritual zu überschreiten beziehungsweise zu übertreten gestattet. In der Tat ist zu fragen, ob diese Theorie nicht mit ihrer Betonung des zeitlichen Über-

92 P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (s. Anm. 90), S. 409. 29

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gangs - z.B. von der Kindheit in das Erwachsenenalter - einen ganz wesentlichen Effekt des Ritus verdeckt: die Trennung derer, die ihn durchlaufen haben, nicht etwa von denen, die ihn noch nicht durchlaufen haben, sondern von denen, die ihn unter gar keinen Umständen durchlaufen werden, also die Installierung oder Setzung einer dauerhaften Unterscheidung zwischen denen, die von diesem Ritus betroffen, und denen, die nicht von ihm betroffen sind. Deshalb würde ich auch statt »Übergangsriten« lieber »Sanktionierungsriten« oder »Legitimierungsriten« sagen, Einsetzungsriten im Sinne einer Handlung wie etwa der »Einsetzung eines Erben«. 93 Als ein Beispiel führt Bourdieu den Unterschied zwischen dem Letzten, der die Aufnahmeprüfung in eine der französischen Eliteschulen noch gerade besteht, und dem Ersten, der sie nicht besteht, an. Eigentlich hat man es mit einem fein abgestuften Kontinuum der Kandidatenleistungen zu tun, das aber durch willkürlich gezogene punktuelle Grenzen ohne Übergangszonen unterbrochen wird. Denn immer »gelingt es der sozialen Magie, aus dem Kontinuierlichen etwas Diskontinuierliches zu machen«,94 also »eine willkürliche Grenze [ ... ] als legitim und natürlich«95 darzustellen, da der Begriff Ritus »die Aufmerksamkeit des Beobachters auf das Überschreiten« lenkt, »während doch das eigentlich Wichtige die Linie ist«, 96 die die zum Ritual Zugelassenen von allen anderen trennt.

VI. Grenzen der Sagbarkeit bei Michel Foucault Um einen anderen Blick auf durchaus ähnliche Ausschließungen geht es auch in den Diskursanalysen Michel Foucaults. Denn indem Diskurse Grenzen der Sagbarkeit herstellen und so Wissenszugänge regulieren bzw. kanalisieren, stellen sie stets Formen der Grenzziehung dar. Diskurse sind demnach Produktionsinstrumente, mit denen auf geregelte Weise soziale Gegenstände wie >WahnsinnSexualität< oder >Normalität< und die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert werden. Das geschieht durch Regelungen dessen, was gesagt werden kann und was unbedingt gesagt werden muss (das sind Grenzziehungen in Form des Einschließens nach innen), aber auch dessen, was nicht gesagt werden darf

93 Pierre Bourdieu: »Einsetzungsriten«, in: ders.: Was heißt sprechen? Zur

Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien 2005, S. 111-119, hier S. 111. 94 Ebd., S. 113. 95 Ebd., S. 111. 96 Ebd., S. 112.

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(was ausschließenden Grenzziehungen entspricht). Foucault und die an ihn anschließenden Theorien nehmen damit die Materialität von Diskursen sowie die Macht- und Subjekteffekte von historisch je spezifischen Aussageformationen ernst. 97 So zeichnet Wahnsinn und Gesellschaft beispielsweise den Prozess der Grenzziehung zwischen >normal (Vernunft)< und >pathologisch (Wahnsinn)< für das 16. bis 18. Jahrhundert nach, wobei Foucault zeigen kann, dass beide als diskursive Gegenstände allererst durch die zwischen ihnen etablierte Grenze als Produkt von historisch abgrenzbaren Diskurs- bzw. Wissensformationen entstehen.98 Eine >Theorie der Grenzziehtmgen< hat Foucault implizit mit Die Ordnung des Diskurses vorgelegt, seiner Inauguralvorlesung am College de France von Dezember 1970: Diskurse sind demnach durch drei »große Ausschließungssysteme« 99 - oder eben auch Grenzziehungen - bestimmt: erstens Ausschließung und Verbot, zweitens Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn und drittens Grenzziehung zwischen Wahrem und Falschem- zu verstehen als Frage nach den veränderlichen, sich ständig verschiebenden Grenzen, die unseren »Willen zur Wahrheit« bestimmen. 10° Foucault macht das am Vergleich der griechischen Dichter des 6. mit denen des 5. Jahrhunderts deutlich. War bei ersteren der wahre Diskurs noch jener, der von den dazu Befugten nach vorgeschriebenem Ritual verlautbart worden war, so lag bei letzteren »die höchste Wahrheit nicht mehr in dem, was der Diskurs war, oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte«, womit sich »die Wahrheit vom ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage« weg und hin »Zur Aussage selbst« verschoben hatte, »zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug«. 10 1 Handelt es sich bei den beiden ersten

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Vgl. dazu Jürgen Link/Ursula Link-Heer: »Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse«, in: LiLi. Zeitschrift flir Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), H. 77, S. 88-99; sowie Ute Gerhard/Jürgen Link/RolfParr: »Diskurstheorien und Diskurs« und »lnterdiskurs, reintegrierender«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, 3., erw. u. verb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 117-120 und S. 293f. 98 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1973 (E: 1961). Vgl. auch ders.: Die Ordnung des Diskurses (s. Anm. 10), S. 8: »Es gibt in unserer Gesellschaft noch ein anderes Prinzip der Ausschließung: kein Verbot, sondern eine Grenzziehung und eine Verwerfung. Ich denke an die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn.« 99 M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (s. Anm. 10), S. 14. 100 Ebd., S. 11. 101 Ebd., S. llf. 31

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Grenzziehungen um solche der Form >entweder/oderDeich Flut< sowie nahezu alle >Körper-Konstrukt-< und >VehikelWIR< einer Nation, gleichermaßen nach >innen< und >außen< durch Abgrenzung von anderen zu konstituieren. Das geschieht durch eine ganze Reihe von konzentrisch gestaffelten Grenzen, die nach außen hin immer stärkeren Ausschlusscharakter bekommen (Schema 4: Grenzziehungen im Kollektivsymbolsystem 116), also teils relative Schwellen, teils absolute Grenzen darstellen: solche der Störung, des Extremismus, des Fanatismus, der Gewalt, des Terrors im Falle der Bundesrepublik und ihres mediopolitischen lnterdiskurses.

Schema 4: Grenzziehungen im Kollektivsymbolsystem Claudia Benthien und Irmela Klüger-Fürhoffhaben im Vorwort zu ihrem Sammelband über Limitation und Transgression in Literatur und Asthetik moniert, dass »die Begrifflichkeit von Grenzen sich nur an der Metaphorik des Raumes orientiert« habe, darüber aber »Vorstellungen des

116 Vgl. Andreas Disselnkötter/Rolf Parr: »Kollektivsymbolsystem - Didaktisch aufbereitet«, in: kultuRRevolution. zeitschrift fiir augewandte diskurstheorie 30 (Oktober 1994), S. 52-65, hier S. 56. Die Forschungsliteratur zur Interdiskurstheorie und Kollektivsymbolik ist verzeichnet in: RolfParr/Matthias Thiele: Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten >lnterdiskursKollektivsymbolik< und >Normalismus< sowie einigen weiteren Fluchtlinien, Heidelberg 2005. 35

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Körpers« und seiner Grenzen vernachlässigt hätte. 117 Aus Sicht der Kollektivsymbolforschung relativiert sich dieser Vorwurf, wenn man sich klar macht, dass die für eine Kultur relevanten Symbole durch zwei relativ einfache Mechanismen aufeinander bezogen sind: unter einer Bildlichkeit (Pictura) können zum einen verschiedene Bedeutungen (Subscriptiones) subsumiert werden und umgekehrt kann die Bildlichkeit bei Beibehaltung des eigentlich Gemeinten durchaus gewechselt werden. Die kollektivsymbolische Subjektivität einer Nation und mit ihr verschiedene Grenzziehungen nach außen können beispielsweise ebenso durch >RaumKörperDeich/FlutGrenzen< impliziert, als sie in unterschiedlichen Kulturen durchaus differieren 119 und zudem mit verschiedenen Grenz-Vorstellungen operieren. Das ließ sich bis 1989 für die durchaus verschiedenen Mediendiskurse in Ost- und Westdeutschland ebenso beobachten 120 wie bis heute für die Unterschiede zwischen dem bundesdeutschen, mit mehrfach ineinander gestaffelten Grenzziehungen operierenden, und dem amerikanischen, auf Exploration und Hinausschieben von Grenzen abzielenden Kollektivsymbolsystem. 121 Basis ist im Fall der 117

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Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart, Weimar 1999 (= M&P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), S. 7-16, hier S. 8. Lucien Febvre hat ausführlich die Entwicklung der historischen Semantik von >frontiere< und verwandten Bezeichnungen dargestellt (»Frontiere< Wort und Bedeutung«, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, S. 27-37, hier S. 32) und dabei betont, man müsse nicht »von der Grenze, derfrontiere selbst[ ... ] ausgehen, um sie zu erforschen, sondern vom Staat«, eine These, die mit der kollektivsymbolischen Konstitution der Grenzen von Subjekt-Entitäten, wie sie auch Staaten darstellen, unterstützt werden kann. Darin ist der Ansatz mit der Grenzüberschreitungstheorie Jurij M. Lotmans kompatibel (s. Anm. 14). Vgl. dazu Wilfried Komgiebel/Jürgen Linie »Von einstürzenden Mauem, europäischen Zügen und deutschen Autos. Die Wiedervereinigung in Bildern und Sprachbildern der Medien«, in: Rainer Bohn/Knut Hickethier/Eggo Müller (Hg.): Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien, Berlin 1992, S. 31-53. Jürgen Link: »Konturen medialer Kollektivsymbolik in der BRD und in den USA«, in: Peter Grzybek (Hg.): Cultural Semiotics: Facts and Facets/Fakten und Facetten der Kultursemiotik, Bochum 1991 (= Bochumer Beiträge zur Semiotik, Bd. 26), S. 95-135. 36

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USA nämlich nicht der Kreis und die Rundum-Verteidigung nach außen, sondern eine eher elliptische Form mit >homebasefamily< und einem noch dahinterliegenden >backyardfrontiernew frontiers< und >new horizons< erweitert wird, also in Richtung auf all das, was noch zu entdecken, zu besiedeln, zu erobern und zu kolonialisieren ist. Hier hat sich- grob gesagt- der Go-WestMythos der ersten amerikanischen Siedler mit seiner einseitig offenen Grenzkonzeption dem Kollektivsymbolsystem der USA eingeschrieben. Heute steht dafür eher die Raumfahrt, insbesondere das Space-Shuttle, weil es in idealer Weise eine Pictura für das Hinausgehen über die >frontier< in Richtung >new horizons< mit anschließender Rückkehr auf die >homebase< bildet. Andere Symbole, die in den USA von großer Wichtigkeit sind und sich diesem Grundschema einfügen, sind etwa Staffeln aller Art, wie man sie aus der amerikanischen Werbung kennt: keilförmige Formationen von Wasserskifahrern, Motorbooten, Autoflotten oder Flugzeugen mit einer Spitze als Avantgarde und breiter >backyardhomebase< geführt hat, für die mediopolitische amerikanische Öffentlichkeit ein kollektivsymbolisches Desaster darstellen muss. Ergänzend ist für die USA schließlich noch auf die Symbolik der Achterbahn hinzuweisen, die als Modell normalistischer Selbstregulierung fungiert: Mal ist man im Normalbereich, mal drüber, mal drunter. 122 Unter den aktuellen Bedingungen zunehmender Globalisierung in allen nur denkbaren gesellschaftlichen Teilbereichen verwischen sich jedoch auch die Grenzen der nationalen Kollektivsymbolsysteme. Auch sie werden zunehmend >fließenderNormalitätnormal-range-Modell< (Schema 5: Flexible Selbstregulierung) verdeutlichen kann. Diese Fonn des Normalismus, bei dem die Individuen sich selbst immer wieder neu in ihrem Verhalten adjustieren, sich selbst einstellen, sodass ihr Verhalten einer Kurve zwischen zwei Grenzen gleicht, nennt Linlcjlexiblen Normalismus im Gegensatz zu allen Formen von Normativität, die auf der Basis einmal festgelegter fixistischer Grenzen operieren. 123 Es geht also nicht um normative Grenzziehungen und ebenso wenig um quasi-normativ vorgetragene Forderungen zur Grenzüberschreitung, wie sie etwa die ästhetischen Programme des Surrealismus formuliert haben, sondern um orientierend-einschätzende Formen des Sich-Bewegens im Spannungsfeld >oberer< und >Unterer< Grenzzonen. Dieser flexible Normalismus ist charakteristisch fiir moderne Gesellschaften, die statt auf Punktnormen immer mehr auf Bandbreiten setzen (und innerhalb dieser Bandbreiten auf die Selbstadjustierung der Individuen).

123

J. Link: Versuch (s. Anm. 13), S. 51-59. 38

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Zone der Übererfüllung = hypernormal

Übergangsszene

Bandbreite der Normalität

Übergangszone Zone der Untererfüllung

=nicht normal

Schema 5: Flexible Selbstregulierung Zwei normalistische Verhaltensweisen lassen sich dabei unterscheiden, die jeweils auch anders mit Grenzen umgehen. Zum einen kann man sich durch Literatur und Medien in der Normalität rückversichern, denn nichts bietet solche Sicherheit und solchen Schutz, wie normal zu sein. Der Unterschied normal/nicht-normal wird besonders schnell deutlich, wenn man sich diejenigen Grenzen anschaut, an denen - so die bereits eingangs zitierte Philosophirr Sigrun Anselmgerade noch Akzeptiertes und das gerade nicht mehr Akzeptierte eng beieinander liegen. Dann nämlich wird man gewahr, daß im Anspruch der Normalität, in dem, was als normal gilt, ein kollektiver Selbstbehauptungsmodus wirksam ist, der nicht auf einer positivierbaren kollektiven Gemeinsamkeit beruht, sondern nur durch die antizipierte Gemeinsamkeit in der Negation das Gefühl hervorbringt, der anerkannten Gruppe zuzugehören.

Die Angst vor De-Normalisierung dient also - so Anselm weiter - als »Stabilisator« von Normalitätsgrenzen. 124 Da allerdings auch nichts so langweilig ist wie >normal< zu sein, kann man zum anderen die Grenzen der Normalität austesten oder versuchen, bestehende Normalitätsgrenzen weiter hinauszuschieben. Das btingt Spaß und ist aufregend, aber auch nicht ungefährlich, weil man zugleich Gefahr läuft, als nicht-normal ausgegrenzt zu werden. Wie das normal-range-Modell zeigt, lauert diese Gefahr nach zwei Seiten hin: Normalität kann über- oder untererfüllt werden, sodass wir es mit ständigen Prozessen der Neuadjustierung in zwei 124 Vgl. S. Anselm: Grenzen trennen (s. Anm. 1), S. 206. 39

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Richtungen innerhalb einer in sich gegliederten Bandbreite von Schwellenzonen zu tun haben. Diese kaum je endende Prozesshaftigkeit ständiger Neuadjustierung zwischen Normalität, Subnormalität und Hypernormalität hebt das norrnalistische Modell der Regulierung entlang von oberen und unteren Grenzen deutlich vom in eine Richtung erfolgenden, zielgerichteten Durchlauf der Stadien im Turner'schen Liminalitätsmodell ab. Für die Literatur- und auch die Medienwissenschaft relevant ist die Norrnalismusforschung, da ein nicht unerheblicher Teil der modernen Literatur ab etwa 1885, 125 viele Kinofilme wie GROUNDHOG DAY, LOLA RENNT oder KILL 8TLL 126 und beinahe durchgängig die aktuellen Fernsehformate127 von Talkshow über Wetterbericht bis Boulevardmagazin normalistisch funktionieren.

IX. Literaturwissenschaftliche Anschlüsse Um die vorgestellten Konzeptionen von Grenzen und Schwellen mit literaturwissenschaftliehen Themen und Problemstellungen zu verknüpfen, sind ganz heuristisch zwei Fragen zu stellen.

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Vgl. J. Link: Versuch (s. Anm. 13), sowie die Beiträge in Ute Gerhard/ Walter Gtünzweig/Jürgen Link/RolfParr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modemen Narrationstyps, Heidelberg 2003 (= Diskursivitäten, Bd. 6). - Rolf Parr: »Krankenthermometrie und Normalismus. Erzählte (Fieber-)Kurven von Thomas Mann bis zu Krankenhausserien im Fernsehen«, in: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politischsozialer Landschaften, Heidelberg 2001 (= Diskursivitäten, Bd. I), s. 243-261. Rolf Parr/Matthias Thiele: »Normalize it, Sam! Narrative Wiederholungsstrukturen und (de-)normalisierende >Lebensfahtten< in Film und Fernsehen«, in: U. Gerhard/W. Grünzweig/J. Link/R. Parr: (Nicht) normale Fahrten (s. Anm. 125), S. 37-64. - Rolf Parr: »At last everything allright in the jungle? Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von De-Normalisierung und unerwarteten Normalisierungen in KILL BILL«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.): Unfmished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Sielefeld 2006, S. 95-110. Rolf Parr: »Blicke auf Spielleiter - strukturfunktional, interdiskurstheoretisch, normalistisch«, in: Rolf Parr/Matthias Thiele (Hg.): Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur >Spielleiter< zwischen Exzeptionalität und Normalität«, Frankfurt a.M. 2001, S. 13-38.

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Die erste zielt in Richtung Bestandsaufnahme des theoretisch-literaturwissenschaftliehen Denkens von Grenzen: In welchen Zusammenhängen ist in den Literaturwissenschaften schon jetzt von Grenzen, Schwellen usw . die Rede, allerdings ohne dass bisher auf Turner oder andere Liminalitätskonzepte explizit Bezug genommen wird? Das Spektrum reicht hier von Lothar Pikuliks und John Francis Fetzers Untersuchungen des romantischen Grenzüberschreitungs-Topos 128 über Albrecht Koschorkes Dissertation zur »Geschichte des Horizonts« als immer wieder neu gezogener und überschrittener terrestrischer Grenzmarkiemng 129 bis hin zu der von Rüdiger Gömer entwickelten »Poetik des Transitorischen«, die sich ebenso für Grenzgänge zwischen Kunst und Wissenschaft, für Grenzen als poetisches Motiv (bei Rilke, Katka und Ernst Bloch), Übersetzungen als Formen des Übergangs sowie Schwellen als literarisches Symbol (bei Goethe, Hofmannsthai und Bachmann) interessiert.130 Weiter dienen Grenzen in der Literaturwissenschaft dazu, Epochen voneinander unterscheidbar zu machen, sowie Übergangsphänomene zwischen Epochen zu thematisieren, nach denen in literarhistorischer Hinsicht mit theoretisch-methodischem Erkenntnisinteresse gefragt wird. 131 Ähnliches gilt in gattungstheoretischer Perspektive auch für die Überschreitung der Grenze realistischer Welten in phantastischen Texten, eine Überschreitung, die »als fundamentale Grenzziehung des jeweiligen Realitätsentwurfes« zu verstehen ist, denn »das >Phantastische< 128 Lothar Pikulik: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24; John Francis Fetzer: »Prolegomena zu einer Schwellenkunde der deutschen Romantik«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1995), S. 282-300. 129 Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildem, Frankfurt a.M. 1990, bes. das Kapitel »Die Grenze der Welt«, S. 11-48. 130 Rüdiger Görner: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen 2001. 131 Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985.- Michael Titzmann: »>GrenzziehungGrenztilgungRealismus< und >Frühe ModerneRealismusUmgießen< in eine andere Terminologie hinausgeht, was sich bei Mode-Begrifflichkeiten ja gelegentlich beobachten lässt. Zweitens ist zu fragen, für welche literarischen Texte bzw. Textkorpora und mit ihnen verbundenen literaturwissenschaftliehen Problemstellungen man das Liminalitätskonzept noch fruchtbar machen könnte. Zu denken ist hier in erster Linie an alljene Texte, die thematisch von Gren138 139 140 141

Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Neuausgabe, Harnburg 2004. Christirre Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig, Weinheim 1972. A. Simonis: Grenzüberschreitungen (s. Anm. 133), S. 58. Vgl. dazu die Beiträge in Walter Ehrhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart, Weimar 2004 (= Germanistische Symposien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 26). 43

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zen und Schwellen handeln oder mit ihnen operieren. Dazu gehören vor allem Kafkas von Türhütern, Treppenhäusern, Übergangszonen, aber auch von Träumen und Situationen des Erwachens, kurz also von >Schwellen< jeglicher Art und den auf ihnen platzierten Figuren handelnde Erzählungen und Romane, 142 auf die sich schon Walter Benjamin mit seinem Schwellenbegriff vielfach bezogen hat. Dazu gehört aber auch ein Roman wie Eduard von Keyserlings Wellen, 143 der mit einem abgestuften System naturaler und zugleich sozialer Grenzziehungen zwischen Land und Meer arbeitet, wobei der dazwischen liegende Strand die liminale Übergangszone in beide Richtungen darstellt, also auch die Rückkehr in ein vorheriges Stadium ermöglicht. Weiter ist an ein Genre zu denken, das mit dem Ersten Weltkrieg in Umlauf kam und sich dann in vielfältiger Form über die gesamte Zwischenkriegszeit erstreckt: die Grenzlandliteratur, für die stellvertretend Friedrich Lienhards Roman Westmark sowie die einschlägige Untersuchung von Wolfgang Reif genannt sein sollen; 144 dann diejenige Literatur der Zwischenkriegszeit, die sich explizit an der Grenzthematik abarbeitet, allerdings ohne zugleich Grenzland-Literatur zu sein; 145 schließlich für den Zweiten Weltkrieg die Exilliteratur, insbesondere die ebenfalls ständig Grenzen thematisierende Migrantenliteratur, etwa die Flüchtlings-Trilogie Erich Maria Remar142

Vgl. dazu auch Gi11es Deleuze/Felix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. 7: »Das Schloß hat >vielerlei EingängeStillstands< auf der Schwelle entsteht. 143 Eduard von Keyserling: Wellen. Roman, München 1998 (E: Berlin 1911). - Vgl. dazu Rolf Parr: »Soziale und naturale Grenzziehungen in Eduard von Keyserlings Roman >Wellen< (1911)«, in: Nigel Harris/ Joanne Sayner (Hg.): Festschrift für Ronald Speirs, London u.a. 2008 (erscheint demnächst). 144 Friedrich Lienhard: Westmark. Roman, Stuttgart 191 8. - Vgl. zum Grenzlandroman vor allem auch Wolfgang Reif: »Kalter Zweifrontenkrieg. Der Grenzlandroman konservativer und (prä-)faschistischer Autoren der Zwischenkriegszeit«, in: R. Faber/B. Naumann: Literatur der Grenze (s. Anm. 1), S. 115-135. 145 Vgl. dazu ausführlich D. Lamping: Über Grenzen (s. Anm. 4) u.a. zu Joseph Roth, Rene Schickele, Franz Turnier, Erich Kästner und Arnolt Bronnnen. 44

LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE

ques. 146 Im Bereich der Gegenwartsliteratur wäre Paul Celans Gedichtsammlung Von Schwelle zu Schwelle 147 genauer anzuschauen, ein Titel, mit dem er glaubte, einen »gewiß nicht unwesentlichen Zug des Dichterischen«, seinen »liminaren Charakter nämlich« 148 angedeutet zu haben und - nicht zu vergessen- die Literatur zur deutsch-deutschen Grenze. 149 Ein letzter Gegenstand, bei dessen Untersuchung als Schwellenphänomen Literatur- und Sprachwissenschaft sogar eng zusammenarbeiten könnten, wäre die deutschsprachige Literatur von Gastarbeitern und Einwanderern, denn sie ist - so Christi an Begemann an einem ideellen Ort angesiedelt, an dem zwei Sphären aufeinanderstoßen, zwei Kulturen, zwei Sprachen, an einem Ort, der sich auf doppelte Weise bestimmen läßt: als Ort der Berührung oder als Ort, an dem etwas endet, ohne daß ein Anderes schon begonnen hätte. 150 Wechselt man auf die Ebene ganzer Genres, dann müssten- durch die Brille des Turner'schen Drei-Phasen-Modells betrachtet - solche dynamischen Textgattungen wie Bildungs-, Entwicklungs- und Adoleszenzroman von Interesse sein, auf die schon Norbert Wokart hingewiesen hat, da sie eine wichtige Voraussetzung haben, nämlich die »Möglichkeit, innere Grenzen zu überschreiten«, was es allererst erlaubt, »von der Entwicklung einer doch stets mit sich identisch bleibenden Einheit zu spre-

146 Erich Maria Remarque: Liebe Deinen Nächsten. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1991 (E: 1939/1941); ders.: Are de Triomphe. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1988 (E: 1945); ders.: Die Nacht von Lissabon. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1988 (E: 1961/1962). 147 Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, I. Abteilung: Lyrik und Prosa, Bd. 4: Von Schwelle zu Schwelle, hg. von Holger Gehle, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2004. 148 Brief Celans an Jürgen Rausch, Deutsche Verlagsanstalt, vom 22.2.1955, OVA-Archiv (zit.n. Axel Schmitt: >»Wahr spricht, wer Schatten sprichtVon Schwelle zu Schwelle< im Rahmen der Bonner Celan-Ausgabe«, in: Literaturkritik.de, Nr. 4 [April 2006], www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9302 vom 3. Oktober 2006). 149 Vgl. dazu bei D. Lamping: Über Grenzen (s. Anm. 4), S. 121-142, das Kapitel »Der >Unterschied»KanakenspracheGrenzeRites de Passage«Fluß< und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie«, in: ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M., New York 1989, S. 28-94.

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Wagner-Willi, Monika: »Liminalität und soziales Drama. Die Ritualtheorie von Victor Turner«, in: Christoph Wulf/Michael Göhlich!Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim, München 2001, S. 227-251.

2.3 Pierre Bourdieu: Soziologie der Unterschiede Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988 (E: 1979). Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M . 1999 (E: 1992). Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zur Politik und Kultur I, Harnburg 1992. Bourdieu, Pierre: »Einsetzungsriten«, in: ders.: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Aufl., Wien2005, S. 111-119. Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian: »Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung«, in: dies. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftliehen Praxis, Tübingen 2005, s. 1-224. Jurth, Josef: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Mit einem Nachwort von Lore Wacquant, Sielefeld 2003. 2.4 Michel Foucault: Ausschließungsprozeduren

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981 (E: 1969). Foucault, Michel: »Das Denken des Außen«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt a.M. 2001, s. 670-697. Foucault, Michel: »Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France - 2. Dezember 1970«, Frankfurt a.M. u.a. 1977 (E: 1971). Foucault, Michel : Raymond Roussel, Frankfurt a.M. 1989 (E: 1963). Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976 (E: 1975).

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Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, s. 931-942. Foucault, Michel: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt a.M. 2001 , S. 320-342. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1973 (E: 1961). Foucault, Michel: »Fragen an Michel Foucault zur Geographie«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III, 1976-1979, Frankfurt 2003, S. 38-54. Meister, Martina: »Die Sprache, die nichts sagt und die nie schweigt. Literatur als Übertretung«, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M., New York 1990, S. 260-279. Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung, Harnburg 2005.

2.5 Jacques Derrida: Schwelle Derrida, Jacques: »Living On/Border Lines«, in: Harold Bloom u.a. (Hg.): Deconstruction and Criticism, London, Henley 1979, S. 75176. Derrida, Jacques: »Tympanon«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, S. 13-27 u. S. 315-318.

2.6 Gerard Genette: Paratexte Böhnke, Alexander: Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums, Sielefeld 2007. Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. u.a. 1989 (E: 1987). Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M. 1993 (E: 1993). Kreimeier, Klaus/Stanitzek, Georg (Hg.), unter Mitarbeit von Natalie Binczek: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin 2004. Miller, J. Hillis: »The Critic as Host«, in: Harold Bloom u.a.: Deconstruction and Criticism, London, Henley 1979, S. 21 7-253. Parr, Rolf: »(L)imitiertes/Para-artiges. Zu den Cover-Versionen von Gerhard Neumaier«, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 51 (September 2006), S. 94-99. Parr, Rolf/Thiele, Matthias: »Eine >vielgestaltige Menge von Praktiken und DiskursenlnterdiskursKollektivsymbolik< und >Normalismus< sowie einigen weiteren Fluchtlinien, Heidelberg 2005. Parr, Rolf/Thiele, Matthias: »Normalize it, Sam! Narrative Wiederholungsstrukturen und (de-)normalisierende >Lebensfahrten< in Film und Fernsehen«, in: Gerhard!Grünzweig/Link/Parr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten (2003), S. 37-64. Parr, Rolf: »At last everything allright in the jungle? Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von DeNormalisierung und unerwarteten Normalisierungen in KILL BILL«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.): Unfinished Business. Quentirr Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bietefeld 2006, S. 95-110. Parr, Rolf: »Blicke auf Spielleiter - strukturfunktional, interdiskurstheoretisch, normalistisch«, in: Rolf Parr/Matthias Thiele (Hg.): Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur >Spielleiter< zwischen Exzeptionalität und Normalität, Frankfurt a.M. 2001 , S. 13-38. Parr, Rolf: »Krankenthermometrie und Normalismus. Erzählte (Fieber)Kurven von Thomas Mann bis zu Krankenhausserien im Fernsehen«, in: Ute Gerhard!Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001 (= Diskursivitäten, Bd. 1), S. 243261.

3. Einzelne Disziplinen 3.1 Architektur Benevolo, Leonardo/Albrecht, Benno/Klose, Gisela (Hg.): Grenzen. Topographie, Geschichte, Architektur, Frankfurt a.M., New York 1995.

3.2 Border-Theorie Hastings, Donnan!Wilson, Thomas M.: Borders: Frontiers of Identity, Nation and State, Oxford u.a 1999. Alvarex, Robert R.: »The Mexican-US Border: The Making of an Anthropology of Borderlands«, in: Annual review of anthropology 24 (1995), S. 448-470.

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LIMINALE UND ANDERE ÜBERGÄNGE

3.3 Ethnologie Duerr, Hans-Peter: Traumzeit Über die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, Frankfurt a.M. 1985 (E: 1978). Streck, Bernhard: »Grenzgang Ethnologie«, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg 1995, s. 185-195. 3.4 Genderforschung

Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997. Friedl, Herwig/Schröder, Nicole: Grenz-Gänge. Studien zu Gender und Raum, Tübingen, Basel 2006 (= Kultur und Erkenntnis, Bd. 32). Runte, Annette: Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst, Sielefeld 2006. Showalter, Elaine: Sexual Anarchy: Gender and Culture in the Fin de Siecle, London 1990.

3.5 Globalisierungsforschung Ahrens, Danie1a: Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne, Opladen 2001. Rademacher, Claudia/Schroer, Markus/Wiechens, Peter (Hg.): Spiel ohne Grenzen? Ambivalenzen der Globalisierung, Opladen, Wiesbaden 1999. 3.6 Literatur- und Kulturwissenschaft

Barkhaus, Annette/Fleig, Anne (Hg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München 2002. »Begegnung mit Nico Helminger. Grenzgänge«, in: Honnef-Becker/ Kühn (Hg.): Über Grenzen (2004), S. 207-218. Begemann, Christian: >»Kanakenspracheanderen< Raums. Therapeutische Funktionen der >GrenzüberschreitungMathildaNationalcharakter< als innere Grenze«, in: MeyerGosau/Emmerich (Hg.): Über Grenzen. Bd. 2, S. 61-84. Meyer-Gosau, Frauke/Emmerich, Wolfgang (Hg.): Über Grenzen. Jahrbuch ftir Literatur und Politik in Deutschland, Bd. 2, Göttingen 1995. Pfotenhauer, Helmut: »Autobiographie als Schwellenereignis. Semiotische Zwiespältigkeiten der Modeme«, in: Saul/Steuer/Möbus/Illner (Hg.): Schwellen (1999), S. 349-368. Pikulik, Lothar: »Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik«, in: Aurora 53 (1993), S. 13-24. Saul, Nicholas/Steuer, Daniel!Möbus, Frank/Illner, Birgit (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999. Reif, Wolfgang: »Kalter Zweifrontenkrieg. Der Grenzlandroman konservativer und (prä-)faschistischer Autoren der Zwischenkriegszeit«, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 115-135. Riedel, Wolfgang: >»Whats the difference?< Robert Müllers Tropen (1915)«, in: Saul/Steuer/Möbus/IIIner (Hg.): Schwellen (1999), s. 62-76. Simonis, Annette: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres, Heidelberg 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 220).

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Sombroek, Andreas: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge, Bietefeld 2005. Titzmann, Michael: »An den Grenzen des späten Realismus. C. F. Meyers Die Versuchung des Pescara. Mit einem Exkurs zum Begriff >Realismus«»Grenzziehung< vs. >GrenztilgungRealismus< und >Frühe Modeme»Unförmliche Symbolik»Vor dem GesetzVor dem Gesetz Wellen< (1911 )«,in: Nigel Harris/Joanne Sayner (Hg.): Festschrift für Ronald Speirs, London u.a. 2008 (erscheint demnächst). Remarque, Erich Maria: Are de Triomphe. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1988 (E: 1945). Remarque, Erich Maria: Die Nacht von Lissabon. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1988 (E: 1961/1962). Remarque, Erich Maria: Liebe Deinen Nächsten. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen, Köln 1991 (E: 1939/1941 ). Renner, Rolf Günter/Habekost, Engelbert (Hg.): Lexikon literaturtheoretischer Werke, Stuttgart 1995 (= Kröner Taschenausgabe, Bd. 425). Roussel, Raymond: Comment j'ai ecrit certains de mes livres, Paris 1935. Schlünder, Susanne: »Folie et deraison«, in: Renner/Habekost (Hg.): Lexikon literaturtheoretischer Werke ( 1995), S. 144-145. Timm, Uwe: Heißer Sommer, München u.a. 1974.

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DIE ABWESENHEIT DES VATERS: SCHRIFTLICHKElT ALS SCHWELLENRAUM GEORGMEIN

Da haben Sie das Malheur - :!Nein. Solch Ende !darf es !nicht geben u wird es !nicht geben. Lange zwar bin ich fortgewesen, aber vielleicht noch nicht !zu lange. Ich bin wieder !da, und Alles wird anders. -

Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.

Paulus, 2 Kor. 3

Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, das Feld der Literalitätsforschung in historischer wie in systematischer Perspektive in seinen Grundzügen zu skizzieren. Dabei kann es nicht um eine umfassende Gesamtdarstellung und kritische Würdigung aller Positionen und Teilaspekte gehen, die fraglos mehrere Bücher umfassen würde. Vielmehr soll anband der zentralen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen ein Fokus entwickelt werden, der die Materialität der Schrift, ihre mediale Dimension mithin, für sozialanthropologische Fragestellungen ebenso fruchtbar macht wie für literaturtheoretische. An dieser Stelle stehen somit weder die vielfaltigen linguistischen Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit im Vordergrund noch die historische Entwicklung von verschiedenen Schriftsystemen. Vielmehr soll gezeigt werden, in welcher Weise Literalität mit dem Begriff der Liminalität 1 korreliert ist - in welchen Kontexten es also Sinn ergibt, Schrift als Schwellenraum zu fassen. Den begriffsgeschichtlichen wie theoretischen Horizont des Liminalitätsbegriffs lotet insbesondere der erste Beitrag dieses Bandes aus: Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modeliierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kultnrwissenschaft«. 65

GEORG MEIN

Die Reflexion auf die Funktion von Schriftlichkeit nimmt- wie so vieles in der abendländischen Kulturgeschichte - ihren Ausgang bei den Griechen. Gemeinhin wird Platons Dialog Phaidros als der erste Text angesehen, der sich ganz konkret mit den sozialen lmplikationen einer fortschreitenden Literalisiemng auseinandersetzt Und sicher ist es kein Zufall, dass Platon seine Schriftkritik erst im Anschluss an den berühmten Beweis der Unsterblichkeit der Seele platziert. Dieser Beweis gründet bekanntlich darin, dass das stets Bewegte unsterblich ist und somit die Seele, da sie das Prinzip der Bewegung in sich trägt und sich als bewegendes Prinzip nie selbst verlassen kann, unsterblich sein muss. Implizit läuft die platonische Schriftkritik somit auf eine Analogie zwischen der sich selbst bewegenden Seele und der bewegten und bewegenden Rede hinaus, welcher der unbewegte und tote Buchstabe entgegengestellt wird. Wenn überhaupt irgendwo, so manifestiert sich die unsterbliche Seele also in der Stimme, welche die lebendige Rede vorträgt. »Jedenfalls ist die Stimme dem Signifikat am nächsten«, stellt Derrida in der Grammatologie fest und er fährt fort: »Jeder Signifikant, zumal der geschriebene, wäre bloßes Derivat, verglichen mit der von der Seele[ ... ] untrennbaren Stimme.«2 Im Phaidros wird somit erstmalig genau die Argumentationslinie erkennbar, die Derrida, wenn auch mit Bezug auf Aristoteles, als Phonozentrismus gebrandmarkt hat: die Idee einer »absolute[n] Nähe der Stimme zum Sein«. 3 Demgegenüber scheint die im Phaidros explizit ausgeführte Schriftkritik fast sekundär. Im Rekurs auf einen ägyptischen Mythos erzählt Sokrates, wie der Gott Theut, der Erfinder der Schrift, mit dem König Thamus über die Vor- und Nachteile der Buchstabenkunst diskutiert. Thamus bringt in diesem Gespräch seine Kritik an der Schrift folgendermaßen auf den Punkt: Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnung. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich

2 3

Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 2000, S. 25 . Ebd.

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einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen.4 Es fällt auf, wie zielsicher hier das entscheidende kulturelle Moment einer durchgehenden Literalisierung erfasst wird, nämlich die Archivierung von Wissensbeständen. Mit der Schrift wird das Wissen seiner interaktiv-personalen Gestalt entkleidet, es wird äußerlich und tritt in eine entscheidende Distanz zum Wissenden. Dieser muss fortan nicht mehr >nur< erinnern, also aus dem Eigenen schöpfen, sondern nunmehr auch das Äußere verinnerlichen. Der Mythos vom Schrifterfinder Theut soll vor allem dies vor Augen führen, dass das primäre Erwecken von wirklicher Einsicht an persönliche Unterweisung gebunden ist, wohingegen die Schrift bestenfalls zur sekundären Reaktivierung schon vorhandener Einsicht taugt. 5 Eben weil kein Text sich selbst expliziert, insistiert nicht nur Platon, sondern zuletzt noch Gadamer so nachdrücklich auf dem dialogischen Charakter des Verstehens. Die gängige Forschungshypothese, dass Schriftkritik und Dialogform bei Platon quasi ex origine miteinander verbunden seien, findet jedoch auch ihre Kritiker. So bemerkt etwa Alexandra Kleihues zu Recht: Die spezifische Leistung des Dialogs, Wissen nicht allein zu vermitteln, sondern allererst hervorzubringen, ist rückführbar auf einen näher zu bestimmenden Einsatz der Sprache und ihrer performativen Qualität. Dieser ist nicht notwendig als Zeichen für eine Rückbesinnung auf Mündlichkeit, sondern als Hinweis auf eine geschärfte Aufmerksamkeit für die Funktionsweise von Sprache interpretierbar. 6 Aber Schrift markiert - ist sie einmal kulturell installiert - nicht nur die Demarkationslinie zwischen innen und außen, zwischen Welt und Subjekt, sondern führt diese Spaltung im Sinne eines re-entry noch einmal in sich selbst ein. Denn Schrift ist eben nicht nur Archiv, sondern auch Medium des Wissens, also Träger und Substanz in einem. Und vielleicht war genau das die zentrale Intention von Platons Schriftkritik, dass nämlich die doxa jenes lebendige, beseelte und nur im Dialog erfahrbare Wissen, fortan an die Materialität des Schriftzeichens gebunden und damit der medialen Repräsentationsform der Buchstabenkunst gleichsam

4

Platon: Sämtliche Dialoge, hg. von Otto Apelt, Bd. II" Harnburg 1988, S. 103.

5 6

Vgl. Thomas Alexander Szlezak: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin, New York 1985, S. 9. Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame D' Epinay und Voltaire, Würzburg 2002, S. 9. 67

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ausgeliefert sein wird. Kein Vernünftiger werde es daher wagen, stellt Platon im Siebenten Brief fest, »das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der Fall ist«. 7 Die Schrift als das wesenhaft Nichttranszendentale stellt für Platon eine stete Gefahr dar, die Bedeutung, die sie als Ausdrucksmittel doch bloß repräsentieren soll, durch die materielle Form der linguistischen Zeichen zu affizieren. Daher wird ihr als Medium von vomherein die Fähigkeit abgesprochen, das, was der Philosoph allein durch die Schau der Ideen zu vergegenwärtigen im Stande ist, auch nur annähernd angemessen wiederzugeben. Was von Derrida als das Lineraritätsdogma der Schrift kritisiert wurde, meint ja nichts anderes, als dass das Wissen im Medium der Schrift sich einer spezifischen Organisationiifarm zu unterwerfen hatte. Eine Organisationsform, durch die sich freilich überhaupt erst so etwas wie Logizität im historischen Denken ausbilden konnte. Erst durch das zeilenförmige Aneinanderreihen von Zeichen - so könnte man im Anschluss an Flusser formulieren wird Geschichtsbewusstsein als reflexives Moment möglich. 8 Wenn man also Havelock,9 Goody, 10 Ong 11 und Flusser glauben darf, so gewinnt das menschliche Bewusstsein durch den Einfluss der Schrift jene für die Moderne so charakteristische Stringenz und Zielgerichtetheit des Fühlens, Wollens, Wertensund Handelns. Doch der Preis für diesen Zugewinn ist hoch und wurde schon von Platons Sokrates bemängelt: Denn das ist wohl das Bedenkliche beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren sie in gar würdevollem Schweigen. Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Und dann: einmal niederge7

Platon: Sämtliche Dialoge, hg. von Otto Apelt, Bd. II, Harnburg 1988, S. 74. Ed. Immatrix 2002, S. I 1f. 8 Vgl. Viiern Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 2002, S. 11f. 9 Eric Alfred Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. Den;.: Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt a.M. 1992. 10 Jack Goody (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1981. Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt a.M. 1986. Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. 11 Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.

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schrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau so bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt wird und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen. 12 Dreht man dieses Argument um, so erweist sich der Literalisierungsprozess zugleich als ein Prozess der Befreiung. Erst die Abwesenheit des Vaters setzt jenen charakteristischen Deutungsspielraum, jenen ästhetischen Mehrwert frei, durch den sich nicht nur der Text vom Autor emanzipiert, sondern auch die Bedeutung des Lesers und damit die Ästhetik der Rezeption einen neuen Stellenwert erlangt.

II Literalität ist etwas anderes als Literarizität. Während der erste Begriff Schrifilichkeit sowohl als Verfahren wie als Rezeptionskompetenz (vgl. engl.: literacy) meint, also den Gebrauch der Schrift im Kontext eines sozialen und kulturellen Rahmens, versteht man unter Literarizität bzw. Poetizität im weitesten Sinne den poetischen Gehalt einer sprachlichen Äußerung in Abgrenzung zur (wie auch immer gearteten) Normal- oder Alltagssprache. Die Probleme dieser Abgrenzung, die vor allem von den russischen Formalisten in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, sind bekannt und impliziter Bestandteil der Diskussion um den Literaturbegriff selbst. Zwar betont Roman Jakobson schon 1934, dass die Poetizität einer sprachlichen Äußerung weder inhaltlich noch formal definiert werden kann, da die Verfahren der Kunst, ihre »Kunstgriffe«, wie er es formuliert, einem ständigen Wandel unterliegen, so dass eine strenge Demarkationslinie zwischen Kunstwerken und anderen Werken schlichtweg unmöglich seiY Allerdings insistiert er nachdrücklich auf einer poetischen Funktion der Sprache, die sich deutlich von anderen sprachlichen Funktionen abgrenzen lasse: Was wir betonen, ist nicht der Separatismus der Kunst, sondern die Autonomie der ästhetischen Funktion. Diese ist eine Funktion sui generis, nicht auf andere

12 P1aton: Sämtliche Dialoge, hg. von Otto Apelt, Bd. II, Harnburg 1988, S. 104.

13 Vgl. Roman Jakobson: »Was ist PoesieWissensdinge< dem Register der Sinnlichkeit zugänglich macht oder überhaupt erst konstituiert. 30 Dieser Aspekt der Schrift steht immer dann im Vordergrund, wenn im >traditionellen< Sinne über Schrift nachgedacht, d.h. ihr logo- bzw. phonographisches Potenzial zum Gegenstand linguistischer, semiotischer oder philosophischer Reflexionen wird. Mit dem Präsenzaspekt soll nun die der Aisthesis zugängliche, präsente Gestaltformation der Schrift betont werden. 31 Schrift sei eben nicht nur eine Zeichenkonfiguration, sondern immer auch eine strukturierte Fläche, die aufgrund ihrer Struktur spezifische Zugänge ermögliche und häufig auch neue Zusammenhänge erschließe. Gerade durch diesen schriftbildliehen Aspekt will die Forschergruppe den Nexus zwischen visueller bzw. räumlicher Wahrnehmung und Schrift betonen. Unter dem Präsenzaspekt wird aber auch die Tatsache annonciert, dass sich Schrift-

28 Sybille Krämer: »Schriftbildlichkeit oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): BildSchrift- Zahl, München 2003, S. 157-176, hier S. 159. 29 Vgl. dazu: Sybille Krämer: »Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen«, in: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 75-83. Gernot Grube/Werner Kogge: »Zur Einleitung: Was ist Schrift?«, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 919. 30 Vgl. S. Krämer: Zur Sichtbarkeit der Schrift, S. 77. 31 Vgl. G. Grube/W. Kogge: Zur Einleitung: Was ist Schrift?, S. 14. 77

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zeichen von ihrer Produktionssituation ablösen lassen, wodurch sie neuen und vervielfaltigten Arrangements zugänglich werden. Gleichzeitig verweise der Präsenzaspekt auf die Möglichkeit, schriftliche Zeichenkonfigurationen beliebig vielen (Nach-)Bearbeitungsschritten zu unterziehen, also Elemente umzustellen, zu ergänzen, zu löschen usw.32 Der Operationale Aspekt der Schrift, der mitunter auch als Performanzaspekt beschrieben wird, fokussiert einerseits auf die kulturtechnische Dimension der Schrift, wie sie im Vorgang des Schreibens und Lesens zum Ausdruck kommt. Andererseits geht es hier um Schrift als Notationssystem, also um die Tatsache, dass Schrift aus distinkten Einheiten gebaut ist: »Die prinzipielle Unterscheidbarkeif oder endliche Differenziertheit des Schriftzeichens kommt darin zum Ausdruck, dass es zwischen zwei Schriftzeichen keine kontinuierlichen Übergänge gibt.« 33 Die Definitheit des Schriftzeichens drücke sich vor allem dadurch aus, dass die einzelne Realisierung eines Schriftzeichens immer als token eines bestimmten typeskenntlich gemacht werden könnte. 34 Die eigentliche Materialität der Schrift, so Werner Kogge, zeige sich allerdings weder als differentielle Struktur noch als piktorale Präsenz, sondern offenbare sich vielmehr in der Eingerichtetheit und Abgestimrntheit dieser beiden voneinander unabhängigen Ebenen? 5 Sybille Krämer spricht daher auch von einer notationalen lkonizität, womit sie unter anderem auf die »Zwischenräumlichkeit«, die Leerstellung und Lücken, die zum Aufbau von Notationen unverzichtbar sind, abhebt. 36 Sie führt aus: Wenn wir unseren Ansatz, dass Schriften phänomenal und material einen konfigurierten Operationsraum eröffnen, ernst nehmen, dann ist auch klar, dass sich das Visualisierungspotenzial der phonetischen Schrift nicht einfach auf die Sichtbarkeit der Buchstabenfolgen reduziert. Denn wahrnehmbar sind auch die Leerräume zwischen den Wörtern, die Interpunktion, die Groß- und Kleinschreibung, die diakritischen Markierungen, die Klammern, Parenthesen, An-

32 Vgl. ebd., S. 14. 33 Ebd., S. 15. 34 Vgl. ebd. Zur Type-Token-Relation schreibt Bußmann: »Aus der Statistik übernommene Terminologie zur Unterscheidung zwischen einzelnen sprachlichen Äußerungen(= tokens) und der Klasse der diesen Äußerungen zugrundeliegenden abstrakten Einheiten (= types).« H. Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 812. 35 Vgl. Wemer Kogge: »Elementare Gesichter. Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist«, in : S. Strätling/G. Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, S. 85-101, hier S. lOOf. 36 Vgl. S. Krämer: Zur Sichtbarkeit der Schrift, S. 77.

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ftihrungszeichen, das Einrücken von Textpassagen, die Kursivierung und Unterstreichung und vieles mehr. 37 Unverkennbar schlägt hier der sogenannte iconic turn der Geisteswissenschaften bis in die Forschungsgegenstände durch, und Aleida AssmalUl stellt die provozierende Frage, ob sich gar die Alphabetenschrift selbst mit dem iconic turn verändert habe, ob also in einer von Bildern regierten Welt die Schrift das Bild in sich aufnimmt und sich ihm wieder unterordnet.38 Ungeachtet dieser Frage aber sollen die skizzierten drei Aspekte die Eckpunkte eines Strukturmodells von Schrift bilden, dessen Vorteil darin liege, auf gänzlich unterschiedliche Schriftsysteme applizierbar zu sein: Ob Körperbewegungen oder Maschinenzustände, ob Laute oder Klänge, ob chemische Elemente oder biologische Molekülketten, ob quantitative oder qualitative Ordnungsbeziehungen: die unterschiedlichen Bereiche lassen sich in den spezifischen Darstellungs- und Operationsraum der Schrift überführen. Begreiflicher zu machen, was bei solchen Prozessen der Verschr!ftlichung vor sich geht, ist eine der wichtigsten Aufgaben, für die ein gehaltvoller Schriftbegriff Voraussetzung ist. 39 Die Verdienste dieses Ansatzes lassen sich nicht bestreiten, werden doch erstmalig und mit interdisziplinärem Bemühen ebenso zentrale wie zum Teil vollkommen vernachlässigte Aspekte der Schrift zusammengebracht und füreinander fruchtbar gemacht. Zu kritisieren ist allerdings, in welcher Weise der entwickelte triadische Schriftbegriff nun gegen jede vorangegangene Schrift- oder Symboltheorie instrumentalisiert wird (von Cassirer und Goodman zu Havelock, Goody, Ong über Derrida bis hin zu Assmann undFlusser-die Reihe erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Denn egal welcher Aspekt der Schrift von einer Theorie bislang in den Vordergrund gerückt wurde, stets kalUl man ihr die Verlustrechnung aufmachen, da es eben nur ein Aspekt ist und die Argumentation daher notwendigerweise einseitig bleiben musste. So sei unter anderem auch Derridas Konzept »durch eine gewisse Einseitigkeit« geprägt, moniert Werner Kogge, da in den meisten seiner Abhandlungen die Struktureigenschaften von Schrift anhand des Vergleichsobjekts der gesprochenen Sprache analysiert würden, womit impliziert werde, dass Derrida

37 S. Krämer: Operationsraum Schrift, S. 33. 38 Vgl. Aleida Assmann: »Wie Buchstaben zu Bildern werden«, in: S. Strätling/G. Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 191202, hier S. 193. 39 G. Grube/W. Kogge: Zur Einleitung: Was ist Schrift?, S. 16. 79

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einem phonographischem Schriftverständnis verhaftet bleibe. 40 Dass diese Kritik völlig an der intentionalen Stoßrichtung von Derridas Ansatz vorbei zielt, steht außer Zweifel und dies weiß auch Kogge, denn wenige Seiten zuvor konstatiert er explizit, dass Derridas Denkbewegungen nicht auf Schrift als ein Medium oder Phänomen hin gerichtet seien, sondern er phänomenale Aspekte von Schrift vielmehr dazu nutze, um jene differentielle Bewegung freizulegen, die jeder Erscheinung noch zugrunde liege und sie konstituiere. 41 Wenn dies aber einmal erkannt ist - und Kogge zeichnet Derridas Ansatz durchaus luzide nach - , dann ergibt der Vorwurf, Derrida nutze nur die Sprache als Referenzobjekt der Schrift, wenig Sinn.

V Weit gefasste Schriftbegriffe orientieren sich in der Regel an den Ansätzen von Cassirer, Goodman tmd Derrida. Insbesondere Cassirer hat mit seiner Philosophie der symbolischen Formen die Rolle der symbolischen und technischen Medien für den Erkenntnisprozess und das Verständnis des menschlichen Geistes in den Vordergrund gerückt. Denn der Mensch, so Cassirer, lebt nicht in einer physikalischen Wirklichkeit, nicht in einem Universum aus Fakten und Zahlen, sondern in einem symbolischen Universum aus Bedeutungen und sinnhaften Zeichen: Auch in der Sprache, auch in der Kunst, ja selbst im Mythos und in der Religion herrscht nicht ein einfaches Gegenüber von >Ich< und >WeltAuseinandersetzung< der beiden Pole führt. [... ] Die Zweiteilung: Symbol oder Gegenstand erweist sich auch hier als unmöglich, da die schärfere Analyse uns lehrt, daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung flir alles Erfassen von >Gegenständen< oder Sachverhalten ist. 42

40 Vgl. Wemer Kogge: »Erschriebene Denkräume. Grammatologie in der Perspektive einer Philosophie der Praxis«, in: G. Grube/W. Kogge/S. Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, S. 137-169, hier S. l44f. 41 Vgl. ebd., S. 140. 42 Ernst Cassirer: »Der Gegenstand der Kulturwissenschaften«, in: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 1961, S. 1-33, hier S. 31. 80

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Cassirer bestimmt das Symbolische als »Immanenz und Transzendenz in Einem: sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert«. 43 Im Kern geht es ihm darum, den Symbolbegriff als Mittler zwischen der Wirklichkeit und dem menschlichen Denken zu etablieren. Sein Symbolbegriff rubriziert wissenschaftliche Zeichen ebenso wie religiöse, mythische, ästhetische und natürlich sprachliche. Dabei stehen sich die diversen Symbolisierungen in der Kunst, im Mythos und in der Wissenschaft durchaus gleichberechtigt gegenüber, denn sie repräsentieren jeweils bestimmte geistige Auffassungsweisen und konstituieren auf diese Weise zugleich eine je eigene Sicht des Wirklichen. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des >WirklichenAutors< ist als Möglichkeit in die iterative Struktur der Schrift eingeschrieben, die eben deshalb gänzlich von der Verantwortung des Bewußtseins als absoluter Autorität abgeschnitten ist. Schrift ist das, was in der Wiederholung funktionieren kallll, abgespalten von einem ursprünglichen Sagen-Wollen und jedem zwingenden Kontext. 49 Die in dem Zitat nur flüchtig aufscheinende Materialität des Zeichenträgers Schrift dient der Dekonstruktion allerdings nur als Ausgangspunkt, um das Spiel der Differenzen beginnen zu lassen. 50 Was dabei bislang viel zu wenig beachtet worden ist, sind die medientheoretischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Derridas Kritik des Logozentrismus präludiert somit erst eine Argumentation, an deren Ende die »Herausarbeitung einer grundlegenden operativen Logik von Zeichensystemen« 51 stehen müsste - eine Argumentation, die stets im Auge behielte, dass das

48 Allerdings war Derrida mit Blick auf die eigenen Texte, d.h. mit Blick auf die eigene Autoritätsposition dann doch etwas eindeutiger. So lässt er sich in einer Polemik gegen Searle zu folgender Behauptung hinreißen: »Cette definition du deconstructionniste est fausse (je dis bien fausse: non vrai) et faible; elle suppose une mauvaise lecture (je dis bien mauvaise: non bolltle) et une lecture faible de nombreux textes, et aussi des miens, qu'il faut Iire si on veut en parler.« Jacques Derrida: Limited lnc., Paris 1990, S. 270. 49 Sarah Kofman: Derrida lesen, hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, S. 12. 50 »Man kann ihn [den Schriftbegrift] gramma oder difjerance nennen. Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kalltl je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache.« Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetti, Graz, Wien 1986, S. 66f. 51 Ludwig Jäger: »Versuch über den Ort der Schrift. Die Geburt der Schrift aus dem Geist der Rede«, in: S. Krämer/H. Bredekamp (Hg.): Bild Schrift- Zahl, S. 187-209, hier S. 193. 83

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»einfache Frühersein der Idee oder der >inneren Absicht«Schrift bei Platon< unterhalten, deutlich herausgearbeitet: Während bei Havelock die schriftliche Speicherbarkeit des Wissens die Voraussetzung für eine allgemeine Logifizierung bilde und zugleich als mediale Basis für die Bildung metaphysischer Signifikate einstehe, verkörpere die Schrift bei Derrida den Mechanismus der Differenz schlechthin und hintergehe alle Signifikationsakte, die auf eine dem Ver52 Jacques Derrida: »Kraft und Bedeutung«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1997, S. 9-52, hier S. 24. 53 David Wellbery kommt zu einem ähnlichen Schluss: »Wenn die Theoretisierung der Schrift, die wir mit der poststrukturalistischen Intervention assoziieren, die Einsetzung der Äußerlichkeit als eines nichtreduzierbaren Elements auf dem Schauplatz der Bedeutung ist, und wenn daraus folgt, daß die Reduzierung von Äußerlichkeit auf die Idealität des Sinns nicht mehr möglich ist, dann wird klar, daß diese Äußerlichkeit nicht länger den Status von, sagen wir, bloßer Äußerlichkeit hat. « David Wellbery: »Die Äußerlichkeit der Schrift«, in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.): Schrift, S. 337-348, hier S. 343. 54 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France, 2. Dezember 1970, Frankfurt a.M. 1991 , S. 35.

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schiebungsspiel der Zeichen entzogene ideelle Wesenheit zielen. 55 »Hier besteht der Ursprungsakt der Metaphysik und damit des abendländischen Denkens darin, Schriftlichkeit zur Grundlage der Wissenschaft zu machen; dort darin, sie zu eskamotieren.«56 Mit Blick auf das Vorhaben von Derrida wäre allerdings zu fragen, ob bzw. wie man diese Geschichte überhaupt erzählen kann. Folgt man der Interpretation Paul de Mans, so nutzt Derrida in der Grammatologie traditionell literarische Techniken, um seine >Geschichte< zu erzählen: It would seem to matter very little whether Derrida is right or wrong about Rousseau, since his own text resembles the Essai so closely, in its rhetoric as weil as in its statement. It also teils a story: the repression of written Janguage by what is here called the >logocentric< fallacy offavoring voice over writing is narrated as a consecutive, historical process. Throughout, Derrida uses Heidegger's and Nietzsche's fiction of metaphysics as a period in Western thought in order to dramatize, to give tension and suspense to the story of language and society by making them pseudo-historical. [ ... ] Derrida's Nietzschean theory of language as >play< wams us not to take him literally, especially when his Statements seem to refer to concrete historical situations such as the present. 57

Derrida also nicht wörtlich nehmen, das von Nietzsche inspirierte Sprachspiel der Differenz in seinem eigenen Text beginnen lassen wenn aber Theorie als Literatur gelesen werden muss, welche Rolle spielt dann Literatur, als eine spezifische Form der Literalität, für die Theorie? Dass hier ganz elementare Verschränkungen vorliegen, haben nicht nur die Studien von de Man gezeigt, die auf die nicht karrtrollierbare Rhetorizität der Sprache selbst verweisen. 5 8 Auch die Metaphorologie Hans Blumenbergs59 sowie die Interdiskurstheorie von Jürgen Link 55 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 327. 56 Ebd. 57 Paul de Man: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric ofContemporary Criticism, Minneapolis 1983, S. 137. 58 »[D]ie von Tropen erzeugte Zergliederung ist vor allem eine Zergliederung der Bedeutung; sie greift semantische Einheiten wie Wörter und Sätze an.« Paul de Man: »Ästhetische Formalisierung: Kleist >Über das MarionettentheaterRealität unserer Begriffe darzutun< und so gewissermaßen die Loslösung von der Welt der Erscheinungen rückgängig zu machen, die die Vorbedingung der geistigen Tätigkeiten ist«. 60 Zu fragen wäre hier - und dies scheint mir in der Tat noch weitgehend ein Desiderat zu sein - , inwieweit die Genese literarischer Elemente an ihre mediale Erscheinungsform gebunden ist. Man könnte nun versucht sein einzuwenden, dass diese Frage doch Gegenstand von Friedrich Kittlers Auf~chreibesystemen sei. 61 Allerdings diskutiert Kittler eher die Effekte, die das Aufkommen neuer Medien (Grammophon und Film) und neuer Schreibgeräte (Schreibmaschine) in der Literatur zeitigt. 62 Technische Medien, so könnte man Kittlers durchaus einleuchtende Grundthese zusammenfassen, regulieren auf eine spezifische Weise das Wissen und die Schreibweisen. Insbesondere die neuen Möglichkeiten der technischen Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten verschieben, so Kittler, um 1900 das gesamte Aufschreibesystem. Im Vordergrund stehe nun weder

könnte bis zum Aufbrauch des Bildvorrats - , sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren«. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1999,8.11. 60 Harrnah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München, Zürich 1998, S. I 08. 61 Friedlich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800/1900, München 2003. 62 »Die technischen Medien Grammophon und Film speichern akustische und optische Daten seriell und mit übermenschlicher Zeitachsen-Präzision. Zur selben Zeit und von denselben Ingenieuren erfunden, attackieren sie an zwei Fronten zugleich ein Monopol, das die allgemeine Alphabetisierung, aber auch erst sie dem Buch zugespielt hat: das Monopol auf Speicherung serieller Daten. Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken. Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin unterläuft. [ ... ] Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.« Ebd., S. 297.

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die Produktion von Sinn noch der kommunikative Aspekt, sondern allein die Speicherfunktion der Medien: Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das Wort sagt es schon: zwischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied. Ihre Wahrheit ist die Fatalität, ihr Feld das Unbewußte. Und weil Unbewußtes den Glauben, der eine Illusion ist, nie findet, bleibt nur, es zu speichern. Im Aufschreibesystem von 1900 laufen die psychophysischen Experimente als ebensoviele Zufallsgeneratoren, die Diskurse ohne Sinn noch Gedanken auswerfen. Der übliche Sprachverwendungszweck - sogenannte Kommunikation mit anderen - scheidet damit aus. 63 Damit ist allerdings noch wenig gesagt über die Wirkungsbedingungen der Schrift für die Genese literarischer Elemente - und diese Frage lässt sich zunächst gänzlich unabhängig von Sinn- und Kommunikationskontexten formulieren. Gerhard Plumpe hat in einer luziden Rezension von Kittlers Aufschreibesystemen die Frage gestellt, ob die auffällige Technikfaszination Kittlers nicht zu einer bedenklichen Unterbelichtung der Tatsache führe, »daß es wohl weniger die Medien sind, die das Wissen und die Schreibweisen, sondern vielmehr die Diskurse sind, die Gebrauch und Funktion der Medien regulieren«. 64 Das ist zweifelsohne richtig. Zu überlegen ist aber, inwieweit die Diskurse - zumal die Interdiskurse- auf die Schrift angewiesen sind, um ihre regulative bzw. interferierende Funktion überhaupt zu entfalten. Vielleicht wird dieser Aspekt deutlicher, wenn man die obige Frage noch einmal umgekehrt formuliert und fragt, in welcher Weise und durch welche Eigenschaften Literatur als Schrift die rationale (Beobachtungs-)Logik zu ergänzen oder zu unterlaufen vermag. Oliver Sill hat hier einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er auf die zeittheoretischen Implikationen der Beobachtung im Rahmen der luhmannschen Systemtheorie aufmerksam gemacht hat. Im Vordergrund steht hier vor allem das notwendige Nacheinander von Beobachtungen erster und zweiter (und dritter usf.) Ordnung. Gerrau diese Notwendigkeit zur zeitlichen Aufeinanderfolge von Beobachtungen unterschiedlicher Ordnung werde mit Blick aufliterarische Texte nun durch 63 Ebd., S. 276f. Es verwundert wenig, dass Kittler mit Blick auf die Aufschreibesysteme der Gegenwart zu der Überzeugung gelangt ist, dass mit der Miniaturisierung aller Zeichen auf molekulare Maße der Schreibakt selbst verschwunden sei. Vgl. Friedrich A. Kittler: »Es gibt keine Software«, in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.): Schrift, S. 367-378, hier S. 367. 64 Gerhard Plumpe: »Mütter und Schreibmaschinen. Zu Friedrich Kittlers Neubegründung der Literaturgeschichte«, in: kultuRRevolution 13 (1986), S. 10-12, hier S. 11. 87

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die »Simultanpräsenz aller sinntragenden Textelemente, unabhängig davon, an welcher Stelle in der sequentiellen Abfolge des Textes sie auch verankert sind«, aufgehoben. 65 Diese Simultanpräsenz aber wird in ihrer Simultanität meines Erachtens nur auf schriftlicher Ebene überhaupt darstellbar und auch nur im Lesevorgang nachvollziehbar. Literalität, so meine Vermutung, ist daher nicht nur formaler Bedingungsraum von Literatur, sondern transzendentale Voraussetzung für die Konstitution bestimmter literarischer Figuren (Metaphern, Symbole), Effekte (Fiktion) und Verfahren (Erzählsituation, Fokalisierung, Zeitdimension etc.), durch die rationale Verfahren und Theorieentwürfe notwendig ergänzt werden müssen.

VII Auf einer quasi mytho-poetologischen Ebene lassen sich diese Fragen noch einmal viel basaler stellen, wenn man etwa nach den archaischen Ursprüngen der Schrift selbst fahndet. Dann nämlich stehen sich die zyklischen Wiederholungsmuster des »wilden Denkens« und die Aufklärung verheißende Linearität der Schrift nicht mehr antagonistisch gegenüber. So findet der Gedanke, dass Schrift und Erlösung auf eine dem rationalen Bewusstsein kaum noch nachvollziehbare Weise zusammenhängen, seinen perfidesten Ausdruck im Mittelalter, und zwar in den Ablassbriefen der katholischen Kirche. Der Grundgedanke des Ablasses ist ja der, dass die Verdienste von Jesus Christus und insbesondere sein Opfertod am Kreuz einen unermesslichen Gnadenschatz bilden, den die Kirche verwaltet und austeilen kann. Durch die Schrift auf dem Ablassbrief kann der Sünder auf eine gleichsam wundersame Weise am Erlösungsversprechen partizipieren, ein Versprechen, das allererst durch ein Menschenopfer möglich wurde. Schrift, so könnte man zusammenfassen, ermöglicht Teilhabe am Opfer, ohne selbst geopfert zu werden. Mehr noch: Die Schrift selbst entspringt, so die radikale These von Christoph Türcke, dem dunkelsten Ritual der menschlichen Kultur: dem Menschenopfer. Schrift, so Türcke, hat dort ihren Ursprung, »wo Menschen rituell hingeschlachtet werden«. 66 Die tief im Kollektivgedächtnis vergrabene, archaische Assoziation tritt beispielsweise in der biblischen Erzählung vom 65 Oliver Sill: »Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung. Ein Beitrag zur systemtheoretischen Debatte in der Literaturwissenschaft«, in: Henk de Berg/Matthias Prange! (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen, Basel 1997, S. 69-88, hier S. 74. 66 Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 27.

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Brudermord Kains an Abel deutlich zu Tage: »Wo Menschengeschichte beginnt, da sind Mord und ein >Zeichendaß ihn keiner erschlageMarkt< übergebene Buch noch die Spuren einer persönlichen Adresse trägt«. 70 Die personengebundene, an stilisierte Freunde gerichtete Kommunikation sollte so mit der in den distribuierten Drucken notwendigerweise auch immer anonymisierten Kommunikation verschmolzen und auf diese Weise ununterscheidbar werden. »Diese Ununterscheidbarkeit ist insofern zentraler Einsatzpunkt des Unternehmens«, bemerkt Jürgen Fohrmann, weil sie sowohl die Verrechenbarkeit des Drucks auf den engeren Kreis der >Freundschaft< sichelt als auch die gesamte Leserschaft noch als e1weiterten Kreis der Freunde definierbar zu machen scheint[ ... ]. Zum Druck kommt daher das, was die Freunde sich um der Freundschaft willen mitteilen, das, was einer Ethik der Freundschaft entspringt, die in der eigenen Bildung zugleich die Bildung der anderen mitbetreibt und auf diese Weise die Gemeinschaft erst hervorbringt - als zeitgenössische und auch als die Gemeinschaft mit den >befreundeten< Toten der Antike. 71

Die Geisteswissenschaften und insbesondere die Philologien beziehen einen Großteil ihrer Selbstlegitimation nach wie vor aus diesem nur vermeintlich anachronistischen Modell. Ein Modell, das die wahre res publica litteraria als eine Gemeinschaft der Freunde begreift. Getragen von der Fiktion eines ethischen Verhältnisses zwischen Kommunikation und Ethik, findet dieses Modell seine wirkungsmächtigste Ausformung im Begriff der Bildung. Bilden im Sinne von Formen gründet somit im Kern auf der neuen medialen Möglichkeit der humanistischen Gelehrten, sich selbst als gelungenes Beispiel einer anzuwendenden Regel inszenieren zu können. 72 Der Raum, in dem diese Inszenierung vollzogen wurde, war der seit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks erstmals freigesetzte Raum der Schrift. Schrift wird dabei nicht nur als ein utopischer Ort weitestgehend unabhängiger Gemeinschaftsbildung begriffen, sondern darüber hinaus auch als ein »Medium der Konstitution eines neuen Men69 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Jürgen Fohrmann: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 9-20, hier S. 11. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. Leander Scholz/Andrea Schütte: »Heiliger Sokrates, bitte flir uns! Simulation und Buchdruck«, in: J. Fahrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, S. 23-153, hier S. 35.

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schenbildes, das sich durch die zugesprochene Fähigkeit zum Selbstentwurf auszeichnet«. 73 Es ist diese emphatische Kopplung von Literalität und Identität, die bis heute das Bild des inaugurierten Subjekts wahrer Bildung bestimmt. Man kann - und dies ist ja auch vielfach geschehen - den historischen Wandel dieses Modells nun auf verschiedenen Ebenen verfolgen; man kann etwa auf die Gefahren hinweisen, die aus einer derartigen Verinnerlichung des Buchwissens resultieren, wie dies zum Beispiel Miguel de Cervantes 1605 in seinem Roman Don Quijote getan hat. Don Quijote, der arme Hidalgo, der zu viele Ritter- und Räuberromane gelesen hat, startet den spektakulären Versuch, sein Leben konsequent nach den Vorgaben der Schrift auszurichten. Sein Ziel ist es, Identität durch radikale Annäherung an die Zeichen zu gewinnen, indem er jede reale Handlung als Texthandlung interpretiert. Symbolisch verdichtet sich das Scheitern dieses Unterfangens bekanntermaßen in seinem Kampf mit den Windmühlen. Doch die emphatische Kopplung von Literalität und Identität erweist sich nicht allein von innen heraus als fragil, sie ist auch von außen bedroht. Denn als Konsequenz des Buchdrucks als einer Medienevolution ist sie auch strukturell untrennbar mit dem immer schneller voranschreitenden, medialen Prozessieren verbunden. Aufgrund der Kopplung von anonymisierter Distribution und personaler Adressierung, welche die Gemeinschaft der Gebildeten im Raum der Schrift erst konstituiert, muss notwendigerweise auch immer ihr Gegenpol mitgedacht werden - und dies ist der Ungebildete, der Barbar. Das humanistische Programm, das, wie Erasmus von Rotterdam es treffend formuliert hat, die »barbarische Zunge herausnehmen und eine römische einpflanzen« wollte/4 wird zwar erst durch die Entgrenzung der Schriftlichkeit möglich, muss aber als exklusives Programm notwendigerweise immer auch die Eingrenzung mitdenken. Dies ist ja das Ziel der persönlichen Adressierung: den Kreis der Wissenden als letztlich doch überschaubaren Freundeskreis anzusprechen und abzugrenzen. Diese Eingrenzung auf wenige wird jedoch zusehends schwieriger, da der quantitativ exponential ansteigende Diskurs ein neues Spannungsfeld eröffnet, nämlich das von Komplexität und Wissensordnung. Dieses Spannungsfeld kann nicht mehr in personalen Interaktionen enggeführt werden, die den Druck an Gesten der Freundschaft, an die Ausstellung von Sozialität in Widmungsadressen usw. rückbinden. Die entstehende Polykontexturalität führt zu einem Anwach-

73 Ebd. 74 Erasmus von Rotterdam: »De Iibero arbitriomnd« genaue Rückschlüsse auf die Richtung zu erwarten sind, die das Forschungsprojekt nehmen wird. Die Klärung der Begriffe Literalität und Liminalität dient daher vor allem der Vorbereitung der zielführenden Bestimmung des Verhältnisses von Literalität und Liminalität, wobei sich dem »Ideal der letzten Erfüllung«, das Edmund Husserl in den Logischen Untersuchungen als Übereinstimmung von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung gekennzeichnet hat, jederzeit das Schreckgespenst eines »Ideals der letzten Enttäuschung«1 beigesellt, falls sich die Intentionen, die mit dem Projekt verbunden sind, eben nicht erfüllen lassen. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Ausgangssituation ist die Aufgabe der folgenden Ausführungen also zunächst einmal relativ klar konturiert: In einem ersten Schritt geht es um die begriffliche Klärung der Ausdrücke Literalität und Liminalität, um auf dieser Grundlage mögliche Anschlusspunkte zwischen beiden Bereichen zu markieren, ohne in die doppelte Gefahr einer völligen Unverbindlichkeit oder einer zu großen begrifflichen Enge zu fallen. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht demzufolge darin, von der Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn von Literalität und Liminalität gesprochen wird, bis zu der weiterführenden Frage vorzudringen, was in Zukunft geleistet werden kann, wenn sich gezeigt hat, dass die Begriffe Literalität und Liminalität nicht nur für sich unverbunden nebeneinanderstehen, sondern sich wechselseitig ergänzen und so unterschiedlichen Forschungsprojekten Raum geben.

»Die Schrift ist unveränderlich«. Zum Begriff der Literalität »Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus«,2 sagt der Gefängniskaplan in Kafkas Proceß zu K., als es um die Frage nach der richtigen Auslegung der Schrift geht, von der der Kaplan behauptet, sie sei zwar unveränderlich, zugleich aber »ein Ausdruck der Verzweiflung darüber« 3 . Nichts

2 3

Vgl. Achim Geisenhanslüke: »Das Ideal der letzten Enttäuschung. Dekonstruktivistische Literaturwissenschaft«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft flir Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2004/2005), S. 77-89. Franz Kafka: Der Proceß, Frankfurt a.M. 1994, S. 229. Ebd., S. 230.

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ÜBERLEGUNGEN ZUM ZUSAMMENHANG VON LITERALITÄT UND LIMINALITÄT

scheint in und aufgrund seiner Unveränderlichkeit unsicherer zu sein als die Schrift, und die Verzweiflung, in ihrer eigentlichen Form nach Kierkegaard der Versuch, »verzweifelt man selbst sein wollen«,4 betrifft jede Möglichkeit, sich über die Schrift klar werden zu wollen. So ist auch der Begriff der Schrift in Kafkas Text in seiner scheinbaren Unveränderlichkeit zugleich vielfältig: als Heilige Schrift, mosaische Gesetzesschrift oder als verborgener Gesetzeskodex. Jede dieser Schriftformen hat zugleich unterschiedliche Deutungsversuche vorgegeben, die an Kafkas Werk herangetragen worden sind. Für jede der Schriftformen, die im Proceß wirksam zu sein scheinen, gilt aber auch, dass sie durch die »kleinen Winkelzüge« 5, als die Katka das eigene Schreiben bezeichnet hat, gekonnt unterlaufen werden. Wenn Schrift bei Kafka zum Thema wird, dann also in mehrfacher Hinsicht: in der Konkurrenz unterschiedlicher theologischer Modelle, die einen je unterschiedlichen Umgang mit der Schrift pflegen wie das Christentum und das Judentum, im Gegensatz von profaner und religiöser Schrift, zwischen Recht und Offenbarung, in der hermeneutischen Vieldeutigkeit der Auslegung, die die Schrift erfahren kann, und schließlich in der scheinbar naiven Frage nach Kafkas persönlicher >Handschrift< als Schriftsteller. Die Vieldeutigkeit, die die Bestimmung der Schrift bei Kafka betrifft, kann sicherlich nicht einfach auf das Problem der Schrift überhaupt übertragen werden. Sie kann aber als Hinweis auf die Problemart dienen, mit der es das Denken der Schrift zu tun hat. Die Schwierigkeit besteht in der unterschiedlichen Zielrichtung der vorliegenden Ansätze, Schrift zu denken. Nicht jeder Ansatz, der sich mit Schrift beschäftigt, will das gleiche Phänomen erklären. So geht es den Untersuchungen zum Verhältnis von Oralität und Literalität, wie sie Jack Goody und Eric A. Havelock vorgelegt haben, um etwas grundsätzlich anderes als die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik am Leitfaden der Unterscheidung von Stimme und Schrift, die Jacques Derrida unternommen hat, oder Nelson Goodmans »Ansatz zu einer allgemeinen Symboltheorie«6 , die auf der Grundlage der Exemplifikation als »Wichtige und vielverwendete Weise der Symbolisierung innerhalb und außerhalb der Künste«7 auf den Zusammenhang von Literatur und Inskription abzielt, demzufolge »Texte keine Partituren, sondern Skripten«8 sind. Auch wenn die Literalitätsforschung, die Dekonstruktion und Nelson Goodmans kogni4 5 6 7 8

Soren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf 1954, S. 8. Franz Kafka: Briefe an Felice, Frankfurt a.M. 1976, S. 83. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1988, S. 9. Ebd., S. 59. Ebd., S. 159. 99

ACH IM GEISENHANSLÜKE

tive Theorie ästhetischer Erfahrung über den gleichen Begriff - eben Schrift - zu sprechen scheinen: Die unterschiedliche Zielrichtung ihrer Ansätze lässt eine zufriedenstellende Vermittlung kaum zu.9 So sympathisch die Idee gerade im Kontext liminalen Denkens auch zunächst erscheinen mag: Es kann nicht darum gehen, Brücken zwischen unterschiedlichen Ansätzen zu bauen, die unterschiedliche Sachverhalte erklären möchten. Vielmehr besteht die vorbereitende Aufgabe in der genauen Differenzierung der verschiedenen Ansätze, um abschließend abwägen zu können, wo sich Berührungspunkte in der Sache ergeben.

Auf der Schwelle: Zum Begriff der Liminalität Nicht nur zum Begriff der Schrift, auch zum Problem der Liminalität gibt Kafka im Proceß-Roman aufschlussreiche Hinweise. Die These des Kaplans über die Unveränderlichkeit der Schrift folgt unmittelbar auf die berühmte Parabel Vor dem Gesetz, in der der Mann vom Lande Einlass in das Gesetz begehrt. Mit dem Hinweis, der Eintritt sei möglich, jetzt aber nicht, wird ihm der Wunsch verwehrt, bis die Pforte des Gesetzes mit dem Tod des Mannes und dem zweiten Hinweis geschlossen wird, dass nur er hier hätte Einlass erlangen können. So rätselhaft Kafkas Parabel, die immer wieder die unterschiedlichsten Deutungen erfahren hat, 10 auch anmuten mag: Kafkas Mann vom Lande befindet sich im Sinne der ethnologischen Forschung in einer klassischen Schwellensituation, innerhalb eines einmal begonnenen und dann unterbrochenen Übergangsritus, der erst mit dem Tod abgeschlossen wird. Wie Amold van Gennep in seiner Untersuchung zu den rites de passage gezeigt hat, zeichnen sich Übergangsriten durch drei miteinander verknüpfte Phasen aus: »Übergangsriten erfolgen also, theoretisch zumindest, in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integ9

Vgl. dazu die Ausführungen von Florian Coulmas: »Die Anliegen der einzelnen Disziplinen im Zusammenhang mit der Schrift sind verschieden, die Probleme teilweise ähnlich. Sie sind jedoch so vielfältig, dass sie in keiner Disziplin erschöpfend behandelt werden können. Eine Grammatologie gibt es nicht und wird es nicht geben.« Florian Coulmas: Über Schrift, Frankfurt a.M. 1981 , S. 11. 10 Exemplarisch bei Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas >Vor dem GesetzUrteil< und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgmt 2002. 100

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rationsphase.« 11 Die liminale Phase markiert demnach eine Zwischenposition. Ihr voraus geht eine Situation der Krise, die die Trennung von einer bisher etablierten Ordnung betrifft, wobei auf die Krise die Wiedereingliederung in die alte Struktur folgt. Die Schwellenphase dient demnach vor allem dazu, mögliche schädliche Auswirkungen auf die soziale Gemeinschaft durch ein genau abgestuftes Ritual zu verhindern. Um die rites de passage näher zu beschreiben, geht van Gennep von einem Zusammenhang zwischen Liminalität und Räumlichkeit aus. »Räumliche Übergänge«/ 2 so van Gennep, bilden das Modell der von ihm geschilderten Übergänge. Die Räume können dabei in unterschiedlichen Formen figurieren, als Tor, Bodenschwelle, Oberschwelle oder Tragbalken. Wichtig ist allein die Übergangssituation: »Jeder, der sich von einer Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten.« 13 Kafkas Parabel schildert eine Situation, die van Genneps Theorie der Übergangsriten in vielerlei Hinsicht vergleichbar ist. Zunächst ist auch die Erfahrung des Mannes vom Lande durch eine bestimmte Form der Räumlichkeit geprägt: Er sucht Eingang in einen sakral konnotierten Innenraum, von dem er sich einiges für sein Seelenheil zu versprechen scheint, kommt aber über die Schwelle nicht hinaus. Der Türhüter, dessen Funktion zugleich an eine allegorische Darstellung psychoanalytischer Erklärungsmuster denken lässt, markiert die Instanz des Verbotes, den Zensor, der den Mann nicht hineinlässt und damit einen Schwellenzustand herstellt, der sich von dem von van Gennep herausgearbeiteten Modellfall insofern unterscheidet, als zunächst keine Phase der Reintegration mehr erfolgt, die Schwellensituation in der Form des Wartens also zu einer ständigen wird. Darüber hinaus verkörpert der Protagonist von Kafkas Roman einen Grenzgänger in genau dem Sinne, in dem van Gennep annimmt, dieser schwebe zwischen zwei Welten: der alltäglichen, durch berufliche Zwänge und diverse mehr oder minder zufällige Frauenbekanntschaften strukturierten Welt sowie der Welt des Gesetzes, die ihn wie den Homo sacer Giorgio Agambens mit einer Art Bann belegt hat, der zu seiner abschließenden Hinrichtung führt. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass der Protagonist des Romans durch die Verhaftung, mit der der Proceß einsetzt, in eine permanente Schwellensituation versetzt wird. Der Beginn des Romans verweist schließlich noch auf eine dritte Weise auf das Thema der Schwelle. Der Text beginnt wie auch etwa Die 11 Amold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M., New York 2005, S. 21. 12 Ebd., S. 25. 13 Ebd., S. 27. 101

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Verwandlung mit dem Moment des Erwachens, das allerdings ebenso gut ein Einschlafen und Eintauchen in einen Traum sein könnte. »Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist«, 14 notiert Walter Benjamin im Blick auf Proust und Kafka zu der marginalisierten Rolle von Schwellenerfahrungen in der Moderne. Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit scheint Kafka nun die Schwelle von Schlaf, Traum und Erwachen zu thematisieren, die Walter Benjamin und Sigmund Freud aufunterschiedliche Art und Weise zum Thema ihrer historischen Untersuchungen genommen haben. 15 Vor diesem Hintergrund hat Winfried Menninghaus den Begriff der »Schwellenkunde« geltend gemacht, um Benjamins Passage des Mythos zu beschreiben. Menninghaus kann die Idee einer Schwellenkunde auf das Werk Benjamins beziehen, da dieser einer der Ersten ist, der scharf zwischen Schwelle und Grenze unterscheidet: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte >schwellen< und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist es notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.« 16 Wie insbesondere das Passagen-Werk zeigt, stellt das Denken Walter Benjamins einen der prominentesten Versuche dar, den Begriff der Schwelle in das Zentrum der historischen Erkenntnis zu stellen. Die Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der Liminalität in diesem Kontext verbunden sind, sind allerdings andere als im Fall der Literalität. Dem Begriff der Schwelle, auf den sich das Denken der Liminalität beruft, kommt ein metaphorischer Charakter zu, der eine begriffliche Erklärung zunächst eher zu erschweren als zu ermöglichen scheint. 17 So hat schon Rolf Parr darauf hingewiesen, »dass die Rede von Grenzen, Schwellen und Passagen fast immer symbolischen oder metaphorischen

14 Wa1ter Benjamin: Das Passagen-Werk. Erster Band, Frankfurt a.M. 1982, S. 617. 15 Vgl. Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagenwerk, Frankfurt a.M. 1993, S. 556f. 16 W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 618. 17 Schon die Arbeitsgruppe um Nicholas Sau] hat den Begriff der Schwelle vor allem als Metapher, ja als »Metapher der Metapher« verstanden, ohne allerdings den theoretischen Voraussetzungen nachzugehen, die das metaphorische Sprechen von der Schwelle impliziert. Vgl. Nicholas Saul/Daniel Möbus/Birgit Illner (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999, S. 10. 102

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Charakter hat«. 18 Die Frage, die sich im Kontext der Liminalitätsforschung stellt, ist die nach dem Erkenntniswert, der der Metapher der Schwelle zugewiesen werden kann. Der metaphorische Gehalt, der dem Begriff der Liminalität zukommt, verbindet sich darüber hinaus wie schon im Fall der Literalität mit heterogenen Ansätzen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Begriff auseinandergesetzt haben. Wie Rolf Parr gezeigt hat, stammen wichtige Anregungen zum Thema der Liminalität neben der Ethnologie und dem Werk Benjamins aus so unterschiedlichen Richtungen wie der Ritualtheorie Victor Turners, Genettes Analyse der Paratexte, der Foucault'schen Diskursanalyse oder Giorgio Agambens Projekt des Homo sacer. Gerade die metaphorische Qualität des Schwellenbegriffs führt zu einer Unübersichtlichkeit, die leicht in Beliebigkeit umschlagen kann. Folgt man an dieser Stelle Benjamins Begriff der Schwelle, der, wie Menninghaus hervorgehoben hat, »in einem dreifachen Sinn: in seiner geschichtsphilosophischen Intention, seiner wissenschaftlichen Form und seinem Hauptgegenstand« 19 Passagen markiert, so ergeben sich dennoch Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Schwellenbegriffen. Wie sich bereits bei Kafka gezeigt hat, geht es der Liminalität zunächst um spezifisch räumlich strukturierte Formen des Übergangs. In der gleichen Weise spielt aber eine zeitliche Dimension herein: Zum einen sind die Schwellen, von denen Benjamin spricht, in ein geschichtsphilosophisches Modell eingebettet, dem es um Phänomene der Erinnerung und des Vergessens geht. Die Ritualforschung beschreibt liminale Situationen ebenfalls im Hinblick auf zeitliche Ordnungen, wenn sie bestimmte Krisenzeiten wie Adoleszenz, Hochzeit, Tod aus sozialanthropologischer Perspektive zum Gegenstand nimmt. Schließlich ist die Frage nach der Liminalität mit Fragen nach sozialer Gemeinschaft verbunden. Am deutlichsten wird das bei Victor Turner, der von der Voraussetzung ausgeht, »dass die Entscheidung, ein Ritual auszuführen, sehr oft mit Krisen im Sozialleben der Dorfbewohner zusammenhing«. 20 Turner etabliert daher einen engen Zusammenhang von Liminalität und Communitas, zwischen Schwellenerfahrungen und Fragen der sozialen Ordnung, wobei er der Liminalität »das Zwischen18 Rolf Parr: Limina1e und andere Übergänge. Theoretische Modeliierungen von Grenzzonen, Norma1itätsspektren, Schwellen, Übergängen und die Zwischenräume in Literatur- und Kulturwissenschaft, S. 16 des vorliegenden Bandes. Rolf Parr sei an dieser Stelle für seine vielfältigen Anregungen zum Thema der Liminalität gedankt. 19 Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986, S. 49f. 20 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 2005, s. 17. 103

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stadium der Statuslosigkeit«21 zuspricht - jener Statuslosigkeit, die den Protagonisten von Kafkas Romanen auf so ausgezeichnete Art und Weise zukommt. Dass das Phänomen der Liminalität etwas mit literarischen Formen zu tun hat, deutet Turner selbst an, wenn er feststellt: Kann man den Schwellenzustand der Riten der Lebenskrisen vielleicht ein wenig kühn mit der Tragödie vergleichen - denn beide beinhalten Demütigung, Entblößung und Schmerz -, so kann man den Schwellenzustand der Statusumkehrung vielleicht mit der Komödie vergleichen, da beide mit spöttischer Nachahmung und Inversion, nicht aber mit der Vernichtung der Strukturrollen und ihrer übereifrigen Anhänger einhergehen.22 Die Aufgaben der Iiteraturwissenschaftlichen Liminalitätsforschung liegen dementsprechend darin, das Potential, das Theoretiker wie Benjamin oder Turner freigesetzt haben, zu nutzen, zum Beispiel bei der Frage nach der Überlagerung von Tragödie und Komödie und dem Einbruch karnevalesken Lachens im Werk Kafkas. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, auf der Grundlage der bisher skizzierten Konstellation vor allem auf die eingangs unterschiedenen Felder der Literalitätsforschung und der Dekonstruktion näher einzugehen, um von dort aus Möglichkeiten der Überschneidung mit dem Thema der Liminalität neu zu überdenken.

Das Medium der Schrift In seinen Überlegungen zum Tod des Autors in der modernen Literatur vertritt Roland Barthes einleitend die These, »que l'ecriture est destruction de toute voix, de toute origine«.23 Wie auch immer Barthes' Begriff der ecriture im Kontext einer strukturalen oder poststrukturalen Poetik gerrauer zu fassen ist: Mit den anthropologischen und soziologischen Literalitätsstudien, die Autoren wie Jack Goody, Eric A. Havelock und Walter J. Ong vorgelegt haben, scheint er kaum etwas gemein zu haben. Während Barthes mit dem Begriff der ecriture eine dezidiert avantgardistische Theorie und Praxis des literarischen Schreibens anvisiert, geht es der Sozialanthropologie um den historischen Übergang von oralen zu literalen Gesellschaften und damit um die Veränderungen, die die Schrift für die unterschiedlichen sozialen Systeme mit sich brachte. In seiner all21 Ebd., S. 97. 22 Ebd., S. 191. 23 Roland Barthes: »La mort de l'auteur«, in: ders.: Le bruissement de Ia Iangue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 63-69. 104

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gemeinen Bedeutung umfasst der Begriff der Literalität demzufolge alle sprachlichen und kulturellen Erscheinungsformen, die durch die Schrift in die Gesellschaft gekommen sind. Als Gegenbegriff zur Oralität meint Literalität eine Manuskript- und Inschriftenkultur, die auf der Speicherung und Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierten Formen basiert. Geht es der Literalitätsforschung demnach zunächst um die Aufarbeitung eines historischen Sachverhalts, um die Anfänge der Schriftkultur und die Schwelle zwischen oralen und literalen Gesellschaften, so überschneidet sich ihr Erkenntnisinteresse in diesem Punkt mit dem der Medienwissenschaft. Wenn es der Schrift vor allem um Speicherung und Weitergabe von Wissen geht, dann ist das Phänomen der Literalität Bestandteil einer übergreifenden Mediengeschichte, die durch die Stationen der Handschrift, des Buchdrucks und der elektronischen Speicherung gekennzeichnet ist: »Die Schrift, der Druck, die Computertechnologie -das sind Meilensteine der Technologisierungsgeschichte des Wortes«, 24 hält Walter J. Ong fest. Im Rahmen einer Mediengeschichte der Literalität erscheint das elektronische Zeitalter im Blick auf Telefon, Radio und Fernsehen im Unterschied zur primären Oralität, die die Personen betrifft, die Schreiben nicht kennen, zugleich als Zeit einer >sekundären Oralität>nous n'ayons pas l' ambition d'illustrer une nouvelle methode«, dass es ihm vielmehr um »des problemes de lecture critique«32 gehe. Die kritische Lektüre, die Derrida in der Grammatologie 31 Friedrich Sch1eiermacher: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 71. 32 Jacques Derrida: De 1a grammato1ogie, Paris 1967, S. 7. 107

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ankündigt, richtet sich vor allem auf »la question du texte, de son statut historique, de son temps et de son espace propre«. 33 Nicht historischempirische Veränderungen nimmt Derrida in den Blick, wenn er von Schrift spricht, sondern - das hat die Dekonstruktion gerade für die Literaturwissenschaft interessant werden lassen - Fragen des Textes. Anders als etwa bei Roland Barthes, der einen ähnlich emphatisch besetzten Begriff der ecriture vertritt, geht es Derrida jedoch nicht vorrangig um die Frage nach literarischer Textualität. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht vielmehr die Bedeutung der Konzepte Schrift und Text für die Philosophie und die Geschichte der Metaphysik. Die Ausgangsthese, die Derrida im Anschluss an Heidegger in der Grammatologie entwickelt, betrifft die Geschichte der Metaphysik als die von Anwesenheit und Wahrheit. Derrida zufolge geht es vor allem darum, dass »l'histoire de la verite, de la verite de la verite, a toujours ete, a la difference pres d'une diversion metaphorique dont il nous faudra rendre compte, l' abaissement de l'ecriture et son refoulement hors de la parole >pleine«produitOrigine< non-pleine, non-simple, l'origine structure et differante des differences. Le nom d'>Origine< ne lui convient donc plus. 45

Derrida geht es demzufolge nicht etwa um das Herausarbeiten emer Archi-Struktur der Sprache, sondern um eine Position, aus der heraus sich die Vergangenheit- in diesem Fall die Geschichte der Metaphysikals beständige Folge der Supplementierungen des Ursprungs ergibt, die die differance zu maskieren versuchen. Derridas Überlegungen zur Schrift stehen in der Tradition der Versuche zur Überwindung der Metaphysik, wie sie Nietzsche und Heidegger vorgelegt haben, so dass ein Brückenschlag zu empirisch und historisch ausgetichteten Formen der Schriftforschung fast unmöglich zu sein scheint. Gerade aus der Perspektive der Literalitätsforschung und ihrer Erweiterung durch die Medienwissenschaft hat Derridas Theorie daher einige Kritik erfahren müssen. Ein gängiger Vorwurf lautet, er habe »das Abhängigkeitsverhältnis der Schrift von der Sprache geradezu in sein Gegenteil verkehrt und einen zu engen Schriftbegriff eintauscht gegen einen viel zu weiten«. 46 Die Kritik richtet sich auf die scheinbare Überbietung des Gegensatzes von Oralität und Literalität durch den Begriff der Urschrift. Den Vorwurf, Derrida tausche einen zu engen gegen einen zu weiten Schriftbegriff, hat Albrecht Koschorke aus medientheoretischer Perspektive aufgenommen und weiter ausgeführt. Auch Koseharke konstatiert, Derrida »weitet den Begriff der ecriture über die Materialität des Mediums hinaus in Richtung auf eine allgemeine artikulatorische Struktur aus, die jeden Signifikationsakt, auch das Sprechen, erfasst«. 47 Koschorkes eigenes Interesse liegt daher darin, die Dekonstruktion in einer allgemeinen »Mediologie« aufzuheben, die deren Intentionen besser realisiere. Koschorkes Leitthese zur Kritik Derridas lautet, dass die dekonstruktive These der Schriftfeindschaft der Metaphysik »aus einem seinerseits schriftkulturell bedingten Phantasma«48 hervorgeht. Um seine These zu

45 Jacques Derrida: Marges de Ia philosophie, Paris 1972, S. 12. 46 Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 11. Zur Kritik an Derrida vgl. auch Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 170-190. Türckes ambitioniertes Projekt erscheint in mancherlei Hinsicht jedoch als von der Frankfurter Schule inspirierter Rückfall hinter die »neue« Kritik, die durch Autoren wie Derrida und Foucault repräsentiert wird. 47 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 327. 48 Ebd., S. 328. 111

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belegen, geht Koseharke auf Derridas Platonkritik zurück. Gegen die Auffassung der Schriftlichkeit, die die Dekonstruktion der Metaphysik unterstellt, macht Koseharke - in diesem Punkt eher in Übereinstimmung mit den Forschungsergebnissen von Havelock - geltend, dass Platons Kritik an der Schrift selbst auf einer Logik des Literaleu beruht: »Alles spricht dafür, dass die ldee der entkörperten Stimme [ . . . ] ein Schrifteffekt ist.«49 Koseharke wirft Derrida daher vor, durch die strikte Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit eine Selbstpräsenz der Stimme vorauszusetzen, die er eigentlich dekonstruieren möchte. Die unmittelbare Folge aus dieser Kritik besteht in der Überführung der Dekonstruktion in eine Mediologie: Eine Mediologie nach diesem Verständnis hat nicht das Problem, den Nachweis zu führen, dass alle metaphysischen ldentitäten sich selbst durchkreuzen, weil es ihnen niemals gelingt, den semiotischen Verweisraum unter Kontrolle zu halten, aus dem sie begrifflich hervorgehen. Sie ist nicht vorrangig daran interessiert, Ursprungs-, Ganzheits-, Einheits- und Wahrheitsansprüche immanent philosophisch, wenn auch durch Abschreitung der logischen Ränder der Philosophie, in Zweifel zu ziehen. Ihr ist vielmehr an der Frage gelegen, wie solche Phantasmata [ ... ]positiv funktionieren und sich die Macht eines sozialen und technischen Realitätsprinzips aneignen können. Differentialität erscheint dann als ein Teilmoment auf dem Feld der durchaus gelingenden und kontrollierenden Zeichenverwendung, und das Erkenntnisziel besteht darin, ihre Systemstelle konkret zu bestimmen. 5° Koseharke vollzieht damit eine Überwindung der Dekonstruktion, die für sich in Anspruch nimmt, die Ziele derselben besser realisieren zu können: Es stellt sich also die Frage, ob die Dekonstruktion über ein hinreichendes Instrumentarium verfügt, um diejimktionalen Leistungen der Schrift im besonderen und von den Medien im allgemeinen erkennbar zu machen; oder ob man sie nicht gleichsam aus einer Vierteldrehung über sich hinaustreiben und aus ihrem Beharren im Bann einer negierten Metaphysik herauslösen muss, um zu einem genuin >mediologischen< Verständnis von Wirklichkeitskonstruktionen durch Zeichen zu kommen.5 1 Die Pirouette, die Koseharke mit der und über die Dekonstruktion hinaus dreht, um auf »eine unaufgeregte W eise« 52 zu ähnlichen Ergebnissen zu gelangen, schraubt sich in eine neue Höhe der Theorie hinauf. Ihr Name 49 50 51 52

Ebd., S. 339. Ebd., S. 345. Ebd. Ebd. 112

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ist nicht mehr Dekonstruktion, sondern Mediologie, ihr Ahnvater nicht mehr Derrida, sondern Luhmann. So luzide Koschorkes Kritik der Oekonstruktion aber auch erscheinen mag: Ihr Vorwurf, die Dekonstruktion setzte die Prämisse eines illiteraten Logos nur durch einen Akt der UrInskription, ist keine Kritik, sondern eine Bestätigung Derridas. Nichts anderes hatte dieser ja in der Grammatologie behauptet, wo er die archiecriture als jeder Unterscheidung von Oralität und Literalität vorgängige Instanz dargestellt hat. Die kritische Frage, der sich Koseborke stellen muss, ist daher die, ob die Frage nach dem positiven Funktionieren nicht hinter die »kritische Lektüre« zurückfällt, die Derrida propagiert hatte. Berechtigt ist sicherlich der Hinweis auf Derridas Zugehörigkeit zu einem spezifisch philosophischen Diskurs, die dieser allerdings auch nie geleugnet hat. Zu fragen wäre aber, ob und inwiefern das kritische Potential, das die Dekonstruktion der Philosophie in der Tradition von Nietzsche und Heidegger entfaltet, nicht auch auf Fragen des literarischen Diskurses auszuweiten wäre. Gerade Derridas eigene Überlegungen zum Problem der Schwelle im Werk Katkas und Celans etwa führen in eine Richtung, die sich mit dem Themenfeld der Liminalität zunächst zu decken scheint. Die Frage, inwiefern aus dekonstruktiver Perspektive gerade die Literatur ein geeignetes Objekt für die Verknüpfung von Literalität und Liminalität wäre, scheint daher einer der möglichen Ansatzpunkte des Forschungsprojektes zu sein.

Schriftkultur und Schwellenkunde Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Schriftbegriffen aus den Bereichen der Literalitätsforschung und der Dekonstruktion hat zunächst bestätigt, dass in beiden Fällen völlig unterschiedliche Schriftbegriffe vorliegen, die nicht einfach in Übereinstimmung zu bringen sind. Während Ethnologie und Sozialanthropologie das Verhältnis von Oralität und Literalität in einem geschichtlich-empirischen Sinne als Ausgangspunkt dient, demzufolge Literalität Oralität jederzeit voraussetzt, entwickelt die Dekonstruktion einen Schriftbegriff, der für sich in Anspruch nimmt, den Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit außer Kraft zu setzen, indem er ihn im Konzept der archi-ecriture geradezu auf den Kopf stellt. Die Frage, die sich auf der Grundlage der derart miteinander unvereinbaren Schriftbegriffe stellt, ist die, ob und wie sie sich auf sinnvolle Weise mit dem Begriff der Liminalität in Verbindung bringen lassen. Die grundsätzliche Schwierigkeit, die dem Begriff der Liminalität im Unterschied zu dem der Literalität anhaftet, besteht in dem eingangs

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erörterten Problem, dass der Rede von Grenzen und Schwellen ein eher metaphorischer Charakter zukommt, der auf alles andere als auf begriffliche Eindeutigkeit zielt. Dennoch lässt sich auch im Falle der Liminalität eine relativ klare Differenzierung unterschiedlicher Ansätze und Zielrichtungen ausmachen. Rolf Parr unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen vier unterschiedlichen Modellen, die das Denken der Liminalität prägen: [e]rstens ein einfaches, eine dyadische Unterscheidung schaffendes Modell ohne Übergangszone als Grundmodell von Grenze [... ],zweitens eine Abwandlung des Grundmodells zu einer mit wie auch immer fungierenden Übergangszone [... ], drittens ein triadisches Modell mit Übergangszone und teleologischer Prozessialität [ ... ] und viertens ein triadisches Modell mit zwei Über-

gangszonen und permanenter, nicht konsequent auf ein Ziel hinauslaufender Prozessualität. 53 Das erste Modell zielt auf den Begriff der Grenze als klarer Trennungslinie ab, während die anderen Modelle aufunterschiedliche Art und Weise den Begriff der Schwelle anvisieren. Dabei entspricht das dritte Modell mehr oder weniger dem ethnologischen Liminalitätsdenken im Sinne van Genneps und Turners, das vierte Modell hingegen eher einem dekonstruktiven oder diskursanalytischen Ansatz, dem es darum geht, sowohl den scharfen Begriff der Grenze als auch den teleologisch ausgerichteten Schwellenbegriff Turners in eine Form der permanenten Krisenerfahrung zu überführen, auf die Derridas Erschütterung der Geschichte der Metaphysik ebenso abzielt wie Foucaults fiiihe, dem Werk Batailles abgelesene Theorie der Überschreitung. 54 Die Frage nach den möglichen Verschränkungsbereichen von Literalität und Liminalität kann demzufolge zunächst bei den Überschneidungen ansetzen, die sich aus dem Zusammenhang zwischen dem dekonstruktiven Schriftbegriff und dem Modell von Liminalität als Zone permanenter Prozessualität ergibt. Angesichts der grundlegenden Metaphorizität des Schwellenbegriffs sollte dabei allerdings deutlich geworden sein, dass es hier nicht um den Aufbau eines logischen Gerüsts geht, das in eine einheitliche Theorie führen könnte. Vielmehr handelt es sich gerade bei der Frage nach der Verschränkung von Literalität und Liminalität um die Vermessung eines Terrains, das ständig in Bewegung ist und sich logischen Grenzziehungen verweigert. Wenn deutlich geworden ist, dass den unterschiedlichen Schriftbegriffen der Literalitäts- wie den me53 R. Parr: Liminale und andere Übergänge, S. 47f. 54 Vgl. Michel Foucault: »Vorrede zur Überschreitung«, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 64-85. 114

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taphorischen Erklärungsmodellen der Liminalitätsforschung vor allem ein heuristischer Wert zukommt, dann lassen sich unterschiedliche Schnittfelder markieren, die das Interesse des Forschungsprojekts bestimmen können. Auf einer ersten Ebene, die zunächst nicht viel mehr als eine Analogie zwischen dekonstruktiven, diskursanalytischen und literarischen Verfahren zu verkörpern scheint, in ihrer Bedeutung jedoch nicht zu unterschätzen ist, rücken literarische und außerliterarische Texte in den Blick, in denen das Thema der Schwelle als Gegenstand wie als Konstituent der eigenen Form eine zentrale Rolle spielt, wie es zum Beispiel bei Franz Kafka oder bei Paul Celan der Fall ist. In diesem Zusammenhang stellt sich zugleich eine weitere grundsätzliche Frage, die den Kern des Forschungsprojektes betrifft: die nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Begriffen der Literalität und der Literarizität, dem Verhältnis von materieller Schrift und der Idee einer poetischen Funktion der Sprache, wie sie schon der Strukturalismus entworfen hat, sowie dem Phänomen der Buchstäblichkeit als Grundlage und Grenze des Verstehens von Texten. Damit rückt zugleich ein zweites Problem des Forschungsprojektes in den Blick, die Frage nach der geschichtlichen Bestimmung von Literatur im Blick auf den Zusammenhang von Prozessen der Verschriftlichung und Schwellenerfahrungen. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Ablösung starrer epochaler Zäsuren, die das literaturgeschichtliche Denken bis heute geprägt hat, durch eine Auffassung zu, die im Anschluss an Koselleck, Foucault und andere Geschichte als einen Prozess begreift, der sich durch zum Teillangdauernde Schwellenzeiten auszeichnet, die jede eindeutige Periodisierung fragwürdig machen.55 Erscheint Literatur im Kontext der Geschichte als eine besondere Form der schriftlichen Überlieferung, die nicht in allen Kulturen gleichermaßen zu finden ist- Walter J. Ong betont, dass Sprache ein vorherrschend orales Phänomen sei und dass von den vielen tausend Sprachen »nur ungefähr 78 eine Literatur«5o hervorgebracht haben -, so sind literarische Texte immer auch als transitorische Phänomene zu begreifen, die keine festen Anfangs- oder Endpunkte kennen, sondern Übergänge verkörpern, die selbst wiederum als Schwellen fungieren. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Einführung der neuen Medien in die Geschichte von einigen Theoretikern zugleich als Ende der Schrift gedeutet wurde. Das gilt nicht nur für die Me55 Vgl. Reinhart Herzog/Reinhart KoseHeck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, sowie Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985. 56 W. J. Ong: Ora1ität und Literalität, S. 15. 115

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dientheorie Marshall McLuhans, der das Ende der Gutenberggalaxis in Aussicht stellt, sondern auch für Vilem Flusser: Schreiben im Sinne einer Aneinanderreihung von Buchstaben und anderen Schriftzeichen scheint kaum oder überhaupt keine Zukunft zu heben. Es gibt mittlerweile Codes, die besser als die der Schriftsteller Informationen übermitteln. Was bisher geschrieben wurde, kann besser auf Tonbänder, Schallplatten, Filme, Videobänder, Bildplatten oder Disketten übertragen werden. 5 7 Das Ende der Schrift bedeute daher auch das Ende der Literatur: Der Buchdtuck, dieses selbstbewusst gewordene alphabetische Schreiben, katm als der selbstbewusst gewordene Ausdtuck des westlichen, geschichtlichen, wissenschaftlichen, fortschrittlichen Denkens angesehen werden. Die informatische Revolution macht den Buchdruck, das Alphabet und dieses Denken überflüssig.58 Flusser sieht die Kulturgeschichte nach der Literalität vor einer erneuten Zäsur, die mit dem Privileg der Schrift aufräumt. Schrift, das Medium, dem es selbst wesentlich um Speicherung historischer Daten geht, scheint dem Vergessen überantwortet. Wie auch immer Flussers wohlfeiler Abgesang auf das Zeitalter der Literalität zu beurteilen ist: Die informatische Revolution lässt sich selbst nicht als Ende, sondern als eine neue Kultur der Inskription beschreiben. Vor diesem Hintergrund öffnet sich im Schnittfeld von Literalität und Liminalität ein dritter, medientheoretisch und -historisch besetzter Raum. Scheint die Frage nach Medien schon von sich aus auf grundsätzliche Art und Weise nach einer Position des »Zwischen« zu zielen, da Medien selbst nichts anderes als transitorische Zwischenräume verkörpern, so wäre zum einen die grundsätzliche Funktion der Medien als fundamentale Zwischenräume in kulturellen Prozessen zu klären, zum anderen die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Formen sekundärer Oralität zu stellen, wie sie sich nicht nur im Blick auf Telefon, Radio und Fernsehen ergibt, sondern auch in Texten etwa von Louis-Ferdinand Celine, Rainhard Jirgl, Thomas Kling und anderen Autoren, die Oralität in der Schrift inszenieren, um sie zu dekonstruieren. Eine vierte Bedeutung, die der Zusammenhang von liminalen und Iiteraten Aspekten annehmen kann, liegt in der kulturwissenschaftlichen Frage nach Grenzregionen als Räumen, die von Schwellen und Über-

57 Viiern Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Frankfurt a.M. 1992, S. 7. 58 Ebd., S. 50. 116

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schreitungen geprägt sind. 59 In einem zunächst ganz vortheoretischen Sinn sind Grenzräume mit der Inszenierung kultureller Praktiken und Kontakte verbunden, die zu eigenen literarischen und medialen Transformationen fUhren. Das gilt in besonderer Weise für Räume, die von Phänomenen der Mehrsprachigkeit und der kulturellen Hybridität geprägt sind wie das Saarland, Luxemburg, aber auch Regensburg, das sich in seinem kulturellen Selbstverständnis als Brücke nach Südosteuropa zu erkennen gibt. Die Frage nach Formen kultureller Hybridität führt schließlich noch zu einer fünften Bedeutung, die der Zusammenhang von Literalität und Liminalität annehmen kann. Aus der Perspektive der gender-Forschung lassen sich kulturelle Schwellen zugleich zur Infragestellung scheinbar eindeutiger Geschlechtergrenzen nutzen, wie sie etwa in der Figur des Hermaphroditen vorliegt, dessen scheinbar monströse Existenz in philosophische, literarische und medizinische Diskurse auf gleichermaßen beunruhigende Weise eingegangen ist.fi0 Der Verschriftlichung und Aufhebung von Geschlechtergrenzen wie dem begleitenden Thema der Monstrosität in literarischen und außerliterarischen Texten nachzugehen, erscheint als eine weitere lohnenswerte Perspektive des Forschungsprojektes. Damit erhebt sich sicherlich ein Einwand, der die einleitende Frage nach dem Kern des Forschungsprojektes und dem Zusammenhang von Literalität und Liminalität wieder aufnimmt. Sicher stünde es einem Projekt, das sich in wesentlichen Teilen auf den Begriff der Schwelle stützt, schlecht an, allzu eindeutige Grenzziehungen vornehmen zu wollen. Die Heterogenität der hier vorgestellten Ansätze wie möglicher Arbeitsfelder aber scheint zunächst den Eindruck der Unbestimmtheit zu bestätigen, der mit dem Projekt verbunden ist. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, der dem Zusammenhang von Schrift, Literatur und Schwelle ein theoretisches Fundament geben könnte, wäre jedoch der falsche Weg. Die bisher noch ungenutzten Möglichkeiten der Literalitäts- und Liminalitätsforschung liegen vielmehr gerade in der mit ihrer begrifflichen Unbestimmtheit einhergehenden Breite, die es ermöglicht, literaturtheoretische, medienhistorische und kulturwissenschaftliche Ansätze unter einem Dach zu versammeln. Es wird daher eher von den konkreten Gegenständen als von einem theoretischen Konzept abhängen, welche Richtung ein Projekt nehmen wird, das nach dem Schriftcharakter literarischer Texte 59 Vgl. Rüdiger Gömer: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen 2001 , sowie Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie, Göttingen 2001. 60 Vgl. Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin, Frankfurt a.M. 1998. 117

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als Träger und Speicher kulturellen Wissens wie nach der literarischen Inszenierung der Schwelle als einem permanenten Zustand der Überschreitung gleichermaßen fragt, um Grenzen in ihrer vielfältigen Bedeutung nicht zu stabilisieren, sondern in einer kritischen Lektüre außer Kraft zu setzen.

Literatur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Barthes, Roland: »La mort de l'auteur«, in: ders.: Le bruissement de Ia langue. Essais critique IV, Paris 1984, S. 63-69. Benjamin, Wa1ter: Das Passagen-Werk. Erster Band, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982. Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas >Vor dem GesetzKafkas Urteil< und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002. Kafka, Franz: Briefe an Felice, Frankfurt a.M. 1976. Kafka, Franz: Der Proceß, Frankfurt a.M. 1994. Kierkegaard, Soren: Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf 1954. Koschorke, Albrecht Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2004. Lamping, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie, Göttingen 2001. Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a.M. 1986. Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987. Parr, Rolf: Liminale und andere Übergänge. Theoretische ModelIierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und die Zwischenräume in Literatur- und Kulturwissenschaft, im vorliegenden BandS. 11-63. Saul, Nicholas/Möbus, Daniel/Illner, Birgit (Hg): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher, Würzburg 1999. Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977. Türcke, Christoph: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 2005.

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Man kommt in eine unbekannte Stadt und schlendert durch die Straßen. Plötzlich findet man sich vor einem Bauwerk, etwa einer Kirche, die durch die edlen Proportionen, durch die Harmonie aller Teile, durch ihre Schönheit auffallt. Man erkennt in ihr, sagen wir: ein gotisches Monument, möchte aber gern mehr wissen. Und dann erfahrt man, daß es sich um einen Bau des 19. Jahrhunderts handelt. Man fühlt sich beschämt und ftihlt auf eine seltsame Weise den Boden unter den Füßen fortgezogen[ ... ]. [D]as ästhetische Erlebnis war fiir den modernen Betrachter offenbar nur ein Teil eines Gesamterlebnisses. Er glaubte in dem Werk eine Botschaft zu hören und hört nun eine Lüge. [ . ..] Er hat das Werk nicht nur als ästhetisches Gebilde genommen, sondern, so können wir mit einem Worte sagen, als Dokument. Oder das umgekehrte Beispiel. Man hört ein Gedicht. Es macht keinen großen Eindruck, es sagt einem wenig. Und dann erfahrt man, daß es von einem Dichter stammt, den man besonders schätzt. Liest man es nun noch einmal, so ist es fast ein anderes Gedicht geworden, obwohl sich kein Wort geändert hat. Es erscheint nun als vielsagend und gehaltvoll. Man empfindet es jetzt wieder in dieser Erweiterung: als Dokument, als Ausdruck eines Schöpfers. Das Erleben als Dokument ist ein Erleben des Individuellen und damit des Geschichtlichen. 1

Die beiden kleinen Anekdoten stammen, obwohl es um Wissen und Erkennen und die Unterscheidung von Monument und Dokument geht, nicht von Michel Foucault. Man findet sie in einem der erfolgreichsten deutschen literaturwissenschaftliehen Grundlagenwerke, in Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk aus dem Jahr 1948.2 Das »Doku-

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Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einftihrung in die Literaturwissenschaft, Bem 195 1, S. 22. Vermutlich haben sich beide gleichermaßen von Friedrich Nietzsche inspirieren lassen. Über den Begriff des Monuments ließe sich eine Verbindung zur Ästhetik des Erhabenen knüpfen. Und von dort aus ist es nicht weit zum Unbehagen an der Schriftkultur der Moderne, die nur noch Dokumente und Philologen kennt, die für das Historische und Konkrete zuständig 121

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ment« erscheint hier als Zentrum einer kulturellen Ordnung, die in den Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit als Iiterale bezeichnet wird. Wer von Literalität spricht, rechnet nicht mehr mit der Existenz von Monumenten. Nicht ohne dramatische Effekte beschreibt Kayser den Augenblick ihres Verlustes. 3 Als Monument ist auch die Schrift ein zwar lesbares, aber dennoch unzugängliches Zeichen. Sie ist die Form einer in sich ruhenden Identität, die uns als Ernpfarrger ihrer Botschaft entgegentritt. Ein Eminentes, würde Hans-Georg Gadamer sagen. 4 Zugleich bekennt Kayser den Sündenfall der Moderne: die kulissenhafte (historizistische) Täuschung durch ein identisches Doppel. Die Duplizierung ist nur möglich, weil das Monument als Form und nicht als Wesenheit genommen wird. Die Möglichkeit zur Dopplung, welche die Moderne bietet und fortlaufend steigert, so das Eingeständnis Kaysers, zwingt uns dazu, sämtliche kulturelle Artefakte einschließlich der Schrift als Dokumente wahrzunehmen. Um die Wahrheit von der Lüge unterscheiden zu lernen, müssen wir uns deren Regeln unterwerfen und noch einmal lesen, und noch einmal, ohne an ein Ende zu gelangen. Das Dokument ruft nach dem Philologen, der >wissen< muss, was er lieber erleben möchte. Von nun an gehört zum Monument die Melancholie wie zum Dokument die Pedanterie. In seiner Archäologie des Wissens argumentiert Michel Foucault entlang der Begriffe Monument, Dokument und Archiv genau umgekehrt, um den Philologen emeritieren zu können und auf dessen Stelle den Archäologen zu berufen. 5 Seine Definition des Dokuments entspricht derjenigen Kaysers. Doch danach enden die Gemeinsamkeiten, denn Foucault bestreitet den Erkenntnisgewinn philologischer Praxis, die Zeichen auf ein Anderes, wie beispielsweise das Erleben des Individuellen und damit des Geschichtlichen (Kayser), zurückzuführen. Genauer: Einen Text als Dokument zu behandeln, setze immer schon voraus, dass er »insgeheim auf etwas bereits Gesagtem beruht; aber dieses Gesagte wäre nicht einfach ein schon ausgesprochener Satz, ein schon geschriebener

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sind, und die Monumente und Philosophen, die Hüter des Überzeitlichen und Allgemeinen, vergisst. Diesen Faden möchte ich hier nicht aufnehmen. George Steinergreift dieses Thema in seinem Buch wieder auf. Vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990. Hans-Georg Gadamer: »Der >eminente< Text und seine Wahrheit«, in: Sprache und Linguistik 57 (1986), S. 6. Das ist Gegenstand des Aufsatzes von Renate Schlesier: »Archäologie und Philologie. Fußnoten zu Foucaults Projekt«, in: Klaus-Michael Bogdal/Achim Geisenhanslüke (Hg.): Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault, Heidelberg 2006, S. 25-36. 122

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Text, sondern ein >noch nie Gesagtesplötzliche< Wahrnehmung des Monuments der Vergangenheit angehöre. Foucault hingegen sieht in der unaufhebbaren Fremdheit und in der Feme die Möglichkeit einer angemessenen Wiederaneignung durch eine »immanente Beschreibung des Monuments«8 . Im ersten Teil meiner Darlegungen möchte ich die Frage stellen, ob die von der kulturwissenschaftlichen, meist sozio-anthropologisch ausgerichteten Literalitätsforschung entworfenen Konzepte von Literalität und literalen Gesellschaften9 nicht hinter den von Foucault in der Archäologie des Wissens erreichten Reflexionsstand zurückfallen, wenn sie den zivilisatorischen Fortschritt mit schriftinduzierten Erscheinungsformen des Gesellschaftlichen und kulturelle Entwicklung mit der Archivierung und Übermittlung durch das Schriftmedium weitgehend gleichsetzen.10 Im zweiten Teil möchte ich zwei Fälle des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit inmitten einer Gesellschaft betrachten, die als Gutenbergzeitalter bezeichnet und damit unzweideutig als literale epochalisiert wurde. Zunächst wende ich mich den Visionen der stigmatisierten Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick zu, die von Clemens Brentano zwischen 1819 und 1824 am Krankenbett verschriftlicht und ab 1833 veröffentlicht wurden. Danach werfe ich noch einen Blick auf ein Michel Foucault: »Über die Archäologie der Wissenschaften«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd.1, Frankfurt a.M. 2001, S. 887931, hier S. 897. 7 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 14. 8 Ebd., S. 15. 9 Über die Forschung informiert hervorragend Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt 2006. 10 Selbst bei dem meist präzise vom historischen Material her argumentierenden Walter J. Ong heißt es emphatisch: »Dennoch könnte das menschliche Bewußtsein ohne das Schreiben niemals seine Möglichkeiten voll entfalten und andere schöne und kraftvolle Schöpfungen hervorbringen. So gesehen muß aus der Oralität notwendig das Schreiben entstehen. Literalität, das werden wir noch sehen, ist unumgänglich für die Entwicklung nicht nur der Naturwissenschaft, sondern auch der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, für das erklärende Verstehen von Literatur und Kunst, sowie für die Erklärung der Sprache selbst (einschließlich der oralen Rede).« Vgl. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 22.

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anderes Unternehmen >auf der Schwelle der Schriftinfamen Menschen< im Jahre 1968 durch die Schriftstellerirr und Journalistirr Erika Runge in den mit einem Vorwort von Martin Walser erschienenen Bottroper Protokollen 11 • In beiden Fällen möchte ich erkunden, ob wir es mit Monumenten eines Anderen der Schriftkultur, das nicht geschrieben, sondern nur aufgeschrieben werden kann, oder mit Dokumenten ihrer Herrschaft zu tun haben, der selbst die Stimmen von ganz oben und ganz unten nicht entrinnen können.

Monument - Dokument - Literalität Wenn das Dokument »als Sprache einer jetzt zum Schweigen gebrachten [ ... ] Stimme« und »(a)ls deren zerbrechliche, glücklicherweise aber entzifferbare Spur«12 definiert werden kann, dann geht Literalität vollständig in der Surrune der Dokumente auf. »Eine Schrift ist nicht nur Vermittler, sondern auch Symbol einer Kultur«, 13 formuliert Florian Coulmas diesen Sachverhalt in seinem Essay Über Schrift. Daher ist sie, was die Eliten einer Gesellschaft betrifft, von hohem Identifikationswert. Die Doppelfunktion, Repräsentation eines Anderen und ihrer selbst zu sein, erhebt sie über das, was sie vermittelt, und entwertet die materiellen kulturellen Hervorbringungen, wie Peter Weiss in der A:~thetik des Widerstands nicht müde wird zu betonen. Die Wörter und die Dinge geraten aus dem Gleichgewicht. Das Dokument präsentiert einerseits nicht mehr als eine Sprachordnung: ein schlechtes Gedicht in Kaysers Beispiel. Es istjedoch zugleich die >UmschriftmemorisierenWieder-in-die-Hand-nehmen" 23 des Überlieferten in unterschiedlichen Situationen und zu verschiedenen Zwecken. Materialität meint nicht die Buchstäblichkeit der Schrift oder Schriftsysteme in der Terminologie der 17 Ebd. 18 Michel Foucault: »Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 300331 , hier S. 325. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 330. 21 M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 15. 22 Ebd. 23 So würde ich den Begriff übersetzen. 125

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Literalitätsforschung. Ebenso werden die >Möglichkeitsbedingungen< als materiale in den Blick genommen. Mit der Abkehr vom Geist der Interpretation und vom Buchstaben des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus kommen geschichtstheoretische Fragen der Darstellbarkeil von Zeit ins Spiel, die in den 1960ern unter den Stichworten Synchronie und Diachronie (bzw. System w1d Geschichte) debattiert wurden. Im Dokument, so Foucault, werde der nicht schließbare Abstand zum Vergaugenen ignoriert, während Monumente als Elemente von Diskursen betrachtet werden, »die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt; sie beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren«?4 Zur Untersuchung des Zusammenhangs von Monument und Dokument fuhrt Foucault den von ihm recht eigenwillig verwendeten Begriff des Archivs ein. Das Archiv bezeichnet bei ihm nicht ein kollektives Gedächtnis und seine Institutionalisierungen - von den Museen und Bibliotheken bis zu den Denkmälern und Gedenktagen. In seiner missverständlichen und daher nicht gut zu handhabenden Version bezieht er sich weniger auf Umfang und Ordnung überlieferter kultureller Artefakte als auf die ihnen zugrunde liegende »Gesamtheit der Regeln, die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft [ . ..] die Grenzen und Formen der Sagbarkeit, [... ] Aufbewahrung [... ], des Gedächtnisses [ ... ], der Reaktivierung [... ]« und »der Aneignung definieren [... ]«. 25 Dieser Schritt zurück vom Überlieferten zum Prozess der Überlieferung schafft erst jene Möglichkeit, um die es Foucault zuallererst geht: »das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens zu denken«? 6 Der Archivbegriff der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Literalitätstheorien hingegen zielt darauf ab, über die Verbindung von Schriftlichkeil und Kulturfortschritt das Eigene in der anderen Zeit zu denken. Statt auf Differenz und Kontingenz beruht er auf Identität und Kontinuität der Dokumente. Monumente führen »eine paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge«27 - als vergangene Ereignisse und als präsente Dinge. Diese Er-

24 M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 189f. 25 Michel Foucault: »Antwort auf eine Frage«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M., S. 859-886, hier S. 869f. 26 M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 23. 27 M. Foucault: Über die Archäologie der Wissenschaften, S. 902. 126

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scheinungsweise erlaubt es nicht, sie auf ein »System des Schreibens«28 zu reduzieren. Das Archiv umfasst Prozesse einer permanenten Transformation, der »zeitlichen Streuung« 29 und des ereignishaften Auftauchens von Diskursen, die Unterscheidungen wie die von Denken und Sprechen, Wörtern und Dingen und Rede und Schrift30 zwar nicht aufheben, sie jedoch als wandelbare Effekte historischer Wissensordnungen erscheinen lassen. Diese Unterscheidungen sind nicht leitend für die Analyse von Texten und Diskursen. Leitend wird eine Kategorie, die diesen Unterscheidungen vorausgeht. Wie die Gesellschaftstheorien der Modeme von Marx über Weber bis zu Luhrnann geht Foucault auf eine elementarere Ebene zurück. Wie eine Gesellschaft Güter und soziale Ordnungen schafft, so stellt sie »die Formation und Transformation des >GesagtenWortergreifung< schafft einen nicht-

76 Nur ein Beispiel: »Da wo der Kleine noch nicht war, bin ich ja früher gegangen, wenn mein Mann dann abends weg war, dann bin ich auch schon mal um 9 gegangen, Y:, l 0, aber so, jetzt komm ich erst immer um 11, Y:, 12 im Bett. Das ist jetzt jeden Abend. Man muß ja durchhalten.« (Erika Runge: Bottroper Protokolle, Frankfurt a.M. 1968, S. 48f.) 77 Michel Foucault: »Ich sehe das Unerträgliche«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, S. 247-255, hier S. 249f. 78 E. Runge: Bottroper Protokolle, S. 7. 79 Ebd., S. 9. 80 M. Foucault: Ich sehe das Unerträgliche, S. 249. 138

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intellektuellen Gegendiskurs. 81 So wünscht sich Walser »weitere von böser Erfahrung geschärfte Aussagen, weitere Seufzer, Flüche, Sprüche und Widersprüche, weitere Zeugnisse einer immer noch nach minderem Recht lebenden Klasse«. 82 Für Authentizität und Wahrhaftigkeit bürgen, das kann der versierte Schriftsteller und Essayist W alser schon in Heinrich Reines Rollengedicht über die Weber nachlesen, bei den unteren Schichten Seufzer, Flüche und gefletschte Zähne. 83 Die hier zur Wortergreifung Ermutigten haben allerdings, wenn sie sich ihrer Protokollanten entledigen konnten, auf ganz andere Weise ihre Stummheit überwunden. Sie suchten mit ungeheurer Anstrengung Eingang in die Schriftordnung zu finden: durch Bildungsarbeit, Flugschriften und Zeitungs- und Verlagsgründungen. Damit wird ein anderes Kapitel der Geschichte des Gesagten aufgeschlagen. 84 Es ist die Beherrschung der Schrift, welche die Sprachlosigkeit beendet und in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts als Erkennungsmerkmal der nach Gleichberechtigung strebenden, in der Kultur angekommenen Klasse gilt. Mit Hilfe der Schrift werden jene Erinnerungszeichen gesetzt, die über Herkunft, Identität und Legitimation Auskunft geben und die schon ftir die Herausbildung moderner Nationen konstitutiv waren. Die eigene Geschichte wird eben doch nicht nur, wie Marx behauptete, >gemachtHand-Schrift< einer selbst geschaffenen Literatur. Als Teil eines Diskurses verleiht sie der politischen Bewegung Kontinuität und Bedeutung. Im Unterschied zum prekären Status der Schrift bei Brentano oder in den Bottroper Protokollen ist es hier die kulturelle Dignität der Schriftordnung, die das Gesagte autorisiert und dessen Wahrheit bezeugt. An dieser Stelle schließe ich die Skizze zu einer Geschichte des Gesagten ab, um die eingangs gestellte Frage, ob nicht der Literalitätsbegriff nur von begrenzter Reichweite ist, mit Ja zu beantworten. Fünf Anhaltspunkte glaube ich gefunden zu haben. 81 »Und als die Gefangenen zu sprechen begannen, hatten sie selbst eine Theorie des Gefängnisses, der Strafordnung und der Justiz. Diese Art des Diskurses gegen die Macht, dieser den Gefangenen oder den so genannten Delinquenten gehaltene Gegen-Diskurs ist das, was zählt, und nicht eine Theorie über die Delinquenz« (ebd., S. 386). 82 E. Runge: Bottroper Protokolle, S. I0. 83 Heinrich Heine: »Die Schlesischen Weber«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. von Hans Kaufmann, Berlin 1961, S. 343f. 84 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen 1991. 139

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(1) Das Literalitätskonzept zielt auf eine menschheitsgeschichtliche Dimension und verspricht ein Modell kultureller Kontinuität. Während die Leitdifferenz von Oralität und Literalität auf makrohistorischer Ebene eine grobe und großräumige Epochengliederung ermöglicht, greift sie auf mikrohistorischer Ebene nur noch sehr bedingt. (2) Die Kultur einer Epoche geht nicht in Literalität auf. Sie ist ebenso durch materielle Hervorbringungen wie Reichtümer und Technik und nicht zuletzt durch soziale, wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse bestimmt, die über eigene Repräsentationsmöglichkeiten verfügen. Literalität ist nicht von universaler, sondern von sektoraler Bedeutung. (3) Auch in Kulturen mit elaborierten Aufschreibsystemen >gleitet< das Gesagte ständig zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin und her. Stimme und Schrift lassen sich nicht durch binäre Funktionszuschreibungen differenzieren, ihr jeweiliges Erscheinen wird durch die Sagbarkeitsregeln der unterschiedlichen historischen Diskursformationen - das »Archiv« in der Terminologie Foucaults - bestimmt. (4) Der Literalitätsbegriff stellt eine Zusammenhangskonstruktion dar, in der, wie in Wilhelm Diltheys Aufbau der geschichtlichen Welt 85 , die Welt der Schrift als ein Ganzes erscheint, als ein Zusammenhang, dessen Wirkung darin besteht, jedes Zeichen in ein kohärentes, entzifferbares, auf eine Quelle zurückführbares Dokument innerhalb eines sinnhaften Gesamtprozesses zu verwandeln, anstatt das Gesagte als (kontingentes) Ereignis zu nehmen, dem komplexe und unsichere Bedingungen zugrunde liegen. (5) Als eine kulturelle Größenfantasie verkennt das Literalitätskonzept die Grenzen des Aufschreibens. Schrift wiederholt und doppelt, übermittelt und speichert. Aber das noch nicht Gesagte, das Unerhörte, die Literatur, wird nicht geschrieben, sondern aufgeschrieben. Ohne diese Differenz gäbe es nur eine Grammatik und keine Poetik und Ästhetik - und keine Archäologie des Wissens.

Literatur Adam, Joseph: Clemens Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer, Freiburg i.Br. 1956. Bogdal, Klaus-Michael/Geisenhanslüke, Achim (Hg.): Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault, Beideiberg 2006.

85 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1970. 140

MONUMENT/DOKUMENT. VARIATIONEN ÜBER LITERALITÄT

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Foucault, Michel: »Die Sprache, unendlich«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 342-356. Foucault, Michel: »Diskussion über Dichtung«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 513-532. Foucault, Michel: »Nachwort«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd.1, Frankfurt a.M. 2001, S. 397-433. Foucault, Michel: »Über die Archäologie der Wissenschaften«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, s. 887-931. Foucault, Michel: »Die große Einsperrung«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 367-381. Foucault, Michel: »Die Intellektuellen und die Macht«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 382393. Foucault, Michel: »Erwiderung auf Derrida«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 347-367. Foucault, Michel: »Für eine Chronik des Arbeitergedächtnisses«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 497-499. Foucault, Michel: »Ich sehe das Unerträgliche«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 247-255. Foucault, Michel: »Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 300-331. Foucault, Michel: »Untersuchen wir die Gefängnisse. Zerbrechen wir die Gitter des Schweigens«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 215-222. Foucault, Michel: »Vorwort«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 491-497. Foucault, Michel: »Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 129165. Foucault, Michel: »Zur Geschichte zurückkehren«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 331-347. Frühwald, Wolfgang: Das Spätwerk Clemens Brentanos 1815-1842. Romantik im Zeitalter der Mettemichsehen Restauration, Tübingen 1977. Frühwald, Wolfgang: »Die Emmerick-Schriften Clemens Brentanos. Ein Versuch zur Bestimmung von Anlaß und literarischer Intention«, in: Engling u.a. (Hg.): Emmerick und Brentano (1983), S. 13-33.

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MONUMENT/DOKUMENT. VARIATIONEN ÜBER LITERALITÄT

Gadamer, Hans-Georg: »Der >eminente< Text und seine Wahrheit«, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 57 (1986), S.4-10. Gajek, Bernhard: C1emens und Christian Brentanos Bibliotheken. Die Versteigerungskataloge von 1819 und 1853. Mit einem unveröffentlichten Brief Clemens Brentanos, Beideiberg 1974. Gajek, Bernhard: »Der romantische Dichter und das Christentum. Clemens Brentanos religiöse Schriften«, in: Hartwig Schultz (Hg.): Clemens Brentano: 1778-1842. Zum 150. Todestag, Bern u.a. 1993, S. 109-131. Groth, Peter: »Die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick. 1774-1824. Eine Krankengeschichte im Zeitalter der Romantik zwischen preußischer Staatsraison und >katholischer Erneuerung>Unsere Zivilisation«, begann mit der »Zerschlagung einer magisch-religiösen Macht, wie sie in den assyrischen Großreichen bestand«. Deren Herrschaftsform, die der regierenden Kaste ein exklusives Wissen sicherte, »das den übrigen gesellschaftlichen Gruppen nicht vermittelt werden konnte und durfte«, findet ihr Echo noch in Sophokles' Ödipus- Tragödie, die zugleich vorführt, wie die alte »Verbindung zwischen Macht und Wissen verschwinden muss, damit die neue Gesellschaft entstehen kann«. Der »große abendländische Mythos«, seitdem, insistiert auf einem »unüberbtückbaren Gegensatz zwischen Wissen und Macht«. Die Wahrheit vermag der Macht entgegenzutreten, muss aber dafür selber der Macht entraten. Um Wahrheit zu sein und zu bleiben, kann und darf sie die Macht nicht wollen. Wie umgekehrt: »Wo Wissen und Wissenschaft zur reinen Wahrheit finden, da könne es politische Macht nicht geben« 14 - so jedenfalls entwickelte Foucault es Mitte 1973 10 11 12 13

M. Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 26f. DE II, S. 516 (Von der Archäologie zur Dynastik). DEI, S. 852 (Foucault antwortet Sartre). Didier Eribon: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998, S. 219. 14 DE II, S. 704f. (Die Wahrheit und die juristischen Formen). 148

FOUCAULTS ONTOLOGIE DER LITERATUR

in einer Vortragsreihe an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro und nannte die verdrängte »Beziehung zwischen Macht und Wissen« (gegen Freuds Reduktion des Themas auf das individuelle Begehren) den kollektiven und eigentlichen »Ödipuskomplex in unserer Gesellschaft«. 15 In diesen Jahren während und unmittelbar nach seiner Berufung ans College de France tritt dergestalt der berüchtigte engagierte Intellektuelle in Foucault hervor. Theoretisch laboriert er am Nachweis, dass keine Macht ohne Wissen und kein Wissen frei von Macht, sondern immer und überall von ihr durchdrungen ist. Praktisch unternimmt er das Experiment, entsprechende politische Konsequenzen aus der eigenen theoretischen Arbeit zu ziehen. Sein erstes Aufsehen erregendes Buch behandelte die Geschichte des Wahnsinns; jetzt bezieht er Position für die Bewegung der Anti-Psychiatrie. 1971 gründet er die »Graupe d 'information sur les prisons« (G.I.P.); 1975 erscheint Überwachen und Strafen. Darüber hinaus gibt er zahlreiche Interviews, die zugleich die Rolle des Intellektuellen - und sein Engagement - erfüllen und hinterfragen. Philosophie, schreibt er während seines Aufenthalts in Brasilien für eine dortige Zeitung, sei für ihn »eine Art radikaler Journalismus«. 16 Gleichzeitig leugnet er jede philosophische Ambition, er sei Historiker. Aber wofür publiziere er dann? Für wen schreibe er dann seine Bücher? Sollte es ihm am Ende doch mehr darum zu tun sein, ein akademisches Monument zu errichten? Keineswegs, sagt Foucault: »Alle meine Bücher[ ... ] sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten.« 17 Dagegen sei er »schockiert bei dem Gedanken«, ihm werde am Ende »ein Werk« nachgesagt: 18 »Schreiben reizt mich nur in dem Maße, wie es sich in der Wirklichkeit eines Kampfes verkörpert, als Instrument, Taktik oder Beleuchtung. Ich möchte, daß meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und daß sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche zerfallen.« 19 Mit anderen Worten, im Querschnitt betrachtet, lassen die mittlerweile gesammelten Dits et Ecrits einigermaßen deutlich erkennen, wie Foucault das Spiel eines privilegierten Sprechens spielte- eines, das sich die Freiheit einer Professur am College de France nur geben ließ, um sich diese Freiheit dann auch zu nehmen. Er sei ja, ist ein wiederkehrendes Thema, gar kein wirklicher Professor, am College müsse man nur seine wenigen Vorlesungen halten, sonst nichts, und im Grunde könne man sagen, er habe stets nur »an der äußeren Grenze« der Macht wie des Wis15 16 17 18 19

DEII,S.688(ebd.). OE II, OE II, OE II, OE II,

S. S. S. S.

541 (Die Welt ist eine große Anstalt). 887 (Von den Martern zu den Zellen). 895 (Auf dem Präsentierteller). 894 (ebd.). 149

BERNHARD

J. DOTZLER

sens agiert. 20 Ebenso, erklärt er an anderer Stelle, könne man freilich auch sagen, er sei »darin geboren« worden. Nur das habe ihm seinen Weg beschert. Wird nicht so einer wie ich, der zum Kleinbürgertum der Provinz gehört[ ... ], im Wissen aufgezogen, erhält der nicht das Wissen mit der Muttermilch? Und schon vor der Volksschule? Ein ganzes Milieu, in dem die Regel für das Dasein und für das Vmankommen im Wissen bestand; darin, ein wenig mehr als der andere zu wissen [ ... ]. Ich bin nicht zum Wissen gekommen, ich bin immer im Wissen gewesen; ich habe darin geplanscht. 21 Wie aktuell Foucaults Handreichungen nach wie vor sind, springt an Aussagen wie diesen unmittelbar ins Auge. Schon 1970 registrierte er in der Genetik »die größte Umwälzung des Wissens, die sich um uns herum vollzieht«. 22 Und wenn er wieder und wieder betont, dass eben solche Umwälzungen das Entscheidende sind-: »Was an einem Punkt des Wissens geschieht, findet heute stets und sehr schnell seinen Niederschlag und seinen Widerhall an anderen Punkten des Wissens. Und in diesem Sinne glaube ich, das Wissen war zwar niemals so spezialisiert wie heute, aber es kommunizierte auch niemals so schnell mit sich selbst« 23 - , wer, wenn nicht die inzwischen so viel beschworene Wissensgesellschaft, hätte auf solche Worte zu hören? Jenseits fertiger Aktualitäten sind solche Formulierungen aber vor allem deshalb memorierenswert, weil Foucault mit ihnen eine »kritische Arbeit« verband, als deren Vorbild weiter die Literaturkritik firmierte. »Daß die Würfel uns regieren«, 24 entnahm er also zum Beispiel der Botschaft der neuen Biologie. »Der Dämon zeigt seinen Würfel«, fand er zur gleichen Zeit als Zeile des weniger delirierenden als vielmehr die Delirien seiner Zeit aufwirbelnden Sprachhistorikers Brisset. »Verkehrt man die Silben in demon, erhält man mon de = mien dieux: mein Würfel = mein Gott.« 25 Ähnlich lässt sich mit dem Ausdruck en societe spielen. »En seau sieds-te, en sauce y etait; il etait dans la sauce, en societe. Setz dich in den Eimer, in der Sosse war er; er war in der Sosse, in Gesellschaft.«26 Auch das verstand Foucault aus seiner Wissensgewissheit um 20 21 22 23 24 25

DE II, S. 812 (Wahnsinn, eine Frage der Macht). DE II, S. 971 (Eine Durchleuchtung von Michel Foucau1t). DE II, S. 127 (Wachsen und vetmehren). DE I, S. 853 (Foucault antwortet Sartre). DE II, S. 124 (Wachsen und vermehren). DE II, S. 18f. (Sieben Thesen über den siebten Engel); vgl. für die Wortspiele das rrz. Original, hier nach: Michel Foucault: Septpropos sur Je septieme ange, Paris 1986, S. 15. 26 DE II, S. 20 (ebd.); Orig. S. 19. 150

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die feinnervige Korrelation allen Wissens zu machen. Mitten in der Sprache, in der Rede selbst fand er zur Gesellschaft, zur Politik. »Hinter den Wörtern unseres Wörterbuchs gilt es nicht nach morphologischen Konstanten zu suchen, sondern nach Aussagen, Fragen, Wünschen, Befehlen«/7 resümierte er die Lehre Brissets. Und noch in einem Interview von 1982, nach einer weiteren theoretischen Neuausrichtung seiner eigenen Untersuchungsanordnungen also, erinnerte er an den- allgemein abnehmenden, für ihn aber bleibenden- Wert der Literatur bzw. Literaturkritik: Es ist gerade die Funktion der kritischen Arbeit, die [heute] vergessen ist. In den ftinfziger Jahren war die Kritik bei Blanchot, bei Barthes eine Arbeit. Ein Buch lesen, über ein Buch sprechen, das war eine Übung, der man sich in gewisser Weise für sich selbst hingab, zum eigenen Nutzen, um sich selbst zu verändern. Gut über ein Buch zu sprechen, das man nicht mochte, oder zu versuchen, mit genügend Distanz über ein Buch zu sprechen, das man zu sehr mochte, alldiese Mühe bewirkte, daß von Schreiben zu Schreiben, von Buch zu Buch, von Buch zu Artikel etwas weitergegeben wurde. Was Blanchot und Barthes in das französische Denken eingeftihrt haben, ist beachtlich gewesen. 28 Ersichtlich ist auch dies nur eine der Fiktionen Foucaults, Idealisierung im Dienst seines letzten Projekts, nicht die Macht, sondern das Subjekt in seinem Selbstverhältnis zu analysieren. 29 Aber es beweist, dass die Erfahrung der Literatur nicht nur in der Periode des frühen Foucault eine entscheidende Rolle spielt. Als »Erfahrung« definiert- erst- der späte Foucault die »Korrelation«, »die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht«. 30 Aber von Anfang an bezeichnet er mit ehendiesem »neutralen Wort« in ehendiesem Sinn die »Sache«, der die literarische Sprache »stattgibt«/ 1 wie er sagt: »Das Problem der Dichtung ist ein Problem der Erfahrung.« 32 Für diesen Anfang ist die Rolle der Literatur bekannt: Durch sie stößt Foucault zunächst auf die gegen das »Geplapper der Psychologen« 33 gerichtete »Frage nach den wirklichen Ursprüngen des Wahnsinns«34 . Durch sie treibt es ihn dann zu der 27 DE II, S. 21 (ebd.). 28 Zit. nach: D. Eribon: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, S. 221. 29 Vgl. DE IV, S. 269 (Subjekt und Macht). 30 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit II. Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M. 1986, S. 10. 31 DE I, S. 385 (Distanz, Aspekt, Ursprung). 32 DE I, S. 518 (Diskussion über die Dichtung). 33 DEI, S. 266 (Das »NeinGegendiskurs< durch eine historische Diskursanalyse der Literatur als einer Institution unter vielen«, 38 so mag sie durchaus eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen können. Nichtsdestoweniger ist die Überpointierung dieser Verlagerung wohl nur von einigen späteren Selbstaussagen Foucaults in die Irre geführt. Die Literatur, unterstreicht er noch 1970, sei der Ort, »an dem unsere Kultur einige Grundentscheidungen getroffen hat«. 39 Plötzlich dann, 1973, findet man das erklärte Desinteresse an der »institutionalisierte[n] Schriftstellerei in Form von Literatur«, 40 wie zuletzt, 1983, den lapidaren Hinweis: »Ich bin überhaupt kein Literaturkritiker, ich bin kein Literaturhistoriker.«41 35 36 37 38 39 40 41

OE I, S. 981 (Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch). DE I, S. 70 I (Ist der Mensch tot?). DEI, S. 715 (Er war ein Schwimmer zwischen zwei Worten). M. Stingelin: Foucault-Lektüren, S. 384. DE II, S. 132 (Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft). OE li, S. 514 (Von der Archäologie zur Dynastik). OE IV, S. 744 (Archäologie einer Leidenschaft). 152

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Dem korrespondiert, dass Foucault, wie erwähnt, eher als politischer Aktivist in Erscheinung trat, kaum dass er ans College de France berufen worden war, diesen zugleich zentralen wie exterritorialen Hort des Wissens. Sein ganzes Werk- und nicht etwa nur die beiden historisch-politischen Monographien, die in diesen Jahren Furore machten: Überwachen und Strafen (1975), Sexualität und Wahrheit (1976)- erklärt er nun zu einem Versuch, »Kämpfe, Kraftlinien, Konfrontationspunkte und Spannungen« aufzuspüren. Die »Wette«, sagt er, »besteht darin, einen wahren Diskurs fuhren zu können, der zudem strategisch wirksam ist«, und selbst die Archäologie des Wissens firmiert nun nicht mehr als der >discours de la methodeRevolutionsmodell»Gesetzmäßigkeit< [ ... ],wonach[ ... ] aus der blinden Begeisterung stets die Tyrannei hervorgeht« - interessierte 42 43 44 45

OE III, OE III, OE III, OE III,

S. S. S. S.

39-42 (Fragen an Michel Foucault zur Geographie). 894 (Das mythische Oberhaupt der Revolte im Iran). 987f. (Nutzlos, sich zu erheben). 951 (Pulverfass Islam). 153

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sich Foucault daher für die Tatsächlichkeit und (wie eine seiner Leitvokabeln dieser Jahre lautet) die »Intensität« der weltverändernden Kraft: »Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache. Auf diesem Wege gelangt die Subjektivität (nicht der großen Männer, sondern jedes beliebigen Menschen) in die Geschichte und haucht ihr Leben ein.«46 Die Reportagen aus dem Iran sollten in diesem Sinne »Feldforschung« sein. Der Corriere della sera hatte ihn um eine regelmäßige Kolumne gebeten. Foucault aber lieferte stattdessen diese, wie er es nannte, »Ideenreportagen«. Es gebe, begründet er seinen Entschluss, mehr Ideen zwischen Himmel und Erde, »als die Intellektuellen sich träumen lassen«, und diese Ideen seien »aktiver, stärker, hartnäckiger und leidenschaftlicher, als die Politiker es sich vorzustellen vermögen«. Deshalb regierten sie zwar noch lange nicht die Welt. Aber die Welt werde umgekehrt doch auch nicht einfach von ihren Regenten beherrscht. Wo Ideen »entstehen, sich bewegen, verschwinden oder wieder auftauchen und den Menschen wie auch den Dingen Stöße versetzen«, dort ereigne sich Realität - und dort gelte es, theoretisch wie praktisch anzusetzen, für »Untersuchungen zu hochaktuellen Themen« nicht anders, als wenn es um Geschichte geht. 47 Denn auch als Historiker wandte Foucault sich zur selben Zeit einem Typus von Dokumenten zu, die er unter dem Gesichtspunkt ihrer »Intensität« für bemerkenswert hielt, und mit denen »die Literatur« verändert, aber unvermindert wieder auf dem Plan erscheint. Viele, gemahnt eine Interview-Frage ihn an die früheren Jahre, seien vor allem wegen seiner geheimnisvoll-schönen Schriften zur literarischen Moderne zu FoucaultLesern geworden. 48 Und er bestätigt sogleich, wie grundlegend etwa Klossowski, Bataille und Blanchot fiir ihn waren. Doch die glühendsten Liebeserklärungen Foucaults gelten nun anderen Autoren, anderen Fabeln. Da ist Eugene Sue, dessen »zu höchster Intensität gesteigertes Wissen«49 er preist. Da sind das Memoire des Pierre Riviere und die Erinnerungen des Hermaphroditen Herculine Barbin. Und da sind die »Novellen« ohne Autor, die Foucault in den Archiven des Höpital general und der Bastille entdeckte und unter dem Titel Das Leben der infamen Menschen zu einer »Anthologie von Existenzen« versammeln wollte (aber dann doch nie versammelt hat). »Leben von wenigen Zeilen oder wenigen Seiten, zahllose Unglücke und Abenteuer, zusammengefasst in einer Handvoll Wörter. Kurze Leben, denen man im Zufälligen von Büchern und Dokumenten begegnet war«, so benennt Foucault ihren Inhalt: 46 47 48 49

OE III, S. 990f. (Nutzlos, sich zu erheben). OE III, S. 885f. (Die »ldeenreportagen«). Vgl. OE III, S. 724ff. (Die Bühne der Philosophie). OE III, S. 633f. (Eugene Sue, wie ich ihn liebe). 154

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Der Ausdruck >Novelle< dürfte meines Erachtens als Bezeichnung gut passen aufgrund des darin angezeigten Doppelbezugs: auf die Schnelligkeit der Erzählung und auf die Wirklichkeit der berichteten Ereignisse; denn das Gesagte ist in diesen Texten so sehr zusammengedrängt, dass man nicht weiß, ob die Intensität, die sich durch sie hindurchzieht, mehr am Eklat der Wörter oder an der Gewaltsamkeit der Taten hängt, die sich in ihnen drängeln. Nicht so sehr im ästhetischen Sinn »wirklichkeitsgetreue« Texte sollten es sein, »sondern Texte, die in diesem Wirklichen, von dem sie sprechen, eine Rolle gespielt haben«. Nichts, was auch nur entfernt an »Imagination oder Literatur« hätte erinnern können, hätte von daher in dieser Anthologie etwas zu suchen gehabt, so Foucault, der gleichwohl von »sonderbaren Dichtungen« spricht und damit gerade in der Abwehr des Literarischen den schönsten Beweis dafür liefert, wie sehr die Poesie der Wörterwelt nach wie vor seine Leidenschaft ist. 5° Nicht anders zeigt es sich schließlich vor dem Hintergrund der letzten Verschiebung der theoretisch-historischen Neugier Foucaults, seiner Hinwendung zur »Ästhetik des Daseins«, zu den »Künste[n] des Selbst«, zur Ecriture de soi. 51 Weniger denn je mit Selbstdeutungen geizend, geht er die ganze Reihe seiner Bücher nun daraufhin durch: Die Hisfaire de Ia jolie, die Naissance de la clinique, Les Mots et !es Choses, L 'Archeologie du savoir, Surveiller et Punir, alle heißen sie nun Versuche einer »historischen Ontologie unserer selbst«52 , Versuche, »die Konstitution des Subjekts zu analysieren« 53 . Und es ist oder war sein ungeplant letzter Coup, diese hierbei erfolgende Selbstmonumentalisierung, gipfelnd in einem Artikel, der schlicht Foucault überschrieben ist. Man hatte seinen Assistenten gebeten, den ihm gewidmeten Eintrag ins Dictionnaire des philosophes zu verfassen. Davon in Kenntnis gesetzt, übernahm Foucault die Aufgabe kurzerhand selbst. Die Wahl des so durchsichtigen wie operettenhaften Pseudonyms »Maurice Florence« verleiht der schulbuchgerechten Präsentation eines »allgemeinen Projekts von Michel Foucault«54 lediglich einen Hauch von Ironie. Aber Ironie wäre gewiss auch das falsche Signal gewesen. Nicht Ironie, sondern gerade die kaum verhohlene Selbst-Darstellung erzeugt hier ebenso viel Distanz, wie sie die Abwehr jeder Art von Gefolgschaft bedeutet: Der Assistent sollte sich nicht mit einem Schüler seines Professors verwechseln müssen. Im Grunde, nur gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen, spielt die pseudonyme Ausstel-

50 51 52 53 54

OE III, S. 310-314 (Das Leben der infamen Menschen). OE IV, S. 503 (Über sich selbst schreiben). DE IV, S. 759 (Zur Genealogie der Ethik). DE IV, S. 778 (Foucault). DE IV, S. 782 (ebd.). 155

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lung des eigenen Namens dasselbe Spiel wie das anonyme Auftreten als »philosophe masque«, das Foucault wenige Jahre zuvor zur Bedingung gemacht hatte, als Le monde ihn um ein Interview bat. Foucaults Foucault trägt unmittelbar vor, was er gedacht und zu denken gegeben haben will, und so hofft auch Der maskierte Philosoph zuerst und zuletzt auf die Unmittelbarkeit seiner Rede. Wozu sich fragen, was einen Foucault bewogen haben könnte, dies oder jenes zu sagen? Genügt es nicht, ernst zu nehmen, was er tatsächlich sagte und sagt? Er träume, erläutert Foucault in diesem Zusammenhang, von einer Kritik, »die nicht zu urteilen versucht, sondern einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zum Dasein verhilft«. 55 Faktizität wäre damit der erste von drei Begriffen, auf die man den Einsatz seiner Schriften vielleicht bringen kann, so unbeholfen dergleichen Schlagworte sind. Experimentalität hieße der zweite, Aktualität der dritte. Sowohl die großen Abhandlungen als auch die Gelegenheitsäußerungen, die systematisierenden Vorträge ebenso wie die Miniaturen zu Wagner, Syberberg, Boulez und anderen - sie alle sollen die »experimentelle Haltung« 56 beweisen, die allein, wie Foucault jetzt erklärt, dem Unternehmen der »Aufklärung« seinen Anhalt und sein Ziel verleiht. »Was ist Aufklärung?«, lautet die Frage, mit deren Wiederaufnahme Foucault seine Wegbegleiter nicht weniger überraschte als mit seiner Hinwendung zum Subjekt. Und die Antwort, eher schon wieder typisch: Aufklärung sei historische Arbeit, die sich »an der Realität und der Aktualität« erprobt; Aufklärung sei die Aufgabe, »>heute< als Differenz in der Geschichte« erfahrbar zu machen, als »ein[en] Tag wie alle anderen« und zugleich »ein[en] Tag, der niemals so wie die anderen ist«. 57 In einem frühen Radiovortrag spricht Foucault von den Träumen als zivilisatorischem Elixier, das verhindert, dass Polizeistrukturen den Mut der Menschen zu Abenteuern ersticken.58 Einer Drucklegung dieses Vortrags hat Foucault erst 1984 zugestimmt. »Werkzeuge« einerseits wie eben »Träume« andererseits hießen ihm inzwischen seine eigenen Schriften. »Rezepte« sollen es nicht sein, »weder fur mich noch fur sonst jemand«, 59 sagt er, und als ihm bald darauf eine englische Übersetzung 55 DE IV, S. 132 (Der maskierte Philosoph). 56 DE IV, S. 703 (Was ist Aufklärung?); s.a. S. 717 (Politik und Ethik). 57 DE IV, S. 694 (Was ist Aufklärung?) u. S. 544 (Strukturalismus und Poststrukturalismus).

58 Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge [ 1966], Frankfurt a.M. 2005, S. 9-22, mit der 1967 überarbeiteten und 1984 im Druck veröffentlichten Fassung: DE IV, S. 931-942 (Von anderen Räumen).

59 DE IV, S. 53 (Gespräch mit Ducio Trombadori). 156

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seines Rousse/-Buches von 1963 die Gelegenheit gibt, sich an diese Untersuchung, »als ich recht jung war«, zu erinnern, führt er noch einmal aus, was ihm die eigenen wie alle Schriften generell bedeuten. Weniger ihre Lehre interessiert, als vielmehr die schlichte Tatsache, dass es sie gibt: Es geht um das Interesse, das ich, den Diskurs betreffend, nicht so sehr der Sprachstruktur, die diese oder jene Reihe von Äußerungen möglich macht, sondern der Tatsache entgegenbringe, dass wir in einer Welt leben, in der es gesagte Dinge gegeben hat. Diese gesagten Dinge, eben in ihrer Wirklichkeit als gesagte Dinge, sind nicht, wie man mitunter allzu sehr anzunehmen geneigt ist, eine Art Windhauch, der vorübergeht, ohne Spuren zu hinterlassen, sondern in Wirklichkeit haben sie, so winzig diese Spuren auch sein mögen, Bestand, und wir leben in einer Welt, die ganz mit Diskursen, das heißt mit Aussagen durchzogen und durchwirkt ist, die wirklich ausgesprochen wurden, mit Dingen, die gesagt wurden, Behauptungen, Fragen, Diskussionen usw., die aufeinander folgten. Eben insofern kann man die geschichtliche Welt, in der wir leben, nicht von all den diskursiven Elementen abtrennen, die diese Welt bewohnten und noch bewohnen. 60 So bleibt, um zu resümieren, dies die Herausforderung: »Sprache und Diskurs spiegeln nicht die Welt wider. Sie sind Teil der Welt. Aber umgekehrt hat die Welt ihre Nervatur in dem, was in ihr über sie gesagt wird.« 61 Die Literatur macht hiervon keine Ausnahme. Sie kennzeichnet nur, was Foucault ihre »Selbstimplikation« genannt hat. Literatur ist die Emphase des Gesagtseins als solchem: sprachliche Realität, die »sich weder durch das definiert, was sie sagt, noch durch die Strukturen, die sie mit Bedeutung versehen«, sondern dadurch, »dass sie ein Sein hat und dass man sie auf dieses Sein hin befragen muss«. 62 Mit und in dieser Eigenschaft ermöglicht sie in besonderer Weise die Erfahrung der Endlichkeit des Diskurses. In ihrem Selbstbezug tritt die Literatur zwar als eine Sprache in Erscheinung, die durch Verdopplung die Endlosigkeit und durch diese Endlosigkeit sogar Unendlichkeit für sich beansprucht, doch ist gerade dieses Auftreten eine historisch ereignishafte, begrenzte (limitierte), kontingente, singuläre Figuration. 63 Gerade am Teilbereich des Diskurses, der in unserer Kultur als Literatur ein- oder ausgegrenzt worden sein wird, lassen oder ließen sich daher die Kräfte exemplarisch studieren, die - ob als Wissen, als Macht oder als Subjektivität, ob Grenzen

60 61 62 63

DE IV, S. 738 (Archäologie einer Leidenschaft). DE IV, S. 1027 (Zur Publikation der Nietzsche-Gesamtausgabe [1967]). DEI, S. 549 (Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes). Vgl. DEI, S. 342-356 (Die Sprache, unendlich). 157

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ziehend oder grenzüberschreitend - auf ihn einwirken und auf die er selber wirkt. Exemplarisch heißt indes nicht paradigmatisch, und schon gar nicht, sobald der Diskurs nicht nur in sich, sondern zudem - »in seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding«64 - durch das Moment konkurrierender Medien als limitiert zu begreifen ist. Vor eines Roland Barthes', eines Jacques Derridas Universalisierung des Text- bzw. Schriftbegriffs als der angeblichen »Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben«, 65 wusste Foucaults Diskursbegriff sich noch zu wappnen. Mit Blick auf das, was materialiter nicht Diskurs ist, neigte er jedoch zu kaum einer anderen Geste. »Diskurs als Schlacht und nicht Diskurs als Widerspiegelung«, insistiert beispielsweise der Kommentar zu einem Film über das Redeverhalten in den Vorstandsetagenführender Industriekonzerne: »Der Diskurs ist für das Kräfteverhältnis nicht nur eine Einschreibungsfläche, sondern ein Operator.« Das - zugegeben - mag den Inhalt dieses Films durchaus auf den Punkt bringen. Als optisches Medium bezieht er jedoch mehr und anderes als nur die Macht der Wörter ein, und so kommt Foucault dazu zu sagen, dass nicht nur das Gesagte zählt. Der Film zeige an, dass der Diskurs nicht für die Gesamtheit der Dinge gehalten werden darf, die man sagt, und auch nicht für die Art und Weise, wie man sie sagt. Der Diskurs ist ganz genauso in dem, was man nicht sagt, oder was sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt.66 In all dem mag der Diskurs - unausgesprochen und sprechend zugleich vorhanden sein, insofern auch im Film (einmal ganz abgesehen von dessen tatsächlich redesprachlichen Anteilen). Aber der Film selber ist nicht Diskurs, und dieses Nichtdiskursive entzieht sich dem Versuch, diskursanalytisch über den Diskurs hinauszukommen. Hier hat die Erfahrung der Literatur, exemplarisch wertvoll, aber nicht paradigmatisch verwertbar, ihre Grenze. Die Unterscheidung des Literarischen vom Nichtlitera64 M. Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 6. 65 Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1982, S. 53f. Vgl. dazu (gegen Den·ida) DE II, S. 330 (Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer), und dazu wiederum: Friedrich A. Kittler: »Diskursanalyse versus Literatul'\vissenschaft«, in: ders./Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literatui'\Vissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 20-43, hier S. 33. 66 OE III, S. 164f. (Der Diskurs darf nicht gehalten werden ftir ... ), über: La voix de son maitre, R: Gerard Mordillat, Nicolas Philibert, F 1978/1979 (Erstausstrahlung: 1991). 158

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rischen zieht eine Trennlinie innerhalb des Diskurses; das berüchtigte, 1968 geläutete »Sterbeglöcklein fur die Literatur« 67 galt lediglich der Aufhebung dieser Trennung. Das Diskursive und das Nichtdiskursive medientechnischer Art dagegen ist eine unaufhebbare Unterscheidung. Es gibt das eine und es gibt das andere- und nur den Primat dieser Tatsächlichkeit (dass es Medien gibt) kann die Analyse des letzteren von der des ersteren lernen.

Literatur Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1982. Bogdal, Klaus-Michael/Geisenhanslüke, Achim (Hg.): Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault, Beideiberg 2006. Dotzler, Bemhard J.: Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur, München 2006. Ders.: »Kein Dorf ist spät. Zur Literatur im Stande ihrer vollendeten Vergangenheit«, in: Corina Caduff/Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000. Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, München 2005, S. 153-170. Ders.: Literatur und Medien. Topologien der Endlichkeit (in Vorbereitung). Ders.: »Zum Literaturschwundsyndrom- und zu Walker Percys Thanatos Syndrome«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 22 (1992), H. 87/88, S. 111-132. Enzensberger, Hans Magnus: »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187-197. Eribon, Didier: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998. Flusser, Vilem: »Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code«, in: Dirk Matejovski/Friedrich Kittler (Hg.): Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt a.M., New York 1996, S. 9-14. Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits I [DE 1], Frankfurt a.M. 2001.

67 Hans Magnus Enzensberger: »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187-197, hier S. 187. Fünf KursbuchNummern später veröffentlichte Enzensberger seinen »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, der zwar für die Medien das Radio (nach Brecht), zur Exemplifizierung der erbetenen revolutionären Praxis dann aber doch einmal mehr die Literatur bemüht. -Der im Vorfeld konstatierte »Literaturschwund« Blanchot'scher Konvenienz ist gänzlich anderer Art, umkreist aber dieselbe innerdiskursive Grenzziehung. 159

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Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits II [DE II], Frankfurt a.M. 2002. Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits III [OE III], Frankfurt a.M. 2003. Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits IV [OE IV], Frankfurt a.M. 2005. Ders.: »Archäologie einer Leidenschaft« (Nr. 343), in: ders.: DE IV, s. 734-746. Ders.: »Auf dem Präsentierteller« (Nr. 152), in: ders.: OE II, S. 888-895. Ders.: »Das Denken des Außen« (Nr. 38), in: ders.: DEI, S. 670-697. Ders.: »Das Leben der infamen Menschen« (Nr. 198), in: ders.: OE III, S. 309-332. Ders.: »Der maskierte Philosoph« (Nr. 285), in: ders.: DE IV, S. 128137. Ders.: »Das mythische Oberhaupt der Revolte im Iran« (Nr. 253), in: ders.: DE III, S. 894-897. Ders.: »Das >Nein< des Vaters« (Nr. 8), in: ders.: OE I, S. 263-281. Ders.: »Der Diskurs darf nicht gehalten werden für ... « (Nr. 186), in: ders.: DE III, S. 164f. Ders.: »Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft« (Nr. 5), in: ders.: DEI, S. 234-237. Ders.: »Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes« (Nr. 25), in: ders.: DE I, S. 539-550. Ders.: »Die Bühne der Philosophie« (Nr. 234), in: ders.: DE III, S. 718747. Ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge [1966], Frankfurt a.M. 2005. Ders.: »Die >IdeenreportagenbewältigenLiminalität< bezeichnet: Der Zuschauer muss sich von vertrauten, bisher gültigen Positionen und Regeln lösen und sich der Möglichkeit zu neuen Erfahrungen aussetzen. 33 Das Theater gilt als Sphäre des Liminalen, weil herrschende Regeln suspendiert und vordiskursive Wahrnehmungen möglich werden, weil das Theater nicht etwa moralische Botschaften verkündet, sondern den Zuschauer in psychische Prozesse involviert. Auf dem Theater vermag eine Intensität zu entstehen, »die sich dem Zuschauer mitteilt und ein Kunsterleben ermöglicht, das nicht auf Bewusstseinsakten, nicht auf Verstehen, nicht auf Interpretation [ ... ] sondern auf dem emotionalen Mitvollzug beruht«. 34 Kann das Theater prinzipiell einen Raum liminaler Erfahrung generieren, so wäre zu präzisieren, welcher Voraussetzungen es im bürgerlichen Kunstbetrieb bedarf, um Schwellen herzustellen. Ein Modell, das Liminalität für das Theater beschreibt, ist Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, die von der grundsätzlichen Autonomie der bürgerlichen Kunst als ihrer Ohnmacht ausgeht. Die Autonomie der bürgerlichen Kunst ist allein um den Preis ihrer Interventionsmöglichkeiten zu haben. Die avantgardistische Kunst reflektiert hingegen die institutionellen Bedingungen bürgerlicher ästhetischer Produktion und versucht, Zeichen des Realen in einen erweiterten Kunstbegriff zu integrieren. 35 Um die Isolation der autonomen Kunst, die der Ästhetizismus verabsolutiert hatte, rückgängig zu machen, visionieren beispielsweise Dadaismus und Surrealismus die Einbindung von ästhetischen Prozessen in die Lebenspraxis -mit der Konsequenz, dass Kunst letztlich verschwindet. »Die Intention der Avantgardisten läßt sich bestimmen als Versuch, die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet hat, ins Praktische zu wenden. Das, was der zweckrationalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft am meisten widerstreitet, soll zum Organisationsprinzip des Daseins gemacht werden.« 36 33 Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 10f. 34 I. Hentschel: Performance als Rückkehr zum Ritual?, S. 123. 35 Es wird nicht mehr Kritik an den vorausgegangenen Kunstformen geübt, »sondern an der Institution Kunst, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat«, und zwar an den kunstproduzierenden wie -distribuierenden Apparaten; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 29. 36 Ebd., S. 44. 172

REKOMBINATION UND UNTERBRECHUNG

Eine wesentliche Strategie der Autonomisierung von Kunst, die das Avantgarde-Theater zurücknimmt, ist die Institutionalisierung gerrau begrenzter Räume/ 7 in denen Kunst als autonomes Geschehen stattfindet: Die Oper, das Stadttheater, die Laienbühne sind auch in architektonischer Hinsicht distinkte Orte, die den theatralischen Akt gegen die Außenwelt immunisieren, verbindliche, hoch sanktionierte Absprachen mit eingespieltem Automatismus in Gang setzen und jede Aktion unweigerlich zum Theater erklären. Die avantgardistische Kunst jedoch sprengt diese Immunität, beispielsweise durch die Reflexion eben dieser »Rahmen«, um mit Gaffman zu sprechen. Peter Handkes Publikumsbeschimpfung zum Beispiel verweigert sich jeglichem Illusionismus, thematisiert die unausgesprochenen Bedingungen der bildungsbürgerlichen Institution Theater bis hin zu den Kleidercodes und versucht die Zuschauer durch den dialektischen Widerspruch zu aktivieren. Oder aber avantgardistische Kunst verlässt den konventionalisierten Theaterraum und nimmt eine Theatralisierung scheinbar nicht ästhetisch verfasster Systeme vor. Am 31. Mai 1921 »fuhren« die Surrealisten und Dadaisten in der Salle des Societes Savantes einen juristischen Prozess »auf«, wiederholen die juristische Ordnung, der selbst bereits ein theatralisches Moment innewohnt, in einer entstellenden Mimikry. 38 Die Akteure sind mit weißen Chirurgie-Mänteln bekleidet, die als Hinweis auf die Allianz von Medizin und Strafgesetz gelesen werden können. Sie tragen zudem Hüte geistlicher Würdenträger, amalgamieren also unterschiedlichste Dispositive der Macht, kostümieren sich mit diversen Emblemen der herrschenden Systeme. Trotz hybrider Kostümierung setzen die Akteure das juristische Szenario minutiös in Szene und nehmen in einer Überlagerung von Subversion und Affirmation die Macht des Apparats, seine Verfügungsgewalt und Autorität für sich in Anspruch, um den gehassten Autor Barres zum Tode zu verurteilen. Vor allem Breton bedient das juristische Reglement mit großer Unerbittlichkeit, gleicht also den theatralischen Vorgang den Prinzipien der Macht an, indem er umgekehrt die Theatralität des juristischen Procedere markiert. In seiner Ankündigung heißt es: »Dada ist der Ansicht, daß es für ihn an der Zeit sei, seiner zersetzenden Denkart größeren Nachdruck zu verleihen, indem er diese durch eine Vollzugsgewalt ergänzt. Er ist entschlossen, diesen Exekutivapparat vor allem gegen jene einzusetzen, die sich seiner Diktatur in den Weg stellen kö1mten. Mit sofortiger Wirkung ergreift er Maßnahmen zur

37 Auch Schechners Environmental Theater experimentiert mit der Öffnung von Räumen, die er als lebende Orte begreift; vgl. dazu Richard Schechner: Environmental Theater, New York 1994. 38 Peter Bürger: Der französische Surrealismus, Frankfurt a.M. 1971, S. 28. 173

FRANZISKA SCHÖSSLER

Unterbindung derartigen Widerstands.«39 Kunst tritt mit einer gewaltvollen Geste auf- Breton verlangt die Todesstrafe für Barn~s, doch man einigt sich auf zwanzig Jahre Zwangsarbeit- und versieht sich (scheinbar) mit einer Exekutiven, um die sich zum Beispiel auch Christoph Schlingensief, ein Neoavangardist, mit seinen wiederholten Aufrufen zum Politikermord (an Kohl, an Schüssel) bemüht. 40 Meist tut ihm das politische System den Gefallen, diese Äußerung mit der Macht des Politischen zu versehen und durch juristische Konsequenzen (wie Verhaftungen) aufzuwerten, mithin zur Intervention zu befähigen. Diese Experimente fusionieren das ästhetische und das juristische bzw. politische System in einem liminalen Raum, indem die juristische bzw. politische Praxis als Spiel theatralisiert wird,41 das Theater sich hingegen zum politischen Akt ermächtigt oder ermächtigt wird. Ein weiteres Beispiel für die Entgrenzung autonomer Kunst wäre das »legislative Theater« von Augusto Boal. Der Regisseur ist seit den frühen neunziger Jahren und bis zu seiner Niederlage bei den Wahlen von 1996 Mitglied im Stadtrat in Rio. In den über dreißig aktiven TO-Theatern (Theatre of the Oppressed) in Rio, zum Teil von Gemeindegeldem unterstützt, schlagen Zuschau-Spieler Gesetze vor, um ihre schlechten Lebensbedingungen zu verbessem. 42 Das avantgardistische Verfahren besteht also darin, voneinander abgegrenzte Praktiken - eine Separation, wie sie nach Greenblatt die kapitalistische Spezialisierung der Diskurse produziert43 - zu verknüpfen, die distinkten Diskurse jenseits des Theaters zu kombinieren und damit zu theatralisieren. Schlingensief gründet mit Chance 2000 eine politische Partei und richtet einen Wahlzirkus ein.44 Die Surrealisten besuchen poli39 Zitiert nach Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Harnburg 1965, S. 36. 40 Zugleich ironisiert Schlingensief seine Tötungs-Aufforderungen durch ihre Wiederholung; vgl. dazu Wolfgang Kralicek: »Österreich, wie es stinkt und lacht. Über Christoph Schlingensiefs Container-Aktion >Bitte liebt Österreich!< - und was bei den Wiener Festwochen außerdem noch gespielt wurde«, in: Theater heute, August/September 2000, S. 5-7, hier S. 6. Es geht Schlingensief bei seinen Gewaltaufrufen vor allem um die Ermächtigung der Kunst, indem ästhetische Äußerungen zu politischen umcodiert werden. 41 Vgl. dazu Thomas Meyer/Rüdiger Ontrup/Christian Schicha: Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen, Wiesbaden 2000. 42 Vgl. R. Schechner: »Believed-in«-Theater, S. 187. 43 Stephen Greenblatt Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt a.M. 1995. 44 Vgl. Christoph Schlingensief/Carl Hegemann: Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998. 174

REKOMBINATION UND UNTERBRECHUNG

tische Kundgebungen, sprechen beispielsweise in Leo Poldes' Club du Faubourg vor einem tausendköpfigen Publikum aus Arbeitern, Gewerkschaftsführern und Linksintellektuellen.45 Aragon improvisiert zunächst eine Rede gegen den »Lehrstuhl-Sozialismus, was ihm den Zuspruch der Anarchisten im Saal« einträgt. 46 Dann jedoch folgt Bretons Vortrag von Tzaras Nonsense-Manifest Dada 1918, das die Zeilen enthält: »Ideal, Ideal, Ideal, Erkenntnis, Erkenntnis, Erkenntnis, Bumbum, Bumbum, Bumbum«. 47 Diese Worte, die jede Form von Programm, von Ideologie unterminieren und ridikülisieren, lösen - verständlicherweise - allgemeines Befremden aus und signalisieren die Kluft zwischen politischen Programmen und künstlerischen Interventionen. 48 Das Theatrale durchdringt politische Räume und stellt eine liminale Sphäre zwischen beiden Systemen her. Die Avantgarde arbeitet also vielfach mit Unentscheidbarkeit,49 denn der Ort, an dem die theatrale Aktion stattfindet, lässt die Teilnehmer unsicher werden, ob es sich um Kunst handelt oder aber um politische Manifestation. Schlingensief unterbindet bei seinem Container-Projekt Ausländer raus in Wien entsprechend die Verteilung von Flugblättern, die die Aktion als Veranstaltung der Wiener Festwochen ausweisen. Auch in Interviews besteht Schlingensief darauf, dass es sich nicht um Kunst handle, und persifliert damit ein zentrales Distinktionsverfahren der FPÖ, die mit großer Verve betont, das Geschehen auf dem Opernplatz sei alles andere als Kunst. 5° Die avantgardistischen Aktionen, die die Grenze zwischen Kunst und außerästhetischen Ordnungen zur Schwelle, zum Übergang machen, las45 Mark Polizzotti: Revolution des Geistes. Das Leben Andre Bretons, München, Wien 1996, S. 184f. 46 Ebd., S. 185. 47 Zitiert nach ebd. 48 Die Fixierung auf ein politisches Ziel, das durch unhinterfragte Hochwertwarte suggeriert wird und Interessen homogenisiert, wird durch den spielerischen Angriff auf »Pathosformeln« in Frage gestellt. In seinen Manifesten zu Chance 2000 erteilt Schlingensief ganz analog jedem politischen Ziel eine Absage, atomisiert Interessen und unterläuft so das Verfahren der Repräsentation. Auch die Bestrebungen, theatrale Konzepte an Alltagsprozessen zu orientieren, wie Brechts Straßenszene, können diesen Versuchen auf der Schwelle zwischen Kunst und Leben zugerechnet werden. 49 Auch Augusto Boals unsichtbares Theater, das in konkreten Alltagsräumen wie Supermärkten und Marktplätzen vorbereitete Szenen spielt, um die Zuschauer zu involvieren und auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, arbeitet mit Unentscheidbarkeit. 50 Vgl. Christoph Schlingensief: »Ausländer raus«. Bitte liebt Österreich. Dokumentation von Matthias Lilienthai und Claus Philipp, Frankfurt a.M. 2000. 175

FRANZISKA SCHÖSSLER

sen durch die Rekombination von scheinbar diskreten Zeichen - eine Montage auf höherer Ebene - die weitgehend hermetische Grenze zwischen Diskursen (wirtschaftlichen und politischen etc.) kenntlich werden, ebenso ihre Theatralität. Umgekehrt dissimuliert die Abgrenzung von Diskursen das arbiträre und -um mit Greenblatt zu sprechen -poetische Moment der Ordnungen, naturalisiert sie also. 51 Liminalität in einem engen emphatischen Sinne ergibt sich mithin aus der Entgrenzung des isolierten ästhetischen Feldes, wobei der omnipräsente Autonomiegestus, nach Luhmann ein unerlässlicher Effekt der sich ausdifferenzierenden Systeme in der bürgerlichen Modeme, diese Überschreitungen meist recht schnell wieder nivelliert und in die Sphäre der (ohnmächtigen) Kunst integriert. Insofern ist auch immer die Grenze der Entgrenzung zu überdenken, wie der Dramaturg Carl Hegemann betont,52 bzw. umgekehrt die unablässige Revitalisierung der totgesagten Avantgarde.

Benjamin und Brecht: Unterbrechung Eine weitere liminale Strategie besteht in der Unterbrechung,53 wie sie Brecht und Benjamin zum Fundament des epischen Demonstrationsthea-

51 Er begreift den Kapitalismus in metaphorischem und buchstäblichem Sinne als Medium, das einen »diskontinuierlichen Austausch« zwischen Systemen organisiert, unterschiedliche Felder wie Religion, Ökonomie und Medizin in Beziehung setzt, sie jedoch auch voneinander isoliert. Dieses Wechselspiel zwischen Vemetzung und Abtrennung überträgt Greenblatt auf seinen Begriff von Kunst bzw. auf das Verhältnis von Kunst und nichtästhetischen Bereichen. Er hält fest: »[D]er Kapitalismus hat charakteristischerweise weder Herrschaftsformen hervorgerufen, in denen alle Diskurse miteinander koordiniert zu sein scheinen, noch solche, in denen sie radikal voneinander isoliert oder diskontinuierlich zu sein scheinen. Er hat vielmehr Herrschaftsformen ins Leben gerufen, in denen die Tendenz der Differenzierung und die der monologischen Organisation gleichzeitig wirksam sind, zumindest einander so schnell abwechseln, daß der Eindruck der Gleichzeitigkeit entsteht.Kritik des reinen Theaters»Gesten zitierbar zu machenLeib- und Bildraums< in Benjamins Schriften«, in: dies. (Hg.): Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin, Köln, Weimar, Wien 1992, S. 49-64, hier S. 51 f. 67 S. Weigel: Passagen und Spuren des >Leib- und Bildraumszeitfreien< Ort, in dem das Subjekt in radikalster Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist.« 70 Liminalität scheint im avantgardistischen Theater der bürgerlichen Moderne dann stattzufinden, wenn lineare Zeit als mechanistischer Takt verschwindet- in Heiner Müllers Harnletmaschine heißt es tmter »Das Europa der Frau: Enormaus room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr« 71 - , wenn lineare Zeit als Bedingung der Geschichtsschreibung und als ästhetische Konvention des bürgerlichen Dramas, das auf die Einheit der Handlung und der Charaktere festgelegt ist, unterbrochen wird, wenn Kausalität als Unmöglichkeit der Reflexion und als Naturalisierungsverfahren von scheinbar unveränderlichen Ordnungen zerbricht. Unentscheidbarkeit nimmt also die Autonomie von Kunst als ihre Ohnmacht zurück und die Rekombination diskreter (scheinbar nicht ästhetisch konfigurierter) Diskurse legt die Funktion dieser Grenzziehung sowie die theatralen Momente der Ordnungen frei . Der Schock, die Unterbrechung suspendiert Kontinuität, die die Alltagspraktiken beglaubigt und der Erkennbarkeit entzieht, sie zudem der Unumkehrbarkeit ausliefert. Die Unterbrechung zerlegt das gestische Kontinuum in erkennbare Haltungen, generiert distinkte Zeichen, die in ihren gesellschaftlichen Kontexten untersucht werden können. Liminalität entsteht durch die Rekombination von getrennten Systemen und durch die Spaltung scheinbar selbstverständlicher Einheiten. Liminalität hebt die geläufigen, Wirklichkeit generierenden binären Oppositionen von Subjekt und Objekt, Phantasie und Wirklichkeit, Ich und Nicht-Ich sowie die Einheit von Körper und Sprache auf.

69 Vgl. dazu Walter Pfaff: »Rituelle Realitäten I: Arbeit an Verfahren der Ritualisierung«, in: M. Hüttler/S. Schwinghammer/M. Wagner (Hg.): Aufbruch zu neuen Welten, Bd. l, S. 2 13-227. Pfaff bezeichnet als Essenz des rituellen Handeins die Kunst der Gleichzeitigkeit, die Aufhebung von Gegensätzen und die Präsenz des Unsichtbaren; ebd., S. 227. 70 Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Harnburg 1986, S. 179. 71 Reiner Müller: »Hamletmaschine«, in: ders.: Mauser, Berlin 1978, S. 8997, hier S. 91. 180

REKOMBINATION UND UNTERBRECHUNG

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MATHEMATIK, SCHRIFT UND KALKÜL ERNST KLEINERI

1 Das Thema »Mathematik und Schrift«, oder, wie man ebenso gut sagen könnte, »Mathematik und Sprache«, ist ein weites Feld. 1 Seine schulmäßige Bearbeitung hätte zu beginnen mit der Frage »Was ist Mathematik?« Heute weiß jeder, dass Mathematik mehr ist als eine Wissenschaft von »Zahlen und Figuren«, wie man noch im 19. Jahrhundert lesen konnte (als es auch schon falsch war). Eine formale Auskunft ist leicht zu geben: Mathematik liegt überall da, und nur da vor, wo ein Gegenstandsbereich ordine geornetrico, und das heißt nach axiomatischer Methode behandelt wird. Fragt man weiter, welche Gegenstandsbereiche sachgemäß so zu behandeln sind, könnte die - wiederum formale - Antwort lauten: alle, die sich genügend scharf fassen und abgrenzen und deren Mitglieder genügend klare Gesetzmäßigkeiten erkennen lassen; darüber hinaus sollte so etwas wie ein konstruktiv-deduktives Potential vorhanden sein. Was für Bereiche diese Kriterien erfüllen, lässt sich a priori nur teilweise sagen und ist auch eine Frage der Geschichte. 2 Um zu sehen, was für Be-

2

Einerseits gehört die Schrift zur Sprache im weiteren Sinn, zu dem, womit man sich ausdrückt; was umgekehrt in Lehrbüchern der Logik als eine formale Sprache definiert wird, ist nichts anderes als ein Alphabet zusammen mit Vorschriften flir die Bildung von Worten, also etwas essentiell Schriftliches. Der Sprechakt spielt im mathematischen Prozess keine wichtige Rolle. (Viele Dozenten pflegen beim Anschreiben von Formeln diese Symbol fiir Symbol mitzusprechen. Dieses Sprechen dient fast nie zur Mitteilung, sondern entsteht eher aus einem Bedürfnis, den Vortrag nicht abreißen zu lassen.) Mathematische Basisdisziplinen lassen sich ableiten aus dem, was ich das »kategoriale System« des Menschen nenne. Siehe meinen Aufsatz »Das kategoriale System und der Ort der Mathematik«, in: Hamburger Beiträge zur Mathematik (2006), H. 246 (www.math.uni-hamburg.de/researchlpa pers/hbmlhbm2006246.pdfvom 08. Februar 2008). 185

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reiche heute mathematisiert sind, hätte man die gegenwärtige Mathematik mitsamt ihren Anwendungen zu durchmustern. Das wird hier erspart. Der nächste Schritt wäre, die mathematische Schriftlichkeit Revue passieren zu lassen; das werden wir gleich tun. Das Hauptgewicht der Diskussion aber liegt notwendig auf dem fur die Mathematik spezifischen, außerhalb ihrer nirgends anzutreffenden Verhältnis zwischen den Inhalten und ihrem schriftlichen Ausdruck. Dieses Spezifische besteht in der Möglichkeit von Kalkülen. Wir werden diesen Begriff im Anschluss an Leibniz einführen und dann der Frage nachgehen, welche Rolle die Kalküle im mathematischen Gesamtprozess spielen. Damit ist umrissen, wovon hier die Rede sein soll, und auch, wovon nicht. Ich gehe hier nicht ein auf die erkenntnistheoretische oder ontologische Frage, in welchem Sinne die mathematischen Symbole etwas bedeuten; dies ist ein Spezialfall eines allgemeineren philosophischen Problems (von dem man nicht sagen kann, dass es gelöst sei). Ausgeklammert wird auch ein historischer Aspekt. Die Entwicklung der mathematischen Symbolik von ihren ersten greifbaren Ursprüngen in Babyion und Ägypten über Inder, Griechen, Lateiner, Araber bis in die Neuzeit zu verfolgen, ist natürlich auch ein reiches und lohnendes Thema, fur das ich aber nicht kompetent bin.

2 Der Wirkung des mathematischen Symbolwesens auf den Nichtinitiierten hat Thomas Mann in seiner unnachahmlichen Manier Ausdruck verliehen: Was er sah, war sinnverwirrend. In einer krausen, kindlich dick aufgetragenen Schrift, die Imma Spoelmanns besondere Federhaltung erkennen ließ, bedeckte ein phantastischer Hokuspokus, ein Hexensabbat verschränkter Runen die Seiten. Griechische Schriftzeichen waren mit lateinischen und mit Ziffern in verschiedener Höhe verkoppelt, mit Kreuzen und Strichen durchsetzt, ober- und unterhalb waagrechter Linien bruchartig aufgereiht, durch andere Linien zeltartig überdacht, durch Doppelstrichelchen gleichgewertet, durch runde Klammem zusammengefaßt, durch eckige Klammern zu großen Formelmassen vereinigt. Einzelne Buchstaben, wie Schildwachen vorgeschoben, waren rechts oberhalb der umklammetten Gtuppen ausgesetzt. Kabbalistische Male, vollständig unverständlich dem Laiensinn, umfaßten mit ihren Armen Buchstaben

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MATHEMATIK, SCHRIFT UND KALKÜL

und Zahlen, während Zahlenbrüche ihnen voranstanden und Zahlen und Buchstaben ihnen zu Häuptern und Füßen schwebten. 3

Man sollte nicht denken, dass es dergleichen heute nicht mehr gebe. Zwar spricht man seit Bourbaki mit Recht von der Mathematik als einer Strukturwissenschaft, aber der Primat der Strukturen hat die Formeln keineswegs verdrängt; es wird sogar heute viel mehr gerechnet als je zuvor, allein schon deswegen, weil der Computer schnell, billig und fehlerfrei Rechnungen produzieren kann, die einen menschlichen Rechner Jahre kosten würden. Freilich gibt es auch mathematische Texte, sogar solche von höchstem Rang, die fast ganz ohne Symbole auskommen; aber sie bilden doch Ausnahmen. 4 Die Symbole sind also das charakteristische Merkmal, durch das sich ein mathematischer Text auch dem Laienblick sofort als solcher zu erkennen gibt.

3 Sehen wir uns diese Symbolwelt etwas systematischer an, nämlich am Leitfaden heutiger formaler Sprachen, so finden wir am Anfang die logischen Symbole, Junktoren und Quantoren. Es folgen Variable, mit denen man Mitglieder eines Gegenstandsbereichs ohne Spezifikation, und Konstante, mit denen man ausgezeichnete unter ihnen bezeichnet; sodann Funktions- und Relationssymbole (wobei unter den letzteren das Gleichheitszeichen eine besondere Stellung einnimmt). Satzzeichen und Klammern sind zur Gliederung von Formeln so gut wie unentbehrlich, wenngleich es Notationsweisen gibt, die ohne sie auskommen. Damit ist ein Symbolbestand erfasst, der eine LI-Sprache oder Prädikatenlogik erster Stufe konstituiert; ein einziges Exemplar davon, die Mengensprache, reicht heute für den weitaus größten Teil des mathematischen Gebäudes aus. Jeder Schritt im Aufbau dieses Gebäudes fordert nun Definitionen, also neue Begriffe. Neue Begriffe wiederum erfordern neue Symbole oder neue Verwendungen schon bekannter Symbole. Es ist klar, dass dies auf die Länge in gewisse Verlegenheiten führt. Die griechischen, römischen, selbst gotischen Alphabete sind ausgeschöpft; viele Buchstaben, etwa ff, haben mehrere Standardbedeutungen. Aus dem hebräischen und 3

4

Thomas Mann: »Königliche Hoheit«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. li, Frankfurt a.M. 1960, hier S. 242. Bekanntlich war Manns Braut, die er in der Gestalt der Imma Spoelmann porträtierte, die Tochter des Mathematikers Alfred Pringsheim. Etwa die mit Recht berühmte Antrittsvorlesung von Bernhard Riemann. 187

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kyrillischen Alphabet haben nur einzelne Zeichen Eingang gefunden, aus anderen Schriftsystemen, soweit ich sehe, gar keine; es würde mich aber nicht wundem, wenn in irgendeiner ultra-avancierten Theorie wieder Keilschrift oder Hieroglyphen auftauchen würden. Zu nennen ist auch das zum Standard gewordene »Bourbaki-Alphabet« mit Symbolen N, Z, R und ähnlichen für verschiedene Zahlbereiche. Buchstaben und Kombinationen von Buchstaben sind bei weitem die meistverwendeten mathematischen Symbole; die Ziffern sind nicht so häufig, wie man glauben könnte. Ihnen folgen Symbole für die wichtigsten Relationstypen wie Anordnung oder Äquivalenz und die Elementrelation, Operationssymbole für die Grundrechenarten, der Abbildungspfeil und mannigfache Funktionssymbole wie Unter- und Überstreichen, Überdachen, Besternen. Sie sorgen für die »Taten und Leiden« der Symbole, wie sie Thomas Mann so suggestiv beschreibt. In neuerer Zeit haben Diagramme große Bedeutung gewonnen, in denen mathematische Objekte und Abbildungen zwischen ihnen graphisch dargestellt werden, sozusagen als Netzwerk von Bezügen. Die Variablen, mit denen man Mitglieder eines Gegenstandsbereichs bezeichnet, sind im Prinzip frei wählbar; viele Arbeiten und Bücher enthalten daher Listen von Notationen. On the langrunaber setzen sich, vor allem bei Grundbegriffen, natürlich feste Konventionen durch. So bezeichnet man Gruppen üblicherweise mit G, Funktionen mit f (das kommt Romanen, Germanen und Angelsachsen entgegen), Körper mit K (was nur im Deutschen suggestiv ist). Hat man es mit mehreren Objekten derselben Art zu tun, verwendet man Indices oder benachbarte Buchstaben, aber nur innerhalb gewisser Grenzen; wer etwa einen Körper mit einem \f bezeichnen wollte, würde wohl vom Referenten zur Ordnung gerufen. Bei nichtsprachlichen Symbolen ist die Konvention strenger; was sich einmal durchgesetzt hat wie das Jntegralzeichen, ist unantastbar. Manchmal kann das eine Weile dauern, wie in der Logik, wo noch vor wenigen Jahrzehnten verschiedene Garnituren von Quantoren kursierten. Insgesamt lässt sich sagen: Allein die Art und Verteilung der verwendeten Symbole verrät dem Kenner das mathematische Spezialgebiet, dem eine Arbeit zuzuordnen ist.

4 Nachdem wir die mathematische Symbolwelt ein wenig besichtigt haben, fragen wir uns nach ihrer Rolle im mathematischen Prozess. Hier tritt uns nun sogleich die radikale These in den Weg, die für Brouwer eines der beiden Grundprinzipien seines Intuitionismus war, nämlich dass Mathe-

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MATHEMATIK, SCHRIFT UND KALKÜL

matik prinzipiell unabhängig von jeder Sprache sei. 5 Dies ist nicht ontologisch gemeint, als die platonistische These, dass die mathematischen Gegenstände eine »ideale« Welt bildeten, die unabhängig vom menschlichen Denken existiere. Gemeint ist vielmehr, dass wir mathematische Wahrheiten intuitiv erfassen (oder erfassen können), in einer Art von Wesensschau, ohne Vermittlung durch irgendeine Art von Sprache. Eine solche These kann schwerlich anders begründet werden als durch phänomenologischen Aufweis, also indem wir darauf achten, was wir erleben, wenn uns etwas Mathematisches einleuchtet oder wenn wir, spekulativ vorgreifend, einen mathematischen Gedanken fassen, den es dann zu beweisen gilt. Das droht eine ausufernde Diskussion zu werden. Aber wir können ihr aus dem Weg gehen, indem wir uns erinnern, dass wir ja die Rolle untersuchen wollen, welche die Symbole tatsächlich spielen, nicht aber, welche sie nicht spielen. Der real stattfindende mathematische Prozess fuhrt zum entgegengesetzten Befund. Schon Aristoteles spricht von den rpav"CaCJf-Lam , den Vorstellungsbildem, die alles Denken begleiten, und spätestens bei Leibniz findet sich expressis verbis die Einsicht, dass wir der Zeichen zum Denken bedürfen: »Dies Eine nur macht mich bedenklich, dass ich, wie ich bemerke, niemals irgendeine Wahrheit erkenne, auffinde oder beweise, ohne im Geiste Worte oder irgendwelche Zeichen zu Hilfe zu rufen«. 6 Die heute vorherrschende Auffassung davon, wie man Mathematik betreiben sollte, hat aus der Not eine Tugend gemacht; sie geht zurück auf Brouwers großen Gegenspieler im Grundlagenstreit, David Hilbert. Dessen »Formalismus«, Mathematik als Wissenschaft formaler Systeme, beruht auf der (unstreitig vorhandenen) Möglichkeit, das mathematische Gesamtgebäude vollständig zu symbolisieren, oder, wie man dann auch sagt, zu formalisieren. Das bedeutet genauer: Alle mathematischen Aussagen werden symbolisch dargestellt, und die deduktiven Beziehungen zwischen ihnen zeigen sich (ganz buchstäblich) dadurch, dass sie nach bestimmten Regeln auseinander hervorgehen, wie man etwa aus den Fom1eln p ~ q und p die Formel q deduzieren kann (modus ponens); also (im Prinzip) durch bloßes Hinsehen ohne Denken. Im realen Prozess wird natürlich einmal mehr, einmal weniger formalisiert, manchmal auch 5

6

Etwa: »lntuitionistic mathematics is a mental construction, essentially independent oflanguage«, Luitzen E. J. Brouwer: Collected Works, Amsterdam 1975, S. 477; besonders: »To begin with, the >FIRST ACT OF INTUITIONISM< completely separates mathematics from mathematical language« (ebd., S. 51 0, Sperrung vom Autor). Gottfried W. Leibniz: »Dialog über die Verknüpfung von Dingen und Worten«, in: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von Ernst Cassirer, Harnburg 1904, S. 15-21. 189

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gar nicht. Studienanfänger werden in formalibus gedrillt, der Diskurs der Experten kann informell sein bis ins Saloppe (worin sich manche gefallen). Jedoch wird der modern geschulte Mathematiker stets imstande sein, seine Aussagen zu formalisieren, wenn und soweit es nötig werden sollte. 7

5 Was sind nun die Funktionen der Symbolisierung? Beginnen wir mit dem für die philosophische Betrachtung der Mathematik vielleicht bedeutsamsten Effekt: Auf der Möglichkeit einer Formalisierung (nicht erst auf ihrer Verwirklichung) beruht eine Mathematik der Mathematik, die mathematische Selbstreflektion, nämlich die Beweis- und Modelltheorie, welche verschiedene Axiomensysteme im Hinblick auf Sachhaltigkeit, Reichweite und gegenseitige Verträglichkeit untersucht und der wir, in den Sätzen von Gödel und seiner Nachfolger, einige der wichtigsten Resultate des letzten Jahrhunderts verdanken (deren einige wir unten gebrauchen werden). Wenden wir uns nun zur Mathematik qua Mathematik, sehen wir zunächst einen bescheidenen Effekt, der aber doch schon ein Licht wirft auf die spezifisch mathematische Symbolverwendung, nämlich den der Abkürzung. Wenn in einem mathematischen Text ein Objekt mehr als einmal genannt wird, führt man in aller Regel ein Symbol dafür ein. Ein Begleiteffekt ist dabei die stärkere Fokussierung des Gedankens, das Abdrängen sachfremder Konnotationen und Assoziationen - ein Symbol lässt keine Ablenkung zu, man versteht es nur, wenn man bei der gemeinten Sache bleibt, allein durch die Nötigung, die Bedeutung des Symbols präsent zu halten. In einem literarischen Text ist solches Verfahren kaum vorstellbar, höchstens in besonderer Absicht, etwa parodistisch oder verfremdend; man ist eher bestrebt, allzu häufige Verwendung desselben Begriffs durch Umschreibungen oder Synonyma zu vermeiden. Warum wäre es absurd, wenn ein Lyriker zu Beginn einer Sammlung eine Liste von Abkürzungen für viel gebrauchte Wörter gäbe und diese dann im Text verwendete? Weil wir vom Dichter erwarten, dass ihm das Wort mehr ist als eine Spielmarke, weil wir ihn als Sachwalter 7

Faktisch bewegt sich jedes Mathematisieren auf einem Boden mehr oder weniger explizierter Voraussetzungen, die man nicht zu hintergehen braucht. Die Vorlesung erklärt mehr als das Lehrbuch, dieses mehr als das Nachschlagewerk für Experten. »ÜriginalbeiträgeIdeen< die Operationen mit den >Zeichen< zu setzen.« 12 Schematisch könnte man den Vorgang so darstellen: (Ebene der interpretierten Symbole)

X

y

i (Ebene uninterpretierter Symbole)

X

y

Der obere horizontale Pfeil steht für einen Übergang zwischen Objekten oder Sachverhalten, den es zu finden gilt. Der linke vertikale Pfeil ist der Abzug der Interpretation von den Zeichen (Mathematiker denken hier an einen »Vergissfunktor«). Der untere horizontale Pfeil ist der Kalkül, und der rechte vertikale das »Wiedereinsetzen der lnterpretation«Y Dass dies überhaupt möglich ist, zeigt, dass beim Abzug nichts verloren ging; der Kalkül präsumiert, mathematisch ausgedrückt, eine »strukturelle Isomorphie« von Sachen und Zeichen, die natürlich nur in einem scharf umgrenzten Bezirk bestehen kann; jeder Kalkül ist »regional«, erfasst nur eine bestimmte Klasse von Objekten und bestimmte Operationen mit ihnen.

10 Der gewöhnliche Sprachgebrauch ist natürlich viel allgemeiner; von Kalkül

spricht man schon überall da, wo planmäßig vorausgedacht wird. 11 Hans Burkhardt: Logik und Semiotik in der Philosophie von Leibniz, München 1980, S. 310. 12 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, Darmstadt 1988, S. 450. 13 Man erinnert sich hier an das Hertz' sche Schema der Anwendung von Ma-

thematik in der Physik; siehe dazu meinen Aufsatz »Mathematik und Anwendung«, in: Ernst Kleinert, Beiträge zu einer Philosophie der Mathematik, Leipzig 2003, S. 106-114. 192

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Man muss erst einmal darüber staunen: Was eben noch als Zahl oder Funktion gedacht wurde, wird jetzt nur noch als Buchstabe behandelt, als graphisches Gebilde. Dass eine solche fWraßamCJ t:ta aA,A,o f€VOCJ . überhaupt zu brauchbaren Resultaten fuhrt, muss doch prima facie ganz unverständlich erscheinen. Manchmal ist wirklich ein magischer Zug dabei, als ob die Zeichen zum Leben erwacht wären und denken gelernt hätten. 14 Man wird sagen: Die Regeln für die Symbolumwandlung reflektieren eben die der jeweiligen Sache inhärierenden Gesetzmäßigkeiten. Aber das ist natürlich keine Erklänmg, sondern eine Umschreibung des zu Erklärenden. Auch Leibniz hat (in dem schon zitierten Dialog) darüber nachgedacht; er betont die wichtige Einsicht, dass Entsprechung nicht zwischen den Dingen und den Zeichen gesucht werden kann (das ist nur ausnahmsweise möglich, wie in der Elementargeometrie), sondern zwischen den Dinggesetzen und den Kalkülregeln. Aber auch damit wird nur konstatiert, was einer Erklärung bedarf. Die Transzendentalphilosophie bringt uns einen Schritt weiter, indem sie uns belehrt, dass das, was wir für die Gesetze der Dinge »an sich« halten, in unseren Möglichkeiten, Dinge aufzufassen und gedanklich zu bearbeiten, seine Wurzeln hat. Aber noch immer bleibt die Entsprechung unbegriffen - wie kommt es, dass alles Denkbare in das zweidimensionale Sehfeld gewissermaßen hineinpasst? Die Frage würde sich durch eine Art »kopernikanische Wende« lösen, wenn wir Leibnizens Beobachtung zu einem Apriori im Sinne Kants erhöben: Wenn es kein Denken ohne Zeichen gibt, dann auch kein Denken von Dinggesetzen ohne Zeichenregeln; denn Gesetze, die nicht irgendeine Entsprechung auf der Zeichenebene haben, können wir unter der gemachten Voraussetzung gar nicht denken. Ob damit das Problem gelöst ist, muss hier unausgemacht bleiben. 15

14 »The whole thing is of course pure magic.« Serge Lang: lntroduction to Algebraic and Abelian Functions, New Y ork 1972, S. 9. 15 Der Zwang zur Visualisierung des Gedachten ist von anderer Art als etwa derjenige, der uns den Raum nur als dreidimensionalen erfahren lässt; auch sind die Visualisierungen individuell verschieden. Ein anderer Gesichtspunkt ist geometrischer Natur: Das Gehirn ist dreidimensional; alles Dreidimensionale aber lässt sich, zwar nicht treu, aber für viele Zwecke genügend gut ins Zweidimensionale projizieren (wogegen in einer Dimension die Möglichkeiten der Gestaltbildung zu eingeschränkt sind). Man kann auch darüber spekulieren, wie unsere Logik und Symbolwelt beschaffen wäre, wenn die Rolle, welche der Gesichtssinn in unserem Wahrnehmungsvermögen einnimmt, dem Tastsinn oder Hörsinn zufiele. 193

ERNST KLEINERT

7 Kalküle konstituieren einen Symbolgebrauch, den es außerhalb der Mathematik nicht gibt. Natürlich kann man auch in andern Bereichen einmal die Mittel spielen lassen, ohne an Zwecke zu denken, und manchmal mit Vorteil. Man könnte sich einen Maler vorstellen, der mit Farben und Formen ohne Rücksicht auf Darstellung experimentiert, bis er einen neuen malerischen Effekt erzielt; man mag etwa an den Pointillismus denken. Oder ein Literat kann mit Lauten und Silben spielen, ohne auf Bedeutungen zu achten; die dadaistische Lyrik hat das getan, mit Resultaten wie Morgensterns Das große Lalula. Oder ein Komponist kann systematisch Akkorde verändern, bis ein neuer »Klangsinn« entsteht; man denke an Debussy oder Skriabin. Aber schon die flüchtigste Überlegung zeigt, dass all diese dem ersten Blick vergleichbar erscheinenden Fälle ganz anders gelagert sind. Der wichtigste Unterschied ist wohl, dass im mathematischen Kalkül die Zeichen prinzipiell durch andere ersetzbar sind, der mathematische Gehalt in den Regeln der Umwandlung steckt; es wäre aber blanker Unsinn, zu sagen, dass etwa in einem Bild die Farben und Forn1en beliebig durch andere ersetzt werden könnten, solange nur bestimmte Verhältnisse gewahrt bleiben.

8 Als ein Beispiel, das alle kennen, betrachten wir die Addition von Dezimalzahlen. Wenn man die Kosten für eine Reise zusammenstellt und dann die Kolonne addiert, vergisst man nicht nur, dass die Ziffern für Währungseinheiten stehen. Man vergisst auch die meisten Eigenschaften der Zahlen; was man braucht, ist dreierlei: Zwei Zahlzeichen zusammengenommen ergeben ein bestimmtes drittes (die Endziffer der Summe), und dabei muss man eine »Eins im Sinn« behalten oder nicht, und diese Einsen muss man zählen. Man vergisst also die gesamte multiplikative Struktur, auch dass es Zahlen außerhalb des Intervalls [0,9] gibt; es ist kaum übertrieben zu sagen: Man vergisst, dass die Zahlzeichen für Zahlen stehen. Wenn man das nicht vergessen dürfte, wäre unverständlich, dass Maschinen addieren können. Erst wenn das fertige Resultat dasteht, werden die Ziffern wieder zu Zahlen und diese zu Geld. Die Möglichkeit solchen Rechnens beruht bekanntlich auf dem Positionssystem der Zahlen, und es lohnt die Mühe, sich klarzumachen, warum etwa die römische Zahlschreibweise dafür ungeeignet ist. Auch das römische System basiert auf der Zehn und kennt eine »schwache« Form von Position, indem die Zehnerpotenzen wie bei uns in absteigender Rei-

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MATHEMATIK, SCHRIFT UND KALKÜL

herrfolge erscheinen. Aber die Notation zeigt nicht, dass I die nullte, C die zweite und M die dritte Potenz von X ist; die einzelnen Zehnerpotenzen werden nicht mit Faktoren angefuhrt, sondern additiv notiert, wobei die Fünfersymbole V, L und D für Abkürzung sorgen; vor allem fehlt die Null. 16 Das Beispiel wirft schon ein wenig Licht auf die Frage, wodurch eine Symbolik kalkülfSpinnerecke< genannt wird. Bekanntlich erhalten die Spinner zur Kompensation mitunter den Titel des Stars zuerkannt oder, so Habermas über Adorno, den Titel eines »Schriftstellers unter Beamten«, sie sind administrativ aber meist kaltgestellt: Für gewöhnlich besteht die Tätigkeit von Professoren hinsichtlich des Denkens derer, die im Laufe der Geschichte etwas zu lehren hatten, im allgemeinen darin, dieses so zu formulieren, dass es allein in seinen begrenztesten und partiellsten Seiten erscheint. Von daher der Eindruck eines Aufatmens immer dann, wenn man sich auf die Originaltexte bezieht - ich meine die Texte, die die Mühe lohnen. (249) Wie bringt man den von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein namhaft gemachten Schmerzpunkt zwischen Literalität und Liminalität zur Geltung, wenn man sich auf der Ebene des Diskurses hält und davon absieht, einfach obszön das Ding vorzeigen zu wollen, dessen man ohnehin nicht habhaft werden kann? Wäre man Freud oder Lacan, man könnte sagen: »Wir als Ärzte.« Damit kann ein Auslandsgermanist nicht dienen. Stattdessen ist die Information nachzureichen, dass ich 2006 einen Vortrag über Lacan und Luther gehalten habe, der den Titel The Thing, Das Ding trng, was seinerzeit Gelächter ausgelöst hat. Da dies der zweite Beitrag zu Lacans Seminar VII ist, müsste er folgerecht Das Loch heißen, da Lacan vom Loch ebenso ausführlich handelt wie vom Ding. Deutlich wird an dieser latenten Obszönität, wie rasch man über Lacan an die Grenze des akademischen Diskurses und auf die abschüssige Bahn in Richtung auf die zweifelhaften Wonnen des Primärprozesses gerät, weshalb ich mich zur Ordnung des Diskurses gerufen und entschlossen habe, den Titel zu sublimieren, meinen Beitrag Out of Line zu nennen, was man übersetzen kann mit Entgleisung oderfaux pas. Lacan nennt dieses Loch »das furchtbare Saugzentrum des Begehrens« (296), das verhindert, dass wir je ganz die Einführung des Signifikanten akzeptieren; und das »Ding« wäre dann das paradoxe Etwas, das uns der Differenz zwischen dem Selbst und den Objekten überhöbe, also ein Ding jenseits der Dinge. Diese Terminologie ist weniger rätselhaft, als es zunächst scheint. Jeder, der einmal im Ernst verliebt war, weiß, wovon Lacan spricht. So auch ein jeder, der sich für wichtig hält, denn das sind die zwei prominentesten wahnhaften Optionen: ein ausgezeichnetes Ding zu suchen oder sich selbst für » The big Thing« zu halten. Dabei ist es sekundär, ob die differentielle Ordnung der Dinge nun anthropologisch durch den Krug etabliert wird, der die Opposition von Leere und Fülle konstituiert (vgl. 151) oder durch das Fort!-Da!-Spiel, 231

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das die Opposition von An- und Abwesenheit generiert, 8 oder schließlich durch die Konstitution der unendlich schmerzhaften Differenz zwischen dem Selbst und den Objekten, die die Trennung von der Mutter erzeugt und die später schneidend scharf bestätigt wird durch die Kastrationsdrohung des Vaters. Es gibt da eine wirklich große Auswahl; Lacan hält eisern fest: »Es gibt Identität zwischen der Ausformung des Signifikanten und der Einführung einer Kluft, eines Lochs im Realen« (151). Oder er formuliert so wahr wie misanthropisch: »Wo immer sich ein ungeordneter Haufen von Abfällen findet, gibt es Mensch« (281 ). Die Erfahrung, dass sich das unanständige »Saugzentrum« mit Vorzug in dem Moment bemerkbar macht, wenn man sich zur Ordnung des Diskurses ruft, illustriert eine für die Diskussion über Literalität und Liminalität relevante Beobachtung Lacans: dass man der Regelung, der Grenzen, des Gesetzes bedarf, um das Begehren verspüren, es artikulieren zu können: »Ohne den Signifikanten am Anfang, ist es nicht möglich, den Trieb als geschichtlich zu artikulieren. Und das genügt, die Dimension des ex nihilo in die Struktur des analytischen Feldes einzuführen« (258). 9 Diese Erfahrung generiert anderseits immer neu die bittere Frustration, dass das Begehren hindurch muss durch die Bahnungen des Gesetzes, sich im Namen des Vaters ereignet, sich überhaupt artikulieren muss. So generiert die Lust stets ihre eigene Frustration und Sublimierung und verstärkt tragisch den Hunger, den sie doch tilgen sollte. Oder eben umgekehrt, die Ordnung erzeugt die perverse Lust, sie zu drangsalieren. Die Passage aus dem Römerbrieldes Paulus, demzufolge das Gesetz die Sünde schafft, wird zum Leitmotiv des Seminars VII, mit der Abwandlung, dass Lacan Sünde durch Ding substituiert. 10 8

Vgl. Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewusste. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 214. 9 Winfried Menninghaus ist es in seinem Buch: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M. 2003, gelungen, die noch von Lacan beklagte Kluft zwischen Evolutionsbiologie und Freud'scher Psychoanalyse zu schließen. Menninghaus vermittelt zwischen Darwirr und Freud durch den Hinweis, dass unsere imaginäre Aufladung des begehrten anderen zurückgeht auf den Verlust der Körperbehaarung: »die Denudierung der Haut (mit der doppelten Konsequenz kultureller Verhüllung und imaginärer Ergänzung des Verhüllten) [ ... ]Nur Freud vermag zu zeigen, wie sexuelle Selektion im Verfolg ihrer eigenen Mechanismen zur Ausbildung von >Ornamenten< gelangen konnte (die nackte Haut, die AbkappeJung der weiblichen Reize von jeder Ovulationsanzeige), die von sich aus eine kultureHe Sublimierung des Sexualtriebs begünstigen, während sexuelle Ornamente im Tierreich stets ungebrochen und direkt der Häufigkeit von Kopulation und Reproduktionserfolg zuarbeiten« (S. 21 Of.). 10 »Ist das Gesetz das Ding? Sicher nicht. Immerhin, ich hatte Kenntnis vom 232

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Mit der Einführung des Signifikanten verwandelt sich das organische Bedürfnis des kleinen Kindes in ein das Leben fortan als cantus jirmus begleitendes Begehren: Trieb, sofern er den Menschen angeht und auf Sättigung drängt, wird sich in dieser Ordnung melden und sich ihr anpassen müssen. Neben >demande< und >besoin< spricht Lacan noch von >desirbesoin< zur gesprochenen >demandemanque a etre< des Menschen. 11 Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen den Grenzen des Gesetzes und dem Ausbruch der Perversion, die das rettende Wort herausschreit. Wie finde ich den Weg dorthin? Rolf Parr inventarisiert in seinem Überblicksbeitrag folgende »abendländische Initiationen« wie »Kommunion, Konfirmation, Polterabend, Junggesellenabschied oder Habilitation«. 12 Wie findet man von dieser schönen Ordnung der Dinge den Weg zur Perversion? Vielleicht, indem man zunächst fragt, ob die Habilitation wirklich eine Initiation darstellt, oder nicht vielmehr den Versuch der damit als sadistisch erkannten universitären Maschine, ihr Produkt zuletzt wieder zu verschlingen. Hinweisen kann man ferner darauf, dass es wohl keinen guten Roman oder kein interessantes Theaterstück gibt, das diese Initiationen zum Gegenstand hätte. Oder doch nur insofern, als das Scheitern an diesen Initiationen, das Durchdrehen und Weglaufen von Goethe, Kleist und Ding nur durch das Gesetz. In der Tat, hätte ich nicht den Gedanken gehabt, begierig auf es zu sein, hätte das Gesetz nicht gesagt - Du sollst es nicht begehren. Doch weckt das Ding, wenn es nur Gelegenheit findet, in mir allerhand Begehrlichkeiten dank des Gebotes, denn ohne das Gesetz ist das Ding tot. Nur ich war lebendig ehedem, ohne das Gesetz. Doch als das Gebot kam, loderte das Ding auf, kam von neuem, während ich den Tod fand. Für mich führte das Gebot, das in das Leben führen sollte, zum Tod, denn das Ding, das Gelegenheit fand, verführte mich dank des Gebots und hat mir durch es Todesbegehren gemacht. Ich denke, dass seit einem sehr kurzen Augenblick einige unter Ihnen zumindest die Vermutung haben, es sei nicht mehr ich, der spricht. Tatsächlich ist das, bis auf eine kleine Änderung - Ding an der Stelle von Sünde -, die Rede des heiligen Paulus über die Beziehungen von Gesetz und Sünde, Römerbrief, Kapitel 7, Absatz 7« (104). 1 I H. Lang: Die Sprache und das Unbewusste, S. 216. 12 Ralf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modeliierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«, im vorliegenden Band aufS. 11-64, hier S. 22.

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Mörike bis zu Thomas Mann und Thomas Bernhard den Rohstoff für interessante Literatur abgibt. Literatur ist in dieser Hinsicht Verarbeitung von Entgleisungserfahrungen, eine Phänomenologie der Peinlichkeiten und Entwickhmgshemmungen, das Archiv der liminalen Phase und also eine via regia zur Auftindung eines Nexus zwischen Literarizität und Liminalität. Es entsteht eine andere Ordnung, eine Gegen-Ordnung, die womöglich eine andere Initiation erlaubt: die Überschreitung hin auf ein Bewusstsein, das die Macht erkennt, die in Institutionen wie Junggesellenabschied, Polterabend oder Habilitation am Werke ist. Adorno hat diese Beobachtung im Hinblick auf die Formen, das Material, die Sujets, die Relationen zwischen den Künsten untereinander und ihrer Relation zur Gesellschaft ausgebildet zur allerdings umstrittenen Theorie der Negativität der Kunst, die auszubuchstabieren wäre als eine Theorie der TransgressiOn. Warum im Rahmen des Diskurses über Literalität tmd Liminalität die Perversionen überhaupt zur Sprache bringen? Der flüchtige Blick auf die Literatur berechtigt vielleicht zu der freilich kühnen Hypothese, dass Kunst aus der liminalen Phase emergiert oder doch als »Glasur« die Grenze zwischen uns und der Krise bezeichnet. Eingebettet in den schimmernden Bernstein der Darstellung spendet der in der Wirklichkeit schmerzhaft unangenehme Moskito sanfte Vorlust, oder, mit Lacan geredet: »[A ]uf der Seite des Werkes ist es immer schön« (152). Die Bestinunung der Kunst als Verarbeitung von Perversion- denn was ist Perversion anderes als das Scheitern an den Entwicklungsphasen, die unser Leben gliedern oder auch die Fixierung auf abgelebte Stufen? lässt sich leicht durch Freuds Forschungen nicht nur über den Dichter und das Phantasieren näher begründen. Lacan gibt eine wunderbar prägnante Formel der Sublimierung: »[S]ie erhebt ein Objekt -und hier wehre ich mich nicht gegen kalauerhafte Anklänge, die mit dem Gebrauch des Terms, den ich bringen möchte, verbunden sein mögen- zur Dignität des Dings« (138). Mehr noch: Es ist einmal mehr daran zu erinnern, dass Freud von der Schrift über Die Sexualität in der A'tiologie der Neurosen von 1898 bis zum Unbehagen in der Kultur von 1930 und dem Abriss der Psychoanalyse von 1938 die perverse Erfahrung als den Zugang zum Verständnis der Normalität ausgezeichnet hat. Ohne Aneignung der perversen Erfahrung gibt es weder Heilung von der Neurose noch Verständnis der Kultur. Jacques Lacan verschärft diesen Blick von der Grenze her, indem er die kulturellen Hauptleistungen aus psychischen Krisen hervorgehen lässt und eine scharfe These bietet, »in welcher die jeweiligen Mechanis-

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men der Hysterie, der Zwangsneurose und der Paranoia mit drei Termen der Sublimierung in Verbindung gebracht werden, Kunst, Religion und Wissenschaft« (159f.). Kunst ist demnach ein hysterischer Tanz um die peinigende Leere in unserem Herzen, Religion »besteht in allen Weisen, dieser Leere aus dem Weg zu gehen« (160), die Wissenschaft schließlich ist der paranoide Versuch, die Strukturen der Verschwörung eines bösen Gottes gegen unser Glück freizulegen, insofern sie sich blasphemisch als radikaler »Unglauben« (160) entwirft. Historisch konstituiert sich Psychoanalyse als aufgeklärte Überschreitung traditionaler Moralgrenzen, zunächst mit der weiland skandalösen These, dass es eine infantile Sexualität gibt, dann mit der These, der Ursprung neurotischer Erkrankungen sei in der Regel in sexuellen Entwicklungsstörungen zu suchen. In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse formuliert Freud diese Einsicht so, dass man sich fragt, wie der Katholik Lacan sich das hat entgehen lassen können: »[Die Neurotiker] stecken nun in ihrer Krankheit, wie man sich in früheren Zeiten in ein Kloster zurückzuziehen pflegte.« 13 Die Ethik der Psychoanalyse besteht demnach erstens darin, unsere Sensibilität flir die perverse Erfahrung zu wecken und zu stärken, weil sich nur von dieser Erfahrung her ein Scheitern an Initiationen sowie die komplexen Strukturen von Individuum, Kunst und Gesellschaft besser verstehen und am Ende womöglich die Neurotiker heilen lassen. Als Neuvermessung unserer Moralgrenzen und als Auslotung der unscharfen Grenzen zwischen Ich, Es und Überich - ein Problem, mit dem Freud seine Studie zum Unbehagen in der Kultur beginnt - ist Psychoanalyse ein notwendiges Instrument auf dem Feld von Literalität und Liminalität. Die Überlegungen könnten hier enden, entstünde nicht ein akutes Problem aus der Frage nach dem Glück, die Freud in Das Unbehagen in der Kultur aufgeworfen hat. Das Fernziel der Analyse besteht, wie auch Lacan wiederholt betont, auf den ersten Blick darin, den Menschen glücklich zu machen: »ein Anspruch auf Glück, auf happiness [... ], genau darum geht es« (348). Hier entsteht der bekannte Gestus, um dessen wesentlich politischen Gehalt es mir geht: Die Ethik der als tragische Erfahrung gedachten Psychoanalyse besteht darin, hysterisches Unglück in allgemeines Elend zu verwandeln, das Glücksideal unnachgiebig zu destruieren, den Anspruch so energisch zu frustrieren, bis sich die Erfahrung der vollkommenen Hilflosigkeit ereignet. Das ist weniger interessant als ein Anlass, vom 13 Sigmund Freud: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse ( 191617)«, in: ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. I, Frankfurt a.M. 1982, S. 34-445, hier s. 273.

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Therapeuten sein Geld zurückzuverlangen, als vielmehr als politisches Statement. Freud und nach ihm Lacan überschreiten ihrerseits eine Grenze, stoßen mit kühnen Analogieschlüssen von der Analyse des Individuums vor zur Analyse der Zivilisation. Angelt man in den Gewässern dieser Theorie, zieht man einen furchteinflößenden riesigen Fisch heraus, den Leviathan. Abschließend möchte ich die These vertreten, dass, wer die Zivilisationstheorie Freuds und Lacans akzeptiert, sich auf das Staatsmodell von Thomas Hobbes eichen lässt, der radikal modern die Grenze markiert, die zwischen uns und dem rettenden Wort liegt, der Gerechtigkeit, die unser Glück wäre. Die Gründung des Staates reagiert auf die totale Hilflosigkeit des nach dem Lustprinzip sein Glück in Freiheit suchenden Individuums. Freud und Lacan erläutern unser Unbehagen am Leviathan, dessen Apologie sie schneidend formulieren. Die Ärzte Sigmund Freud und Jacques Lacan sind als psychologische Sachverständige Angestellte in der Verwaltung des Commonwealth von Thomas Hobbes.

Homo homini Iupus Freuds späte Schrift über Das Unbehagen in der Kultur ist vielen als eine Summa erschienen, als Text mit klassischem Anspruch. Freud inszeniert gelassen, was sein eigener Glücksbegriff ist: »Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben.« 14 Ein Thema kommt in dieser Schrift nicht vor: unsere Angst vor dem eigenen Tod, bei dem wir keine Hilfe erwarten können. Es ist erstaunlich, dass Freud in der Diskussion der religiösen Illusion die tröstende Funktion der Religion nicht einmal nennt, zumal im Kontext seiner Epoche, die nach dem I. Weltkrieg zahlreiche Todesphilosophien erzeugt hat, die uns als Sein zum Tode denken. So verstärkt er den stoischen Gestus. Freud zeigt uns, was wahre Unsterblichkeit ist: eine Figur von welthistorischer und unvermeidlicher Statur zu sein. Lacan insistiert im Gegensatz zur Inszenierung der unerschütterlichen Seelenruhe des Unsterblichen auf der untilgbar »kreationistischen« Dimension unseres Lebens (369 u.ö.), darauf, dass wir in gerrau dem Moment, in dem wir entdecken, dass der reale Vater nicht »der große Macker« (366) ist, sondern »ein Idiot oder einfach ein armer Kerl« (367), anfangen, mit dem imaginären 14 Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur (1930)«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 9, S. 191-270, hier S. 211. 236

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Vater zu hadern: Die »Funktion des Überichs ist [ ... ] in letzter Hinsicht Hass auf Gott« (367). Es gibt bei Lacan keine Zukunft der Illusion, aber eine klarere Ausleuchtung des religiösen Szenarios. Hinter dem Konflikt mit dem realen Vater taucht der Konflikt mit dem großen Anderen auf. Das Gebet ist nichts anderes als der Versuch, mit Sprache über Sprache hinauszugelangen. Freud, auch fiir Lacan >>Unser aller Vater« (220), gibt die Matrix der atheistischen zivilisationstheoretischen Ausführungen nicht preis: Thomas Hobbes. Wenn man die Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staat, die Hobbes in den Teilen 1 und 2 des Leviathan entwickelt, erkennt als begriffliche Vorstufe der von Freud in den Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens eingeführten Leitdifferenz zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip, wird die Nähe zwischen Hobbes und Freud deutlich, die sich vielfach aufspüren lässt. So kehrt etwa Hobbes' Warnung wieder, der Rückfall in den Naturzustand sei jederzeit möglich. 1915 heißt es bei Freud in der Kriegsschrift: Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch so weit bestehen, dass er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordentliche Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung Regression- bezeichnen, denn es kommt wohl vor, dass eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich. 15 In der Schrift über das Unbehagen reichen die Bezüge auf den Leviathan bis in Details der Formulierungen hinein. Ich gebe hier nur einige Belege für die These, dass man Freud lesen kann als Bestätigung Hobbes' aus der Perspektive psychologischen Expertenwissens. Im Leviathan heißt es etwa: Gesetzt, sie überwänden durch eine einmütige Anstrengung ihrer Kräfte den Feind, so wird dennoch nachher, wenn sie keinen gemeinsamen Feind mehr haben oder wenn ein und derselbe von einigen als Feind und von andem als Freund angesehen wird, die Gesellschaft notwendig in sich gespalten werden

15 Sigmund Freud: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 9, S. 33-60, hier S. 45. 237

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und wegen der Verschiedenheit ihrer Ansichten ein neuer Krieg unter ihnen selbst entstehen. 16

Die entsprechende Passage bei Freud lautet: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere flir die Äußerung der Aggression übrig bleiben.« 17 Bei Hobbes heißt es 1651, »dass der größte Teil der Menschen sich mit der Aufsuchung der natürlichen Ursachen wenig beschäftigt und sinnliche Vergnügungen mit allem, was dazn fUhrt, ftir das höchste Glück hält«. 18 »Glücheligkeit schließt in sich einen beständigen Fortgang von einem Wunsch zum andem, wobei die Erreichung des ersteren immer dem folgenden den Weg bahnen muss.« 19 Knapp 300 Jahre später notiert Freud: »Sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben.«20 »Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt.« 21 Hobbes schreibt, um nur eine der zahlreichen Varianten zu zitieren, über die Religion: [D]ie Verehrung, welche den unsichtbaren Mächten aus natürlichem Gefühl geleistet werden kann, ist dieselbe, welche man gewöhnlich seinen Vorgesetzten erweist. 22 [ ... ]Aus dieser Absicht [das Volk im Gehorsam zu erhalten] heraus brachten sie [die Priester] das Volk zunächst auf die Gedanken, die Religionsvorschriften rührten nicht von ihnen, sondern von einem Gott oder Dämon her; oder aber sie selbst wären eine höhere Art von Menschen. 23

Der Sachverständige von 1930 bedauert: [Die Religion] ist so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd, dass es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich wird zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals über diese Auffassung des Lebens erheben können? 4

16 Thomas Hobbes: Leviathan. Erster und zweiter Teil, übers. von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1970, S. 153. 17 S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 243. 18 T. Hobbes: Leviathan, S. 74. 19 Ebd., S. 90. 20 S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 208. 21 Ebd. 22 T. Hobbes: Leviathan, S. 102. 23 Ebd., S. 107. 24 S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 206. 238

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Hobbes formuliert das zur Entstehung des Staates führende Agreement wie folgt: >Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.< Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott. 25 Der moderne Psychologe nobilitiert diesen Akt zur Gründungsurkunde der Zivilisation: »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt«/6 und bemerkt: »Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen.«27 Hobbes konstatiert, »dass die Natur die Menschen so ungesellig gemacht und sogar einen zu des anderen Mörder bestimmt habe: und doch ergibt sich dies offenbar aus der Beschaffenheit ihrer Leidenschaften und wird durch die Erfahrung bekräftigt«.28 Freud spielt auf diese RobbesStelle an in einer Passage, die dann ausschlaggebend wird für und zitiert wird von Lacan: Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini htpus?9 Man denkt immer, dieser Satz entstamme dem Leviathan, der so elegante Aphorismen enthält wie über den Naturzustand als bel/um omnium contra omnes oder über das Gesetz, das von der Macht, und das heißt von der Macht über Armee und Polizei, bestimmt wird: auetorilas non veritas facit Iegern. Das Zitat, das den Menschen den Wolf des Menschen

25 26 27 28 29

T. Hobbes: Leviathan, S. 155. S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 225. Ebd. T. Hobbes: Leviathan, S. 116. S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 240. 239

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nennt, stammt, wie der belesene Freud weiß, nicht von Hobbes, der es auch nicht verwendet, sondern von Plautus. Warum ist es wichtig, sich klar zu werden über den Bezug Freuds auf Hobbes, den man noch viel weiter ausbauen könnte, etwa im Hinblick auf die Theorien über Leidenschaft und Verrücktheit? Es ist leicht erkennbar, dass Lacan in das Duett über die Schlechtigkeit der Menschen einstimmt und seine ethische Argumentation auf der Einsicht Freuds basiert, dass die Forderung, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das Paradebeispiel dafür sei, wie das Kultur-Überich seine Untergebenen überfordert. 30 Lacan lässt uns wissen: »Zuallererst ist der Nächste ein böses Wesen« (225), und zeigt auf, dass das Verbrechen das wichtigste Anthropologicum darstellt (vgl. 313), nämlich als jener Akt, der die natürliche Ordnung von Entstehen und Vergehen »nicht respektiert« (313), insofern einerseits für einen selbst genussvolle Unsterblichkeit, anderseits für den in der Optik des Lebensneides (vgl. 285) gesehenen anderen unendliches Leiden ersehnt wird. Es ist eine Umschrift Hobbes'scher Theorie, wenn Lacan lehrt: Die wirkliche Natur des Guten, sein tiefer Doppelcharakter liegt darin, dass es nicht schlicht und einfach ein natürliches Gutes ist, die Antwort auf ein Bedürfnis, sondern mögliche Macht, Macht zu befriedigen. Deshalb ordnet sich jedes Verhältnis des Menschen zum Realen der Güter durch das Verhältnis zur Macht, die die Macht des anderen ist, des imaginären anderen, ihn derselben zu berauben. (281) Wie Freud selbst anmerkt, die These von der Schlechtigkeit des Menschen ist nicht eben originell. Die politische Dimension der Hobbes-Lektüre wird erst erkennbar durch die strukturalistische Reform der klassischen Psychoanalyse durch Lacan. Hobbes' Modernität besteht darin, wie Herfried Münkler glanzvoll erläutert hat/ 1 dass er den in der traditionellen politischen Philosophie leitenden, metaphysisch oder direkt religiös kontaminierten Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verabschiedet und durch die strikt empiristisch begründete Differenz von Naturzustand und Staat ersetzt. Der Hinweis darauf, dass in der Freud'schen Differenz zwischen Lust- und Realitätsprinzip die Hobbes'sche Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staat wiederkehrt, ist aufschlussreich, weil der Hobbes'sche Nominalismus, sein radikaler Neubeginn in der Politischen Phi30 Ebd., S. 268.

31 Herfried Münkler: Thomas Hobbes, Frankfurt a.M., New York 2001,

s. 56ff. 240

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losophie jene Antimetaphysik antizipiert, die Lacan mit der Theorie der differentiellen Ordnung der Signifikanten entwickelt. Und diese These reicht weiter als zu einer simplen Bestätigung der Hobbes 'schen Auffassung, ohne Sprache fände >mnter den Menschen Gemeinwesen, Gesellschaft, Vertrag, Frieden ebensowenig statt wie unter Löwen, Bären und Wölfen«. 32 Die Einsicht, dass Lacan den Nominalismus Hobbes' fortschreibt, also das Bewusstsein, »dass Worte an sich ohne Kraft sind«,33 heißt eben in der Umkehrung, dass sich im Kern der Lacan'schen Variante der Psychoanalyse eine Apologie des Leviathan einnistet. 300 Jahre vor Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen besteht Hobbes darauf, die Bedeutung eines Wortes allein aus seinem Gebrauch in der Sprache zu bestimmen. Das gilt insbesondere für seither nur mehr imaginär rettende Worte wie gut und böse oder gerecht und ungerecht. Im Leviathan heißt es: Es müssen die Ausdrücke gut, böse und schlecht nur mit Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; denn nichts ist durch sich selbst gut, böse oder schlecht, und der Bestimmungsgrund dazu liegt nicht in der Natur der Dinge selbst, sondern er muss von dem, der dieselben gebraucht (wenn anders keine Verbindung mit dem Staate obwaltet), oder (falls diese bestehen würde) von dem Stellvertreter des Staates oder von einem selbstgewählten Schiedsrichter abhängen. 34

Und weiter: Bei dem Krieg aller gegen alle kann auch nichts ungerecht genannt werden. ln einem solchen Zustande haben selbst die Namen gerecht und ungerecht keinen Platz. Im Kriege sind Gewalt und List Haupttugenden; und weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit sind notwendige Eigenschaften des Menschen. 35

Die Psychologie Freuds und Lacans ist eine Fortsetzung der Untersuchungen Thomas Hobbes', im Licht der Entdeckung des Unbewussten. Die aus den entsprechenden Forschungen gezogenen Folgerungen verfeinem die Hobbes'sche Psychologie immens. Namentlich fehlt bei ihm natürlich sowohl die Lehre von der Projektion wie auch der von Freud am Ende der Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur diskutierte Mechanismus des grausamen Überichs, das sich, wie Lacan reformuliert,

32 33 34 35

T. Hobbes: Leviathan, S. 28. Ebd., S. 159. Ebd., S. 50. Ebd., S. 117. 241

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im Individuum zu einem »Parasiten [entwickelt], der sich aus den ihm zugestandenen Befriedigungen ernährt« ( 112). Doch die von Lacan gebotenen eleganten Verfeinerungen, seine beglückende Lebensweisheit, all die bunten Beschreibtmgen der Komplexität unseres Selbstverhältnisses und unserer Verhältnisse zu andern, ändern nichts daran, dass er die von Hobbes vorgezeichneten Bahnen nicht verlässt, sondern affirmiert. Seit 1989 hat es sich angesichts der Entwicklung hin zu einem neuen Imperialismus, genannt Globalisienmg, zum Gemeinplatz entwickelt, wir lebten nach dem Untergang der Geschichtsphilosophie in einer Welt, deren Strukturen Hobbes freigelegt habe, der auf die Frage, wo er das Wissen über den Naturzustand hernehme, entwaffnend antwortet: »Was damals kleine Familien taten, das tun jetzt bürgerliche Gesellschaften als große Familien«. 36 Indem Lacan das Böse im Guten freilegt, den Autodestruktionstrieb innerhalb des Begehrens und das Begehren selbst als Begehren nach dem, was der andere hat und ist, stellt er die Diagnose, wir existierten in der Welt des Leviathan, bereits 1960: Die Frage nach dem Höchsten Gut stellt sich für den Menschen von alters her, doch er, der Analytiker weiß, dass das eine abgeschlossene Frage ist. Nicht nur hat er nicht, was man ihm verlangt, er hat es mit Sicherheit nicht, das Höchste Gut, sondern er weiß, dass es ein solches nicht gibt. Eine Analyse an ihr Ende gebracht zu haben, heißt nichts anderes, als auf diese Grenze gestoßen zu sein, an der sich die ganze Problematik des Begehrens stellt (357).

Die klare Auskunft steht in markantem Gegensatz zu einer anderen Passage, in der Lacan ebenso entschieden betont, dass »wir, als Analytiker, denken, dass es kein Wissen gibt, das sich nicht auf einem Grund von Unwissenheit erhebt« (208). Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sich der Widerspruch zwischen diesen Aussagen nur auf zwei Weisen auflösen lässt. Entweder man akzeptiert den mystischen Anspruch Lacans (vgl. 269 u.ö.), der meines Erachtens nicht ernst genug genommen wird, und nimmt die Rede vom Grund von Unwissenheit in diesem Sinn. Oder man hält sich in der Welt des Leviathan, in der Gott unser Vorgesetzter ist. In dieser Welt bezieht Lacan seine Sicherheit im Hinblick auf das Höchste Gut einzig aus dem Vertrauen in die Stabilität der von der Macht gestützten Institutionen, die ihm die Artikulation seines durchaus unterrichteten Begehrens gestatten. Um ein Wortspiel Lacans aufzugreifen: Es ist der Thing, die

36 Ebd., S. 152. 242

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staatliche Ordnung, die sich als das Ding herausstellt und die Ethik der Psychoanalyse orientiert. Zwischen dem Gesetz, das als Exzess des Guten den Bruder mit dem Zweiten Tod schlägt, und dem eigenen Tod hat Antigone zu wählen: »Zwischen beiden wählt Antigone und sie wählt, einfach und rein Hüterirr des Seins des Verbrechers zu sein« (339). Der Leviathan oder der Tod, auf diese Alternative laufen die vierhundert Seiten des Seminar VII über die Ethik der Psychoanalyse zu.

Literatur Bergdolt, Klaus: Die Pest. Geschichte des schwarzen Todes, München 2006. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. 3 Aufsätze, übers. v. Käte Hügel, Frankfurt a.M. 1973. Freud, Sigmund: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a.M. 1982. Freud, Sigmund: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17)«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 1, S. 34-445. Freud, Sigmund: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 9, S. 33-60. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur (1930)«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 9, S. 191-270. Goebel, Eckart »Das Ding (Sublimieren). Lacans Luther«, in Komparatistik, Jb. d. dt. Ges. für A VL (2007). Hobbes, Thomas: Leviathan. Erster und zweiter Teil, übers. von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1970. Hückmann, Dania: Jean Amerys Lefeu oder Der Abbruch. Das Verhältnis von Erfahrung und Denken, Magisterarbeit am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin 2006 (unveröffentlicht). Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch VII, übers. v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin 1996. Lang, Hermann: Die Sprache und das Unbewusste. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973 . Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M. 2003. Münkler, Herfried: Thomas Hobbes, Frankfurt a.M., New York 2001. Whitman, Walt: »So Long!«, in: ders.: Leaves ofGrass, New York 1962.

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DURCH DIE SCHRIFT GEHEN: DIE ÜBERSETZERSZENEN IM DON QUIJOTE VON

1605

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Schwellen und Buchstaben Wenn die Literaturgeschichte spätestens seit den Zeiten der Romantik nicht umhin kann, Cervantes' Don Quijote als Gründungstext zu feiern, so hat dies nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun, dass dieses Buch auf eine konzentrierte und radikale Weise literarisch gemacht ist; dass es also seine Leser einer Erfahrung der Buchstäblichkeit aussetzt, die um 1600 beispiellos war. Dies gelingt Cervantes unter anderem dadurch, dass er seine Figuren der gleichen Erfahrung aussetzt und sie zwingt, sich darin zu behaupten - und zwar sowohl, was die Sphäre des Buchstabenhaften (der Schriftzeichen und beweglichen Lettern), als auch, was die Sphäre des Buchstäblichen (der wörtlichen und weniger wörtlichen Bedeutungen) betrifft. Sucht man nun im Don Quijote von 1605, wie es unser Thema verlangt, nach einer Verbindung zwischen dieser Erfahrung der Buchstäblichkeit und der Erfahrung der Schwelle, so stößt man bald auf das Geschäft, den Akt und die Szene des Übersetzens; und zwar vor allem die des schriftlichen Übersetzens, in dem die Buchstaben, womöglich auch verschiedener Alphabete, vielleicht auch im Verein mit nichtbuchstäblichen Zeichen, den Akt der Interpretation über eine sichtbare Schwelle schicken. Die Schrift ermöglicht es außerdem, das Verhältnis zwischen Original und Übersetzung zusätzlich zu fixieren, etwa durch eine Beglaubigung oder eine Signatur (zwei Schrift-Akte, die ihrerseits von der Übersetzung ausgeschlossen sind). In ihnen kann eine Spur hinterlassen, was nicht selten spur- und namenlos bleibt: die Person des Übersetzers. Die zwei Übersetzerszenen aus dem Don Quijote, die ich im Folgenden kommentieren möchte, sind solche Schrift-Szenen - was nebenbei gesagt keine Selbstverständlichkeit ist, weil der vielsprachige mediterrane Kulturraum, in dem zumindest Teile des Don Quijote spielen, ein Raum des alltäglichen mündlichen Sprachenkontakts war; wenn nicht

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sogar der Raum einer Sprache, die das Problem der Übersetzung durch Amalgamierung zu umgehen suchte: die mediterrane Lingua franca, in der sich Elemente der verschiedenen romanischen Sprachen mit griechischen, türkischen, berberischen und arabischen Anteilen mischten. 1 Der Don Quijote von 1605 führt einen Erzähler ein, der sich zunächst nicht als leidenschaftlicher Schreiber, sondern als leidenschaftlicher Leser präsentiert: » ... soy aficionado a leer aunque sean los papeles rotos de las calles ... « (1 07f- ein vielzitierter Satz, der einer Epoche angehört, in der Gutenbergs Schwarze Kunst noch ein Faszinosum war und Druckerschwärze eine lmappe Ressource. Der Don Quijote treibt bekanntlich ein fieberhaftes Spiel mit der Materialität des Geschriebenen. Er bietet Archive, Manuskriptfunde und Manuskriptverluste auf, Entzifferungen, Um- und Abschriften, Spiele mit der typographischen Gestaltung des eigenen Textes und mannigfaltige Inszenierungen des Schreibakts und der Feder. Es sind diese Inszenierungen, die den Boden bereiten für jene Übergänge, die das Buch zum Begründer einer neuen Gattung gemacht haben: die schwindelerregenden Sprünge aus der Erzählung in deren Reflexion und aus der Reflexion zurück in die Erzählung. Zu zeigen wäre, dass solche Inszenierungen im Don Quijote - anders als sie im Licht der romantischen Rezeption erscheinen mussten - nicht in erster Linie der Konstitution eines autonomen, weil selbstbezüglichen literarischen Raumes dienen; keinesfalls aber erschöpft sich ihre Funktion in der Herstellung dessen, was man vage »Selbstreferenz« zu nennen pflegt. Dagegen spricht die Beobachtung, dass solche Inszenierungen der Schriftlichkeit im Quijote bevorzugt an Situationen der Ausweglosigkeit, an Aporien im etymologischen Sinne des Wortes gekoppelt werden, angefangen mit dem Gefängnis, in dem, wie die Vorrede von 1605 behauptet, die Geschichte von don Quijote »gezeugt« worden sein soll (9). Genau in diesen ausweglosen Situationen, so die These, die ich an zwei Beispielen erproben möchte, zieht sich Cervantes' Text auf das eigene Geschriebensein oder Geschriebenwerden zurück und sucht den Ausweg in der Reflexion auf diese Bedingungen; eine Bewegung, die man auch beschreiben kann als den Versuch, durch die Schrift zu gehen, ja, unter Umständen sogar in der Schrift zu bleiben. Orte der Aporie in diesem Sinn sind auch die Schauplätze der beiden Szenen, um die es hier geht: die so genannte Alcana von Toledo und die

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Zur Lingua franca vgl. Henry R. Kahane u.a.: The »lingua franca« in the Levant. Turkish nautical terrns of ltalian and Greek Origin, Urbana, IL 1958. Zitate aus Don Quijote mit Seitenangabe in Klammem nach folgender Ausgabe: Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote de Ia Mancha. Edici6n del Instituto Cervantes, hg. v. Francisco Rico u.a., Barcelona 1998. 246

DIE ÜBERSETZERSZENEN IM DON QUIJOTE VON 1605

Bafios von Algier. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die einzigen Szenen im ersten Don Quijote, in denen der Vorgang des Übersetzens in actu gezeigt wird. Übersetzt wird in beiden Fällen aus dem Arabischen ins Spanische. Die beiden Übersetzer sind komplementäre Figuren: ein morisco aljamiado, also ein zweisprachiger Angehöriger der muslimischen Minderheit in Spanien, und ein renegado, also ein zum Islam konvertierter Christ. Die übersetzten Texte freilich sind äußerst verschieden und tauchen auch an strukturell höchst unterschiedlichen Orten in Cervantes' Erzählung auf: In der Aleami von Toledo findet der Erzähler des Romans das arabische Manuskript mit der verlorenen Fortsetzung der von ihm begonnenen Erzählung von don Quijote und engagiert einen Morisken als Übersetzer (Kapitel I, 9). Die Bafios von Algier - Bafios hießen im ottomanischen Machtbereich die Internierungslager für christliche Gefangene - sind Schauplatz einer der in die Handlung des Don Quijote eingefügten Abenteuererzählungen, der Historia del cautivo bzw. Geschichte des Gefangenen aus Algier (Kapitel I, 39-41 ). Hier in den Bafios erhält der Protagonist dieser Binnenerzählung, ein so genannter cautivo (eine christliche Geisel in Händen algefiseher Korsaren) mehrere arabische Kassiber von einer mysteriösen muslimischen Frau und engagiert einen zweisprachigen Renegaten, um sie zu übersetzen. Die beiden Übersetzer-Szenen sind darauf angelegt, einander zu reflektieren. 3 Sie beziehen beide liminale Figuren ein und sind damit angeschlossen an eine sehr allgemeine Semantik des »Übergehens«, »Wechselns«, »Wendens«, »Umkehrens« und »Verkehrens« (Cervantes verwendet gelegentlich für »übersetzen« das Verb volver (108) und vergleicht an einer späteren Stelle das Übersetzen mit dem Betrachten der Kehrseite eines flämischen Wandteppichs: »Corno quien mira los tapices flamencos por el reves ... « (1144)). In den beiden Übersetzerszenen des Don Quijote von 1605 stellt die Übersetzung eine Übertretung dar: im ersten Fall die Übertragung aus einer verbotenen Sprache, im zweiten Fall die eines illegalen Textes. Beide Szenen erklären Einsprachigkeil zur Fiktion, und zwar schon vor dem Akt der Übersetzung: Den fiktiven arabischen Originaltexten ist die Nicht-Einsprachigkeit jeweils schon eingeschrieben in Gestalt kulturell hybrider Frauenfiguren; im Fall des Quijote-Manuskripts ist dies Aldonza/Dulcinea, die phantasmatische Geliebte, auf deren hispano-arabische

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Walter Marx deutet die gesamte Erzählung des Gefangenen als mise en abyme des Romans. Vgl. Walter Marx: »Die Säkularisierung der analogen theologischen Denkform der Typologie im Don Quijote von 1605«, in: Eva Reichenberger/Kurt Reichenherger (Hg.): Cervantes y su mundo I, Kassel 2004, S. 169-217, hier S. 204f. 247

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Identitätszeichen Andre Stoll hingewiesen hat,4 im Fall der Kassiber von Algier ist es die synkretistische Religion von deren Verfasserin, der kryptachristlichen Muslimirr Zoraida/Maria. Die Tatsache, dass sich hier (und anderswo im Quijote) Eigennamen sprachlich verdoppeln, muss überraschen; immerhin gilt der Eigenname meist als von der Übersetzung ausgenommen. Das Problem wird weiter unten noch einmal zur Sprache kommen.

Passagen, Grenzen, Fugen Zunächst zum zweiten der genannten Schauplätze - den Bafios von Algier - und zu der dort eingeführten Figur des übersetzenden Renegaten: Diese Figur entstammt einem komplexen Feld, dessen historische Koordinaten hier nur angedeutet werden können: Die Renegatengeschichten der frühen Neuzeit sind untrennbar von der Geschichte des Mittelmeers mit seiner breiten christlich-muslimischen Kontakt- und Austauschzone. 5 Auf den ersten Blick wirken diese Renegatengeschichten, die uns einerseits aus der Literatur, andererseits aus den Archiven, namentlich den unermesslichen Sammlungen der Inquisitionstribunale entgegentreten, wie typische Renaissance-Geschichten im Sinne Stephen Greenblatts: Geschichten von der Mobilisierung und oft gewaltsamen Re-Stabilisierung der Identität in einer sich in Bewegung setzenden Gesellschaft, Geschichten von Namenswechslern, Verrätern, Grenzgängern, liminal figures, go-betweens und shifters, wie sie aus der Mythen- und Märchenfor4

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Andre Stoll: »Aldonza/Dulcinea en el manuscrito iluminado de Cide Hamete Benengeli. Hacia una arqueologia cultural de los fundamentos aljamiados del Quijote«, in: Nuria Martinez de Castilla Mufioz/Rodolfo Gil Benumeya Grimau (Hg.): De Cervantes y el islam, Madrid 2006, S. 303323, mit dem Verweis auf die Rolle, die der Name Aldonza in Francisco Delicados Retrato de Ia lozana andaluza ( 1528) spielt. Vgl. Bartolome Benassar: »Renegats et inquisiteurs (XVIe-XVlle siecles)«, in: Agustin Redondo (Hg.): Les problemes de l'exclusion en Espagne (XVIe-XVIIe siecles), Paris 1983, S. 105-111; Bartolome Benassar!Lucile Benassar: Les Chretiens d' Allah. L'histoire extraordinaire des renegats. XVIe-XVIIe siecles, Paris 1989, S. 110-117, hier S. 116. Zur Sozialgeschichte der Renegaten vgl. außerdem: Fernand Braudel: »Les Espagnols et l'Afrique du Nord«, in: Revue Africaine (1928), S. 184-233 u. S. 351-428; Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a.M. 1994, hier Bd. 2, S. 604-610; Jacques Heers: Les barbaresques. La course et Ia guerre en Mediteranee. XIVeXVIe siecle, Paris 2001; Wilhelm Hoenerbach: Cervantes und der Orient. Algier zur Türkenzeit, Walldorf-Hessen 1953. 248

DIE ÜBERSETZERSZENEN IM DON QUIJOTE VON 1605

schung vertraut sind. Nicht selten sind es ausgerechnet die Historiker, die den Eindruck vermitteln, wir hätten es hier mit ebenso v ielen Figuren einer großen mediterranen Abenteuererzählung zu tun. 6 Solche Figuren, die die Ränder symbolischer Ordnungen bewohnen, bevölkern nun gerade Cervantes ' Werke in großer Zahl: Konvertiten, entlaufene Mönche, Protestanten, Barbaren, Korsaren, Wilde, Kriegsgefangene, Delinquenten, Vogelfreie, Transvestiten, Verrückte, Hexen, Lykanthropen, sprechende Tiere -und eben Renegaten. Statt mit dem vagen Begriff der »Schwellenfigur«, in dem eine unverbindliche Feier frühneuzeitlichen Grenzgängerturns vorhersehbar angelegt ist, sei der Ort des Renegaten, der in der Historia del cautivo im Don Quijote auftritt, mit drei Begriffen bezeichnet, die hier vielleicht an die Stelle einer Topologie der Schwelle treten können: Passage, Grenze und Fuge. Mit ihrer Hilfe lässt sich beschreiben, was mit der großen mediterranen Kontaktzone, die viele Arten von Passagen zwischen Islam und Christentum zuließ, im Lauf des langen 16. Jahrhunderts geschehen war. Im Anschluss an den Historiker Andrew Hess lässt sich diese Entwicklung beschreiben als fortschreitende kulturelle Differenzierung,7 in deren Verlauf sich die Zone der Passagen (zu der jahrhundertelang nicht nur der griechische Archipel und Süditalien, sondern auch der größere Teil der iberischen Halbinsel gehört hatten) immer mehr verengte, um sich schließlich zur Grenze zwischen Territorien zu verhärten, die mit den Mitteln des neuzeitlichen Flächenstaates, nicht zuletzt mit einer zentralisierten Religions- und Sprachpolitik, nach immer größerer kultureller Homogenität strebten. Entlang dieser Grenze waren, wie die Wachtürme an den Küsten Andalusiens und Siziliens, die Inquisitionstribunale postiert, die als Teil eines hoch entwickelten Verwaltungsapparats die Ränder dieser Homogenität überwachten. Eine Folge dieses Prozesses war ein zunehmendes Disengagement der beiden hegemonialen Blöcke, des ottomanischen und des spanisch-habsburgischen Imperiums, deren Grenzzone spätestens ab 1580 (also zu der Zeit, als Cervantes zu schreiben begann) für Jahrhunderte von der Bildfläche der großen europäischen Poli-

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Vgl. Stephen Greenblatt »Psychoanalysis and Renaissance Culture«, in: ders.: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture, New York 1992, S. 131-145, hier S. 139, S. 141. Zu dem von Greenblatt eingeführten Begriff des »go-between« (Stephen Greenblatt Marvellous Possessions, Oxford 199 1, S. 140) vgl. Andreas Höfele/Werner v. Koppenfels (Hg.): Renaissance Go-Betweens, Berlin, New York 2005, S. 6- 10. Zum spanischen Kontext: Barbara Fuchs: Passing for Spain. Cervantes and the Fictions of Identity, Urbana, Chicago 2003. Andrew C. Hess: The Forgotten Frontier. A History of the SixteenthCentury Ibero-African Frontier, Chicago, London 1978, S. 187-211. 249

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tik verschwand und nur noch als Raum des »kleinen« oder »schmutzigen« Krieges in Betracht kam. Entlang dieser imperial befestigten und ideologisch überwachten Kulturgrenze aber bilden sich Fugen, Exklaven oder Enklaven, die bei Cervantes und anderen Autoren als Zonen der Zweideutigkeit erscheinen. Solche Fugenräume sind die Schauplätze, um die es hier geht: der Renegatenstaat Algier und- in viel kleinerem Maßstab- die Alcana in Toledo. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Renegaten weniger als Vertreter einer neuzeitlichen Mobilisierung der Identitäten, vielmehr als Statthalter einer schwindenden Zone kultureller Übergänge, für die in der neuen mediterranen Ordnung kein Raum mehr sein sollte. 8 Der von südeuropäischen Renegaten dominierte Stadtstaat Algier war zeitgenössischen spanischen Beobachtern wie Cervantes nicht nur aufgrund seines florierenden Kapergewerbes suspekt, sondern auch, weil sie in dieser Stadt Merkmale eines Gesellschaftstyps wahrnahmen, den das Königreich Spanien gewaltsam hinter sich gelassen hatte: Merkmale einer polyethnischen Gesellschaft, die auf ein gewisses Maß an religiöser Toleranz angewiesen war, 9 die ohne institutionalisierten Glaubenszwang und ohne einheitliche Sprachpolitik regiert wurde. Das letztgenannte Merkmal ruft in Cervantes' Historiadel cautivo - wohl eher als Abwehrmaßnahme - eine reflektierte Mehrsprachigkeit (mit Turkismen, Arabismen, Italianismen, Elementen der Lingua franca und nautischem Spezialvokabular) auf den Plan, die selbst im sprachbewussten Ensemble des Don Quijote ihresgleichen sucht und moderne Leser immer wieder fasziniert hat; 10 die Bemerkungen des Erzählers zur »Bastardsprache« Lingua franca (476) lassen allerdings wenig Zweifel daran, dass er diese ungeregelte Sprachmischung als Indiz der Verworfenheit und Gnadenferne der alge8

Nicht zufällig beginnt die Repression gegen die spanischen Morisken 1499 mit Maßnahmen gegen die renegadas und renegados im neu eroberten Königreich Granada (vgl. A. C. Hess: The Forgotten Frontier, S. 135). Dieser eigentlich archaische Charakter des Renegatenturns dürfte auch der Grund daftir sein, dass die bisher umfassendste Studie zur Sozialgeschichte der Renegaten (B. und L. Benassar: Les Chretiens d' Allah) aus der Schule Brandeis helvorgegangen ist, der die »mediterrane Welt« als Erfahrungseinheit und Arena kulturübergreifender historischer Zyklen beschrieb. 9 In Cervantes' Drama Los banos de Arge! (V. 2070) äußern sich die christlichen Gefangenen erstaunt darüber. 10 Schon die Zuhörer, die im Don Quijote der Erzählung des Gefangenen aus Algier lauschen, geben ihrer Befremdung angesichtsder sprachlichen Form dieser Erzählung Ausdruck: »Por cierto, sefior capitan, el modo con que habeis contado este estrafio suceso ha sido tal, que iguala a la novedad y estrafieza del mesmo caso: todo es peregrino y raro y lleno de accidentes que maravillan y suspenden a quien los oye ... juifecriture< vorgeschlagen hat und die im Zusammenhang mit der Literarizität von literarischen Texten stehen. Da diese Positionen mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Legitimität ausgestattet sind, betrifft dieser Aspekt gleichzeitig die Grenzen zwischen verschiedenen hierarchisch geordneten ästhetischen Praktiken unterschiedlicher 11 Die Hypothesen zur biographischen Genese von Celines Antisemitismus sind vielfaltig: Abgesehen davon, dass der Antisemitismus nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, und nicht nur bei der Rechten, sondern auch bei der Linken en vogue war (Frederic Vitoux: La vie de Celine, Paris 2005, S. 534; Philippe Almeras: Celine. Entre haines et passion, Paris 1994, S. 138f.) und der Antisemitismus insofern eher die Regel als die Ausnahme war, werden immer wieder persönliche Gründe fiir Celines Antisemitismus angefiihrt: Angebliche Probleme mit Celines Chef Ludwik Rajchman beim Völkerbund, obwohl dieser ihn gefördert hatte (P. Almeras: Celine, S. 138), oder aber die Tatsache, dass Elisabeth Craig, Geliebte Celines, in den USA einen angeblichen Juden geheiratet hatte (ebd., S. 159) oder aber die Frustration nach der Ablehnung einer Aufftihrung seiner Ballette bei der Pariser Weltausstellung (F. Vitoux: La vie de Celine, S. 520) werden als Motiv fiir die vorgebliche antisemitische Wende angefiihrt. 12 Zu den Begriffen Liminalität und Literalität und ihrer theoretischen Grundlegung vgl. die Aufsätze von Rolf Pan· und Achim Geisenhanslüke in diesem Band, S. 11-63 und S. 97-119. 13 Celine selbst hat übrigens im Unterschied zur Behauptung Julia Kristevas (vgl. J. Kristeva: Pouvoirs de l'horreur, S. 205) diese Differenz nivelliert. Romane und Pamphlete wurden unterschiedslos unter seinem Autorennamen Louis-Ferdinand Celine veröffentlicht und nicht, wie Kristeva suggeriert, unter Louis-Ferdinand Celine und Ferdinand Destouches. 267

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Legitimität, d.h. die durch >feine Unterschiede< des ästhetischen Urteils gezogenen Grenzen. Diese Dimension der Celine'schen Poetik hängt eng zusammen mit der für Literatur konstitutiven Grenze zwischen relativ autonomem literarischem Feld und sonstiger gesellschaftlicher Praxis, eine Abgrenzung, die auch eine Trennlinie zwischen Poetik und Politik zieht. Die Untersuchung dieser Aspekte erlaubt es vielleicht, die Frage zu beantworten, ob es einen poetologischen (und nicht bloß biographischen oder psychologischen) Zusammenhang zwischen einer der aufregendsten und faszinierendsten Revolutionen der poetischen Sprache im 20. Jahrhundert und dem reaktionärsten, anachronistischsten, ja atavistischstell politischen Diskurs der gleichen Epoche gibt. Überspitzt formuliert: Die entscheidende Frage wäre nicht, ob Celine Antisemit war - das lässt sich kaum bestreiten -, sondern vielmehr, ob Celine einer der wichtigsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts hätte werden können, ohne Antisemit zu sein.

Hypermediale Literalität des Romans Gleich die ersten Sätze von Celines nach wie vor berühmtestem und erstem Roman, Voyage au baut de Ia nuit, wirken wie ein poetologisches Manifest: c;:a a debute conune 9a. Moi, j 'avais jamais rien dit. Rien. C 'est A1thur Ganate qui m'a fait parler. A1thur, un etudiant, un carabin lui aussi, un camarade. On se rencontre donc place Clichy. C'etait apres Je dejeuner. 11 veut me parler. Je l'ecoute. »Restons pas dehors ! qu 'il me dit. Rentrans !« Je rentre avec lui. Voila. »Cette terrasse, qu'il commence, c'est pour les ceufs a Ia coque! Viens par ici !« Alors, on remarque encore qu'il n'y avait personne dans les rues, a cause de Ia chaleur; pas de voitures, rien. Quand il fait tres froid, non plus, il n'y apersonne dans les rues; c'est lui, meme que je m'en souviens, qui m'avait dit a ce propos: »Les gens de Paris ont l'air toujours d'etre occupes, mais en fait, ils se promenent du matin au soir; Ia preuve, c'est que lorsqu' il ne fait pas bon a se promener, trop froid ou trop chaud, on ne les voit plus ; ils sont tous dedans a prendre des cafescreme et des bocks. C'est ainsi! Sieeie de vitesse! qu 'ils disent. Ou ~a? Grands changements! qu 'ils racontent. Comment ~a? Rien n'est change en verite. Ils continuent a s'admirer et c'est tout. Et ~a n'est pas nouveau non plus. Des mots, et encore pas beaucoup, meme parmi les mots, qui sont changes ! Deux ou trois parci, par-Ja, des petits ... «Bien fiers alors d'avoir fait sonner ces verites utiles, on est demeure Ia assis, ravis, aregarder les dames du cafe.14

14 Louis-Ferdinand Celine: Voyage au bout de Ia nuit, Paris 1979, S. 15. Hervorhebungen J.M. Im Folgenden werden die Zitatstellen aus Voyage au

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LITERATUR HART AN DER GRENZE

Synkopen (9a statt cela), Wiederholungsfiguren (9a ... 9a), eine extrem reduzierte, einfache Syntax, leere Deiktika - denn wir wissen ja noch nicht, worum es sich handeln wird - , die Ersetzung des für den Roman in den dreißiger Jahren nach wie vor verbindlichen passe simple durch das passe compose erteilen der elaborierten Sprache des Romans eine radikale Absage. Der zweite Satz verlängert diesen Impuls mit Figuren der Reprise (Moi, je .. .), der erneuten Synkope (je n'avais jamais --+ j 'avais) und der Anaphern in Zusammenhang mit dem nächsten elliptischen Satz (rien dit. Rien.). Wiederholungsfiguren, einfache Syntax, Ellipsen, Synkopen, Figuren der mise en relief, Reprisen, leere Deiktika, Füllwörter wie »donc«, alldiese Merkmale der Celine'schen Schreibweise modellieren eindeutig den mündlichen Sprachgebrauch, und dies alles, ohne dass bisher ein einziges Wort aus dem Lexikon des Argot, eines der Markenzeichen der Celine'schen Poetik, gefallen ist. 15 Celine sprengt die traditionelle Allianz zwischen Literalität und Literarizität und führt Strukturen der Mündlichkeit in das Medium der Schrift ein, um daraus besondere poetische Wirkungen zu beziehen. Auf den ersten Blick scheint die zitierte Passage damit eine perfekte Illustration der McLuhan'schen These zu sein, dass Medien immer andere Medien enthalten. In diesem Fall enthält das schriftliche Medium der Gutenberg-Galaxis Sprache, Schriftlichkeit enthält Mündlichkeit. Die Besonderheit der Celine'schen Technik liegt nun allerdings darin, dass sie Mündlichkeit nicht einfach im Medium der Schrift abbildet, denn dort, wo der konventionelle Roman Oralität einfach bezeichnet, indem er die wörtliche Rede in Anfliluungszeichen setzt oder sie durch verba dicendi einleitet, modelliert Celine Mündlichkeit selbst. 16 Um diesen Unterschied zu beschreiben, haben die Linguisten Peter Koch und Wulf Ös-

bout de Ia nuit nur noch mit Seitenzahlen belegt, die sich alle auf die oben genannte Ausgabe beziehen. 15 Zur Mündlichkeit bei Celine aus linguistischer Perspektive vgl. Andreas Blank: Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Celine und Raymond Queneau, Tübingen 1991. 16 Celine selbst hat übrigens die Notwendigkeit der Einführung von Mündlichkeit in die Schriftlichkeit des Romans in einen medienhistorischen Kontext gestellt. In den Entreliens avec le Professeur Y (Paris 1955) führt er die Erneuerung der Malerei durch die Impressionisten auf die Entstehung des konkurrierenden Mediums der Photographie zurück (S. 33). Analog dazu müsse der Roman sich erneuern, da ihm das Kino eine Reihe von Aufgaben abgenommen habe (S. 26), er müsse sich auf etwas konzentrieren, das ihm das Kino nicht nehmen könne. Für Celine bleibt dem Roman »l'emotion du Iangage parle a travers l'ecrit« (S. 23), die Übertragung der Emotion der Mündlichkeit in das Medium der Schrift.

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terreicher im Anschluss an Ludwig Söll die Kategorien der medialen und konzeptionellen Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit gebildet. 17 Mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind dabei einfach und allein durch das der menschlichen Kommunikation dienende Medium bedingt. Darüber hinaus ist es jedoch möglich, im Medium der Mündlichkeit die Merkmale der Schriftlichkeit zu reproduzieren, etwa durch elaborierten Sprachgebrauch, komplexe hypotaktische Strukturen und lange Satzperioden. Umgekehrt liegt konzeptionelle Mündlichkeit dann vor, wenn im Medium der Schrift Merkmale mündlicher Sprache modelliert werden wie u.a. Parataxe, kurze Satzperioden, ein bestimmter sprachlicher Rhythmus, Wiederaufnahmen, Wiederholungen usw. Bei Celine handelt es sich allerdings nicht einfach um konzeptionelle Mündlichkeit, sondern um eine medienästhetisch motivierte Revolution der poetischen Sprache des Romans, um eine Transgression und Transformation der Literalität, die sich mit Hilfe der Luhmann'schen Kategorien von Medium und Form beschreiben lässt. 18 Denn das Medium der Schrift als für den Leser im Hintergrund bleibende und nicht wahrnehmbare, weil lockere Koppelung von Elementen enthält Mündlichkeit nicht bloß, sondern macht diese als >Form< sichtbar. Schrift bzw. Buchdruck enthält in diesem Fall mithin eine markierte und profilierte divergierende >FormDon Quijotegrammozentrischen< Grundlagen des narrativen Diskurses. Und darin dürfte auch der entscheidende Unterschied zwischen Celines Technik und poetologischen Konzepten liegen, die mit dieser vergleichbar sind. Dies trifft etwa für Gertrude Steins in den Jahren 1906-1908 entstandenen und erst 1922 veröffentlichten Roman The Making of Americans ( 1908/1922) zu, der gleichfalls im Erzählerdiskurs Elemente der Mündlichkeit aufweist. Old ones come to be dead. Any one coming to be an old enough one comes to be a dead one. Old ones come to be dead ones. Any one not coming to be a dead one before coming to be an old one comes to be an old one and comes then tobe a dead one as any old one comestobe a dead one. 22

Ein extrem reduziertes, auf das basic English beschränktes Vokabular, Parataxe und die Häufung von Wiederholungsfiguren modellieren Mündlichkeit im narrativen Diskurs selbst und erreichen, wie bei Celine, besondere poetische Effekte. Abgesehen davon, dass Gertmde Steins Roman aufgrund seiner späten Veröffentlichung mit Ausnahme des frühen Ernest Hemingway, der das Manuskript getippt hatte, kaum Nachahmer fand, sind Wirkungen und Kontext bei Stein, der es vor allem darum ging, einen Kontrapunkt zum elaborierten Code des Symbolismus zu setzen, jedoch andere. Und diese divergierende Wirkung ergibt sich daraus, dass Celine im Unterschied zu Gertmde Stein nicht nur die Sprache, sondern auch das Erzählsystem des Romans nach den Prinzipien der Oralität 22 Gertrude Stein: TheMakingof Americans: Being a History of a Family's Progress, Illinois 1995, S. 923. 272

LITERATUR HART AN DER GRENZE

gestaltet. Denn bei Celine sorgt die ungeordnete Erzählweise mit ihren Inversionen (qu' il dit), Wiederholungen (qu'il dit ... qu'il dit), parallelistischen Konstruktionen, Reprisen, Rückgriffen auf bereits Gesagtes und nachträglichen Klarstellungen (»On se rencontre donc place Clichy. C'etait apres Je dejeuner.«) dafür, dass das Erzähltempus des Präsens weder als historisches Präsens noch im Sinne eines nachträglichen Erzählens funktioniert, sondern tatsächlich die Illusion der Gleichzeitigkeit zwischen der Geschichte und ihrer Erzählung schafft: »Ün se rencontre donc place Clichy. C'etait apres Je dejeuner. I! veut me parler. Je l'ecoute« (S. 15). Als Leser haben wir den Eindruck, dass die Handlung geschildert wird, während sie sich vor den Augen des Erzählers abspielt oder aber während sie in einer Art imaginärer Vision vor seinem geistigen Auge abläuft. Simultanes Erzählen wurde bekanntlich 20 Jahre später in Robbe-Grillets meuem< Roman La Jalousie zum beherrschenden Stilprinzip, dort allerdings im Kontext einer intermedialen, dem Film angenäherten Ästhetik. 23 Celine geht es hingegen offenbar um etwas Anderes: Die Gleichzeitigkeit von Geschehen und Erzählung hebt den Standort des Erzählers aus den Angeln, schafft die narratologischen Hierarchien zwischen Erzählung und Geschichte ab und öffnet damit nicht nur die Geschichte, sondern auch das Erzählen selbst für die Erfahrung von Kontingenz. Eine weitere Besonderheit der Ce!ine'schen Simultantechnik liegt nun allerdings darin, dass er das Prinzip der Gleichzeitigkeit und damit auch der Kontingenz auf den Prozess des Schreibens selbst überträgt. Selbst bei im hohen Grade experimentellen Romanen, wie etwa den Werken eines Michel Butor, Claude Sirnon oder Alain Robbe-Grillet, bleiben Simultanität und Kontingenz auf das Verhältnis zwischen Erzählung und Geschichte beschränkt. 24 Bei Celine hingegen wird der Prozess des Schreibens selbst von der Kontingenzerfahrung erfasst und durchdrungen: »Arthur, un etudiant, un carabin lui aussi, un camarade«, lauten die aufeinander folgenden Epitheta, mit denen der Freund des Helden Bardamu charakterisiert wird, so, als würde der um den treffenden Ausdruck ringende Autor die Worte so niederschreiben, wie sie ihm in den 23 Alain Robbe-Grillet: La Jalousie, Paris 1957 (zur Funktion der kinematographischen Strukturen bei Robbe-Grillet vgl. Jochen Mecke: »Death and rebirth of the author: on a specific case of an intermedial chiasmus between Iiterature and film«, in: Winfried Nöth (Hg.): Semiotics in the Media. State ofthe Art, Projects and Perspectives, Berlin, New York 1997, S. 363377).

24 Vgl. zum simultanen Erzählen im nouveau roman: Jochen Mecke: RomanZeit: Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen 1990, S. 184-209. 273

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Sinn kommen. Wie im Medium der Mündlichkeit, so zeichnet Celine im Roman nicht nur die Resultate, sondern auch den Prozess des Erzählens auf. Die Zeit der Handlung wird von der Verzeitlichung ihrer Erzählung und ihrer Verschriftlichung begleitet. Celines Techniken transformieren bereits in Voyage au bout de Ia nuit Literalität in einer grundlegenden Art und Weise, indem sie diese wie jene verzeitlichen und damit der Kontingenz aussetzen. Dadurch werden die Grenzen des Romans jedoch überschritten, der Autor befindet sich auf dem gleichen Niveau wie der Erzähler und dieser wiederum auf der gleichen Ebene wie die Figur. Eine gerrauere Betrachtung zeigt allerdings, dass diese narratologische Gleichung zwischen Autor, Erzähler und Figur nicht ganz aufgeht, denn ausgerechnet die Figur der Handlung, Bardamus Freund Arthur Granat, redet in einem >elaborierten< Code, der sich der konzeptionellen Schriftlichkeit annähert: Les gens de Paris ont l'air toujours d'etre occupes, mais en fait, ils se promenent du matin au soir; Ia preuve, c'est que lorsqu'il ne fait pas bon a se promener, trop froid ou trop chaud, on ne !es voit plus ; ils sont tous dedans a prendre des cafes-creme et des bocks (S. 15). Alles scheint darauf hinauszulaufen, dass die Hierarchien zwischen Autor, Erzähler und Figur nicht bloß nivelliert, sondern in diesem Fall geradezu umgekehrt werden. Die Figur der Handlung befleißigt sich der Tugenden des schriftlichen, elaborierten Diskurses der Literalität, während sich Erzähler und Autor den Prinzipien der Oralität verpflichtet zu haben scheinen. Mit dieser Umkehrung der Hierarchie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit überschreitet Celine jedoch auch jene Grenzen, welche zu den fundamentalen Differenzmerkmalen des literarischen Diskurses gehören. Sie sollen im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven der Liminalität betrachtet werden.

Liminalität der •ECRITUREecriture intellectuelle< etwa besteht die sprachliche Handlung vor allem darin, ein Zeichen für das Engagement zu setzen, während die politische Schreibweise vor allem in der Handlung der Beurteilung besteht. 29 Ein besonderes Augenmerk legt Barthes auf die romaneske Schreibweise, deren wichtigste Funktion er in der Selbstbezeichnung der Literatur als literarisch sieht, also in demjenigen Bereich, den die russischen Formalisten als >Literarizität< bezeichnet haben. So bezeichnen etwa das passe simple, die auktoriale Erzählperspektive und die dritte Person Singular der romanesken Schreibweise in den Augen Barthes nichts anderes als die Literarizität des Werkes selbst. Davon setzt er eine relativ junge Art der >ecriture< ab, die sich von ihren Vorläufern dadurch radikal unterscheidet, dass sie auf jede Form der Zeichen für Literarizität verzichtet. Es handelt sich um einen degre zero de l'ecriture, einen Nullgrad der Schrift. Dieser erzeugt eine Literatur der Transparenz, die der frühe, immer noch existenzialistisch und marxistisch denkende Barthes an eine einzige Funktion zurückbindet Die Transparenz des literarischen Zeichens lässt für Barthes die Dichte der menschlichen Existenz und ihrer Problematik in den Vordergrund treten.30 Die >ecriture parleeEcriture< meint also wesentlich die Beziehung von schriftstellerischer Kreativität und Gesellschaft. Da sich die jeweilige Moral der Form durch spezifische literarische Zeichen anzeigt, ist es möglich, die Geschichte des Schreibens auch als Geschichte der Zeichen zu schreiben, mit denen Literatur auf sich selbst bzw. auf ihr Engagement hinweist. Projiziert man Barthes' Theotie der Schrift auf die Theorie der Literalität, so lässt sich vielleicht eine hilfreiche Unterscheidung einfuhren: Schriftlichkeit könnte man als rein medial und material bedingte Schreibform betrachten, während Literalität demgegenüber eine Formkategorie meint, die ihr eigenes Zeichenhaftes Doppel mit sich führt, d.h. die ihren eigenen schriftlichen Charakter, ihre eigene conditio medialis bezeichnet und sie dadurch auch zu einer Form des Engagements im Sinne von Barthes macht. In diesem Sinne wäre Literalität medienunabhängig oder medienindifferent, während dies bei Schriftlichkeit nicht der Fall ist. 29 Ebd., S. 19. 30 Ebd., S. 57. 31 Ebd.,S.59. 276

LITERATUR HART AN DER GRENZE

Im Licht von Barthes' theoretischem Ansatz macht die Literale und liminale Doppelperspektive deutlich, dass Celine mit seiner Formwahl einer oralen Poetologie nicht nur die Grenzen der Literalität, sondern auch der Literarizität überschreitet. Das Vokabular des Argot, die Syntax und Narration der Oralität transgredieren gezielt eine literarische Sprache, die ihre eigene Gewähltheit und Distinguiertheit permanent durch innerliterarische Zeichen, wie zum Beispiel das passe simple und einen elaborierten linguistischen Code, absichert. Die Kritiker von Voyage au baut de la nuit haben sich nicht getäuscht: Mit Celine zieht nicht nur die Mündlichkeit in die Domäne der Literatur ein, sondern wird auch die Sprache des literarischen Höhenkamms aus ihr vertrieben. 32 Celines Romanpoetik befindet sich immer hart an der Grenze des guten literarischen Geschmacks und kündigt damit den bürgerlichen Konsens der Literatur und vor allem des Romans auf. Damit verletzt er jene Norm sozial motivierter Geschmacksurteile, nach der laut Pierre Bourdieu ästhetisches und gesellschaftliches Urteil in einer Hierarchie der Distinktion miteinander kurzgeschlossen werden. 33

Transgressionen Bourdieu stimmt dabei Kants Theorie des ästhetischen Urteils insofern zu, als er ihm tatsächlich eine gewisse Interesselosigkeit attestiert. Allerdings schränkt er diese im Unterschied zu Karrt auf den Gegenstand der ästhetischen Betrachtung ein, um dann hervorzuheben, dass jedes ästhetische ein verdecktes soziales Urteil impliziert, getragen von dem gleichfalls verdeckten Interesse an der Distinktion, der gesellschaftlichen Unterscheidung von anderen Individuen, Gruppierungen und Schichten der Gesellschaft. Um es verkürzt zu sagen: Die einen lesen Proust und die anderen bloß Courths-Mahler, Delly oder Anne tmd Serge Goulon. 34

32 Einen umfassenden Eindruck der zeitgenössischen Kritiken von Voyage au baut de la nuit liefert der von Andre Deval herausgegebene Band Voyage au bout de La nuit de Louis-Ferdinand Celine: Critiques 1932-1935, Paris 2005 (1. Auflage 1993). 33 »Nichts unterscheidet die Klassen mithin strenger voneinander als die zur legitimen Konsumtion legitimer Werke objektiv geforderte Einstellung [ .. .]« (Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1992, S. 80). 34 Delly ist das Pseudonym flir die Geschwister Jeanne-Marie (1875-1947) und Frederic Petitjean de Ia Rasiere (1876-1949), die über 100 Romane verfassten. Anne (Simone Changeux) und Serge (Vsevolod Sergei:Vich Go277

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Ästhetische Urteile ziehen dort Grenzen, wo allein auf der Basis des ökonomischen Kapitals keine existieren. Sie bilden eine Grenze zwischen legitimem Bildungsadel und ungebildeten Neureichen oder- in der klassischen Version- dem Bourgeoisgentilhomme Molieres (1670). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Celines Ästhetik eine politische Dimension hat, denn die von ihm vollzogene doppelte Transgression verstößt nicht nur gegen die Gesetze von Schriftlichkeit und Literatur, überschreitet nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern kündigt überhaupt einer auf ästhetischen Urteilen beruhenden sozialen Hierarchie die Gefolgschaft auf. Die Oralität der Syntax unterminiert das System sozialer Distinktion mittels ästhetischer Urteile. Dies zu erkennen, bedurfte es bei O~lines Zeitgenossen keiner komplexen Theorien. Ein flüchtiger Blick auf die Literaturkritik der dreißiger Jahre zeigt, dass die meisten Rezensenten des Romans sich darüber im Klaren waren, dass die orale Revolution der Literalität gleichzeitig eine soziale und politische war. 35 Diese Ausweitung der literarischen Kampfzone lässt sich mit Hilfe eines weiteren Merkmals Celine'schen Schreibens noch deutlicher profilieren: Betrachtet man seine Ästhetik aus der Doppelperspektive von Liminalität und Barthes< >ecritureSi les Bolcheviks etaient a Pa279

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die von Philippe Lejeune für den Pakt des Romans geforderte Bedingung einer Differenz zwischen Autor- und Figurenname erfüllt ist, gilt dies für die späten Romane nicht mehr, so dass Celine damit eine Möglichkeit verwirklicht, die im literarischen System Lejeunes nicht vorgesehen ist: Le heros d'un roman declare tel peut-il avoir Je meme nom que l'auteur? Rien n'empecherait Ia chose d'exister, et c'est peut-etre une contradiction interne dont on pourrait tirer des effets interessants. Mais dans Ia pratique, aucun exemple ne se presente a l'esprit d'une teile recherche [... ]. 39

Paradoxe Kritik Nun ist die von Celine gewählte Romanfigur allerdings keine x-beliebige, sondern die Inkarnation eines bestimmten literarischen Prinzips. Um ihre Funktionsweise genau zu verstehen, genügt es, nochmals einen Blick auf den Anfang von Vayage au baut de Ia nuit zu werfen. Wie der gesamte Roman, so formuliert auch der oben zitierte Ausschnitt eine Kritik, in diesem Fall des falschen Anspruchs auf Modernität und des alltäglichen Narzissmus der Bewohner von Paris: »Rien n'est change en verite. Ils continuent a s'admirer et c'est tout. Et 9a n'est pas nouveau non plus« (S. 15). Allerdings ist diese Kritik weit davon entfernt, eine Sozialkritik im üblichen Sinne des Wortes zu sein, in welcher die inkriminierten Zustände oder Personen von einem erhöhten Standort, zumeist dem des Erzählers, unter die Lupe genommen werden. Gleich zu Beginn bricht Vayage au baut de Ia nuit mit dieser Subjekt-Objekt-Struktur, indem hier die Kritik reflexiv auf deren Subjekt zurückgewendet wird. Der Nachsatz unterstellt nämlich dem Helden und seinem Freund das gleiche Motiv: »Bien fiers alors d'avoir fait sonner ces verites utiles, on est demeure la assis [... ]« (S. 15). Gerrau genommen unterstellt der Text sogar das Motiv für die geäußerte Kritik dem in dieser Kritik geäußerten Verdacht des Narzissmus. Damit haben wir aber eine Figur paradoxer Kritik vorliegen. Gemeint ist damit eine Form von Kritik, welche die flir jede Kritik konstitutive Grenze zwischen deren Subjekt und Objekt aufhebt und sich gegen das Subjekt und gegen dessen Maßstäbe richtet. 40 Bardamu und alle ris, ils vous feraient voir comment on s'y prend; ils vous montreraient comment on epure Ia population, quartier par quartier, maison par maison. Si je portais Ia bai:onnette, je saurais ce que j ' ai a faire.Sandkasteneingezäuntes< Feld literarischer Produktion gibt, das nach anderen Gesetzmäßigkeiten, Prinzipien und Regeln funktioniert als das soziale Feld, kann es überhaupt einen Freiraum geben, in dem es möglich ist, zunächst spielerisch mit neuen Wahrnehmungs- und Lebensformen zu experimentieren, um diese dann in das soziale Feld zu übertragen. Avantgarde zerstört also nicht die Institution Kunst, und das heißt die Grenze zwischen Literatur und Gesellschaft, sondern setzt deren Existenz voraus, freilich, um sie dann zu überschreiten. Das Paradoxe ist nun allerdings, dass die Poetik des dezidierten Nicht-Avantgardisten Louis-Ferdinand Celine ganz im Unterschied zu der der französischen Surrealisten tatsächlich nach dem für die Avantgarde selbst nicht geltenden Bürger'schen Muster funktioniert. Auffällig an Celines poetologischem Ansatz ist nämlich, dass die von ihm angestrebte direkte Befreiung unterdrückter Authentizität sozusagen in der direkten Einwirkung auf den Leser geschieht. Celines Poetik wird zur Nervenkunst, die in einer ästhetischen action directe unmittelbar auf den Leser einzuwirken sucht. Es liegt in der Logik einer rein auf die Freisetzung von Emotionen angelegten Form der >Emanzipation