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German Pages XX, 412 [420] Year 2020
Studientexte zur Soziologie
Michael Corsten
Lebenslauf und Sozialisation Inklusive SN Flashcards Lern-App
Studientexte zur Soziologie Reihe herausgegeben von Dorett Funcke Institut für Soziologie FernUniversität in Hagen Hagen, Deutschland Frank Hillebrandt Institut für Soziologie FernUniversität in Hagen Hagen, Deutschland Uwe Vormbusch Institut für Soziologie FernUniversität in Hagen Hagen, Deutschland Sylvia Marlene Wilz Institut für Soziologie FernUniversität in Hagen Hagen, Deutschland
Die „Studientexte zur Soziologie“ wollen eine größere Öffentlichkeit für Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe soll in klassische und aktuelle soziologische Diskussionen einführen und Perspektiven auf das soziale Handeln von Individuen und den Prozess der Gesellschaft eröffnen. In langjähriger Lehre erprobt, sind die Studientexte als Grundlagentexte in Universi tätsseminaren, zum Selbststudium oder für eine wissenschaftliche Weiter bil dung auch außerhalb einer Hochschule geeignet. Wichtige Merkmale sind eine verständliche Sprache und eine unaufdringliche, aber lenkende Didaktik, die zum eigenständigen soziologischen Denken anregt. Herausgegeben vom Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen, repräsentiert durch Dorett Funcke, Frank Hillebrandt, Uwe Vormbusch, Sylvia Marlene Wilz, FernUniversität in Hagen, Deutschland
Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/12376
Michael Corsten
Lebenslauf und Sozialisation
Michael Corsten Institut für Sozialwissenschaften Universität Hildesheim Hildesheim, Deutschland
Studientexte zur Soziologie ISBN 978-3-658-30396-9 ISBN 978-3-658-30397-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informatio nen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutions adressen neutral. Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Einleitung: Themen und Anlage des Lehrbuchs
Dieses Lehrbuch ist eine Einladung, sich aus soziologischer Perspektive mit den Themen des Lebenslaufs und der Sozialisation auseinanderzusetzen. Er richtet sich primär an Studierende der Soziologie, die bereits über Vorkenntnisse des Fachs verfügen und im Master studieren. Er ist aber so verfasst, dass ebenfalls Studie rende aus dem Bachelor-Studium der Soziologie sowie neugierige Menschen, die aus welchen Quellen auch immer Interesse an gesellschaftlichen Fragen mitbrin gen und über grundlegende Erfahrungen im wissenschaftlichen Arbeiten verfügen, dem Gang der Argumentation hier folgen können sollten. Das Lehrbuch ist in manchen Hinsichten vielleicht stilistisch etwas eigenwillig. Das hat zum einen etwas mit der Soziologie und ihrer Fachsprache zu tun, zum anderen aber gewiss auch mit dem Autor. So hat dieser beispielsweise versucht, soweit wie möglich in der „Wir-Form“ zu schreiben, ohne diesen als pluralis ma jestatis aufzufassen. Gewählt wurde die Wir-Form, um dem Charakter der Einla dung zu einem gemeinsamen Arbeiten an den hier erörterten Fragen zu entspre chen. Wir soll dabei heißen: (1) wir alle sollen dem hier Gesagten folgen können, (2) wir alle sollen die Gelegenheit haben, mitzumachen, d.h. vor allem mitzuden ken, und (3) in diesem Wir des gemeinsamen Denkens und Erörterns von Fragen und Antworten mehr und mehr zu eigenen Fragen und Antworten vordringen zu können. Selbstverständlich hat jede Person immer schon eigene Fragen und Antworten. Manche Pädagogen sagen, man solle die Leute da abholen, wo sie sich gerade (gedanklich) befinden. Pädagogik heißt aber auch, Leute zu etwas Bestimmten hinzuführen. Genau genommen leitet es sich aus den altgriechischen Wortstäm
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men „pais“ (παῖς, für Kind) und „gogein“ (ἄγειν, für führen) ab. Insofern wird die Aufgabe des Autors eines Lehrbuchs hier darin gesehen, Leserinnen und Leser von allgemeinen Ausdrucksweisen hin zu spezielleren Formen des soziologischen Sprechens zu führen. Eigentlich ist es auch kein Führen, sondern mehr ein Ver mitteln zwischen Arten zu reden, genauer von Schriftlich-Etwas-In-Worte-Fassen. Am wichtigsten sind dem Autor dabei Formen des Sprechens, durch die Sach verhalte und Zusammenhänge zwischen Sachverhalten möglichst angemessen (ge nau, trennscharf, unmissverständlich, nachvollziehbar) ausgedrückt werden kön nen. Dies kann nicht immer in leichter Sprache geschehen. Vielleicht geht es sogar nur selten in leichter Sprache. Gleichwohl sollen Wege der Vermittlung angeboten werden. Dazu dienen Leitfragen am Anfang von Kapiteln sowie Aufgaben, Wie derholungsfragen und Anregungen zu weiteren, eigenständig durchzuführenden Recherchen am Ende der Kapitel. Außerdem gibt es am Ende von allen Kapiteln jeweils ein Glossar, in dem wichtige Begriffe und Stichworte nochmals kurz durch allgemein-sprachlich formulierte Sätze erläutert werden. Wenn zwischen Sprechweisen vermittelt wird, nennen wir das übersetzen. Übersetzen dient dem Kennenlernen und Beherrschen neuer Ausdrucksformen. Die Einführung in ein für die Leserin und den Leser unbekanntes Gebiet ist ein Erlernen einer solchen neuen Sprache. Aber wozu dient das Erlernen des Neuen? Wäre es nicht viel besser, wenn wir immer alles schon in den Sprachen sagen könn ten, die wir bereits kennen und können? Es gibt viele Gründe, dies nicht zu tun. Denken Sie einfach an den Fall, dass Ihnen einfache Sudokus irgendwann zu lang weilig werden. Oder, dass Sie auf einem Musikinstrument (einer Gitarre, einer Flöte, einem Schlagzeug) mal etwas anderes und sogar Schwierigeres spielen wol len. Bei Sprachen ist es so, dass sich manche Dinge in bestimmten ‚Sprachen‘ an ders und vielleicht sogar besser (treffender) ausdrücken lassen. Soziologinnen und Soziologen – insbesondere in der Theoretischen Soziologie – sind vielfach speziell damit beschäftigt, ein neues Vokabular zu finden, um Gesellschaft besser zu be greifen oder um sich über soziale Sachverhalte „soziologisch aufzuklären“. Der Begriff „Soziologische Aufklärung“ stammt von Niklas Luhmann. Es gibt einen interessanten, aber auch nicht ganz einfachen Text vom Münchener Soziologen Armin Nassehi, in dem er Überschneidungen und Unterschiede zwischen der Sys temtheorie Niklas Luhmanns und der Objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns aufzuzeigen versucht. Es ist diese Art von Übersetzungsarbeit, die in der Soziologie häufig praktiziert wird und auf die Sie in diesem Lehrbuch ebenfalls immer wieder stoßen werden. Von Armin Nassehi stammt auch der Satz, dass „Wissenschaftler“ häufig nichts anderes „tun, als Fragen zu stellen und Probleme zu lösen, die es ohne sie nicht
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gäbe“. Und das sei „das Besondere, was Wissenschaft tatsächlich tut“.1 Das klingt so, als füge die Soziologie der Gesellschaft unnötig weitere Probleme hinzu. Aber könnte man Gleiches nicht auch von der Medizin sagen? Wenn ein Arzt bei einer Person eine Spinal-Stenose im Lendenwirbelbereich diagnostiziert und ihm als konservative Therapie zu regelmäßiger Rückengymnastik rät, dann gibt der Arzt dem Patienten auch ein Problem auf, das dieser nicht hätte, wenn es keine Medizin gäbe. Nassehis Aussage weist also darauf hin, dass das Verhältnis von Problem und Lösung nicht wie das zwischen heiß und kalt ist. Heiß wäre das genaue Gegenteil von kalt, aber bei Lösungen (etwa einer verordneten Therapie in der Medizin oder der Beobachtung eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses in der Soziologie) können wir bemerken, dass sie auch neue Probleme schaffen, die wir nicht hätten, wenn es diese spezifischen Lösungsvorschläge nicht gäbe. Wissenschaft ist immer an solchen Zwischentönen und Zwischenlagen interes siert. Deshalb sind eine Wissenschaft und ihre Sprache auch keine Werkzeuge, die schon fertig vor uns liegen würden und die wir einfach nur (am besten wie einen Automaten) anwenden könnten. In dem Sinn ist Wissenschaft ebenfalls nicht leicht und bequem zu ‚haben‘. „Handwerker“ – so schreibt Richard Rorty (1992, S. 36) – wüssten „gewöhnlich, welche Arbeit sie tun müssen, bevor sie die Werkzeuge, die sie dazu brauchen, suchen oder erfinden.“ Dagegen würden Wissenschaftler „nicht erwarten, dass sie klarmachen können, was genau sie tun wollen, bevor sie die Sprache entwickeln, in der ihr Vorhaben gelingt.“ (ebd.) So ähnlich ist dies in je dem wissenschaftlichen Buch und auch in einem Lehrbuch. Sie suchen nach „Werkzeugen“ um etwas über die Sachverhalte des Lebenslaufs und der Sozialisa tion in Erfahrung zu bringen. Aber ob das, was Sie in den soziologischen Angebo ten zu diesen Problemstellungen finden, wirklich das ‚Zeug‘ oder die ‚Formate‘ bereithalten, mit oder in denen Ihr Vorhaben gelingen wird, ist noch ungewiss. Weil wir uns gemeinsam auf die Suche begeben sollen, werden auch keine fer tigen Werkzeuge zur Hand gegeben, sondern Fragen gestellt und Antworten vor geschlagen. Fragen werden dabei durchaus wieder aufgegriffen und umformuliert, um neue oder andere Antworten zu finden. Inhaltlich ist das Lehrbuch in drei Teile oder „Kurseinheiten“ gegliedert. Er beginnt im ersten Teil mit der Vorstellung von Grundlagen der Lebenslaufsoziolo gie und der Sozialisationsforschung, so wie sie vor allem in den letzten Jahrzehn ten des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Der zweite Teil führt in methodische Zugänge ein. Dabei kann es zwar helfen, wenn Sie bereits über methodische Vor 1 Beide Zitate stammen aus einem Interview von Armin Nassehi mit einem Reporter des Deutschlandfunks. Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/diskreditierung-der-wissen schaft-wissenschaft-produziert.680.de.html?dram:article_id=385781.
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kenntnisse verfügen. Methodische Verfahren werden aber stets so dargestellt, dass es mehr um den Nachvollzug der Beweisstrategie eines verwendeten Verfahrens geht und weniger um die technischen Details ihrer Durchführung. Es werden glei chermaßen quantitative und qualitative Ansätze behandelt. Außerdem wird auch auf die Frage der Kombination von quantitativen und qualitativen Verfahren ein gegangen. Im dritten Teil soll es um aktuelle Forschungsfragen gehen, die in der gegen wärtigen Lebenslauf- und Sozialisationsforschung bearbeitet werden. Dabei wer den in den Kapiteln neun und zehn Themen behandelt, zu denen es zurzeit sehr viele Studien gibt, die sozusagen Vertreter des gegenwärtigen lebenslaufsoziologi schen Mainstreams abbilden. Die Kapitel elf und zwölf enthalten Fragestellungen, die neu auf der Agenda stehen und sich noch nicht ganz so etabliert haben. Das dreizehnte Kapitel ist der Versuch des Autors vom eigenen Standpunkt aus, einen Vorschlag zur theoretischen Integration der Lebenslauf-, Biografie- und Sozialisa tionsforschung zu machen. Insofern sei hier zu Beginn angemerkt, dass Lebenslauf und Sozialisation aus Sicht des Autors in einem sehr engen Zusammenhang stehen. Wenn von Sozialisation die Rede ist, meinen wir meistens (vielleicht sogar immer) einen Prozess, der sich ‚im Individuum‘ abspielt – was auch immer dieses Indivi duum (oder Subjekt, Selbst, Person usf.) genau sein mag. Und wenn von Lebens lauf die Rede ist, dann spielen darin immer Momente der Sozialisation als Prozess oder die Bedingungen, unter denen dieser Prozess stattfindet, eine zentrale Rolle. Dies wird auch schnell deutlich werden, wenn wir uns im ersten Kapitel klassi schen – bahnbrechenden – Studien der Lebenslaufforschung zuwenden. Noch ein letztes Wort zur Frage des grammatischen Geschlechts. Das Deutsche kennt männliche, weibliche und sächliche Artikel wie Personalpronomen. Um an zuzeigen, dass niemand sprachlich dadurch ausgeschlossen oder stereotypisiert werden soll, dass männliche oder weibliche Formen im Plural benutzt werden – was man „generischen Maskulinum“ oder „generisches Femininum“ nennen kann – werden heute gerne Unterstriche, Schrägstriche oder Sternchen verwendet. In die sem Lehrbuch wird darauf verzichtet. Es ist dem Autor nicht klar, ob die Beibehaltung des Problems einer geschlechterdifferenzierenden Sprache oder seine vermeintli che Lösung durch neue Schreibformen problematischer ist. Im Wir von Leserinnen und Autor formuliert: wir müssen halt so gut lesen und schreiben wie wir können, um zu bemerken, an welchen Stellen eine andere Lösung womöglich besser, tref fender oder klarer gewesen wäre. Das können wir – so meine ich – wahrscheinlich auch ohne Hilfe von Strichen und Sternchen.
Danksagung
Dieses Lehrbuch wurde größtenteils im Zeitraum von April 2019 bis Januar 2020 verfasst. Bereits in dieser Zeit und auch in einer kürzeren anschließenden Korrek turzeit hat eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Sozio logie im Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim Teile des Lehrbuchs gelesen und mit mir diskutiert. Für die Anregungen aus diesen Diskus sionen möchte ich ausdrücklich Kathrin Audehm, Karl-Friedrich Bohler, Holger Herma, Per Holderberg, Melanie Pierburg und Christian Seipel danken. Ebenso gebührt Dorett Funcke und Julia Gosert für Ihr gründliches Lektorat der Rohfassung Dank sowie Victoria Fabian für ihre Unterstützung bei Formatierung und Grafiken.
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Kurseinheit 1 Lebenslaufsoziologie im 20. Jahrhundert 1 Zur Geschichte der Lebenslaufforschung ������������������������������������������� 3 1.1 Anfänge und Fortentwicklung in den USA������������������������������������� 4 Die Analyse von „own stories“ in der Chicago School������������������� 4 Von „Own Stories“ zur „Life Course Research“����������������������������� 12 1.2 Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa��������������������� 19 Paul Thompson: Oral History��������������������������������������������������������� 19 Ruhrgebiets-Erzählungen über die Zeit von 1930 bis 1960 ����������� 20 Bertaux/Bertaux-Wiaume: Stories of the Baker’s Trade����������������� 23 Biografie- und Lebenslaufforschung in Deutschland��������������������� 25 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 26 Aufgaben ������������������������������������������������������������������������������������������������� 27 2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung��������������������������������������������� 29 2.1 Begriffliche Klärungen: Lebenslauf und Biografie������������������������� 30 2.2 Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n) ����������������������������������������� 33 2.3 Lebensereignisse, Episoden und Lebensverlaufsmuster����������������� 41 2.4 Übergänge und Statuspassagen������������������������������������������������������� 45 2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte����������������� 47 Lebenserfahrung und autobiografische Stegreiferzählung (Fritz Schütze)��������������������������������������������������������������������������������� 49 Lebenserzählung und Lebensgeschichte����������������������������������������� 53 Lebenskonstruktionen und soziale Realität������������������������������������� 56 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 58 XIII
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Inhaltsverzeichnis
3 Lebenslauf und sozialer Wandel����������������������������������������������������������� 61 3.1 Die gewonnenen Jahre und die sichere Lebenszeit������������������������� 61 3.2 Die Institutionalisierung des Normallebenslaufs ��������������������������� 65 Hintergrund������������������������������������������������������������������������������������� 66 3.3 Die soziale Differenzierung des Lebensverlaufs����������������������������� 70 Makrostrukturelle Größen → endogene Strukturierung����������������� 71 3.4 Generationen, Lebenslauf und historische Zeit������������������������������� 72 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 76 4 Lebenslauf und Sozialisation����������������������������������������������������������������� 79 4.1 Eine erste Definition von Sozialisation������������������������������������������� 80 Definitionselemente und theoretische Annahmen��������������������������� 80 Zur Zusammensetzung der Definition��������������������������������������������� 82 4.2 Der Sozialisationsbegriff in der soziologischen Tradition ������������� 85 Sozialisation als soziale Tatsache��������������������������������������������������� 85 Sozialisation als symbolische Interaktion��������������������������������������� 87 Sozialisation aus der Perspektive der Rollentheorie����������������������� 92 Sozialisation als Internalisierung von Werten��������������������������������� 93 Sozialisation als Selbstsozialisation ����������������������������������������������� 95 Sozialisation im sozialökologischen Modell����������������������������������� 96 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 103 5 Lebenslauf und Sozialisation – ein Paar Schuhe?������������������������������� 109 5.1 Die Notwendigkeit der Prozessperspektive������������������������������������ 109 5.2 Lebensphasen und Sozialisationsinstanzen������������������������������������� 110 Familie als primäre Sozialisationsinstanz��������������������������������������� 112 Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz������������������������������������� 115 Die Sozialisation Erwachsener durch Arbeit����������������������������������� 119 Weitere Sozialisationskontexte������������������������������������������������������� 121 5.3 Sozialisation und sozialbiografische Entwicklung������������������������� 122 5.4 Sozialisation und kritische Lebensereignisse��������������������������������� 125 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 128
Kurseinheit II Methoden der Lebenslaufforschung 6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung������������������������������� 133 6.1 Längsschnittperspektive und Kohorten-Design ����������������������������� 133 6.2 Ereignisanalyse und „Transition Data“������������������������������������������� 137 Übergänge��������������������������������������������������������������������������������������� 140 6.3 Sequenzmusteranalyse und „Optimal Matching“��������������������������� 143
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6.4 Längsschnittdesigns in der Lebenslaufpsychologie����������������������� 145 6.5 „The Clocks that Time Us“ (Alter, Kohorte, Periode) ������������������� 150 Unschärfen der Generationseinteilung ������������������������������������������� 161 Methodische Trennung von Alter, Periode und Kohorte����������������� 162 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 166 7 Qualitative Methoden der Biografieforschung ����������������������������������� 171 7.1 Erzählung als Rekapitulation von Erfahrungen ����������������������������� 173 7.2 Lebenskonstruktionen und Deutungsmusteranalyse����������������������� 180 7.3 Genogrammanalyse und Drei-Generationenansatz������������������������� 188 7.4 Alternativen: Erzählen als Erklärung und als „Account“��������������� 195 „Called to Account“ ����������������������������������������������������������������������� 199 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 201 8 Offene Methodenfragen & neue Forschungsdesigns��������������������������� 207 8.1 Was sind Lebensbeschreibungen?��������������������������������������������������� 208 Erzählen oder über das eigene Leben sprechen?����������������������������� 209 Kommunikative Gattungen der Biografie?������������������������������������� 215 8.2 Biografie: Realität und/oder Fiktion�������������������������������������������������218 Kognitive Voraussetzungen des Erzählens ������������������������������������� 219 Autobiografie – Autoethnografie – Autofiktion������������������������������� 222 8.3 Lebenslaufanalysen und psychologische Daten����������������������������� 227 8.4 ‚Echte‘ Längsschnittdaten in der qualitativen Forschung��������������� 233 8.5 Potenziale des Mixed-Methods-Designs����������������������������������������� 236 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 241 Kurseinheit III Herausforderungen der Lebenslaufforschung 9 Sozialisation und Lebenslauf als Habitusgenese��������������������������������� 251 9.1 Bourdieus Habitusbegriff als Sozialisationstheorie ����������������������� 255 9.2 Die Hallenser Längsschnittstudie zur Habitusgenese��������������������� 262 9.3 Das Habituskonzept in der qualitativen Bildungsforschung����������� 276 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 280 10 Biografische Entscheidungen und die Erklärende Soziologie ����������� 283 10.1 Essers Modell von Entscheidung und Framing���������������������������� 284 Essers grundlegende Idee������������������������������������������������������������� 285 Die Logik der Schulwahl am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe������������������������������������������������������������������������������� 287 Frame-Selektion��������������������������������������������������������������������������� 292
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Inhaltsverzeichnis
10.2 Entscheidungen im Bildungsverlauf��������������������������������������������� 294 10.3 Entscheidungen im Familienverlauf��������������������������������������������� 300 10.4 Wie rational sind biografische Entscheidungen? ������������������������� 305 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 309 11 Autobiografische Erinnerung und kommunikatives Gedächtnis������� 311 11.1 Kollektives Gedächtnis als klassischer Ausgangspunkt��������������� 312 11.2 Das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis��������������������� 316 11.3 Kommunikatives und autobiografisches Gedächtnis ������������������� 318 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 321 12 Was steht noch auf der Agenda?����������������������������������������������������������� 323 12.1 Biografie, Lebenslauf und Weltgesellschaft��������������������������������� 323 Die Politische Ökonomie der Lebensläufe����������������������������������� 324 Fordistische und post-fordistische Lebenslaufregime ����������������� 327 „Linked Lives“ als Untersuchungsperspektive����������������������������� 330 Transnationale Biografien und weltkulturelles Programm����������� 331 12.2 Biographische Semantiken: medial und digital ��������������������������� 333 Lebensbeschreibungen und öffentliche Verbreitung��������������������� 333 „Subjektivierung“ medial und digital������������������������������������������� 338 Mediengenerationen und Mediensozialisation����������������������������� 340 12.3 Lebenslauf im bio-psycho-sozialen Modell��������������������������������� 345 Die „German Twin-Life-Studie“�������������������������������������������������� 346 Nomothetik und Ideografie zur Prognose von Delinquenz����������� 349 Evolutionäre Perspektiven im soziobiologischen Modell?����������� 351 Glossar����������������������������������������������������������������������������������������������������� 355 13 Schluss: Sozialtheorie des Lebenslaufs und der Sozialisation����������� 361 13.1 Lebenslauf, Biografie und Sozialisation��������������������������������������� 362 13.2 Zeitschichten und Zeitgesetze des Lebenslaufs ��������������������������� 364 Institutionalisierung und soziale Differenzierung������������������������� 365 Zeithorizonte der Biografie als Lebensbeschreibung������������������� 366 Zeitgesetze der Sozialisation: Habitusgenese������������������������������� 368 13.3 Fragen zur Selbstbestimmbarkeit des Lebens������������������������������� 370 13.4 Lebensbeschreibung, Lebenspraxis, Lebensarrangement������������� 373 13.5 Makrostrukturierungen: Räumliche Dispositive des Lebens ������� 377 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 381
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3.1 Sterberaten nach Alter für Berlin. (Quelle: Imhof 1984, S. 23)���������63 Abb. 6.1 Folgen von Episoden/Ereignissen. (Quelle: eigene Darstellung)�����139 Abb. 6.2 Kontrollstrategien und Selbstwertgefühl. (Quelle: Diewald et al. 1996, S. 233) Multiple Klassifikationsanalyse�����������������������������������������������������������������������148 Abb. 6.3 Bevölkerungsentwicklung in der DDR 1955–1990. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, eigene Berechnungen) ���������������������������������������������������������������������������������151 Abb. 6.4 Altersverteilung der DDR-Bevölkerung in fünf ausgewählten Jahren. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, eigene Berechnung) �������������������������������������������������������������������������������������153 Abb. 6.5 Lebensjahre und Messjahre der Politischen Generationen. (Quelle: ALLBUS-Daten, aufbereitet nach der Kohorteneinteilung von Klein und Ohr (2004, S. 167 f.)) ���������������163 Abb. 8.1 Panel-Design der LifE-Studie. (Quelle: Fend et al. 2009, S. 11)�����228 Abb. 9.1 Schichten und Kollisionen der Habitusgenese. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bourdieu und Passeron 1971) �����������261 Abb. 9.2 Modell der schul- und bildungsbezogenen Habitustypen. (Quelle: Kramer et al. 2009, S. 139)�������������������������������������������������269 Abb. 9.3 Bildungshabitus und Fremd- und Selbstplatzierung. (Quelle: Kramer et al. 2009)�������������������������������������������������������������271 Abb. 9.4 Bildungshabitus, negative Übergangserfahrungen und Passungsverlauf. (Quelle: Kramer et al. 2013, S. 236)���������������������274 XVII
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 9.5 Bildungshabitus, positive Übergangserfahrungen und Passungsverlauf. (Quelle: Kramer et al. 2013, S. 237)���������������������275 Abb. 9.6 Krisen der sozialisatorischen Individuation und Bildung des Habitus. (Quelle: Helsper 2014, S. 144)�������������������������������������������277 Abb. 10.1 Graphische Darstellung der Modellrechnungen. (Quelle: Esser 1999, S. 271) �����������������������������������������������������������291 Abb. 10.2 Konstrukte, Indikatoren und Kontrollvariablen des Modells der Frame-Selektion. (Quelle: Esser 2002, S. 45)�����������������������������303 Abb. 12.1 Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen (Darstellung nach Mau/Verwiebe)���������������������������������������������������������������������������������326 Abb. 12.2 Regime und Timing von Lebensereignissen (nach Mayer 2005)�����328 Abb. 12.3 Regime der sozialen Mobilität (in Anlehnung an DiPrete 2002)�����329 Abb. 12.4 Regime und Timing von Lebensereignissen in „Linked Lives“. (Quelle: Mayer 2005, Life Courses and Life Chances (übersetzt von MC)) �������������������������������������������������������������������������331 Abb. 12.5 Ebenen der Genese von Mediengenerationen. (Quelle: Aroldi 2011, S. 56)�������������������������������������������������������������342 Abb. 12.6 The Life Course Cube: Time, Domain, and Level Interdependancies. (Quelle: Bernardi et al. 2018, S 4)���������������������351
Tabellenverzeichnis
Tab. 2.1 Tab. 2.2 Tab. 2.3 Tab. 6.1 Tab. 6.2 Tab. 6.3 Tab. 6.4 Tab. 6.5 Tab. 6.6 Tab. 6.7 Tab. 6.8
„Der vollständige Lebenslauf“ (nach Erikson, Quelle: Erikson (1992, S. 36, 37)) �������������������������������������������������������������������������������36 Typen von Lebensereignissen. (Quelle: Brim 1980, S. 152; Brim und Ryff 1980, S. 375, eigene Übersetzung)�����������������������������43 Prozessstrukturen des Lebensablaufs. (Quelle: Schütze 1984,S. 92 ff.)�������������������������������������������������������������������������������������51 Beispiel Aggregatdaten (Bildung). (Quelle: eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������134 Beispiel Aggregatdaten (Ehestand). (Quelle: eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������135 Beispiel Aggregatdaten (Erwerbstätigkeit). (Quelle: eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������135 Zusammenhängende Berechnungsmöglichkeiten auf der Basis von Individualdaten. (Quelle: eigene Darstellung)�����������������135 Beispiel für die Aufbereitung von Individualdaten. (Quelle: eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������136 Übergangsmuster zwischen Jugend und Erwachsenenstatus�����������142 Kodierung zweier Lebensverläufe als Sequenzmuster (Beispiel). (Quelle: eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������144 Kinder (unter 5 Jahren) und Erwachsene (65–70) nach Geschlecht im Jahr 1955. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, 1955–1990, eigene Berechnungen) ���������������������������������152
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Tab. 6.9
Tab. 6.10
Tab. 6.11 Tab. 6.12 Tab. 6.13 Tab. 6.14
Tab. 8.1
Tabellenverzeichnis
Veränderung der Kohortenstärke ausgewählter Geburtsjahrgänge (männlich, DDR). (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, eigene Berechnungen)�����������������������������������������������������������������������154 Kohortenstärken ausgewählter Jahrgänge (männlich, DDR, altersstandardisiert). (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, Fachserie 1 (1.3) des Statistischen Bundesamtes (ab 1991), a = Alter 52) �������������������������������������������������������������������������������������156 Hypothetisches Modell für Alterseffekt*. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Glenn 1977)���������������������������������������159 Hypothetisches Modell für Periodeneffekt. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Glenn 1977)���������������������������������������159 Hypothetisches Modell für Kohorteneffekt. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Glenn 1977)���������������������������������������160 Altersgruppen-konstanter Kohortenvergleich (Holderberg und Corsten 2019). (Quelle: Kumulierter ALLBUS-Datensatz 1980–2014, eigene Berechnungen)���������������������������������������������������164 Phasen der Gedächtnisentwicklung. (Quelle: Markowitsch und Welzer 2006, S. 235 ff.) �������������������������������������������������������������������221
Tab. 10.1 Brückenhypothesen zur Schulwahl. (Quelle: Esser 1999: 271)�����������������������������������������������������������������������������������������289
Kurseinheit 1 Lebenslaufsoziologie im 20. Jahrhundert
Im ersten Teil des Lehrbuchs geht es darum, einen Überblick zu den grundlegenden Begriffen, zentralen Annahmen und typischen Zugängen der Lebenslauf- und Sozialisationsforschung zu liefern. Dies wird zunächst in einer groben geschichtlichen Darstellung der Entwicklung von Richtungen der Lebenslaufforschung geschehen, die bahnbrechende Studien hervorgebracht haben, die heute noch als Meilensteine gelten (Kap. 1). Danach widmen wir uns dem begrifflichen Repertoire der Lebenslaufforschung, deren Grundsteine etwa zwischen 1980 und 2000 gelegt wurden (Kap. 2). Die damals entwickelten Kategorien und damit verbundenen theoretischen Perspektiven gelten noch heute als wesentliche Bezugspunkte der Lebenslaufsoziologie. Ein weiterer ausschlaggebender Aspekt besteht darin, dass im gleichen Zeitraum wichtige Annahmen formuliert worden sind, die empirische Befunde der Lebenslaufforschung in den Zusammenhang der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung der gegenwärtigen Moderne gerückt haben. Die Lebenslaufforschung beansprucht dabei insbesondere, zentrale gesellschaftliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts präzise abbilden und erklären zu können (Kap. 3). Den ersten Teil schließen dann zwei Blicke in die Sozialisationsforschung ab. Hier werden zunächst wichtige begriffliche Entscheidungen erörtert, sodann die soziologische Tradition der Sozialisationsforschung vorgestellt (Kap. 4). Danach werden die wesentlichen Sozialisationskontexte und Sozialisationsinstanzen skizziert und zwei Forschungszweige vorgestellt, die Sozialisations- und Lebenslaufperspektiven miteinander verbinden: die sozialpsychologische Forschung zur sozialbiografischen Entwicklung und die Untersuchung kritischer Lebensereignisse (Kap. 5).
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Zur Geschichte der Lebenslaufforschung
Die soziologische Lebenslaufforschung beginnt vor rund 100 Jahren in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – insbesondere in den USA. Gemeint ist damit, dass sich die Untersuchung von Lebensläufen im Rahmen einer Forschungstradition – genauer der sogenannten „Chicago School“ – als ein systematisch verwendetes Forschungswerkzeug etabliert. Während somit die klassischen Studien der modernen Soziologie, etwa Webers Protestantismus-Studie, Durkheims Selbstmordstudie oder die grundlegenden Theoriewerke von Weber, Simmel, Mead oder Durkheim um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfasst wurden, setzt die empirische Erforschung von Lebensläufen etwas später ein. Sicher haben schon klassische Studien biografische Analysen beinhaltet, wenn wir uns etwa anschauen, dass Max Weber seine wesentlichen Argumente für den Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus einer Untersuchung der Biografien von Johannes Calvin und Benjamin Franklin verdankt. Solche Analysen waren jedoch methodisch noch wenig ausgearbeitet und haben daher keine eigene Forschungstradition begründet. Dies geschieht erst mit den Arbeiten von William I. Thomas, Dorothy S. Thomas und Florian Znaniecki in Chicago um 1920 herum. Diese Forschungstradition bringt in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Reihe von klassischen Studien hervor und wird nach einer Zwischenphase vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren wieder stärker aufgegriffen und auch neu ausgerichtet, zum einen in den USA selbst, und dann vor allem in Europa, ab den 1980er-Jahren verstärkt. Auch hier können wir wiederum Veränderungsschritte der konzeptionellen und methodischen Zugänge beobachten.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_1
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Wir werden uns daher in diesem ersten Kapitel mit dem Zusammenhang von einzelnen Studien und der Forschungsperspektive, die sie realisiert haben, beschäftigen. Es geht dabei weniger um die einzelnen Ergebnisse der Studien, sondern um den neuartigen Zugang, den sie konzeptionell und methodisch zur Untersuchung gesellschaftlich relevanter Probleme geboten haben. Gerade die Anfänge der Chicago School – und auch einige ähnlich geartete Vorläuferstudien in Europa – weisen einen sehr engen Bezug zu gesellschaftlichen Problemen des frühen 20. Jahrhunderts auf (Abschn. 1.1). Insofern ist es auch interessant zu beobachten, was in den Siebziger Jahren die Renaissance der Lebenslaufforschung begründet haben könnte (Abschn. 1.2) und in welchen gesellschaftlichen Forschungskontexten sie besonders stark aufgegriffen wurde.
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Anfänge und Fortentwicklung in den USA
Den Anfängen und Fortentwicklungen der Lebenslaufforschung in den USA werden wir uns mit folgenden Ausgangsfragen zuwenden. Was sind die gesellschaftlichen Problemlagen, auf die mit der Ausbildung der Lebenslaufperspektive reagiert wird? Wie wird die Lebenslaufperspektive verstanden? Welche Idee vom Individuum legt diese Perspektive zugrunde? Inwiefern und wodurch ergeben sich aus der Lebenslaufanalyse auch Erkenntnisse für den Prozess der Sozialisation? Welche weiteren Untersuchungsverfahren werden der Lebenslaufforschung zur Seite gestellt?
Die Analyse von „own stories“ in der Chicago School In diesem Abschnitt werden wir uns mit drei Phasen der Entwicklung der sogenannten Chicago School in der US-amerikanischen Soziologie beschäftigen, der Gründungsphase zwischen 1920 und 1930, einer Zwischenphase von 1950 bis Mitte 1960 und einer Reflexions- und Reorganisationsphase ab 1970. Wir tun dies anhand von Studien, die in der Soziologie als Meilensteine angesehen werden. Die Studien der frühen Phase sind stark durch die gesellschaftlichen Problemlagen der 1920er-Jahre geprägt, die vor allem einen Zusammenhang von Verstädterung und Modernisierung betrafen. Dieser Zusammenhang ließ sich an der stark wachsenden US-amerikanischen Metropole Chicago besonders gut – exemplarisch – studieren. Die Prozesse, die in den Studien spezifischer untersucht wurden, betrafen erstens die Erfahrungen, die Einwanderer bei ihrer Ankunft in den Groß-
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städten der USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machten. Davon zeugt die bahnbrechende Studie „The Polish Peasant in Europe und America“ von Florian Znaniecki und William Isaac Thomas, die auf persönlichen Dokumenten (insbesondere Briefen) von polnischen Einwanderern und autobiografischen Texten beruhte und in fünf Bänden zwischen 1918 und 1920 erstmals (Thomas und Znaniecki 1918a, b, 1919, 1920a, b) erschienen ist. Ein zweiter wichtiger Bezugspunkt war die Erfahrung von Kindern im Kontext der Urbanisierung. Die soziologische Untersuchung des Wachstums von Städten zeigte, dass sich Problemviertel, sogenannte Gettos ausbildeten, die für die Entwicklung der Kinder keine günstige Ausgangslage bedeuteten. Studien wie „The Unadjusted Girl“ (Thomas 1928) oder „Child in America“ (Thomas und Thomas 1923) zeugen von dieser Problematik. Und damit ergab sich drittens ein spezifischer Strang der Untersuchung von abweichendem Verhalten und Kriminalität, in dem gerade auch die biografische Entwicklungsgeschichte aus der Perspektive des ‚unangepassten‘ oder ‚delinquenten‘ Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen im Mittelpunkt stand. Dies können wir beispielhaft an der Studie „The Jack-Roller“ von Shaw (1930) nachvollziehen.
Thomas/Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America Die Studie von William I. Thomas und Florian Znaniecki wurde zwischen 1918 und 1920 in insgesamt fünf ‚dicken‘ Bänden veröffentlicht. Ich beziehe mich hier auf eine Auflage aus dem Jahr 1974, die bei „Octagon Books“ in New York erschienen ist und die fünf Bände in zwei zusammenfasst. Sie beruht auf der 1927 beim New Yorker Verlag „Knopf“ wiederaufgelegten Fassung der fünf ursprünglichen Bände. Die zwischen 1918 und 1920 zuerst beim Bostoner Verlag „The Gorham Press“ von Richard G. Badger verlegten fünf Bände waren folgendermaßen aufgebaut: • • • •
Volume I: Primary Group Organization (Thomas und Znaniecki 1918a) Volume II: Primary Group Organization (Thomas und Znaniecki 1918b) Volume III: Life-Record of an Immigrant (Thomas und Znaniecki 1919) Volume IV: Disorganization and Reorganization in Poland (Thomas und Znaniecki 1920a) • Volume V: Disorganization and Reorganization in America (Thomas und Znaniecki 1920b) Die hier zugrunde gelegte Fassung von 1974 behält in den beiden Bänden die Organisation der fünf Teile bei, stellt allerdings das Interview mit dem Immigranten Wladek Wiszniewski als Part IV an den Schluss des zweiten Bandes. Die
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a nderen vier werden als Part I bis III in der alten Reihenfolge beibehalten, wobei Band I und Band II zu Part I zusammengefasst wurden. Die Gründe dafür lassen sich gut anhand der Inhalte der fünf ursprünglichen Bände verständlich machen. Die ersten beiden Bände beinhalten neben einem „methodologischen Vorwort“ (im Original: „note“) vor allem Briefe, und zwar erstens Briefe, die als Korrespondenzen zwischen den Angehörigen von Familiengruppen ausgetauscht wurden, und zweitens individuelle Briefe. Eine dritte Gruppe von Briefen betrifft persönliche Beziehungen außerhalb von Ehe und Familie. Der dritte Band enthielt – wie schon erwähnt – einen einzigen „Life-Record“, nämlich die Lebenserzählung von Wladek Wiszniewski. Der Band IV beschäftigt sich mit der Lebenssituation in Polen und den dortigen gesellschaftlichen Veränderungen, die zur Auswanderung motiviert haben, und der Band V untersucht die Lebensbedingungen, die die polnischen Immigranten in den USA antrafen sowie deren Sichtweisen und Reaktionen darauf. Die von Thomas und Znaniecki publizierten fünf Bände bestehen zu rund zwei Dritteln aus primärem Datenmaterial, aus Briefen, die fast vollständig abgedruckt sind und aus der langen Lebenserzählung von Wladek. Den Briefen ist neben der methodologischen Vorbemerkung eine weitere Einleitung vorangestellt. Die Briefe selbst sind in sogenannte „Serien“ eingeteilt. Sie stellen überwiegend Familienfälle dar, z. B. „Koslowski Series“, „Jackowski Series und so weiter“. Insgesamt handelt es sich um rund 50 „Letter Series“, von denen etwa 10 Serien Korrespondenzen mit Personen außerhalb der Familiengruppe enthalten. Die beiden ersten Bände, die thematisch mit „Primary Group Organization“ übertitelt sind, untersuchen das Briefmaterial als Ausdruck der Familienverhältnisse. Die Briefe und die Autobiografien werden übergreifend als „personal life records“ – als „persönliche Dokumente“ bezeichnet. Zum Teil handelt es sich um Korrespondenzen, die lediglich eine kurze Phase von ein bis zwei Jahren abbilden, zum Teil finden sich Briefwechsel, z. B. in der „Borkowski Series“ (Thomas und Znaniecki 1974a, S. 858–868), die sich über rund 15 Jahre – von 1897 bis 1912 – erstrecken. Die frühesten Briefe gehen auf die Anfangsjahre der 1890er zurück, die spätesten sind auf 1914 datiert. Allen Briefserien ist jeweils eine kurze Passage mit Hintergrundinformationen zur Familie vorangestellt, die dem Leser eine Einordnung des Materials ermöglichen sollen. Das Material soll somit im Wesentlichen für sich selbst und durch seine Anordnung durch die Forscher sprechen. Kommentare der Forscher und die Schlussfolgerungen, die sie in ihren übergreifenden Analysen ziehen, sind in dem Buch strikt getrennt. Gleichwohl bildet die bi-polare Spannung zwischen Erfahrungen der Desorganisation des gemeinschaftlichen Lebens und der lebenspraktischen Versuche seiner Reorganisation den roten Faden der fünf Bände. Diese Dynamik aus Desorganisation und Reorganisation von Lebensverhältnissen betrifft den gesellschaftlichen Veränderungs- und Modernisierungsprozess
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in Polen, dem Ausgangsland der Migranten, sowie den Eruptionen, die ab 1914 zusätzlich durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst werden. Sie betrifft aber auch die Transformationsprozesse innerhalb der US-amerikanischen Großstädte. Die Autoren zeigen die Transformationsprozesse am Beispiel Chicagos, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts allein ca. 350.000 polnische Einwanderer leben (Bulmer 1986, S. 50), wobei die Stadt die höchste Bevölkerungszahl außerhalb Polens besitzt und nur von den polnischen Städten Warschau und Lodz übertroffen wird. Die Dynamik von Desorganisation und Reorganisation betrifft aber auch die Biografie der Migranten bezogen auf die Lebensumfelder, die sie in Polen und in den USA antreffen. Es lösen sich ihre primären sozialen Beziehungen zu Angehörigen in Polen auf und es bildet sich eine Organisation neuer sozialer Beziehungen in den US-amerikanischen Großstädten aus, die jedoch immer noch – zumindest in einem indirekten – Verhältnis zu den sozialen Vergemeinschaftungsformen in Polen stehen, was sich z. B. an der Herausbildung von ethnisch segregierten Wohnvierteln und an der Aufrechterhaltung von Fernbeziehungen – den untersuchten Briefwechseln – bemerkbar macht. Worin bestehen nun die konzeptionellen und methodischen Errungenschaften dieser Studie? Als erstes lässt sich festhalten, dass die Studie „The Polish Peasant“ in einem bis dato in der Soziologie nicht bekannten Umfang Dokumente vorlegt, die aus der sozialen Lebenswirklichkeit der Personen selbst stammen. Es handelt sich bei den Briefen um Datenmaterial, das von den untersuchten Personen in ihrer Alltagspraxis produziert wurde und nicht durch die Forscher – etwa in Form von Statistiken, Fragebögen oder Tests, die damals ebenfalls schon vorlagen, wie z. B. die von Thomas und Thomas (1923) durchgeführte Forschungsarbeit „The Child in America“ zeigt. Znaniecki und Thomas nähern sich also sehr stark der Alltagswelt der untersuchten Personengruppe an. Daher sprechen sie von „personal life-records“ (Thomas und Znaniecki 1974a, S. 1832). Zudem stellt auch das Material der Lebenserzählung Daten zur Verfügung, die von den Personen selbst aufgeschrieben wurden – auch wenn es hier, wie wir gleich bei der Studie „The Jack Roller“ sehen werden, zur Unterstützung im Schreibprozess durch die Forscher kam. Neben diesem methodischen Aspekt der Recherche und Erhebung von alltagsnahen Dokumenten spielen in konzeptioneller Hinsicht zwei Ziele eine wichtige Rolle: (1) die Ermittlung des Verhältnisses von subjektiven Perspektiven und den äußeren Lebensbedingungen, die durch die sich rapide verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Individuen auswirkten; (2) die Entwicklung des Konzepts der „Situation“, in das subjektive Perspektive und soziale Bedingungen in gleichem Maße eingehen sollten. Das, was Thomas und Thomas (1928, S. 572) in „The Child in America“ die „Definition der Situation“ nennen werden, soll beides –
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subjektive Perspektive und soziale Bedingungen – gleichermaßen berücksichtigen. Den Begriff der Situation verwenden Thomas und Znaniecki (1974a, S. 68) bereits in der „methodological note“ im ersten Band von „The Polish Peasant“. Dazu sei erforderlich, dass drei Arten von Daten berücksichtigt werden: „(1) The objective conditions under which the individual or society has to act (…). (2) The pre-existing attitudes of the individual or the group (…). (3) The definition of the situation, that is, the more or less clear conception of the conditions and consciousness of the attitudes.“ (Thomas und Znaniecki 1974a, S. 68)
Die Möglichkeit des Individuums, die Situation nicht nur aus dem Repertoire der etablierten sozialen Definition der Situation heraus zu bestimmen, sondern unter bestimmten Bedingungen selbst eine andere Situationsdefinition zu entwickeln, erklärt aus Sicht von Thomas und Znaniecki das Verhältnis zwischen der Desorganisation und Reorganisation einer sozialen Lage. Dies veranschaulichen sie an dem Beispiel wie männliche Einwanderer auf die Erfahrung der ‚Untreue‘ („infidelity“) reagierten. Zwar folgten sie zunächst den Regeln und Werten der sozialen Institution Ehe, die im Allgemeinen für die Personen in ihrem Umfeld gültig wären. Aber unter der Bedingung weiterer ökonomischer Möglichkeiten und dem Umstand, dass die Untreue der Frau entdeckt wurde, entwickelten die Männer in der Situation der Migration eine neue Haltung („new attitude“) und definierten die Situation für sich selbst (vgl. dazu Thomas und Znaniecki 1974a, S. 69). Dann habe der Migrant in folgender Weise eine subjektive Neuordnung der Definitionselemente einer Situation vorgenommen:„(h)e takes certain conditions into account, ignores or neglects others, or gives them a certain interpretation in view of some chief value …“ (ebd.). Die Rekonstruktion der individuellen Entwicklung an den ‚subjektiven‘ Datenmaterialien der Briefe und Lebenserzählungen bleibt gleichwohl stets verankert in einer soziologischen Rekonstruktion der objektiven Lebensbedingungen der polnischen Migranten. Dazu zeigen Thomas und Znaniecki (1920a) im vierten Band zunächst die soziale Desorganisation der wesentlichen Beziehungen in Familie und lokaler Gemeinschaft und daran anschließend die Konsequenzen aus diesen Desorganisationen für die alltäglichen Überlebensstrategien im alten System auf. Dieses wird darüber hinaus auf der Makroebene der Gesellschaft durch sozialen Wandel und von revolutionären Strömungen bedroht. Zugleich stellen sie in einem zweiten Teil des vierten Bandes (Thomas und Znaniecki 1974b, S. 1303 ff.) dar, wie sich in dieser Situation der enormen gesellschaftlichen Veränderungen in Polen um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert die Gesellschaft reorganisierte, indem neue Formen der politischen und gesellschaftlichen Elitebildung, Erziehung
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und durch freie Presse und Öffentlichkeit auch eine neue Sicht von gesellschaftlichen Verhältnissen entstand. Das lokale bäuerliche Leben und seine Gemeinschafts- und Autoritätsstrukturen wurden abgelöst durch eine weitere Vorstellung von Gesellschaft in einem nationalstaatlichen Kontext mit urbanen Zentren und öffentlichem Leben. Aber auch diese reorganisierte Gesellschaft bot nicht genügend Spielraum für alle einfachen Bauern und Landarbeiter, die im Zuge der sozialen Desorganisation Ende des 19. Jahrhunderts ‚frei gesetzt‘ wurden. Sie verließen Polen und wanderten sowohl in andere Länder Europas (u. a. auch nach Deutschland, insbesondere ins Ruhrgebiet) und in die USA ab. Und ebenso verfolgen Thomas und Znaniecki Dynamiken der Neu- Organisation und Desorganisation des gemeinschaftlichen Lebens der Immigranten nach ihrer Ankunft in den großen Städten der USA. Sie widmen sich systematisch den Fragen nach der Bedeutung und den Folgen der Emigration, den Formen der Herausbildung polnisch-amerikanischer Gemeinschaften in den großen Städten und vor allem deren übergreifender territorialer Strukturierung („super-territorial organization“, Thomas und Zaniecki 1974b, S. 1575 ff.) in den USA, die vor allem darin besteht, dass sich in den Großstädten ethnisch durch bestimmte Einwanderergruppen geprägte Wohnviertel etablieren (wie z. B. „Little Italy“ in New York oder „Chinatown“ in San Francisco). Und wie bereits am Anfang erwähnt spielte die polnische Einwanderergruppe für die Großstadt Chicago eine besondere Rolle. Thomas und Znaniecki leitete somit folgendes Erkenntnisinteresse: Das Zusammenspiel aus sozial vorliegenden Mustern der Situationsdefinition und ihrer jeweiligen individuellen Aneignung soll für den Fall der Veränderung von sozialen und konkreten Rahmenbedingungen des Zusammenlebens mit Hilfe von Daten untersucht werden, die Auskunft sowohl über die Bedingungen als auch über deren subjektive Deutung und Verarbeitung durch die individuellen Akteure geben können. Dafür eignet sich der Fall der Migrationsströme auf besondere Weise. In ihnen zeigen sich soziale Veränderungsprozesse sowohl in der Gesellschaft, aus der Migranten auswandern, als auch in den Einwanderergesellschaften. Und an den biografischen Entwicklungen der einzelnen Migranten zeigen sich deren subjektive Deutung (Situationsdefinition) und Verarbeitung. Dabei stellen die von Thomas und Znaniecki recherchierten und dokumentierten Briefwechsel und Lebenserzählungen aus „The Polish Peasant“ Datenmaterial dar, an dem auf eindrückliche Weise die subjektive Deutung sozialer Rahmenbedingungen rekonstruiert werden kann. In der Möglichkeit, dieses Zusammenspiel aus Rahmenbedingungen und subjektiver Bewältigung aufzudecken, bestand das Neue dieser Forschungen aus der Chicago School.
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Clifford R. Shaw: The Jack-Roller Auf der gleichen Linie der Forschungen aus der Chicago School liegt die Untersuchung „The Jack-Roller“ von Clifford R. Shaw (1930). Ganz analog zum Life Report von Wladek Wieszniewski in „The Polish Peasant“ handelt es sich um die exemplarische Rekonstruktion der Entwicklung eines jugendlichen Delinquenten namens „Stanley“ aus den 1920er-Jahren. Auch darin geht es um die soziologische Rekonstruktion der Lebensgeschichte als eine „own story“. In „The Jack Roller“ dreht es sich um die Entstehungsgeschichte einer jugendlichen Abweichung und Kriminalitätskarriere, die im „jack rolling“ besteht, dem Ausrauben von schlafenden oder betrunkenen Personen auf meist nächtlichen Straßen der Großstädte, auch wieder am Beispiel Chicagos. Der „Jack-Roller“ zählt zu den typischen Sozialfiguren, die als „marginal men“ (Park 1928) der „Street Corner Societies“ (Whyte 1943) in der Chicago-School untersucht wurden. Auch in „The Jack Roller“ werden der von „Stanley“ selbst aufgeschriebenen Lebenserzählung weitere Datenarten zur Seite gestellt. Dazu gehören zum Beispiel die Auflistung seiner behördlich dokumentierten Verhaltensauffälligkeiten („official records of arrest“), die in seinem Fall im Lebensalter von sechs Jahren beginnen, da „Stanley“ immer wieder von zuhause ausreißt und auf Polizeistationen, in sogenannten „Detention Houses“ oder später in „Reformatory Schools“ oder „Correction Houses“ in Gewahrsam genommen wird. Außerdem erläutert Shaw anhand von sozialgeografischem Material die sozial ungleiche Verteilung von Bevölkerungsschichten auf die Stadtviertel und Wohngebiete Chicagos. Dabei zeichnet Shaw genau nach, in welchen drei Quartieren „Stanley“ in den ersten rund zwanzig Jahren seines Lebens mehr vagabundiert als gewohnt hat. Kern des Buches sind somit a) die etwa 100 Seiten schriftlich abgefasste Lebenserzählung von „Stanley“, die von Shaw stets als „his own story“ bezeichnet wird, b) die Auflistung und Kommentierung seiner „Delinquenz-Karriere“ aus den offiziellen Akten, und c) die sozialgeografische Kartierung der sozialen Verteilung der Bevölkerung Chicagos unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Lebens- und Wohnumfelder von „Stanley“. Soweit ähnelt die Studie „The Jack Roller“ dem Forschungsdesign von „The Polish Peasant“, nicht zuletzt auch in dem Umstand, dass die Lebenserzählung unkommentiert für sich steht und ihr die soziologischen Materialien zu den „official records“ und den sozialgeografischen Beschreibungen zur Seite gestellt werden. Interessant sind jedoch Inhalt und die Entstehungsgeschichte der Lebenserzählung, denn hier zeigt sich, dass Stanleys „own story“ doch nicht ganz die seine ist. Wieso? Tatsächlich haben die Forscher Stanley in dessen Alter von 16 Jahren und acht Monaten gebeten, seine Geschichte aufzuschreiben. Stanley befand sich
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d amals im Rahmen einer Jugendstrafe in einem „House of Correction“. Der Forscher Shaw bittet den Jugendlichen somit im Rahmen einer „Erziehungs“- bzw. „Korrektur“-Maßnahme um die schriftliche Abfassung seiner Lebensgeschichte. Insofern wird diese Aufgabe aus Stanleys Sicht sicher als ein Auftrag im Rahmen seiner ‚Umerziehung‘ aufgefasst worden sein. Zwar gab ihm das Forscherteam um Shaw die Gelegenheit, seine Geschichte in seinen eigenen Worten abzufassen – nur, dass die erste Fassung, die Stanley vorgelegt hatte, gar nicht als solche verwertet wurde. Stattdessen wurde sein Skript durchgesehen und für nicht hinreichend erachtet. Es wurde ihm insofern die Rückmeldung gegeben, dass seine aufgeschriebene Erzählung nicht ausreiche. Zudem erhielt er eine „Instruktion“ zu einer „further elaboration“, „until the story was as complete as possible“ (Shaw 1930, S. 22). Dieser Prozess aus Schreiben und Überarbeitung auf der Grundlage ‚redaktioneller‘ Wünsche der Forscher hat sich über einige Zeit erstreckt. Insgesamt begleiteten die Forscher die Delinquenzkarriere von Stanley bis etwa zum Alter 21. Auch die Gliederung der Inhalte der Lebenserzählung Stanleys wird durch Untergliederungen und Überschriften strukturiert, die vom Forschenden vorgenommen wurden. Sie ist etwa folgendermaßen aufgebaut: Präambel: „kind of my life“ Familie: „stepmother“ and „mostly absent father“ Stationen des Arrests: „Detention Houses“ and „Reformatory Schools“ Kontexte des Auf-Der-Straße-Lebens: „runways“ – „jack-rolling“ – „out, but an outcast“ Letzte Station des Arrests: „House-of-Correction“ as „House-of-Corruption“
Stanley beginnt seine Erzählung mit einer Gesamtrahmung des bisherigen Lebens, das er als verwirkt betrachtet. Gleich in dieser Rahmung setzt er das Ereignis des Eintritts der Stiefmutter in sein Leben als den Anfangspunkt einer unglücklichen Verkettung an, die als Aufeinanderfolge von weiteren Stationen einer Misere interpretiert werden. Danach folgt ein zweiter Abschnitt, in dem ausführlich das als feindselig bewertete Verhalten der Stiefmutter zu den drei Kindern aus der ersten Ehe des Vaters ausgemalt wird, so wie der Rückzug des Vaters aus der Familie und seine mangelnde Unterstützung. Der dritte Teil der Lebenserzählung umfasst die Erfahrungen des Ausreißens von zuhause, das im Alter von sechs Jahren beginnt, und den kurzen Arresten in Detention Houses, die später von den längeren Unterbringungen in Reformatory Schools abgelöst werden. Diese Erfahrungen wechseln mit vorübergehenden Rückkehren in das Elternhaus, wiederholten Ausreißversuchen, bei denen Stanley nach einer gewissen Zeit immer wieder aufgegriffen wird und den Unterbringungen in „reformatory schools“. Ab dem Alter von 12 Jahren
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werden Praktiken des Jack-Rollings aktenkundig. Stanley hatte sich in den „reformatory schools“ älteren Jungen angeschlossen, deren Netze er in den Phasen des Ausreißens aufsucht und mit ihnen Überfälle begeht. Stanleys Geschichte erscheint somit als ein unaufhörliches Hin- und Herstraucheln zwischen Institutionen der staatlichen Um-Erziehungsmaßnahmen, der Rückkehr in die desorganisierte Familie und den Versuchen auszureißen und auf der Straße zu leben. Wichtig ist dabei die Frage, welche sozialen Bindungen Stanley in diesen sich wiederholenden Kreisläufen glaubhaft Autorität zusichern. Hier spielen die frühen Erfahrungen auf der „Reformatory School“ eine zentrale Rolle, insbesondere das Bestrafungssystem der Einrichtung, auf das er einerseits trifft und andererseits die Verbundenheit der kind- und jugendlichen Insassen, die sich dort auf den „code“ einschwören: „don’t squawk“. Damit ist nicht nur gemeint, nicht beim Vollzug der damals noch obligatorischen Prügelstrafe zu kreischen oder zu schreien, sondern sich auch nicht bei Androhung oder beim Vollzug der Strafe zum Verrat anderer verleiten zu lassen. Stanley trifft somit als Kind im Alter von sieben bis zehn Jahren auf eine Erziehungsinstitution, die nur die Entscheidung zwischen zwei Seiten kennt: die Unterwerfung unter das System der Erziehung oder die Verbundenheit mit den anderen „boys“. Wir treffen mit der im Buch „The Jack-Roller“ festgehaltenen Lebenserzählung von Stanley auf ein bemerkenswertes Sprachdokument, das eine Mischung aus mindestens vier Teilsprachen besteht: der alltäglichen Umgangssprache aus Familie und naher Mitwelt, der formalen Sprache der Erziehungsinstitutionen für auffällige Kinder und Jugendliche, der Geheimsprache der kind- und jugendlichen Insassen und einer reflexiven Überschreibung der alltäglichen Sprechweisen in eine ansatzweise versozialwissenschaftlichte Reformulierung der eigenen Erfahrungen, die vermutlich durch die Korrekturinstruktionen der Forscher bedingt ist. Die Lebenserzählung von Stanley ist somit eine „own story“ mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Anleitungen. Dieses Vorgehen und das damit verbundene Unkenntlich-Werden des Einflusses des Forschers auf den Prozess der Sammlung von Datenmaterial wird später ein wichtiger Aspekt bei der Reflexion der Güte von Forschungsdokumenten.
Von „Own Stories“ zur „Life Course Research“ Die Chicago-School hat sich bis in die Sechziger Jahre hinein weiterentwickelt und eine zweite Generation von Forschern hervorgebracht, zu denen in erster Linie Howard S. Becker, Herbert Blumer und auch noch Anselm Strauss zählen. Diese von der Rezeption George H. Meads und weiteren Vertretern des Chicagoer Prag-
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matismus geprägte Richtung wurde dann auch als Symbolischer Interaktionismus bezeichnet. Über Anselm Strauss und Erving Goffman sowie dem zunehmenden Einfluss der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz entwickelten insbesondere Harvey Sacks und Harold Garfinkel den Forschungszweig der Ethnomethodologie. Dadurch ändert sich auch der Stellenwert, den Lebenserzählungen in den Untersuchungen der Verzweigungen der Chicago School einnehmen. Dies werden wir hier anhand der Arbeiten von Howard Becker nachvollziehen sowie an der Studie „Mark“ von Aaron Cicourel, die den veränderten Stellenwert von Lebenserzählungen im Rahmen des symbolischen Interaktionismus von Anselm Strauss und bei Erving Goffman bis in die ethnomethodologische Positionen von Harold Garfinkel und Harvey Sacks spiegeln.
Howard Becker: Boys in White, Outsiders: The Jazz Musician Eine zentrale Kategorie, die im Rahmen der Chicago School entwickelt wurde, war die der „sub culture“ (Cohen 1955). Der Begriff taucht teils schon bei Shaw auf. Bei Cohen wird der Begriff, der zunächst kriminalsoziologisch enger auf Kulturen von delinquenten Gruppen gefasst war, auf abweichende Lebensstile von sozialen Einheiten übertragen, die wir heute eher Szenen oder Szenekulturen nennen würden. Eine frühe interessante Studie ist die von Paul G. Cressey (1932) zur „Taxi- Dance Hall“, in der in einem Kapitel auch „the life cycle of the taxi-dancer“ (Cressey 1932, S. 90 ff.) beschrieben wird. Worin lässt sich nun der Unterschied zwischen den Studien der ersten und zweiten Generation finden, die durch Howard S. Becker repräsentiert wird. Erstens – und dies zeigt sich schon am Begriff der „Subkultur“ – muss die Untersuchung sozialer Situationen nicht auf das Problem der Abweichung oder noch schärfer der Delinquenz begrenzt bleiben. Konzepte wie die „Definition der Situation“ oder die Frage nach den Formen der gesellschaftlichen „Des“-, „Re“- oder „Neu“-Organisation lassen sich auf sämtliche soziale Phänomene anwenden. Hierbei muss „Subkultur“ auch nicht mehr im engeren Sinn als Kultur einer Minderheit angesehen werden, sondern einfach als eine Kultur, die eine bestimmte Gruppe oder einen bestimmten sozialen Kontext (bspw. ein Milieu) von der Gesamtkultur der Gesellschaft abgrenzt. Dabei kann es sich durchaus um besondere Elitekulturen handeln, die sich vom Rest der Gesellschaft abgrenzen und abschließen. Genau diesen Prozess der Abschließung von Elitegruppen und den besonderen Übergangsprozessen, die sich daraus für das Individuum ergeben, wenn es den sozialen Raum solcher Gruppen betritt, hatten Blanche Geer, Howard Becker, Everett Hughes und Anselm Strauss im Blick, als sie sich in ihrer Studie „Boys in White“ (Becker et al. 1961) mit US-amerikanischen Medizinstudentinnen beschäf-
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tigten. Die Leistung der zweiten Generation der Chicago School besteht somit in der Ausweitung des Konzepts und der dabei gewählten Vorgehensweisen. Diese Strategie lässt sich auch in umgekehrter Richtung bei der Analyse von „Außenseitern“ oder „abweichenden Kulturen“ beobachten, die Howard Becker (1963) in der berühmten Studie „Outsiders“ einschlägt. Hier wird die Kultur der Außenseiter nicht mehr als etwas Defizitäres im Vergleich zur normativ im Durchschnitt der Gesellschaft vorherrschenden Praktiken angesehen, sondern als eine Kultur – auch im Sinne einer kulturellen Errungenschaft – in ihrem eigenen Sinn und von eigenem Wert. Dies arbeitet Becker, der selbst Musiker war und das Klavierspielen bei dem famosen Cool-Jazz-Pianisten und Bandleader Lennie Tristano im Alter von 12 Jahren erlernt hatte, an den subkulturellen Klub-Szenen und der Sozialfigur des „jazz musician“ heraus (Becker 1951, 1963, S. 79–100). Das Buch „Outsiders“ übernimmt Gedanken und Befunde, die Becker schon in früheren Untersuchungen entdeckt hatte. Allerdings fügt er sie zu einer neuen Systematik zusammen. So schickt er der Untersuchung eine Definition und ein Modell der Devianzkarriere voraus. Ein wesentliches Anliegen ist es, ein „simultanes“ Modell der Devianz durch ein „sequentielles“ Modell zu ersetzen (Becker 1963, Kap. 2). Ihn interessiert somit nicht die deviante Kultur oder das deviante Verhalten als solches, sondern der Entwicklungsweg, den ein Individuum innerhalb eines sozialen Kontextes durchläuft, um zu einem „Außenseiter“ zu werden und sich in der spezifischen Kultur einer abweichenden Gruppe zurechtzufinden. Die spezifische Kultur und das soziale Milieu der abweichenden Gruppe können dem Individuum durchaus Erfolg vermitteln. Abweichendes Verhalten lässt sich aus Beckers Sicht dabei in gewisser Weise auch mit Unternehmungen bzw. Unternehmertum (Becker 1963, S. 162 ff.) vergleichen. Entscheidend ist für ihn jedoch die Erklärung der Entstehung der Abweichung als sequenzieller Prozess. Dazu wählt er zwei ty pische Beispiele: die Karriere eines Marihuana-Konsumenten (Becker 1963, S. 41–78) und die Karriere eines Tanzmusikers, genauer des Jazzers (Becker 1963, S. 79–119). Beide Prozesse sind verbunden (a) mit der Geschichte des Erlernens einer Praktik – dem Marihuana Rauchen bzw. dem Musik Machen – und (b) mit einer Aneignung einer subkulturspezifischen Moral. So müsse etwa der Marihuana- Raucher zunächst einmal lernen, wie Marihuana geraucht wird, dann lernen, wie die Effekte des Marihuana-Rauchens kontrolliert hervorgebracht werden, bevor er lernen kann, Marihuana-Rauchen mit Freude zu genießen. Zudem beschreibt Becker (1963, S. 72 ff.) einen Prozess der Überwindung konventioneller Moralauffassungen in Bezug auf Marihuana-Konsum, der durch eine schrittweise Zurückweisung und Rationalisierung des Gebrauchs dieses Narkotikums erfolgt. Zunächst dient ihm – bei noch unregelmäßigem Konsum – der Vergleich zum Konsum legaler Drogen. Nehme der Konsum regelmäßige Formen an, komme es zu der Deu-
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tung, dass der Gebrauch des Marihuanas immer noch einer freien Entscheidung unterliege, auch wieder im Vergleich mit Konsumenten legaler Drogen, die z. B. Alkohol trinken oder rauchen würden, weil sie Probleme mit sich oder ihrem Leben hätten. Becker schließt die Rekonstruktion der „Marihuana-Karriere“ ab mit folgendem Fazit: „In short, a person will feel free to use marihuana to the degree that he comes to regard conventional conceptions of it as the uninformed views of outsiders and replaces those conceptions with the „inside“ view he has acquired through his experience with the drug in the company of other users.“ (Becker 1963, S. 78)
Das, was Becker hier beschreibt, ist somit ein Sozialisationsprozess, den ein Akteur im Verlauf einer Lebensphase durchläuft und in dem er eine spezifische Haltung zu einem Tun innerhalb eines speziellen sozialen Kontexts entwickelt. Gleichermaßen analysiert er auch den Prozess des Sich-Bildens zu einem „Dance Musican“. Auch hier gehe es um den Prozess, in dem die Person sich nicht nur die Praktik des Musizierens selbst, sondern ein bestimmtes Ingroup-Outgroup- Bild aneigne. Gewissermaßen wird dabei das in der Gesellschaft vorherrschende Bild vom Jazzer als Außenseiter umgekehrt, so dass nun die Durchschnittsmenschen, die nichts mit Jazz anfangen können, zur Outgroup werden, zum „square“ – was auf deutsch als „Spießer“ übersetzt werden könnte. Dabei sähen sich die Tanzmusiker laut Becker (1963, S. 91 ff.) einem typischen Konflikt ausgesetzt – den zwischen der Verfolgung eigener selbstexpressiver Interessen bei der musikalischen Aufführung und dem Übergehen dieses Wunsches zugunsten der Interessen des Publikums, insbesondere des kommerziellen Geschmacks der „squares“. Zudem müsse es ihnen gelingen, sich selbst von konventionellen Sozialbezügen zu trennen („self segregation“, Becker 1963, S. 95 ff.), was allerdings mit zunehmender Isolation einhergehe. Dadurch gerate der Tanz- bzw. Jazzmusiker in spezielle Musikerzirkel, von denen es dann wiederum abhänge, ob er sich den eher kommerziellen Tanzmusikern oder den eher devianten Jazzmusikern dauerhaft anschließe. Partnerinnen und Familie (Jazz ist in dieser Zeit eine vorwiegend männliche Angelegenheit) würden immer mehr zurücktreten. Becker interessiert sich also für Sozialisationskarrieren von milieuspezifischen Sozialfiguren. Es geht ihm in seinen Rekonstruktionen weniger um die individuellen Besonderheiten, die einzelne Subjekte in ihren jeweiligen sozialen Kontexten ausbilden oder mit denen sie auf die Herausforderungen des Milieus reagieren. Sondern im Mittelpunkt der Becker’schen Analysen steht ein sozialisatorischer Transformationsprozess, der eine Person von einer ‚normalen‘ Lebensweise mehr
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und mehr in ein spezifisches Milieu zieht. Es geht daher um die Rekonstruktion eines milieutypischen Wegs der Selbstwerdung einer Sozialfigur.
Aaron Cicourel: Mark Im Rahmen der zweiten Generation der Chicago School entwickelt sich im Kreis um Everett Hughes, Anselm Strauss und Erving Goffman eine weitere Forschungsperspektive, die ebenfalls in der Tendenz von der Studie „Boys in White“ ausgeht. Diese Forschungsrichtung ist jedoch weniger daran interessiert aufzuzeigen, wie ein bestimmter Sozialtypus – der professionelle Arzt, Jazzmusiker oder geübte Marihuana-Raucher – entsteht. Demgegenüber steht die Dimension des Lebens in der Welt der Klinik im Mittelpunkt. Dieser Forschungszweig wird auch als Klinische Soziologie (vgl. Hildenbrand 2019) bezeichnet. Als klassische Arbeiten aus dieser Richtung gelten die Studien von Glaser und Strauss (1965, 1968) zum Prozess des Sterbens und der Interaktion mit Sterbenden sowie die Arbeiten von Erving Goffman zu „Stigma“ (Goffman 1963) oder „Asylen“ (Goffman 1961). Im Anschluss an diese klinischen Studien kommt es auch zu einer Rückkehr und Neu-Ausrichtung der Devianzforschung. Lebensläufe werden dann nicht nur in subjektiv-biografischer Perspektive unter dem Gesichtspunkt der Bewältigung untersucht, sondern daraufhin wie sie institutionell – behördlich – konstruiert werden. Dies zeigt Aaron Cicourel (1968) in dem Abschnitt über die Institutionengeschichte von „Mark“ in dem Buch „The Social Organization of Juvenile Justice“. Die Verhaltensweisen von Mark werden somit einem systematischen Prozess des „Labelings“ unterzogen, so dass seine Biografie mehr und mehr als Kriminellen- Karriere erscheint. Damit hat sich die Perspektive der Forschung verschoben. Die „List of Official Records“, die Shaw noch als objektive Daten neben die erzählte und aufgeschriebene Lebensgeschichte von Stanley stellte, ist nun keine sichere Quelle mehr, sondern Beleg für die institutionelle (behördliche) Konstruktion einer biografischen Wirklichkeit als Kriminalitäts-Karriere.
„Great Depression“ und „Life Course Research“ Allerdings wird im Rahmen der soziologischen Forschung die interpretative und einzelfallorientierte Forschung der Chicago School mehr und mehr als problematisch beurteilt angesichts der zunehmenden Konkurrenz sozial-statistischer Analysen und sogenannten Survey-Studien, die sozial-statistische Analysen und Einstellungsfragen miteinander kombinieren. Schon die Vertreter der frühen Chicago School nutzen Sozialstatistiken zu Wohnvierteln, Einwandererquoten und so weiter, um den objektiven Rahmen der Lebensbedingungen in den Städten zu beschreiben. Jedoch stellten sie diesen Daten Interviewerzählungen und andere sub-
1.1 Anfänge und Fortentwicklung in den USA
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jektive Dokumente wie Briefe und aufgeschriebene Geschichten gegenüber. Neuere Erhebungstechniken ermöglichten es nun aber, nicht nur Daten über Alter, berufliche Stellungen oder Bildungsabschlüsse, sondern durch gleichzeitig eingesetzte Befragungstechniken auch Meinungen und Einstellungen der Personen zu erfassen, so dass beide Datenarten miteinander kombiniert ausgewertet werden konnten. Psychologische Methoden erhielten so Einzug in die soziologische Forschung. Trotzdem fragt sich, wie diese Art der Forschung in den USA und bald darauf auch in Europa an Bedeutung und gesellschaftlicher Relevanz gewinnen konnte. Dies hing auch wieder mit bahnbrechenden Studien zusammen, die besondere historische Erfahrungen der US-Bürgerinnen aufgriffen, die ab 1960 wieder prominent in den öffentlichen Diskurs gelangten. Ein Thema, das in dieser Zeit besonders in Form von journalistischer Sozialreportage – ähnlich wie auch in der Chicago School – öffentlich behandelt wurde, war die sogenannte Great Depression, die Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er- und 1930er-Jahre. Als wegbereitend gilt das Buch „Hard Times“ von dem Radio-Journalisten Studs Terkel (1970), das aufgrund seines Untertitels auch als Pionier-Studie der „Oral History“ gilt. Zuvor hatte Terkel (1957) bereits durch ein ähnlich angelegtes Buch über „Giants of Jazz“ viel Aufmerksamkeit erhalten. 1985 erhielt er den Pulitzer-Preis für nicht-fiktionale Werke für sein Buch „The Good War“ (Terkel 1984), das ebenfalls im Kontext der Oral History steht.
Studs Terkel: Hard Times Bei „Hard Times“ handelt es sich um eine Sammlung von Interviewgesprächen mit 150 bis 200 Personen, die in verschiedenen Kapiteln unter Stichworten zusammengefasst werden, die teils den Sprachstil und die Wortwahl der dreißiger Jahre, teils jedoch auch die Erfahrungen der „Großen Depression“ in den aktuellen Kontext zu stellen versuchen. Die interviewten Personen geben in den Gesprächen ihr eigenes, subjektives Verständnis der Weltwirtschaftskrise wieder. Dabei kommen Menschen zu Wort, die zu Zeiten der Großen Depression in den USA gelebt haben, die demnach als Zeitzeugen sprechen, aber auch jüngere Personen im Alter von 18 bis 35, die noch zu jung gewesen sind, um die Weltwirtschaftskrise selbst erfahren zu haben. Sie wissen teils nichts dazu zu sagen oder sie sprechen darüber, weil sie von ihren Eltern davon gehört oder in Büchern darüber gelesen haben. Deutlich wird dadurch, dass aus der Perspektive der Alltagsgeschichte die Große Depression sehr Unterschiedliches bedeutet: so kommen die Sicht der Black Americans, der Ärzte, der Arbeiter, der Intellektuellen, der Bauern zur Sprache oder die der Menschen, die die Weltwirtschaftskrise aus der Perspektive der Kinder erlebt haben. Es erzählen Aktivisten aus der damaligen Zeit, die Protestmärsche
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oder Streiks organisiert haben und (später) deshalb verfolgt wurden. Aber es kommen auch Vertreter der Hippiebewegung oder der Protestbewegung der 68er (wie der Musiker Country Joe McDonald) zu Wort, die versuchen die „Great Depression“ in eine allgemeine Problematik gesellschaftlicher Entwicklungen zu stellen. Oral History ist daher eine Form der kollektiven Erinnerung aus der Perspektive der Alltagsmenschen. Es geht dabei – ähnlich wie bei den Lebensgeschichten von Stanley oder Wladek aus der Chicago School – nicht darum, was richtig oder falsch ist, tatsächlich geschah oder nicht, sondern was vom Geschehen als persönlich wichtig in Erinnerung bleibt.
Glen H. Elder: Children of Great Depression Mit dem Thema der Weltwirtschaftskrise beschäftigt sich auch eine weitere Studie, die insbesondere für standardisierte und quantitativ vorgehende Lebenslaufforschung zu einer bahnbrechenden Untersuchung geworden ist, die immer noch als beispielgebend gilt, das Buch „The Children of Great Depression“ von Glen H. Elder (1974). Sie gilt als Vorbild einer längsschnittlich angelegten Kohortenstudie. Was ist darunter zu verstehen? Unter einer „Kohorte“ (Ryder 1965; Glenn 1977; Müller 1978) versteht man die Personen, die ein bestimmtes Lebensereignis – wie das der Geburt, des Berufseinstiegs oder der Heirat –, zur selben Zeit erleben. Sie unterliegen somit den gleichen historischen Einflüssen. So lässt sich sagen, dass all die Menschen, die in den USA um 1920 geboren wurden, das historische Ereignis der Weltwirtschaftskrise im Alter von etwa 10 Jahren erlebt haben; während etwa den Kindern, die um 1928/1929 geboren sind, dasselbe Ereignis in der frühesten Kindheit widerfuhr. Genau die beiden Kohorten – die um 1920 Geborenen und die kurz vor 1930 Geborenen – sind in Elders Arbeiten (Elder 1974; Elder und Rockwell 1978) die miteinander verglichenen Geburtskohorten. Elder hat nun die Angehörigen derselben Geburtsjahrgänge langzeitlich, d. h. in der je individuellen Lebensentwicklung beobachtet. Er konnte daher Informationen nutzen, die sich über die gesamte Lebenszeit der Personen erstreckten, da sie seit 1920 jährlich erhoben wurden. Er konnte für alle 167 Personen, die der „Oakland-Kohorte“ (in Oakland geborene Kinder) angehörten, über die jährlichen Daten zur Kindheit und zu drei weiteren Messzeitpunkten im Erwachsenenalter verfügen. Elder und Rockwell konnten außerdem die Daten aus der „Oakland-Studie“ mit Daten aus zwei anderen Studien, der „Elmtown-Studie“ von Hollingshead (1949) und der „Berkeley-Studie“ von MacFarlane (1938), vergleichen, da diese auf ähnliche Weise angelegt waren, jedoch im Unterschied Kinder und Jugendliche langzeitlich beobachtet hatten, die zwischen 1928 und 1930 geboren wurden, also ca. 10 Jahre jünger waren als die Oakland-Kinder.
1.2 Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa
1.2
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Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa
Auch in Europa finden sich bereits Anfänge der Biografie- und Lebenslaufforschung in den 1920er bis 1930er-Jahren, z. B. die berühmte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda et al. (1975). Auch die Arbeiten der Psychologin Charlotte Bühler werden häufig als Pionierleistungen gewertet, insbesondere die Schrift „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“ (Bühler 1933). Zu einer systematischen Entwicklung einer Lebenslauf- und Biografieforschung kommt es in der Geschichtswissenschaft und in der Soziologie erst Ende 1970 und ab den 1980er-Jahren. Hier spielen Einflüsse aus den USA eine Rolle, insbesondere die Idee der Oral History und die von Elder ausgehende „Life Course Research“, die programmatisch auch in Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland aufgegriffen werden.
Paul Thompson: Oral History Im Jahr 1978 erscheint in der ersten Auflage das Buch „The Voice of the Past“ des britischen Historikers Paul Thompson. Dieses Werk legt einen Grundstein für die Oral History als geschichtswissenschaftlichen Ansatz. Es handelt sich nicht um eine Studie im eigentlichen Sinn, in der eine bestimmte historische Epoche, ein geschichtlich bedeutsames Geschehen oder die Lebensweise in einer früheren Gesellschaft konkret untersucht wird. Sondern es geht um die Darlegung eines Forschungsprogramms unter dem Titel „Oral History“. Mittlerweile ist das Buch von Thompson in mehr als zehn Sprachen übersetzt und 2017 in der systematisch erweiterten vierten Auflage erschienen. Die von Thompson 1978 angestoßene Programmatik hat sich somit durchgesetzt. Die Inhalte der ersten Auflage zeigen bereits systematisch die Problematik, die Thompson vor Augen hat. Sein Anliegen ist es, von vorneherein nach der Bedeutung der Geschichte und Geschichtsschreibung für eine Gemeinschaft (oder Gesellschaft) zu fragen, die sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt. Er fragt grundsätzlich nach dem Verhältnis von „History and the Community“ (Thompson 1978, Kap. 1). Und dies beinhaltet immer auch die praktische Frage der Pflege des Geschichtswissens nicht nur durch Geschichtswissenschaftler, sondern durch die Gesellschaft und deren Menschen. Damit wird das Verhältnis von Geschichtswissenschaftlern und der mündlich von den Leuten überlieferten Geschichte neu verhandelt. Der Zeitzeuge, der mit seinen Geschichtchen Geschichte mündlich überliefert, wird gerne als der „natürliche Feind der Historie“ bezeichnet. Das
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onmot findet sich bei vielen Zeithistorikern (u. a. Hockerts, Kraushaar, ReleuB cke), eine präzise Quelle dafür ist nicht überliefert. Gegen dieses Vorurteil wendet sich Thompson, indem er die Leistungen und Errungenschaften der Oral History betont und die Zeitzeugen, insbesondere die Zeuginnen des vergangenen Alltags aus der Sicht verschiedener Bevölkerungsteile zu Konkurrenten der professionellen Geschichtsschreibung macht. Dies tut Thompson jedoch nicht ‚naiv‘ im Sinne von leichtgläubig. Die Erzählungen der Leute sind zwar die Datenbasis – die entscheidenden Quellen des Oral Historians –, aber dabei ist stets das Verhältnis zu beachten, das zwischen der Erinnerung und dem Selbst der Person besteht. Der Zeitzeuge erinnert sich immer von einem bestimmten Standort, aus einer bestimmten Erfahrung heraus. Das konnten wir schon oben bei dem Buch von Studs Terkel sehen. Die ‚Wahrheit‘ der Weltwirtschaftskrise von 1929 liegt stets im Auge des Betrachters. Sie hängt davon ab, welches Wissen sie oder er davon in Erinnerung behalten hat und wie dieses Wissen eingeordnet wird. Wissen generell, und besonders historisches Wissen, bestehen nicht einfach nur in einzelnen Informationen, die sich als Fakten zur Kenntnis nehmen lassen. Die ‚Fakten‘ werden stets vor dem Hintergrund bestimmter Maßstäbe beurteilt und bewertet. Schon die Frage, wie einzelne Ereignisse als Fakten aufeinander folgten, welches Faktum den entscheidenden Anfangspunkt und welches den Endpunkt eines zeitlichen Geschehens ausmacht, kann nicht ausschließlich an den Fakten selbst abgelesen werden. Sie unterliegen der Entscheidung desjenigen, der erzählt. Dies gilt auch für die „Geschichten“, die bedeutende Historiker erzählen, wie Hayden White (1973) in seiner Arbeit „Metahistory“ u. a. an Klassikern wie Tocqueville, von Ranke, Treitschke oder Burke zeigt. Thompsons Grundlegung enthält zudem methodische Reflexionen. Wie sind Interviews in der Oral History zu führen? Wie sind Geschichten aufzubereiten, aufzubewahren und zu sichten? Und zu guter Letzt: Wie wird über die Interpretation von Geschichten Geschichte geschrieben und ‚gemacht‘? „The Voice of the Past“ erörtert somit die grundlegenden Fragen der Oral History und rehabilitiert den Zeitzeugen als Quelle der Geschichtsschreibung.
Ruhrgebiets-Erzählungen über die Zeit von 1930 bis 1960 Ein beliebtes Thema der Oral History ist die Sozialgeschichte der modernen Industriearbeiterschaft und des ‚Arbeiterlebens‘. In dieses Forschungsthema lässt sich die Pionierstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933 genauso einordnen wie Edward
1.2 Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa
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P. Thompsons Werk „The Making of the Englisch Working Class“ von 1963 oder das „Arbeiterleben in Deutschland“ von Josef Mooser (1984). In dieser Tradition stehen auch die Arbeiten, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960“ zu Beginn der 1980er-Jahre entstanden sind und in drei Bänden publiziert wurden (Niethammer 1983a, b; Niethammer und von Plato 1985). Ursprünglich wurde das Projekt von Franz Brüggemann, Detlev Peukert und Lutz Niethammer ins Leben gerufen (vgl. Niethammer 1983a, S. 25), stellt dann aber ein Gemeinschaftswerk vieler Autorinnen und Autoren dar, zu denen u. a. Alexander v. Plato, Ulrich Herbert, Margot Schmidt, Michael Zimmermann, Bernd Parisius und Anne-Katrin Einfeldt gehören. Die drei Bände liefern weder eine systematische noch eine chronologische Geschichte des Ruhrgebiets. Auch thematisch ist der Ankerpunkt der Geschichten aus heutiger Sicht womöglich überraschend. Es sind die zwölf Jahre des Nationalsozialismus – von 1933 bis 1945 –, die den Rahmen für die „Sozialkultur“ des Ruhrgebiets von 1930 bis 1960 geben. Insofern lauten die Untertitel der drei Bände „Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet“ (Niethammer 1983a), „Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet“ (Niethammer 1983b) und „Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern“ (Niethammer und von Plato 1985). Es geht also zunächst darum, nachzuvollziehen wie die Menschen im Ruhrgebiet über die Zeit von 1930 bis 1960 sprechen. Im dritten Band geht es dann auch um den Vergleich in anderen deutschen Regionen (Franken, Berlin, usf.) oder anderen Ländern, die selbst einmal faschistisch regiert waren (Österreich, Italien) oder auch nicht (Schweiz). Aber in all diesen Fällen steht die Erfahrung des Faschismus und seiner Folgen im Mittelpunkt der Erzählungen der interviewten Zeitzeugen. Alle drei Bände besitzen auch einen eigenen Haupttitel, der jeweils O-Töne der Befragten wiedergibt: „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“ (Niethammer 1983a), „Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schiefgegangen ist“ (Niethammer 1983b) und „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“ (Niethammer und von Plato 1985). Dass die 30 Jahre Alltags- und Lebenserfahrung sowie „Sozialkultur“ in den Rahmen des 12-jährigen „Dritten Reichs“ gestellt werden, bedurfte auch aus Niethammers Sicht einer besonderen Begründung. Es nennt sie „drei einfache Überlegungen“ (Niethammer 1983a, S. 7). Die erste Überlegung ist die, dass die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (West) zur Demokratie nicht „isoliert“ „von der Kontinuitätsproblematik der deutschen Zeitgeschichte“ verstanden werden könne. Niethammer bezeichnet es als eine „von uns und nicht von Hitler ausgehende Kontinuitätsproblematik“ (ebd.). Ziel sei es daher zweitens, die „Kontinuität des Volkes zu erforschen“ und dabei sei „die historisch wichtigste und zeitlich vordringlichste (Aufgabe, MC) die Erforschung der Volkserfahrung“
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1 Zur Geschichte der Lebenslaufforschung
(ebd.). Die dritte Überlegung besteht darin, dass das Ruhrgebiet als eine für die Bundesrepublik „entscheidende Region“ angesehen werde, und daher das „politische Verhalten dieser Arbeiter- und Angestelltenregion“ besonders „erklärungsbedürftig“ sei (ebd.). Verständlich wird damit auch, weshalb es einen dritten Band mit vergleichenden Studien zu anderen Regionen gegeben hat. Die von Niethammer und anderen gesammelten Erzählungen stellen insofern nicht das Leben von Arbeiterinnen und Arbeitern oder von Angestellten für sich in den Mittelpunkt, sondern sie folgen – zumindest unausgesprochen – der These, dass die nationalsozialistische Herrschaft der rahmende Hintergrund der Alltagserfahrungen im Ruhrgebiet gewesen ist. Und dies bedeutet, dass der Nationalsozialismus schon vor 1933 eine Bedeutung hatte und bis weit in die 1950er- und 1960er-Jahre in den Köpfen der Leute geblieben ist. Insofern ging es bei Niethammers Team bei ihrem Zugang zur Oral History auch nicht um die Lebensgeschichten der Leute als solche, sondern um die Frage nach der Kontinuität eines Erfahrungshorizonts, der mit der Durchsetzung und den Folgen der politischen Herrschaft des Nationalsozialismus in Verbindung steht. Die verschiedenen Teilstudien, aus denen das Projekt dann am Ende bestand, rekonstruieren verschiedene Perspektiven auf die Zeit, die durch den Nationalsozialismus bestimmt wurde. Dazu gehört die Frage, ob die „Ruhrarbeiterschaft vor 1933 in politische Lager zerspalten“ war, der sich Alexander v. Plato (1983)1 widmet, die Erfahrungen bestimmter Gruppen der Arbeiterschaft – seien es die der jungen Bergleute (Zimmermann 1983a), der Bergarbeiterfrauen (Einfeldt 1983a) oder der weiblichen Büroangestellten in Industriekonzernen (Schmidt 1983a) genauso wie die „Kriegserinnerungen“ (Niethammer 1983c) oder die Erinnerungen an die „Fremdarbeiter“ (Herbert 1983) bis hin zur „Suche nach Nachbarschaften, die nicht zertrümmert wurden“ (Parisius 1983). Und den perspektivisch unterschiedlichen Erfahrungen gehen dann auch die Beiträge – meist der gleichen Autorinnen – für die Nachkriegszeit nach, wie Schmidt (1983b) für die Büroangestellten bei Thyssen nach dem Krieg, die häuslichen Erfahrungen der Bergarbeiterfrauen (Einfeldt 1983b), dem Weg „vom Kruppianer zum Arbeitnehmer“ (Herbert 1983b) oder Entstehung der Interessensvertretung der Bergarbeiter (Zimmermann 1983b). Entscheidend ist dabei, dass die Geschichte der Arbeiter und Angestellten im Ruhrgebiet aus Erzählungen der Gemeinsamkeit und Gespaltenheit besteht. Niethammer (1983a) veranschaulicht das am Unterschied der politischen Bedeutung der Sozialdemokratie innerhalb der Arbeiterschaft vor und nach dem Krieg. 1 Alle Beiträge, die mit 1983a gekennzeichnet sind, befinden sich in Niethammer 1983a, die mit 1983b gekennzeichneten Autorinnen und Autoren haben Beiträge zu Niethammer 1983b geliefert.
1.2 Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa
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ährend die Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit und insbesondere nach der W Weltwirtschaftskrise deutlich an Wählergunst verlor und hinter die Kommunisten und die Zentrumspartei (der katholischen Arbeiterschaft) fiel, entwickelte sie sich nach dem Krieg zur stärksten und die verschiedenen Gruppierungen integrierenden Kraft. Die besondere Leistung, die Niethammer und sein Team mit der Methode der Oral History vollbracht haben, bestand also darin, die offizielle Geschichtsschreibung des Neubeginns („Stunde Null“) der Bundesrepublik Deutschland in eine Kontinuität der Geschichten aus der Bevölkerung zu rücken, die sich auf den Hintergrund des Nationalsozialismus als zeitlichen Rahmen beziehen, jedoch aus je unterschiedlichen Perspektiven, die durch verschiedene politische Orientierungen in der Arbeiterschaft wie durch verschiedene gesellschaftliche Stellungen einzelner Gruppen der Arbeiterschaft bedingt waren. Ähnlich wie bei Studs Terkel Geschichten zur Weltwirtschaftskrise besteht die Stimme der Oral History auch bei den Studien aus dem Umfeld von Lutz Niethammer aus perspektivisch verschiedenen „Voices of the Past“.
Bertaux/Bertaux-Wiaume: Stories of the Baker’s Trade Betrachtet man nun die Forschungsrichtungen, die sich in der Soziologie des Lebenslaufs in Frankreich und Deutschland etwa ab 1980 formiert haben, zeigen sich darin erstens Unterschiede zur Verwendung von Lebensgeschichten in der Oral History und zweitens Anknüpfungen an die US-amerikanischen Forschungsstränge, die sich im Rahmen der Chicago School und der psychologischen wie soziologischen Lebenslaufforschung ergeben haben. Genauer gesagt können wir hier Differenzierungen zweier Forschungstraditionen beobachten: einer quantitativen Richtung, die mit Lebenslaufdaten operiert und einer qualitativen, die mit erzählten Geschichten operiert. Daraus erwächst dann auch die Unterscheidung zwischen Lebenslaufforschung und Biografieforschung. Die französische Tradition der Biografieforschung ist stark durch die Arbeiten von Daniel Bertaux und Isabell Bertaux-Wiaume beeinflusst worden. Deren Studien wurden zudem international aufgegriffen, wie z. B. die Aufnahme ihrer frühen Aufsätze in das Handbuch „Biographical Research Methods“ zeigt, das Robert L. Miller 2005 in vier Bänden herausgegeben hat. Bertaux und Bertaux-Wiaume (1981) greifen in ihrer Studie zum Bäckerei-Handwerk in Frankreich Zugänge der Oral History und der Biografieforschung auf und führen diese zu einem „ethnosoziologischen Ansatz“ zusammen. Dies ist kein Zufall. Denn Isabell Bertaux- Wiaume ist Historikerin und Daniel Bertaux ein ethnologisch geschulter Soziologe
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(in Frankreich sind ethnologische und soziologische Tradition sowieso eng miteinander verbunden). Was die Untersuchung von Bertaux und Bertaux-Wiaume jedoch grundlegend – sowohl von der Biografieforschung als auch von der Oral History – unterscheidet, ist das Interesse an der Rekonstruktion von kollektiv-biografischen ‚Schicksalen‘. Im Unterschied etwa zu den Studien von Studs Terkel oder Lutz Niethammer und anderen, die wir als beispielhaft für die Oral History kennengelernt hatten, oder den Lebenslaufrekonstruktionen aus der Chicago School, die biografische Einzelfallrekonstruktionen als pars pro toto für die subjektive Deutung eines bestimmten Karrieretyps (z. B. der „Jack-Roller-Karriere“) nehmen oder die sich für spezifische individuelle Verarbeitungsformen von Krisenerfahrungen interessieren (wie Elder oder Corbin/Strauss), stehen die „recits de vie“ – die Erzählungen des Lebens –, die Bertaux und Bertaux-Wiaume in einer bestimmten sozialen Gruppe (hier: der selbstständigen Bäcker) gesammelt haben, als Ausdruck für die Lebensweise eines sozialen Milieus (hier: der selbständigen Bäckereifamilie) in einer begrenzten Zeitphase (dem sich ökonomisch modernisierenden Frankreich der 70er-Jahre). Die Grundfrage, der sich die beiden Forscher widmen, ist die nach den grundlegenden Problemen der Lebens- und sozio-ökonomischen Existenzweise der selbstständigen Bäcker. Bertaux und Bertaux-Wiaume stellen dabei anhand der vielen gesammelten Erzählungen vor allem eine Welt der Widrigkeiten fest, die in hoher zeitlicher und körperlicher Belastung besteht, und sich in einer Welt abspielt, die verglichen mit der zeitgleich ablaufenden Modernisierung der Ökonomie (hin zu mehr Dienstleistungsgewerbe) als anachronistisch erscheint. Daran anschließend geht es ihnen um eine Erklärung dafür, weshalb sich junge Männer noch relativ am Anfang ihrer Berufslaufbahn dazu entscheiden, eine solch erwartbar schwierige Laufbahn auf sich zu nehmen. Die Analyse der Lebenserzählungen konzentriert sich somit auf zwei Fragen: Was wird in nahezu allen Lebenserzählungen gleichermaßen als biografische Station genannt? Und welche damit einhergehenden Erfahrungen werden mehrheitlich berichtet? Das, was Bertaux und Bertaux-Wiaume dabei herausarbeiten, sind die kulturellen und sozialräumlichen Wurzeln der Motivlage, die Personen zur Entscheidung für einen solchen Beruf befähigen. Es ist die besondere Tradition des Bäckereihandwerks, das insbesondere im ländlichen Raum verwurzelt ist. Hinzu tritt die Bedeutung des Kundenstamms für jede einzelne Bäckerei (rund 1000 Personen im Schnitt), die vor allem bei der Übergabe des Betriebs für dessen Wert eine wesentliche Rolle spielt. Und es sind die frühen Erfahrungen einer Arbeitsdisziplin, die von Beginn der Lehre an auf die Bäckereihandwerker eingewirkt haben (z. B. das frühe Aufstehen um zwei Uhr in
1.2 Die Renaissance der Lebenslaufforschung in Europa
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der Nacht). Bertaux und Bertaux-Wiaume rekonstruieren somit Verlaufsform und Motivlage des selbstständigen Bäckers als einen historisch spezifischen Sozialtypus und weniger die spezifischen Muster der subjektiven Bewältigung, die womöglich auch in diesem Milieu beobachtet werden könnten. Genau darin liegt der Unterschied zu den Forschungsansätzen, die sich ebenfalls ab 1980 in der deutschen Biografie- und Lebensforschung herauskristallisieren.
Biografie- und Lebenslaufforschung in Deutschland Auch in der deutschsprachigen Soziologie kommt es Ende der 1970er zu einer Wiederentdeckung der „Soziologie des Lebenslaufs“ (Kohli 1978). Dabei werden die Forschungsstränge, die wir oben aus der US-amerikanischen Soziologie dargestellt haben, in Verbindung mit frühen deutschen Ansätzen der 1920er – ins besondere mit dem Generationsaufsatz von Karl Mannheim (1928, vgl. hier Abschn. 2.4) – gebracht. Der von Martin Kohli herausgegebene Band „Soziologie des Lebenslaufs“ verbindet insofern mit Aufsätzen von Elder und Rockwell (1978), Glick (1978) oder Modell et al. (1978) erstens einschlägige Beiträge der US- amerikanischen Lebenslaufsoziologie mit neueren deutschsprachigen Beiträgen aus diesem Feld (z. B. Müller 1978; Friedrichs und Kamp 1978) und enthält zweitens mit Aufsätzen von Cicourel (1978) oder Wolfram Fischer (1978) Arbeiten, die an den jüngeren Zweig der Chicago School anknüpfen. Daran anschließend begründen sich wichtige Buchreihen, wie z. B. „Biografie und Gesellschaft“ (Reihenherausgeber: Werner Fuchs, Martin Kohli, Fritz Schütze) beim Verlag „Leske + Budrich“ (Opladen), „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel“ (Reihen herausgeber: Karl Ulrich Mayer) beim „Westdeutschen Verlag“ (Opladen) oder „Status Passages and the Life Course“ (Reihenherausgeber: Walter R. Heinz) beim „Juventa Verlag“ (Weinheim) sowie neue Zeitschriften, z. B. „BIOS. Zeitschrift für Biografieforschung und Oral History“ an der FernUniversität in Hagen.
Einschlägige Handbücher, Einführungen und Zeitschriften Handbücher und Einführungen Jost, Gerhard/Haas, Marita (Hg.) (2019): Handbuch zur Soziologischen Biografieforschung. Grundlagen für die methodische Praxis. Opladen Klein, Christian 2020: Handbuch Biografie. Stuttgart. 2. Auflage. Lutz, Helma/Schiebel, Martina/Tuider, Elisabeth (Hg.) (2018): Handbuch Biografieforschung. Wiesbaden Miller, Robert L. 2007: Biographical Research Methods. London. Volume I– IV. 2nd Edition. Sackmann, Reinhold 2013: Soziologie des Lebenslaufs. Weinheim.
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1 Zur Geschichte der Lebenslaufforschung
Zeitschriften Advances in Life Course Research. (Elsevier) BIOS. Zeitschrift für Biografieforschung und Oral History. (Opladen/Farmington HIlls) Oral History Forum. (Canadian Oral History Association Journal) Oral History Review. (Oral History Association, University of North Dakota)
Glossar In diesem ersten Abschnitt stand das Schnuppern an klassischen Studien im Mittelpunkt. Daher fällt das Glossar nur sehr schmal aus, da die meisten der hier verwendeten Begriffe später noch systematischer behandelt werden. Life Records (persönliche Dokumente) Aufzeichnungen, die von den Personen selbst gemacht werden, z. B. in deren Alltag (Briefe, Tagebücher) oder in besonderen Kontexten (Schreibwettbewerbe, auf Wunsch einer Behörde oder von Wissenschaftlern). Oral History Aufgezeichnete Erzählungen über eine geschichtliche Phase von Leuten, die diese Phase selbst erlebt haben und die ihre persönlichen Erfahrungen in das Geschriebene oder Erzählte einbringen. Kollektive biografische Schicksale (sozialer Figuren) Schon in der Chicago School ging es nicht allein und auch nicht primär um das individuelle Schicksal einer einzelnen Person. Das „Schicksal“ des Polish Peasant oder der „Hard Times“ bei Studs Terkel, die Geschichten aus dem „Baker’s Trade“, die Bertaux und Bertaux-Wiaume gesammelt haben, stehen für subjektive Erfahrungen, die viele Menschen in einer bestimmten sozialen Lage kollektiv relativ ähnlich gemacht haben. Wenn viele Menschen relativ ähnliche Erfahrungen machen und dazu gleichartige Muster der Bewältigung ausbilden, kann man auch von „Sozialfiguren“ (Stein 1980 ff.; Moebius and Schröer 2010) sprechen. Karriere In den Arbeiten von Howard Becker (und später von vielen anderen Soziologen) wird der Begriff Karriere nicht ausschließlich und nicht primär auf den Berufsweg oder eine Erfolgsbiografie (z. B. eines Künstlers) angewandt, sondern auch für typische Wege, die in bestimmte soziale Positionen oder Lebensstile führen, die auch abweichende Verhaltensweisen beinhalten können (wie Drogenkonsum oder spezielle Szenestile).
Aufgaben
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Aufgaben 1.) In der frühen Chicago-School wurde in den Studien zwischen der Darstellung der Analyse und der Dokumentation der persönlichen Aufzeichnungen (Briefe, Tagebücher, aufgeschriebene Biografien) strikt getrennt. Denken Sie über Vorund Nachteile eines solchen Vorgehens nach und schreiben Sie sich die aus ihrer Sicht wichtigen Pro- und Contra-Argumente dazu auf. 2.) In der Oral History spielen Geschichten, in denen Zeitzeugen über ihr persönliches Erleben geschichtlicher Prozesse erzählen, eine besondere Rolle. Auch dies hat Stärken und Schwächen, birgt Chancen und Risiken. Versuchen Sie auch hier wieder die wichtigsten Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, die Ihnen eingefallen sind, aufzuschreiben. 3.) Welche Potenziale haben Studien, die Gruppen von Individuen über einen längeren Zeitraum untersuchen – so wie etwa in „Children of Great Depression“? Welche Schwierigkeiten können in solchen Langzeituntersuchungen auftreten?
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Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Die Untersuchung des Lebenslaufs spielt in einer breiten Palette von Fachrichtungen eine Rolle: in der Psychologie, der Soziologie, der Erziehungswissenschaft sowie in der Historik und den Kultur- und Sprachwissenschaften. Dementsprechend existiert erstens eine Vielzahl von Begriffen für den Sachverhalt des Lebenslaufs, wie etwa die Termini Biografie, Lebenszyklus, Lebensspanne oder Lebenszeit. Zweitens finden sich ebenso viele Ausdrücke, die Aspekte des Lebenslaufs betreffen: wie Lebensphase(n), Lebensereignis, Lebensweise und auch Alter, Krisen, Brüche oder Übergänge. In den Abschnitten dieses zweiten Kapitels werden wir die wichtigsten Begriffe vorstellen und sie in den Zusammenhang von einzelnen Richtungen und Ansätzen der Lebenslaufforschung stellen. Wir beginnen dazu mit der Klärung einer grundlegenden perspektivischen Differenz, der zwischen Biografie und Lebenslauf (Abschn. 2.1). Danach beschäftigen wir uns damit, wie über die Kategorien Alter und Lebensphasen der Lebenslauf als Lebenszeit begriffen und unterteilt wird (Abschn. 2.2). In dem Zusammenhang wird auch das Konzept der Lebensspanne eingeführt. Im anschließenden Abschnitt interessiert uns die Bedeutung der Kategorie des Lebensereignisses und seiner Beziehung zu Begriffen wie Episoden oder „Lebenszuständen“ und wie sich daraus der Sachverhalt des Lebens(ver-)laufs herleiten lässt (Abschn. 2.3). Zur Abfolge von Lebensereignissen und Lebensphasen gehören jedoch ebenfalls Übergänge und Statuspassagen. Davon wird im Abschn. 2.4 die Rede sein. Daran anschließend beschäftigen wir uns mit Lebenserzählungen und Lebensbeschreibungen im weiteren Sinn, um die Forschungsperspektive der Biografieanalyse vorzustellen (Abschn. 2.5).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_2
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2.1
2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Begriffliche Klärungen: Lebenslauf und Biografie
Im Alltag werden die Begriffe Lebenslauf und Biografie meistens in gleicher Bedeutung verwendet. Wie wir oben bei der Darstellung klassischer und neuerer Studien schon gesehen haben, existieren in den Sozialwissenschaften mehrere Begriffe, die sich auch durchaus voneinander abgrenzen. In der Regel wird der Begriff Biografie eher in der qualitativen und interpretativen Forschung genutzt, während Lebenslauf eher in der quantitativen Forschung vorkommt. Aber darüber hinaus ist von Lebenserzählungen, Lebensgeschichten, Lebenszyklen, Lebensspannen oder Lebensverläufen die Rede. In diesem Abschnitt wird daher zunächst eine Begriffsbestimmung erläutert, die erstmals von den Trierer Soziologen Alois Hahn (1988) und Hartmann Leitner (1982) eingeführt wurde, und die zu einem bestimmten Teil auf Wilhelm Dilthey (1997, zuerst 1910) zurückverfolgt werden kann. Die Unterscheidungen von Alois Hahn sind deshalb von besonderem Wert, weil sie grundlegenden Charakter besitzen. Aus ihnen lassen sich weitere Definitionen ableiten, die in folgenden Abschnitten dieses Kapitels zum wesentlichen Repertoire der Lebenslaufforschung gezählt werden. Hahn definiert den Lebenslauf als die Menge aller Ereignisse im Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Es ist offensichtlich, dass sich daraus unmittelbar auch der Terminus der Lebenszeit (Abschn. 3.2) herleiten lässt. Die Biografie bestimmt er als die Kommunikationen, die den Lebenslauf zum Thema machen. Auch aus diesem Begriff können unmittelbar Termini wie Autobiografie, Lebenserzählung oder Lebensgeschichte hergeleitet werden. Sie sind Spezialfälle der biografischen Kommunikation, der Thematisierung des Lebenslaufs. Die von Alois Hahn vorgenommene Abgrenzung zwischen Lebenslauf und Biografie ist allerdings nicht ganz so trivial, wie sie vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Wenn unter Lebenslauf die Menge aller Ereignisse zwischen Geburt und Tod eines Menschen gefasst werden soll, ist damit der Umfang noch nicht präzise beschrieben. Vieles hängt davon ab, was hier unter Ereignis verstanden werden soll. Schon bei Wilhelm Dilthey finden wir dazu eine subjektive und eine objektive Auslegung. Als subjektiv lässt sich der Ereignisbegriff in Abhängigkeit zum individuellen Bewusstsein des lebenden einzelnen Menschen auffassen. Es geht um das jeweilige Erleben eines Lebensmoments durch eine Person, dem individualpsychisch erfassten Zusammenhang zwischen einem Individuum und seiner Umwelt (Dilthey 1997, S. 242 ff.). Objektiv kann der Lebenslauf auch als eine Reihe von Lebensäußerungen, Dilthey spricht hier auch von „Objektivationen“ des Erlebten, aufgefasst werden: „Der Lebenslauf einer historischen ‚Persönlichkeit‘
2.1 Begriffliche Klärungen: Lebenslauf und Biografie
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ist ein Wirkungszusammenhang, in welchem das Individuum Einwirkungen aus der geschichtlichen Welt empfängt, unter ihnen sich bildet und nun wieder auf diese geschichtliche Welt zurückwirkt“ (Dilthey 1997, S. 306). Die Lebensäußerungen fasst Dilthey als objektiviert, da sie für außenstehende Beobachter als Ausdrücke eines individuellen Erlebens sichtbar geworden sind. Wenn wir also mit der neueren Lebenslaufsoziologie von der Menge von Ereignissen sprechen, dann fassen wir darunter die objektivierten, für außenstehende Beobachter erkennbaren Ereignisse im Leben einer Person. Diese Menge der nach außen sichtbar gewordenen Lebensereignisse dürfte einerseits kleiner sein als die Menge all der Erlebnismomente, die das Bewusstsein einer individuellen Person von der Geburt bis zum Tod erfahren hat. Andererseits enthält sie womöglich auch Ereignisse (wie z. B. das der Geburt selbst oder die Feier des ersten Geburtstags), an die sich das Bewusstsein der individuellen Person selbst gar nicht mehr erinnert, die aber bspw. durch Fotografien objektivierter Lebensäußerungen (wie z. B. erste Gehversuche der Person) dokumentiert werden können. Wir halten an dieser Stelle daher im Anschluss an Dilthey, Hahn und Leitner als ein weites Verständnis von Lebenslauf fest: Beim Lebenslauf soll es sich um die Menge aller dokumentierten Lebensereignisse einer individuellen Person von deren Geburt bis zum Tod handeln. In den weiteren Abschnitten dieses Lehrbuchs wird sich zeigen, dass wir den Begriff Lebenslauf zu bestimmten Erkenntniszwecken noch präziser eingrenzen müssen. Auch beim zweiten Begriff Biografie gibt es Nachfragen. Wenn wir den Begriff des Lebensereignisses auf die Momente reduzieren, die geäußert und dokumentiert wurden, lassen sich diese dann überhaupt noch trennscharf von den Kommunikationen abgrenzen, die einen individuellen Lebenslauf thematisieren? Um an dem Unterschied zwischen Biografie und Lebenslauf festzuhalten, beziehen wir uns hier auf eine zeitliche Differenz. Bei der Charakterisierung des Lebenslaufs geht es um eine Dokumentation von Lebensereignissen (und Reihung) als Zeitpunkte und deren zeitliche Aufeinanderfolge (Chronik). Die biografische Kommunikation ist dagegen zeitlich nicht festgelegt. Es kann sich um einen langen Roman oder umfangreiche Memoiren genauso gut handeln, wie um einen biografischen Steckbrief in einer Enzyklopädie oder eine kurze Lebenslaufschilderung in einem Bewerbungsgespräch. Denkbar wären ebenfalls die biografischen Kommunikationen innerhalb einer über mehrere Jahre andauernden psychoanalytischen Therapie. Auch wenn das aus dem Griechischen stammende Wort schlicht übersetzt „Lebensbeschreibung“ bedeutet, so fassen wir hier Biografie weiter als jede mündliche wie schriftliche Thematisierung eines individuellen Lebenslaufs. Sie enthält dabei sowohl Autobiografien als Selbstbeschreibungen sowie Biografien als Fremdbeschreibungen anderer Personen.
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Nach Hahn kann dabei biografische Kommunikation auf drei Ebenen auf das Selbst der Person rekurrieren. Erstens durch die Interpretation von Lebensäußerungen der Person als „implizite Selbstaussage“. „Identität“, so Hahn (1988, S. 92), ergäbe sich hierbei „als Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Individuum prägen und charakterisieren. [...] Es geht dann um ein ‚implizites‘ Selbst, das sich durch sein Handeln zeigt, festigt und verwirklicht.“ (ebd.) Das Individuum bleibt sich in der Art seines Tuns gleich. Identität meint hier so etwas wie Persönlichkeitsstruktur, die eingeschränkte Menge von Weisen, in der eine Person wahrnimmt, beurteilt, wertet und handelt. „Man könnte vom Ich als einem Habitusensemble sprechen“ (Hahn 1988, S. 92). Bei der impliziten Selbstaussage geht es um eine unwillkürliche Artikulationsweise der Person. Hier vermag die Kommunikation in Form von Fremdzuschreibungen etwas an der Person zu entdecken, was für das Selbst womöglich sogar unergründlich bleibt. Davon unterscheidet Hahn Formen der expliziten Selbstartikulation, also Aussagen, mit denen sich eine Person selbst ausdrücklich auf sich selbst bezieht, etwa: „Höflich wie ich bin, habe ich Müller nicht offen widersprochen, sondern zu bedenken gegeben, dass …“ Oder: „Ick fühl mir prima, denn ick bin Berlina.“ Derartige explizite Selbstaussagen charakterisiert Hahn als rudimentäre Identitätsfestlegungen. Der Handelnde „verweist absichtlich auf situationsübergreifende Selbstbezüge. Er macht ein Ich geltend.“ (Hahn 1988, S. 93). Jedoch handelt es sich bei den impliziten und expliziten Selbstaussagen noch nicht um biografische Artikulationen. Diese setzt eine „Verzeitlichung der Selbstdarstellung“ voraus (Hahn 1988, S. 98). Genauer geht es darum, dass die Person in einer Weise auf sich Bezug nimmt, die feststellt, dass sie nicht mehr die ist, die sie einmal war: „Die Selbstdarstellung zeigt das Ich als Jemand, der auch anders sein könnte, dadurch dass sie zu erkennen gibt, dass das Ich ein anderer zumindest schon gewesen ist.“ (Leitner 1982, S. 17). Allerdings bleibt mit diesen Unterscheidungen nicht nur das Ausgangsproblem, dass Biografien stets nur „selektive Vergegenwärtigungen“ des als Gesamtheit vorgestellten Lebenslaufs sein können, ungelöst, sondern es wird der biografischen Kommunikation noch ein weiteres Problem hinzugefügt. Selbstaussagen sind keine Beschreibungen. Selbstaussagen bewegen sich im Bereich der mündlichen Kommunikation, womöglich genügen sogar non-verbale Körpergesten als Grundlage der Artikulation, etwa im Fall der impliziten Selbstaussage. Wenn jedoch der Begriff der Beschreibung in Biografie (als Lebensbeschreibung) ernst genommen werden soll, dann ist auf die Besonderheit der Schriftlichkeit (Textualität) der Selbstbezugnahme einzugehen. Schriftlichkeit ermöglicht die Fixierung von Artikulationen. Insofern handelte es sich bei Lebenserzählungen oder
2.2 Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n)
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Beichten noch nicht um Biografie im spezifischen Sinn. Das Tagebuch oder der handgeschriebene Lebenslauf kämen in dieser Hinsicht der Biografie näher. Biographische Selbstaussagen wären damit nicht nur Reflexion der Veränderlichkeit der Person im Leben, sondern auch schriftlich verfestigte Artikulationen des Selbst.
2.2
Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n)
Da der Begriff des Lebenslaufs bereits durch den Anfangspunkt der Geburt und den Endpunkt des Todes die Vorstellung von der Lebenszeit bzw. der Lebensdauer enthält, ist die Bedeutung der Lebenslaufforschung für eine Soziologie der Lebenszeit, des Alters und des Alterns offensichtlich. Die Begriffe der Lebensspanne (Baltes 1987) und des Lebenszyklus (Erikson 1966; Friedrichs und Kamp 1978) stammen ebenfalls aus diesem Forschungszweig. Wir können uns den Begriffen zunächst einmal intuitiv nähern. Mit der Vorstellung eines Zeitraums von der Geburt bis zum Tod sind nicht nur eine bestimmte Dauer, der Zeitraum oder die Spanne des Lebens gemeint, sondern auch der zyklische Prozess eines ‚Auf und Ab‘ sowie das Vergehen der Zeit, also das Altern impliziert. Der Aspekt der Lebenszeit verweist somit vor allem auf die zeitlich bedingten Veränderungen im Leben einer Person. Um eine Person, ihre Lebenssituation, ihre Einstellungen und Handlungen zu erforschen und zu verstehen, bedarf es des Blicks auf die Entwicklung in der gesamten Lebenspanne, dem „life-span-development“ (Baltes 1987). Beide Konzepte – Lebenszyklus und Lebensspanne – stammen aus der Psychologie. Beginnen wir mit der Erläuterung des älteren Konzepts, des Lebenszyklus. Hier hat sich im Laufe der Zeit eine technische Definition durchgesetzt, die „Lebenszyklus“ als „kontinuierliche Folge von durch Ereignisse abgegrenzten Phasen von der Geburt bis zum Tod eines Individuums“ (Friedrichs und Kamp 1978, S. 176) bestimmt. Über den Blick auf die ganze Lebenszeit hinausgehend wird hier der Begriff der „Lebensphasen“ eingeführt. Damit gelangen wir auch zu dem bereits oben behandelten Problem der genaueren Abgrenzung des Lebensereignisses zurück. In der Definition von Friedrich und Kamp werden Ereignisse als Marker behandelt, denen ein Status als Anfangs- und/oder Endpunkt von Lebensphasen zugeschrieben wird. Geht man von unserem heutigen Alltagsverständnis aus, dann könnte mit Lebensphasen so etwas wie Kindheit, Erwachsenenzeit oder Alter gemeint sein, womöglich aber auch Schulzeit, Erwerbszeit, Elternzeit oder Ruhestand. O ffensichtlich sind in den genannten Beispielen Lebensphasen durch das Innehaben eines lebenssituationsübergreifenden Status (Kind sein, erwachsen sein, alt sein, zur Schule
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
gehen, Arbeit haben, in Rente sein) zu verstehen. Die Einteilung der Lebensphasen Kindheit, Erwachsensein, Alter orientiert sich an biologischen Alterslagen und deren Veränderung. Die Untergliederung in Schulzeit, Erwerbszeit, Ruhestand – oder in Vorerwerbs-, Erwerbs- und Nacherwerbsphase – orientiert sich an sozioökonomischen Stellungen der Person. Da Lebensphasen aufgrund verschiedenartiger Zustände und Stellungen definiert werden können, ergeben sich mehrere Probleme der trennscharfen Abgrenzung. Zunächst verlangt die in der Definition geforderte Abfolge von Phasen, dass sich diese zeitlich nacheinander lokalisieren lassen. Für Kindheit, Erwachsenenphase und Alter müssen Alterseinteilungen (von – bis) gegeben werden können. Doch wo hört Kindheit auf, wo beginnt Erwachsensein? Wäre es ausreichend hier jeweils das rechtlich relevante Alter (in Deutschland heute ab 18) zu wählen? Was, wenn junge Erwachsene aber noch bis Ende 20 im Elternhaus wohnen, mit über 18 noch zur Schule gehen oder studieren? Gelten sie dann schon als ‚richtig‘ erwachsen? Ähnliche Fragen lassen sich zum Übergang in den Ruhestand stellen. Manche gehen vielleicht schon vor dem Erreichen des 60. Lebensjahrs in Rente, andere erst nach 65. Und ist man mit 70 bspw. wirklich schon alt, wenn viele Menschen heute das 90. Lebensjahr erreichen? Zudem ergibt sich das Problem paralleler Zustände oder Stellungen, die Menschen in einem bestimmten Alter einnehmen können. Nehmen wir beispielsweise den 30-jährigen Studenten, der seit zwei Jahren in einer festen Partnerschaft befindet, aber noch im Haushalt der Eltern wohnt. Hieran zeigt sich, dass Menschen gleichzeitig Zustände bzw. Stellungen im biologischen Alter (Alter in Lebensjahren), im familiären Zusammenhang (Kind der Eltern sein), in einer Lebenspartnerschaft oder in der Wohngeschichte (im Elternhaus, in der eigenen Wohnung, bei Kindern oder im Seniorenheim wohnen) sowie im Bildungs- und Erwerbsleben einnehmen. Welche dieser Zustandsräume soll aber die für Lebensphasen relevante Bezugseinheit sein? Eine davon oder mehrere in Kombination? (s. dazu auch Abschn. 6.3) An der skizzierten Problemlage zeigt sich, dass wir zur Definition des Begriffs ein weiterreichendes theoretisches Gerüst benötigen, in unserem Fall: eine Idee davon, welcher Gegenstandsbereich mit dem Wort Lebenszyklus erfasst werden soll. Dabei können – und zwar für alle Definitionen – grob zwei Strategien der Begriffsbildung unterschieden werden: (a) eine stärker an einer inhaltlich gedachten Gesamttheorie orientierte Begriffsbestimmung und (b) eine stärker verfahrenstechnische Bildung von Begriffen, die in der Wissenschaft oft „Termini“ genannt werden. Für die erste Variante finden wir mit Erik Homburger Eriksons (1958) Theorie des „Lebenszyklus“ eine inhaltlich weit ausgearbeitete Gesamttheorie, aus der sich
2.2 Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n)
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eine Definition herleiten lässt. Eine solche Theorie besteht in der Regel wiederum aus zwei tragenden Säulen, einer Kernidee des Ansatzes und einer Architektur (einer Bauweise) des Gesamtsystems, mit dem der Gegenstandsbereich umfassend erschlossen werden soll. Die Kernidee bei Erikson besteht darin, dass jede Lebensphase (Phase des Lebenszyklus) von einer bestimmenden Herausforderung (Muster von Bewältigungsaufgaben) geprägt ist. Damit erweitert Erikson die psychoanalytische Theorie der Entwicklung von Sigmund Freud, und zwar auf die gesamte Lebenszeit, wie Erikson (1992) später sagen wird: auf den „vollständigen Lebenszyklus“. Er differenziert aber auch die Problemebenen, auf denen die Bewältigungsaufgaben sichtbar werden. Dementsprechend postuliert Erikson acht Lebensphasen und acht Bezugsebenen (s. Tab. 2.1): Er unterscheidet mit Säuglingsalter, Kleinkindalter, Spielalter und Schulalter vier Phasen der Kindheit und führt die Adoleszenz als jugendliche Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ein. Bei den Erwachsenen unterteilt er zwischen frühem Erwachsenenalter und Erwachsenenalter. Ans Lebensende setzt er als achte Phase das Alter. Bei den Bereichen der einzelnen Lebensphasen differenziert er ausgehend von Freud die psychosexuelle Ebene (A), die psychosoziale Ebene (B) und den Radius wichtiger Beziehungen (C); er bestimmt für den Ausdruck der Persönlichkeit sogenannte Grundstärken (D), phasenspezifische Antipathien (E) und er kennzeichnet mit den verwandten Prinzipien der Sozialordnung (F), den bindenden Ritualisierungen (G) und Formen des Ritualismus (H) zu den Lebensphasen analoge Muster der Sozialität und der gesellschaftlichen Praktiken. Dieses Vorgehen zwingt Erikson zur Formulierung komplexer Annahmen für die einzelnen Lebensphasen und deren Abfolge im Lebenszyklus. Die Kernidee in Eriksons Modell besteht im Postulat der psychosozialen Krisen und deren Parallelisierung mit weiteren Ebenen der Persönlichkeit. Die psychosozialen Krisen werden dabei durch spezifische Konfliktlinien bezeichnet. Für die Phase der Adoleszenz, an der wir Eriksons Ansatz genauer betrachten werden, ist dies die Spannung zwischen Identitätsfestlegung und Identitätskonfusion (Erikson 1966, S. 106 ff., 1992, S. 94 ff.). Unter „Identität“ versteht Erikson ein „Selbstgefühl“ der Person, das „die in der Kindheit gesammelten Ich-Werte in die Ich-Identität“ (Erikson 1966, S. 107, kursiv im Original, MC) integriert. Dieses Selbstgefühl beeinflusse das Selbstvertrauen der Person, die sich innerhalb einer „erreichbaren Zukunft“ zuzuschreiben vermag, „sich zu einer bestimmten Persönlichkeit innerhalb einer nunmehr verstandenen sozialen Wirklichkeit entwickelt“ (Erikson 1966, S. 107) zu haben. Identität entsteht demzufolge dadurch, dass die Person gelernt hat, sich konsistent auf Werte zu beziehen, die sie in ihrem sozialen Umfeld erfahren hat und im Einklang damit zu handeln vermag.
Idolismus
Das Numinose
Kosmische Ordnung
Rückzug
Hoffnung
Mütterliche Person
Grundvertrauen vs. GrundMisstrauen
Einverleibungsmodi
kinästhetisch
sensorisch,
respiratorisch,
Oral-
Säuglings-alter
I
III Spielalter
Infantil-genital, lokomotorisch, (Modi des Eindringens und Umschließens)
Initiative vs. Schuldgefühl
Kernfamilie
Entschlusskraft
Hemmung
Ideale Leitbilder
Das Dramatische
Moralismus
II Kleinkind
anal-urethral,
muskulär (Modi
der Zurückhaltung
und des
Ausscheidens
Autonomie vs. Scham, Zweifel
Eltern
Wille
Zwang
Gesetz und Ordnung
Einsicht
Legalismus
Zeitströmungen in Erziehung und Tradition
Das Schöpferische Autoritarismus
Liebe
Exklusivität
Grundmuster von Zusammenarbeit und Rivalität Das Zusammenschlie ßende Elitismus
Treue
Zurückweisung
Ideologische Weltsicht
Das Ideologische
Totalismus
Kompetenz
Trägheit
Technologische Ordnung
Das Formale (der Technik) Formalismus
Abweisung
Fürsorge
Arbeitsteilung und gemeinsamer Haushalt
Partner in Freundschaft, Sexualität, Wettbewerb
Gleichaltrige und fremde Gruppen
Nachbarschaft, Schule
Generativität vs. Stagnation
Prokreativität
Intimität vs. Isolierung
Genitaltität
VII Erwachsenena lter
Identität vs. Identitätskonfus ion
Pubertät
Latenz
VI Frühes Erwachsenena lter
Regsamkeit vs. Minderwertigkeit
V Adoleszenz
IV Schulalter
Tab. 2.1 „Der vollständige Lebenslauf“ (nach Erikson, Quelle: Erikson (1992, S. 36, 37)) Phase
D Grund-stärken E grundlegende Antipathien
Weisheit
Hochmut
Dogmatismus
Das Philosophische
H Ritualismus
G Bindende Ritualisierungen
F Verwandte Prinzipien der Sozialordnung
C Radius wichtiger Beziehungen Menschheit, Menschen meiner Art
Weisheit
B Psycho-soziale Krisen
Integrität vs. Verzweiflung
Genralisierung A Psychoder Körpermodi sexuelle Phasen
VIII Alter
36 2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
2.2 Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n)
37
Folglich ist die Konfliktlinie einer bestimmten Lebensphase von der Bewältigung der Konfliktlinien früherer Lebensphasen beeinflusst und ebenso (voraussehend) auf die Konfliktlinien späterer Lebensphasen ausgerichtet. Die Ausprägung des Verhaltens in anderen Kontexten ist auf den jeweiligen Grundkonflikt bezogen. So sei bei der psychosexuellen Entwicklung die Pubertät durch eine Spannung bei der Identifizierung von sexuellen Partnern geprägt, die Erikson auch als Austarieren zwischen sexueller Identität und Bi-Sexualität bestimmt (Erikson 1966, S. 147 ff.). Das „Hinauslehnen des Jugendlichen über Abgründe“ sei – so Erikson (1966, S. 145 f.) „aber normalerweise ein Experimentieren mit Erfahrungen, die auf diese Weise besser der Ichkontrolle unterstellt werden können“. Die experimentelle Auseinandersetzung mit Identitätsmöglichkeiten sei für die Adoleszenz phasen-spezifisch, „das Identitätsproblem muss an dieser Stelle seine Integration als relativ konfliktfreier psychosozialer Kompromiss finden“ (Erikson 1966, S. 149). Demgemäß ist die Gruppe der Gleichaltrigen, die ‚Peers‘, eine wichtige soziale Bezugseinheit, die sich zudem von anderen Gruppen, insbesondere der Erwachsenen, abgrenzt. Als Grundstärke wird eine bestimmte Art der Treue, das Zu-Sich- Selbst-Stehen, angesehen; größere soziale Bezugsräume werden ideologisch, d. h. durch politische und/oder religiöse Weltanschauungen aufgeladen. Die Gruppe neige dabei zu totalisierenden, d. h. alles und ganz vereinnahmenden Ritualisierungen. Der Experimentalismus der Adoleszenz zeichne sich darüber hinaus durch eine Zurückweisung (Antipathie) bloß konventioneller Rollenerwartungen aus. Die für die Identitätsbildung relevanten Werte sollen nicht einfach nur gesellschaftlich erzwungenen Erwartungen geschuldet sein. Eriksons psychoanalytische Theorie des Zusammenhangs von Identität und Lebenszyklus ist in verschiedenen Hinsichten kritisiert worden. Es geht hier jedoch nicht darum, sie als solche zu diskutieren, sondern nur als Beispiel für eine bestimmte Art der theoretisch hergeleiteten Auffassung vom Lebenslauf vorzustellen, um daran deren besondere Beweislast zu illustrieren. Hierbei geht es primär um die Frage, wie Eriksons Theorie die Lebensphasen bestimmt, aus deren Abfolge heraus sich der Lebenszyklus, also der Lebenslauf als Ganzer ergibt. Dabei rückt Erikson die psychosozialen Krisen als Konfliktlinien zwischen phasenspezifischen psychosexuellen Impulsen (Begehren) und sozialen Normen (Realitätsforderungen) ins Zentrum. Aus soziologischer Sicht dürfte daran vor allem strittig sein, dass Eriksons Ansatz zur Postulierung lebensphasenspezifischer gesellschaftlicher Normierungen gezwungen ist, die eine Reihe von Normkomplexen integrieren müssen, und zwar auf den jeweiligen Stand der geschichtlichen Entwicklung einer Gesellschaft bezogen. Daraus ergeben sich zwei Probleme, die eine forschungspraktisch zuverlässige Handhabung des Lebenszyklus-Konzepts deutlich erschweren. Erstens ist die empirische Identifikation von lebensphasenspezifischen
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
ormierungen deshalb sehr kompliziert, weil viele und verschiedenartige geN sell-schaftliche Erwartungen wie Sexualnormen, Familiennormen, Erziehungsnormen, Arbeitsnormen, als ein zusammenhängendes Bündel für jede Lebensphase erfasst werden müssten. Aber all diese Normierungen befinden sich zweitens selbst im Fluss bzw. sind meistens strittiger Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen und Auseinandersetzungen. Insofern treten gesellschaftliche Normierungen womöglich gar nicht den Individuen als verbindliche Erwartungen gegenüber, für die ein Kompromiss zu finden wäre. Dann aber könnten die von Erikson postulierten lebensphasenspezifischen Konfliktlinien nicht mehr trennscharf abgegrenzt werden. Ein Ausweg könnte vielleicht darin bestehen, die Bearbeitung der lebensphasenspezifischen Konflikte als altersspezifische gesellschaftliche Erwartungslage zu konzipieren. Dies hätte dann aber eine altersnormierte Theorie des Lebenslaufs zur Folge, die ebenfalls umstritten wäre. Um sich bei der Definition von Grundbegriffen gegenüber solchen komplexen theoretischen Auseinandersetzungen erst einmal zu enthalten, sind die Vorschläge der weiter oben schon genannten stärker methodisch-formalen Bestimmungen des Lebenszyklus entwickelt worden. Sehen wir uns dazu das Lebenszyklus-Konzept von Friedrichs und Kamp nochmals genauer an. Wir hatten bereits angedeutet, dass der Lebenszyklus hier nicht allgemein als Folge von Phasen begriffen werden soll, sondern die Phasen selbst wiederum durch spezifische Ereignisse abgegrenzt werden müssen. Dazu sollen jedoch nur bestimmte Ereignisse untersucht werden, für die Folgendes gilt: 1. „Die Ereignisse sollen sozial bedeutsam sein. 2. Die Wahl eines Ereignisses muss durch mindestens eine Hypothese begründet sein. 3. Die Ereignisse sollen bei allen Mitgliedern einer Gesellschaft auftreten können, z. B. bei Frauen als auch bei Männern. 4. Die Ereignisse sollen bei einer möglichst großen Zahl von Mitgliedern einer Gesellschaft auftreten. 5. Die zeitliche Streuung des Auftretens sollte niedrig sein. 6. Das Auftreten des Ereignisses soll möglichst viele Veränderungen im Verhalten und den Einstellungen der Individuen bewirken. 7. Diese Veränderungen sollen dauerhaft sein, z. B. nicht nur eine Woche oder einen Monat bestehen. 8. Die Ereignisse sollen einmalig auftreten, weil sonst die Abgrenzungen und damit die Phasen inkonsistent werden.“ (Friedrichs und Kamp 1978, S. 176 f.).
Nun ließe sich bei acht Kriterien zunächst auch wieder beanstanden, dass es sich doch offensichtlich ebenfalls um eine recht komplexe Definition handelt. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die Kriterien jedoch nicht als Definitions-
2.2 Lebenszeit, Lebensphasen und Alter(n)
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merkmale im inhaltlichen Sinn, sondern eher als formal-methodische Vorkehrungen. So sind die mit den Sätzen eins und zwei formulierten Kriterien inhaltlich bewusst offengehalten. Sie sagen nicht aus, was genau Ereignisse sozial bedeutsam machen könnte oder was eine Hypothese inhaltlich sagen muss. Und die Kriterien drei bis acht legen bloß quantitative, auf die Anzahl von Personen bezogene oder zeitliche Gesichtspunkte (wie Streuung des Auftretens, Dauerhaftigkeit einer Veränderung, Einmaligkeit des Ereignisses) fest. Die formal-methodische Definition des Lebenszyklus weitet somit die inhaltlichen Möglichkeiten der theoretischen Beschreibung aus, während Eriksons Definition die Vorstellung von Lebenszyklus, Lebensphase und Identität (der Person) inhaltlich stark festlegen muss. Das Scheiternsrisiko eines an Erikson anknüpfenden Verständnisses von Lebenszyklus und Lebensphasen ist daher deutlich höher. Allerdings gerät das von Friedrichs und Kamp vorgestellte Konzept in die Schwierigkeit, dass es sich nicht mehr trennscharf vom Lebenslauf-Konzept (s. Abschn. 3.3) abgrenzen lässt. Bevor wir uns mit dem Lebenslaufansatz, auch Lebensverlaufskonzept genannt (aus dem englischen Life Course), beschäftigen, wenden wir uns vorher noch einmal dem Begriff der Lebensspanne zu, den vor allem Margret M. Baltes und Paul B. Baltes zu einem eigenen Forschungsansatz entwickelt und ausgebaut haben (vgl. Baltes et al. 2006). In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine kognitionspsychologische Reaktion auf das psychoanalytische Konzept des Lebenszyklus, jedoch auch auf das struktur-kognitive Stufenmodell der Entwicklung, das vor allem aus der Piaget-Forschung stammt (vgl. hier Abschn. 5.4). Der Ansatz der Lebensspanne ist theoretisch einerseits ähnlich dem Lebenszyklus-Konzept von Friedrichs und Kamp eher methodisch-formal angelegt, andererseits darüber hinaus von einem besonderen Leitgedanken getragen. Der in der Altersforschung gewonnene Ansatz geht von der leitenden Idee aus, dass Entwicklung in jedem Lebensalter, also auch im hohen Alter noch möglich ist. Es ist ein Konzept der lebenslangen Entwicklung. Damit steht es ebenfalls in einer Konkurrenz zu Eriksons Lebenszyklusmodell, das ebenfalls angetreten war, die psychoanalytische Theorie der Entwicklung auf den gesamten Lebenslauf auszudehnen. Das bedeutet, dass beiden Ansätzen offensichtlich ein unterschiedliches Verständnis von Entwicklung zugrunde liegen muss. In seinem programmatischen Aufsatz „Theoretical Propositions of Life-Span- Developmental Psychology“ bezeichnet Baltes (1987, S. 612) die Psychologie der Lebenspanne als einen Ansatz, der aus Familien von Perspektiven bestehe. Er fasst sie in Form von sieben Leitsätzen zusammen, die einen Forschungsrahmen ergeben sollen:
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
1. Life-Span-Development 2. Multidirectionality 3. Development gain/loss 4. Plasticity 5. Historical Embeddedness 6. Contextualism
~ ~ ~ ~ ~ ~
7. Multi-Disziplinarität
~
Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Entwicklung verläuft in mehreren Bahnen. Jede Entwicklungsphase hat Gewinne und Verluste. Jede Entwicklungsphase ist offen und beschränkt. Entwicklung ist sozial-historisch eingebettet. Drei Umwelten beeinflussen Entwicklung: Altersnormen, historische Normen und nicht-normative Systeme. Entwicklung ist Gegenstand mehrerer Disziplinen. (vgl. Baltes 1987, S. 613)
Ähnlich wie bei Friedrichs und Kamp enthält sich Baltes hinsichtlich theoretisch-inhaltlicher Festlegungen. Begriffe wie Lebensspanne, Entwicklung, Phasen oder Kontext sind allgemein definiert. Lebensspanne ist die Lebenszeit zwischen Geburt und Tod, Entwicklung der Wechsel zwischen Gewinnen und Verlusten innerhalb der Lebenszeit bzw. zwischen den Lebens- bzw. Entwicklungsphasen, die nicht eindimensional auf ein Ziel gerichtet sind, sondern immer wieder auf neue Zielsetzungen vielfältig ausgerichtet werden können und sich darüber Plastizität, Formbarkeit und Modifizierbarkeit erhalten, trotz kontextueller Beschränkungen, die sich aus sozialen Normen des historischen Hintergrunds oder aus non-normativen Bedingungen (wie die biophysische und technische Umwelt) ergeben können. Inhaltlich konkrete Aussagen über den Entwicklungsprozess in der Lebensspanne werden dann durch empirische Forschungen im Rahmen dieser Leitper spektiven gewonnen. Auch diese bleiben in der Regel recht allgemein, wie z. B. die von Baltes entwickelte SOC-Hypothese der Prozessstruktur des Alterns gemäß der Operationen „Selection, Optimization, and Compensation“ (Baltes und Baltes 1990). So wäre es naheliegend, dass sich in der Jugendphase und im frühen Erwachsenenalter vor allem Probleme des Auswählens (selection) stellen, während im Erwachsenenalter gewählte Entwicklungspfade optimiert werden und im Alter dann Regulationsmuster der Kompensation (compensation) zunehmen. Forschungen aus der Psychologie der Lebensspanne zeigen jedoch, dass die theoretisch ebenfalls plausible Annahme der Bedeutung aller drei Regulationsmodi in allen Altersphasen bestehen bleibt. Das heißt unter anderem, dass auch Personen noch im hohen Alter vor dem Problem stehen, Lebensinhalte und Zielstellungen auszuwählen, nicht zuletzt auch um den im Alter erwartbaren Verlusten e ntgegenzuwirken. Und auch in jungen Jahren macht es Sinn, die Zielauswahl so zu gestalten, dass Stärken optimiert und Schwächen kompensiert werden (vgl. dazu Freund 2006).
2.3 Lebensereignisse, Episoden und Lebensverlaufsmuster
2.3
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Lebensereignisse, Episoden und Lebensverlaufsmuster
Die Begriffe der Lebensphase und der Lebensspanne basieren – ohne es immer explizit zu verdeutlichen – auf der Identifikation von Lebensereignissen. Was ein Ereignis dabei sein soll, ist durchaus schwierig zu bestimmen. Ein Ereignis, so hat es Niklas Luhmann einmal ausgedrückt, verschwindet mit seinem Eintritt sogleich wieder. In seiner Momenthaftigkeit scheint es kaum greifbar. Auch ist nicht ganz klar, ob ein Ereignis im Leben einer Person immer auch für die Person, der das Ereignis widerfahren ist, etwas ist, das sie erlebt – im Sinne von bewusst erfahren – hat, und das ihr insofern lebensgeschichtlich in Erinnerung bleiben wird. In einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Konzepten der Sozialpsychologie und der Psychologie der Lebensspanne hat in den frühen 1980er-Jahren der Psychologe und damalige Präsident der „Foundation For Child Development“, Orville G. Brim Jr., teilweise zusammen mit Carol D. Ryff (der späteren Resilienzforscherin) einen Vorschlag zu einer alternativen Konzeptualisierung von „Lebensereignissen“ unterbreitet. Ausgangspunkt und Kern seiner Überlegungen war die Unterscheidung von „Types of Life Events“ (Brim 1980), die er später zusammen mit Carol Ryff mit dem Ansatz der „Properties of Life Events“ (Brim und Ryff 1980) verbunden hat. Hintergrund ist auch hier das Problem, in welchem Verhältnis Lebensereignisse zu biologischen, physischen, sozialen und psychischen Ereignissen stehen, und ob sie sich von ihnen abgrenzen lassen. Während ihres Lebens widerfahren Menschen eine Vielzahl von physischen, biologischen und sozialen Ereignissen, die wiederum mit psychischen Ereignissen (Gedanken, Gefühlen) verbunden sind. Welche dieser Ereignisse sind jedoch relevant für das Leben einer Person? Wie hängen physische, biologische, soziale und psychische Prozesse dabei zusammen? Lassen sich die Ebenen dieser Prozesse überhaupt klar voneinander differenzieren? Fallen oftmals nicht physische, biologische, soziale und psychische Ereignisse zusammen? Der Clou der Antwort, die Brim und Ryff auf diese Fragen geben, besteht nun nicht darin, dass sie soziale, psychische, physische oder soziale Ereignisse trennscharf voneinander abzugrenzen versuchen, sondern zunächst Eigenschaften von Lebensereignissen bestimmen. Lassen sich Lebensereignisse dann anhand dieser Eigenschaften trennscharf voneinander unterscheiden, wird – so die Hoffnung – eine Zurechnung des Eintritts oder der Folgen dieser Ereignisse auf soziale, physische, biologische oder psychische Ursachen oder Wirkungen erleichtert. Lebensereignisse können Brim und Ryff zufolge in drei Merkmalsdimensionen verschiedene Ausprägungen annehmen, wobei die Ausprägungen zunächst binär
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
(zweiwertig) bestimmt sind: Lebensereignisse können demgemäß (1) im Leben von vielen oder von wenigen Personen eintreten; sie können (2) dabei mit hoher oder geringer Wahrscheinlichkeit eintreten, und sie können (3) abhängig oder unabhängig vom Lebensalter einer Person eintreten. Lebensereignisse gewinnen ihre Charakteristik insofern aus einer Konfiguration von Eigenschaften. Wie die Tab. 2.2 zeigt, lassen sich anhand der unterschiedenen Eigenschaften acht verschiedene Typen von Lebensereignissen bilden. Diesen Typen von Lebensereignissen werden dann konkrete Fälle von Lebensereignissen zugeordnet. Auch wenn die Typologie von Brim und Ryff eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Lebensereignissen ermöglicht, so bleibt noch unklar, in welchem Sinn es sich um eine konzeptionell gehaltvolle Klassifikation handelt. Diese Frage lässt sich schon im Hinblick auf den Typ 1 diskutieren. So finden wir mit den ersten Gehschritten des Kleinkinds ein Phänomen, das nahezu alle Menschen in einer sehr engen Altersspanne mit hoher Wahrscheinlichkeit erfahren. Ähnliches könnte sicher auch von anderen biophysisch-organischen Prozessen (z. B. der Hirnentwicklung) sagen. Andere in Typ 1 genannte Phänomene (wie Einschulung, Heirat, Geburt des 1. Kinds) wären biophysisch in einer viel größeren Altersspanne möglich. Erst hier wird es soziologisch interessant danach zu fragen, unter welchen Bedingungen es in einer Gesellschaft dazu kommt, dass viele Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Erfahrung in Abhängigkeit zum Alter machen, obwohl das biologische Alter einen größeren Spielraum zulassen würde. Hier spielen offensichtlich Altersnormen und gesellschaftliche Normalitäts- bzw. Durchschnittserwartungen darüber eine Rolle, was im Leben wann geschehen sollte. Brim und Ryff selbst sehen zwischen den Typen 1 und 8 die größte Divergenz. Dies ist zunächst logisch darin begründet, dass sich die beiden Typen in allen Ausprägungen widersprechen. Typ 1 repräsentiert daher so etwas wie ‚Normalfälle‘, während Typ 8 die abweichenden Fälle beinhaltet. Abweichungen müssen dabei nicht immer ‚Unglücksfälle‘ – wie der Verlust von Gliedmaßen – sein, sondern können – wie der Lottogewinn – auch Glück bedeuten. Trotzdem weichen in beiden Fällen Menschen, denen solches widerfährt, vom Durchschnitt ab. Interessant sind auch die Typen 3 und 4. Die dort zugeordneten Phänomene verdanken sich zumeist dem Umstand, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen durch historisch seltenere Phänomene (wie Krieg, Epidemien, Migrationswellen oder Wirtschaftskrisen) betroffen war. Dabei zeigt sich, dass historisch begrenzte Phänomene (wie ein Weltkrieg z. B.) für bestimmte Altersgruppen nochmals eine spezifische Erfahrung darstellen kann, z. B. für junge Männer, die in einem Krieg mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Kriegsdienst eingezogen werden. Dies betrifft übrigens auch Migrationswellen, an denen in der Regel junge Männer im Alter 20 bis 35 deutlich stärker partizipieren. Wir werden auf diesen Punkt bei der
Schwache Korrelation
Korrelation mit Lebensalter Starke Korrelation
Tritt im Leben von vielen auf Hohe Eintritts- Geringe Eintritts- Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit 1 3 Einberufung in den Heirat Kriegsdienst Erwerbseintritt Polio-Epidemie Verrentung Einschulung Geburt des 1. Kinds Erste Gehschritte Herzinfarkt 2 4 Krieg Tod des Vaters Wirtschaftskrise Tod des Ehepartners Plage Testosteronabfall (bei Erdbeben Männern) Migration Heirat der Kinder Den Karriere-Zenit überschreiten ‚ungeplante‘ Schwangerschaft 6 Sohn übernimmt den Familienbetrieb vom Vater
8 Verlust von Gliedmaßen bei einem Autounfall Lottogewinn Erste ‚schwarze‘ Richterin in den Südstaaten sein Berufsunfähigkeit Erwachsene Kinder kehren ins Elternhaus zurück
Tritt im Leben von wenigen auf Hohe Eintritts- Geringe Eintritts- Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit 5 7 Erster Jahrgang von Frauen Eine Erbschaft im großen der Yale University Umfang machen Einen ‚leeren Thron‘ im Alter Schulverweis Unpopularität als Teenager 18 besteigen Spina Bifida
Tab. 2.2 Typen von Lebensereignissen. (Quelle: Brim 1980, S. 152; Brim und Ryff 1980, S. 375, eigene Übersetzung)
2.3 Lebensereignisse, Episoden und Lebensverlaufsmuster 43
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Frage nach dem Verhältnis von historischer Erfahrung und Generationserfahrung (Abschn. 3.4) nochmals zurückkommen. Die Typen 5 und 6 scheinen dagegen so etwas wie ‚Eliten-Schicksale‘ abzubilden. Denn sie treten eben nicht für eine breite Masse der Gesellschaft auf, sondern für eine stärker begrenzte, privilegierte Gruppe, die etwas zu vererben (Haus, Betrieb, Geld, Titel) hat. Bei den Typen 7 und 8 haben wir es mit Ausnahmeerfahrungen zu tun, die auf Stigmatisierungen und Außenseiterrollen (wie Schulverweis oder ‚Teenage Unpopularity‘) verweisen, aber auch auf besondere Erfahrungen des Aufstiegs (Erster in einer Gruppe, die eine hohe Position ausübt) oder des Abstiegs. Allerdings wird bei den Typen 5–8 nicht so ganz deutlich, welche Relevanz die Altersabhängigkeit einer Erfahrung in den Fällen hat, die nur von wenigen (teils mit geringer Wahrscheinlichkeit) erlebt werden. Das zeigt sich auch in der Ungenauigkeit der Beispiele, die Brim und Ryff bei den Fällen des Erbens (im größeren Ausmaß bzw. des väterlichen Betriebs) als altersabhängig bzw. altersunabhängig nennen. Weshalb sollte eine größere Erbschaft stärker altersabhängig sein als die Nachfolge des Sohnes in der betrieblichen Leitungsfunktion des väterlichen Betriebs? Die Lebenslaufsoziologie hat sich in ihrer weiteren Entwicklung vor allem mit Phänomenen beschäftigt, die mit dem Typ 1 zusammenhängen, häufiger auch mit Ereignissen des Typs 8. Dies hängt damit zusammen, dass es drei große Bereiche des Lebenslaufs gibt, die von nahezu allen Menschen moderner Gesellschaften erfahren werden und in Abhängigkeit vom Alter beobachtet werden können: Bildung, Erwerbsarbeit, Familiengründung. Interessant werden dadurch kleine Alters- bzw. Zeitunterschiede beim Eintritt von Ereignissen, die den Bildungs-, Erwerbs- und Familienverlauf von Personen betreffen. Soziale Differenzen können sich z. B. darin ausdrücken, ob jemand früher oder später die Schule verlässt, ins Erwerbsleben eintritt oder heiratet und das erste Kind bekommt. Nach wie ist vor aber noch nicht genau bezeichnet, was unter einem Lebensereignis selbst verstanden werden soll. Wir haben bisher lediglich eine Klassifikation von Sachverhalten kennengelernt, die intuitiv als Lebensereignis aufgefasst werden können. Diesen mit Brim und Ryff intuitiv bestimmten Lebensereignissen wurden nach präziseren Kriterien (Eintrittswahrscheinlichkeit, Eintrittshäufigkeit, Altersabhängigkeit) Eigenschaften zugerechnet. Was aber ist nun für sich genommen ein Lebensereignis? Hier bietet die „Ereignisanalyse“ (Blossfeld et al. 1987) nähere Auskunft. Ihr zufolge sind „Ereignisse“ als „Zustandswechsel“ anzusehen, bzw. als „Zeitpunkte, zu denen Zustandswechsel (…) auftreten“ (Blossfeld et al. 1987, S. 27). Insofern würde ein Lebensereignis einen Wechsel in einem biografischen Zustand bedeuten, etwa der Wechsel des Zustands „unverheiratet“ zu „verheiratet“, den man auch als Zeitpunkt der Eheschließung bezeichnen könnte. Auf ähnliche Weise könnten die Ereignisse „Ende der Schulzeit“ den Übergang vom
2.4 Übergänge und Statuspassagen
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Zustand Schüler in einen anderen Zustand (z. B. Student, Erwerbstätiger, usf.) markieren oder „Auszug aus dem Elternhaus“ den Zustandswechsel von „wohnhaft im Elternhaus“ zu „in eigener Wohnung lebend“. Ereignisse werden insofern über eine Idee der Episoden im Lebensverlauf gewonnen. Episoden sind Zustände von bestimmter Dauer, die von Personen eingenommen werden. Der Lebensverlauf ist eine Abfolge von solchen Episoden. Solche Abfolgemuster von Episoden treten in begrenzter Zahl auf. Insofern finden wir in modernen Gesellschaften, in denen die Lebensläufe eine Vielzahl der Lebensereignisse aufweisen, die in der Klassifikation von Brim und Ryff dem Typ 1 entsprechen, auch spezifische Varianten von Lebensverlaufsmustern vor. Diese Beobachtung eröffnet der Sozialstrukturanalyse interessante Analyseperspektiven. Die Sozialstrukturanalyse beschäftigt sich mit der Frage, wie es durch soziale Ordnungen zu systematischen Ungleichheiten im Leben von Personen kommen kann. Wenn es aufgrund bestimmter Bedingungen (wie der Zugehörigkeit zu einer Klasse, einem Geschlecht, einer ethnischen Gruppe) zu Unterschieden in der Dauer von Lebensepisoden und dadurch bedingt zu typisch divergierenden Lebensverlaufsmuster kommt, dann kann mit empirisch belegten Gründen von sozialer Ungleichheit gesprochen werden. Die Analyse von Lebensverlaufsmustern ist somit in der Lage, die „gesellschaftliche Konstruktion sozialer Ungleichheit im Lebensverlauf“ (Mayer und Blossfeld 1990) nachzuweisen.
2.4
Übergänge und Statuspassagen
Neben der Lebensverlaufsforschung existiert in der Soziologie noch eine zweite Perspektive, die sich auf ähnliche Weise mit der zeitlichen Platzierung von Ereignissen im Leben befasst. Allerdings wird dabei weniger auf die zeitliche Dauer von Episoden bzw. Zuständen geachtet, sondern die Muster der Abfolge von Ereignissen bzw. Zuständen noch stärker in den Vordergrund der Untersuchung gerückt. Dabei spielt die soziologische Kategorie des (sozialen) Status eine zentrale Rolle sowie die Möglichkeit von Statuswechseln. In ihrer Einleitung zu dem Buch „Strukturen des Lebenslaufs“ beschäftigen sich Reinhold Sackmann und Matthias Wingens (2001, S. 19 ff., 33 ff.) mit den Differenzen der Konzepte „Übergang“, „Sequenz“ und „Verlauf“. Alle drei Begriffe werden als mögliche und einschlägige „Leitkonzepte“ der Lebenslaufforschung vorgestellt und diskutiert. Insbesondere weisen die Autoren auf einen Unterschied zwischen „Lebensereignissen“ („events“) und Übergängen („transitions“) hin, der vom US-amerikanischen Soziologen Glen H. Elder herausge-
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
arbeitet worden sei. Anhand der Differenz zwischen Ereignis und Übergang können wir nochmals einen anderen Blick auf die zuvor eingeführte Lebensverlaufsperspektive einnehmen. Elder (1985, S. 31) verweist dabei zunächst auf Ähnlichkeiten zwischen Lebensereignis (event) und Übergang (transition): „life transition and life event have some meaning in common, they both entail a change in state.“ Elder sieht jedoch das Problem einer ausschließlichen Konzentration auf den Aspekt des Statuswechsels. Mit dem Wechsel gehe ein Prozess der Veränderung einher, der „more or less abrupt“ (ebd.) sei. Die Übergangsperspektive sei insofern diesem Veränderungsmoment angemessener, da sie explizit darauf abhebe, dass der Zustandswechsel „may take place over a substantial period of time“ (ebd.). Die Verlaufsperspektive erweckt dagegen den Eindruck als würden die Zustandswechsel im Lebenslauf nahtlos erfolgen, so als würden die einzelnen Episoden unmittelbar aneinander anschließen. So besteht beispielsweise zwischen dem Kennenlernen der späteren Ehepartnerin und der Heirat noch eine zeitlich mehr oder weniger ausgedehnte Phase der ‚vor-ehelichen‘ Beziehung aus „verliebt – verlobt – verheiratet“ (Flitner 1987). Ähnlich kann auch zwischen dem Verlassen der Schule und dem Eintritt in das erste Erwerbsverhältnis eine gewisse Zeit des Übergangs verstreichen. Insofern stellt die Dauer von Übergängen selbst eine als Episode messbare Zeiteinheit im Lebenslauf dar. Übergänge lassen sich somit als spezifische biografische Phasen untersuchen. Hier können wir einen Blick auf den Ansatz von Erikson zurückwerfen, der insbesondere die Adoleszenz als eine bedeutsame Phase des biografischen Übergangs identifiziert hatte. In der Lebenslaufforschung wird dies als „transition from youth into adulthood“ (Marini 1984) oder als „into one’s own“ (Modell 1989) erforscht (s. auch Abschn. 6.2). Neben der Frage, ob „Übergang“ oder „Ereignis“ das sinnvollere Leitkonzept einer Lebenslaufforschung seien, bleibt eine weitere Ungenauigkeit zu klären. Um Episoden bzw. Übergänge zu erfassen, rekurrieren die Forscherinnen auf sogenannte „Zustandswechsel“ (changes in state), die soziologisch auch als Status aufgefasst werden. In der soziologischen Lebenslaufforschung ist somit von einer bestimmten Art und Menge von Zustandswechseln die Rede. Denn denkbar wären ja auch Veränderungen in beliebigen anderen Eigenschaften wie Haarlänge, Körpergewicht, Körpergröße oder Anzahl von Hosen, Socken oder T-Shirts im Kleiderschrank einer Person. Solche Merkmale wären im Prinzip auch Zustände der Person wie etwa auch die Anzahl der von einer Schülerin der 8. Klasse memorierten Hauptstädte Europas oder englischen Vokabeln im Unterschied zur selben Schülerin in der 9. oder 10. Klasse. Die „Fluidität“ solcher Unterschiede wird – wie oben bereits gesehen – beispielsweise in der Lebensspannen-Psychologie auf einer Skala von „gains and losses“ im Lauf der lebenslangen Biografie untersucht.
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte
47
Wenn die Soziologie des Lebenslaufs von Statuswechseln oder Statuspassagen (Glaser und Strauss 1965, 1971) spricht, dann interessiert eine eingeschränktere Menge von sozial besonders ausgezeichneten Zuständen einer Person, die mit sozial spezifisch definierten Positionen einhergehen. Es handelt sich um Zustände, die institutionelle Fakten (Searle 1995) darstellen; d. h. um Sachverhalte, die auf gesellschaftlich anerkannten Regeln (der Heirat, des Arbeitsvertrags, des Schulbesuchs, usf.) beruhen. Diese Zustände bzw. Sachverhalte gäbe es in ihrer je besonderen Ausprägung (ledig, verlobt, verheiratet, geschieden) nicht, wenn die Angehörigen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs sie nicht anerkennen und nicht ihnen gemäß handeln würden. Vor diesem Hintergrund hat René Levy (1977) den Lebenslauf als „Statusbiographie“ bezeichnet. Genauer versteht er darunter die Bewegung des Individuums durch den sozialen Raum während seiner Biografie. Dementsprechend bestehe der Lebenslauf aus einer Sequenz von „Positions- Partizipations-Rollen-Konfigurationen“. Von den Positionen gehe also eine Teilnahme und Mitwirkung in Form von Rollen aus. Den Positionen entspricht dabei eine Rangplatzierung in der Gesellschaft und die Rollen bewirken gesellschaftliche Erwartungen, denen Positionsinhaber gerecht werden müssen. Der Blick auf Übergänge und Statuspassagen geht somit in zweierlei Hinsicht über die Lebensverlaufsperspektive hinaus. Während für die Lebensverlaufsforschung zunächst nur die Wahrscheinlichkeiten des faktischen Eintritts bestimmter Lebensereignisse relevant zu sein scheinen, interessiert sich die Übergangsper spektive für die Erfahrung von Kontingenz in den Phasen zwischen den Zustandswechseln und untersucht Statusbiografien hinsichtlich der Anerkennungen und Erwartungen, die mit dem Innehaben von Positionen und Rollen einhergehen. Während also die Lebensverlaufsforschung sich auf Merkmale objektiver Strukturbeziehungen (zwischen sozialen Bedingungen und dem tatsächlichen Eintritt von Ereignissen) beschränken könnte, ist die Untersuchung von Übergängen und Statuspassagen darauf angewiesen, die Subjekt- und Akteursperspektive in Form von Erfahrungen und Gestaltungsmöglichkeiten mit zu berücksichtigen. Dies erfordert auch eine Hinzuziehung der biografischen Perspektive, zu der wir nun im nächsten Abschnitt gelangen.
2.5
iografie: Leben als Erzählung, B Erfahrung, Geschichte
Die Lebenslaufforschung, wie wir sie im vorigen Abschnitt kennengelernt haben, befasst sich mit der Strukturierung von Lebensereignissen, mit den Wahrscheinlichkeiten, mit denen bestimmte Lebensereignisse oder spezifische (meist standar-
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
disierte) Muster von Lebensereignissen in Abhängigkeit zum individuellen Lebensalter eintreten. Sie beschäftigt sich in der Regel nicht oder nur kaum damit, in welchen Deutungszusammenhang Menschen den Eintritt von Lebensereignissen bzw. eine bestimmte Abfolge von Lebensereignissen selbst rücken. Letzteres ist eher das Erkenntnisziel der Biografieforschung. Sie beschäftigt sich mit Lebensbeschreibungen als Dokumenten und Kommunikationsweisen, mit denen das Leben einzelner Personen gedeutet bzw. ausgelegt wird. Es geht um das Verständnis, das vom Leben einer Person gewonnen werden kann. Dieses Verständnis kann die Person selbst von sich gewinnen – dann handelt es sich um eine Autobiografie; oder andere von der Person entwickeln, etwa im Rahmen einer Biografie über eine prominente oder historisch bedeutsame Person. Es kann unterschiedliche Dokumentsorten geben, die biografischen Charakter besitzen, die das Leben einzelner Personen beschreiben. Es können alltägliche Stegreiferzählungen sein, die man am Tresen in der Kneipe einem guten Freund erzählt oder einer Unbekannten während einer längeren Bahnfahrt. Auch gibt es der Stegreiferzählung ähnliche Formate – etwa im Therapiegespräch oder in Formen sozialwissenschaftlicher Intensivinterviews. Wir finden aber auch schriftliche Selbstzeugnisse wie Tagebücher oder Memoiren (Lebenserinnerungen). Aber auch der biografische Roman in der Literatur, die biografische Abhandlung meist als geschichtliche Darstellung oder auch der biografische Lexikoneintrag bieten – hier aus der Perspektive fremder Autoren – Deutungen zum Verständnis des Lebens einer Person. In der soziologischen Biografieforschung hat sich – eben schon mit der Initialstudie von Thomas und Znaniecki – eine Forschungstradition ausgebildet, die sich primär für die Rekonstruktion des biografischen Selbstverständnisses einer Person interessiert. Wie deutet und wertet eine Person ihr Leben? Wie rückt sie es in den Zusammenhang ihrer persönlichen, sozialen und historischen Lebensbedingungen? Wie geht sie aktiv mit diesen Deutungen um, indem sie daraus Schlüsse für ihre eigene Lebenspraxis zieht? Und was können wir anhand solcher Selbstbeschreibungen über die Person und ihre Haltung zu ihrer historischen gegebenen Sozialwelt herausfinden? Bei der Wiederbegründung der Biografieforschung – vor allem im europäischen Raum ab den 1980er-Jahren – sind drei Forschungsperspektiven herausgebildet worden, die hier nun im Besonderen herausgearbeitet werden sollen. Alle drei gehen von der mündlich, aus dem Stegreif improvisierten Lebenserzählung aus, sehen jedoch darin Unterschiedliches manifestiert: Fritz Schütze sucht nach „kognitiven Figuren“ der Rekapitulation von Lebenserfahrung (Abschn. 2.5.1), Daniel Bertaux nach ethno-soziologisch interessanten Hinweisen zur tatsächlichen Lebensgeschichte der Person (Abschn. 2.5.2) und Heinz Bude nach den Lebenskonstruktionen, die sich am Sprechen der Person über sich und ihr Leben rekonstruieren lassen (Abschn. 2.5.3).
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte
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ebenserfahrung und autobiografische Stegreiferzählung L (Fritz Schütze) In der neueren Biografieforschung hat die Unterscheidung zwischen Stegreiferzählung und anderen Formen der Lebensbeschreibung vor allem für Narrationsanalytiker im Anschluss an Fritz Schütze (1984) eine bedeutende Rolle gespielt. Auch hier lässt sich wieder der Frage nachgehen, inwiefern die Besonderheit der Erzählungen zum Erkenntnisgewinn der biografischen Methode beiträgt. Für Schütze eröffnen spontane mündliche Erzählungen einen Zugang zum Lebenslauf als einer subjektiven Erlebens- und Erfahrungsgeschichte der Person. Wie aber soll die Erzählung diesen Zugang ermöglichen? Dazu hebt Schütze an der Äußerungsform der Stegreiferzählung drei Merkmale hervor: Autobiografien seien erstens dadurch gekennzeichnet, dass der Erzähler zugleich Hauptperson der Erzählung ist, von Schütze als der „Biographieträger“ bezeichnet. Der leitende Erzählfaden verläuft entlang der aufeinanderfolgenden Lebenserfahrungen des Erzählers. Der Stegreifcharakter betont zweitens die Unvorbereitetheit der Sprecher hinsichtlich des Erzählablaufs. Der Erzähler soll keinem vorgefassten oder routinisierten Skript folgen, sondern – wie es bei Schütze mehrfach lautet – sich dem „Strom des Erinnerns“ hingeben. Erzählungen werden drittens daran bestimmt, dass sie „eine Zustandsänderung des Biografie- oder anderer Ereignisträger über eine zeitliche Schwelle hinweg (beinhalten)“ (Schütze 1984, S. 88). Es geht Schütze dabei um die Haltung, in der ein Erzähler die Erfahrung solcher Zustandsänderungen rekapituliert. Der Fokus der biografischen Analyse liegt somit auf der narrativen Darstellung „lebensgeschichtlich relevanter Zustandsänderungen des Biografieträgers und seiner entsprechenden Ereignisverstrickungen im Rahmen einer Erzählkette“ (Schütze 1984,S. 82 f.). Schütze stützt seinen Zugang durch die These, „dass allem Stegreiferzählen selbsterlebter Erfahrungen eine autobiografische Komponente innewohnt“ (Schütze 1984,S. 82). Genauer: „Jedes Erzählen selbsterlebter Erfahrungen bezieht sich zumindest partiell auf die Veränderungen des Selbst des Erzählers als Biografieträgers, der ‚seinerzeit‘ die berichteten Ereignisse erlebt hatte und der sich ‚seinerzeit‘ aufgrund der Verstrickung in die berichteten Ereignisse (und sei es auch nur als ‚bloßer Beobachter‘) und der Auswirkung ihres Erlebens auf die Innenwelt des eigenen Selbst zumindest spurenweise verändert hatte und der in der verstrichenen Zeit zwischen Erlebnis- und Erzählsituation möglicherweise auch erheblichen Veränderungsprozessen unterworfen war.“ (ebd.)
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
An Schützes Zusammenhangserklärung der autobiografischen Komponenten des Stegreiferzählens selbsterlebter Erfahrungen kann man zwei Fragen richten. Erstens: Auf welcher Konstruktionsweise beruht der unterstellte Veränderungsprozess? Das heißt: Was sind seine Hauptkomponenten? In welcher Weise hängen sie zusammen? Zweitens: Wie ist es möglich, dass dieser Veränderungsprozess einem Selbst zugerechnet werden kann? Das heißt: Worin besteht dieses Selbst? Woran kann man es beobachten? Versucht man die Frage nach den Komponenten einer Erzählanalyse zu beantworten, die auf die Rekonstruktion eines lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhangs zielt, findet man bei Schütze eine Verwendung mehrerer Begriffe, bei denen nicht immer klar ist, ob damit Sachverhalte unterschieden werden oder ob damit Gleiches gemeint sein soll. Die Begriffe sind: Ereignisse, Erleben, Erfahrungen, Erzählungen, Selbst, Innenwelt, wobei diese Kategorien teilweise auch nochmals als Verb („erzählen, erleben“) oder als Adjektiv („selbsterlebt“) benutzt werden. Offensichtlich erscheinen Schütze das Selbsterlebt-Haben berichteter Ereignisse und deren Folgen für die Innenwelt des Erzählers besonders wichtig. Dabei ist noch nicht klar, was unter selbsterlebter Erfahrung zu verstehen ist. Sprachlich macht diese Redeweise nur Sinn, wenn die Menge der Erfahrungen größer ist als die der selbsterlebten Erfahrungen. Das heißt, jemand kann auch über Ereignisse berichten, die er nicht selbst erlebt hat, zum Beispiel über die Ereignisse des 11.September 2001. In der Regel verstehen wir unter selbst-erlebt den Umstand, dass wir in der Situation des Eintritts des Ereignisses anwesend waren. Hierbei können für uns die Anwesenheit unterschiedliche Grade der Beteiligung am Geschehen bedeuten. Schütze geht es dabei aber nicht um eine praktische (oder aktive) B eteiligung, sondern um das, was wir ‚innere Anteilnahme‘ nennen. Genau diese innere Anteilnahme lässt sich nur schwer an äußeren Merkmalen des Akteurs bzw. seines Verhaltens feststellen. Erzählungen, in denen der Erzähler selbst die Hauptfigur darstellt und auf sein Innenleben rekurriert, können somit als subjektive Daten aufgefasst werden, in denen Sprecher etwas benennen, zu dem sie (qua Introspektion) privilegierten Zugang haben. Sie können in sich noch etwas beobachten, das anderen (Außenstehenden) nicht zugänglich ist (s. Tab. 2.3). Wir können Schütze in der Annahme folgen, dass in autobiografischen Erzählungen solche Bezugnahmen auf das Innenleben einen grundlegend anderen Charakter haben als in fremdbiografischen Beschreibungen: Sie sind in der IchForm möglich. Allerdings stellt sich noch in systematischer Hinsicht die Frage nach den sprachlichen Formen, die solche subjektiven Bezugnahmen annehmen können. Hierzu bietet Schütze (1984, S. 91 ff.) die Kategorie der „lebensge-
Flexible Anpassung an Routineabwicklungen
Verhängnis (fortschreitend) Prekär (Diskrepanz) Ringen mit Kontingenz Offener Ausgang
Institutionelle Ablaufmuster
Verlaufskurve
Wandlungsprozesse
Erwartete Zukunft (Modalität) Realisierungsraum und Hindernisse
Prozessstrukturen Handlungsschemata
Überraschung
Art der ersten Berührung Erwartete Begegnung (im Vorhaben) Erwartete Begegnung (im Muster) Überraschung Akteur (Erfahrung)
Bedingungen
Bedingungen
Veranlassung und Ingang- setzung Impuls des Akteurs
Tab. 2.3 Prozessstrukturen des Lebensablaufs. (Quelle: Schütze 1984,S. 92 ff.)
Nachträglich als Ausschöpfen eines Potenzials reflektierbar
Bedrohung
Auswirkung auf Identität Schritte der Selbst- Verwirklichung & Angleichung an Erwartungen
Überwindung einer Lähmung (Gegenwehr) Erkennen eines Kreativitätspotenzials (geschützte Aktivitätsräume)
Entfaltung und spätere Distanzierung
Interventionsmöglichkeit Planung, realistische Sicht des Erreichten
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte 51
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
schichtlichen Prozeßabläufe“, die in anderen Publikationen (Schütze 1983, 2008) auch als „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ bezeichnet werden. Entscheidend sei daran „die Erfahrungshaltung, die der Biografieträger den Ereignisabläufen gegenüber einnimmt“ (Schütze 1984, S. 92). Dazu unterscheidet er „vier grundsätzliche Arten der Haltung gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen“ (ebd.): 1. Biographische Handlungsschemata 2. Institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte 3. Verlaufskurven 4. Wandlungsprozesse Schütze nimmt also an, dass sich die Prozessstrukturen des Lebenslaufs als eine Erfahrungshaltung in größeren (suprasegmentalen) Erzähleinheiten artikulieren würden. Da auch diese „Suprasegmente“ erzählgerüstförmig aufgebaut seien, werde die Haltung über mehrere Merkmale angezeigt. Zunächst durch die „Art der Zukunftserwartung“ (Schütze 1984,S. 93), die in einem Erzählsegment ausgedrückt werde. Bei dem Prozessmuster des „Handlungsschemas“ werde die erzählte Zukunft als ein Realisierungsraum dargestellt, der überwindbare Hindernisse enthalte. In der Erzählhaltung des institutionellen Ablaufmusters dagegen werde die Zukunft als eine abzuwickelnde Routine entworfen, der man sich gegenüber flexibel anpassen könne. In der Verlaufskurve erscheine die Zukunft als fortschreitendes Verhängnis, während in der Erzählhaltung der Wandlung eine unsichere, ergebnisoffene Zukunft als Herausforderung des Individuums markiert werde. Dementsprechend unterscheiden sich die mit den Prozessmustern ausgedrückten Erfahrungshaltungen auch nach den Merkmalen „Art der ersten Berührung“, der „Veranlassung und Ingang-Setzung“, ihrer „Auswirkung auf die Identität“ und hinsichtlich der „Interventionsmöglichkeiten durch den Biographieträger“ (Schütze 1984, S. 94 f.). Die erste Berührung mit dem Prozessmuster der Wandlung werde als „überraschend“ dargestellt, sie gehe von Impulsen aus, die dem Biografieträger zugerechnet würden. Im Fall der Wandlung wirke dies auf die Identität des Biografieträgers nachträglich als Erfahrung der Ausschöpfung eines Kreativitätspotenzials. Intervenieren könne der Akteur dann nur, wenn er das Kreativitätspotenzial erkennt. Anders etwa verhalte es sich bei der Form der Verlaufskurve. Sie tritt zwar auch überraschend ein, werde aber als Bedingungslage außerhalb des Aktivitätsradius des Biografieträgers verortet. Sie stellten in der Regel eine Bedrohung der Identität dar und führten zu einer Lähmung des Akteurs, die nur dann überwunden werde, wenn der Biografieträger Impulse der Kontrolle und Gegenwehr gegenüber der ihren Verlauf nehmenden Kurve artikuliere. Auch das institutionelle Ablauf-
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte
53
muster werde im Außen des Akteurs verortet; allerdings wirke es nicht bedrohlich auf die Identität, sondern werde unter Aspekten der Angleichung und Spielräume für das Subjekt gesehen. Das Subjekt vermöge sich hier flexibel anzupassen oder auch nachträglich zu distanzieren. Ein zentraler Diskussionspunkt gegenüber Schützes Ansatz, die Erfahrungshaltung des Subjekts gegenüber seiner Lebensgeschichte zu rekonstruieren, ist der Informationsgehalt geblieben, den die Erzählung hinsichtlich der zu rekonstruierenden Erfahrung enthalten soll. Zunächst zeigen die Erzählformen nur, wie die Person erzählt, indem sie Handlungsimpulse, Interventionsmöglichkeiten, die Gestaltungsmöglichkeit der Identität jeweils sich selbst oder der Umwelt zurechnet. Entsprechen diese Erzählmuster jedoch der Art und Weise, wie die berichteten Lebensereignisse ursprünglich vom Subjekt (des Sprechers) erlebt und erfahren wurden. Was meint hier überhaupt „erleben“ und „erfahren“? Schütze scheint davon auszugehen, dass das Stegreiferzählen vor allem die Funktion der Rekapitulation der Erfahrung für das Subjekt selbst habe und ihm die Zuhörerin der Stegreifgeschichte lediglich als ein generalisierter und nicht als ein konkreter Anderer erscheine. Aber bleibt dann die Erzählung nicht auch eine Darstellungs- und Rechtfertigungsleistung des Subjekts gegenüber wie auch immer generalisierten oder konkreten Anderen? Und sind dann die Muster nicht Folge von Plausibilisierungszwängen des Erzählens, so wie Schütze an anderer Stelle von den „Zugzwängen des Erzählens“ (Kallmeyer und Schütze 1977) spricht?
Lebenserzählung und Lebensgeschichte Insofern ist es interessant, Schützes Zugang über den unterstellten Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung mit dem Ansatz des französischen L ebenslaufforschers Daniel Bertaux zu vergleichen. Auch Bertaux interessiert sich für das Datenmaterial der „Lebenserzählung“ (Bertaux 2019). Aber für ihn handelt es sich dabei um einen eher sozial-realistischen – wie er sagt „ethnosoziologischen“ Ansatz, der auf die „Analyse sozialer Welten, sozialer Situationen und sozialer Abläufe“ (ebd.) ziele. Vereinfacht gesagt interessiert sich Bertaux nicht nur für die Form der Erzählung (des Lebens), sondern auch für die Inhalte der erzählten Geschichte des Lebens, also für das, was als ‚tatsächlich geschehen‘ beschrieben wird. Die Lebenserzählung dient ihm somit lediglich als Zugang zu seinen eigentlichen „Studienobjekten“ (Bertaux 2019, S. 31 ff.). Diese zielen in grober Gliederung auf die Untersuchung folgender Bereiche: (1) dem Interesse an den „sozialen Welten“, in denen die Menschen aufwachsen und im weiteren biografischen Verlauf leben; (2) die Kategorien von sozialen Situatio-
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
nen, in die Menschen während ihres Lebens geraten; (3) die Entwicklung von sozialen und lebensgeschichtlichen Prozessstrukturen und (4) der Familiengeschichte (vgl. Bertaux 2019, S. 31–35). Diese Untersuchung erfolge lt. Bertaux aus einer „ethnosoziologischen“ Per spektive. Er ist dabei einerseits an „logischen Zusammenhängen“ innerhalb einer „sozialen Welt“ interessiert, die er auch als „Mesokosmos“ bezeichnet (Bertaux 2019, S. 32). Solche Mesokosmen entwickeln sich um bestimmte soziale Aktivitäten herum, wie Freizeitbeschäftigungen, sportliche oder kulturelle Tätigkeiten sowie in der Arbeits- oder Familienwelt. Diese Mesokosmen würden jedoch in den Lebenserzählungen nicht direkt repräsentiert, da die Lebensgeschichten auf kleinere Welten, auf die Mikrokosmen Bezug nehmen würden. Die Mikrokosmen sind dann die konkreten Familien, Betriebe, Vereine usf., in denen die Akteure, die über ihr Leben sprechen, selbst handeln. Dies sind die einzelnen und je besonderen Fälle des konkret und tatsächlich vollzogenen Lebens. Gleichwohl setzt Bertaux nicht voraus, dass sich die soziale Logik dieses Lebens unmittelbar in den Lebenserzählungen zeigen würde. Er nimmt ein komplexeres Zusammenspiel zwischen der „globalen Gesellschaft“ als „Makrokosmos“, den sozialen Welten als „Mesokosmos“ und den konkreten Lebensbereichen als „Mikrokosmen“ an (vgl. Bertaux 2019, S. 32). Dabei stellt die „globale Gesellschaft“ die größtmögliche Vernetzungsweise von Aktivitäten dar. Zu diesem Gesamtzusammenhang stünden die „Mesokosmen“ auf einer „nationalen Ebene“ in Beziehung. Und die „logischen Zusammenhänge“ dieser Mesokosmen würden sich dann – in einer Art Übersetzung – auch in den konkreten Lebensfeldern der Mikrokosmen ausdrücken. Der Begriff der „logischen Zusammenhänge“ wird von Bertaux nicht präzise bestimmt. An einer Stelle behauptet er, dass sich um jede soziale Welt ein Arbeitsfeld herausbilde (Bertaux 2019, S. 31). Wahrscheinlich lässt sich das so verstehen, dass sich in jeder sozialen Welt auch so etwas wie eine Funktionsanforderung für den einzelnen Handelnden ergibt, der dieser dann in seinen ‚kleinen Aktivitäten‘ in der Mikrowelt gerecht werden muss. Handelnde wären somit einer praktischen Folgerichtigkeit unterworfen, die von den Anforderungen der sozialen Welten, auf die sie sich beziehen, ausgehen würde. Auch die Untersuchung der „sozialen Situationen“ ist auf ähnliche Weise geschichtet gedacht. Darunter versteht Bertaux einen Zusammenhang der „sozialen Lage“ einer Person und den typischen sozialen Situationen, in die Menschen, die sich in einer bestimmten sozialen Lage befinden, mit höherer Wahrscheinlichkeit geraten. Eine soziale Lage – wie „Leben in Scheidung“, „schlecht ausgebildet“, „illegal eingewandert“ oder „wohnungslos“ sein – stelle nach Bertaux keine eigene soziale Welt dar, sondern eine Übereinstimmung in der Position, in der Menschen
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte
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mit diesen Merkmalen in unterschiedlichen Welten aktiv sein können. Eine „Lage ist insofern sozial, als sie für alle, die sich darin (…) befinden, die gleichen Zwänge und Spannungen sowie den gleichen Druck zu logischen Handlungen als Antwort auf diese Situation (…) erzeugt“ (Bertaux 2019, S. 33). Von einer solchen Lage aus handeln Menschen in unterschiedliche Welten (Arbeit, Familie, Freizeit usf.) hinein. Die Lage bestimmt die Möglichkeiten und Zwänge, die sie in verschiedenen sozialen Welten erfahren und zur Verfügung haben. Dadurch gewinnt der Begriff der „lebensgeschichtlichen Prozessstruktur“, den Bertaux ähnlich wie Schütze verwendet, jedoch eine andere Bedeutung. Bei Bertaux ergibt sich die lebensgeschichtliche Prozessstruktur aus der Abfolge von sozialen Welten, in denen sich Menschen während ihres Lebens bewegen oder durch den Wechsel von sozialen Lagen, die sie innerhalb ihrer Biografie erfahren. Bertaux interessiert sich hier also für das, was in der Sozialstrukturanalyse die Geschichte sozialer Mobilität bezeichnen würde – die Positionswechsel von Personen in typischen Lebensbereichen wie Familie, Arbeit und Freizeit. Davon unterscheidet er die Mobilitäts-Form der internationalen Migration, ohne dies näher zu erläutern. Vermutlich will er damit andeuten, dass sich hier die lebensgeschichtliche Bewegung direkt auf der Makroebene, innerhalb des globalen Zusammenhangs und zwischen Nationalstaaten abspielt. Letztlich weist er den Geschichten von Familien, in denen Lebenserfahrungen über mehrere Generationen hinaus thematisch werden, eine besondere Stellung zu. Darauf werden wir in Abschn. 6.3 zurückkommen. In seiner „realistischen Konzeption lebensgeschichtlicher Erzählungen“ konzentriert er sich dabei auf die Lebensbereiche der „Normalbiographie“ (Kohli) bzw. „Statusbiographie“ (Levy), die mit familiären und zwischenmenschlichen Beziehungen beginnt, und dann die Schule, die berufliche Eingliederung und die Arbeitsstelle als weitere Erfahrungswelten behandelt und sich für die Verwobenheit dieser Lebensbereiche interessiert (vgl. Bertaux 2019, S. 53–58). Auch wenn Bertaux mit dem Studium von Lebensgeschichten auf etwas anderes zielt als Schütze mit der autobiografischen Erfahrungsschichtung, handeln sie sich beide eine bestimmte methodische Aufgabe ein. Das von ihnen zurate gezogene Material der Lebenserzählung wird als Ausdruck von etwas weiterem gesehen – der „sozialen Welten“ und kleinen „Lebensbereichen“ bei Bertaux oder der subjektiven „Erfahrungsrekapitulation“ bei Schütze. Doch dieses Weitere zeigt sich nicht unmittelbar in den Erzählungen, sondern es muss durch eine besondere Interpretations- bzw. Auswertungstechnik aus ihnen indirekt als ein versteckter „logischer Zusammenhang“ erschlossen werden. Wie die Autoren diese methodische Aufgabe lösen, werden wir in Abschn. 6.1 weiterverfolgen.
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Lebenskonstruktionen und soziale Realität Auf die gleiche Problematik reagiert nun Heinz Bude (1982, 1984, 1987) in seinen Arbeiten mit dem Begriff der „Lebenskonstruktion“. Dabei scheint sich Bude unmittelbarer auf den Sachverhalt der Biografie als Lebensweg zu beziehen. Zunächst entdeckt auch Bude, dass biografische Erzählungen „eine ungeheure Menge von Daten über die Lebensweise einer Person“ (Bude 1987, S. 84) bieten. Die Verwendung des Begriffs „Lebensweise“ ist hier zu beachten. Denn er ist nicht völlig sy nonym mit „Lebenskonstruktion“. Der Begriff „Konstruktion“ unterstellt zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch so etwas wie eine aktiv beabsichtigte und hervorgebrachte Entwurfsleistung des individuellen Akteurs. So stellen Haus- oder Maschinenbau insofern Konstruktionen dar, als ihnen Entwurfszeichnungen und Baupläne vorangegangen sind, denen der konkrete Bau als Tätigkeit mit materiellem Resultat als Leitmuster gefolgt ist. Auch hier ließe sich fragen, ob Bauplan (Entwurf) und Bauweise gleichbedeutend sind. Eine Bauweise könnte z. B. auch dadurch bedingt sein, dass sich ein ursprünglicher Entwurf oder Bauplan gerade – aufgrund von Materialmangel etwa – nicht realisieren ließ und daher der Bau „anders“, also auf andere Weise, zu Ende geführt wurde. Eine Weise bezeichnet somit eher die Art, in der ein Tun am Ende tatsächlich vollzogen wurde, auch gerade im Unterschied zu der Art, wie es als „Konstruktion“ bzw. „Entwurf“ am Anfang geplant war. Wenn wir uns Budes weitere Erläuterungen des Begriffs „Lebenskonstruktion“ anschauen, dann sehen wir, dass er ihn nicht in dem strengen Sinn einer geplanten oder absichtsvoll entworfenen „Konstruktion“ verwenden kann. Die „Lebenskon struktion einer Person“ bestimme, „wie ein individuelles Leben in der Mannigfaltigkeit der Lebensereignisse sich seine Bahn schafft“ (Bude 1987, S. 81). Denn die von Bude vorgenommene Begriffsverwendung zieht sofort die Frage nach sich, wann – zu welchem Zeitpunkt eine Person – über die Lebenskonstruktion verfügt, die in der „Mannigfaltigkeit der Lebensereignisse“ für die ‚bahnende‘, d. h. richtungsweisende Selektivität (Auswahl) sorgt. Ist die Konstruktion eine Art Leitfigur, die die individuelle Person schon am Anfang des Lebens vor Augen hat und von der sie sich weiterhin bei der Gewichtung und Relevanzsetzung von Lebensereignissen bestimmen lässt – oder ist es einfach eine nachträgliche Konstruktionsleistung, mit der die Lebensereignisse in die biografische Erzählung eingeordnet werden? Ist die Lebenserzählung somit Folge der erzählerischen Konstruktionsleistung zum Zeitpunkt des Interviews oder steckt in dem, was die Erzählerin zu erzählen hat, in den Inhalten der Geschichten, die sie über sich darbietet, bereits die Art und Weise, in der sie während des Lebensprozesses über die Wahl von möglichen Lebensereignissen entschieden und auf die Gestaltung ihrer Abfolge bestimmend Einfluss genommen hat?
2.5 Biografie: Leben als Erzählung, Erfahrung, Geschichte
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Bude versteht dabei Lebenserzählungen als eine Menge von „Äußerungen“, die sich „gegenseitig kommentieren“, so dass daraus ein „Netz von Relationen“ entstehe. Auf diese Weise artikuliere sich „im Fluss der Alltagsrede (…) die Gestalt eines Lebens“ (Bude 1987, S. 84). Insofern drückt sich wie bei Bertaux und Schütze wieder etwas indirekt aus – in den Relationen der Äußerungen zueinander. Dabei folgt Bude bestimmten Zusammenhangsannahmen zur Produktion von Äußerungen innerhalb der Erzählung und innerhalb des Lebens selbst. Über die Fähigkeit der „leibexpressiven Äußerung“ verfüge daher erstens die Person nicht erst zum Zeitpunkt der Erzählung, in der sie die Mannigfaltigkeit ihrer Lebensereignisse einer Zuhörerin mitteilt, sondern ihre Fähigkeit zur „leibexpressiven Äußerung“ sei schon durch implizite Regeln bestimmt, die sie im Laufe ihres individuellen Lebens als Orientierungs- und Handlungsweisen ausgebildet hat und die insofern auch für ihre Lebensweise mitentscheidend gewesen sind. Zweitens wären die impliziten Regeln der Lebensäußerungen und der Lebensweise dann zeitlich relativ stabil und würden sich im Prozess des Lebens allmählich oder nur zu bestimmten Zeitpunkten graduell ändern. Und drittens könnte die Regularität der Lebensweise den Eigenaktivitäten und Kompetenzen der individuellen Person zugerechnet werden, über die sie jedoch nicht voll bewusst und absichtsvoll verfügen können müsste, sondern die sie einfach im Vollzug des Lebens praktisch einsetzt. Und viertens wären diese Formen der individuell praktizierten Regeln der Lebensweise nicht Ausdruck einer von der sozialen Welt abgetrennten Personalität, sondern eines Lebens, das sich ‚inmitten der sozialen Welt seine Bahn schafft‘ (vgl. zu diesen Annahmen Bude 1987, S. 75 ff.). Gleichwohl bleibt auch bei Bude das Problem der indirekten Beweisführung bestehen. Auch er muss von den Äußerungen, die er zum Zeitpunkt des Interviews beobachtet hat, auf die impliziten Regeln zurückschließen, durch deren Befolgung sich im Prozess des Lebens einer Person ihre individuelle Lebensweise he rauskristallisiert hat. Neben den drei hier ausführlicher behandelten Begriffen der autobiografischen Erfahrung (Schütze), der Lebensgeschichte (Bertaux) und Lebenskonstruktion (Bude) finden sich in der interpretativ orientierten Lebenslaufforschung weitere Konzepte, von denen zwei wenigstens kurz angedeutet werden sollen. Es handelt sich dabei um die Begriffe „Lebensverlegenheit“ von Karl Mannheim und den der „Lebenssituation“ von Charlotte Hoffmann-Riem. Beide Begriffe kennzeichnen etwas, das in der psychologischen Forschung auch als „kritische Lebensereignisse“ bezeichnet wird. Mannheims Wortschöpfung betont mit der „Verlegenheit“ das Fehlen von routinisierten Bearbeitungsmöglichkeiten für die Lage, in der sich eine Person befindet, Hoffmann-Riem den Umstand, dass ein Phänomen (wie eine schwere Krankheit) das Leben „elementar“ tangiert.
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2 Das Repertoire der Lebenslaufforschung
Glossar Biografie Jedwede Art von (mündlicher oder schriftlicher) Kommunikation, in der das Leben einer Person als größerer Zusammenhang thematisiert wird. Lebensbereich Jeder soziale Kontext (Familie, Schule, Arbeit), der innerhalb einer bestimmten Lebensphase für die Person relevant ist. Lebenslauf Die Ereignisse im Leben einer Person von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Lebensereignis Änderung eines (meist sozialen) Zustands einer Person, insbesondere Wechsel sozialer Positionen im Leben. Lebensereignisse, Typen von Lebensereignissen Unterscheidung der Lebensereignisse nach Brim und Ryff (1980) im Hinblick darauf, für wie viele Personen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ereignisse abhängig oder unabhängig vom Lebensalter eintreten. Lebenserzählung Mündliche Wiedergabe der eigenen Lebenserfahrungen (Schütze) bzw. Lebensgeschichte (Bertaux). Lebensgeschichte Von Daniel Bertaux verwendeter Begriff um die alltägliche Lebensführung als Inhalt der Lebenserzählungen stärker zu verdeutlichen. Lebenskonstruktion Die Regularität, Konstruktivität (Herstellungsweise) und Totalität (Ganzheitlichkeit), in der Menschen ihr Leben mehr oder weniger bewusst führen. Lebensphase Biologisch durch den Altersprozess grundierter und sozial formierter Zeitraum im Leben einer Person. Lebenssituation Soziale Situation, die nicht nur von augenblicklicher oder vorübergehender Bedeutung ist, sondern weiterreichende Folgen für das Leben als Ganzes hat. Lebensspanne Begriff aus der Entwicklungspsychologie (insbesondere: Paul Baltes), der das Leben als gesamten Zeitraum in Blick nimmt, um darauf lebenslange Prozesse als kontinuierliche Entwicklungen der Person in Bezug auf bestimmte Merkmale (Gewinne, Verluste, Flexibilität usf.) abzuzeichnen. Lebensverlauf Beobachtung von zeitlichen Merkmalen von Lebensereignissen im Prozess des Lebens, z. B. der Zeitpunkt und die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Lebensereignissen, die Dauer einer Ereignisepisode oder die Verweildauer in einem bestimmten Zustand (wie einer sozialen Position). Lebensverlegenheit (auch Seinsverlegenheit) Begriff von Karl Mannheim, der ausdrücken soll, dass Lebenssituationen nicht nur durch (objektiv charakterisierbare) Umstände bestimmt sind, sondern die Akteurinnen auch in ‚Schwierigkeiten‘ bringen, dass sie ihnen etwas auferlegen, das sie zu bewältigen oder
Glossar
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zu erfüllen haben, ohne dass sie dabei immer schon auf bewährte Rezepte zurückgreifen können. Lebenszeit Ausdruck von Artur E. Imhof, der damit sowohl die unterschiedliche Dauer des Lebens insgesamt und der verschiedenen Lebensphasen innerhalb des Lebens betonen soll. Lebenszyklus Begriff von Erik H. Erikson, der die Wiederkehr von Lebenskrisen und Bewältigungsaufgaben in jeder neuen Lebensphase für jede Person postuliert. Er weist damit darauf hin, dass Lebenskrisen nicht nur in der Kindheit und Jugend, sondern in Zusammenhang mit allen biologisch grundierten und sozial definierten Lebensphasen auftreten. Makro-, Meso-, Mikrokosmen Unterscheidung der Reichweite sozialer Welten durch Daniel Bertaux. Prozessstruktur des Lebenslaufs (auch: Lebensablauf) Gemeint ist damit die Erfahrungshaltung, in der eine Person den Ablauf der Ereignisse einer bestimmten Episode oder Phase seines Lebens erzählt. Statuspassage(n) Zeitraum, der mit dem gedehnten Übergang oder abrupten Wechsel des Status im Leben einer Person einhergeht (Anselm Strauss, Rene Levy). Ganz gleich, ob der Statuswechsel (z. B. von der Schule in den Beruf) im Leben einer Person zeitlich nahtlos erfolgt oder sich über eine gewisse Dauer erstreckt, befindet sich die Person in einer Art Zwischenlage oder Schwellenzustand, die sich in Einarbeitungsphasen oder Aufnahmeriten und dergleichen artikulieren kann. Übergang Zeitlich gedehnte Phase, die mit dem Wechsel von einem sozialen Zustand (Status) der Person zu einem anderen verbunden ist und von unterschiedlicher Dauer sein kann.
3
Lebenslauf und sozialer Wandel
Es liegt auf der Hand, dass die Beschäftigung mit den Lebensläufen der einzelnen Menschen und ihrer autobiografischen Erzählungen und Lebenserfahrungen etwas mit der Bedeutungszunahme von Subjektivität und Individualität in der Moderne zu hat. Gleichwohl ist der Lebenslauf – so wie wir ihn heute in den westlichen Ge sellschaften kennen – wahrscheinlich sogar ein Produkt des 20. Jahrhunderts, also der späten Moderne. Dieser ‚moderne‘ Lebenslauf ist somit nicht einfach ein Nebenprodukt des ‚Bürgerlichen Individualismus‘, sondern seine Entstehung geht einher mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die vielleicht rund 150 Jahre zurückliegen, und eher mit den Folgewirkungen der Industrialisierung in Europa und einigen anderen ‚westlichen‘ Gesellschaften zu tun haben. Diese Entdeckung, dass anhand der Untersuchung von Lebensläufen der bis in unsere Gegenwart hineinreichende soziale Wandel der westlichen Moderne verfolgt werden kann, wird hier im dritten Kapitel anhand von vier Forschungsper spektiven nachgezeichnet, die zum klassischen Repertoire der soziologischen Lebenslaufforschung gezählt werden können.
3.1
Die gewonnenen Jahre und die sichere Lebenszeit
Zu unserem Allgemeinwissen gehört heute, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Lebenserwartung von Menschen in westlichen Gesellschaften erheblich verlängert hat. So lag das durchschnittlich erwartete Lebensalter von neu geborenen Mädchen in Deutschland im Jahr 2000 schon bei 81 Jahren. Für die im Jahr 2015 Geborenen werden sogar über 83 Jahre durchschnittlich angenommen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_3
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62
3 Lebenslauf und sozialer Wandel
Aber weit wichtiger als das erwartete oder erreichte Durchschnittsalter von Frauen und Männern ist der Umstand, dass ein sehr großer Anteil der weiblichen und männlichen Bevölkerung ein hohes Lebensalter erreicht, und dadurch auch eine längere Phase des Ruhestands nach dem Erwerbsleben. Hier hat die Entwicklung schon wieder eine andere Sorge angenommen, nämlich die der Alterung der Gesellschaft, der Zunahme der Menschen in der Nacherwerbsphase im Verhältnis zu den Menschen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Der Sozialhistoriker Artur E. Imhof hat sich bereits in den 1980er-Jahren sehr intensiv mit der gesellschaftlichen Bedeutung der verlängerten Lebensläufe und den damit „gewonnenen Jahren“ (Imhof 1981) beschäftigt. Ihn interessiert die Frage, was sich an den Lebensläufen in den westlichen Gesellschaften während der letzten dreihundert Jahre „grundlegend verändert“ hat. Zurückgreifen konnte er dazu auf reichhaltiges statistisches Material, das er nicht nur aus der amtlichen Statistik beziehen konnte, die Ende des 19. Jahrhunderts in westlichen Ländern mehr und mehr standardmäßig erhoben wurde. Außerdem verwendete er für das 17. Jahrhundert Daten aus den Registern der Kirchengemeinde und konstruierte damit einen umfangreichen Datensatz aus etwa 30.000 Sterbefällen aus der Zeit von 1650 bis 1699 im Gebiet Nordhessens (Imhof 1981, S. 30–54). Zum Vergleich zieht er Veröffentlichungen zu Rate, die er zu verschiedenen Regionen Europas (Genf, Pariser Osten) für den gleichen Zeitraum gefunden hat (Imhof 1981, S. 54 ff.). Imhof betrachtet dabei den Lebenslauf vom Standpunkt der „Historischen Demographie“ (Imhof 1977). Dabei spielen nicht nur Sterbedaten, sondern auch die Daten zur Heirat, zur Geburt der Kinder und zu weiteren Lebensereignissen eine Rolle, die wir im zweiten Kapitel bereits bei den Konzepten von Brim und Ryff bzw. in den neueren Studien zu Lebensverläufen und Statuspassagen kennengelernt haben. Mit den Daten der Historischen Demografie lassen sich somit grundlegende Veränderungen der Lebensverlaufsstrukturen und Muster der biografischen Statuspassagen über größere Zeiträume beobachten. Sie umfassen in etwa die letzten dreihundert Jahre. Sehr eindrücklich ist z. B. der Vergleich der Sterbetabellen für West-Berlin aus dem Jahr 1975 und Alt-Berlin aus dem Jahr 1900 (s. Abb. 3.1). Die Sterbetabelle aus dem Jahr 1900 weist zwei wichtige Unterschiede gegenüber der aus 1975 aus. Zunächst zeigt sie für 1900 einen sehr hohen Anteil der Kindersterblichkeit in den ersten fünf Lebensjahren, die für beide Geschlechter im Jahr 1900 rund 45 % ausmachen, während dieser Anteil im Jahr 1975 auf etwa 1 % geschrumpft ist. Zudem sehen wir, dass im Jahr 1900 die Sterberaten ab der Altersgruppe 20–25 wieder ansteigen und lediglich leicht über die Altersjahre wachsen. In keiner der Fünfjahres-Altersklassen beträgt die Sterberate deutlich mehr als
3.1 Die gewonnenen Jahre und die sichere Lebenszeit
63
Abb. 3.1 Sterberaten nach Alter für Berlin. (Quelle: Imhof 1984, S. 23)
5 %. Währenddessen nehmen die Sterberaten im Jahr 1975 erst mit dem Alter 60 deutlich zu und steigen ab dem Alter 70 über 5 %. Bei den Frauen erreicht sogar ein Viertel das Alter 80 und älter. Die Sterberaten-Tafeln haben sich grafisch nahezu gedreht. Im Jahr 1900 sieht sie aus wie ein umgedrehtes ⊥, im Jahr 1975 nähert sich die Figur dem T wieder an. Die Illustration aus dem Buch von Imhof ist zwar sehr eindrücklich. Gleichwohl ist sie in ereignisanalytischer Hinsicht mit Vorsicht zu betrachten (s. dazu hier auch das Kap. 6). Denn die Grafik bildet zwar korrekt die Altersverteilung der Sterbefälle im Jahr 1975 ab. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit die jeweilige Sterbequote der abgebildeten Altersjahrgänge richtig dargestellt wurde. Dies wird allein schon dadurch ersichtlich, dass im Jahr 1975 viel mehr Frauen gestorben sind als Männer. Das hängt damit zusammen, dass die Männer dieser Jahrgänge zu einem nicht unbedeutenden Teil bereits viel früher gestorben sind; genauer gesagt: wahrscheinlich vor allem während der beiden Weltkriege. Um somit die Lebens erwartung für einen Jahrgang genau abzubilden, benötigen wir Sterbedaten für einen Geburtsjahrgang, die vom ersten Lebensjahr bis zum höchsten Altersjahr gehen, das in einem Geburtsjahrgang erreicht worden ist. Insofern darf aus der Grafik
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3 Lebenslauf und sozialer Wandel
für 1975 nicht der Schluss gezogen werden, dass die Quote der im Alter von 50 bis 55 Verstorbenen, die vielleicht 3 % der Verstorbenen im Jahr 1975 umfassen, bedeuten würde, dass von den Personen, die zwischen 1920 und 1925 geboren wurden, bis 1975 nur 3 % verstorben wären. Selbstverständlich sind von diesen Jahrgängen schon Menschen im ersten Jahr nach der Geburt verstorben, und insbesondere viele Männer im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig als Soldat während des Zweiten Weltkriegs. Um solche Verzerrungen zu vermeiden, geht man in der Lebensverlaufsforschung und auch in der Historischen Demografie (Imhof 1977) von individuellen Verläufen aus. Darum hat er zur Konstruktion seines Datensatzes für die Schwalm-Region von 1650–1699 individuelle Verlaufsdaten aus den kirchlichen Sterbeakten gebildet. Er konnte dadurch für jeden individuellen Fall angeben, wann die Person geboren wurde, wann sie geheiratet, wann sie Kinder geboren hat, wann diese gestorben sind, ob die Person verwitwet ist und wann ihr Ehepartner und letztlich auch sie selbst verstarb. Zudem hat sich Artur E. Imhof nicht nur für die Durchschnittswerte in der Bevölkerung interessiert, sondern auch dafür, wie Werte der erhobenen Daten um diese Durchschnitte streuen. Nehmen wir beispielsweise zwei Gruppen von je 20 Personen an, bei denen das durchschnittliche Heiratsalter 30 Jahre beträgt. In der einen Gruppe kommt der Durchschnittswert dadurch zustande, dass alle tatsächlich mit 30 geheiratet haben. Bei der anderen Gruppe hätten dagegen zehn mit 20 Jahren und zehn mit 40 Jahren geheiratet. Und auch dies ergibt im Durchschnitt 30. Im ersten Fall ist die Streuung gleich null, im zweiten ist sie plus/minus 10. Die wesentliche Entdeckung, die Imhof in seiner historisch-vergleichenden Untersuchung nun machte, war die, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Durchschnittsalter bei einer Reihe von Lebensereignissen wie insbesondere Heirat, der Geburt des ersten Kindes und dem Versterben deutlich weniger streut als in der Vergleichsgruppe aus der Nordhessischen Region aus dem 17. Jahrhundert. Sichere Lebenszeit bedeutet für ihn daher vor allem, dass Menschen den Eintritt dieser Lebensereignisse in einem bestimmten Alter mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit erwarten können. Die sichere Lebenszeit bedeutet dann nicht nur die Erwartbarkeit längerer Phasen individuellen Lebens, sondern auch gemeinsamen Lebens. So nimmt nach den Berechnungen von Imhof zwischen 1680 und 1950 nicht nur die „Erwachsenenzeit“ im Leben der Menschen in Deutschland (und anderen Regionen des Westens) zu, sondern auch die Ehedauer in Jahren und in Prozent der Lebenspanne sowie die nachelterliche Gefährtenschaft zwischen Mann und Frau. Für Frauen steigt auch die Lebenszeit nach der Verwitwung. Sie beträgt im Jahr 1974 sogar fast 11 % der Lebenszeit.
3.2 Die Institutionalisierung des Normallebenslaufs
65
Für Imhof sind daher nicht nur die „gewonnenen Jahre“ in rein zeitlicher Hinsicht wichtig. Sie führen aus seiner Sicht auch zu einer veränderten Erfahrung der Lebenszeit und des Alterns. Und sie gehen einher mit der Bedeutungszunahme individualisierter Nahbeziehungen im Rahmen der Familie, die heute längere Phasen ihres Lebens gemeinsam bestreitet und sich in dieser besonderen dauerhaften Nahbeziehung erfährt. Soziologisch ist das deshalb relevant, weil sich daraus wesentliche Veränderungen der kulturellen Bedeutung von Individualität, Partnerschaft, Elternschaft und Familie insgesamt ergeben. Trotz einiger Überlegungen zum Einfluss des medizinischen und sozialen Fortschritts auf die gestiegene Lebenserwartung und die Veränderungen im Alltagsleben der Menschen, geht Imhof der Frage nach den Ursachen und Bedingungen in soziologischer Hinsicht nicht systematisch nach. Sein Erkenntnisziel ist der Nachweis grundlegender historisch-demografischer Veränderungen. Zwar ist ihm durchaus auch bewusst, dass die generellen Veränderungen sich in unterschiedlichen Klassen und Schichten sowie zwischen den Geschlechtern ungleich bemerkbar machen. Sein Anspruch ist dabei aber die Beschreibung, weniger die Erklärung solcher sozialen Differenzen. Weit dezidierter widmen sich daher die Untersuchungen von Martin Kohli der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ und von Karl Ulrich Mayer der „sozialen Ungleichheit von Lebensläufen“, die wir in den nächsten beiden Abschnitten behandeln, diesen Problematiken.
3.2
Die Institutionalisierung des Normallebenslaufs
Zu den Klassikern der modernen Lebenslaufforschung zählt zweifelsfrei Martin Kohlis Aufsatz „Die Institutionalisierung des Lebenslaufes“, der 1985 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienen ist. Kohli beginnt mit einer Reihe von historisch-demografischen Befunden (u. a. auch denen von Imhof) und entwickelt die These eines strukturellen Übergangs zur Institutionalisierung des Lebenslaufs. Für uns soll es nun darum gehen, Kohlis These erstens zu rekapitulieren und zweitens seine Vorgehensweise des strukturellen Vergleichs nachzuvollziehen. Zunächst einmal fragen wir danach, wie das soziologische Konzept der Institution auf den Sachverhalt des Lebenslaufs bezogen werden kann. Dabei besteht erstens die Schwierigkeit, dass der Begriff „Institution“ in der Soziologie auf verschiedene Weise benutzt wird. In sehr ungenauer Form kann er z. B. anstelle des Begriffs Organisation verwendet werden. Er meint dann alle Einrichtungen, in denen Akteure durch die Form der Mitgliedschaft verbunden sind: etwa Unternehmen, Vereine alle Art, Parteien, Amtskirchen und Ähnliches. Kohli verwendet dem-
66
3 Lebenslauf und sozialer Wandel
gegenüber den Begriff in der wissenssoziologischen Tradition, die vor allem durch Alfred Schütz und Thomas Luckmann begründet wurde.
Hintergrund
Der wissenssoziologische und philosophisch-anthropologische Begriff der Institution
In der philosophisch-anthropologischen Tradition von Arnold Gehlen und Helmut Plessner entwickeln die Soziologen Helmut Schelsky, Niklas Luhmann sowie Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984) einen Begriff der Institution, der sich als „wissenssoziologisch“ kennzeichnen lässt. Eine Institution ist dann ein Komplex von geteilten Hintergrundannahmen, die im kollektiven Gedächtnis (s. hier Kap. 11) als Wissensvorrat „sedimentiert“ (Schütz und Luckmann 1984) wurden und situativ in der Alltagspraxis der Individuen unwillkürlich abgerufen werden können. Dabei erscheint das sedimentierte Wissen den Alltagsmenschen „objektiv“ und „legitim“. In dieser Denkrichtung bedeutet Institution einen gesellschaftsweit etablierten und selbstverständlich im Alltagsbewusstsein verankerten Orientierungsrahmen. Institutionen werden dann häufig in stillschweigend als bedeutsam unterstellten Verhaltensmustern gesehen, wie z. B., dass man am Samstagnachmittag im Vorgarten kleinstädtischer Einfamilienhäuser den Rasen mäht und die Sträucher zurechtstutzt. Bei einem solchen Orientierungsmuster würde es sich dann um eine Institution handeln, wenn die Leute in einer Nachbarschaft von der Selbstverständlichkeit einer institutionalisierten Verhaltensweise ausgingen. Es wäre dann weniger eine Norm, die sie für richtig hielten, sondern ein Faktum, von dem sie denken, dass es so passieren wird. Nun gilt es zweitens, den wissenssoziologischen Begriff der Institution auf den Sachverhalt des Lebenslaufs zu beziehen. Das zentrale Argument von Martin Kohli lautet hierzu, dass der Lebenslauf nicht nur wie in vor-modernen Ge sellschaften eine soziale Kategorie sei, sondern heute ein Strukturprinzip der gesellschaftlich vorherrschenden Lebensform. Insbesondere das Ablaufmuster des Lebenslaufs nehme die Funktion einer sozialen Institution ein, indem sie die Lebensorientierung durch ein zeitliches Regime strukturiere. Kohli bezeichnet dies auch als Verzeitlichung. Das entscheidende Kriterium dieser zeitlichen Strukturierung sei der chronologisch standardisierte „Normallebenslauf“. Diese Chronologie ergebe sich durch die Strukturbedeutung der Erwerbstätigkeit für die alltägliche und lebenszeitlich übergreifende Reproduktion des Menschen. Dementsprechend
3.2 Die Institutionalisierung des Normallebenslaufs
67
gliedere sich der Lebenslauf in eine „Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (Kindheit/Jugend; „aktives“ Erwachsenenleben; Alter)“ (Kohli 1985, S. 3). Insofern setzt die Institution des Lebenslaufs am Individuum als „eigenständig konstituierten sozialen Einheiten“ (ebd.) an. Das Individuum nehme dabei einerseits Positionen in der Gesellschaft ein und die Abfolge dieser Positionen werde als seine „Karriere“ gelesen. Andererseits richte sich das Individuum mit seinen Motiven, seinem Erleben und seinen Handlungen auf die Gesamtentwicklung seines Lebens und bilde darüber eine subjektive biografische Perspektive aus. Wenn wir nun mit Kohli den Lebenslauf als soziale Institution fassen, dann formulieren wir folgende Thesen in Bezug auf die selbstverständlichen Hintergrundorientierungen der Akteure in modernen Gesellschaften: 1 . Das Leben wird als grundlegend verzeitlicht unterstellt. 2. Die Basis dieser Verzeitlichung ist eine Chronologie des „Normallebenslaufs“. 3. Der Normallebenslauf besteht aus Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (Bildungsphase, Erwerbsphase, Ruhestand). 4. Der Lebenslauf ist um das Individuum als soziale Einheit organisiert. 5. Der Lebenslauf ist Positionsfolge (Karriere) und subjektiv-biografische Kon struktion. Lebenslauf als soziale Institution heißt somit, dass Menschen in modernen westlichen Gesellschaften diese fünf Hintergrundannahmen selbstverständlich teilen, und zwar sowohl in Bezug auf den eigenen Lebenslauf als auch auf die Lebensläufe anderer Personen. Mit Niklas Luhmann (1984, S. 418 ff.) könnten wir dies auch als selbstverständlich geteilte Erwartungserwartungen bezeichnen. Wir gehen schlichtweg davon aus (erwarten also), dass alle schlichtweg davon ausgehen (erwarten), dass dies der Fall ist. Auch der Begriff des Erwartens ist hier möglicherweise noch nicht eindeutig genug. Unter „erwarten“ soll hier verstanden werden: mit relativ hoher (subjektiver) Sicherheit annehmen, dass etwas (x) eintritt. Erwartungen erwarten hieße dann: wir nehmen alle (in unserer je individuellen Perspektive) mit relativ hoher Sicherheit an, dass alle mit relativ hoher Sicherheit annehmen, dass x eintritt. Lebenslauf als Institution hieße dann ganz konkret übersetzt: Wir (alle einzelnen Personen in ihrer je eigenen Perspektive) nehmen an, dass wir alle (als Gesamtkollektiv) annehmen, dass wir im Leben zunächst die Schule besuchen, diese abschließen und einen Beruf erlernen, in dem wir eine relativ lange Zeit arbeiten und danach in den ‚wohlverdienten‘ Ruhestand treten. Wir nehmen an, dass die meisten von uns dies annehmen, weil sie in der Erwerbstätigkeit die beste Chance sehen, ihren Lebensstandard und ihre eigenen Handlungs-
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3 Lebenslauf und sozialer Wandel
spielräume zu vermehren. Wir gehen auch davon aus, dass dies von allen individuellen Menschen in modernen Gesellschaften so gesehen wird, und zwar unabhängig von Schichtzugehörigkeit, Geschlecht oder ethnisch/nationaler Herkunft. Der Lebenslauf wäre daher eine universelle Institution moderner Gesellschaften (s. dazu auch Kap. 13, insb. Abschn. 13.4). Nun können wir zu Kohli zurückkehren und uns ansehen, wie er seine These(n) empirisch zu belegen versucht. Hier beruft er sich – ähnlich wie Artur E. Imhof – zunächst auf historische Befunde zu Veränderungen der „Lebensdauer“ (Kohli 1985, S. 4 ff.), des „Familienzyklus“ (ebd. S. 6 ff.), der „Altersgrenzen“ (ebd. S. 8 ff.) und der biografischen Perspektiven. Wir werden dabei feststellen, dass die Erwartungen der Menschen hinsichtlich der Lebensdauer, des Familienverlaufs und der Altersgrenzen, der Bildungs-, Erwerbs- und Ruhestandsphasen nicht nur subjektiv erwartet werden, sondern in der Regel tatsächlich in den erwarteten lebenszeitlichen Fenstern (erwartungsgemäß) eingetreten sind. Es handelt sich bei den Erwartungen somit nicht um bloße subjektive Konstruktionen (vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr 1999), sondern um objektiv nachvollziehbare kollektive Muster des Lebensverlaufs – so wie wir es bei den historisch-demografischen Analysen von Imhof konkret in Abschn. 4.1 schon gesehen haben. Damit erweist sich die Orientierung an der Institution des Lebenslaufs auch als „biographisch rationaler“ Modus der „Selbstdisziplinierung“ bzw. der „internalisierten Selbstkontrolle“ (Kohli 1985, S. 10 ff.). Mit dieser Beobachtung gelangen wir zur Frage nach den Ursachen und Be dingungen zurück, die es ermöglichen, dass der Lebenslauf in der modernen Gesellschaft eine strukturrelevante Institution sein kann, die leitend für die Lebens orientierungen der Menschen sein kann. Denkbar wären – und Hinweise in diese Richtung finden sich sowohl bei Imhof als auch bei Kohli –, dass die Veränderung der Moderne in Richtung einer wohlfahrtsstaatlich regulierten Moderne eine wichtige Rolle spielt, etwa im Ausbau der Sozialversicherungssysteme (Arbeits losigkeit, Unfälle, Krankheit, Ruhestand) und damit einhergehend des Gesundheits- und des Bildungswesens. Weder Imhof noch Kohli gehen dieser Bedingungskonstellation systematisch nach. Erst in späteren Forschungen wird sich Martin Kohli mit dem Einfluss von wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen auf die Alterssicherung und damit verbunden den Übergang in den Ruhestand beschäftigen. Im Kontext seiner Institutionalisierungsthese sieht er durch den Lebenslauf als soziale Institution makrogesellschaftliche Funktionsprobleme bewältigt, die er unter den Stichworten „Rationalisierung“ (Kohli 1985, S. 14), „Soziale Kontrolle“ (ebd. S. 15), „Sukzession“ (ebd. S. 16) und „Integration“ (ebd. S. 17) diskutiert.
3.2 Die Institutionalisierung des Normallebenslaufs
69
Zu einer Rationalisierung komme es dadurch, dass über die Individualisierung der Verantwortung der biografischen und insbesondere erwerbsbiografischen Entwicklung, das Subjekt selbst zu einer verstärkten Planung und Kalkulation seiner lebensgeschichtlichen Planungen und Entscheidungen herausgefordert werde. Teilweise wird dies auch als „Biographisierung“ bezeichnet. Dadurch werde zugleich ein relevanter Teil der Sozialen Kontrolle auf die Selbstdisziplinierung des Individuums verlagert. Dadurch werde die Frage der Sukzession, also der Nachfolge von Personen in Funktionsrollen, nicht mehr durch kleine Einheiten wie Familien oder Betriebe geregelt, sondern könne stärker der Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf einem freien Markt für Arbeitskräfte überlassen werden. Und letztlich werde damit auch die Integrationsfunktion von kleineren Einheiten der traditionellen Gesellschaft (wie Familie, Betrieb, Gutshof) entlastet und auf die „neue soziale Regelungsebene“ des Lebenslaufs gerückt (Kohli 1985, S. 17). Unklar bleibt aber bei diesen von Kohli postulierten Funktionen des Lebenslaufs als sozialer Institution, wie der Lebenslauf als soziale Institution selbst den Stellenwert einer stabilen gesellschaftlichen Größe erhalten und sichern kann. Denn grundsätzlich wären die genannten Prozessregulierungen der Individualisierung, sozialen Kontrolle, Sukzession und Integration auch als prekäre Dynamiken der Freisetzung des Individuums denkbar. Wir sehen hier eine mögliche Kritiklinie an Kohlis These der Institutionalisierung des Lebenslaufs, auf die wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen. Zuvor widmen wir uns noch einer zweiten Kritiklinie. Kohli spricht in seinem klassischen Beitrag eine Spannungslinie an, die zwischen dem Lebenslauf als Posi tionssequenz und „institutionellem Ablaufprogramm“ und der Biografie als subjektivem Erfahrungs- und Gestaltungsraum bestehe. Er kann sich auch unterschiedliche Auflösungen dieses Spannungsverhältnisses vorstellen (Kohli 1985, S. 20 ff.). Daraus ergibt sich jedoch die Frage, ob die Annahme einer Standardisierung strikter Lebenslaufmuster wirklich für weite Teile der Bevölkerung haltbar ist, oder ob es sich nicht eher um eine Momentaufnahme für die späten 1970er- Jahre der westeuropäischen Gesellschaften handelt, die nach einer relativ langen Phase der Nachkriegsprosperität angefertigt wurde. Wird also hier ein historisch womöglich einmaliges Muster eines sozial gesicherten männlichen Erwerbsverlaufs zum Modell des in der Moderne institutionalisierten Lebenslaufs hyposta siert? Oder gilt dieses männliche Muster bereits nicht mehr für weibliche Lebensläufe und auch nicht für die Männer aller Schichten und Klassen der Gesellschaften der letzten fünfzig Jahre gleichermaßen? Auch diese Linie der Kritik wird aus der Perspektive einer sozialen Differenzierung der Lebensläufe aufgenommen, der wir uns nun im nächsten Abschnitt zuwenden.
70
3.3
3 Lebenslauf und sozialer Wandel
Die soziale Differenzierung des Lebensverlaufs
Aus der bereits oben (Abschn. 3.3) skizzierten Lebensverlaufsperspektive haben vor allem Autorinnen wie Karl Ulrich Mayer, Hans-Peter Blossfeld und andere aus dem Umfeld der Lebensverlaufsstudie am MPI für Bildungsforschung Kritiklinien an der These der Institutionalisierung des Lebenslaufs angemeldet und die Per spektive einer sozialen Differenzierung des Lebensverlaufs entgegen gesetzt (Ma yer und Blossfeld 1990; Mayer und Schöpflin 1989; Mayer 1996). Dezidiert setzt sich Mayer (1996) in dem Beitrag „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel“ mit Kohlis Institutionalisierungsthese auseinander und zeichnet dabei ein Bild des „modernen Lebensverlaufs“ nach, das er auch als „Orthodoxie“ – d. h. als eine vor herrschende Lehrmeinung der Lebenslaufforschung bezeichnet. Mayer nimmt dabei den makrosoziologischen Gehalt der Institutionalisierungsthese besonders ernst. Für ihn handelt es sich um einen Trendbegriff und damit um eine Trendtheorie des sozialen Wandels. Mit Verweis auf den Sozialhistoriker Charles Tilly befürchtet Mayer, dass Trendtheorien aufgrund ihrer grundsätzlichen Konzeption leicht weitreichenden Fehlschlüssen unterliegen können. Insgesamt diagnostiziert Mayer sechs Probleme, von denen hier die wichtigsten diskutiert werden sollen: (a) das Problem der restringierten Theorie, (b) das Problem der Plausibilität gegensätzlicher Befunde und (c) die Probleme, die sich aus ganzheitlichen und linearen Beschreibungen für sozialen Wandel als Phänomen „en bloc“ ergäben. Wie wir bereits am Ende des Abschn. 3.2 festgestellt haben, beschäftigen sich Imhof und Kohli bei ihren Beschreibungen der historischen Wandlungsprozesse nicht primär mit Bedingungen und Ursachen, die den nachgezeichneten sozialen Wandel erklären könnten. Für Mayer ist eine Theorie jedoch dann restringiert (im Sinne von eingeschränkt), wenn sie keine ursächlichen Erklärungen anstrebt und diese bei ihrem empirischen Vorgehen außer Acht lässt. Dementsprechend bezeichnet Mayer die Befunde, auf die Imhof und Kohli in ihren Forschungen hinweisen, zunächst als gesellschaftliche „Epi-Phänomene“, als Oberflächenerscheinungen, für deren Auftreten es einer ‚tieferen‘ Erklärung bedürfe. Die Beschreibung des Phäno mens selbst sei noch keine Erklärung. Hinzu kommt für Mayer die Interpretationsoffenheit einer Reihe von Konstrukten wie Institutionalisierung, Individualisierung, Verzeitlichung, usf. Am Beispiel der Diagnose der Biografisierung, die einerseits als zunehmende Langsicht der biografischen Planung (Kohli 1985) gedeutet werde, aber andererseits auch mit einer Zunahme von Prozessen des biografischen Durchwurstelns (Inkrementalismus, Schimank 1988, 2002) in Verbindung gebracht werde, veranschaulicht Mayer das Problem, dass ganz gegensätzliche Prozesse als Ausdruck desselben Entwicklungstrends interpretiert würden. Ganz entscheidend ist für Mayer
3.3 Die soziale Differenzierung des Lebensverlaufs
71
jedoch der ganzheitliche und lineare Charakter der Bestimmung des sozialen Wandels. Gesellschaft werde dabei als eine homogene Einheit betrachtet, die sich nur in eine Richtung entwickele. Dadurch werde die Möglichkeit von Differenzierungen und von gegenläufigen Prozessen systematisch unterschätzt. Genau für diese sozialen Differenzierungen, historischen Brüche und gegen läufigen Tendenzen interessiert sich Mayer in empirischer Hinsicht. Programmatisch benennt er somit zwei Gruppen von Fragen als tragend für die Perspektive einer Untersuchung der sozialen Differenzierung des Lebensverlaufs: (a) „Welche Muster von Lebensverläufen gibt es, und wie unterscheiden sie sich zwischen Frauen und Männern, sozialen Gruppen, Gesellschaften und historischen Perioden?“ (Mayer 2001a, S. 447). Wir können dies als die Differenzierungsperspektive einer Erforschung sozialer Ungleichheit begreifen. (b) „Welche Ursachen aus der vergangenen individuellen und kollektiven Lebensgeschichte und aus den auf sie einwirkenden sozio-ökonomischen Bedingungen und Institutionen prägen Lebensverläufe? Welche strukturbildenden Folgen ergeben sich aus dem Wandel von Lebensverläufen?“ Dies lässt sich als die kausalgenetische Perspektive auf Lebensläufe und sozialen Wandel fassen. Bezieht man die erste Frage nach der sozialen Differenzierung näher auf die konkreten Studien der Lebensverlaufsforschung, dann zeigt sich eine Privilegierung bestimmter Ungleichheitsdimensionen, und zwar: (1) der Klassen und Schichten als bedeutsame Einflussgrößen der sozialen Herkunft (z. B. Mayer und Blossfeld 1990), Bildungsdauer und Bildungsverlauf als wichtiger Faktor der Platzierung im Erwerbs leben (Solga 2014) und in Bezug auf das Heiratsverhalten (Blossfeld und Huinink 1991); (2) Geschlechterungleichheit als weitere in der Moderne auf die Muster des Lebensverlaufs einwirkende Quelle der Differenzierung sowie (3) die makrosozialen Größen des staatlich-institutionellen Umfelds und der besonderen historischen Bedingungen bestimmter Geburtsjahrgangsgruppen, sprich Generationen. Die Lebensverlaufsforschung im Anschluss an Karl Ulrich Mayer nimmt somit eine kausale (ursächliche) Beziehung zwischen (1) bestimmten makrostrukturellen Größen wie dem Staat, dem historischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft, deren Prinzip der sozialen Differenzierung über die Klassenherkunft oder Geschlechterordnung und (2) der „endogenen Strukturierung“ (inneren Ordnungsmuster) der Lebensläufe von Kollektiven an.
Makrostrukturelle Größen → endogene Strukturierung Die makrogesellschaftlichen Phänomene stellen somit eine Bedingungslage aus verschiedenen Elementen dar, deren Ausprägung je nach Ausrichtung und Gewicht
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3 Lebenslauf und sozialer Wandel
der miteinander wirkenden Makrogrößen unterschiedlich sein kann. Davon abhängig seien jedoch die inneren Ordnungsmuster des Lebenslaufs. Der Begriff „Lebensverlauf“ soll dabei zweierlei verdeutlichen. Erstens handelt es sich beim Lebenslauf um ein Muster im Sinne der geordneten Reihenfolge von Ereignissen. Zweitens gibt es einen inneren Zusammenhang, der darin besteht, dass die Aus prägung bestimmter früherer Lebensereignisse sich auf die Ausprägung späterer Lebensereignisse auswirkt. So hat – wie oben bereits erwähnt – das Niveau der allgemein-schulischen Bildung einer Person einen Einfluss auf die spätere Berufsposition oder auch das Alter der Person bei der ersten Ehe oder der Geburt des ersten Kindes. Aber die Ausprägungen der frühen Lebensereignisse bleiben abhängig von den Makrogrößen der Klassenherkunft, des wohlfahrtsstaatlichen Umfelds oder des gesellschaftshistorischen Kontexts. Aber es bleibt noch eine Frage übrig. Wird bei der Rekonstruktion und Erklärung der sozialen Differenzierung der Lebensverläufe wirklich der Mechanismus des Lebenslaufs als Institution infrage gestellt? Oder zeigt sich nicht gerade in der Idee einer „endogenen Strukturierung“, dass der Lebenslauf als „soziale Institution“ im Sinne von Martin Kohli fungiert?
3.4
Generationen, Lebenslauf und historische Zeit
Mit der zuletzt im Abschnitt über die soziale Differenzierung des Lebensverlaufs erörterte Bedeutung der unterschiedlichen Erfahrungen von Generationen, also des Umstands, dass beispielsweise Menschen, die in Europa während der 1920er-Jahre geboren wurden, auf deutlich andere lebensgeschichtliche Umstände treffen als etwa 1950 Geborene, bringt uns zu der Frage, wie Lebensläufe und historische Zeitläufte miteinander verbunden sind. Es geht hierbei um die Klärung der Ver mittlung zwischen biografischer, sozialer und historischer Zeit. Diese Problemstellung ist in der Soziologie mit dem Namen Karl Mannheim verbunden. Ganz konkret ist es ein Aufsatz, der für die Bestimmung des Sachverhalts der Generation nach wie vor von zentraler Bedeutung ist. Die von Mannheit bereits in dem 1928 in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie erschienenen Probleme wecken auch heute noch das Interesse von Soziologen, Historikern oder Bildungswissenschaftlern. Und die von Mannheim vorgeschlagene Lösung einer differenzierten Theorie der Generation ist dabei zwar umstritten und trotzdem immer wieder Ausgangspunkt für Debatten über die Generationstheorie und die Untersuchung konkreter Generationen, wie zum Beispiel der in Europa, Japan, Nordamerika oder Australien prominenten 68er-Generation (z. B. Ostner 2019; Weisbrod 2019; Herma 2019a, b; Schröder 2018; Albert et al. 2019).
3.4 Generationen, Lebenslauf und historische Zeit
73
Bei der Frage nach der Generation geht es somit nicht nur um die sozialgeschichtliche Einbettung von Lebensläufen, sondern auch um die Entstehung einer kollektiven Erfahrungsperspektive und Verarbeitungsform der Personen, die als ungefähr zur gleichen Zeit Geborene einen „Generationszusammenhang“ ausbilden. Mannheim sieht als bestimmendes Moment der Generation eine Verwandtschaft in der rahmenden Perspektive der Lebensentwicklung. Dadurch, dass die jungen Menschen, die etwa zur gleichen Zeit geboren sind, vor dem gleichen historischen Hintergrund auf ihre je einzelne biografische Entwicklung schauen, stehen sie trotz individuell und gruppenspezifisch differenter Perspektiven vor den selben historischen Herausforderungen. Soziologisch interessant war für Mannheim der soziale Zusammenhalt der Generation deshalb, weil er nicht wie im Fall von konkreten Gruppen (wie Familien, Dorfgemeinschaften, Freundescliquen, usf.) auf Bekanntschaft beruht, sondern eine Vertrautheit im Geiste zwischen einander Unbekannten besteht. Dies versteht Mannheim als „sinnverwandte Lagerung“ der Angehörigen einer Generation. Mannheim macht allerdings schon in diesem frühen Aufsatz von 1928 deutlich, dass die Verbundenheit der Angehörigen einer Generation auf verschiedenen Ebenen besteht, und dass zugleich auf diesen Ebenen ausgebildete Ähnlichkeiten und Zusammenhänge auch in Spannung miteinander geraten können. Mannheims Konzept wird gerade deshalb als „differenziertes Konzept“ der Generation bezeichnet. Genauer unterscheidet er zwischen drei Ebenen der Generationsbildung: „Generationslagerung“, „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“. Die Dimensionen der „Generationslagerung“ und der „Generationseinheit“ sind dabei als Phänomene relativ präzise zu bestimmen. Was allerdings genau unter „Generationszusammenhang“ verstanden werden soll, ist bis heute umstritten geblieben. Mit „Generationslagerung“ meint Mannheim den schlichten Umstand, dass Menschen ungefähr zur gleichen Zeit geboren sind, dass sie also denselben Geburtsjahrgängen angehören. Ganz ähnlich verwendet auch die Lebensverlaufsforschung (s. oben Abschn. 3.3 sowie Abschn. 6.5) die Kategorie der „Geburtskohorte“. Eine Geburtskohorte (Ryder 1965; Müller 1978) ist die Menge von Personen in einem gegebenen Kontext (Region, Klasse, Kultur, Religion), die das Lebensereignis der Geburt zum gleichen (selben) Zeitpunkt erfahren hat. Schon für Mannheim geht von dieser Gemeinsamkeit im biografischen Anfangsereignis eine weitere Konsequenz aus. Diejenigen, die zur gleichen Zeit geboren werden, teilen in modernen Gesellschaften eine ähnliche Erlebnisschichtung. Mit Brim und Ryff gesprochen ist es daher auch wahrscheinlich, dass sie weitere Lebensereignisse im ungefähr gleichen Lebensalter und damit wieder vor dem gleichen historischen Kontext erfahren werden. Sie haben gewissermaßen den gleichen „biographischen Sitz“ in der historischen Zeit.
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3 Lebenslauf und sozialer Wandel
Ähnlich anschaulich und erfahrungswissenschaftlich greifbar ist die Kategorie der Generationseinheit. Damit sind die Gruppen von jungen Menschen gemeint, die auch nicht notwendig einander kennen müssen, aber durch Stilaffinitäten (Mode, Musikgeschmack, Konsum- und Freizeitgewohnheiten) etwas miteinander teilen. Es lässt sich für die Gruppen junger Menschen ausfindig machen, wann sie kulturgeschichtlich entstehen. Teils werden sie auch als Jugendbewegungen beschrieben, die nicht nur politisch aufgefasst werden müssen. Konkrete Beispiele wären die „Halbstarken“ der 1950er-Jahre, die „Hippies“ der 1960er, die „Popper“ der 1970er oder die „Technos“ oder „Rapper“ während der 1990er und frühen 2000er. Wie die Beispiele von Techno und Rap oder von Popper und Punks bereits zeigen, können sich mehrere verschiedene Gruppen, die Mannheim auch „Strömungen“ nennt, während einer historischen Phase gegenüberstehen. Für ihn sind deshalb gerade auch die zeitspezifischen Differenzen und symbolisch-kulturellen Konkurrenzen zwischen den Generationseinheiten aufschlussreich für die Bestimmung des Generationsphänomens. Für beide Ebenen der Generationsbestimmung können leicht Schwierigkeiten identifiziert werden. So müssen sich nicht alle jungen Leute, die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zwischen 20 und 30 Jahre alt gewesen sind, zu den „68ern“ zählen. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Geburtsjahrgängen führt also keineswegs zur Ausbildung von gemeinsamen Einstellungen und Welt ansichten. Dies wäre (auch nach Mannheim) ein erster Fehlschluss, der durch eine Form der Übergeneralisierung zustande kommt. Auch wenn es während einer bestimmten historischen Phase zu neuartigen Tendenzen der Weltsicht unter jungen Leuten kommt, muss dies nicht für alle aus dieser Altersgruppe gelten. Und die Pflege eines gruppenspezifischen Artikulationsstils (Punk, Rap, Veganismus) muss nicht auf bestimmte historische Phasen begrenzt sein. Zudem kann er auch in der Biografie rasch wechseln. So kann aus einem eifernden „Softie“ der frühen Achtziger, der andere zu gesunder Ernährung, Nicht-Rauchen und ökologischer Lebensweise aufruft, urplötzlich ein „Punk“ werden, wie die Kölner Gruppe „BAP“ in dem Lied „Müsli-Man“ besingt. Bestimmte Lebensstile und deren typischen Ausdrucksweisen trifft man zwar gehäuft in einem bestimmten historischen Zeitraum an. Aber sie scheinen nur recht lose mit der Person in gesamtbiografischer Hinsicht verbunden zu sein. Mannheim sah im Phänomen der Generation jedoch ein weiteres Element, ihren Zusammenhang. Der Generationszusammenhang war in Mannheims Verständnis durchaus ein geistiges Phänomen, das sich in einer gemeinsamen Denk- und Wahrnehmungshaltung ausdrückt. Er vermutete, dass die Angehörigen einer Jugendgeneration einen gemeinsamen Problemhorizont, ein jeweils ähnliches Gespür und Verständnis für die historisch drängenden Herausforderungen während ihrer Ju-
3.4 Generationen, Lebenslauf und historische Zeit
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gend und in ihrem frühen Erwachsenenalter ausbilden. Dieses Problemverständnis nahm Mannheim als lebenszeitlich stabiler an. Insofern enthält Mannheims Bestimmung des gesellschaftlichen Phänomens der Generation eine interessante Theorie der kollektiven und individuellen Sozialisation (s. auch gleich Kap. 5). So schreibt er: „Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien sind die in erster Linie sozialisierenden Faktoren im gesellschaftlich-historischen Geschehen. In dies muss man hineinwachsen, wenn man wahrhaft am kollektiven Geschehen teilnehmen will“ (Mannheim 1964 (1928), S. 545). Von ihnen behauptet er auch, dass „nur“ sie „wahrhaft fortsetzbar“ (Mannheim 1964 (1928), ebd.) seien. Mannheim verbindet in seinen Annahmen zum „Generationszusammenhang“ kompetenz- und praxistheoretische Argumente. Dabei zeichnet er mit den „Grund intentionen“ und „Gestaltungsprinzipien“ bestimmte Elemente des Denkens und der Sinnbildung aus. Gedanken, Erlebnisse und Gefühle – so könnte man sagen – kommen und gehen. Grundlegende Ausrichtungen (Intentionen) des Denkens und Gestaltungsprinzipien des Handelns dagegen bleiben, weil sie in der Praxis – „der Teilnahme am kollektiven Geschehen“ – wiederverwendet werden können und diesem Verständnis nach „fortsetzbar“ sind. Auf die Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien trifft man jedoch nicht mit einem Mal, sondern sie werden in einem längeren Prozess (durch Teilnahme innerhalb eines Geschehens) ausgebildet. Es ist ein Hineinwachsen – etwa so wie man in die Ausrichtungen und Bewegungsweisen einer Sportart oder des Spielens eines Musikinstruments hineinwächst; eine Schwimmerin lernt Zug für Zug im Wasser den Stil des Kraulens oder ein Saxophonist Übung für Übung eine bestimmte Melodie und deren Rhythmik. In Mannheims Generationstheorie wird zudem eine bestimmte Phase des Lebens betont, die wir bei Erikson (Abschn. 3.1) als „Adoleszenz“ kennengelernt hatten. In dieser Zeit bildet sich das Verständnis für die Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien heraus und findet einen Abschluss als Formierungstendenz des Denkens und Handelns. Aber auch mit der Dimension des Generationszusammenhangs hat uns Mannheim eine Schwierigkeit hinterlassen. Wie lassen sich diese „Grundintentionen“ und „Gestaltungsprinzipien“ erfahrungswissenschaftlich – durch konkrete Beobachtungen – identifizieren? Offenbar handelt es sich hier nicht um so greifbare Merkmale wie das Geburtsjahr (Generationslagerung) oder die Zugehörigkeit zu einer Jugendströmung (Generationseinheit). Die Soziologie spricht bei Phänomenen wie dem „Generationszusammenhang“ auch von „latenten Merkmalen“ (Merton 1957). Die Ausprägungen latenter (versteckt wirkender) Merkmale sind nicht direkt beobachtbar oder durch Interviews erfragbar. Wir können sie eventuell anhand ihrer Auswirkungen in der Welt oder auf Menschen indirekt erschließen, so etwa wie wir die Angst eines Turmspringers an dessen zöger lichem Herantreten an das Ende des Sprungbretts abzulesen glauben.
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3 Lebenslauf und sozialer Wandel
Interessant bleibt an Mannheims Generationsansatz das Verhältnis zwischen den biografischen, sozialen und historischen Zeitläufen. So bilden die Angehörigen bestimmter, zeitlich bei einander liegender Geburtsjahrgänge im Laufe ihrer je individuellen biografischen Zeit, allmählich ein Verständnis und Gespür für die Praktiken in der sozial geteilten Zeit ihrer Adoleszenz aus. Dieses Verständnis besteht vor allem in den Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien, die sie in Bezug auf den Horizont der gesellschaftshistorisch drängenden Problemlage entwickeln. Die Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien können zwischen den einzelnen Strömungen bzw. Einheiten einer Generation differieren, stehen sie doch in als Varianten der Deutung der historisch drängenden Probleme miteinander in Konkurrenz. Da Mannheim für die biografische Zeit der Adoleszenz eine besondere „Gelockertheit“ vermutet, hält er die Menschen in dieser Lebensphase für besonders aufnahmefähig im Hinblick auf die drängenden Probleme und Herausforderungen einer historisch aktuellen Zeit.
Glossar Lebensalter/sichere Lebenszeit Charakterisierung von Artur E. Imhof, die sich auf das unterschiedliche Risiko des Eintritts des Lebensendes durch plötzliche Erkrankung, Seuchen, Arbeitsbelastungen und anderer Gefährdungen bezieht. In der modernen Gesellschaft gelten die Lebensphasen bis zum Ruhestandsalter bezüglich des Todeseintritts als risikoarm bzw. relativ sicher, während bis ins 19. Jahrhundert hinein in jedem Lebensalter mit gleich hohem Risiko Umstände eintreten konnten, die zum Tod führten. Epiphänomen Damit bezeichnet Karl Ulrich Mayer Befunde, die Oberflächen erscheinungen bloß beschreiben ohne diese auf ihre Ursachen hin zu untersuchen. Ereignis, institutionalisiert Lebensereignisse, die nach Brim/Ryff für viele Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit und in Abhängigkeit zum Lebensalter eintreten. Sie sind häufig Folge sozialer Normierungen. Erklärung, kausale Erläuterung eines Zusammenhangs zwischen mindestens zwei Merkmalen, von denen eines als Ursache und ein anderes als Wirkung be trachtet wird. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung wird dabei durch ein allgemeingültiges (soziales) Gesetz erklärt. Generation Bezeichnung für eine Altersgruppe in der Gesellschaft, die durch die Geburt und das Aufwachsen innerhalb des gleichen historischen Zeitraums als miteinander verbunden angesehen wird.
Glossar
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Generationslagerung (Kohorte) Die Menge der Personen, die durch die Geburt im gleichen Jahr oder innerhalb eines durch einige Jahre gekennzeichneten Zeitraums (z. B. die 68er) bestimmt ist. Generationseinheit Soziale Gruppierung, Kreis oder Strömung, die sich als Verbindung von Gleichaltrigen durch Aktionen in einem abgegrenzten historischen Zeitraum auffällig bemerkbar macht (z. B. Hippies, Beatniks, Raver). Häufig handelt es sich um populäre Teilkulturgruppen oder um Intellektuellenkreise (z. B. die „Angry Young Men“) Generationszusammenhang Verbindender Problemhorizont (Mannheim 1928), geteilte Weltanschauung, Lebenshaltung oder ‚semantischer Rahmen‘ (Corsten 1999) der zwischen den Angehörigen einer Generation (als Gleichaltrigen mit gleichartigen kollektivbiografischen Hintergrunderfahrungen) einen mentalen, affektiven und habituellen Zusammenhang stiftet. Institutionalisierung des Lebenslaufs Wendung von Martin Kohli, der darauf hinweist, dass das mit dem modernen Lebenslauf verbundene Ablaufmuster einer Vorerwerbs-, Erwerbs- und Nacherwerbsphase zu einem selbstverständlich unterstellten Orientierungsrahmen für die individuelle Lebensgestaltung geworden ist. Normallebenslauf (tripartistisch) Weiterer Ausdruck für das dreiteilige Phasenmuster (Kindheit, Erwachsenenzeit, Alter bzw. Vorerwerb-, Erwerbs- und Nacherwerbszeit) des als selbstverständlich „normal“ geltenden Lebenslaufs der Moderne. soziale Differenzierung Gemeint ist damit die Unterteilung (Differenzierung) der Gesellschaft in unterschiedliche Handlungsbereiche (Staat, Wirtschaft, Gerichtsbarkeit, Bildungswesen, Familie usf.) sowie in sozial unterschiedlich klassifizierte Bevölkerungsgruppen (Schichten, Klassen, Geschlechter, Ethnien). In Bezug auf den Lebenslauf bestimmt Mayer anhand der Wendung „soziale Differenzierung des Lebensverlaufs“ die Unterschiedlichkeit der Karrieremuster sozial ungleicher Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf Zeitpunkte und Dauer des Eintritts von Lebensereignissen. Strukturierung, endogen Modell, nach dem der Prozess des Lebensverlaufs durch die Ausprägung früherer Lebensereignisse in seiner späteren Struktur beeinflusst wird. Zeit, historische und biografische Im Anschluss an Karl Mannheim und insbesondere von Glen H. Elder verwendete Unterscheidung. Mannheim hatte zur Charakterisierung des Zusammenhangs von historischer und biografischer Zeit bereits die Wendung von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitgen“ des Kunsthistorikers Pinder genutzt.
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Lebenslauf und Sozialisation
Das Thema der Sozialisation ist in der Soziologie wie in der Erziehungswissenschaft beliebt. Es scheint auf den ersten Blick handfest und interessant – geht es doch um die Entwicklung des individuellen Akteurs unter besonderer Berücksichtigung seiner sozialen Umwelt. Direkt anknüpfend an Karl Mannheim aus dem vorigen Abschn. (3.4) könnten wir annehmen, es ginge bei der Sozialisation genau um den Prozess, in dem das Individuum in die Gesellschaft hineinwächst. Im Sozialisationsprozess würden sich dann gewissermaßen aus der Vielfalt von Gedanken, Erlebnissen und Handlungen die Verhaltens- und Orientierungsmuster der Individuen herausfiltern, die sich bei der Entwicklung des Lebens inmitten der Gesellschaft (und ihrer Praxis) als „wahrhaft fortsetzbar“ erwiesen haben. Soweit das einfache Bild von der Sozialisationsforschung. Beim zweiten Blick erweist sich das Konzept der Sozialisation jedoch als ex trem schwierig und es erzeugt ‚falsche Hoffnungen‘. Der Grund ist folgender: Die Sachverhalte, die mit Sozialisation bezeichnet und als Prozesse der Sozialisation untersucht werden sollen, betreffen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Darum sind Sozialisationskonzepte theoretisch davon abhängig, welche grundlegenden Modelle zur Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in ihnen vorausgesetzt werden. Das betrifft dann immer auch die Frage nach dem vorausgesetzten Menschenbild des gewählten soziologischen Ansatzes (Corsten und Kauppert 2014). Im vierten Kapitel werden wir uns als Erstes mit möglichen Definitionen der Sozialisation befassen und diese auf verschiedene theoretische Ansätze der Sozialisationsforschung zurückbeziehen (Abschn. 4.1). Danach fragen wir nach dem
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_4
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4 Lebenslauf und Sozialisation
Potenzial, das die Lebenslaufperspektive als Zeit- und Prozesskategorie für die Sozialisationsforschung zur Verfügung stellen kann (Abschn. 4.2).
4.1
Eine erste Definition von Sozialisation
Das mittlerweile in der achten Auflage erschienene „Handbuch Sozialisationsforschung“ (Hurrelmann et al. 2015) zitiert eine Definition von Sozialisation aus der siebten Auflage, die nach wie vor für das Handbuch gelte (Hurrelmann et al. 2015, S. 11) und zwei (anscheinend gegensätzliche Zugänge zur Sozialisation auf einfache Weise verbinde: „Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen.“ (Hurrelmann et al. 2008, S. 25). Ausgehend von der zitierten Definition sollen in diesem Abschnitt drei Fragen erläutert und näher geklärt werden: (1) Welche kategorialen Elemente und theoretischen Annahmen gehen in die zitierte Definition ein? (2) Aus welchen zwei (als unterschiedlich vorausgesetzten) definitorischen Zugängen wurde die zitierte Definition zusammengesetzt und in welchen Aspekten gehen sie als einzelne über die zitierte hinaus? (3) Worin besteht das soziologisch-theoretische Grundproblem bei der Definition von Sozialisation und wie spiegelt sich dieses in den Varianten der Sozialisationstheorie? Alle drei Fragen sind komplexer Natur und sollen daher jede für sich erst einmal erläutert werden.
Definitionselemente und theoretische Annahmen Wie in jede andere Definition gehen in den Vorschlag von Hurrelmann, Grundmann und Walper weitere Begriffe (Kategorien) sowie grundlegende Annahmen (Vermutungen) ein. Dazu werden zunächst die wesentlichen Begriffselemente aufgezählt: (i) Prozess, (ii) wechselseitige Interdependenz, (iii) biopsychische Grundstruktur, (iv) individueller Akteur, (v1) soziale und (v2) physische Umwelt, (vi) dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen, (vii1) persönliche und (vii2) kollektive Ebene. Mit den sieben Definitionselementen werden erstens die Existenz von Sachverhalten (wie: individuelle Akteure, biopsychische Grundstruktur, Umwelt, Dispositionen), zweitens die Existenz von Wirkungs-, Abhängigkeits- und Prozesszusammenhängen und drittens die Unterscheidbarkeit von Prozess- und Sachverhaltsdimensionen postuliert.
4.1 Eine erste Definition von Sozialisation
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Mit der Existenz von Sachverhalten wird bezeichnet, dass in der Definition bestimmte Elemente als tatsächlich gegebene Einzelheiten vorausgesetzt werden. Wenn vom individuellen Akteur die Rede ist, dann wird als Einzeltatsache unterstellt, dass der Mensch als Einzelner, als Individuum handelt. Wenn von biopsychischer Grundausstattung die Rede ist, dann wird als Tatsache unterstellt, dass jeder Mensch als ein Lebewesen mit einer je individuellen psychischen Grundausstattung versehen ist. Außerdem wird angenommen, dass sich sowohl die physische als auch die soziale Umwelt jeweils als einzeln existierende Einheit der Welt identifizieren lässt. Und nicht zuletzt werden den Menschen als einzelnen Handelnden sogenannte Dispositionen (Verhaltensanlagen) zugerechnet. Mit dieser klaren Benennung von einzelnen Sachverhalten geht eine theoretische Grundentscheidung einher, die sich dann auch auf der Ebene der Zusammenhangsannahmen widerspiegelt. Es gibt zwischen den Sachverhalten einen kausalen Wirkungszusammenhang und die genannten Sachverhalte werden als kausal voneinander abhängig unterstellt. Dies besagt insbesondere der Begriff der „Interdependenz“. Auch die Kombination aus „Prozess“ und „Disposition“ legt nahe, dass in zeitlicher Hinsicht eine Kausalitätswirkung unterstellt wird. Die bereits zu einem frühen Zeitpunkt gegebene biopsychische Ausstattung und die Anfangsbedingungen der Umwelt wirken aufeinander ein und ergeben im Prozess, also während einer zeitlich andauernden Wechselwirkung, die sich später verfestigenden Dispositionen der Person (Mensch als Einzelwesen) und der Kollektive (Zusammenschlüsse von Menschen). An der Definition von Hurrelmann, Grundmann und Walper wird deutlich, weshalb die Bestimmung des Phänomens der Sozialisation viel schwieriger ist als auf den ersten Blick vermutet. So scheint es zwar einerseits darum zu gehen, den Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen auf die Entwicklung des einzelnen Menschen zu untersuchen, andererseits sind dabei jedoch eine Reihe von Faktoren beteiligt, die sich nicht nur wechselseitig beeinflussen, sondern auch für sich betrachtet komplizierten Gesetzmäßigkeiten unterliegen. So bedürfte es jeweils einer viel präziseren Charakterisierung, was etwa unter individuellem Akteur, biopsychischer Grundausstattung, Disposition, sozialer und physischer Umwelt oder den individuellen und kollektiven Ebenen zu verstehen sein soll. Dazu sind Begrifflichkeiten, Annahmen und Erklärungsmodelle aus den Biowissenschaften, Neurowissenschaften, der Psychologie, Soziologie, aber auch weiterer Naturwissenschaften wie Physik oder Chemie erforderlich. Und ob mit der Definition von Hurrelmann und anderer tatsächlich die gesamte Bandbreite der Gesetzmäßigkeiten erfasst wird, die innerhalb der in der Definition bezeichneten Phänomene und deren möglichen Zusammenhängen wirken, ist sehr fraglich. Betont wurden in ihr die Interdependenzen und die Herausbildung von Dispositionen. Aber ist wirklich alles in-
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4 Lebenslauf und Sozialisation
terdependent? Oder funktioniert nicht eine Reihe von Prozessen in dem betrachteten Gesamtzusammenhang einfach für sich, wie z. B. das Organsystem des Körpers, sein Wachstum, sein Altern? Stehen die Einheiten des Organismus, der Psyche und der sozialen wie physischen Umwelt direkt miteinander in Kontakt und wirken sie unmittelbar aufeinander ein? Oder funktionieren diese Prozesse nicht wesentlich vermittelter? Es ist also einigermaßen wagemutig, innerhalb einer relativ kurzen Definition einen derart komplexen Gesamtzusammenhang erklären zu wollen.
Zur Zusammensetzung der Definition Wir gehen der ‚Geschichte‘ der „einfachen, aber verbindenden“ Definition nun noch etwas weiter nach. Verbinden soll sie frühere Definitionen, die von den Autoren Hurrelmann (2002) und Grundmann (2006) stammen. Hurrelmanns Definition findet sich in seinem Buch „Einführung in die Sozialisationstheorie“ und Grundmanns Bestimmung in dem Werk „Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie“. Beide Begriffsabgrenzungen sind also neueren Datums und blicken auf eine rund hundertjährige Geschichte des Sozialisationsbegriffs zurück, zieht man die soziologische Theoretisierung dieser Kategorie seit Durkheim (1984b [1902/1903]) zurate. Und auch der ähnlich klingende Begriff der „Vergesellschaftung“ wurde von Georg Simmel bereits 1908 in seinem soziologischen Hauptwerk „Soziologie“ als „Formen der Wechselwirkung“ bezeichnet. Und im Vorwort der letzten Auflage des Handbuchs Sozialisationsforschung kommen Hurrelmann, Bauer, Grundmann und Walper zu dem Schluss, dass die bereits 2008 formulierte definitorische Per spektive auch durch die Erkenntnisse der neueren neurobiologischen und humangenetischen Forschungen bestätigt werde. Beginnen wir also mit Hurrelmanns früherer Definition. Sie lautet: „Sozialisation bezeichnet […] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundlagen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden“. (Hurrelmann 2002, S. 15)
In der ‚alten‘ Definition von Hurrelmann erkennen wir einiges wieder. Sie enthält mehrere Umschreibungen der „biopsychischen Grundausstattung“ wie „der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus“, „natürli-
4.1 Eine erste Definition von Sozialisation
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che Anlagen“, „körperliche und psychische Grundlagen“. Diese werden hier als ‚innere Realität‘ bezeichnet. Dieser inneren Realität werden physische und soziale Umwelten als ‚äußere Realität‘ gegenübergestellt. Allerdings klingen einige Formulierungen der ‚alten‘ Definition etwas kurios. So versteht sich nicht von selbst, ob der Prozess vom „menschlichen Organismus“ zur „handlungsfähigen Persönlichkeit“ auf ein und derselben Entwicklungslinie verläuft. Schließlich entwickelt und verändert sich der menschliche Organismus selbst über die gesamte Lebensspanne eines Menschen. Und wird aus einem Organismus tatsächlich eine Persönlichkeit? Oder meinen wir mit Persönlichkeit nicht im Allgemeinen etwas, das sich vom Organismus abhebt und unterscheiden lässt? Können sich Menschen nicht in sehr vielen ihrer organisch-körperlichen Merkmale gleichen, aber trotzdem eine sehr unterschiedliche Persönlichkeit aufweisen? Liegt in Hurrelmanns früherer Definition somit vielleicht etwas vor, was man in der Wissenschaftstheorie „Kategorienfehler“ oder „Ebenenverwechslung“ nennen würde? Hinterfragbar ist an der ‚alten‘ Definition ebenso, weshalb die körperlichen und psychischen Grundlagen zur ‚inneren Realität‘ verbunden und dadurch sehr klar der sozialen und physischen Umwelt als ‚äußere Realität‘ gegenübergestellt werden. Wenden wir uns nun Grundmanns früherer Definition zu: „Bezogen auf die Akteure sind mit Sozialisation all jene Prozesse beschrieben, durch die der Einzelne über die Beziehung zu seinen Mitmenschen sowie über das Verständnis seiner selbst relativ dauerhaft Verhaltensweisen erwirbt, die ihn dazu befähigen, am sozialen Leben teilzuhaben und an dessen Entwicklung mitzuwirken. […] Die Bezugnahme von Akteuren vollzieht sich nicht immer in konkreten Sozialbeziehungen, sondern findet auch in formalen Bildungskontexten und in unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen statt. Dabei gilt, dass Sozialisation die Existenz zwischenmenschlicher Beziehungen sowie den Willen zu deren Weiterentwicklung stets voraussetzt. Erst dadurch wird der Einzelne zum Handeln befähigt und das gemeinschaftliche Gestalten der sozialen und natürlichen Umwelt ermöglicht“. (Grundmann 2006, S. 38–40)
Im ersten Satz bestimmt Grundmann Sozialisation zunächst „(b)ezogen auf die Akteure“. Damit werden vier Sachverhalte ausgedrückt: (i) Akteure stehen in Beziehungen zu Mitmenschen (anderen), (ii) sie entwickeln ein Verständnis ihrer selbst, und (iii) dadurch erwerben sie dauerhaft abrufbare Verhaltensweisen, die (iv) ihnen eine funktionstüchtige Mitwirkung am sozialen Leben ermöglichen. Ähnlich, aber auch deutlicher als Hurrelmann mit der Formel von der „Aneignung und Auseinandersetzung“ betont Grundmann, dass der Erwerb der (sozial funktionalen) Verhaltensweisen aktiv vom Individuum – nicht zuletzt in einem Verhältnis zu sich selbst – hervorgebracht wird. Weniger explizit geht Grundmann auf bio-
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physische und psychische Voraussetzungen oder Anlagen des Individuums ein. Der einzelne Mensch ist stets schon als Subjekt gesetzt, das in Beziehungen zum Akteur steht und etwas ausbildet, ohne dass näher erläutert wird, welche psychischen oder biophysischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Auch im zweiten zitierten Teil der Definition fehlt dieser Aspekt. Allerdings differenziert Grundmann die Art der Relationen (Verhältnisse), in denen sich das Individuum zur Gesellschaft befindet. Er redet einerseits von „konkreten Sozialbeziehungen“, die offenbar in direkten Interaktionen zwischen einzelnen Akteuren bestehen. Wir können sie als „interpersonale“ Relationen bezeichnen, als Beziehungen einer einzelnen Person zu einer oder mehreren anderen Personen. Daneben spricht Grundmann davon, dass sich Individuen auch in formalen Kontexten und in Beziehung zu „unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen“ befinden. Wir bezeichnen diese Beziehungen hier im Weiteren als „transpersonal“. Sie begründen Verhältnisse unpersönlicher Art, in denen, wie es Max Weber einmal bezeichnet hat, „ohne Ansehen der Person“ gehandelt wird. In diesen sozialen Verhältnissen kommt es nicht darauf an, welche konkrete Person eine bestimmte Rolle oder Funktion ausübt oder eine spezifische Position einnimmt. Transpersonale Verhältnisse sind Verbindungen zwischen Akteuren und den daraus entstehenden sozialen Prozessen, in denen das Individuum als Person austauschbar gilt und ihre Besonderheiten vernachlässigt werden können. Es geht dort um die Verkettung von Verhaltensweisen, Beiträgen oder Leistungen im Rahmen mehrpersonal vollzogener Prozesse wie etwa der Herstellung von Gütern, ihrem Verkauf als Waren und ihrer Konsumtion durch Haushalte bis hin zur Entsorgung ihrer Reste (Müll). Interessant ist der dritte Aspekt, den Grundmann am Schluss seiner Definition hervorhebt. Er spricht von den Notwendigkeiten, (i) die Existenz zwischenmenschlicher Beziehungen und (ii) den Willen zu ihrer Aufrechterhaltung voraussetzen zu müssen. Er behauptet dabei, dass die Existenz der Beziehung und der Wille der Aufrechterhaltung eine doppelte Funktion erfüllen: sie befähigten den Einzelnen zum Handeln sowie zur Gestaltung von sozialer Umwelt und Natur durch eine Gesellschaft/Gemeinschaft. Die ‚älteren‘ Definitionen von Hurrelmann und Grundmann unterscheiden sich somit in zwei Hinsichten. Erstens ist bereits die ältere Definition von Hurrelmann sehr klar im Rahmen eines Modells formuliert, das man heute oft „bio-psycho- sozial“ nennt (s. dazu Kap. 12). Grundmanns frühere Definition überschreitet dagegen den traditionellen soziologischen Rahmen nicht. Ihn interessiert der Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum und die Aneignungsleistungen des I ndividuums beim Aufbau sozialer Handlungskompetenz. Zweitens differenziert Grundmann daher die soziologische Perspektive, indem er zwischen unmittelbaren Beziehungen in kleinen sozialen Einheiten (Mikroformat) und makroformatigen Verknüp-
4.2 Der Sozialisationsbegriff in der soziologischen Tradition
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fungen des Individuums mit größeren und unpersönlichen sozialen Einheiten (Bildungssystem, Arbeitswelt, Betriebe, Märkte, usf.) unterscheidet.
4.2
er Sozialisationsbegriff in der D soziologischen Tradition
Wir werden hier im vierten Kapitel zunächst im begrenzteren Rahmen des soziologischen Konzepts der Sozialisation bleiben. Wir werden dazu vor allem betrachten, worin der Prozess der Sozialisation aus soziologischer Perspektive besteht, welche gesellschaftlichen Instanzen auf diesen Prozess einwirken und wie (durch welche Tätigkeiten, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Orientierungen) sich das Individuum innerhalb der Sozialisation auf die gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse sowie auf sich selbst als ein soziales Wesen bezieht. Dazu beschäftigen wir uns nun mit einigen Antworten, die aus der (teils sehr frühen) soziologischen Tradition stammen. Es geht hier nicht darum, die verschiedenen Ansätze zur Klärung des Sozialisationskonzepts in ihrer theoriegeschichtlichen Perspektive nachzuzeichnen (dazu Veith 2015), sondern zentrale Theorieentscheidungen und darauf aufbauende konzeptionelle Pfade aufzuzeigen.
Sozialisation als soziale Tatsache Die erste theoretische Entscheidung, mit der wir uns beschäftigen, stammt von Emile Durkheim, dem Begründer der „soziologischen Methode“ (Durkheim 1984a [1895]). Sie besteht in dem methodischen Postulat „soziale Tatbestände aus sozialen Tatbeständen“ zu erklären. Wenden wir dieses Postulat auf den Sachverhalt der Sozialisation an, so wäre diese als „sozialer Tatbestand“ aufzufassen und aus anderen sozialen Tatbeständen zu erklären. Es ist offensichtlich, dass sich Durkheims theorie-methodische Strategie diametral von Hurrelmanns Vorschlag unterscheidet. Möchte Hurrelmann biophysiologische (vor allem genetische), psychische (insbesondere neuropsychologische) sowie Tatbestände aus der Natur und technischen Welt (physische Umwelt) neben den sozialen Tatbeständen in ein Gesamtmodell einbauen, begnügt sich Durkheim mit der Beobachtung der Menge der sozialen Tatbestände. Insofern strebt Hurrelmann nach einer Art vollständiger Erklärung, während Durkheim die Erklärung rahmend einschränkt. Interessant ist zudem, dass der erste Teil der ‚alten‘ Definition von Grundmann weitgehend mit Durkheims Methode kompatibel ist. Es geht ihm um die Beobach-
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tung der Prozesse, die dazu führen, dass der Mensch befähigt wird, am sozialen Leben teilzunehmen. Der Mensch wird dabei aus Durkheims Perspektive insofern als soziale Tatsache betrachtet, als seine soziale Handlungsfähigkeit ins Zentrum der Beobachtung gerückt wird. In seiner Studie „Erziehung, Moral und Gesellschaft“ entwickelt Durkheim (1984b [1902/1903]) selbst eine Art Stufenmodell der Sozialisation. Er identifiziert dazu „Elemente der Moralität“, die beim Kind im Laufe seiner Entwicklung ausgebildet werden würden. Bei der Moralität handele es sich um ein Kollektivbewusstsein – also ebenfalls um einen sozialen Tatbestand. Das Kollektivbewusstsein fasst er dabei im Unterschied zum individuellen Bewusstsein und in Differenz zum Bewusstsein vieler einzelner auf. Der Moralität als Kollektivbewusstsein lägen „unpersönliche Ziele“ zugrunde (Durkheim 1984b [1902/1903], S. 111). Sie speisten sich aus der „geistigen Kraft“ der „Autorität“ (Durkheim 1984b [1902/1903], S. 94), die den „Moralregeln innewohnt“ (ebd.). Insofern bilde das Kind im Laufe seiner schulischen Entwicklung (auf diesen Lebensabschnitt konzentriert sich Durkheim in seiner Studie) zunächst einen „Geist der Disziplin“, in dem es einen Sinn für die Höherwertigkeit der Autorität ausbilde. Als zweites Element sieht Durkheim die Fähigkeit des „Anschlusses1 an die sozialen Gruppen“, dem als drittes der „Geist der Autonomie“ hinzugefügt wird. Aus dieser Perspektive sieht Durkheim als Bedingung an, dass im Prozess der Sozialisation ein Verständnis für Disziplin und den Anschluss an soziale Gruppen erworben sein muss, bevor das Kind zu einem Verständnis für das gleichwohl moralische Bewusstsein der Autonomie gelangen könne. Zu erklären ist für Durkheim allerdings noch, wie – genauer auf der Grundlage welcher sozialen Tatbestände – es zur Ausbildung der verschiedenen Elemente der Moralität beim Kinde kommen kann. Durkheim verfügt über zwei generelle Antworten auf diese Frage: Moralische Dichte und kollektive Praktiken. Das Konzept der „moralischen Dichte“ führt er schon in den „Regeln der soziologischen Methode“ ein. Gemeint ist damit die Intensität (Häufigkeit und Nähe) der sozialen Kontakte innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft. Je höher die moralische Dichte, desto wahrscheinlicher sei es, dass das Individuum von der geistigen Kraft der moralischen Regeln der Gruppe erfasst werde. Das Kollektivbewusstsein, oft auch als „Kollektivgefühl“ bezeichnet, wird durch die Praktiken einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft hervorgebracht. Einen zentralen Erklärungsmechanismus sieht Durkheim (1981 [1913]) in der sozialen Magie gesellschaftlicher Rituale (Feiern jedweder Art wie Trauerfeiern, Hochzeiten, Gedenktage, usf.). Ziel des Rituals sei die Objektivierung kollektiver Symbole, denen von der Gesellschaft Im französischen Original heißt es „attachement“, was sich besser mit „Verbundenheit mit der Gruppe“ übersetzen ließe. 1
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Achtung entgegengebracht werden soll (Heilige Tiere, Ikonen, Totems, Embleme, Uniformen, Gewänder, Statusfiguren). Durch die Rituale gelinge einerseits die Auszeichnung gewisser Symbole (Gegenstände) als überpersönlich gegeben und höherwertig anzuerkennen sowie andererseits die Einübung der einzelnen Mitglieder in das Kollektivbewusstsein der Gruppe. Solche Rituale finden sich ebenso in der Schule, etwa bei der morgendlichen Begrüßung des Lehrers in der ersten Unterrichtsstunde durch die Klasse. Und rituelle Praktiken wie Gesten, Meldeketten oder Sitzkreise lassen sich auch heute noch als typische kollektivsymbolische Elemente des Grundschulunterrichts nachweisen (vgl. Audehm 2011; Audehm et al. 2018). Durkheims Theorie setzt implizit voraus, dass sich der individuelle Akteur von der überindividuellen Kraft des Kollektivbewusstseins bzw. Kollektivgefühls anrufen und erfassen lasse. Aber warum sollte dies so sein? Wird dem Individuum hier etwa eine Art Autoritätshörigkeit unterstellt? Handelt es sich um eine „over- socialised conception of man“ (Wrong 1961)?
Sozialisation als symbolische Interaktion An Durkheims Theorie der Sozialisation sind zwei Elemente interessant: Die Objektivierung von kollektiven Symbolen und die sequenzielle These, dass der Ausbildung des Autonomieverständnisses die Entwicklung eines Autoritätsverständnisses und die Verbundenheit mit der Gruppe vorangeht. Ganz ähnlich hat sich auch der US-amerikanische Sozialpsychologe und Soziologe George Herbert Mead mit der Bedeutung signifikanter Symbole und der Figur des Anderen bei der Ausbildung der Ich-Identität befasst. George Herbert Mead gilt wie William I. Thomas oder Ezra Park als Vertreter der Chicago School. Stärker als die beiden anderen war Mead mit sozialphilosophischen Grundlagen beschäftigt. Schon seit dem Beginn seiner Laufbahn hat er sich nach philosophischen und psychologischen Erklärungen des Selbst gesucht. Im Jahr 1910 publizierte er im „Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods“ den viel beachteten Aufsatz „What Social Objects must Psychology presuppose?“. Es handelt sich dabei um einen Beitrag, den er als Vortrag bereits 1909 auf einem Treffen der Psychological Association gehalten hatte. Schon in diesen Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert Mead die psychologische Vorstellung, dass das Bewusstsein oder in neueren Traditionen – das Selbst – als eine „islanded phase of reality“ (Mead 1910, S. 174 f.) angesehen werde. Aus seiner Sicht handelt es sich beim Bewusstsein bzw. beim Selbst um etwas, das im Rahmen eines sozialen Prozesses des Miteinander-Handelns ausge-
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bildet werde. Er war dabei an einer Erklärung interessiert, die er „sozial- behavioristisch“ nannte. Der Behaviorismus ist eine psychologische Lerntheorie, die das Lernen und die kognitive Entwicklung menschlicher Individuen (Organismen) durch Reiz-Reaktions-Ketten und daraus folgenden Anpassungsleistungen erklärt. Im Großen und Ganzen entwickelt sich der Mensch nach dieser Vorstellung aufgrund von Anpassungen an positive vs. negative Sanktionen, an Belohnungen oder Bestrafungen. Das Verhalten bzw. die Reaktionsweise, die belohnt wird, behält er bei, Verhalten, das bestraft wird, legt er ab. Mead (1934, S. 81 ff.) geht allerdings über das einfache (direkte) Reiz- Reaktions-Modell hinaus. Menschen gehören ihm zufolge einer Art von Lebewesen an, die in der Lage seien, unmittelbare Reiz-Reaktions-Ketten zu unterbrechen. Sie zeichneten sich durch Verzögerungen, Abwarten und Nicht-Reaktion aus. Dabei könnten sie auch neue Reaktionen zeigen. Ein wichtiges Element, das sich beim Menschen ausbilde sei eine besondere Form von Sprache oder wie es Mead zunächst nennt, der vokalen Geste. Rudimentär gestische Reaktionen, wie Drohgebärden, Laute, Unterwerfungsgesten ließen sich bei vielen Tierarten beobachten, insbesondere die vokale Geste (Bellen bei Hunden, Zwitschern der Vögel, usf.). Beim Menschen komme es jedoch zur Ausbildung einer Sprache, die durch signifikante Symbole gekennzeichnet sei. Das Besondere am signifikanten Symbol sei, dass es für alle Beteiligten an einer Handlungssituation dieselbe Bedeutung besitze. Diese Fähigkeit von Sprecher und Hörer, etwa beim Äußern des Wortes „Stuhl“ die gleiche Bedeutung zu assoziieren, setze eine Distanzierung von der unmittelbaren Handlungssituation voraus. Während in Reiz-Reaktionsketten, in denen Lebewesen, die den vokalen Reiz wahrnehmend unmittelbar (instinktiv oder konditioniert) mit Reaktionen antworteten, könne sich der Mensch von solchen angeborenen oder fest konditionierten Reaktionen auf die Reize distanzieren (Mead 1934, S. 68 f.). Beim Menschen setze das Lernen insofern mit Hilfe eines weiteren Mechanismus’ ein, den Mead mit „taking the attitude of the other“ umschreibt. Der Mensch sei also zu einer Perspektivenübernahme in der Lage. Dies meint Mead jedoch nicht im Sinne eines psychisch-emotionalen Hineinversetzens in das Innere der anderen Person. Es geht nicht darum, die Gedanken oder Gefühle des oder der anderen irgendwie zu erahnen oder zu erfühlen. Mead bleibt Behaviorist – also Verhaltensbeobachter – indem er sich ganz auf der Basis des Handelns, des praktischen Tuns der Menschen, in seiner Analyse zu bewegen versucht. Er setzt also zur Erklärung der Perspektivenübernahme als einem kognitiven Prozess nicht schon voraus, dass der Mensch diese Fähigkeit irgendwie schon innerlich besitzt (etwa in Form von angeborenen Ideen). Vielmehr sei die Perspektivenübernahme Folge eines sozialen Lernens im Rahmen einer gemeinsamen Praxis.
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Die Möglichkeit der Perspektivenübernahme beruht nach Mead somit darauf, dass Menschen im gemeinsamen Tun nicht immer dieselbe Position einnehmen, sondern verschiedene Positionen einnehmen. Insofern können sie beobachten, dass sie in ihrer jetzigen Handlung die Position einnehmen, die ihr Gegenüber in einer früheren Handlung innehatte. Der Mensch kann dies, indem er die Verkettung von Handlungen zu einem Handlungsprozess wahrnimmt, in dem er selbst eine Teilhandlung ausübt. Für Mead ist insofern der Ausgangspunkt eine kooperativ ausgeübte Praxis. Das können z. B. der gemeinsame Bau einer Hütte, das Segeln einer Mannschaft auf einem Schiff oder die miteinander vollzogene Jagd eines Tieres sein. Dadurch, dass der Mensch in der Lage sei, einzelne Handlungen als Teile einer sozial organisierten Gesamthandlung zu erfassen, gelänge es ihm, eine Akteursperspektive mit der Teilhandlung zu verknüpfen. Insofern könne der Mensch vorwegnehmen, was ein anderer Akteur aus der Perspektive der von ihm gerade ausgeübten Handlung eine Reaktion erwarte – er nimmt die Perspektive des anderen ein. Dies ermöglicht ihm einen reflexiven Zugang auf sein eigenes Handeln (Mead 1934, S. 100 f.). Diesen reflexiven Zugang bezeichnet Mead als die Perspektive des „ME“ – die „Mich-Perspektive“. Demgegenüber ergebe sich die „Ich-Perspektive“ aus den Impulsen, die vom Handelnden selbst in der Situation spontan erfahren werden. Das menschliche Selbst könne somit zwischen den Perspektiven des „Mich“ (ME) und des „Ich“ (I) unterscheiden. Das signifikante Symbol ist dann eine Geste, die sowohl aus der Perspektive des „Mich“ als auch aus der Perspektive des „Ich“ die gleiche Bedeutung besitzt. Dadurch eröffne sich dem Selbst die Möglichkeit der „Objektivierung von Bedeutungen“, von Reizen als „signifikanten Symbolen“ (Mead 1934, S. 173 ff.). Damit hat Mead jedoch zunächst nur eine grundlagentheoretische (sozial- und ich-philosophische) Idee für ein Verständnis vorgelegt, nach dem Menschen aus einer Verbindung von I-Me-Perspektiven den praktisch einheitlichen Gebrauch von Symbolen, Bedeutungen und Sprache ausbilden. Um zu zeigen, dass sich sein Ansatz nicht nur in grundlagentheoretischen Überlegungen erstreckt, untersucht er in konkreter, entwicklungstheoretischer Perspektive auch die Formen und Fähigkeiten von Kindern an Spielen teilzunehmen und deren Bedeutung auf der Basis spezifischer Modi der Rollenübernahme zu erfassen. Dazu unterscheidet er die Formen des Rollenspiels und des Wettkampfspiels (Mead 1934, S. 152 ff.). Die Form des Rollenspiels wird als früherer Prozess im Rahmen der Sozialisation angesehen. Sie zeigt auf elementare Weise die Fähigkeit des Kindes, sich von der eigenen (zunächst egozentrischen) Handlungsperspektive zu lösen. Dadurch, dass das Kind die (kooperative) Praxis mit anderen als komplexe Aufeinanderfolge von Teilhandlungen beobachtet, lernt es einzelne Teilhandlungen aus dem Handlungsfluss herauszulösen und mit Akteuren und deren Einzel-
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rollen zu verknüpfen. So lernt es, typische Handlungen der Eltern in Verbindung mit den konventionellen Rollen der Mutter und des Vaters zu beobachten. Spielerisch kann es sich dann auch in die Rolle des Vaters oder der Mutter oder in die (eigene) Rolle des Kindes begeben. So kann es mit anderen Kindern z. B. die Situation spielen, wie sich die Eltern verhalten, wenn das Kind das Zimmer nicht aufgeräumt hat oder wenn sie gemeinsam frühstücken. Zu diesen Rollenspielen gehören etwa uns heute bekannte Spiele wie ‚Kaufladen‘, in der die Rollen des Käufers und Verkäufers eingenommen werden, oder das Spiel mit Puppen. Auch abweichende Rollenmuster können in Spielen wie Räuber und Gendarm ausprobiert werden. Mit der spielerischen Einnahme der Rollen entsteht ein praktisches Verständnis für soziale Identitäten. Anhand Meads Untersuchung des Rollenspiels lässt sich eine weitere Besonderheit des Sozialisationsprozesses erfassen. Durch die Möglichkeit, Rollen und die damit verbundenen sozialen Identitäten zu wechseln, entsteht die Fähigkeit, zwischen Rolle und Person zu unterscheiden. Denn die Bedeutung der Rolle wird als etwas wahrgenommen, das unabhängig von der Person gelten kann. Wenn z. B. der Bruder die Mutter spielen soll, muss er sich so wie sie z. B. gegenüber der kleinen Schwester verhalten, die das Kind spielt und die große Schwester könnte die Rolle des Vaters einnehmen. Außerdem erfassen die Kinder in diesem Rollenspiel den Unterschied, wann jemand wirklich eine Rolle einnimmt und wann es nur ‚gespielt‘ ist. Im Spiel ist nämlich das Kind nicht mit der vollen Autorität der fiktiv eingenommenen Rolle ausgestattet. Gleichwohl bleibt das Kind im Rollenspiel noch stark – mimetisch, d. h. Teilhandlungen nachahmend – an konkreten Ausübungen der Rolle fixiert. Im Spiel behält jeder die Rolle und wechselt somit in der Regel nicht die soziale Position. Zwar können nach ein oder zwei Spielrunden die Akteure die Rollen wechseln, jedoch nicht innerhalb ein und derselben Runde. Dies ist im Wettkampfspiel systematisch anders. Das Wettkampfspiel ist eine komplexe Organisation von Positionen, in der es möglich ist, dass individuelle Spieler während des gleichen Spiels Positionen wechseln. Das hängt von der gemeinsamen Strategie und den Situationen ab, die im Verlauf des Spiels entstehen. So kann in einem Mannschaftsspiel (wie Fußball), Aufgabe eines offensiven Spielers sein, abzusichern, wenn es zur Strategie gehört, dass defensive Spieler bei bestimmten Spielständen oder Situationen mit in die Offensive aufrücken. Wettkampfspiele stellen insofern komplexere Formen der Kooperation dar, in der es mit dazu gehört, dass individuelle Spieler in der Lage sein müssen, während des laufenden Spiels Positionen und Rollen zu wechseln. Sie müssen dazu fähig sein, die Gesamtorganisation des Spiels, d. h. die verschiedenen möglichen Positionen und Züge aller am Spiel beteiligten Rollen zu überblicken, um den Fortgang einer Situation zu erahnen. Während es im Rollenspiel um das Verständnis für den Aktions-
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radius einer bestimmten Rollenfigur geht, könnte man die Bestimmung der Rollenbedeutung als figürlich bezeichnen. Im Wettkampfspiel ergibt sich die Bedeutung der sozial erwarteten Handlung relational, aus der Menge aller zu einem bestimmten Zeitpunkt möglichen Handlungszüge. Meads Theorie der signifikanten Symbole, der Perspektiven von „I“ und „ME“, der Objektivierung der Position eines generalisierten Anderen sowie dessen soziale Identität als Rolle, die sich von der Person ablösen lässt, ist in vielen wichtigen Argumenten eine sozial-kognitive Theorie. Zwar beabsichtigt Mead die Entstehung der sozialen Kognitionen (der Perspektiven, die innerhalb der sozialen Praxis entstehen) am Verhalten der Akteure abzulesen. Gleichwohl spielen sich die wesentlichen Veränderungen in diesem Prozess in den Vorstellungen, den gedanklichen Mustern und Perspektiven ab, die Akteure auf sich und andere beziehen. Wir werden in Abschn. 5.4 sehen, dass Meads Modell sehr starke Ähnlichkeiten mit Entwicklungsmodellen der Sozial- und Entwicklungspsychologie aufweist, die in der Tradition von Jean Piaget stehen. Bevor wir dies tun, folgen wir noch einem weiteren Pfad der soziologischen Sozialisationstheorie. Dazu soll noch einmal darüber nachgedacht werden, was mit den Ansätzen von Mead und Durkheim an Erkenntnissen hervorgebracht wurde. Ein zentrales Argument von Durkheim besteht darin, dass das individuelle Kind im Verlauf seiner Sozialisation ein Verständnis für die Autorität und seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erwirbt und im Anschluss daran erst Autonomie ausbildet. Für Durkheim spielt also der Erwerb einer Haltung der Achtung (gegenüber dem Sozialen) eine entscheidende Rolle. Durkheim bietet dafür jedoch nur eine schwache Erklärung über elementare Praktiken der Aufwertung durch soziale Magie, Rituale oder Mythen. Am Anfang der Sozialisation stehen für ihn insofern so etwas wie quasi-religiöse Praktiken. Das kann ein scheinbar profaner Tischgruß vor dem Essen sein: „Piep, Piep, Piep – wir haben uns alle lieb!“ Sozialisation wäre dann so etwas wie kollektive Selbstbeschwörung oder Einschwörung auf die Kraft der Gruppe. Das mag durchaus manchmal oder sogar häufig wirkungsvoll sein. Mit Mead haben wir jedoch eine andere Quelle der Sozialisation kennengelernt, nämlich das Zusammenhandeln und Kooperieren innerhalb einer gemeinsamen Praxis. Für Mead steht somit am Anfang der Sozialisation die (praktische) Erkenntnis, anhand von Beiträgen mitmachen zu können – Mach mit Mensch! Beide Ansätze sind jedoch eher noch vage Ideen, vielleicht grundlegende Konzepte der Sozialisation, jedoch stellen sie noch kein explizites Erklärungsmodell für Sozialisation dar. Was ist damit gemeint? Beide Ansätze können zwar angeben, weshalb es produktiv für das Individuum sein kann, sich auf die Gesellschaft einzulassen, denn es ergeben sich daraus die Zugehörigkeit des Einzelnen zu der stärkeren und höherwertigen Gruppe (Durkheim) oder die Chance einen konstruktiven
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Beitrag zum Gesamtertrag einer Kooperation zu leisten und dadurch auch am Gesamtprodukt der Gruppe teilzuhaben (Mead). In beiden Ansätzen wird jedoch auch gesehen, dass einzelne Individuen stets von den sozial geteilten (konformen) Verhaltensweisen der Gruppe abweichen können. Wenn dem so ist, dann bedarf es einer Erklärung für die Konformität mit der Gruppe bzw. des Auftretens von abweichendem Verhalten.
Sozialisation aus der Perspektive der Rollentheorie An dieser Stelle tritt die – gelegentlich unterschätzte – Rollentheorie ein. Die Rollentheorie geht auf den US-amerikanischen Kulturanthropologen Ralph Linton (1936) zurück. Sie wurde vor allem im Sozialfunktionalismus von Talcott Parsons als ein prominentes Teilstück in die Theorie der Sozialisation eingefügt. Im deutschen Sprachraum hat Ende der 1950er-Jahre Ralph Dahrendorf (1959) die Rollentheorie systematisch weitergeführt und sie auch in Absetzung von Parsons Position profiliert. Mit seinem Modell werden wir beginnen. Dahrendorf (1959) liefert in seiner kurzen Studie zum „Homo Sociologicus“ eine Theorie der Sozialisation, die im Prinzip für die gesamte Lebensspanne gilt. Sie ist sowohl auf Sozialisationsprozesse der Kindheit und Jugend als auch auf die Sozialisation im Erwachsenenalter anwendbar. Der Kern des Dahrendorf’schen Modells lässt sich aus dem Zusammenspiel von fünf Sachverhalten bestimmen, die auch die Hauptkategorien seiner Theorie darstellen: Rolle, (soziale) Position, Rollenerwartungen, Bezugsgruppe und Sanktion(en). Von einer Rolle können wir demnach immer dann sprechen, wenn der Inhaber einer sozialen Position mit einer begrenzten Menge von Verhaltenserwartungen konfrontiert wird. Um im Rahmen einer sozialen Position angemessene Beiträge zu leisten, muss der Rolleninhaber den Erwartungen der Gruppe(n), die sich auf die von ihm eingenommene soziale Position beziehen, gerecht werden. Die Gruppen von Akteuren, die sich auf seine Position beziehen, sind die „Bezugsgruppen“. Sie haben nicht nur Erwartungen an den Akteur, sie verfügen zudem über Sanktionsmittel, d. h. über Mittel, das Handeln des Akteurs zu belohnen oder zu bestrafen. Die Rollentheorie enthält somit einige Elemente, die wir bereits bei Durkheim oder Mead gesehen haben. Sie ist behavioristisch (verhaltenstheoretisch) angelegt, übernimmt durch die Kategorien der Bezugsgruppen und deren Erwartungen Meads Idee der mit sozialen Positionen einhergehenden Perspektiven und wie die Bedeutung der Rolle als soziale Identität des Akteurs (im Unterschied zu seiner Perspektive als individuelle Person). Dahrendorfs Ansatz geht allerdings insofern über Mead und Durkheim hinaus, als er ein Rückkoppelungsmodell des
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sozialen Lernens zum Kern der Erklärung von Sozialisation machen kann. Über die positiven oder negativen Sanktionen kann die Bezugsgruppe die Angemessenheit eines Verhaltens im Rahmen der Gruppe zurückspiegeln. Und der Akteur kann im Rahmen seiner Rolle sein Verhalten an die Erwartungen und potenziellen Sanktionen der Bezugsgruppen anpassen. Die Rolle(n) sind dann die stabilisierten Verhaltensmuster, die sich im Rahmen eines solchen Rückkoppelungsprozesses herausbilden. Darüber gelingt es Dahrendorf auch die Momente von Konformität und Abweichung in sein Modell einer (konfliktsoziologischen) Rollentheorie einzuflechten. Die verschiedenen Bezugsgruppen, mit denen ein Akteur bei der Ausübung einer sozialen Rolle in Berührung kommt, müssen nämlich nicht immer gleichartige Erwartungen an die Rolle herantragen. Inhaber sozialer Positionen stehen oftmals unterschiedlichen Gruppen und deren Erwartungen gegenüber. Lehrer interagieren mit Schülern, deren Eltern, anderen Lehrern, der Schulleitung und womöglich noch höheren Instanzen wie der Schulbehörde oder der Bildungspolitik. Und womöglich sind sie in anderen sozialen Kontexten Ehefrau und Mutter oder aktives Mitglied in einem Frauenfußballteam. Daraus ergeben sich nach Dahrendorf Intraund Interrollenkonflikte. Wovon aber hängt es dann ab, wie sich Rollen etablieren? Wann und wie halten Akteure in bestimmten sozialen Positionen an einem konsolidierten Bild der Rolle fest?
Sozialisation als Internalisierung von Werten Für dieses Problem hatte Talcott Parsons (1951) eine strukturfunktionalistische Lösung gefunden, die stärker an Durkheim und Mead anknüpft. Sie lautete: Sozialisation besteht in erster Linie in der Internalisierung von Werten. Das Innehaben einer sozialen Position wird dadurch zur Ausübung einer Rolle, dass der Akteur die Werte verinnerlicht hat, die mit dem Rollenhandeln verbunden sind. Er versteht somit nicht nur die Funktion (Leistung, Beitrag), die mit dem Innehaben der Position verbunden ist, sondern auch den Wert, der von der Ausübung der Position für die Gesellschaft realisiert wird. Darin steckt ein Stück Durkheim und ein Stück Mead. Der Wert zeigt im Sinne Durkheims der Sache nach Autorität an. Der Wert der Beiträge, die im Rahmen einer sozialen Position geleistet werden, stellt den Grund dar, weshalb eine soziale Rolle in allgemeiner Hinsicht Anerkennung durch die Gesellschaft verdient. Das macht das Handeln innerhalb einer Rolle ‚höherwertig‘ im Sinne Durkheims. Mit Mead kann Parsons verdeutlichen, inwiefern ein Rollenhandeln allgemein Anerkennung verdient. Dazu knüpft Parsons an die Figur des „generalized other“ an. Der generalisierte Andere ist dann
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jedoch nicht das Handeln aller (im Durchschnitt oder in seiner konkreten Verteilung innerhalb der Population), sondern eine Handlungsweise, die das Handeln eines jeden anderen verallgemeinerungsfähig macht. Möglich werde eine verallgemeinerte Handlungsorientierung durch die (hypothetische) Einnahme aller in einer Situation/Position denkbaren Handlungs-Beteiligungs-Perspektiven (Mead: universe of discourse). Sozialisation ist aus Parsons Perspektive somit der Prozess der Ausbildung von Wertorientierungen beim Individuum (Parsons 1951, S. 104 ff.). Er setzt dabei voraus, dass das Individuum nicht beliebige Werte als selbst konstruierte Relevanzen entwickelt, sondern die Werte der kulturellen Leitmuster einer Gesellschaft (value orientation patterns) verinnerlicht. Die Richtung der Einwirkungen auf das Individuum im Sozialisationsprozess geht bei Parsons (1951, S. 207 ff.) somit von der Gesellschaft auf das Individuum aus. Das war einer der wesentlichen Kritikpunkte, die Dennis H. Wrong (1961) dazu bewogen haben, Parsons Sozialisationsbegriff als ein „over-socialized concept of man“ zu bezeichnen. Aus der Perspektive des Individuums speist sich die Sozialisation bei Parsons überwiegend aus exogenen, von außen durch die Gesellschaft einwirkenden Quellen. Dies ist in der Rollentheorie von Dahrendorf zum Beispiel anders. Für ihn gibt es nicht nur passive Rollenübernahme, sondern auch Rollendistanz. Der Begriff der „role distance“ stammt ursprünglich von Erving Goffman (1959, 1961). Sozialisation ist demnach auch ein Prozess der aktiven Aneignung von gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Werten. Das Verhältnis von gesellschaftlichen Erwartungen (als Sammelbegriff für Konventionen, Normen und Werte) und ihrer Aneignung durch das Individuum ist somit mindestens komplex. Aus Parsons Sicht besteht die Internalisierung von Werten in einer Form der inneren Überzeugung. Sozialisation ist dann vollzogen, wenn das Individuum an die zentralen Werte eines gesellschaftlichen Kulturmusters glaubt. Nur so kann das rahmende kulturelle Ordnungsmuster einer Gesellschaft aufrecht erhalten bleiben. Für Goffman (1959) ist dagegen der „Glaube an die eigene Rolle“ sekundär. Aus seiner Sicht bestehen relativ große Anpassungs- und Auslegungsspielräume für gesellschaftliche Erwartungen und die Individuen unterstützen sich in sozialen Zusammenkünften häufig sogar, um mit einer gemeinsamen Definition der Situation gewissermaßen durchzukommen. Die Individuen bewegen sich durch die gesellschaftliche Praxis wie auf hoher See – sie umschiffen die Klippen und seichten Gewässer. Goffman und Dahrendorf verfolgen somit eher die Frage der Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit von gesellschaftlichen Anforderungen und den Anpassungen an sie.
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Sozialisation als Selbstsozialisation Damit bleiben auch in der klassischen Rollentheorie Individuum und Gesellschaft eng miteinander verknüpft, wenn auch das Primat der Gesellschaft bei Dahrendorf und Parsons nicht so stark ist wie in Parsons Ansatz. Auf viel radikalere Weise dagegen unterscheidet der Bielefelder Systemfunktionalist Niklas Luhmann (1984, 1991) zwischen Individuum und Gesellschaft. Er sieht in ihnen strikt voneinander getrennt funktionierende Systeme: das psychische System und das soziale System. Das psychische System operiert dabei auf der Basis von Gedanken; das soziale System auf der Basis von Kommunikation. Gedanken und Kommunikation sind nicht füreinander ersetzbar. Individuen (psychische Systeme) kommunizieren nicht; soziale Systeme können nicht denken. Die Konsequenz daraus ist, dass in Luhmanns Systemtheorie Sozialisation als Selbst-Sozialisation psychischer Systeme bezeichnet wird. Wenn sich psychische Systeme auf Kommunikation bzw. soziale Systeme beziehen, dann beobachten sie zwar Kommunikation (gesellschaftliche Prozesse), tun dies aber immer im Operationsmodus der Gedanken. Flapsig ausgedrückt: Die Kommunikation kommuniziert; das Bewusstsein denkt sich was dabei. Systeme – so einer der Grundannahmen Luhmanns – können die Selbstbezüglichkeit der eigenen Operationsweise nicht verlassen. Mit sich selbst reden wäre demnach eine Form des lauten versprachlichten Denkens. Allerdings nimmt Luhmann eine Ko-Evolution sozialer und psychischer Systeme an. Sie seien beide in ihrer Entwicklung gegenseitig voneinander abhängig. Dabei würden sie sich gegenseitig vorstrukturierte Komplexität zur Verfügung stellen. Luhmann nennt diese Formen „strukturelle Kopplung“ bzw. „Interpenetration“ (Luhmann 1984, Kap. 8). Dies sei deshalb möglich, weil sowohl das psychische als auch das soziale System sinnverarbeitende Systeme seien. Unklar ist an Luhmanns Konzept der Selbstsozialisation, wie strikt oder lose die strukturelle Kopplung zwischen psychischem und sozialem System zu denken ist. Als einen wichtigen Faktor der Kopplung sieht Luhmann die Sprache, die er als Medium begreift. Sinn könne innerhalb der Kommunikation im Medium der Sprache generiert und Gedanken können im Bewusstsein in sprachlicher Form verarbeitet werden. Die jeweiligen Horizonte der Fortsetzung von Sinnselektionen blieben jedoch im Bewusstsein weitere, anschlussfähige Gedanken und im sozialen System anschlussfähige Kommunikationsbeiträge. Die Selbstbezüglichkeit besteht also deshalb in strikter Trennung weiter, weil die Anschlussoperationen stets als systemeigene im Sinnhorizont der jeweiligen systemischen Operationen prozessiert werden. Es kann und soll in diesem Lehrbuch nicht darum gehen, komplexe Ansätze der soziologischen Theorie – wie hier der Systemfunktionalismus Niklas Luhmanns –
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in ihrer Gesamtanlage zu diskutieren. Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass Luhmanns Theorie zu einer grundsätzlichen Umstellung der Sicht des Sozialisationsprozesses führt. Denn erstens wird in seinem Ansatz die Eigenaktivität (das selbstbezügliche Prozessieren) des Individuums als psychischem System betont. Als Selbstsozialisation spielt sich Sozialisation in der Art und Weise ab, wie das Subjekt auf sich selbst Bezug nimmt, wie es sich zu sich selbst verhält. Zweitens wird eine besondere Systemauffassung etabliert, die darin besteht, dass Systeme in der Reproduktion von elementaren Operationen (operativen Ereignissen, wie Gedanken, Kommunikationsbeiträgen) bestehen. Und drittens rückt speziell für das Problem der Sozialisation in den Mittelpunkt, wie psychische und soziale Systeme strukturell miteinander verkoppelt sind. Bei Luhmann wird dabei die Unhintergehbarkeit der systemischen Getrenntheit von psychischem und sozialen System begründet und in den Mittelpunkt gerückt, während die Frage der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation zwar aufgeworfen, jedoch dazu keine weiteren (theoretischen) Lösungen entfaltet werden.
Sozialisation im sozialökologischen Modell Daher könnte es aufschlussreich sein, Luhmanns Ansatz mit einem ähnlich konzipierten, ebenfalls systemisch argumentierenden Modell zu vergleichen. Dies wollen wir hier mit der sozialökologischen Sozialisationstheorie von Urie Bronfenbrenner tun. Sein Ansatz ist in den 1980er-Jahren entstanden. Grundidee ist dabei, dass die Entwicklung des menschlichen Individuums im Rahmen von miteinander in Beziehung stehenden und sich gegenseitig umlagernden sozialen Systemen geschieht. In seiner ersten grundlegenden Arbeit „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung“ (Bronfenbrenner 1981, engl. 1979) führt er vier Systemebenen ein: (1) Mikrosystem, (2) Mesosystem, (3) Makrosystem und (4) Exosystem. In einer zweiten groß angelegten Publikation (Bronfenbrenner 1986a, b) fügt er noch das (5) Chronosystem hinzu. Auch Bronfenbrenners Theorie wollen wir hier nicht in jedem Detail erklären und reflektieren. Allerdings eignet sie sich sehr gut als eine integrative Folie, da Bronfenbrenner verschiedene Konzepte und Kategorien, die wir bisher kennengelernt haben, in seinem Ansatz miteinander verbunden hat. Bronfenbrenners Idee von der Sozialisation als ein gesamtökologischer Zusammenhang zwischen dem Individuum und verschiedenen Systemen ist für die Problematik wichtig, wie die verschiedenen Dimensionen und Instanzen der Sozialisation für sich operieren und miteinander zusammenhängen. Diese im letzten Abschnitt mit Luhmann aufgeworfene Problematik kann also mit Bronfenbrenner konkreter weiterverfolgt werden. Bronfenbrenners Modell lässt sich dabei auch zurückbeziehen auf die Fragen, die wir in Abschn. 4.1 bereits an den ersten Defini-
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tionen von Hurrelmann und Grundmann aufgeworfen hatten. Inwiefern arbeiten Systeme wie die Psyche oder individuelle Persönlichkeit, einzelne soziale Kontexte, Organismen sowie natürliche und technische System je für sich – und inwieweit und wie spielen sie im Prozess der Sozialisation womöglich auch zusammen? Bevor wir jedoch zur Antwort – zu Bronfenbrenners Modell – gelangen, muss noch auf zwei Besonderheiten seines Ansatzes und Vorgehens hingewiesen werden2. Er nutzt in seiner Sozialisationstheorie erstens eine besondere Art des experimentellen Vorgehens, das er als eine bestimmte Kombination von natürlichen und geplanten Experimenten ansieht. Zweitens gebraucht er als einen wichtigen Grundbegriff (im Anschluss an die russische Psychologie, Leont’ev, Vygotzki), den der Tätigkeit, oder wie Bronfenbrenner selbst oft genauer sagt: der „molaren Tätigkeit“ (Bronfenbrenner 1981, S. 60). Beginnen wir mit dem experimentellen Verständnis einer Sozialisationsforschung. Bronfenbrenner möchte den Prozess der Sozialisation nicht nur nachträglich – in der Rückschau – beobachten, wie es dazu gekommen ist, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen im Prozess das geworden sind, was sie sind. Diese Art der Rückschau wird häufig auch als retrospektive oder als Ex-Post-Facto- Erklärung bezeichnet. Dieses Vorgehen hat zwei Nachteile. Erstens lassen sich immer nur Aussagen über die Faktoren treffen, die in einem Prozess tatsächlich eingewirkt haben. Damit ist aber die Gruppe von Gesetzmäßigkeiten, die sich prüfen lassen, eingeschränkt. Denn wir wissen nicht, wie sich eine Person oder Menge von Menschen entwickelt hätte, wenn andere Bedingungen vorgelegen hätten. Dadurch haben wir nicht den Einfluss aller möglicherweise wichtigen Faktoren in der Entwicklung berücksichtigen können. Wenn wir z. B. die Entwicklung von Kindern in der „Großen Depression“ (Elder 1974) der 1930er-Jahre untersuchen, sehen wir zwar, welchen Einfluss die Wirtschaftskrise und die wohlfahrtsstaatlichen Reaktionen auf die Krise für Kinder und deren Familien gehabt haben, jedoch nicht, welche Effekte andere wohlfahrtsstaatliche Interventionen womöglich ausgelöst hätten. Bronfenbrenner ist insofern daran interessiert, durch sozialstaatliche oder pä dagogische Interventionen so etwas wie geplante Experimente (er spricht auch von Laboren) in den Prozess des historischen Laufs der Gesellschaft (als quasi natürlich vonstattengehende Experimente) einzubauen. Auch diesen Gedanken greift er aus der russischen Schule der Psychologie bei Leont’ev auf. So zitiert er die Grundauffassung Leont’evs folgendermaßen: „Mir scheint, in den Vereinigten Staaten suchen die Forscher immer zu erklären, wie das Kind wurde, was es ist; wir in der Sowjetunion versuchen nicht zu entdecken, wie das Kind wurde, was es ist, sondern wie es werden kann, was es noch nicht ist.“ (Bronfenbrenner 1981, S. 57). 2 Corsten, Michael (2020) Die Beschreibung des eigenen Lebens Aufführen. In: BIOGRAFIEren auf der Bühne. Hg. v. Norma Köhler / Christoph Scheurle / Melanie Hinz. München: kopäd, S. 17-30.
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Insofern versteht sich auch Bronfenbrenner in der Tradition der „russischen Schule“ wie Leont’ev oder Makarenko als „pädagogischer Ingenieur“ (Schubert 2019), der daran interessiert ist, Wissen über neue Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Dadurch bleibt eine Orientierung am streng naturwissenschaftlichen und ingenieuralen Begriff des Experiments erhalten. Zweitens führt auch die Fokussierung von Tätigkeiten statt von Handlungen zu einer weiteren wichtigen Umstellung. Unter „molaren Tätigkeiten“ versteht Bronfenbrenner (1981, S. 60) „über eine gewisse Zeit fortgesetztes Verhalten, das sein eigenes Beharrungsvermögen besitzt und von den am Lebensbereich Beteiligten als bedeutungs- oder absichtsvoll wahrgenommen wird“. Er will damit hervorheben, dass Tätigkeiten im Unterschied zu Handlungen oder Operationen „kontinuierliche Prozesse“ (Bronfenbrenner 1981, S. 61) darstellen. Während eine elementare Operation oder Handlung – wie z. B. das Herausdrehen einer Glühbirne – augenblicksbegrenzt und in dem Sinne „molekular“ sei, wäre verglichen damit, die Anbringung einer neuen Zimmerbeleuchtung eine kontinuierliche und insofern „molare“ Tätigkeit, in der die Handlung des Herausdrehens einer Glühbirne einen Teil ausmachte. Kommen wir nun zu Bronfenbrenners Definitionen der im Prozess der Sozialisation in Zusammenhang stehenden „Systeme“ und beginnen mit der Definition des Mikrosystems: „Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“. (Bronfenbrenner 1981, S. 38)
Zunächst einmal lässt sich Bronfenbrenners Bestimmung so lesen, dass „Tätigkeiten“, „Rollen“ und „zwischenmenschliche Beziehungen“ die zentralen Elemente des „Mikrosystems“ sind. Bronfenbrenner schließt dabei an die Rollentheorie an, indem er Rolle als die von einer Person, die sich in einer bestimmten Position befindet, erwarteten Tätigkeiten und Aktivitäten bezeichnet (Bronfenbrenner 1981, S. 97). Wichtig ist außerdem seine Präzisierung des Sachverhalts der „zwischenmenschlichen Beziehung“. Er versteht darunter intensivierte interpersonale Bezugnahmen aufeinander. Das bedeutet, dass „eine Person innerhalb eines Lebensbereichs die Aktivitäten einer anderen aufmerksam verfolgt oder sich an ihnen beteiligt“ (Bronfenbrenner 1981, S. 71). Dabei ist er besonders an „Dyaden“, Beziehungen zwischen zwei Personen interessiert. Es geht also jeweils um Beziehungen zwischen Personen, die räumlich miteinander zusammen sind und sich mindestens gegenseitig als anwesend registrieren. Dies nennt Bronfenbrenner
4.2 Der Sozialisationsbegriff in der soziologischen Tradition
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(1981, S. 71) „Beobachtungsdyade“. Aus ihr können eine „Dyade gemeinsamer Tätigkeit“ (Bronfenbrenner 1981, S. 72) und eine „Primärdyade“ (Bronfenbrenner 1981, S. 73) abgeleitet werden. Von Letzterer spricht er, wenn die beiden Personen auch dann aneinander denken und sich berücksichtigen, wenn sie abwesend sind. Tendenziell deckt sich Bronfenbrenners Definition mit dem Sachverhalt, den Niklas Luhmann als Interaktionssystem bezeichnet. Er versteht darunter Kommunikationen und aufeinander bezogene Handlungen von mindestens zwei räumlich anwesenden (ko-präsenten) Personen, die etwas tun (Aktivitäten ausüben) und dabei gegenseitig aufeinander bezogene Erwartungen ausbilden, also mindestens relativ rudimentäre und interpretationsoffene Interaktionsrollen einnehmen. Allerdings ist nicht ganz ersichtlich, wozu Bronfenbrenner den zweiten Teil der Definition des Mikrosystems benötigt, in dem er davon spricht, dass das Mikrosystem von einer sich entwickelnden Person erlebt werden müsste. Dies ist zwar nachvollziehbar, wenn es um die Frage nach der Sozialisation (einer sich in Entwicklung befindlichen Person) geht – aber für die Definition, d. h. die präzise Abgrenzung des sozialen Sachverhalts „Mikrosystem“ ist der zweite Definitionsteil eigentlich nicht brauchbar, eher sogar verwirrend. Denn es bliebe ja auch dann ein Mikrosystem, wenn das Erleben (einer Person) ausbliebe. Bemerkenswerterweise zeigt sich auch bei der Definition des Mesosystems erneut, dass Bronfenbrenner nicht nur die wichtigen Bestandteile dieses Systems benennt, sondern wiederum das sich entwickelnde (sozialisierende) Individuum mit zum entscheidenden Referenzpunkt des Aufbaus eines Mesosystems macht: „Ein Mesosystem umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind etwa die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis)“. (Bronfenbrenner 1981, S. 41)
Auch hier könnten wir also zunächst wieder das Mesosystem enger fassen, indem wir es durch die Wechselbeziehungen zwischen mehreren unterschiedlichen Lebensbereichen ansehen, z. B. Familie, Schule und (Kinder der) Nachbarschaft. Dies erweckt nun den Eindruck, als würde es erst in der Perspektive des sich entwickelnden Kindes einen Zusammenhang bzw. eine Wechselbeziehung zwischen den genannten Bereichen geben. Es scheint also so, als würde Bronfenbrenner jeweils „kind-zentrierte“ bzw. „sozialisanden-zentrierte“ Bestimmungen sozialer Sachverhalte vorlegen – als würde es außerhalb von Sozialisationsprozessen keine sozialen Einheiten, Gruppen, Systeme, usf. geben, die miteinander in Austausch befindlich sind. Das wirkt insbesondere bei den Wechselwirkungen zwischen Fa-
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milie, Arbeit und Bekanntenkreis merkwürdig. Denn wir können uns diese Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen unabhängig von den je einzelnen Perspektiven der individuellen Beteiligten vorstellen. Hier ergibt sich wiederum eine theoretische Weichenstellung, die sich in folgender Frage fassen lässt: Müssen nicht Mikrosysteme und Mesosysteme (und daran anschließend auch Exo-, Makro- und Chronosysteme) als je unabhängige Größen vom Sozialisationsprozess abgegrenzt werden können, damit ein Individuum (sei es als Sozialisand oder schlicht als Akteur) den Unterschied zwischen einer zwischenmenschlichen Beziehung auf der Mikroebene und einer Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen überhaupt wahrnehmen kann? Und noch schärfer formuliert. Können Mikrosysteme, Mesosysteme, Makrosysteme und so weiter überhaupt als je eigener sozialer Faktor auf die Entwicklung wirken, wenn sie nicht unabhängig vom Individuum, das sie wahrnimmt und auf das sie Einfluss ausüben, existieren? Solche Fragen scheinen Luhmann dazu bewogen zu haben, Systeme zunächst über ihre Selbstbezüglichkeit und Selbstwiederherstellbarkeit bestimmen zu wollen. Systeme müssen zunächst selbstständig funktionieren, indem sie sich auf sich selbst beziehen und darüber selbst wieder in ihrer Eigendynamik herstellen können. Allerdings wird aus den Fragen auch ersichtlich, weshalb Bronfenbrenner nun auch noch ein sogenanntes Exosystem einführt: „Unter Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden“. (Bronfenbrenner 1981, S. 42)
Die Bestimmung von Exosystemen ist nun in der Tat etwas rätselhaft. Sicher, aus der Perspektive einer einzelnen Person gibt es viele konkrete Beziehungen und Lebensbereiche, die miteinander in Wechselbeziehung stehen, an denen das Individuum nicht selbst beteiligt ist. Aber dies ist eigentlich ständig der Fall. Nehmen wir den ganz einfachen Fall der vier Freunde Frank, Markus, Rudi und Sven. Mal sind sie alle vier zusammen, mal nur Frank, Markus und Sven. Einander mal machen Markus und Frank sowie Sven und Rudi etwas gemeinsam. Sind sie deshalb jeweils Exosysteme zueinander? Das Merkwürdige an der Definition eines Exosystems scheint darin zu liegen, dass es allein schon dadurch existiert, dass es mindestens eine Person gibt, die nicht an einer Beziehung oder an einem Lebensbereich oder am Austausch zwischen Lebensbereichen beteiligt ist. Dies ist aber immer der Fall. Zudem gäbe es unendlich viele verschiedene Exosysteme, immer
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je nach dem, wer gerade nicht beteiligt ist. Es stellt sich daher die Frage, ob das Exosystem nicht sofort wegfallen könnte, wenn wir bei der Definition von sozialen Systemen die Erlebens- bzw. Beteiligungsperspektive der sich entwickelnden Person herauslassen würden und diese stattdessen zu einem Definitionsmerkmal von Sozialisation machten. Bei den Bestimmungen der Begriffe Makrosystem und Chronosystem zeigen sich ebenfalls Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen, dass Bronfenbrenner diese Systeme nicht eigens kennzeichnet, sondern formal aus den Eigenschaften anderer Systeme (Mikro-, Meso- und Exo-) ableitet: „Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“. (Bronfenbrenner 1981, S. 42)
Inhaltlich präzisiert wird die Idee des Makrosystems somit lediglich dadurch, dass es auf der Ebene der Kultur sowie der Kulturen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien verortet wird. Formal werden Makrosysteme als Systeme höherer Ordnung ausgewiesen – im Vergleich zu Systemen „niedrigerer Ordnung“ wie Mikro-, Meso- oder Exosysteme. Das würde heißen, dass Mikro-, Meso- und Exosysteme Teilmengen von Makrosystemen darstellen, die über kulturelle Eigenschaften definiert werden. Es wird von Bronfenbrenner nicht genauer ausgeführt, was er mit „Kulturen“ meint, die „Kultur“ von Nationalgesellschaften, religiösen Kreisen, politischen Bünden oder von sozialen Klassen, Milieus und Schichten. Makrosystemisch ähnlich könnten somit Arbeiterfamilien in Frankreich, Türkei und Japan sein, weil sie als Familiensystem (wahrscheinlich auf der Mikroebene) Ähnlichkeiten deshalb aufweisen, da sie a) zur Arbeiterklasse gehören bzw. b) zu den jeweiligen Nationalgesellschaften als türkische Familien, französische Familien oder japanische Familien. Ein ähnliches Problem ergibt sich auch für die Kategorie des Chronosystems, die von Bronfenbrenner erst in späteren Arbeiten (Bronfenbrenner 1986a, b, 1990) eingeführt wurde. Auch hier bestimmt er den Begriff nicht positiv über den Sachverhalt selbst, sondern anhand der Kennzeichnung einer Forschungsstrategie: „Der Begriff Chronosystem bezieht sich auf langfristige Forschungsmodelle, in denen die zeitliche Veränderung oder Stabilität nicht nur der sich entwickelnden Person, sondern auch des Umweltsystems in Betracht gezogen werden können“. (Bronfenbrenner 1990, S. 77)
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Auch diese Definition ist ziemlich merkwürdig. Zwar leuchtet es auch zunächst ein, dass individuelle Menschen im Verlauf der Zeit in Bezug auf einzelne Merkmale gleichbleiben oder sich ändern können. Und dies gilt sicher auch für alle Mikro-, Meso- und Makrosysteme, also bspw. für Familien, Schulen oder Nationalgesellschaften. Aber inwiefern muss es dazu außer der Zeit selbst noch ein „Chronosystem“ geben. Oder ist „Chronosystem“ nur ein etwas verschrobener Name für Zeit? Schaut man sich genauer an, welche Formen des Wandels Bronfenbrenner konkret unterscheidet, ist man vielleicht überrascht: Er nennt „Lebensübergänge“ und „Lebensläufe“. Unter Lebensübergänge versteht er Prozesse, die eintreten, wenn eine Person ihren Lebensbereich oder ihre Rolle wechselt und somit ihre Position in der Umwelt verändert (Beispiele: Geburt eines Kindes, Eintritt in die Schule, Heirat, Berufswechsel usw.). Mit Lebenslauf – „life course“ (nach Elder 1974) – bezeichnet Bronfenbrenner die Kette von Übergängen über die gesamte Lebenszeit hinweg. Das bedeutet: sein Begriff von Lebenslauf steht im Einklang mit der Definition, die wir mit Kohli als „institutionalisierten Lebenslauf“ kennengelernt haben. Die von Bronfenbrenner als „Systeme“ bezeichneten Sachverhalte sind somit eigentlich keine für sich existierenden Sachverhalte, sondern jeweils „Systeme“ aus Sicht des individuellen Akteurs, der sich in Entwicklung, im Prozess der Sozialisation befindet. Im Mikrosystem geht es also nicht um Beziehungen als Kleinstformen von gesellschaftlichen Zusammenhängen, auch im Mesosystem nicht um Wechselwirkungen oder Überschneidungen zwischen sozialen Kontexten (Bronfenbrenner: Lebensbereichen) und ebenso entsteht das Exosystem nur dadurch, dass der sich entwickelnde Akteur darin nicht aktiv teilnimmt. Sogar das Chronosystem wird nicht in den Zeitstrukturen der Gesellschaft (wie Arbeitszeitregeln, Kalender, Zeiten der Schulpflicht und ähnlichem) gesucht, sondern an Zustandswechseln (Übergangsereignissen) oder dem gesamten Lebenslauf des Individuums festgemacht. Eine solche Vorgehensweise ist möglich und lässt sich auch – wie Bronfenbrenners Ansatz zeigt – konsequent durchhalten. Ein anderer Weg könnte allerdings auch darin bestehen, die Systeme auf der Mikro-, Meso- und Makroebene sowie das Chronosystem als soziale Einheiten eigener Art – wie in der Durkheim-Tradition – zu beschreiben. Niklas Luhmann z. B. unterscheidet zwischen Interaktionssystemen auf der Mikroebene, Organisationen auf der Mesoebene und funktional ausdifferenzierten Systemen – wie dem Wirtschaftssystem, dem Rechtssystem, dem Wissenschaftssystem oder dem Politiksystem – auf der Makroebene der Gesellschaft. Darüber hinaus postuliert er als gesamt übergreifendes System die Ausbildung einer Weltgesellschaft – als Zusammenhang aller Kommunikationen. Wir kommen auf die Bedeutung dieser unterschiedlichen Zugangsweisen im nächsten Abschn. (5.2) bei der Frage nach dem
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Verhältnis der Lebenslaufentwicklung und den Sozialisationsinstanzen wieder zurück. Zuvor werden wir die Perspektiven der Sozialisationsforschung und der Lebenslaufforschung aufeinander beziehen.
Glossar Anderer, generalisierter Dadurch, dass ein Individuum Perspektiven mehrerer, unterschiedlicher anderer Interaktionspartner (Personen) eingenommen hat und deren Gemeinsamkeiten erfasst, bildet er eine Vorstellung vom generalisierten Anderen aus. Akteure können so eine Perspektive dafür entwickeln, was alle bzw. jeder in einem bestimmten Fall tun würde, z. B. wenn man ein Versprechen gibt. Anderer, signifikanter Die Perspektive eines besonderen Anderen, der für einen Akteur eine wichtige Bedeutung besitzt. Primäre Bezugspersonen, wie Mutter und Vater, sind für Kinder in dem Sinn „signifikante Andere“, als ihr Handeln konkretes Vorbild ist bzw. ihre Erwartungen und Perspektiven konkret bedeutsam für das Kind sind. Aneignung Im Kontext der Sozialisationstheorie meint Aneignung die Übernahme von Orientierungen, Erwartungen oder Verhaltensweisen durch den Akteur, der einen Sozialisationsprozess durchlebt. Diese Übernahme ist keine bloß passiv erlebte Einprägung, sondern beruht auf dem aktiven (kognitiv wie praktischen) Mitvollzug des Akteurs. Anschluss an soziale Gruppen Für Durkheim ist der Umstand, dass Individuen im Lebens- (bzw. Sozialisations-) Prozess immer wieder Anschlüsse an soziale Gruppen finden, bedeutsam. Durch die Differenz Anschluss/Ausschluss verfügt die Gruppe über ein Sanktionsmittel. Um Anschluss zu behalten, muss sich das Individuum gegenüber der Gruppe bewähren. (s. auch Rituale) Autonomie Begriff aus dem Altgriechischen: „auto“ (selbst) „nomos“ (Gesetz). Fähigkeit des Individuums, sich selbst ein Gesetz zu geben; selbstbestimmt zu urteilen und zu handeln. Bei Durkheim ist dies das zentrale Ziel der modernen Erziehung. Es ist allerdings nur erreichbar über die vorherige Ausbildung eines Verständnisses von → Autorität und → des Anschlusses an die Gruppe. Autorität Die Fähigkeit zu verstehen, was ein Gesetz ist. Ein Gesetz ist dabei nicht nur geltend in dem Sinn, dass es nicht übertreten werden darf. Es ist auch Gesetz, weil die Richtigkeit einer Regel erkannt und anerkannt wird. Erst durch die Zurechnung von Autorität können Akteure (Menschen) ein Gesetz res pektieren. Autorität bedeutet: etwas ist zu Recht so und nicht anders bestimmt worden.
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Bezugsgruppe Gruppe, an die ein Individuum in seinem sozialen Kontext, in seiner Handlungs- und Lebenspraxis ‚angeschlossen‘ ist. Seine Art zu leben (eine bestimmte Rolle im sozialen Leben einzunehmen), bringt es mit sich, immer wieder auf eine bestimmte Gruppe von Leuten zu treffen. Um eine soziale Position, eine Rolle einzunehmen, lässt sich den Leuten der Bezugsgruppe nicht ausweichen. Man hat aufgrund seiner Rolle unweigerlich mit den Vertretern der Bezugsgruppe zu tun. biopsychische Grundstruktur des individuellen Akteurs (Organismus) Eine Theorie der Sozialisation (Entwicklung des Menschen) kann nicht umhin, Annahmen über die Einflüsse aufzustellen, die die biologische Verfasstheit des Menschen betreffen. Menschen haben nicht nur eine genetische Ausstattung, auch spielen neuro- bzw. hirnphysiologische und weitere körperfunktionelle Aspekte eine gewichtige Rolle bei der Entwicklung des Menschen. Zentral ist dabei die biologische (anthropologische) Annahme, dass der Mensch entwicklungsoffen ist und dass „Plastizität“ (Offenheit und Anpassungsfähigkeit im Verhältnis von menschlichen Anlagen und Umwelteinflüssen) zentral ist für die konkrete Entwicklung und Sozialisation des Menschen. Chronosystem Die soziale Strukturierung (Einteilung) von Zeit auf verschiedenen Ebenen der individuellen und sozialen Entwicklung: Soziale Zeit durch Zeitrechnung (Minuten, Stunden, Jahre, Phasen), Kalender, wiederkehrende Feste, Termine, Rhythmen usf. Die tripartistische Struktur des institutionalisierten Lebenslaufs (Vorerwerbs-, Erwerbs- und Nacherwerbsphase) nach Kohli wäre ein Chronosystem auf der Ebene der individuellen Lebenszeit. Chronos (altgriechisch = Dauer), Ordnungen, die die Dauer von etwas, eines Geschehens, bestimmen. Dispositionen, kollektive Disposition: Voreinstellung, Voreingestelltsein, Vorbereitetheit, in einer bestimmten Weise reagieren, sich zu etwas verhalten zu können; auch Mengen von Personen, die als vereinigt angesehen werden können, verfügen als ‚Vereinigung‘ (Kollektiv) über ‚Voreingestelltheiten‘, sind vorbereitet auf etwas, das geschieht, zu reagieren. Eine Familie verfügt über ein Repertoire von Handlungsmöglichkeiten, um auf den 90. Geburtstag der Großmutter zu reagieren; oder eine Firma kann mit eingeübten Strategien auf einen Umsatzeinbruch im Sommergeschäft oder eine Nachfragespitze im Weihnachtsverkauf eingehen usf. Exosystem Bronfenbrenner bezeichnet damit ein Geschehen, das sich außerhalb eines individuellen oder kollektiven Handlungssystems abspielt, aber trotzdem Einfluss auf das Handlungssystem besitzt. Alle Prozesse, an denen ein (individuelles oder kollektives) Handlungssystem nicht beteiligt ist, die jedoch Einflüsse auf das (unbeteiligte) Handlungssystem ausüben.
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Gesellschaftliche Verhältnisse (transpersonal) Gesellschaftliche Prozesse, die über die direkte Interaktion mit konkreten Personen hinausgehen. Auf der Straße kann ich mich mit dem Nachbarn, den ich zufällig treffe, direkt unterhalten. Ich kann ihm aber auch aus dem Urlaub einen Brief schreiben. Dann bin ich allerdings auf indirekte – transpersonale – Mithilfe derer angewiesen, die den Brief übersenden, auf diejenigen, die Briefmarken drucken oder die Gebühr für den Brief festlegen usf. Mit den zuletzt genannten Akteuren trete ich nicht mehr direkt in Interaktion – ich bin auf die Resultate ihres Tuns angewiesen. Ich muss zuversichtlich sein, dass die dabei ins Spiel kommenden ‚Prozesse‘ auch ‚funktionieren‘. Interaktion Unmittelbarer Austausch zwischen gleichzeitig anwesenden und in der Ko-Präsenz einer Situation aufeinander reagierenden Personen. Die Handlungen (Aktionen), mit denen Personen direkt (ohne Unterbrechung und/oder durch Übermittlung Dritter) aufeinander Bezug nehmen. Interdependenz Wechselseitige Abhängigkeit. A ist abhängig von B und B ist abhängig von A. A und B können Personen oder Prozesse, Ordnungen, Systeme, Kollektive, Organisationen, Dinge, Naturphänomene usf. – d. h. alle möglichen Sachverhalte – sein. Kollektivbewusstsein (Kollektivgefühl) Begriff von Emile Durkheim, den er durchgängig in seinen Hauptwerken benutzt. Einer spezifischeren, sowohl begrifflich als auch empirisch-ethnologischen Analyse unterzieht er ihn allerdings erst in seinem Spätwerk „Elementare Formen des religiösen Lebens“. Seine Lösung besteht darin, die Entstehung des Kollektivbewusstseins in den rituellen Praktiken (vor allem außertäglichen, religiösen Feiern) der Gruppe zu verorten. Kollektivbewusstsein besteht dabei in unwillkürlich geteilten Überzeugungen einer Gruppe, eines Kollektivs, auf denen das Miteinander beruht. Mikro-, Meso- und Makro-Systeme nach Bronfenbrenner Kleine, mittlere und große Ebenen bzw. Verhältnisse der gesellschaftlichen Ordnung. Wie sind gesellschaftliche Ereignisse und/oder Handlungen miteinander verbunden? Dadurch, dass sie auf niedriger bzw. kleiner Ebene zwischen konkreten Individuen in konkreten Situationen wieder und wieder ausgetauscht werden? (= Mikrosystem) Oder dadurch, dass sich mittelgroße Einheiten (z. B. Gruppen, Organisationen, Netzwerke) etabliert/stabilisiert haben, die aufeinander Bezug nehmen und sich wechselseitig beeinflussen? (= Mesosystem) Oder dadurch, dass sich große Einheiten (Handlungsfelder, Funktionssysteme usf.) ausgebildet haben, die Einheiten auf kleiner und mittelgroßer Ebene in einem Regelkreislauf verbinden? (= Makrosystem) Modell, sozialökologisch Bronfenbrenners Auffassung zum Aufbau der sozialen Welt, in der verschiedene Systeme (auf unterschiedlichen Ebenen) miteinander
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in einem Gleichgewicht stehen können, und, sofern sie sich in einem Gleichgewicht befinden, fortsetzen und weiterentwickeln können. Wenn dies der Fall ist, profitiert jedes System (auf jeder Ebene) davon. Wenn also Sozialisation auf der Mikroebene des einzelnen Handlungssubjekts (des einzelnen Menschen) erfolgt, dann profitiert die Entwicklung des einzelnen Menschen von der balancierten, im Gleichgewicht befindlichen, gleichsam sozialökologischen Ko-Evolution der verschiedenen, miteinander interagierenden, sich gegenseitig beeinflussenden Systeme. Moralität Ausgezeichnete Selbstbezüglichkeit des Verhaltens bzw. Auszeichnung von Verhaltensweisen als ausgezeichnet, bewahrenswert, fortsetzbar. Moral bezeichnet die Menge von Verhaltensweisen (= Sitten, Gebräuche, Praktiken), die als sittsam bzw. sittlich übertragbar gelten (= „kann so“, „es ist ok – alles auf dem Weg“ oder „läuft“) und aus guten Gründen beibehalten werden können. Persönlichkeit (handlungsfähige) Idee, dass ein Mensch im Rahmen eines bestimmten (sozialen) Kontexts fähig ist, sich angemessen (angepasst) zu verhalten, d. h. Beiträge zu leisten, die innerhalb des Kontexts als passend – fortsetzbar – gelten/angenommen werden. Persönlichkeitsdispositionen Voreingestelltheit, Vorbereitsein des einzelnen Menschen – als Persönlichkeit. Perspektivenübernahme Idee von George Mead, nach der es Sichtweisen gibt, die von einer sozialen Position aus, von jedem eingenommen werden kann, der das Verhalten von dieser Position aus kennt, z. B. dass der Grüßende aus seiner Perspektive erwartet, dass der Begrüßte zurückgrüßt. Durch aktive Teilnahme an einer komplexen sozialen Handlung erlernen die Akteure die Übernahme sozial verfügbarer P erspektiven. Position, soziale Eine bestimmte Stellung, die eine Person im sozialen Raum einnimmt. Positionen sind mit Handlungsbefugnissen und Rollenerwartungen ausgestattet. Realität, äußere und innere Mit der inneren Realität wird der Blick auf eine Wirklichkeit (z. B. die eigene Lebenserfahrung) von innen (Binnensicht), mit der äußeren Realität eine außerhalb des Selbst verortete Wirklichkeit bezeichnet. Reiz-Reaktions-Schema Modell, nach dem die Wahrnehmung äußerer Reize zu einer Reaktion des Organismus führen. Ritual (auch: Aufnahme- und Übergangsrituale) Sozial festgelegtes Muster einer in der Regel aus dem Alltag herausgehobenen Handlungspraxis. Im Spätwerk bezeichnet Durkheim damit auch außeralltägliche Praktiken einer sozialen Gruppe bzw. eines Kollektivs. Rituale übernehmen häufig Funktionen bei
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der Aufnahme neuer Gruppenmitglieder oder bei sozialen oder individuellen Übergangssituationen. Rolle/Person Unterscheidung in Bezug auf die individuelle Handlungsorientierung bzw. Handlungsmotivation. Die Handlungsgründe eines Akteurs können auf dessen Rolle (den sozial auf einen Positionsinhaber gerichteten Erwartungen) oder auf dessen persönliche Eigenheiten (Dispositionen) zurückgeführt werden. Rollenerwartungen Die von anderen (sozial bestimmten Bezugspersonen) an einen Rolleninhaber gerichteten Erwartungen (Annahmen, was innerhalb der Rolle zu tun ist). Rollenkonflikte Widersprüche, die sich aus den verschiedenen und nicht immer einheitlichen Erwartungen an einen Rollenträger ergeben. Rollenspiel Spielerische Einnahme von sozialen Positionen, z. B. im Puppenspiel. Rollenübernahme, Rollendistanz Fähigkeit der Person (als individuelle Quelle von Orientierungen und Handlungen), sich von der eigenen Rolle zu distanzieren, bzw. die Rolle anderer zu übernehmen. Selbstsozialisation Ansatz der Sozialisationstheorie, nach dem Sozialisation letztlich immer durch die individuelle Aneignung gesellschaftlicher Erwartungen durch das Handlungssubjekt bzw. dessen psychischem System abhängig ist. Sozialbehaviorismus Ansatz, der die Annahmen der Verhaltenstheorie auf gesellschaftliche Prozesse (zwischen Menschen) überträgt. Sozialbeziehungen (interpersonal) Der Begriff „Beziehung“ bzw. „Sozialbeziehung“ kann einschränkend auf unmittelbare (realräumliche und gegenwartsbasierte) Begegnungen zwischen Personen angewendet werden. Luhmann begreift Interaktion auf diese Weise als Kommunikation bzw. Handlungsaustausch zwischen Anwesenden. Davon zu unterscheiden wären Handlungen oder Kommunikationen, die sich mittelbar (nachträglich und anderswo) auf weitere Personen oder Personenkreise auswirken, die in der Gegenwart des Handelns nicht präsent sind. Symbole, signifikante Materielle Träger von Bedeutung (wie Gesten, Mimik, Zeichen, Äußerungen), die von (allen oder den meisten) Angehörigen einer Gesellschaft mit der gleichen Bedeutung verbunden werden. System, psychisch (Bewusstsein) Begriff aus der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Damit wird eine Einheit bezeichnet, die sich über eigene Gedanken auf sich selbst beziehen kann. Indem ein Bewusstsein sich durch die Produktion (Hervorbringung) aufeinanderfolgender Gedanken immer wieder auf sich selbst bezieht, entsteht ein psychisches System. System, sozial (Kommunikation) Begriff aus der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Damit wird Gesellschaft als die Einheit bezeichnet, die sich durch die
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Hervorbringung kommunikativer Beiträge auf sich selbst beziehen kann und dadurch als System selbst in Gang hält. Tätigkeit Begriff von Urie Bronfenbrenner (im Anschluss an Leont’ev). Mit dem Begriff ist mehr als ein singulärer Akt (Schritt mit dem rechten Bein nach vorne) gemeint, sondern ein Zusammenhang von Akten, der eine Tätigkeit (z. B. ein Tanz) hervorbringt. Der Akt ist momenthaft, die Tätigkeit ein andauernder Zusammenhang verschiedener, aufeinander abgestimmter Akte: ein Wort äußern (Akt), einen Satz sagen (Akt), etwas erzählen (Tätigkeit). Umwelt, physisch und sozial Umwelten können in ihrer Art anhand ihrer physischen (natürlichen, körperlichen, materiellen, technischen) Eigenschaften oder ihrer sozialen Merkmale (Beziehungen zu anderen bzw. Verhältnisse zwischen Menschen) beschrieben werden. vokale Geste Laute, die als Zeichen gelten, z. B. bereits – in der Tierwelt – instinktiv. Dachse verfügen bspw. über 16 verschiedene Vokale, um Situationen und diesbezügliche Verhaltensweisen (Warnen, Wohlgefallen, Hilferuf, Ermahnung gegenüber Jungtieren, Drohung) zu bezeichnen. Werte Wenn Sachverhalten oder Personen eine Bedeutung (im Sinne von Wichtigkeit) zugeschrieben wird, erhalten sie Wert. Darüber können Rangordnungen erstellt werden, indem bestimmten Dingen höchste Wichtigkeit zuerkannt, anderen dagegen weniger Bedeutung zugemessen wird. Wertinternalisierung Damit ist eine Dimension des Sozialisationsprozesses bezeichnet. Menschen können im Lauf ihrer Entwicklung das, was innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfelds als wichtig oder gar besonders wichtig erachtet wird, verinnerlichen, d. h. der Wert wird zu etwas, was der Akteur selbst für wertvoll hält. In der Regel erscheint es ihm als etwas, das ihm auf natürliche Weise bedeutsam ist. Wettkampfspiel Spielform zwischen zwei oder mehreren Parteien, die eine Koordination des gemeinsamen Handelns erfordern (Begriff von George Herbert Mead). Zwang, sozialer Beeinflussung des Handelns von Personen oder Personengruppen unter Einsatz von Gewaltmittel oder Sanktionsandrohungen.
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Lebenslauf und Sozialisation – ein Paar Schuhe?
In diesem Kapitel beziehen wir die Perspektiven des Lebenslaufs und der Sozialisation aufeinander. Zunächst wird nach der Notwendigkeit einer Prozessperspektive für beide Sachverhalte gefragt (Abschn. 5.1). Danach beschäftigen wir uns konkreter mit den Sozialisationsinstanzen (bzw. Kontexten der Sozialisation), auf die Individuen in unterschiedlichen Lebensphasen treffen (Abschn. 5.2). Daran anschließend wird Prozess der Sozialisation auf Modelle der sozialbiografischen Entwicklung (Abschn. 5.3) sowie auf den Einfluss von kritischen Lebensereignissen auf die Sozialisation bezogen (Abschn. 5.4).
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Die Notwendigkeit der Prozessperspektive
Ganz gleich in welchem sozialisationstheoretischen Ansatz wir uns bewegen, Sozialisation wird stets als ein Prozess gedacht, der von einem Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft durchlaufen wird. Insofern handelt es sich bei der Sozialisation um einen Prozess, der in der chronologischen Zeit der Lebensspanne einer Person mehr oder weniger aktiv vollzogen wird. Der Prozess kann dabei durch exogene Faktoren, endogene Gesetzmäßigkeiten, als Wechselwirkungen individueller und gesellschaftlicher Bedingungen oder als umfassender ökosystemischer Zusammenhang über verschiedenste Einheiten und Dimensionen bestimmt angenommen werden. Dahinter verbirgt sich die Problematik, wie komplex das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft gedacht werden sollte.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_5
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5 Lebenslauf und Sozialisation – ein Paar Schuhe?
Da die Lebenslaufforschung ebenfalls eine lebenszeitliche Prozessperspektive bevorzugt, eignet sie sich erstens als ein geeigneter Beobachtungsstandpunkt. Veränderungen der individuellen Person als Ausdruck der Sozialisation müssten insofern immer als Veränderungen der Person im individuellen Lebenslauf sichtbar werden. Insofern stellen Sozialisationsphasen immer auch Lebenslaufphasen dar und auch der Einfluss von Sozialisationskontexten und Sozialisationsinstanzen kann lebenslauf- bzw. lebensphasenspezifisch untersucht werden. Lebenslaufper spektive und Sozialisationsforschung sind somit in zeit- und prozesstheoretischer Hinsicht höchst kompatibel. Zweitens gibt es einen eher forschungspraktischen Vorteil. Da die Problematik der Sozialisation immer mindestens Prozesse auf der individualpsychischen und der sozialen Ebene beinhaltet und in neueren Ansätzen von einem bio-psycho- sozialen Zusammenspiel ausgegangen wird, erweist sich die interdisziplinäre Tradition der Lebenslaufforschung als günstiger wissenschaftspraktischer Umstand. Es ist also leicht, Forschungsergebnisse aus der Psychologie, Neurobiologie und Soziologie – aber auch weiterer Fächer wie der Rechtswissenschaft, Kulturanthropologie, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft oder Kriminologie – aufzugreifen und miteinander zu vergleichen. Zudem sind selbstverständlich Forschungsdesigns denkbar, die mehrere Disziplinen von vorneherein miteinander zur Untersuchung eines Phänomens verbinden (s. Kap. 12). Insofern ist die von Bronfenbrenner mit Chronosystem bezeichnete Dimension des sozial-ökologischen Ansatzes eine interessante Perspektive. Denn, wenn der Lebenslauf im Sinne Kohlis die Funktion einer sozialen Institution einnimmt, dann kann das Lebenslaufregime als das entscheidende Chronosystem der Sozialisation angesehen werden. Insofern lässt sich fragen, ob nicht jeder Ansatz der Sozialisation zu gewissen Aussagen über das Zusammenspiel von konkreten Agenten auf der Mikroebene, Sozialisationsinstanzen auf der Mesoebene und sozialen Kontexten der Makroebene gelangen müsste. Damit wollen wir uns im nächsten Abschnitt ausgehend von den Sozialisationsinstanzen im Lebenslauf näher beschäftigen.
5.2
Lebensphasen und Sozialisationsinstanzen
Ein häufig gebrauchter, jedoch meist wenig präzise verwendeter Begriff ist der Terminus „Sozialisationsinstanz“. In der siebten Auflage des Handbuchs der Sozialisationsforschung existierte noch ein ganzer Teil zum Thema „Zentrale Instanzen“ der Sozialisation (Hurrelmann et al. 2008, S. 256 ff., 9 Beiträge), das in der achten Auflage nur noch vage mit „Kontexte der Sozialisation“ (Hurrelmann et al. 2015, S. 354 ff., 12 Beiträge) betitelt ist. Als klassische Sozialisationsinstanzen können
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die Familie, die Schule und der Betrieb (die Arbeitswelt) gelten. Hinzugenommen werden heutzutage Krippe und Kindergarten (vorschulische Sozialisation), soziale Beziehungen zwischen und Gruppen von Gleichaltrigen („Peers“), Kontexte der Weiterbildung, Massenmedien und Hochschule. Interessant ist vielleicht auch, dass mittlerweile auch „soziale Arbeit“ oder „Einwanderungsgesellschaften“ als Sozialisationsinstanzen bzw. Sozialisationskontexte fungieren können. Und schon seit längerem wird sozialen Wohnumgebungen (Stadtviertel, Wohnsiedlungen) oder sozialen Milieus der Stellenwert von Sozialisationskontexten gegeben. Inte ressant ist womöglich auch, dass Schule als Instanz bzw. Kontext der Sozialisation gilt, während Bildung als Dimension der Sozialisation auftaucht (Aßmann 2015; Hopf 2015). Als weitere Dimensionen werden Geschlecht, Selbstbild, Problemverhalten oder politische Orientierungen gehandelt. Solche Spezialisierungen können aber auch als Zersplitterung von Forschungsgegenständen und Forschungsdimensionen konstatiert werden. Insofern eröffnet die Verbindung von Lebenslauf- und Sozialisationsperspektive eine konstruktive Re-Integration der vielfach durch Spezialisierung isoliert untersuchten Forschungsfragen zu den Sozialisationsinstanzen in einem gemeinsamen Problemhorizont. So verwendet Grundmann (2006, S. 97) nutzt den Begriff Sozialisationsinstanz stillschweigend und unterscheidet den primären Kontext „Familie“ und den sekundären Kontext „Schule“. Geulen (2007, S. 142) spricht von „sogenannten Sozialisationsinstanzen“, zählt allerdings eine ganze Reihe auf: „Familie“, „Peers“, „Massenmedien“ und „Schule“ für die „Sozialisation in der Kindheit“ und „Beruf“ für das „Erwachsenenalter“ (Geulen 2007, S. 150–155). Eine klare Definition findet sich allerdings nicht. Warum könnte es also aus analytischen Gründen wichtig sein, an dem Begriff der Sozialisationsinstanz – im Unterschied zu Kontext oder Dimension – festzuhalten? Und weshalb soll dabei auf eine präzise Bestimmung des Sachverhalts der Sozialisationsinstanz geachtet werden? Im Duden finden wir als Umschreibung für die Bedeutung von Instanz die Wendung „zuständige Stelle“. Das ist bemerkenswert. Denn überträgt man dies nun auf die Wortzusammensetzung „Sozialisationsinstanz“, dann wären damit die für Sozialisation zuständigen Stellen (in der Gesellschaft) gemeint. Zuständigkeiten müssten dabei stets von der Gesellschaft als Makrostruktur, als Gesamtkontext übertragen werden. Eine zuständige Stelle besitzt ‚Hoheitsgewalt‘, Autorität. Das bedeutet: sie ist zu einem Tun und Eingreifen einerseits ermächtigt, andererseits hat sie dieses Tun und Eingreifen zu verantworten und kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Darauf aufbauend lässt sich zwischen einer ‚weiten‘ Auffassung von Sozialisationskontexten und einer engeren Vorstellung von Sozialisationsinstanzen unterscheiden. Sozialisationskontexte sind die sozialen Einheiten, die auf den Prozess der Sozialisation einwirken kön-
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nen; Sozialisationsinstanzen sind die sozialen Einheiten, die in den Prozess der Sozialisation eingreifen können und auch müssen. Das heißt: Sozialisationsinstanzen können für ihr Eingreifen bzw. Nicht-Eingreifen in den Sozialisationsprozess zur Rechenschaft gezogen werden. Insofern verwundert es nicht, dass Familie und Schule, aber auch die Berufsausbildung (Lehre) als Sozialisationsinstanzen genannt werden. Denn für alle drei Kontexte gilt, dass sie nicht nur Einflusschancen auf den Sozialisationsprozess von Individuen besitzen, sondern ihnen auch Einflussplichten im Sinne der Verantwortung für Sozialisationseffekte zugemutet werden. Daher wird ihnen sozialisatorische Autorität im Sinne von Erziehungsberechtigung verliehen. Erinnern wir uns an den Unterschied von Sozialisation und Erziehung: „Erziehung ist ein intentionales, zielgerichtetes und geplantes Handeln (…). Sozialisation (ist) die Gesamtheit aller Lernprozesse, die auf Grund der Interaktion des Individuums mit seiner gesellschaftlichen Umwelt stattfinden“ (Geulen 2007, S. 142). Mit Erziehung werden bestimmte soziale Instanzen beauftragt (Erziehungsauftrag). Dieser Erziehungsauftrag nimmt sie in Verantwortung für die Effekte der Sozialisation, die von ihnen in der Interaktion mit Sozialisanden ausgelöst worden sein könnten. Dabei handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von einzelnen Akteuren (Eltern und Kind auf der Mikroebene), verschiedenen Instanzen (wie Kindern, Eltern und Schule auf der Mesoebene) und gesellschaftlichen Funktionssystemen (Erziehung als gesamtgesellschaftlicher Auftrag auf der Makroebene).
Familie als primäre Sozialisationsinstanz Am Beispiel der Familie als primärer Sozialisationsinstanz zeigt sich somit schon, wie Prozesse auf der Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verbunden sind, auch wenn sich die Sozialisation in der Phase der frühen Kindheit (primäre Sozialisationsphase) überwiegend im mikrosozialen Raum der Familie und als Interaktion zwischen Eltern und Kind abspielt (vgl. Funcke und Hildenbrand 2018). Wie können wir die Familie als sozialen Sachverhalt beschreiben? Zunächst handelt es sich um eine besondere Beziehungsform. Ihr entscheidendes Merkmal stellt die Gegebenheit eines intergenerationellen Verhältnisses dar, einer Beziehung zwischen mindestens zwei Generationen, der Eltern- und der Kindergeneration. Als Minimalform würde ein Elternteil mit einem Kind gelten, so je mindestens eine Person die Eltern- und eine die Kindergeneration repräsentierte. Die heute typische und am häufigsten vorkommende Form ist die sogenannte Kern familie, bestehend aus Vater, Mutter und ein bis zwei Kindern. In der Regel liegt biologische Verwandtschaft vor. Definitorisch entscheidender ist jedoch die
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sozial gültige Konstruktion der Elternschaft, die auch in Adoption, in Wiederverheiratungsfamilien oder in nicht-ehelichen Familienformen bestehen kann. Auch größere Familieneinheiten wie die Mehrgenerationenfamilie (Großeltern, Eltern, Kinder) oder ein Verwandtschaftssystem (Clan) können vorkommen, auch wenn sie in unserer Gesellschaft seltener und kulturell teilweise weniger bevorzugt sind oder als minoritäre Kulturen existieren. Für Familie gilt intern eine besondere Form der Verbundenheit, die sich als Solidargemeinschaft beschreiben lässt. Tragendes Element ist das Prinzip der Sorge, zunächst der Eltern für die Kinder; was jedoch auch in späteren Familienphasen umgekehrt zur Sorge der Kinder für die Eltern werden kann. In der modernen Form der Kernfamilie wird ein besonderes Nahverhältnis ausgebildet, das zunächst auf dem Prinzip der dauerhaften Anwesenheit beruht. Die Angehörigen der Kernfamilie leben und wohnen an einem Ort, dem Haushalt der Familie. Anwesenheit der Familienangehörigen wird stillschweigend der Abwesenheit vorgezogen. Zwar können sich Angehörige der Familie vorübergehend vom Ort des Haushalts entfernen, aber sie kehren stets zurück. Die stillschweigende Ausrichtung der Handlungen an bestimmte Anforderungen ist in verschiedenen Hinsichten für die Familie typisch, nicht nur bei der Bevorzugung der Anwesenheit, sondern auch bei den Orientierungen an Solidarität (gegenseitiger Unterstützung), Liebe und Vertrauen. In einer Familie ist man füreinander da – und dies unbedingt, ohne Einschränkung. Die Familie hält zusammen – ohne, dass dies ausdrücklich gesagt werden müsste – aufgrund von affektiver Bindung: sie unterstützten sich, weil sie sich lieben (besonders gernhaben). Sie wollen emotional nicht auf die Anwesenheit der anderen Familienangehörigen verzichten. Und auch das Vertrauen untereinander wird unausgesprochen vorausgesetzt. Würden Kinder ihren Eltern, Eltern ihren Kindern oder die Eltern sich gegenseitig misstrauen, wäre dies ein Zeichen dafür, dass die Familienbeziehungen nicht intakt wären. Wenn von stillschweigendem Voraussetzen die Rede ist, bedeutet dies nicht, dass es in Familien nie vorkäme, dass man sich nicht unterstützt, nicht liebt oder nicht vertraut. Nur wären dies – nach unseren kulturellen Hintergrundannahmen – Hinweise auf Probleme der Beziehungsqualität innerhalb der Familie. Was heißt es, dass Liebe, affektiv begründete Solidarität und Vertrauen als stillschweigende Anforderung innerhalb der Familie gelten? Der Begriff „tacit demand“ stammt von dem finnischen Sozialphilosophen Olli Lagerspetz (1998). Darauf, dass es stillschweigend gefordert wird, beruhen Haltungen der Liebe, des Vertrauens oder der unbedingten Solidarität. Sie bilden sich von sich – wie von selbst – aus. Familie – wie einige andere höchst persönliche soziale Nahverhältnisse – bestehen in einem besonderen Anerkennungsverhältnis, in der Achtung des anderen als ganz besondere Person, als genau die Person, die der andere ist. Um den anderen in seiner
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besonderen Lebensweise zu verstehen, muss man darauf achten, wie sich der andere zur Welt verhält und wie er die Welt erlebt. Damit wird der Andere als ganze Person verstanden. Familie wie die Liebe zwischen zwei Erwachsenen beruht auf diesem Verstehen des anderen in seinem ganzen Weltverhältnis. Darin steckt auch die ‚unbedingte Solidarität‘ – als stets mitlaufend geforderte Anteilnahme an der Welt aller anderen Familienangehörigen. Umgekehrt gilt Gleichgültigkeit gegenüber den Widerfahrnissen der anderen als Lieblosigkeit und höchste Form der Missachtung innerhalb des modernen Verhältnisses der Kernfamilie (Luhmann 1982). Wenn Bronfenbrenner (1981) also von der „Primärdyade“ spricht, dann handelt es sich im Fall der Familie zugleich um ein Mikrosystem und eine Makrostruktur. Es handelt sich jeweils um ganz konkrete Beziehungen zwischen einzelnen Personen und um Beziehungen innerhalb der Familie als einem spezifischen Funktionssystem der modernen Gesellschaft. Auch wenn die Haltungen der Liebe, der Solidarität und des Vertrauens den Kern der Binnenregulation des Familiensystems ausmachen, so ist die Familie trotzdem intern sozial differenziert. Sie besteht aus elementaren Generations- und Geschlechtsdifferenzen: Kinder sind keine Eltern, Männer sind keine Frauen – und umgekehrt. Die sozialen Differenzen Eltern/Kind und Mann/Frau erzeugen unterschiedliche Klassen, soziale Positionen, Rollenerwartungen und Funktionen sowie nicht zuletzt Hierarchien. Und wie Familien intern kulturell interpretiert werden, hängt sehr stark davon ab, in welchem Milieu und in welchem sozialräumlichen Kontext eine Familie lebt; im Arbeiter-, Angestellten-, Unternehmer- oder Akademikermilieu; auf dem Dorf, in einer Kleinstadt, in der Vorstadtsiedlung einer modernen Großstadt oder in deren Villenviertel. Und ein weiterer Aspekt: Auch wenn die stillschweigend in Familien geforderten Haltungen der Liebe, der Solidarität und des Vertrauens harmonieorientiert erscheinen, so ist die Familie nicht zuletzt aufgrund dieser Art der Binnenregulation eine Brutstätte von Konflikt, Konkurrenz und Rivalitäten: zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kind, zwischen den Geschwistern. Denn Familien sind in der Regel sowohl Dyaden als auch Triaden. Familie ist auf der einen Seite das Positions-Dreieck ‚Vater – Mutter – Kind‘ und auf der anderen Seite die rivalisierende Dynamik von Dyaden, die andere ausschließen: Vater – Mutter vs. Mutter – Kind vs. Vater – Kind. Oder: Bruder – Mutter vs. Schwester – Mutter; oder älterer Bruder – Vater vs. jüngerer Bruder – Vater; und so weiter. In Familien kann immer wieder die Konkurrenz darüber entflammen, wer von wem mehr Beachtung bekommt und wer nicht. Familienverhältnisse und einzelne Beziehungen in ihnen sind daher auch auf ganz spezifische Weise verletzbar. Da sie auf die Achtung des anderen als ganze Person orientiert sind, bezieht sich jede Missachtung des anderen ebenfalls auf ihn
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(oder sie) als ganze Person. Achtung wie Missachtung, Liebe wie Nicht-Liebe, Solidarität wie Gleichgültigkeit, Vertrauen wie Misstrauen trifft jeweils die Integrität (Würde) der Person. Deswegen stellen Gewalt und Missbrauch innerhalb der Familie besondere Angriffe dar. Dementsprechend gibt es auch im Rahmen der Familie besondere kritische Lebensereignisse, wie Verlust eines Familienangehörigen durch (unerwarteten) Tod, längere Abwesenheit eines Familienangehörigen durch schwere Krankheit, durch Berufstätigkeit an einem fernen Ort, durch dauerhafte Formen der Trennung. Was hat das alles mit Sozialisation zu tun? Was mit Lebenslauf und Lebensphasen? Die Familie ist in der Regel nicht nur der erste, sondern auch der zunächst einzige soziale Kontext des Individuums. Hier durchlebt die Person erste Sozialisationserfahrungen und erste Entwicklungsschritte. Die Familie sorgt somit für die zeitlich primären Bedingungen der Sozialisation, für das, auf das alles weitere aufbaut. Familie ist somit entscheidend dafür, wie ein Kind zum Anfang interpersonale Beziehungen erlebt, in welchen Spielraum es darauf reagieren und auf was es dort zurückgreifen kann. Familie ist erst einmal entscheidend dafür, wie Kinder Beziehungen zu anderen Personen wahrnehmen und wahrzunehmen lernen, wie sie zu Urteilen und Bewertungen über zwischenmenschliche Beziehungen gelangen, und wie sie einen Nahraum von familiären Beziehungen (zu Eltern, Geschwistern, Verwandten) von weiteren Beziehungen zu anderen außerhalb der Familie zu unterscheiden lernen. Bei all dem geht es primär um die Ausbildung von Verhältnissen der zwischenmenschlichen Achtung anderer Personen als Person. Es geht um den Kern der interpersonalen Strukturierung von Beziehungen, darum, wie der andere als Person zu mir und ich als Person zu ihm stehe. In der Familie lernt das Individuum den Umgang mit anderen, das, was mit ihnen geschieht, persönlich zu nehmen und, dass andere dies ebenfalls persönlich nehmen können. Davon unterscheidet sich elementar der Bereich, der in der Regel als Zentrum der sekundären Sozialisation gesehen wird, die Schule als Sozialisationsinstanz.
Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz Schule als zentraler Ort der Allgemeinbildung ist ein höchst prominenter Forschungsgegenstand der Soziologie und der Bildungswissenschaften insgesamt. Er ist viel und vielfältig untersucht worden (dazu übergreifend Teltemann 2019, S. 77 ff.). Die Organisation der Schule und des Schulbesuchs hängt eng mit der Strukturierung der Lebensphasen von Kindheit, Jugend und der frühen Erwachsenenphase zusammen. Der verpflichtende Schulbesuch im Umfang von
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rund zehn Jahren erzeugt eine Lebensphase mit altersspezifischen Anfangs- und Endpunkten, die für viele (nahezu alle) Individuen der modernen Gesellschaft gilt und wirksam wird. Das bedeutet nicht, dass die Erfahrungen, die die einzelnen Subjekte in der Schule machen, nicht unterschiedlich sein können. Ebenso werden sie erheblich davon abhängen, ob sie von Mädchen oder Jungen, von Kindern mit oder ohne Migrationshintergrund, oder von Schülern aus Arbeiter-, Angestelltenoder Unternehmerfamilien gemacht werden. Trotz aller geschlechts-, klassen- oder migrationsspezifischen sozialen Ungleichheiten bleibt es eine soziale Tatsache, dass für das Gros der heranwachsenden Bevölkerung der Schulbesuch zwischen dem ungefähr sechsten bis zum ungefähr sechzehn Lebensjahr einen zentralen, alltäglich wiederkehrenden Lebens- und Erfahrungshorizont darstellt. Als ein solcher Lebens- und Erfahrungshorizont wäre die Schule erstens ein Sozialisationskontext, eine höchst relevante soziale Umwelt des sich entwickelnden Individuums. Zweitens würde es sich auch um eine Sozialisationsinstanz handeln, denn die Schule hat den gesellschaftlichen und in Deutschland sogar staatlichen Auftrag, die allgemein-schulische Ausbildung der nachwachsenden Generation sicher zu stellen (selbst wenn dieser staatliche Auftrag in Deutschland in die Hände der Bundesländer gelegt wurde). Schule ist im Lebenslauf des modernen Individuums die zweite mit einem spezifischen Erziehungsauftrag ausgezeichnete gesellschaftliche Instanz. Was macht Schule somit als Sozialisationskontext und was als Sozialisationsinstanz aus? Auch hier gilt es wiederum die breite Vielfalt von Schulformen, die verschiedenen Aspekte des schulischen Lebens und deren einzelnen Elemente darauf hin zu betrachten, was an ihnen Schule als spezifischen sozialen Sachverhalt kennzeichnet. Schule stellt einen besonderen Fall der formalen, womöglich sogar der formal- bürokratischen Organisation dar. Dies gilt umso mehr, wenn das Bildungssystem der Gesellschaft auf staatlichen Schulen statt auf Schulen in privater Trägerschaft aufbaut. Und es gilt umso mehr, wenn die Schulpflicht zudem eine Unterrichtspflicht bedeutet, also den regelmäßigen Besuch eines Unterrichts in Schulen als Organisationen. Formale Organisation heißt dabei, dass die Abläufe, Handlungen und Entscheidungen in den Schulen weitgehend formal, durch in der Regel schriftlich fixierte Verfahrensregeln bestimmt sind. Dass jemand zur Schule gehen soll oder muss, ist ebenso geregelt wie die Dauer und die Inhalte dieses Besuchs. Wann, wo und mit welchem Erfolg jemand die Schule besucht hat, wird durch Zeugnisse aktenkundig gemacht, sprich: dokumentiert. Dokumentiert ist auch, nach welchen Kriterien der Schulerfolg einer Person zu beurteilen ist, letztlich sogar auch, wann Bewertungen (Noten) angefochten werden können. Selbstverständlich ist auch geregelt, wer an Schulen lehren darf, worin angemessene (und unangemessene)
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ehrmethoden bestehen, und so weiter. Wer und was zur Schule zählt, ist somit L stets formal reguliert. Dabei ist nicht wichtig, dass in Bezug auf die zentralen Aspekte des schulischen Lebens auf formale Regeln zurückgegriffen werden kann und dass dies dokumentiert wird. Die Schule hat darüber hinaus eine soziale Beglaubigungsfunktion für den Bildungsprozess, den die Kinder und Jugendlichen in ihr durchlaufen und zum mehr oder weniger erfolgreichen Abschluss gebracht haben. Schulen produzieren Zertifikate für Menschen in einer Gesellschaft, in denen formale Beglaubigungen (wie Zeugnisse, Bescheinigungen, Urkunden) zentral sind. Diese Beobachtung geht auf den US-amerikanischen Soziologen Randall Collins (1979) zurück. Er spricht von einer „Credential Society“, die sich insbesondere mit Bezug auf die Beglaubigung von Qualifikationen auf „Certificates“ – Zertifikate – verlässt. Formale Regulierung und Zertifikate schaffen eine unpersönliche, oder vielleicht besser: überpersönliche soziale Ordnung. Formale Regeln gelten darin – wie es Max Weber ausgedrückt hat – „ohne Ansehen der Person“. Damit ist auch die formale Gleichbehandlung der Akteure gemeint, die eine formale bzw. formal- bürokratische Organisation durchlaufen. Schule als Organisation beruht dabei nicht auf freiwilliger, individuell und jederzeit kündbarer Mitgliedschaft, sondern die Mitgliedschaft ist obligatorisch – eine qua Gesetz durchsetzbare Pflicht. In der unpersönlichen Orientierung unterscheidet sich die Schule diametral von der Familie, bei der wir gesehen haben, dass sie eine höchstpersönliche Form der gegenseitigen Achtung verlangt. In der Schule dagegen ist die Anerkennung auf der Basis überpersönlich geltender Kriterien den Individuen entgegen zu bringen. Die formalen Beurteilungsgesichtspunkte sollen nicht nur auf die Besonderheit einer Person, sondern auf alle gleichermaßen bezogen werden können. Die Schule beruht auf der einen Seite also auf einem formal-rechtlichen Anerkennungsprinzip – im Unterschied zur Familie, in der ein höchst persönlicher Anerkennungsmodus vorherrscht. Ist dies nun so zutreffend? Kann und soll die Schule wirklich auf ‚mich als einzelnen Schüler‘ ausschließlich so eingehen wie auf jeden anderen Schüler auch? Oder muss sie nicht doch die individuelle Entwicklung jedes einzelnen Schülers als je besonderes Kind im Blick haben? Es gibt daher eine zweite Funktion, die innerhalb der Bildungsprozesse in der Schule wahrgenommen werden soll, und das ist die Initiierung von Bildung – als Anregung zur Änderung individueller Verhaltensdispositionen (also von persönlichen Wahrnehmungs-, Beurteilungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern). Kinder sollen sich im Rahmen ihrer Schullaufbahn hinsichtlich ihrer Kompetenz verändern; sie sollen sich vor
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allem in der Gesellschaft allgemein relevante Kompetenzen aneignen. Es reicht unter dem Gesichtspunkt dann nicht, wenn Personen in der Rollenfunktion der Lehrer allen auf die gleiche Weise einen ausgewählten Lehrstoff vermitteln. Sie können die gewünschten Kompetenzen nur dann angemessen vermitteln, wenn sie die persönliche Lerngeschichte jedes einzelnen berücksichtigen. Denn es kann im Prozess des schulischen Lernens nicht sichergestellt werden, dass alle Schüler auf genau gleiche Weise lernen, d. h. sich Wissen und Kompetenzen auf dieselbe Art aneignen. Während also die Schule in ihrer Organisation eine formelle Ordnung herstellt, so ist sie auf der Ebene des Unterrichts, der die Hauptform der Begegnung zwischen Lehrern und Schülern repräsentiert, ein Verhältnis der interpersonalen Interaktion. Wie die Beziehung im Elternhaus treffen also auch Schüler und Lehrer in einer räumlich-physischen Situation ‚face-to-face‘ aufeinander. Auf dieser Ebene ist das Handeln jeweils gegenseitig als persönliches Erleben und Tun wahrnehmbar. Im Unterricht reagieren Schüler auf die Lehrerin, die gerade konkret vor Ort ist, und umgekehrt reagieren die Lehrer auf die Schüler, die jetzt und hier persönlich anwesend sind. Genau dieser Umstand macht Schule wieder zu einer persönlichen Angelegenheit. Schule hat insofern eine merkwürdige Sowohl-Als-Auch-Struktur. Sie ist sowohl persönlich als auch unpersönlich. Wenn wir nun hinzunehmen, dass Schule die zweite Sozialisationsinstanz im Lebenslauf des Individuums ist, und damit auch den zweiten markanten Sozialisationskontext darstellt, dann ergibt sich daraus eine besondere Strukturierung der Herausforderungen des Individuums als biografische Abfolge seiner sozialen Lebensumfelder. Denn hier tritt neben das zwischenmenschlich-persönliche Feld der Familie auf der einen Seite das unpersönliche Regelsystem der Schule, die auf der anderen Seite jedoch im Interaktionsfeld des Unterrichts unausweichlich persönliche Aspekte aufweist. Für das sich entwickelnde Individuum wechselt somit nicht einfach die Struktur der sozialen Herausforderungen von persönlich zu unpersönlich, sondern zu einer überwiegend das persönliche Individuum achtenden sozialen Umgebung tritt eine weitere soziale Umgebung hinzu, die mal auf unpersönliche, formale Regeln und mal auf persönliche Besonderheiten achtet. Die wesentliche Herausforderung für das Subjekt in der sekundären Sozialisation ist somit zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen der sozialen Umfelder, in denen es sich wechselweise aufhält, zu unterscheiden zu lernen, so dass es je nach Situation abwägen kann, welche Reaktionsform angemessener ist.
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Die Sozialisation Erwachsener durch Arbeit Von dem Arbeits- und Organisationspsychologen Ernst H. Hoff (1990) wurde der Begriff der „doppelten Sozialisation“ Erwachsener geprägt. Er weist mit diesem Ausdruck darauf hin, dass die Sozialisation im Erwachsenenleben nicht nur durch die Erwerbsarbeit im Beruf, sondern auch durch das private Leben in einem neu und eigenständig gegründeten Haushalt geprägt ist, das ebenso von einer bestimmten Art der Arbeit – nämlich der Hausarbeit – gekennzeichnet ist, die sich jedoch in ihrer Erwartungsstruktur von der beruflichen Arbeit unterscheidet. Aus Hoffs Sicht ist der Übergang in das Erwachsenenalter insofern durch zwei Statuswechsel geprägt, der beruflichen und erwerbsökonomischen Selbstständigkeit und der Gründung eines eigenen Haushalts, in der Regel als Paarbeziehung und Familie. Damit wird das Erwachsenenleben durch zwei gesellschaftlich zugerechnete Verantwortlichkeiten bestimmt: für die Kontinuität der eigenen Erwerbslaufbahn und für die damit in Zusammenhang stehenden Belange des Haushalts, des Partners und ggf. der eigenen Kinder, die häufig zwischen den Geschlechtern auf bestimmte Weise aufgeteilt ist und daher auch die geschlechtsspezifische Sozialisation wesentlich beeinflusst. Insofern stehen Erwachsene zum einen einem neuen Sozialisationskontext gegenüber – der Arbeit. Und in einem anderen Sozialisationskontext – der Familie – wechseln sie die soziale Position und die damit an sie adressierten Rollenerwartungen. Die Arbeitswelt ist konstitutiv durch die Marktförmigkeit der dortigen sozialen Beziehungen gekennzeichnet. Erfolg im Beruf bedeutet: Durchsetzung in der Konkurrenz um knappe Stellen (Mannheim 1930; Giegel 1995; Corsten und Hillmert 2001). Erfolg kann dabei durch formale Leistungen (Qualifikation, Sachkompetenz) getragen sein. Mannheim spricht dabei von beruhigten Zonen einer geordneten Konkurrenz (zum Beispiel durch intern betrieblich oder tariflich vereinbarte Karrierestufen). Demgegenüber sieht er die Form einer ungeregelten Konkurrenz als „Kampfspielraum“, in der weder genau festgelegt ist, welche Stellen höher belohnt werden und wer um die Stellen konkurrieren kann. Im zweiten Fall ist gar nicht sicher, was als Erfolg zählt, sondern der Erfolg ist von der Verfügung über Extraqualifikationen, Geschick in Situationsdeutungen und Selbstdarstellungsfähigkeiten abhängig. Die formal bestimmbaren Leistungen werden dabei oftmals als „Kompetenzen“, die Extraqualifikationen, das Geschick und die Selbstdarstellung als „Performanz“ oder auch „Performativität“ bezeichnet. Ein entscheidender Punkt ist also, dass die berufliche Form der Arbeit durch ökonomischen Tausch, in der Regel über Geld, belohnt wird. Die Erwerbsarbeit sichert somit das dem eigenen Haushalt zur Verfügung stehende Einkommen, das
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von Erwachsenen erbracht wird. Aus Sicht des privaten Haushalts kann dadurch das Problem der Versorgung gelöst werden. Dadurch wird nun die Frage nach der Geschlechterdifferenz in Sozialisationskontexten zugespitzt. Sind beide Erwachsene (im erwartbaren Durchschnitt: die Eltern) erwerbstätig und tragen zur ökonomischen Versorgung und Absicherung bei? Oder findet eine Rollenteilung statt? Einer ist für die Erwerbsarbeit und das Einkommen, die andere überwiegend für den Haushalt und die Sorge um die Kinder zuständig. Nach wie vor gibt es eine Tendenz, dass sich eine klassisch geschlechterdifferenzierte Arbeitsteilung durchsetzt: der Mann übernimmt überwiegend Verantwortung für die Erwerbsarbeit und die Frau für die private Seite der häuslichen Arbeiten (Burkart et al. 1999) Aber auch die Sozialisation durch Erwerbsarbeit ist stark von Geschlechterdifferenzen gekennzeichnet. Dies zeigt sich etwa in der starken Verteilung der ausgeübten beruflichen Tätigkeiten in männerdominierte und frauendominierte Berufsfelder und auch in der Geschlechterungleichheit bei der Berufswahl (Solga und Konietzka 2000). Dies trägt auch zu systematisch verschiedenen Einkommenschancen für Männer und Frauen bei. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Ungleichheit der Geschlechter im Kontext von Beruf und Hausarbeit offensichtlicher werden. Aber wird sie auch erst in dieser Lebens- und Sozialisationsphase bewirkt? Oder geht sie auf weniger offensichtliche Effekte der primären und sekundären Sozialisation zurück? Ursula Rabe-Kleberg (1995) hat schon vor etwa 25 Jahren gefragt, wie es komme, dass Schülerinnen mittlerweile höhere und bessere Schulabschlüsse als Schüler machen würden, und trotzdem in der Berufskarriere das Nachsehen hätten? Dies ist eine interessante Frage, die sich nur in einer lebenslaufsoziologischen Betrachtung klären lässt, die die Entwicklungen der Individuen in ihrem Prozess des Durchlaufens der primären, sekundären und tertiären Sozialisationsphasen genau beobachtet. Wie bewältigen sie in diesen Phasen die je besonderen Herausforderungen der Sozialisationsinstanzen und Sozialisationskontexte? Welche Einflüsse der Sozialisationskontexte führen mehr oder weniger offensichtlich zu sozial ungleichen Entwicklungen – zwischen Mann und Frau, Individuen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft, Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund und so weiter. In sozialisationstheoretischer Hinsicht bliebe noch zu fragen, ob es sich bei der Welt der Arbeit (im Betrieb und im Haus) auch jeweils um Sozialisationsinstanzen handelt. In Bezug auf die „Sozialisation durch Arbeit“ fragte Wolfgang Lempert (1998) zumindest danach, „was Berufe aus Menschen machen“. Die Rede davon, dass innerhalb eines Haushalts Akteure ‚zuständig‘ für die Erwerbsarbeit und das Einkommen sowie für das Führen des Haushalts und die Erziehung der Kinder sind, legt die Vorstellung nahe, dass diese Zuständigkeiten gesellschaftlich an die Akteure ‚adressiert‘ würden, und zwar wahrscheinlich sogar in ungleicher Form.
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Aber durch welche Regelungen wäre eine solche Adressierung gedeckt? Müssen Menschen wirklich arbeiten, um ein Einkommen zu haben? Könnte es nicht ein garantiertes Grundeinkommen geben? Oder: Warum gibt es dieses kaum in heutigen Gesellschaften? Und was unterscheidet ein garantiertes Grundeinkommen etwa von Sozialhilfe (Hartz IV) oder Arbeitslosengeld? Aus soziologischer Per spektive entscheidend könnte sein, dass den Individuen in der Erwachsenenphase nicht nur bestimmte Verantwortlichkeiten als erwerbsfähige Personen oder Eltern zugemutet werden, sondern ihnen auch Sanktionen drohen, wenn diese Verantwortlichkeiten nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden. Wer erwerbsfähig ist, aber keine Arbeit hat, und deshalb Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe erhalten will, muss sich für den Arbeitsmarkt – wie es so schön heißt – zur Verfügung halten, und dies auch aktiv, in Form von regelmäßigen Bewerbungen um knappe Stellen. Der Sozialstaat ‚bestraft‘ insofern ein Verhalten, dass sich einer Konkurrenz um knappe Stellen entzieht. Und in ähnlicher Weise droht Eltern der Entzug der Sorge um ihre Kinder, wenn sie deren Wohl nach den Vorstellungen des Kinder- und Jugendschutzes gefährden. Der Hintergrund der langfristig eintretenden gesellschaftlichen Sanktionen bei fehlender Verantwortungsübernahme für sich selbst und andere (Kinder), und die Fähigkeit des modernen Individuums deren Eintritt zu antizipieren, ist der wesentliche Grund für die im dritten Kapitel mit Martin Kohli formulierte These, dass der Lebenslauf als Institution auch die Rationalisierung und Selbstdisziplinierung der individuellen Lebensführung begünstigt.
Weitere Sozialisationskontexte Wir haben in der Einleitung zum Abschnitt der Sozialisationsinstanzen gelesen, dass in der Forschung neben der Familie, der Schule und der Arbeitswelt eine ganze Reihe von Sozialisationskontexten untersucht werden: Medien, Peers, soziale Arbeit, Weiterbildung, Milieus, wohnräumliche Umfelder und so weiter. Wir haben hier von den weiteren Kontexten abgesehen, da sie entweder keine spezifischen Instanzen der Sozialisation darstellen und/oder weil sie nicht als lebensphasenspezifische Kontexte wirken. So kann soziale Arbeit sehr wohl als eine Instanz im Leben einer Person auftreten, weil sie etwa als Jugendpfleger oder Bewährungshelfer zuständig für die weitere Entwicklung einer bestimmten Person sind. Aber dieser Fall kann sich jederzeit im Leben ereignen. Sein Eintritt ist nicht bedingt durch eine besondere Lebensphase. Medien dagegen stellen einen ständigen Sozialisationskontext über die gesamte Lebensspanne der Person dar. Zwar macht es einen Unterschied, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene Medien nutzen, und
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Medien stimmen ihr Angebot auch altersgemäß ab. Aber es handelt sich nicht um eine obligatorische Instanz, da es durchaus denkbar ist, dass Eltern für ihre Kinder oder Erwachsene für sich selbst auf die Nutzung spezifischer Medien verzichten. Zwar ist es kaum möglich, alle Medien zu meiden, aber es lässt sich nicht von vorneherein sagen, welche Medien für welche Lebensphase zu welcher historischen Zeit mehr oder weniger Einfluss haben. Mediennutzung ist freiwillig und weitgehend gestaltbar. Dagegen wären das Aufwachsen ohne Familie, das Fernbleiben in der Schule oder Erwerbslosigkeit jeweils gesellschaftliche Grenzfälle. Und auf ähnliche Weise geht sicher jeder irgendwelchen Freizeitbeschäftigungen nach und pflegt Freundschaften und Bekanntschaften. Aber auch hier ist lebenszeitlich weniger festgelegt, in welchen sozialen Kontexten die Freizeitaktivitäten ausgeübt werden oder aus welchen Kreisen sich Freunde und Bekannte speisen. Trotzdem können auch in diesen loser mit dem Lebenslauf und der modernen Lebensführung verkoppelten sozialen Kontexten selektive Sozialisationseffekte wirksam werden. Jedoch sind sie eher indirekt, über weitere soziale Kategorisierungen der Person vermittelt.
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Sozialisation und sozialbiografische Entwicklung
Wir haben uns im letzten Abschnitt mit Sozialisationsinstanzen im Lebenslauf beschäftigt. Dabei haben wir am Ende gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit und sozialen Regelhaftigkeit sich die Sozialisationsinstanzen und Sozialisationskontexte im Lebenslauf der Person bemerkbar machen und in welchem Verhältnis sie womöglich zur Struktur des institutionalisierten Lebenslaufs (als Chronosystem der Sozialisation) stehen. Wir hatten auch in früheren Abschnitten, etwa bei der Erörterung des Lebenszyklus von Erik H. Erikson, die an Freud anschließt oder auch bei der Diskussion der Sozialisationskonzepte von Durkheim und Mead gesehen, dass es Ideen der sozialbiografischen Entwicklung im Sozialisationsprozess gibt, die gewissermaßen in Stufen erfolgt. So hatte Mead die Stufe des Rollenspiels von der Stufe des Wettkampfspiels unterschieden oder Durkheim die Stufen, auf der ein „Geist der Autorität“, eine spezifische Anbindung an die Gruppe oder der „Geist der Autonomie“ entstehen, differenziert. Wie werden solche Prozesse der sozialbiografischen Entwicklung gedacht und auf welche soziologischen und sozialpsychologischen Traditionen gehen sie zurück? Damit wollen wir uns nun befassen. Als ein wichtiger Pionier der entwicklungspsychologischen Forschung gilt der Schweizer Jean Piaget (1975). Auf ihn geht eine ganze Reihe von Gedanken zurück, die in der Sozial- und Entwicklungspsychologie des Lebenslaufs aufgegrif-
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fen wurden. Zwei Konzepte sollen hier etwas näher erläutert werden: (1) die Unterscheidung von Assimilation und Akkommodation und (2) die Vorstellung einer kognitiven Entwicklung in strukturell unterscheidbaren Stadien bzw. Phasen. (1) Bei den Mustern der Assimilation und Akkommodation handelt es sich um Anpassungsmechanismen zwischen dem Wahrnehmungs- und Verhaltenssystem des Individuums und dessen Umwelt. Passt sich das Individuum in Wahrnehmung und/oder Verhalten der Umwelt an, dann ist von Akkommodation die Rede, umgekehrt kann das Individuum jedoch auch die Umwelt an seine Verhaltens- bzw. Wahrnehmungsmöglichkeiten anpassen. Ein sehr einfaches Beispiel dafür wäre das Zerkauen von Nahrung vor dem Herunterschlucken und der Verarbeitung im Organismus. Ein Beispiel für Assimilation könnte die Differenz von Laufen und Schwimmen sein. An Land ist es für den Menschen funktional, auf zwei Beinen zu laufen, um sich so schneller fortzubewegen. Im tiefen Wasser dagegen ist es wirksamer, mit Beinen und Armen zu schwimmen. (2) In seinen Anpassungsleistungen tendiere der Mensch dabei zu einem Gleichgewichtszustand, einem Äquilibrium. Er strebt gewissermaßen nach einem ausgeglichenen System der Mensch-Umwelt-Reaktion, die er dauerhaft wieder aufrufen kann. Die Form solcher äquilibrierter ‚Regulationssysteme‘ zwischen Wahrnehmung, Verarbeitung, Reaktion und Umwelt entwickle sich jedoch im Leben des Kindes. Piaget unterscheidet vier Stadien: (1) Sensomotorische Phase (0–2 Jahre) (2) Präoperationale Phase (2–7 Jahre) (3) konkret-operationale Phase (7–11 Jahre) (4) Formal-operationale Phase (ab 11 Jahren) Zu beachten ist, dass nach Piagets Theorie bei jedem Menschen alle vier Stadien in der gleichen Reihenfolge durchlaufen werden (müssen). Die Gesetzmäßigkeit der kognitiven Entwicklung gilt also universell. Dabei wird die kognitive Verarbeitung der Umwelt in Richtung von konkret zu abstrakt. In der sensomotorischen Phase sind Wahrnehmung und Bewegung zunächst noch sehr reflexartig auf die Dinge in der Nahwelt ausgerichtet. Erst mit acht Monaten beginnt das Kind Sehen und Greifen zu integrieren. Gegenstände (wie Hindernisse) werden als dauerhafte Objekte gesehen, so dass darauf absichtsvoll reagiert werden kann (zum Beispiel durch Aus-Dem-Wegräumen von Hindernissen). In der präoperativen Phase werden Sprechen und Vorstellungsvermögen ausgebildet. Allerdings verweile das Kind noch in einer „egozentrischen Perspektive“. Erst in der konkret-operationalen Phase löse sich das Kind vom Egozentrismus und vermag in Bezug auf konkrete
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Gegenstände logisch – folgerichtig – zu denken. Es vermag dadurch Eigenschaften wie „Invarianz“, „Reversibilität“ oder „Transitivität“ eines Gegenstands zu erfassen oder sich von Perspektiven auf Gegenstände zu „dezentrieren“. In der formal- operativen Phase erwirbt das Kind die Fähigkeit zum hypothetischen und formal- logischen Denken. Insbesondere der Übergang zum konkret-operationalen Denken ist von Soziologen und Sozialpsychologen aufgegriffen worden und findet dort auch schon Vorläufer-Ideen. So ist es Mead, der einen wichtigen Entwicklungssprung in der Fähigkeit sieht, sich von der unmittelbaren eigenen Perspektive zu lösen und die „Haltung des Anderen“ („attitude of the other“) einzunehmen. Auch bei Alfred Schütz beispielsweise wird die Reversibilität der Perspektive als ein wichtiges Element des sozialen Handelns aufgefasst. Insbesondere Lawrence Kohlberg und Robert L. Selman haben Piagets Modell auf die individuelle Entwicklung von sozialen und moralischen Perspektiven übertragen. In einer an Piaget angelehnten Entwicklungslogik beschäftigt sich Lawrence Kohlberg mit der Fähigkeit des Individuums soziale Konventionen moralisch zu beurteilen. Dabei unterscheidet er in einer Piaget ähnlichen Terminologie (1) prä-konventionelle, (2) konventionelle und (3) post-konventionelle moralische Urteilsstufen, die ebenfalls wie in Piagets Theorie aufeinanderfolgend durchlaufen werden müssten, so dass die unterstellte Entwicklungslogik universell gelten würde. Dabei differenziert Kohlberg die drei groben Stadien in insgesamt sechs Moralstufen (vgl. Kohlberg 1996, S. 409 ff.). I. Stadium: Prä-Konventionell 1. Stufe: Orientierung an Strafe und Gehorsam 2. Stufe: Orientierung am Austausch von Belohnungen II. Stadium: Konventionell 3. Stufe: Anpassung an gegenseitige Erwartungen und Pflege guter Be ziehungen 4. Stufe: (formale) Orientierung an Gesetzen und Ordnungsregeln III. Stadium: Post-Konventionell 5. Stufe: Orientierung am allgemeinen Nutzen sozialer Verträge 6. Stufe: Universelle Prinzipien (Gewissensbindung) Kohlberg nimmt somit für die prä-konventionellen Stufen des moralischen Urteilens an, dass Kinder zunächst an äußeren Reizen orientiert reagieren. Dabei vermieden sie zunächst den Eintritt negativer Sanktionen in Form von Strafen und folgten auf der zweiten Stufe einem Austausch von Belohnungen. Sie generalisierten dabei, dass andere wie man selbst sich im Verhalten auf Belohnungen hin
5.4 Sozialisation und kritische Lebensereignisse
125
a usrichten würde. Das Entscheidende am zweiten Stadium der Orientierung an Konventionalität bestünde somit darin, den Eigenwert von Konventionen (gemeinsamen Verhaltensregeln) zu verstehen. Die gegenseitige Anpassung von Erwartungen ermögliche eine Pflege guter Beziehungen. Von diesem gemeinsam verfolgten Ziel der Herstellung einer guten Beziehung aus ergibt sich ein Bild des guten bzw. richtigen Verhaltens. Aus Kohlbergs Sicht bliebe aber die Stufe der Anpassung an gegenseitige Erwartungen auf Beziehungen zwischen Personen begrenzt, die konkret im Rahmen einer gegenwärtigen Situation miteinander handeln würden. Auf der vierten Stufe würden Kinder daher von den konkreten zwischenmenschlichen Interaktionsbeziehungen abstrahieren können und die Regeln in transpersonaler Form auf alle möglichen Situationen des Individuums übertragen. Die Regel werde dann von einer allgemeinen Instanz ausgehend (wie dem Gesetz) für alle geltend gedacht. Im Konventionalismus blieben die Regeln als faktisch bestehende Gesetze vorgestellt. Erst im post-konventionellen Moralurteil könnten die Konventionen auf die Güte ihrer Entstehung hin befragt werden. So würden die Konventionen auf der fünften Moralstufe an die Entstehung über einen demokratischen Kontrakt gebunden und auf der sechsten Stufe Konventionen an Maximen geprüft, denen wir als Menschen aus Vernunftgründen alle folgen würden. Selman (1984) hat im Anschluss an und in Differenzierung zu Kohlberg eine Entwicklungstheorie der Sozialperspektiven von Kindern vorgelegt, die er vor allem als eine Erklärung der Entwicklung von Freundschaftsorientierungen verstanden hat. Er postuliert dazu fünf Sozialperspektiven und vier Beziehungsverständnisse von Freundschaft. 1. Stufe: 2. Stufe: 3. Stufe: 4. Stufe: 5. Stufe:
5.4
Sozialperspektive Differenzierung von Perspektiven Koordination von Perspektiven Perspektive der 3. Person Systemperspektive Der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive
Freundschaftsverständnis unilaterale Beziehung „Schönwetter-Kooperation“ Wechselseitige Fürsorge und Nähe Autonome Interdependenz
Sozialisation und kritische Lebensereignisse
Im zweiten Kapitel hatten wir uns mit dem Begriff des Lebensereignisses beschäftigt und dabei das Klassifikationssystem von Brim und Ryff (1980) kennengelernt. Unter anderem leiten die Autoren Ereignistypen ab, die auch für wenige Menschen, unabhängig vom Alter, mit eher geringer Wahrscheinlichkeit auftreten.
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5 Lebenslauf und Sozialisation – ein Paar Schuhe?
olche Ereignisse können unter bestimmten Umständen kritische LebensereigS nisse sein. Denn sie treten nicht im ‚Normalfall‘, sondern in Ausnahmen und dort in der Regel altersunabhängig auf. Solche Lebensereignisse können sein: Tod eines Familienmitglieds, Diagnose einer schweren, lebensbedrohenden oder stark beeinträchtigenden Krankheit, aber auch die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, die durch ökonomische Krisen (z. B. Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre) oder gesellschaftliche Transformationen (post-sozialistische Gesellschaften nach 1990) ausgelöst wurden. Es ist typisch für solche Lebensereignisse, dass Menschen nicht mit ihnen rechnen konnten, auch wenn ihr Eintritt sicher nie ausgeschlossen wurde. Aber da der Eintritt eines solchen Ereignisses nicht für den großen Teil der Gesellschaft galt, wird er auch nicht als Normalfall gesehen, sondern als ‚Un/glück‘ gedeutet, das zumeist auch ganz unverschuldet eintritt. Glückliche wie unglückliche Ereignisse sind somit zunächst Ausnahmefälle im Rahmen eines Normallebenslaufs. Sind sie deshalb aber schon „kritisch“? Das Problem der Eigenschaft, ‚kritisch‘ zu sein, hängt für den Sachverhalt der Lebensereignisse damit zusammen, dass wir dieser Eigenschaft eine objektive und subjektive Dimension zusprechen. Ein kritischer Lebenszustand wäre z. B. objektiv, wenn jemanden eine schwere, womöglich sogar lebensbedrohliche Krankheit attestiert wird. Ganz gleich wie die Person, die davon betroffen ist, den Zustand deutet, es drohen Körperfunktionen auszufallen oder gar der Tod einzutreten. In gewisser Weise ist der einzelne Akteur gegen diese ‚objektive‘ Seite auch machtlos. Wenn ein Organ ausfällt oder ein Knochen bricht, dann ist dies so eingetreten. Um die Körperfunktionen wiederherzustellen, ist Hilfe nötig, die auf die Zustände reagiert, z. B. einen Herzschrittmacher einsetzt oder den Knochen wieder richtet. Das ‚Kritische‘ wäre hier zunächst, dass es eine objektiv feststellbare Ursache dafür gibt, dass eine Person in ihrer Handlungsautonomie eingeschränkt wird. Bei Körperfunktionen ist dies in der Regel objektiv gut messbar. Das medizinische Wissen ist sehr genau. Aber gilt das für alle Fälle, in denen ein Ereignis auftritt, das Einschränkungen der individuellen Handlungsfähigkeit und der Autonomie der Lebensführung bewirkt? Handlungsfähig ist ein Akteur in der Regel dann, wenn er bestimmte Tätigkeiten routinemäßig auszuüben vermag. Ein erwachsener Mensch ist im Normalfall in der Lage, seine Wohnung sauber zu halten und für sich zu kochen. Von der Autonomie der Lebensführung würden wir – etwa im Anschluss an Ulrich Oevermann – dann sprechen, wenn eine Person in der Lage ist, die alltäglichen Dinge seines Lebens selbst zu regeln. Dazu würden wir unter anderem zählen, dass er für sein Einkommen sorgen kann, einen eigenen Haushalt führt, Bekanntschaften pflegt und einer Aufgabe nachgeht, die seinem Leben Sinn verleiht. Dies kann die besondere Hingabe an eine berufliche Tätigkeit sein, die Sorge um die Familie oder
5.4 Sozialisation und kritische Lebensereignisse
127
eine regelmäßige Form des sozialen Engagements, z. B. der ‚Nachhilfe‘ für die Kinder mit Schulschwierigkeiten. Vielleicht ist jemand auch passionierter Sammler von Sammelbildern und macht gelegentlich eine Ausstellung in der Gemeindebibliothek dazu. Die Autonomie einer Lebensführung ist also dann gegeben, wenn jemand routiniert über die Handlungsfähigkeit verfügt, Entscheidungen im Rahmen der üblichen Alltagsprobleme zu treffen und diese notfalls zu begründen vermag. Etwas salopper formuliert: Er regelt die Dinge des Lebens so und so – und kann Gründe benennen, weshalb er das so und so tut. Ein kritisches Lebensereignis kann nun dazu führen, dass eine Person die Dinge des Lebens nicht mehr (in jeder Hinsicht) so und so tun kann; und/oder keine Gründe mehr nennen kann, weshalb sie das so und so tut. Dies ist der Grund, weshalb wir in der Regel vermuten, dass ein kritisches Lebensereignis eine Änderung der Lebensführung insgesamt bewirken müsste. Aber dennoch hängt das, was im Anschluss an ein kritisches Lebensereignis geschieht, auch mit der Deutung und dem Verhalten des Individuums zusammen, das einen solchen kritischen Zustand erfährt. Wie erlebt, vielleicht genauer, verspürt die Person das Verheilen eines Knochens unmittelbar? Wie verarbeitet sie die Einschränkung des Arms oder der Hand als Erfahrung? Was tut sie, um auf die veränderte Einsatzfähigkeit des Körpers zu reagieren? Wie geht sie nach einem Herzinfarkt mit Situationen um, die bei ihr Stress auslösen? Meidet sie solche oder sucht sie nach einem anderen Umgang mit ihnen? Denkbar wäre also, dass Menschen nach einem zunächst objektiv feststellbaren kritischen Lebensereignis einfach so weitermachen wie bisher. Oder dass andere Menschen sich psychisch ändern, z. B. sich häufiger ängstigen, dass wieder etwas Ähnliches eintritt. Oder bei noch anderen sehen wir, dass sie ihr Verhalten völlig umstellen. Nun hatten wir aber auch schon die Möglichkeit von Fällen erwogen, in denen kritische Lebensereignisse – im Sinne eines Verlusts von Handlungsautonomie – eintreten können, ohne dass diese objektiv genau feststellbar sind, wie etwa ein äußerst kritischer Anstieg der Leberwerte. Erinnern wir uns an die Studie von Glen H. Elder (1974) über die Kinder der Weltwirtschaftskrise. Hier hatten wir es damit zu tun, dass Kinder in Haushalten aufwuchsen, die stärker von der Weltwirtschaftskrise betroffen waren als andere Familien. An Elders Studie zeigt sich, dass zunächst einmal ein Kriterium dafür festgelegt werden muss, wann die Einkommenslage eines Haushalts so ‚kritisch‘ ist, dass davon die Handlungsautonomie der Haushaltsmitglieder betroffen ist. Elder hat dazu die Familien gewählt, deren gesamtes Haushaltseinkommen sich infolge der Weltwirtschaftskrise halbiert hatte. Nun konnte Elder jedoch zeigen, dass nicht alle Kinder in solchen Haushalten gleichermaßen auf die Krise reagierten, sondern sich im weiteren Lebenslauf durchaus verschieden entwickeln. Hierbei hatte das Alter der Kinder beim Eintritt
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5 Lebenslauf und Sozialisation – ein Paar Schuhe?
der Haushaltseinbußen einen starken Einfluss. Kinder, die bei Eintritt der Wirtschaftskrise noch sehr klein waren (bis 2 Jahre), entwickelten sich anders als Kinder, die beim Eintritt des Einkommensverlusts im Haushalt schon etwa 10 Jahre waren. Hier spielt offenbar eine Rolle, was im Leben schon vorher erlebt und erfahren werden konnte. Wie Menschen auf den Eintritt von kritischen Lebensereignissen vorbereitet sind, darauf akut und dauerhaft reagieren können, und sich infolgedessen im weiteren Lebensverlauf entwickeln, hängt somit von vielfältigen Faktoren ab. An diese Art von Fragestellungen schließt die sogenannte Bewältigungsforschung an. Wichtig ist hierbei, dass kritische Lebensereignisse nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Komponente besitzen. Wir können daher bei den Folgen des Eintritts eines ‚kritischen Lebensereignisses‘ uns einerseits auf die Wirkungen auf weitere objektiv feststellbare Merkmale konzentrieren, oder Merkmale der subjektiven Verarbeitung und Bewältigung kritischer Ereignisse einbeziehen. So kann der Eintritt des ‚objektiv‘ messbaren Zustands der Arbeitslosigkeit in frühen Erwerbsjahren die Wahrscheinlichkeit des Eintritts wiederholter Arbeitslosigkeit in späteren Erwerbsjahren erhöhen. Dies wäre relativ leicht am objektiven Vorliegen oder Nicht-Vorliegen des Merkmals Arbeitslosigkeit messbar. Aber es werden nicht alle Menschen, die in frühen Erwerbsjahren einmal arbeitslos waren, später erneut arbeitslos. Und dabei könnte die Art der subjektiven Verarbeitung eine Rolle spielen. Einen besonderen Einfluss auf die positive Verarbeitung der familiären Einbußen, hatte das Alter der Kinder, in dem sie den einschneidenden Einkommensverlust im Haushalt erlebt haben.
Glossar Sozialisation In der Soziologie wird damit der Prozess beschrieben, in dem eine Person sich durch Einflüsse ihrer sozialen Umwelt sowie durch Aneignung und Anpassung an gesellschaftliche Verhaltensweisen entwickelt. Sozialisation, primär Gemeint sind damit die ersten Sozialerfahrungen, die eine Person in sich aufnimmt. Es geht um die Aneignung von Verhaltensweisen und Orientierungen des sozialen Umfelds, mit dem der Mensch lebenszeitlich zuerst in Berührung kommt. In der Regel ist damit die Sozialisation als Kind in der Familie gemeint. Sozialisation, sekundär Die Sozialerfahrungen, die zur Sozialisation (der Aneignung von Verhaltensweisen und Orientierungen) in einem zweiten relevanten Handlungskontext führen. In der Regel werden die Erfahrungen im Umfeld der Schule (und der Peers) als sekundäre Sozialisation gefasst.
Glossar
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Sozialisation, tertiär Sozialisation im Erwachsenenleben – durch Arbeit, Beruf und Familiengründung. Sozialisationsinstanz Sozialer Kontext, der nicht nur auf den Prozess der Sozialisation einwirkt, sondern der dazu gesellschaftlich autorisiert ist, indem ihm Zuständigkeiten und Verantwortung zugewiesen wurden. Sozialisationskontext Kontext, der einen Einfluss auf den Entwicklungsprozess des Individuums nimmt. Familie Sozialer Kontext exklusiver Zugehörigkeit, die durch enge (solidarische) Bindung zwischen Personen unterschiedlicher Geschlechter- und Generationspositionen bestimmt ist, im heteronormativen Gefüge als Geflecht zwischen männlich-weiblich und Eltern-Kind. Die Beziehung zwischen einem alleinerziehenden Elternteil und einem Kind wären die Minimalform einer Familie. Schule Ausgegliederte Einheit (Organisation) der Erziehung, die mit der Etablierung eines Bildungssystems, einer Schullaufbahn und eines Systems des Unterrichts einhergeht. Arbeit/Berufswelt Tätigkeiten zur Hervorbringung von Gütern oder sonstigen Leistungen (Handel, Dienste), die zur Daseinsvorsorge und Lebensausstattung beitragen. In modernen Gesellschaften ist die Arbeit in der Regel als bezahlte Arbeit im Rahmen von fachlich strukturierten Tätigkeiten (= Berufen) organisiert. Sie begründen die wirtschaftliche Selbstständigkeit bzw. Unabhängigkeit der Person. Medien (besser: Massenmedien) Massenwirksame Verbreitung von Kommunikation, z. B. Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet. Peers Beziehungen zu Gleichaltrigen, wobei zumeist die Gleichaltrigen in der Kindheits- und Jugendphase, oder noch der Adoleszenz bzw. frühen Erwachsenenphase gemeint sind. Bewährungsprobleme (Begründete) Lösung von Entscheidungen, die die Handlungssouveränität des Subjekts tangieren.
Kurseinheit II Methoden der Lebenslaufforschung
Die heutige Soziologie – und insofern auch die soziologische Lebenslaufforschung – versteht sich als erfahrungswissenschaftlich. Wissenschaftliche Aussagen sollen daher auf Beobachtungen, Erfahrungswerten und gesicherten Informationen, kurz: auf ‚Fakten‘, beruhen. Was jedoch ist ein Faktum, eine Tatsache? Wie gelangt man zur Kenntnis von Tatsachen? Im Allgemeinen spricht man bei dieser Art von Problemen von Fragen, die die Methoden der empirischen Sozialforschung betreffen. Das bedeutet: Tatsachen sind nicht einfach da oder liegen irgendwie auf der Hand, sondern sie werden ermittelt. Ihnen geht eine Erhebung oder Sammlung von Daten voraus. Aber damit stellen sich weitere Fragen: Was heißt „Daten“? Was heißt „Daten sammeln“ oder „Daten erheben“? Die Idee, die dahintersteckt, ist die, dass in der Wissenschaft Information auf methodisch – verfahrensmäßig – gesicherte Weise gewonnen werden soll. Es reicht also nicht auf irgendwelche Beobachtungen, Informationen oder Erfahrungen zurückzugreifen, je nachdem, wie sie am besten zu einer These passen. Die Gewinnung von Informationen muss bestimmten Kriterien, auch Gütekriterien genannt, genügen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei, dass die Informationen in der Regel so gewonnen werden, dass auch eine beliebige andere Person, die gleichartige Informationen gewinnen möchte, auf dieselbe Weise vorgehen kann und auf vergleichbare Informationen stoßen würde. Eine Idee wäre etwa, dass wir bestimmte Merkmale (wie Gewicht, Größe, Temperatur, Dauer) messen können. Wir benutzen die gleiche Waage, um das Gewicht verschiedener Personen zuverlässig zu messen; oder die gleiche Uhr, um die Dauer des Eierkochens zu messen. Durch dieses Messen gelangen wir zu Informationen. Wir könnten dann zum Beispiel herausfinden, wie lang ein Ei bestimmter Größe
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Kurseinheit II Methoden der Lebenslaufforschung
(die wir durch ein Maßband oder eine Waage messen) kochen muss, damit es ‚hartgekocht‘ ist. Dabei müssten wir dann die Merkmalausprägungen des Eis als „hart gekocht“ im Unterschied zu „weich“ oder „flüssig“ festlegen. Und ebenso würden wir verschiedene Größenklassen und verschiedene Kochdauern bestimmen, um dann die Informationen zu gewinnen, bei welcher Kochzeit Eier welcher Größe noch weich sind, und ab wann sie ‚hart gekocht’ sind. Sofern also ‚Ei-Forscher’ ihr Verfahren der Informationsgewinnung genau aufschreiben und klare Anweisungen dazu geben, dürfte es für andere potenzielle Forscher möglich sein, die Messungen bzw. Informationsgewinnung zuverlässig zu wiederholen. Wir nennen dieses Kriterium vorläufig „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ der Informationsgewinnung bzw. empirischer Daten. Damit wäre ebenfalls das Gütekriterium der „Zuverlässigkeit“, auch „Reliabilität“ genannt, erfüllt. Wir werden in diesem zweiten Teil zunächst einige übliche Verfahren der Informationsgewinnung der Lebenslauf- und Biografieforschung kennenlernen. Dabei wird sich zeigen, dass nicht alle Verfahren der Informationsgewinnung nach dem Muster der Messung ‚quantitativer‘ – d. h. zählbarer oder zahlenförmiger – Daten erfolgen. Diese sogenannten quantitativen Verfahren der Lebenslaufforschung werden im sechsten Kapitel behandelt. Im siebten Kapitel wenden wir uns Methoden zu, die als „qualitativ“ oder gelegentlich auch „interpretativ“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Arten von Informationen, die sich nicht ohne Weiteres in Zahlenwerte übersetzen lassen. Im Beispiel des Eierkochens würden wir intuitiv denken, dass sich das Gewicht eines Eis oder die Dauer des Kochens sehr gut in Zahlen (etwa Gewicht in x Gramm; oder Kochdauer in Minuten) ausdrücken lässt. Die Ausprägungen des Eis als „flüssig“, „weich“ oder „hart“ scheinen sich dagegen nicht so eindeutig Zahlenwerten zuordnen zu lassen. Hier setzt eine gewisse Willkür ein. Zwar könnten wir für „flüssig“ den Zahlenwert „0“, für „weich“ den Zahlenwert „1“ und für „hart“ den Zahlenwert „2“ notieren – aber wieso sollten wir nicht die Werte „30“ für „hart“, „25“ für „weich“ und „4“ für „flüssig“ oder irgendwelche ganz anderen Werte wählen? Wir können in Bezug auf die „Härte“ des Eis zwar inhaltliche Unterschiede feststellen, ob es weich ist oder nicht, aber wir können noch nicht einmal klar sagen, ob „flüssig“ hinsichtlich des zuzuordnenden Zahlenwerts höher oder niedriger sein muss als „nicht flüssig“ (hart oder weich). Es gibt also „Interpretationsspielräume“. Nur wie lässt sich mit solchen „Spielräumen“ methodisch umgehen, so dass auch hier gültige und zuverlässige Informationen gewonnen werden können? Das ist die Grundfrage aller Methoden, die auch in der biografie- und lebenslaufsoziologischen Forschung besteht. Nachdem wir Grundformen der quantitativen und qualitativen Forschung kennengelernt haben, wenden wir uns im achten Kapitel zudem einigen Herausforderungen und Problemen zu, die sich aktuell in der Biografie- und Lebenslaufforschung nach wie vor stellen.
6
Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Dass es Sinn macht, in der Lebenslaufforschung quantitative Daten bzw. quantifizierbare Informationen zu gewinnen, lässt sich bereits daran sehen, dass eine Reihe von Merkmalen unmittelbar in zahlenförmiger Art vorliegen, wie z. B. das Geburtsjahr oder das Alter einer Person, das Jahr der Eheschließung, des Schulabgangs usf. Aber auch andere Merkmale wie das Einkommen einer Person, der Mietpreis ihrer Wohnung, die Ausgaben, die sie für Lebensmittel aufbringt, usf. können in Zahlen ausgedrückt werden. Daraus ergeben sich sofort eine Reihe von Fragen, zu denen sich ‚methodisch kontrolliert‘ Informationen gewinnen lassen, z. B. ob Erwachsene mit zunehmendem Alter mehr verdienen oder nicht, ob ihre Schulden steigen oder die Anzahl ihrer Kinder und Enkelkinder. Aber sind solche Fragen immer sozialwissenschaftlich sinnvoll? Oder: Wann ist dies Fall? Was hat der Sinn von empirischen Fragen mit den theoretischen Annahmen der Lebenslaufund Sozialisationsforschung zu tun? Konkrete Fragen: Was sind Gütekriterien? Warum spielen die häufig als Gütekriterien bezeichneten Maßstäbe wie Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Objektivität oder Verallgemeinerbarkeit eine wichtige Rolle? Was bedeuten diese Maßstäbe genau? Und wie können solche Maßstäbe oder Gütekriterien in der Lebenslaufforschung eingelöst werden?
6.1
Längsschnittperspektive und Kohorten-Design
Wenn wir über Lebensläufe forschen, dann legen wir Fragestellungen immer schon auf theoretische Weise fest. Wir setzen erstens voraus, dass es um die Lebensläufe einzelner Personen, von Individuen, geht. Zwar können wir diese einzelnen Le© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Corsten, Lebenslauf und Sozialisation, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_6
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134
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
bensläufe gruppieren, indem wir sie bestimmten Gruppen von Individuen zuordnen – aber die Ausgangsinformationen werden stets zu einer einzigen Person gewonnen. Daher spielen in der Lebenslaufforschung Informationen eine besondere Rolle, die „Individualdaten“ genannt werden. Zweitens interessieren sich Lebenslaufforscherinnen für Informationen zu Ereignissen, die im Leben einer Person eingetreten sind. Wir nennen dies „Ereignisdaten“. Und drittens sind nicht nur einzelne Lebensereignisse als solche interessant, sondern Muster der Abfolge von Ereignissen. Solche Ereignisabfolgen werden auch „Verläufe“ und die entsprechenden Daten als „Verlaufsdaten“ bezeichnet. Die methodische Bedeutung der Begriffe „Individualdaten“, „Ereignisdaten“ und „Verlaufsdaten“ lässt sich besser verstehen, wenn wir sie mit ihrem ‚Gegenteil‘ bzw. ihrem Nicht-Vorliegen vergleichen, wenn wir also zwar Daten (Informationen) haben, diese jedoch keine Individualdaten, keine Ereignisdaten oder keine Verlaufsdaten wären. Im zweiten Fall gingen dann nämlich Informationen verloren, die für die Lebenslaufforschung von zentraler Bedeutung sein können. Ein Beispiel: Nehmen wir einmal an, wir hätten zu eintausend 25-jährigen Erwachsenen in einer Kleinstadt auf einfache Weise die Merkmale „Bildungsabschluss“, „Familienstand“ und „Erwerbstätigkeit“ erhoben (vgl. Tab. 6.1, 6.2 und 6.3). So wissen wir, dass sechshundert 25-Jährige Abitur haben und vierhundert kein Abitur; dass dreihundertfünfzig verheiratet sind und sechshundertfünfzig unverheiratet, und dass siebenhundert erwerbstätig und dreihundert nicht erwerbstätig sind. Wenn wir diese Merkmale nicht individuell – für jede einzelne Person erhoben haben –, sondern sie aus Schulstatistiken, aus Eheregistern und Finanzbehörden hätten, also aus drei verschiedenen Quellen, dann wissen wir nicht, wie viele der sechshundert Abiturienten verheiratet sind bzw. wie viele von ihnen erwerbstätig sind. Nur dann, wenn wir alle drei Merkmale bei jeder Einzelnen der eintausend Personen gesammelt haben und sie in einer Tabelle so notiert haben, dass wir für alle eintausend Personen alle drei Angaben wiederfinden, dann haben wir es mit „Individualdaten“ zu tun. Ansonsten – wenn wir nur die Verteilung der Häufigkeiten auf Gruppen kennen – sprechen wir von „Aggregatdaten“, deutsch: zusammengefassten bzw. gebündelten Daten. Wenn nur „Aggregatdaten“ vorliegen, lassen sich in der Regel keine statistischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen herstellen, so wie wir es auf der Basis von Individualdaten jedoch könnten. Wenn wir z. B. wissen, Tab. 6.1 Beispiel Aggregatdaten (Bildung). (Quelle: eigene Darstellung)
Alle 25-jährigen 1000
Kein Abitur Abitur 600 400
6.1 Längsschnittperspektive und Kohorten-Design Tab. 6.2 Beispiel Aggregatdaten (Ehestand). (Quelle: eigene Darstellung)
Tab. 6.3 Beispiel Aggregatdaten (Erwerbstätigkeit). (Quelle: eigene Darstellung)
135
Alle 25-jährigen 1000
Alle 25-jährigen 1000
Verheiratet Unverheiratet 350 650
Erwerbstätig 300
Nicht erwerbstätig 700
Tab. 6.4 Zusammenhängende Berechnungsmöglichkeiten auf der Basis von Individualdaten. (Quelle: eigene Darstellung) Alle 25-Jährigen
Kein Abitur erwerbstätig Gesamt 1000 400 verheiratet 600 200 unverheiratet 400 100 zusammen 1000 300
Abitur Nicht erwerbstätig erwerbstätig 600 50 250 50 150 100 400
Nicht erwerbstätig 100 100 200
dass von den 600 Abiturienten 400 erwerbstätig sind sowie von den 400, die kein Abitur haben, 300 erwerbstätig sind, dann können wir zu einer interessanten zusätzlichen Information gelangen; 400 von 600 wären 2/3; 300 von 400 wären 3/4. Das heißt, die Erwerbsquoten der 25-jährigen Abiturienten wäre mit 2/3 geringer als die der Nicht-Abiturienten mit 3/4. Dies wäre auch theoretisch nicht unplausibel, da Abiturienten oft noch studieren und daher erst später erwerbstätig werden (s. Tab. 6.4). Individualdaten bedeuten also, dass wir alle Merkmale für jede einzelne Person eines Datensatzes (Stichprobe, Sample) sammeln und aufbereiten. Und dadurch lassen sich Zusammenhänge zwischen den Merkmalen berechnen. Aber mit Individualdaten haben wir noch nicht immer schon Ereignisdaten. Zwar wissen wir im obigen Beispiel, welchen Schulabschluss, welchen Familienstand und welche Erwerbsform sie im Alter 25 haben. Aber wir wissen nicht, wann sie ihren jeweiligen Schulabschluss erworben haben bzw. wann sie geheiratet haben oder noch werden, bzw. seit wann sie erwerbstätig sind oder wann sie es noch werden. Wenn wir die genauen Ereignisse des Eintritts eines bestimmten Zustands (Schulabschluss, Ehe, Erwerbseinstieg) nicht kennen, sprechen wir von „Querschnittsdaten“. Wir kennen nur die Verteilung der Zustände bzw. Merkmale, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung gegeben war (s. Tab. 6.5). Das Gegenteil von „Querschnittsdaten“ sind die „Längsschnittdaten“. Bei Längsschnittdaten verfügen wir für jeden individuellen Fall des Datensatzes über
136
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Tab. 6.5 Beispiel für die Aufbereitung von Individualdaten. (Quelle: eigene Darstellung) Fallnummer 1 2 3 4 5 6 …
Bildungsabschluss Abitur Kein Abitur Abitur Abitur Kein Abitur Abitur …
Familienstand Unverheiratet Verheiratet Unverheiratet Verheiratet Unverheiratet Unverheiratet …
Erwerbsstatus Erwerbstätig Erwerbstätig Nicht erwerbstätig Erwerbstätig Erwerbstätig Nicht erwerbstätig …
Informationen dazu, ob und wann ein Merkmal bzw. Zustand für den Fall eingetreten ist. Wir wissen dann für jeden Fall, wann das Ereignis des Schulabschlusses, der Heirat und des Erwerbseinstiegs (first job) eingetreten ist. Wenn wir nur eines der Ereignisse kennen, verfügen wir über Ereignisdaten. Wenn wir Informationen über den Eintritt mehrerer Ereignisse im Leben der einzelnen Personen besitzen, verfügen wir über Verlaufsdaten. Um von einer Längsschnittperspektive zu sprechen, sollten wir also wenigstens über Verlaufsdaten verfügen. Die Kenntnis von Ereignisdaten ist noch in einer anderen methodischen Hinsicht von Bedeutung. Anhand von individuellen Ereignisdaten lassen sich sogenannte Kohorten (Personengruppen) bilden. Eine Kohorte ist dabei technisch bestimmt, als Gruppe von Personen, die ein bestimmtes Ereignis zum gleichen Zeitpunkt erlebt (Ryder 1965; Glenn 1977; Müller 1978). Eine Kohorte könnten z. B. all die Personen sein, die im Jahr 2010 in Deutschland geheiratet haben. Man würde dann von der Heiratskohorte 2010 sprechen. Oder bei den Personen, die im Jahr 1995 geboren sind, spricht man von der Geburtskohorte 1995. Die Zuordnung von Personen zu Kohorten ist für die Verlaufsperspektive wieder interessant. So lässt sich bspw. untersuchen, wann Personen, die 2010 geheiratet haben, ihr erstes Kind bekommen. Und dies ließe sich z. B. vergleichen mit Personen, die 2000 geheiratet haben. Oder in der Arbeitsmarktforschung wäre interessant zu untersuchen, wann Personen, die 2000 arbeitslos geworden sind, wieder eine Stelle gefunden haben, und wie lange im Unterschied dazu, Menschen, die 2010 arbeitslos wurden, für das Finden einer neuen Stelle gebraucht haben. Wenn also in der Forschung das Ziel besteht, individuelle Prozesse über einen Zeitraum hinweg zu untersuchen, dann macht es Sinn, über Individualdaten, Ereignisdaten und Verlaufsdaten zu verfügen sowie Kohorten zur Festlegung von Untersuchungsgruppen zu konstruieren. In diesen beiden methodischen Schritten bestehen die Basisoperationen einer quantitativen Lebenslaufforschung.
6.2 Ereignisanalyse und „Transition Data“
6.2
137
Ereignisanalyse und „Transition Data“
Die quantitative Lebenslaufforschung ist jedoch noch an weiteren, feineren Differenzierungen der Datenauswertung interessiert. Wir hatten in den Abschn. 2.3 zu den „Lebensereignissen, Episoden und Lebensverlaufsmustern“ sowie in Abschn. 3.3 zur „sozialen Differenzierung des Lebensverlaufs“ gesehen, dass sich soziale Ungleichheiten präzise am unterschiedlichen zeitlichen Eintritt zentraler institutionalisierter Lebensereignisse ablesen lassen. Die dabei leitende Frage lautete: Mit welcher Wahrscheinlichkeit tritt ein bestimmtes Lebensereignis – z. B. die Geburt des ersten Kinds – in Abhängigkeit zu früheren Lebensereignissen – z. B. dem Schulabschluss – ein? Solche Fragestellungen sind der Ausgangspunkt der Methode(n) der Ereignisanalyse – auch „event history analysis“ (Blossfeld et al. 1989) genannt – und der „Transition Data Analysis“ (Blossfeld und Rohwer 1995, Übergangsdatenanalyse). Ein gleich zu Beginn wichtiger Punkt besteht in der Besonderheit der Datenerhebung, die bei der Ereignisanalyse und auch bei der Analyse von Übergangsdaten im Prinzip möglich ist und von der oben erläuterten Vorgehensweise vermeintlich abweicht. Nach einer strengen Definition von Längsschnittdaten müssten Informationen eigentlich ungefähr zeitgleich mit dem Eintritt eines Ereignisses erhoben werden. Dies ist jedoch für viele soziologisch aufschlussreiche Lebensereignisse kaum möglich und auch vielfach gar nicht nötig. Viele Ereignisdaten lassen sich durch Nachfragen oder Recherchen ermitteln, bspw. das Datum der Geburt einer Person. Um einigermaßen sicher herauszufinden, wann jemand geboren ist, müssen Forscherinnen nicht bei der Geburt der Person dabei gewesen sein. Dieses Datum lässt sich nachträglich – wie man auch sagt „retrospektiv“ – erheben. Einerseits liegen viele Lebensdaten als amtliche Daten vor. Amtliche Daten lassen sich recherchieren. Es existieren zudem Datensätze, die auf der Basis von amtlichen Statistiken erstellt wurden, z. B. der „Mikrozensus“ des Statistischen Bundesamtes, die „Arbeitsmarktstatistik“ der Bundesagentur für Arbeit oder die „Versichertenkontenstichprobe“ der Deutschen Rentenversicherung (DRV). Diese Datensätze sind tendenziell längsschnittlich aufgebaut, aber nicht immer im vollen Sinne Individualdaten. Andere Datensätze wie das „Sozioökonomische Panel“ oder die „Lebensverlaufsstudie“ des MPI für Bildungsforschung haben in Befragungen von Einzelpersonen in großen Stichproben Lebensdaten wie Geburt, Schulabschluss, Heirat usf. nachträglich erhoben. Hierbei geht es um ein Problem der Zuverlässigkeit. Wann kann ich eine Information nachträglich erfragen oder recherchieren? Wann ist es erforderlich, eine Information zeitpunktgenau zu erheben? Bei der Beantwortung dieser Fragen
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6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
könnte eine heuristische Unterscheidung hilfreich sein. Von „heuristisch“ wird in der Regel dann gesprochen, wenn ein Erkenntnisverfahren gewählt wird, das nicht über vollständige Informationen verfügt. Wenn hier von einer heuristischen Unterscheidung gesprochen wird, dann meint dies, dass eine Differenz eingeführt wird, die sich nicht vollständig aufklären lässt. Gemeint ist die Differenz von „objektiven“ und „subjektiven“ Daten. Diese Differenz lässt sich deshalb nicht vollständig aufklären, weil es durchaus eine Reihe von Grenzfällen gibt, bei denen sich nur schwer oder gar nicht entscheiden lässt, ob es sich um ein „subjektives“ oder „objektives“ Datum handelt. Die Faustregel der Unterscheidung lautet zunächst: Um ein „subjektives Datum“ handelt es sich dann, wenn eine Information über eine Person nur durch Befragung der Person selbst gewonnen werden kann. Um ein objektives Datum handelt es sich, wenn die Information über eine Person (oder etwas anderes) unabhängig von der Person selbst bzw. bestimmten einzelnen Personen gewonnen werden kann. Die Grenzfälle kommen dadurch zustande, dass etwas unbestimmt bleibt, was mit „unabhängig von einer Person“ gemeint sein soll. Wählen wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst ein Beispiel aus der Lebenslaufforschung, das wir bereits kennengelernt haben. In Abschn. 3.1 hatten wir uns mit der Studie „Die gewonnenen Jahre“ von Artur E. Imhof beschäftigt. Imhof verfügte in dieser Studie über Lebensdaten, genauer sogar über Lebensereignisdaten von Personen, die gar nicht mehr lebten, sondern bereits im 19. Jahrhundert verstorben waren. Über Register aus Kirchenbüchern konnte er jedoch für einzelne Personen zentrale Lebensdaten wie Geburt, Datum der Eheschließung, Datum der Geburt der einzelnen Kinder, Todesdaten von Kindern, Ehepartnern und der Person selbst ermitteln. Er konnte somit „unabhängig von der Person“, um deren Lebensereignisse es ging, eine beachtliche Anzahl von Informationen anhand von quasi amtlichen Daten gewinnen. Ein Kandidat für ein subjektives Datum wäre in dem Zusammenhang die Trauer gewesen, die eine Person bei Tod des Ehepartners, eines Kindes oder eines anderen nahen Verwandten verspürt hätte. Eine solche Information können wir nur kennen, wenn wir mit der Person gesprochen hätten oder sie sich in Selbstzeugnissen (wie Tagebucheinträgen) dazu geäußert hätte. Subjektive Daten bestehen somit in der Regel in persönlichen Stellungnahmen bzw. Einstellungs-äußerungen der Person. Inwiefern ist dies nun für die Frage des Erhebungszeitpunkts wichtig? Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass die Gedächtnisleistung von Personen als Informantinnen bei bestimmten „objektiven Lebensdaten“ sicherer ist als bei subjektiven Einstellungen. Das Geburtsjahr, den Zeitpunkt der Einschulung, der Eheschließung, die Geburtsdaten der eigenen Kinder werden Menschen in der Regel richtig und zuverlässig erinnern. Aber schon die Frage nach der Empfindung bei der eigenen Hochzeit oder der Geburt des ersten Kinds wird über die Lebens-
6.2 Ereignisanalyse und „Transition Data“
139
zeit der Person womöglich erheblich schwanken. Hier wäre es sicherer, die Einstellung oder Empfindung in großer zeitlicher Nähe zum Eintritt des betreffenden Ereignisses zu erheben. Was tut nun die Ereignisanalyse mit den Lebensereignisdaten? Und wie unterscheiden sich Ereignisdaten von Übergangsdaten? Für welche Frage eignen sich Ereignisdaten? Und für welche Übergangsdaten? Die Ereignisanalyse beschäftigt sich im Kern mit der Frage, wann und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Lebensereignis für eine bestimmte Gruppe von Menschen (Kohorte, soziale Schicht, Berufsgruppe usf.) eintritt. Ein Ereignis ist dabei dadurch definiert, dass ein Zustandswechsel im Leben einer Person erfolgt. Eine Person A war bis zum Zeitpunkt t1 unverheiratet und gilt ab dem Zeitpunkt t1 als verheiratet. Die Änderung des Zustands von unverheiratet zu verheiratet zum Zeitpunkt t1 markiert also das Ereignis „Heirat“ (oder Eheschließung). Man kann nun die Dauer zwischen einem Zeitpunkt t0 messen, seit dem der Zustand „unverheiratet“ bestand, bis zum Zeitpunkt t1 des Eintritts des neuen Zustands „verheiratet“. Das wäre dann die Dauer der Episode „unverheiratet“. Die Dauer der Episode „verheiratet“ wäre dann wiederum messbar durch den zeitlichen Abstand des Eintritts des Zustands „verheiratet“ zum Zeitpunkt t1 bis zum Eintritt eines neuen Zustands „verwitwet“ oder „geschieden“ zum Zeitpunkt t2 (s. Abb. 6.1). Die Ereignisse und Episoden beziehen sich auf einen einheitlichen Zustandsraum. Mit dem Zustandsraum sind die Ausprägungen gemeint, die ein Ereignis als Merkmal annehmen kann. Im Fall der Zustände „unverheiratet“, „verheiratet“, „geschieden“ oder „verwitwet“ bewegen wir uns in einem Zustandsraum, der durch Ausprägungen hinsichtlich einer konventionellen Paarbeziehung vollständig und trennscharf bestimmt ist. Vollständig meint, dass in diesem Zustandsraum im Laufe der Lebenszeit kein weiterer Zustand eintreten kann. Trennscharf meint, dass keiner der als mögliche Ausprägungen angenommenen Zustände gleichzeitig oder zeitlich überlappend miteinander auftreten kann. Jemand kann z. B. nicht gleichzeitig „verheiratet“ und „unverheiratet“; oder „erwerbstätig“ und „nicht erwerbstätig“ sein. Das Beispiel der Ereignisse und Episoden im Raum des ehelichen Beziehungsverlaufs verdeutlicht, dass Zustandsräume in Abhängigkeit zur Aktualität von Problemstellungen konstruiert werden sollten. Für heutige Paarbeziehungen würden sicherlich Merkmalsausprägungen für Zustandswechsel fehlen. So gehen nur
Ereignis t0 |------ Episode A -------| Ereignis t1 |------- Episode B -------| Ereignis t2 |---- Episode C---Lebenszeit
Abb. 6.1 Folgen von Episoden/Ereignissen. (Quelle: eigene Darstellung)
140
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
enige Menschen direkt vom Status des Unverheiratetseins in den Status verheiraw tet über. Nicht-eheliche Partnerschaften liegen dazwischen, wobei es für diese wiederum Trennungsereignisse geben kann. Auch wäre denkbar, dass jemand nach einer Scheidung nicht unbedingt allein lebt, sich aber auch nicht wieder verheiratet. Der Zustandsraum wird dann komplexer. Wenn wir in einem Zustandsraum bleiben, können wir Ereignisverläufe innerhalb eines bestimmten Lebensbereichs untersuchen: den Eheverlauf, den Partnerschaftsverlauf, den Familienverlauf (wenn die Ereignisse der Geburt von Kindern einbezogen wird), Wohnverläufe, Bildungsverläufe, Erwerbsverläufe usf. Wir hatten in Abschn. 2.3 gesehen, dass eine solche Einschränkung allein auf Ereignisverlaufsbetrachtungen einen wichtigen Sachverhalt des Lebenslaufs unterbelichtet: die Übergänge im Leben als zeitlich gedehnte Phasen. Denn hier ist es in der Regel so, dass es zu Zustandswechseln in mehreren Lebensbereichen kommt. Ein solcher Übergang könnte z. B. zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Gründung einer eigenen Familie bestehen, oder zwischen dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule und dem Studium bzw. dem Antritt einer ersten beruflichen Beschäftigung (Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit). Dabei ergibt sich jedoch das Problem einer mangelnden Trennschärfe zwischen den Zuständen. Es kann zeitliche Überlappungen zwischen Zuständen bzw. Merkmalsausprägungen geben. Am Übergang können zwei Eigenschaften informativ sein. Erstens ist die Dauer eines Übergangs interessant, denn dieser kann zwischen verschiedenen sozialen Gruppen oder zu verschiedenen historischen Zeiten divergieren. Zweitens ist das Muster des Übergangs aufschlussreich: die Abfolge der Übergangsereignisse kann variieren – oder auch nicht. Wir können also gesellschaftliche Konstellationen vorfinden, in denen die Übergänge im Leben der Menschen sich zwischen allen Personen sehr ähnlich sind oder historische Phasen, in denen wir sehr heterogene Übergangsmuster erkennen können.
Übergänge Die Ereignisperspektive der Auswertung von Daten lässt sich methodisch auf einfache Weise in eine Analyse von Übergängen überführen. Dies soll nun anhand eines klassischen Aufsatzes von Margaret Mooney Marini (1984) zur Frage der „Transition from Youth into Adulthood“ vorgeführt werden. An der Vorgehensweise von Marini wird im ersten Schritt nachvollzogen, wie sie anhand von Ereignisdaten einen Übergangsprozess modelliert, um daran anschließend zu fragen, wie die Konzepte von „Jugend“ und „Erwachsenen-Status“ operationalisiert wur-
6.2 Ereignisanalyse und „Transition Data“
141
den. Daran lässt sich sehen, dass die Eigenschaften „jugendlich“ bzw. „erwachsen“ in rechtlicher und soziologischer Hinsicht divergieren können und dies ist für die Frage von Alters- und Lebenslaufnormen inhaltlich aufschlussreich. Marini (1984, S. 70) beobachtet in methodisch-operativer Hinsicht zunächst vier mögliche Lebensereignisse: (1) Abschluss der allgemein-schulischen Ausbildung (E = last exist from full-time education), (2) Eintritt in den Arbeitsmarkt (L = entry into the first full-time job held for at least six months, (3) Auftreten der ersten Heirat (M = entry into first marriage) und (4) Geburt des ersten Kinds (B = entry into parenthood). Genauer interessiert sich Marini nun für die Abfolge der Ereignisse. Sie nennt dies „order of the events“. Konzeptionell impliziert dies bereits die These, dass es eine sozial erwünschte Ordnung bzw. Kombination der Reihenfolge der Ereignisse gibt, die Marini mit dem Muster „ELMB“ kennzeichnet für die Reihenfolge: Exit School → Entry Labor Market → First Marriage → Birth of first Child Nun existieren insgesamt 24 Kombinationsmöglichkeiten für die Reihenfolge des Eintritts der vier Ereignisse, vorausgesetzt, alle vier Ereignisse sind überhaupt schon eingetroffen. Die Anzahl der Kombinationen wächst also nochmals, wenn wir berücksichtigen, dass nur ein, zwei oder drei Ereignisse eingetreten sind. Dann ergeben sich nämlich insgesamt 64 Kombinationen. Wahrscheinlichkeitstheoretisch liegt damit die Chance des Eintritts einer der möglichen Kombinationen bei 1/64-stel. In Prozent ausgedrückt hieße das: Rein nach Zufall (im Modell der Gleichverteilung) müsste jede Kombination ungefähr zu 1,56 % auftreten. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie Marini anhand zweier Datensätze von 1957/1958 und 1973/1974 überprüft hat. Der ursprüngliche Datensatz geht zurück auf die Studie „The Adolescent Society“ von James Coleman (1961). In ihr wurden Schüler aus zehn High Schools im Bundesstaat Illinois untersucht. 1973/1974 hat es eine Follow-Up-Studie mit den ehemaligen Schülern gegeben, so dass für jeden einzelnen Schüler beobachtet werden konnte, ob und welche der vier Ereignisse zwischen 1957 und 1974 in welcher Reihenfolge aufgetreten sind. In der ersten Studie wurden Daten von 8619 Schülern erhoben, von denen 1974 6498 als mittlerweile erwachsene Personen befragt werden konnten (Marini 1977, 1984, S. 68). Die Tab. 6.6 zeigt nun die Verteilung der 15 häufigsten Kombinationen: Wir haben nun gesehen, wie Übergangsmuster aus Ereignisdaten gewonnen und in deskriptiver Form ausgewertet werden können. Dabei zeigen sich in der Beispielstudie einige bemerkenswerte Ergebnisse. Erstens ist interessant, dass bei den Frauen rund 40 % und bei den Männern rund 37 % dem wünschenswerten Modell
142
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Tab. 6.6 Übergangsmuster zwischen Jugend und Erwachsenenstatus Order of Events1 ELMB ELM EL LEMB LEM EMBL EMB EMLB LMEB LME LMBE MELB MBEL MBE MEB Andere2 Zusammen Gesamtzahl
Frauen (in %) 40,4 5,9 6,0 7,0 1,6 4,0 7,8 5,8 2,9 1,3 1,9 2,5 0,8 2,0 2,2 7,9 100 3433
Erhöhter Faktor3 25,90 3,78 3,85 4,49 1,03 2,56 5,00 3,72 1,86 0,83 1,22 1,60 0,51 1,28 1,41
Männer (%) 37,7 8,0 11,1 11,6 3,4 0,2 0,1 3,6 3,6 2,0 5,3 5,1 2,3 0,1 0,0 5,9 100 3065
Erhöhter Faktor3 24,17 5,13 7,12 7,44 2,18 0,13 0,06 2,31 2,31 1,28 3,40 3,27 1,47 0,06 0
Die Daten in der Tabelle stammen aus Marini (1984, S. 70). 1 Die Kürzel der Kombinationen entsprechen der Erläuterung oben im Text. 2 Es handelt sich um die addierte Prozentzahl aller anderen Kombinationen Keine der anderen Kombinationen überschreitet einzeln einen Anteil von einem Prozent der Fälle. 3 Der erhöhte Faktor ergibt sich aus dem tatsächlich aufgetretenen Prozentsatz geteilt durch den zufällig erwarteten Wert E für jede mögliche Kombination (E = 1,56 %), eigene Berechnungen.
des Übergangs entsprechen. Beide sind um das 25-fache erhöht gegenüber dem für diese Kombination zufällig erwartbaren Wert. Es ist dabei also weniger wichtig, dass es sich erstens um das häufigste Muster handelt und dieses fast die Hälfte der Fälle repräsentiert. Marini (1984) weist daraufhin, dass das Muster über die Hälfte der Fälle repräsentiert, bei denen alle vier Ereignisse eingetreten sind. Auch ließe sich berechnen, dass die drei Muster, die mit EL … beginnen, ebenfalls mehr als die Hälfte der Fälle repräsentieren. In statistischer Hinsicht interessanter ist jedoch der Umstand, dass es sich um eine sehr unwahrscheinliche Form der Ordnungsbildung handelt. Dies lässt darauf schließen, dass die außergewöhnlich starke Repräsentanz dieser Kombination nicht nur einen besonderen Typus darstellt, sondern auch Ergebnis einer wirksamen sozialen Gesetzmäßigkeit ist.
6.3 Sequenzmusteranalyse und „Optimal Matching“
143
Aber wie kann diese Gesetzmäßigkeit konzeptionell interpretiert werden? Welche „Rationalität“ steckt in den Mustern, die mit EL … beginnen? Eine mögliche Interpretation kann aus Kohlis These der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ abgeleitet werden. Demzufolge gehören zur Institutionalisierung auch Formen der selbstdisziplinierten Gestaltung des Lebenslaufs. So genügt es einer gewissen Rationalität, wenn Personen erst für die Erreichung eines sicheren Erwerbsverhältnisses sorgen, bevor sie eine Familie gründen – sprich: heiraten und Kinder bekommen. Genau diese Orientierung repräsentieren die Muster, die mit EL … beginnen. Ein zweiter Befund ist damit kompatibel, spricht jedoch auch für die soziale, genauer geschlechtsspezifische Differenzierung des institutionalisierten Lebenslaufs. Dies zeigt sich an der deutlichen Erhöhung der Muster EMBL und EMB bei Frauen – im Vergleich zu Männern. Bei den Frauen treten das Muster EMBL zu 4,6 % und die Kombination EMB zu 7,8 % auf, während sie bei den Männern mit 0,2 % (EMBL) und 0,1 % (EMB) verschwindend gering vorkommen. Und ähnlich sind auch die umgedrehte Muster MEB bzw. MBE bei Männern kaum vorhanden, aber bei Frauen zumindest leicht höher als zufällig erwartbar gegeben. Die Untersuchung von Übergangsmustern ist auch in anderen Bereichen der Soziologie anzutreffen. So haben Entwisle und Alexander (1998) beispielsweise Übergänge in der Grundschule untersucht, Kerckhoff (2003) den Übergang vom Studium in die erste Beschäftigung oder ähnlich wie Marini – nur übertragen auf die Lebensverläufe von Geburtskohorten der Bundesrepublik Deutschland – hat Dirk Konietzka (2010, 2011) Übergänge in das Erwachsenenalter rekonstruiert. Aufgabe zur Reflexion: Wie können institutionelle Veränderungen in einzelnen Lebensbereichen durch solche Modelle erfasst werden? Lässt sich z. B. Marinis „order of events“ noch sinnvoll verwenden, wenn ein erheblicher Teil junger Erwachsener gar nicht mehr heiratet?
6.3
Sequenzmusteranalyse und „Optimal Matching“
Von der Ereignisanalyse und der Untersuchung von Übergängen wird noch eine weitere, auf den ersten Blick ähnliche Form der Verlaufsanalyse unterschieden, die Sequenzmusteranalyse, die auch als „Optimal Matching Methode“ bezeichnet wird und insbesondere auf Andrew Abbott (1984) zurückgeht. Ereignisanalysen und Rekonstruktionen von Übergangsmustern sind beide – aus unterschiedlichen Gründen – in zeitlicher Hinsicht etwas ungenau. So kann die Ereignisanalyse die Zeitpunkte des Beginns und Endes eines Zustands und die Verweildauer in einem
144
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Zustand als Episode genau erfassen. Ihr entgeht jedoch die zeitliche Ordnung der Ereignisse in deren Abfolge. Die Abfolge von Ereignissen – dazu noch in unterschiedlichen sozialen Bereichen – konnte mit der Übergangsmusteranalyse (in der Folge von Marini 1984) als mehr oder weniger zufällige oder geordnete Kombination bzw. Ordnung in ihrem relativen Auftreten nachgewiesen werden. Aber der genaue Zeitpunkt des Eintritts von Ereignissen und deren Dauer wurde dabei nicht berücksichtigt. Die Sequenzmusteranalyse kann nun Abfolge und Dauer von Ereignissen zugleich untersuchen, indem Zustände sequenziell in zeitlich homogenen Abständen erfasst werden. So können beispielsweise Zustände der Erwerbstätigkeit nach dem Ende der Schulzeit über eine definierte Zeitspanne (z. B. fünf Jahre) in gleich großen Zeitspannen (Monaten, viertel, halben oder ganzen Jahren) abgetragen werden. Dies wird hier an einer Untersuchung von Christina Erzberger und Gerald Prein (1997) veranschaulicht. Sie vergleichen dabei die Erwerbsverläufe von Männern und Frauen im Alter zwischen 30 und 41 Jahren. Dazu standen ihnen retrospektive Längsschnittdaten von 129 Personen zur Verfügung. Die Erwerbstätigkeiten konnten dabei bis zum Alter 17 zurückverfolgt werden, so dass die Ausprägungen des Erwerbsstatus für mindestens 14 Lebensjahre (17–30) und höchstens 25 Lebensjahre (17–41) rekonstruiert werden konnten. Pro Jahr konnten somit folgende Zustände der Erwerbstätigkeit abgebildet werden: V = Vollerwerbstätigkeit T = Teilzeiterwerbstätigkeit H = Hausarbeitstätigkeit/geringfügige Erwerbstätigkeit A = schulische oder berufliche Ausbildung Z = Bundeswehr/Zivildienst/Auslandsaufenthalt Auf diese Weise lassen sich für jede Person aus der Stichprobe Sequenzmuster bilden (Tab. 6.7). Im Beispiel ist es nun möglich, für jeden Fall zeitlich parallel Sequenzmuster zu bilden, die aus gleichzeitigen Sequenzvariablen für das Lebensjahr 17 bis Lebensjahr 30 bestehen. Dadurch kann die Differenz der Sequenzmuster berechnet werTab. 6.7 Kodierung zweier Lebensverläufe als Sequenzmuster (Beispiel). (Quelle: eigene Darstellung) 1 2
v17 A A
v18 A A
v19 V V
v20 V V
v21 V V
V22 V H
v23 V H
v24 V H
v25 V H
v26 V H
v27 V T
v28 V T
v29 V T
v30 V T
vx = Variable der Lebensjahre (als Sequenzen), 1,2 = Fälle, V, T, H, A, Z = Ausprägungen
6.4 Längsschnittdesigns in der Lebenslaufpsychologie
145
den. Im Beispiel weisen die ersten fünf Jahre (17–21) das gleiche Muster auf. Die nächsten neun Jahre unterscheiden sich. Die Quote der Ungleichheit ergibt sich aus dem Verhältnis von 9 nicht übereinstimmenden zu 14 möglichen Übereinstimmungen, also 9/14 ≈ 0,64. Diese „Distanz“ kann Werte zwischen 1 (völlig ungleich) und 0 (vollständig gleich) annehmen. Das Beispiel ist etwas stilisiert. Es zeigt einen idealtypisch männlichen Fall 1 und einen idealtypisch weiblichen Verlauf in Fall 2 nach Myrdal und Klein (1956), deren Erwerbsrollentheorie von Erzberger und Prein (1997, S. 53) als Referenz genannt wird. Welche ‚Ordnungslogik‘ liegt nun der Sequenzmusteranalyse zugrunde und welche Rolle spielt dabei die Idee des ‚Optimal Matchings‘. Das lässt sich an einem weiteren Beispiel erläutern, das ebenfalls von Erzberger und Prein (1997, S. 60) stammt. Es handelt sich um die Sequenzen ‚M U N C H E N‘ und ‚M U N I C H‘. Die Sequenzen in diesem Beispiel sind unterschiedlich lang. Sie bestehen aus sechs bzw. sieben Merkmalen. Fünf Merkmalausprägungen sind allerdings in beiden Fällen gegeben: ‚M U N C H‘. Allerdings sind sie in der Sequenz nicht vollständig gleich platziert. Erzberger und Prein (1997: ebd.) sprechen nun davon, dass sich die Elemente der beiden ungleich langen Sequenzen als „Zeilenvektoren s′ (aus s′1, s′2, … s′n) „ darstellen ließen. Daraus ergibt sich eine Vergleichsstrategie bezüglich der beiden Sequenzen (Erzberger und Prein 1997, S. 61). Die ungleichen Elemente zwischen den Sequenzen lassen sich wegstreichen. Nimmt man im Beispiel dabei das vierte Element s′4 = „I“ aus der kürzeren Sequenz ‚M U N I C H‘ heraus und aus der längeren Sequenz die Elemente s′6 = „E“ und s′7 = „N“, so müssen drei Elemente getilgt werden, damit die Sequenzen übereinstimmen. Bezieht man die drei zu streichenden Elemente auf die Anzahl der Elemente der längeren Sequenz (n = 7), dann ergibt sich ein Verhältnis von 3/7 ≈ 0,43.
6.4
Längsschnittdesigns in der Lebenslaufpsychologie
Die bisher in ihren Grundideen dargestellten Verfahren der Ereignisanalyse, Übergangsanalyse und Sequenzmusteranalyse gleichen sich darin, dass sie auf ein ‚echtes‘ Längsschnittdesign verzichten können, da sie Ereignisse, Ereignisverläufe und Sequenzmuster anhand von „objektiven Daten“ bestimmen (s. oben). Will man jedoch dezidiert auf „subjektive Daten“ zurückgreifen, ist ein „echtes Längsschnittdesign“ erforderlich, das darin besteht, die durch „Befragung“ oder „Testung“ der Person erhobenen subjektiven Eigenschaften (wie Einstellungen, Überzeugungen, Kompetenzen, Affekte) möglichst zeitgenau – also durch die Erhebung selbst – zu messen.
146
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Was sind „subjektive Daten“ konkreter? Beispiele dafür wären: subjektive Einstellungen wie Wünsche und Vorlieben, persönliche oder politische Ansichten, religiöse Überzeugungen oder andere Wertorientierungen, aber auch kognitive Kompetenzen wie Lesefähigkeit, Argumentationsmuster, moralische Urteile, Problemlösungskompetenzen oder Selbstattributionen wie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Selbst-Wert-Einschätzungen. Wir hatten im Abschn. 2.2 bereits gehört, dass es aus Sicht der Psychologie der Lebensspanne (Baltes 1987) aufschlussreich ist, sich die Einschätzung von „Gewinnen und Verlusten“ über die verschiedenen Alters- bzw. Lebensphasen der Person anzusehen. Ebenfalls interessant sind mögliche Veränderungen in der Einschätzung der Selbstwirksamkeit, also der Überzeugung durch eigene Impulse wie Anstrengungen, Initiative oder die eigenen Fähigkeiten auf die Welt und das eigene Leben einwirken zu können. Subjektive Daten sind also in der Regel Messungen von innerpsychisch auftretenden Sachverhalten, die von der Person selbst beobachtet und berichtet bzw. ausgedrückt werden (können). In der Psychologie werden dazu sogenannte „Items“ gebildet. Diese bestehen in der Regel aus typischen Aussagen, die Personen im Rahmen eines Fragebogen-Instruments vorgelegt werden und denen die befragten Personen graduell zustimmen bzw. nicht zustimmen können, etwa auf einer Skala von „stimme voll zu“, „stimme eher zu“, „stimme eher nicht zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“. In welche Schwierigkeiten Untersuchungen geraten, wenn sie für „subjektive Daten“ nicht über „echte Längsschnitterhebungen“ verfügen, soll an einer Auswertung von Diewald et al. (1996) verdeutlicht werden, die mit Daten aus der Lebensverlauf-Studie Ost (kurz: LV-Ost) des MPI für Bildungsforschung durchgeführt wurde. Im Jahr 1993 wurde im Rahmen der LV-Ost-Studie eine Zusatzbefragung durchgeführt, die Items zu Kontrollüberzeugungen und Selbstwertgefühl der interviewten Personen beinhaltete. Diese Items wurden jedoch nur zu diesem einen Zeitpunkt erhoben. Es handelt sich damit um „Querschnittsdaten“. Demgegenüber konnten die retrospektiv erfragten Angaben zum Berufs- und Familienverlauf – wie in der Ereignismusteranalyse üblich – wie Prozessdaten behandelt werden. Die Items stammen aus dem „CAMAQ-SV“ (Control Agency-Means-Ends in Adulthood Questionaire – Short Version) basierend auf Skinner et al. (1988) und Heckhausen (1991). Bei Items handelt es sich in der Testpsychologie üblicherweise nicht um Fragen im eigentlichen Sinn, sondern um Antwort- oder Aussagevorschläge, die den Befragten (oft Probanden – „Versuchspersonen“ – genannt) vorgelegt werden. Die „Probanden“ sollen dann nach dem oben ausgeführten Schema in Form einer graduellen Zustimmung oder Ablehnung auf die Items ‚reagieren‘ (zur Kritik an d ieser
6.4 Längsschnittdesigns in der Lebenslaufpsychologie
147
Idee der Datenkonstruktion vgl. Rohwer und Pötter 2002). Die „Items“, die in der Zusatzerhebung der „Lebensverlaufsstudie Ost“ vorgelegt wurden, lauteten: Selbstwirksamkeitsüberzeugungen Fähigkeit: Ich verfüge über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für mein berufliches Fortkommen. Anstrengung: Ich kann die notwendige Energie dazu aufbringen, um die von mir angestrebte berufliche Position zu erreichen. Glück: Im Hinblick auf mein berufliches Fortkommen habe ich oft Glück. Sozioökonomische Bedingungen: Ich habe Einfluss auf die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die für meine berufliche Tätigkeit wichtig sind. Hilfreiche Beziehungen: Ich habe einflussreiche Kontakte, die mir bei meinem beruflichen Fortkommen nützlich sein können. Kausalüberzeugungen Fähigkeit: Wenn man in seinem Beruf die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten hat, kann man beruflich vorankommen. Anstrengung: Wenn man sich im Beruf anstrengt, kann man einen beruflichen Aufstieg schaffen. Glück: Zu einem beruflichen Fortkommen braucht man Glück. Sozioökonomische Bedingungen: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind ausschlaggebend dafür, ob man beruflich weiterkommt. Hilfreiche Beziehungen: Man muss Beziehungen haben, wenn man beruflich weiterkommen will. Diese Items wurden neben typischen sozialstrukturellen Indikatoren (Geschlecht, berufliche Stellung, berufliche Mobilität) für vier Geburtskohorten erhoben: 1929–1931, 1939–1941, 1951–1953 und 1959–1961 (s. Abb. 6.2). Anhand der Items wurden im Wesentlichen zwei Konstrukte gebildet: Hartnäckigkeit vs. Flexibilität in der beruflichen Zielverfolgung. Außerdem wurde aufbauend auf Skalen von Rosenberg (1981) sowie Gecas und Burke (1995) Selbstwertgefühl als eine tragende motivationale Basis für Kontrollstrategien angesehen (Diewald et al. 1996, S. 225). Diewald, Huinink und Heckhausen können bezüglich der drei genannten psychischen Konstrukte in ihrer Studie einige interessante Differenzen zwischen den vier Kohorten beobachten. Denn in allen drei Dimensionen (Fle xibilität, Hartnäckigkeit und Selbstwertgefühl) weist die Kohorte der zwischen 1939 und 1941 Geborenen deutlich negative Abweichungen vom Mittelwert auf
148
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung Kohorte
Flexibilität Mielwert
1929-31 = 1939-41 1951-53 1959-61
Hartnäckigkeit Mielwert
1929-31 = 1939-41 1951-53 1959-61
n
eta
304 304 293 277
Mielwertabweichung 1,24 -0,83 -0,04 -0,56
,131 -1,32 -0,75 1,47 0,71 ,17 1929-31 Selbstwertgefühl Mielwert = 1939-41 1951-53 1959-61
0.24 -1,43 0,74 0,48
,11 1 Kursiv gedruckte Koeffizienten sind signifikant auf dem 95-Prozent-Niveau.
Abb. 6.2 Kontrollstrategien und Selbstwertgefühl. (Quelle: Diewald et al. 1996, S. 233) Multiple Klassifikationsanalyse
( Diewald et al. 1996, S. 233). Sie reagierten insofern deutlich weniger flexibel und weniger hartnäckig bei der beruflichen Zielverfolgung und vermittelten ein weit geringeres Selbstwertgefühl. Die Autorinnen sind nun skeptisch gegenüber einem ‚reinen‘ Alterseffekt, der sich im Ergebnis der Kohortenunterschiede zeige. Dies kann auch schon deshalb nicht sein, weil das Selbstwertgefühl in der ältesten Geburtskohorte (1929–1931) wieder steigt und die Geburtskohorte 1939–1941 von allen anderen (sowohl jüngeren und älteren) etwa gleichermaßen abweicht. Was macht nun die „Generation“, die zur Wendezeit etwa 50 Jahre alt gewesen ist, unter den Ostdeutschen so besonders? Denkbar wäre z. B., dass sie von besonders hohen Arbeitsmarktrisiken betroffen waren. Hier spielen offensichtlich die hohen Arbeitslosigkeitsraten in Ostdeutschland in den ersten Jahren eine bedeutende Rolle. Während die rund 60-Jährigen auf die Arbeitsmarktproblematik durch vorzeitigen Übergang in den Ruhestand gewissermaßen „flexibel“ reagieren konnten, die jüngeren Kohorten dagegen noch mehr „Spielraum“ und noch mehr Lebenszeit, um sich durch Berufsund/oder Betriebswechsel auf die veränderte Arbeitsmarktsituation einzustellen. Tatsächlich fanden Diewald et al. (1996, S. 235 ff.) durch differenziertere Berechnungen auch heraus, dass Arbeitslosigkeit und Abstieg im Zeitraum zwischen 1989 und 1993 einen negativen Effekt auf das Selbstwertgefühl (und den Kontrollüberzeugungen) besaßen – nur vollständig konnten sie damit insbesondere
6.4 Längsschnittdesigns in der Lebenslaufpsychologie
149
die geringeren Selbstwertgefühle in der Kohorte 1939–1941 nicht erklären. Abschließend werten sie daher das Ergebnis „als Hinweis auf die Konsequenzen eines über die aktuelle Beschäftigungssituation hinausreichenden Perspektivenverlusts und einer entsprechend ausgeprägten Verunsicherung.“ (Diewald et al. 1996, S. 243). Sie bringen für diese Kohorte letztlich sogar den Begriff der „verlorenen Generation“ (ebd.) ins Spiel. Aber ist diese Interpretation durch die Daten und das Vorgehen der Autorinnen hinreichend gedeckt? Welche Probleme ergeben sich daraus, dass die Kontrollüberzeugungen und das Selbstwertgefühl doch nur einmal im Jahr 1993 – also im Querschnitt – erhoben wurden? Zunächst einmal bedeutet es, dass für das Jahr 1989 gar keine „Startwerte“ für die Kontrollüberzeugungen und das Selbstwertgefühl vorgelegen haben. Wir wissen daher auch nicht, ob und wie sich die vier untersuchten Geburtskohorten in diesem Zeitraum hinsichtlich dieser psychischen Faktoren entwickelt haben. Erst dies würde allerdings eine genauere Aufklärung über den Einfluss der Wendezeit erlauben. Zumindest denkbar wäre ja, dass es bereits in der DDR eine Konstellation für die Geburtskohorte 1939–1941 gegeben hätte, die für vergleichsweise niedrigere Werte der Kontrollüberzeugungen und des Selbstwertgefühls gesorgt hätte. Vielleicht handelte es sich bei den „68ern“ der DDR um eine Generation, die bereits im Gesellschaftssystem der DDR „ausgebremst“ wurde und so mit schwächer ausgeprägten Kontrollüberzeugungen (weniger flexibel und weniger hartnäckig) und weniger Selbstbewusstsein in die Wendezeit hineingegangen ist. Es geht hier nicht darum, welche Interpretation der Befunde von Diewald, Huinink und Heckhausen richtig ist. Das kann es in methodischer Hinsicht auch gar nicht. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass aufgrund der fehlenden Längsschnittperspektive eine argumentative Lücke in der Studie vorliegt. Diese Lücke liegt nicht nur in vielen soziologischen Studien vor, sondern wird auch in der Psychologie selbst adressiert – wie z. B. folgende Bemerkung von David H. Demo (1992) zu Erforschung des „self-concepts over time“ ausdrückt: „Most studies of self-concept continue to rely on one measure of one dimension, usually global self-esteem, measured at one point in life, producing ‚an unduly constricted view of self-process and the way behavior is shaped in situations‘ [Turner/Schutte 1981, S. 3]“ (Demo 1992, S. 322). Er fordert dagegen eine Erhebung des „self concept“, das zugleich beide Dimensionen „structure“ und „process“ enthält. Gemeint ist damit, dass es sowohl über ein Längsschnittdesign die Prozessperspektive misst als auch durch Berücksichtigung verschiedener Konstrukte der Persönlichkeit eine differenzierte Struktur des Selbstkonzepts erfasst. In der Psychologie der Lebensspanne hat sich dieses Desideratum durchgesetzt (vgl. Heckhausen 1990; Brandstädter 1990). Wir werden diese Problematik im folgenden Abschnitt (Abschn. 6.5) unter zeit- und prozessanalytischen Gesichts-
150
6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
punkten weiterverfolgen, und im Abschn. 8.4 am Beispiel der LiFE-Studie nachvollziehen, wie die Längsschnittperspektive unter Hinzuziehung psychologischer Konstrukte auch für Fragen der soziologischen Lebenslaufforschung genutzt werden kann.
6.5
„The Clocks that Time Us“ (Alter, Kohorte, Periode)
Der Problematik der längsschnittlichen Messung von Einstellungen und vergleichbaren „subjektiven Daten“ können wir uns auch nochmals aus einer anderen Per spektive zuwenden. Dabei interessiert der Sachverhalt, dass beim Auftreten einer besonderen Ausprägung von Einstellungen innerhalb einer Gruppe – wie wir am Beispiel der ostdeutschen Geburtskohorte 1939–1941 gesehen haben – mehrere Zeitdimensionen gleichzeitig ineinander verschachtelt sind. Wir haben es nämlich erstens mit dem spezifischen Prozess des Alterns zu tun, in dem sich das Älterwerden des Individuums und die damit einhergehenden Veränderungen von Altersnormen, mit denen der älter werdende Mensch konfrontiert wird, abspielen. Zweitens zeigt sich in dem Beispiel jedoch auch eine Veränderung in der gesellschaftshistorischen Zeit, hier dem Systemumbruch von einer sozialistischen Gesellschaft zu einer demokratisch-marktwirtschaftlichen. Und drittens geht es um die Beschaffenheit einer ganz bestimmten Kohorte, den Menschen der Geburtsjahrgänge von 1939 bis 1941. Das bedeutet: auf die im Jahr 1993 gemessenen Effekte haben möglicherweise drei zeitlich verschiedene Kräfte gewirkt: das Alter, die historische Periode oder die Geburtskohorte. Um die Auswirkungen der drei genannten Faktoren zu untersuchen, ist es ebenfalls zunächst nicht nötig, sowohl über Individual- als auch Längsschnittdaten zu verfügen. Möglicherweise reichen dazu Zeitreihendaten aus. Eine Zeitreihe liegt dann vor, wenn ein bestimmtes Merkmal in regelmäßigen Abständen innerhalb einer Population (Bevölkerung) wie in Abb. 6.3 erhoben wird. Dies kann zum Beispiel die jährlich wiederkehrende Messung der Geburten pro Jahr sein oder die Arbeitslosenquote zum 31.3., 30.6., 30.9. und 31.12 eines jeden Jahres. Solche Daten geben uns Auskunft über Veränderungen in der historischen Zeit, d. h. über periodische Schwankungen. Zeitreihen enthalten oft auch genaue Altersangaben, wie z. B. die Verteilung einer Bevölkerung nach Altersjahren. Insofern könnten wir über den Zeitraum von 1950 bis 1990 nachvollziehen, wie viele Personen welchen Alters in der ehemaligen DDR gelebt haben. Für die einzelnen Jahre könnten wir demnach die jeweiligen Effekte des Alters beobachten. Und es ist möglich, die Betrachtungsweise noch einmal zu verschieben, wenn wir uns ansehen, wie sich einzelne Geburtsjahrgänge über die Zeit in ihrer Größe verändert haben.
6.5 „The Clocks that Time Us“ (Alter, Kohorte, Periode)
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Abb. 6.3 Bevölkerungsentwicklung in der DDR 1955–1990. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, eigene Berechnungen)
Methodisch bezeichnet man dies als die Strategie, Alters-, Perioden- und Kohorteneffekte voneinander zu unterscheiden. Wir wollen die verschiedenen Dimensionen zunächst an einem Beispiel veranschaulichen, das rein auf ‚objektiven Daten‘ beruht, nämlich der Bevölkerungsentwicklung der DDR auf der Basis der Statistischen Jahrbücher von 1955 bis 1990. Dazu werden drei Abbildungen bzw. Tabellen konstruiert, die erstens die Bevölkerungsentwicklung insgesamt zwischen 1955 und 1990 (Abb. 6.2) und zweitens die Altersverteilung für ausgewählte Beobachtungsjahre in fünf Jahresabständen (1955, 1960, 1965, 1970, 1975, 1980, 1985, 1990, Abb. 6.3) zeigen. Zuletzt betrachten wir die Entwicklung der altersspezifischen Kohortenstärken einzelner Geburtsjahrgänge über die Lebenszeit an: 1915, 1939, 1945, 1955, 1960, 1970 (Tab. 6.9). Etwas überraschend ist womöglich, dass die Zahl der Männer verhältnismäßig konstant bleibt, während die Zahl der Frauen kontinuierlich sinkt. Dieser Befund lässt sich besser verstehen, wenn wir uns einmal auszugsweise in der Tab. 6.8 die Verteilung von Frauen und Männern nach ausgewählten Altersgruppen im Jahr 1955 ansehen. Dort zeigt sich, dass im frühen Kindesalter mehr Jungen als Mädchen geboren werden, etwa in einem Verhältnis von 1,06 Jungen zu einem Mädchen. Die Differenz liegt zwischen 6000 und 9000 mehr Jungen in den ersten fünf Le-
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6 Quantitative Methoden der Lebenslaufforschung
Tab. 6.8 Kinder (unter 5 Jahren) und Erwachsene (65–70) nach Geschlecht im Jahr 1955. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, 1955–1990, eigene Berechnungen) Alter 0 1 2 3 4 5 65 66 67 68 69
Gesamt 281.707 278.127 280.247 281.100 281.035 267.747 189.665 186.743 177.857 172.990 160.219
männlich 145.122 142.666 143.904 144.099 144.209 136.850 76.863 75.721 73.276 71.525 66.134
weiblich 136.585 135.461 136.343 137.001 136.826 130.897 112.802 111.022 104.581 101.465 94.085
Verhältnis Männer zu Frauen 1,06 1,05 1,06 1,05 1,05 1,05 0,68 0,68 0,70 0,70 0,70
bensjahren. Das Verhältnis verringert sich aufgrund der leicht höheren Kindersterblichkeit zuungunsten der Jungen. Demgegenüber sehen wir in der Gruppe der älteren Erwachsenen ein umgekehrtes Bild. Hier sind Männer deutlich unterrepräsentiert. Die Quoten liegen etwa bei 70 Männern zu 100 Frauen. Der Anteil der Männer ist um Faktor 0.7 kleiner. Dies hängt in den 1950er-Jahren aber nicht nur mit der höheren Lebenserwartung von Frauen, sondern auch mit den hohen Todesfällen durch den Militärdienst von Männern im Zweiten Weltkrieg zusammen. Wenn wir zudem die Altersverteilung der DDR in den Jahren 1955, 1960, 1970, 1980 und 1990 zu Rate ziehen, dann sehen wir in diesem auf den ersten Blick unübersichtlichen Bild durchaus interessante Punkte. Auf die kann man stoßen, wenn man sich auf die Extremwerte konzentriert, d. h. auf die jeweils höchsten und niedrigsten Punkte der fünf Linien. Dann fallen zehn Punkte auf, die unter 150.000 liegen und ein einziger Punkt, der die 300.000 überschreitet. Beginnen wir mit den fünf niedrigsten Punkten, die sich rechts in der Abb. 6.4 ab dem Alter von 38 Jahren zeigen. Die nächsten Tiefpunkte folgen dann im Alter 43, 53, 64 und 73. Die Tiefpunkte auf der linken Hälfte befinden sich im Alter 9, 14, 24, 34 und 44. Es lässt sich nun leicht ausrechnen, dass sich die genannten Altersjahre jeweils auf zwei Geburtsjahrgänge beschränken: den Jahrgang 1917, der aufgrund des Zweiten Weltkriegs stark dezimiert wurde, und den Jahrgang 1946, der die geringsten Geburtenzahlen aufweist. Die „Spitzenwerte“ bei den Altersverteilungen in den ausgewählten Jahren kommen durch zwei andere Jahrgänge zustande: die Geburtskohorten 1939 und 1960. So sieht man die Geburtskohorte 1939 im Jahr 1955 im Alter 16 herausragen und ein weiterer Gipfel zeigt sich 1960 im Alter von 21. Danach fallen die ‚Gipfel‘
6.5 „The Clocks that Time Us“ (Alter, Kohorte, Periode)
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Abb. 6.4 Altersverteilung der DDR-Bevölkerung in fünf ausgewählten Jahren. (Quelle: Statistische Jahrbücher der DDR, eigene Berechnung)
dieses Jahrgangs in Jahren 1970 (Alter 31), 1980 (Alter 41) und 1990 (Alter 51) kontinuierlich ab. Ähnliches lässt sich für den Jahrgang 1960 beobachten, der auf der gepunkteten Kurve von 1960 relativ hoch beginnt und auch im Jahr 1970 noch den drei Punkten des „Hochplateaus“ zwischen Alter 9 und 10 gehört. Im Alter 20 gehört er auf der Verteilungskurve des Jahres 1980 noch zu den oberen Werten. Mit 30 ist dieser Jahrgang jedoch auf der Kurve des Jahrs 1990 etwas im Schaubild nach unten gerutscht. Wir sehen uns in der Tab. 6.9 für diese vier Jahrgänge nochmals die kohortenspezifischen Stärken nach Altersjahren genauer an. Dabei ist zu bedenken, dass auf der Grundlage der Statistischen Jahrbücher der DDR für die Jahre 1949 bis 1954 keine präzisen Daten für die DDR-Population (bzw. die ostdeutschen Regionen vor 1949) vorliegen, so dass der Vergleich erst 1955 ansetzt. In der vorliegenden Tabelle werden die jahresspezifischen Kohortenstärken von Männern nach Geburtsjahrgang für die Jahre 1955, 1960, 1970, 1980 und 1990 in absoluten Zahlen ausgewiesen. Unter Kohortenstärke ist einfach die Anzahl der Männer eines Geburtsjahrgangs zu verstehen, die am 31.12. des jeweiligen Jahres in der DDR gelebt haben.
Jahr 1955 1960 1970 1980 1990
Jahrgang 1917 Alter männlich 38 40815 43 37641 53 34300 63 28967 73 18481
Differenz z. Wert 1955 in % −7,78 % −15,96 % −29,03 % −54,72 %
Jahrgang 1939 Alter männlich 16 173305 21 151766 31 143200 41 140769 51 131055
Differenz z. Wert 1955 in % −12,43 % −17,37 % −18,77 % −24,38 %
Jahrgang 1946 Alter männlich 9 77203 14 72892 24 69239 34 67912 44 62656
Differenz z. Wert 1955 in % −5,58 % −10,32 % −12,03 % −18,84 %
Jahrgang 1960 Differenz Alter männlich Zum Wert 1960 in %